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Endfassung Deutsche Perspektiven 2019 18.05.

2019

1. Deutsche Perspektiven 2019


2. Mehr als 10 Jahre ist es jetzt her, dass die Überproduktionskrise von 2008 die kapitalistische Welt bis
ins Mark erschütterte und mit Paukenschlägen den Beginn einer neuen Epoche der kapitalistischen
Krisen und verschärften Klassenkämpfe auf globaler Ebene ankündigte. Seitdem hat sich die
politische Situation auf der ganzen Welt entscheidend verändert: Politische Institutionen, die seit
dem Zweiten Weltkrieg das Fundament politischer Stabilität bildeten, sind ins Wanken geraten.

3. Deutschland und die EU

4. Aber auch die EU bewegt sich kontinuierlich auf den eigenen Zerfall zu. Die EU wird von
ökonomischen, politischen und sozialen Turbulenzen erfasst. Nach der Wirtschaftskrise von 2008
versuchte die herrschende Klasse in Europa unter Federführung des deutschen Großkapitals die Krise
auf die Arbeiterklasse abzuwälzen, durch Austeritätspolitik und einen Generalangriff auf den
Lebensstandard der Massen, auf den Sozialstaat sowie auf die demokratischen und
gewerkschaftlichen Rechte.

5. Besonders die Arbeiter Südeuropas wurden durch diese Attacken hart getroffen. Ihr Hass auf die EU
und die Vorherrschaft des deutschen Kapitals war in logischer Konsequenz entsprechend am
höchsten. Allein in Griechenland fanden zwischen 2010 und 2015 ganze 28 Generalstreiks statt. In
ganz Europa erhielten rechte und linksreformistische EU-kritische Parteien Zulauf. Bei jeder Wahl
musste die herrschende Klasse vor ihrem Sieg, und damit einer weiteren Destabilisierung der
politischen Situation, zittern. So hat der Versuch der herrschenden Klasse das wirtschaftliche
Gleichgewicht wiederherzustellen, zwangsläufig zur Zerstörung des sozialen und politischen
Gleichgewichts geführt. Die wirtschaftliche Krise weitete sich zu einer sozialen und politischen Krise
aus.

6. Das Brexit-Chaos ist gegenwärtig wohl das offensichtlichste Phänomen dieser Entwicklung.
Großbritannien ist eines der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Länder der EU. Sein Austritt
würde gravierende Konsequenzen für die Stabilität der EU nach sich ziehen. In Italien regiert eine
Koalition aus der kleinbürgerlich-demagogischen 5 Sterne-Bewegung und der rechten und
rassistischen Lega in der Regierung, die sich in einem Kampf mit der EZB und dem EU-Kommission
befindet. Zudem herrschen Spannungen zwischen der italienischen und französischen Regierung. Die
italienische Bourgeoisie kann ihre Regierung nicht mehr wie gewohnt kontrollieren. Italien ist dabei
nicht irgendein Land, sondern die drittgrößte Volkswirtschaft in der Euro-Zone. Mittlerweile befindet
es sich technisch in einer Rezession.

7. Emanuel Macron gewann in Frankreich die Präsidentschaftswahlen 2017 mit „La Republique en
marche“, einer aus rechten Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen zusammengewürfelten
Truppe. Die herrschende Klasse versuchte mit diesem Konglomerat aus bewährten Politikern, deren
Parteien einen Einbruch erfahren haben, der Polarisierung der Gesellschaft entgegenzutreten. In der
Arbeiterklasse hat Macron nur minimalen Rückhalt. Schon kurz nach Beginn seiner Amtszeit bekam
die Arbeiterklasse seine wahren Absichten zu spüren: Die bedingungslose Umsetzung der
Wunschliste des Großkapitals, also Angriffe auf die sozialen Errungenschaften des französischen

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Proletariats. Die Regierung Macron und das französische Großkapital haben ihre Antwort in Form der
Gelbwestenbewegung erhalten. Diese Bewegung hat den französischen Kapitalismus bis auf die
Knochen erschüttert. Macron nutzt den repressiven Apparat des Staates, um die Bewegung im Zaum
zu halten. Seine kleinen Zugeständnisse haben nicht zum Abflauen der Bewegung beigetragen.

8. Die Gelbwestenbewegung hatte eine starke Wirkung über die Grenzen Frankreichs hinaus. Selbst in
den rechts-konservativ regierten Ländern wie Ungarn sieht sich die Regierung nun Streiks und
Protesten der Arbeiterklasse ausgesetzt. In Spanien ist die Frage des Selbstbestimmungsrechtes
Kataloniens nicht gelöst. In Polen kämpfen vor allem Frauen gegen die reaktionäre Regierung und für
ihre Rechte.

9. Kurz: die europäische Arbeiterklasse betritt in allen Nationalstaaten mehr und mehr die politische
Bühne. Der Angriff auf den Lebensstandard der Massen hat eine Gegenreaktion des europäischen
Proletariats und kleinbürgerlicher Schichten hervorgerufen, der die politische Stabilität der
europäischen Staaten und vor allem der EU selbst erschüttert hat. Auf der anderen Seite stehen die
Regierungen und nationalen Bourgeoisien zunehmend in Konflikt miteinander. Wie z.B. die
Spannungen zwischen den verschiedenen Staatsregierungen im Zuge der Fluchtbewegungen. Diese
Entwicklungen sind besonders für das deutsche Kapital eine existentielle Bedrohung!

10. Deutschland braucht die EU vor allem als größten Exportmarkt. Im Jahr 2017 exportierten deutsche
Unternehmen Waren im Gesamtwert von 749,7 Milliarden Euro in die anderen EU-Länder. Das waren
nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 58,6 Prozent der gesamten Exporte. Der Erfolg der
deutschen Wirtschaft hängt am Export, die EU ist dabei der wichtigste Exportmarkt, gerade in Zeiten
in denen Exporte auf den US-amerikanischen Markt deutlich schwieriger werden und die
Exportrückgänge der deutschen Wirtschaft bereits Verluste zugefügt haben.

11. Aber auch als politischer Block, um im imperialistischen Konkurrenzkampf mit China und nun auch
mit den USA mithalten zu können, ist die EU extrem wichtig für das deutsche Kapital. Die
Überproduktionskrise hat den imperialistischen Konkurrenzkampf um Exportmärkte stark verschärft.
Der hohe Exportüberschuss macht Deutschland nicht gerade beliebt. Die USA versuchen gegenwärtig
durch Protektionismus deutsche Exporte in die USA zu beschränken. Auch China ist Exportnation und
ein großer Konkurrent Deutschlands. Um in diesem Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten,
braucht Deutschland eine gewisse politische, diplomatische und militärische Macht. Verglichen mit
China oder den USA ist diese jedoch sehr gering. Nur zusammen mit den anderen EU-Staaten kann
Deutschland einen politischen Block formen und Einfluss ausüben.

12. So setzen die EU-Mächte, allen voran Deutschland und Frankreich, seit Jahren zunehmend auf eine
gemeinsame Militärstrategie und Verteidigungspolitik unabhängig von NATO und USA. Zu deren
Grundpfeilern gehören aufwendige Projekte wie PESCO, CARD und EVF, mit denen gemeinsame
Rüstungs- und Einsatzprojekte geplant und Militärdrohnen, Kampfflugzeuge und Kampfpanzer
entwickelt werden. Deutschland und Frankreich sind allein auf sich gestellt auch militärisch zu
schwach, um sich etwa gegen die USA oder China zu behaupten. Daher besteht ein Zwang zu
gemeinsamen Militärprojekten.

13. Vordergründig wird all dies seit jeher offiziell mit „Friedenssicherung“, „Terrorismusbekämpfung“,
„humanitärer Intervention“ und „Entwicklungshilfe“ begründet. Dass die Bundeswehr die

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Operationen der französischen Armee im afrikanischen Staat Mali aktiv unterstützt, ist weder eine
uneigennützige Tat noch ein neuer solidarischer Höhepunkt der „deutsch-französischen
Freundschaft“. In Wirklichkeit betreibt Frankreich eine Fortsetzung des alten Kolonialismus und
Imperialismus.

14. In Mali und im benachbarten Niger gibt es große Uran- und Ölvorkommen. Deutschland müsse
„flexibel Elemente seines außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums einsetzen, um
Störungen oder Blockaden … zu beseitigen“, heißt es im Weißbuch der Bundeswehr zum Thema
Rohstoff- und Energiesicherheit. Und in den 2014 von der Bundesregierung beschlossenen
„Afrikapolitischen Leitlinien“ ist von einer „wachsenden Relevanz Afrikas für Deutschland und
Europa“ die Rede. „Potenziale Afrikas ergeben sich aus einer demographischen Entwicklung mit
einem Zukunftsmarkt mit hohem Wirtschaftswachstum, reichen natürlichen Ressourcen, Potenzialen
für die landwirtschaftliche Produktion und Ernährungssicherung aus eigener Kraft. Afrikanische
Märkte werden – über die Rohstoffwirtschaft hinaus – für die deutsche Wirtschaft (...) zunehmend
interessanter.“ Offensichtlich geht es mit dem deutsch-französischen Afrika-Engagement auch
darum, dem in Afrika vordringenden chinesischen Imperialismus zu begegnen.

15. „Es wäre falsch, die deutschen Sicherheitsanstrengungen in Mali und inzwischen auch im
benachbarten Niger vor allem als an Frankreich gerichtete Freundschaftsgeste zu interpretieren“,
erklärt die Frankfurter Allgemeine (FAZ) am 9. April 2019 und listet auf, dass die Bundeswehr
erstmals 2013 in Mali landete und mittlerweile in mehreren Staaten südlich der Sahara mitmischt.

16. Mit der EU-Osterweiterung seit den 1990er Jahren ist der deutschen Bourgeoisie mit „friedlichen“
Mitteln gelungen, was im 20 Jahrhundert in zwei Weltkriegen krachend misslungen ist: die
weitgehende Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Die EU ist also zentral für das
Funktionieren der deutschen Wirtschaft und für die Stellung der deutschen Bourgeoisie im
imperialistischen Konkurrenzkampf. Zerfällt die EU, bedeutet das ein verheerenden Schlag für das
deutsche Kapital.

17.Das „Erfolgsmodell“ der deutschen Wirtschaft

18. Der deutsche Wirtschaftserfolg der letzten 15 Jahre basiert zum einen auf der kapitalintensiven
Produktion Deutschlands. Das heißt, dass gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie
Großbritannien die Industrie und der Produktionssektor einen bedeutenden Teil der deutschen
Wirtschaft ausmachen (30% des BIP). Deutschland produzierte 2016 10,6% der Industriegüter der
Welt, aber 15,8% im Sektor Maschinenbau, 19,9% in Luft- und Raumfahrtindustrie und sogar 20% in
der Autoproduktion. Solche kapitalintensive Produktion rechnet sich aber nur bei entsprechend
großen Verkäufen, und dafür braucht es entsprechend große Absatzmärkte: Deutschland allein mit
wenig mehr als 80 Millionen Einwohnern ist viel zu klein für seine eigene Industrie. Der Export ist also
zentral für den Erfolg der deutschen Wirtschaft und damit auch die EU als größter Exportmarkt.

19. Deutschland kam 2008 noch verhältnismäßig glimpflich aus der Weltwirtschaftskrise heraus, da die
herrschende Klasse mit der Agenda 2010 bereits Einsparungsmaßnahmen durchgeführt und
gleichzeitig den Preis der Arbeitskraft heruntergedrückt hat. Mit diesen Konterreformen wurde
Deutschland zum „besten Niedriglohnsektoren […], den es in Europa gibt“ (Gerhard Schröder auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos, 2005). Insbesondere die Relativlöhne wurden

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heruntergedrückt, was die Produktion für die Kapitalisten profitabler machte. Gleichzeitig sanken die
Reallöhne, also die Binnenkaufkraft, was den Export für die deutsche Wirtschaft noch
lebensnotwendiger machte. Durch diesen Vorsprung gegenüber anderen europäischen Bourgeoisien
konnten die herrschende Klasse und ihre politischen Repräsentanten ohne erneute größere Angriffe
auf die Arbeiterklasse die Agenda 2010 verwalten.

20. Von den 44 Millionen arbeitenden Menschen in Deutschland arbeiten 32 Millionen in


sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, von denen jedoch Vollzeitstellen nur 22,8 Millionen
ausmachen. Insgesamt gibt es in Deutschland 21,7 Millionen atypisch Beschäftigte. 2016 waren 8,55
Millionen sozialversichert in Teilzeit beschäftigt. Sie erhalten dabei durchschnittlich drei Euro weniger
je Stunde als Vollzeitbeschäftigte. Weitere 7,4 Millionen arbeiten in Minijobs. Für 4,7 Millionen ist
dies die einzige Einkommensquelle, der andere Teil arbeitet zusätzlich zum Hauptberuf in einem
Minijob. Weitere 2,6 Millionen Menschen arbeiten in befristeten Beschäftigungen, davon die Hälfte
ohne Sachgrund. Insbesondere im öffentlichen Dienst und im Wissenschaftsbetrieb sind befristete
Arbeitsverträge die Regel. 44 Prozent aller Neueinstellungen sind nur noch befristete Verträge und
60 Prozent der befristet Beschäftigten sind im Alter unter 35 Jahren. Außerdem arbeiten über einer
Million in Leiharbeit. Insgesamt verdient ein Viertel aller abhängig Beschäftigten unter der
Niedriglohnschwelle, also weniger als 10,50 Euro pro Stunde. Unter solchen Umständen ist eine
sichere Zukunftsplanung unmöglich. Im Jahr 2017 wurden insgesamt 2,127 Milliarden Überstunden
geleistet – so viele wie seit 2007 nicht und elf Prozent mehr als 2016. Rund eine Milliarde Stunden ist
unbezahlt geblieben. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit lag im März 2019 bei 3,2 Millionen Menschen
(Bundesagentur für Arbeit).

21. Die Folgen dieser wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen sind:

22. Erstens: Unzufriedenheit und Wut in der Arbeiterklasse auf die Institutionen und ihre
Repräsentanten steigen. Sie haben über Jahre unter der Oberfläche vor sich hin gebrodelt und jetzt
schon die politische Stabilität in Deutschland erschüttert. Davon zeugen vor allem die Ergebnisse der
letzten Bundestagswahl, die historischen Niederlagen für die beiden „Volksparteien“ SPD und CDU
und der Erfolg der AfD. Das traditionelle Wahlverhalten bricht stetig auf in der Hoffnung, durch neue
Regierungskonstellationen eine Lösung für die brennenden sozialen Probleme zu finden.

23. Zum zweiten hat der immense Exportüberschuss der deutschen Wirtschaft zu politischen
Spannungen mit anderen Exportwirtschaften (vor allem den USA) geführt. Absatzmärkte, auf denen
das deutsche Kapital seine Waren verkauft, fallen für andere Exportwirtschaften weg. In Zeiten der
Überproduktionskrise und des erbitterten Kampfes um Absatzmärkte muss das zu weiteren
imperialistischen Spannungen zwischen den größten imperialistischen Wirtschaftsmächten führen. Es
ergibt sich jetzt also die Frage, wie Deutschland auch politisch und ggf. militärisch mit den USA und
China mithalten kann, vor allem während die EU immer instabiler und handlungsunfähiger wird. Aus
diesen Gründen bemühen sich allen voran Frankreich und Deutschland um den Ausbau einer EU-
Armee und verstärkte Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie.

24. Und zudem haben in den letzten Jahren viele Länder in Sachen „Strukturreformen“
(=Austeritätspolitik) nachgezogen, so etwa Österreich unter Schwarz-Blau oder Frankreich unter
Macron. Somit hat Deutschland mit den Reformen der Agenda 2010 keinen Vorsprung mehr.

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25. Der mit Abstand wichtigste Faktor ist aber, dass die Widersprüche, die zu der Krise 2008 führten,
sprich die Überproduktionskrise, keineswegs gelöst, sondern lediglich aufgeschoben sind. Es steht
eine weitere weltweite Rezession an, die mit aller Wahrscheinlichkeit ein noch viel größeres Ausmaß
als die Krise von 2008 annehmen wird. Die herrschende Klasse weltweit, aber auch in Deutschland,
steht dann mit einigermaßen leeren Händen da. Die Financial Times berichtete am 07.04.2019, dass
die Weltwirtschaft in einen “synchronisierten Abschwung” eingetreten ist. „In vielen entwickelten
Volkswirtschaften bleibt konventionelle Geldpolitik nach wie vor eingeschränkt, da die Leitzinsen
nahe oder unter Null liegen, während weitere nichtkonventionelle geldpolitische Maßnahmen
erhebliche Risiken und ungewisse Rückzahlungen mit sich bringen.“ Das trifft insbesondere auf die
EU zu. Die Tage des wirtschaftlichen Erfolgs und der politischen Stabilität Deutschlands sind ein für
alle Mal gezählt.

26.Die kommende Krise

27. Noch bis vor kurzem war in den deutschen Medien viel die Rede vom wirtschaftlichen Aufschwung.
Die Auftragsbücher großer deutscher Unternehmen waren voll. Wie wir in den Deutschen
Perspektiven 2018 bereits erklärten, war dieser Aufschwung ein oberflächlicher und blutarmer. Der
Aufschwung stützte sich vor allem auf billige Kredite, die zu einer Rekordverschuldung und damit zu
einer neuen Kreditblase führten. Zusätzlich zu von der realen Wirtschaft entkoppelten
Finanzspekulation an den Börsen. Auch nutzte dieser vermeintliche Aufschwung ausschließlich den
hohen Einkommen und ließ die unteren und mittleren Einkommen, sowie ein Fünftel aller
Volkswirtschaften der Welt unberührt.

28. Jetzt ist selbst dieser bescheidene Aufschwung ins Stocken geraten. Die Wachstumsraten der
deutschen Wirtschaft stagnierten in den letzten drei Quartalen des vergangenen Jahres. Die
Wirtschaftsweisen mussten ihre Wachstumsprognose für Deutschland 2018 auf 1,6% nach unten
korrigieren. Für 2019 gehen verschiedene Institute bereits von einem Wachstum unter 1% aus. Auch
die bürgerliche Presse ist sich der Gefahr einer kommenden Rezession bewusst. Die Kommentatoren
finden aber keine Lösung. Es besteht auch keine Lösung im Rahmen des Kapitalismus, die nicht zu
Barbarei führt.

29. Nach der Krise von 2008 hat das Großkapital versucht, die Krise durch Angriffe auf den
Lebensstandard der Massen zu lösen. Aber was haben all die Versuche der Bürgerlichen, die Krise in
den Griff zu bekommen, die Entbehrungen der Massen, die Zerstörung der politischen Stabilität, in
den letzten 10 Jahren genützt? Nichts! Anstatt Schulden abzubauen, ist die weltweite Verschuldung
von Staaten, Firmen und Privathaushalten auf einem Rekordhoch der Weltgeschichte. Die
Niedrigzinspolitik, mit der die EZB aus der Schuldenkrise kommen wollte, hat nur oberflächlich ihr
Ziel erreicht. Denn erstens gibt es jetzt eine riesige Niedrigzinsblase, also Firmen und Staatshaushalte
die sich nur noch auf Grund des extrem niedrigen Leitzinses und daraus folgend billigen Krediten am
Leben erhalten können; die zahlungsunfähig werden, sobald der Leitzins wieder merklich steigt. Zum
anderen hat die herrschende Klasse damit ein weiteres Werkzeug aus der Hand gegeben, mit dem sie
auf eine kommende Rezession reagieren könnte.

30. Allein bei den DAX-Unternehmen stehen nach Angaben des Handelsblatts 100.000 Arbeitsplätze vor
der Vernichtung. Zudem haben hunderttausende Unternehmen in Deutschland haben finanzielle
Probleme und erhöhte Insolvenzrisiken. Besonders in Sachsen-Anhalt und Sachsen sind jeweils 12

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Prozent aller Betriebe als gefährdet eingestuft, in Baden-Württemberg und Bayern sind es jeweils ca.
7 Prozent. Können diese Unternehmen ihre Schulden nicht mehr bedienen, heißt das potenzielle
Vernichtung von Arbeitsplätzen in ungewisser Höhe. Nicht ohne Grund sang das Handelsblatt am
04.10.2018 ein Loblied auf Zeitarbeitsverhältnisse und drohte an, dass beim „Jobabbau im nächsten
Abschwung“ dann die „Stammbelegschaften“ dran seien. Bereits jetzt sollen allein hierzulande
zehntausende Arbeitsplätze zerstört werden.

31. Wenn diese Rezession kommt, steht die herrschende Klasse ihr mehr oder minder mit leeren Händen
gegenüber. Ein wichtiger Faktor, der 2008 entscheidend für die Bekämpfung der Krise war, ist die
internationale Zusammenarbeit und die politische Stabilität, sprich die politische Handlungsfähigkeit
der herrschenden Klasse. Diese zerfällt jedoch zurzeit als Folge der Krise auf allen Ebenen:
Innenpolitisch als Folge der Agenda 2010, in der EU als Folge der Austeritätspolitik und zwischen den
USA und Europa im Kampf um Marktanteile für Waren- und Kapitalexporte.

32.Die herrschende Klasse bereitet sich auf den Angriff vor

33. Die herrschende Klasse aller Länder wird nur eine Antwort auf die nächste Krise kennen: Noch mehr
und noch brutalere Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse. Das ist auch die Perspektive
für die kommende Periode in Deutschland. In den Deutschen Perspektiven 2018 schrieben wir:

34. „Die Bürgerlichen werden gezwungen sein, die Arbeiterklasse offen anzugreifen und auch in
Deutschland eine brutale Austeritätspolitik durchsetzen. (...) Das deutsche Erfolgsmodell der
„Sozialpartnerschaft“ wird ausgehöhlt werden, die Bürgerlichen werden unter diesen Bedingungen
auf eine Rechtsregierung setzen, welche ohne zu zögern die aus Sicht der Bürgerlichen „nötige“
Austeritätspolitik durchsetzt. Ähnlich wie zuvor in Österreich beginnt die herrschende Klasse bereits
sich einen rechten Flügel in der CDU heranzuzüchten.“

35. Diese Perspektive gilt weiterhin. Der Rückzug von Angela Merkel vom CDU-Vorsitz steht symbolisch
für einen Epochenwechsel. In der Ära Merkel konnten die herrschende Klasse und ihre politischen
Handlanger die Agenda 2010 verwalten und waren nicht gezwungen, neue Großangriffe auf die
Arbeiterklasse zu fahren, die Wirtschaft wuchs stabil. Doch mittlerweile hat sich die Situation
verändert: Die Wirtschaft stagniert, der Frust über den sinkenden Lebensstandard ist in politische
Instabilität umgeschlagen. Aber vor allem werden angesichts der kommenden Krise neue Angriffe
nötig. Angriffe, die mindestens so einschneidend werden wie die Hartz-Reformen. Faktisch wird dies
ein Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch die herrschende Klasse sein.

36. Dazu braucht sie Handlanger in der Politik, die bereit sind einen solchen Generalangriff auf die
Arbeiterklasse durchzusetzen. Darauf bereitet sich gerade der immer stärker werdende rechte Flügel
der CDU vor. Lange Zeit sah es so aus, als sei Jens Spahn der Hoffnungsträger dieses Flügels. Doch das
unerwartete Comeback von Friedrich Merz stellte Spahn in den Schatten. Merz und Spahn
unterscheiden sich jedoch nur oberflächlich voneinander. Beide stehen für die rücksichtslose
Umsetzung der Interessen des Großkapitals. Im Gegensatz zu dem um oberflächlichen Klassenfrieden
bemühten Flügel um Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) stehen sie für eine
Rückkehr zu knallharter, neoliberaler Politik und scheuen nicht die Konfrontation mit der
Arbeiterklasse.

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37. Vorläufig trug AKK den Sieg bei der Wahl zum CDU Vorsitz davon. Doch ihr Sieg steht auf wackligen
Beinen. Merz verlor nur um wenige Stimmen. Der Wirtschaftsflügel in der CDU wird stärker und
einflussreicher. AKK ist gezwungen, Zugeständnisse an den rechten Flügel zu machen. So ernannte sie
beispielsweise Paul Ziemiak, bisher Vorsitzender der Jungen Union und Weggefährte Jens Spahns,
zum Generalsekretär der Partei. Auch ist noch unsicher, wer nächster Kanzlerkandidat wird. Und die
Kommunal- und Europawahlen in diesem Jahr werden die Krise des deutschen Parteiensystems
einmal mehr offenlegen. Sollte die CDU hier schlecht abschneiden, besteht jederzeit die Möglichkeit
einer parteiinternen Krise.

38. Die herrschende Klasse und ihre politischen Repräsentanten bereiten sich auf eine Offensive gegen
die Arbeiterklasse vor. Dabei wird Rassismus eine noch wichtigere Rolle spielen. Zum einen, um die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit rassistischer Demagogie aufzugreifen und so die Wahlen zu
gewinnen. Zum anderen, um die Arbeiterklasse zu spalten und von Sozialkürzungen abzulenken.
Beides haben wir in Österreich gesehen, wo ebenfalls eine rechte Regierung aus Konservativen und
Nationalisten durch rassistische und soziale Demagogie Wahlen gewann. Einmal in der Regierung,
brach sie mit der Sozialpartnerschaft und führte unter anderem den 12 Stunden-Tag ein. Jeden
Angriff auf die Arbeiterklasse begleitete sie mit einer rassistischen Hetzkampagne in den Medien. Die
Erfahrung in Österreich hat wieder sehr eindeutig gezeigt, dass die herrschende Klasse Rassismus
bewusst als Spaltungsmechanismus einsetzt. Dieses Spaltungsinstrument wird jedoch nicht ewig
funktionieren.

39. Der Angriff der Bürgerlichen wird dabei nicht nur mit Rassismus einhergehen, sondern auch mit
einem Aufrüsten des Repressions- und Überwachungsapparates. Der G20-Gipfel war der Probelauf
und die neuen Polizeiaufgabengesetzte (PAG) in verschiedenen Bundesländern sind erste Schritte in
diese Richtung. Zugleich gestatten sie eine Militarisierung der Polizei. In Bayern wird dieses Jahr ein
Landesregiment für den „Heimatschutz“ aufgestellt. Hinzu kommt, dass bereits jetzt rechtsradikale
Netzwerke in Polizei, Bundeswehr und Geheimdienst bestehen und diese Position ausnutzen werden
um den Klassenkampf von oben erbittert zu führen.

40. Den Strategen der herrschenden Klasse ist klar, dass weitere Angriffe auf den Lebensstandard der
Massen zu einer politischen Gegenreaktion seitens der Arbeiterklasse führen werden. Nicht zuletzt
die Gelbwestenproteste in Frankreich und die österreichischen Proteste gegen den 12-Stunden-Tag
haben das klar vor Augen geführt. Am Ende wird jedoch der mächtigste Repressionsapparat der Welt
das Proletariat nicht aufhalten können, wenn es sich einmal in Bewegung gesetzt hat.

41.Die Organisationen der Arbeiterklasse

42. Wir treten nun in eine neue historische Epoche ein. Diese wird gekennzeichnet sein vom Erstarken
des Klassenkampfes. Die Arbeiterklasse wird durch die Angriffe der herrschenden Klasse und der
regierenden politischen Akteure gezwungen sein, sich zu bewegen, um die eigenen sozialen und
materiellen Bedürfnisse und Errungenschaften zu verteidigen. Dabei wird sich der Klassenkampf von
Seiten der Arbeiterklasse in Form von politischen Protesten und Streiks ausdrücken, welche sich
unter Umständen auch ineinander verweben, abwechselnd anschwellen und abflauen, aber
insbesondere zum normalen Bestandteil des Alltags und damit des gesellschaftlichen Bewusstseins
werden. Das äußert sich bereits jetzt durch eine Vielzahl politischer Proteste wie die Bewegung zur
Enteignung von Deutsche Wohnen, die Seebrücke-, Unteilbar-, Anti-PAG-Demonstrationen, die

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Schülerstreiks gegen den Klimawandel und andere Proteste. Auf der anderen Seite finden wir
steigende Streikbereitschaft vor, wie bei der Belegschaft der Neue-Halberg-Guss, im Pflegesektor,
Amazon, Ryanair, im öffentlichen Dienst, beim Flughafenpersonal, im Transport- und Logistikbereich
usw.

43. Dieser Epoche treten die Spitzen der Arbeitermassenorganisationen völlig unvorbereitet gegenüber.
Alle Massenorganisationen der Arbeiterklasse – SPD, DIE LINKE, Gewerkschaften – sind strategisch
auf Reformismus und Sozialpartnerschaft ausgerichtet. Über Jahrzehnte hinweg haben sie die Politik
der Klassenzusammenarbeit praktiziert und gleichzeitig hat die herrschende Klasse versucht diese
Organisationen in den Staatsapparat zu integrieren. Dies ist in unterschiedlichem Ausmaß passiert.
Die enge Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat und den Unternehmerverbänden hat die
Massenorganisationen einen starken Degenerationsprozess durchlaufen lassen. Dieser
Verbürgerlichungsprozess hat sich nicht nur in den Führungs- und Funktionärsetagen, sondern auch
über alle Ränge der Organisationen hinweg abgespielt. Damit ging eine starke Bürokratisierung der
Apparate einher. Ein proletarischer Klassenstandpunkt bestimmt nicht die politische Strategie der
Massenorganisationen und kann sich mangels innerorganisatorischer Demokratie und der
Abwesenheit von klassenkämpferischen Massenbewegungen auch nicht durchsetzen. Die Strategie
wird stattdessen vom parlamentarischen und „diplomatischen“ Kretinismus bestimmt. Das bedeutet
die Illusion, dass das „Parlament die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibende Macht der
Weltgeschichte sei“ (Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus). Ebenso die Illusion,
dass es zum Errichten besserer Arbeitsverhältnisse, die Kooperation mit dem Kapital benötige.
Gegenwärtig finden klassenfremde Ideen wie Identitätspolitik als vermeintlich radikale Ideen einen
starken Zulauf innerhalb dieser Organisationen.

44. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Einzelgewerkschaften

45. Gewerkschaften sind elementare Klassenkampforganisationen der Arbeiterklasse und dienen dem
alltäglichen Kampf gegen die Willkür der Kapitalisten. Der DGB ist die größte gewerkschaftliche
Organisation in Deutschland und umfasst fast sechs Millionen Mitglieder, was lediglich einen
Organisationsgrad von etwa 16% bedeutet. Tarifgebundene Arbeitsplätze hatten 2017 in
Westdeutschland 57% und in Ostdeutschland 44% der Beschäftigten. Nur mehr 47% der
Beschäftigten bundesweit sind an einen Branchentarifvertrag gebunden. Der Anteil der
tarifgebundenen Betriebe beträgt bundesweit nur noch 25%. Tendenz kontinuierlich sinkend.

46. Der DGB befindet sich in einer Dauerkrise, die jedoch noch nicht offen an die Oberfläche getragen
wurde. Diese Krise speist sich aus dem Widerspruch, eine Kampforganisation der Arbeiterklasse zu
sein und gleichzeitig durch Sozialpartnerschaft und Co-Management im Interesse des bürgerlichen
Staates und der nationalen Bourgeoisie zu handeln.

47. Die imperialistische deutsche Bourgeoisie hat sich stark darum bemüht, die Gewerkschaften in Staat
und Wirtschaft zu integrieren. Sie hat ihnen das Tarifsystem, Mitbestimmung durch Betriebsräte,
Streikrecht, paritätische Aufsichtsräte, usw. zugestanden. Auf der anderen Seite hat die
Gewerkschaftsbürokratie zunehmend auf diplomatische Verhandlungen mit der Bourgeoisie anstelle
von Arbeitskämpfen gesetzt. Die Gewerkschaftsführung und führende Betriebsräte vor allem in
Großkonzerne halten ihre gesellschaftliche Stellung dadurch, dass sie alle Ergebnisse von Streiks und

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Tarifverhandlungen als ihr persönliches Verhandlungsgeschick darstellen und sie deshalb als
unabdingbar für die Gewerkschaftsbasis erscheinen.

48. Andererseits kann die herrschende Klasse die reformistische Gewerkschaftsführung nur so lange als
Junior-Partner dulden, wie diese in der Lage ist, die Arbeiterklasse im nationalen Interesse ruhig zu
halten, quasi als „politische Polizei“. Unter dem Druck der kapitalistischen Sachzwänge hat ab den
1990er Jahren die DGB-Führung immer offener sozialimperialistische Politik betrieben. Das bedeutet,
dass die Gewerkschaftsführung unverblümt im nationalen Interesse der Bourgeoisie und des
bürgerlichen Staates handelte und sich der Standortlogik verschrieb. Also die Arbeiterklasse im
Interesse der herrschenden Klasse ruhig hielt und der Bourgeoisie ermöglichte, die
Ausbeutungsbedingungen zu verbessern. Der DGB hat die Privatisierung und Zerschlagung der
planwirtschaftlichen Betriebe der ehemaligen DDR durch bürgerlichen BRD-Staat, Treuhand und die
westdeutschen Monopolisten gewähren lassen. Der DGB hat keinen Abwehrkampf gegen die Agenda
2010 und die Hartz-Reformen geführt, hat die kontinuierliche Aushöhlung der Flächentarifverträge
zugelassen, hat die Ausweitung und Verfestigung des Niedriglohnsektors, Werk-, Leiharbeit,
Teilzeitarbeit, Minijobs und Zerschlagung von Betrieben zugelassen.

49. Dadurch hat sich die bürokratische Führung jedoch selbst in eine gefährliche Position manövriert. Der
Organisationsgrad ist nur in bestimmten Sektoren hoch, sonst aber sehr niedrig, wodurch die
Gewerkschaftsführung in einer schwächeren Position dasteht. Insbesondere in den prekarisierten
Bereichen (Niedriglohnsektor, Werk-, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Minijob) ist der Organisationsgrad
besonders niedrig, die Mobilisierungskraft entsprechend auch. Für die Gewerkschaften ist es zudem
kaum möglich, mit ihrer bisherigen Strategie in diesen Bereichen eine Basis aufzubauen. Deshalb
verfestigt sich der prekär beschäftigte Teil der Arbeiterklasse und wächst. Eine immer größere
Schicht der Arbeiterklasse steht so außerhalb der Gewerkschaften und ihres ökonomischen
Einflussbereichs.

50. Zudem sorgt die organische Krise des Kapitalismus dafür, dass für den Reformismus kein Raum mehr
besteht. Vor uns entfaltet sich die Krise des Reformismus, die sich in Form der Konterreformen im
Rahmen der Einsparungspolitik äußert. Diese Austeritätspolitik und die Angriffe der herrschenden
Klasse seit den 1990er Jahren haben in Deutschland zu einer Verschärfung der Klassengegensätze
geführt.

51. Dieser Prozess drängt die Gewerkschaftsbürokratie in eine unüberwindbare Zwickmühle: 1. Die
materielle Basis des Reformismus ist nicht mehr gegeben, 2. die Klassenkollaboration hat dafür
gesorgt, dass die Gewerkschaftsbasis kontinuierlich kleiner wird und der Großteil der Arbeiterklasse
sich gegenüber den Gewerkschaften und insbesondere der Führung kritisch positioniert.

52. Gleichzeitig ist die Gewerkschaftsbürokratie die konservativste Kraft im Klassenkampf. Sie wird sich
mit allen Mitteln an die Sozialpartnerschaft klammern, weil diese ihre Existenzgrundlage bildet. Die
100-Jahres-Feier des Stinnes-Legien-Abkommens Ende 2018 gemeinsam mit den
Unternehmerverbänden ist nur die Spitze des Eisbergs.

53. Um die Überreste der „Sozialpartnerschaft“ zu bewahren, wird sich die DGB-Führung dem Staat noch
weiter anbiedern und sich als „unentbehrlich“ und „verlässlich“ präsentieren. Sie werden sich als die
besseren “Bewahrer von Demokratie” aber auch von “Recht und Ordnung” präsentieren. Das äußert

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sich auf verschiedene Weise. Die DGB-Führung war energische Befürworterin der GroKo nach den
Bundestagswahlen 2017. Bei den diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament macht sie
Werbung für die EU und preist diese als Mittel für „Frieden und Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und
„sozialen Zusammenhalt“ an. Um die Klassengegensätze abzumildern, hofft sie auf staatlich
verordnete Allgemeinverbindlichkeit von Flächentarifverträgen. Statt zu kämpfen, versuchen die
reformistische Arbeiterführung eine Quadratur des Kreises, indem sie sich vom
Herrschaftsinstrument der Kapitalisten einen Dienst gegen die Interessen des Kapitals in der
organischen Krise des Kapitalismus erhoffen. Dieses Spiel kann die Gewerkschaftsbürokratie nur
verlieren.

54. Trotzki legt im Manuskript „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“
(1940) völlig richtig dar:

55. „Die Gewerkschaften in unsere Epoche [der Epoche des imperialistischen Niedergangs (Anmerkung
der Redaktion)] können entweder als Hilfsinstrumente des imperialistischen Kapitalismus dienen, um
die Arbeiter unterzuordnen, sie zu disziplinieren und die Revolution zu verhindern, oder sie können
im Gegenteil die Instrumente der revolutionären Bewegung des Proletariats werden.“

56. Was bedeutet das für die gegenwärtige spezifische Situation in Deutschland? Wir sollten uns nicht
vom aktuellen Zustand der Gewerkschaften und insbesondere der Bürokratie blenden lassen. Wenn
die nächste Rezession kommt und einen Frontalangriff der herrschenden Klasse auf die
Arbeiterklasse und die Sozialpartnerschaft mit sich bringt, werden wir eine Reaktion der
Arbeiterklasse gegen diese Angriffe sehen. Diese wird sich in verschiedenen Formen äußern,
darunter eben auch Streiks. Die Gewerkschaftsbürokratie wird sich gezwungenermaßen bewegen
müssen, auch wenn sie keine offene Konfrontation riskieren wird und versuchen wird, alle Kämpfe in
sichere Bahnen zu leiten. Ihr Interesse wird dabei auf die Wahrung der „Augenhöhe" zwischen
Kapitalisten und Gewerkschaftsführung gerichtet sein. Die radikalisierten Schichten der
Arbeiterklasse hingegen werden versuchen, ihre traditionellen Kampforganisationen
zurückzugewinnen.

57. Für uns als revolutionäre Kaderorganisation wird sich die Möglichkeit eröffnen, häufiger und gezielter
in Streiks zu intervenieren und uns eine Basis in der Arbeiterklasse aufzubauen. Die Ideen des
Marxismus werden dort kontinuierlich auf immer fruchtbareren Boden fallen.

58. Die SPD

59. Die SPD befindet sich seit Jahren in einer politischen Krise. Besonders deutlich wurde dies durch die
Bundestagswahl 2017 und verschärft sich seitdem zusehends. Die Landtagswahlen in Bayern und
Hessen 2018 haben das verdeutlicht. Auf Bundesebene liegt sie in Umfragen bei ca. 15%, während
sie 1998 noch ganze 40,9% der Wählerstimmen auf sich ziehen konnte (in absoluten Zahlen bei der
Bundestagwahl: 21 Millionen Wählerinnen und Wähler im Jahr 1998 und 8 Millionen im Jahr 2017).
In diesem Absturz drückt sich konzentriert die Krise des Reformismus aus. Die SPD als traditionelle,
aber verbürgerlichte Arbeiterpartei hat ebenso wie die Gewerkschaften Jahrzehnte lang auf
Klassenkollaboration gesetzt und die Tendenz der Integration in den Staat hat sich hier besonders
stark manifestiert. Die SPD hat die Agenda 2010, Hartz-Reformen und Teilprivatisierung der Rente
(Riester) zu verantworten. Diese Austeritätspolitik war ein Angriff auf die Interessen der

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Arbeiterklasse – ihrer eigenen sozialen Basis – und die negativen Auswirkungen auf die Lebens- und
Arbeitssituation nehmen bis heute zu. Außerdem wurden in der Zwischenzeit durch die GroKo keine
dauerhaften und substanziellen Reformen im Interesse der Arbeiterklasse durchgeführt. Deshalb
wendet sie sich immer stärker von ihrer einstigen traditionellen Massenpartei ab.

60. Die politische Krise der SPD drückt sich auch als organisatorische Krise aus. Die SPD verfügt über
einen immensen bürokratischen Apparat und ist in hohem Maße von staatlichen Mitteln und
Mandatsträgerbeiträgen abhängig, welche deutlich über 40% der Gesamteinahmen der Partei
ausmachen. Da die SPD einen kontinuierlichen Mitgliederschwund erlebt und nun der Gefahr
ausgesetzt ist, in steigendem Ausmaß Mandate und Zugang zu staatlichen Mitteln zu verlieren, leidet
sie bereits jetzt unter finanziellen Engpässen. Das wird zu Verwerfungen innerhalb des Apparates
führen und macht den Parteiapparat noch käuflicher für Kapitalspenden und Lobbydruck.

61. Die politische Krise der SPD, welche aus der Polarisierung der Gesellschaft folgt, hat bereits 2017 zu
internen Reibereien zwischen verschiedenen Flügeln und Versuchen gesorgt, der Partei wieder ein
traditionell Sozialdemokratisches Image zu verpassen. Ausdruck davon waren Martin Schulz und die
NoGroKo-Kampagne, die die SPD nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahl in die
Opposition bringen wollten. Dagegen haben Frank-Walter Steinmeier (Bundespräsident, SPD),
Gerhard Schröder und insbesondere der rechtssozialdemokratische Seeheimer-Kreis als direkte
Vertreter der Kapitalistenklasse interveniert, da die Bourgeoisie nach dem Platzen der Jamaika-
Verhandlungen schnell eine stabile Regierung brauchte. Der herrschenden Klasse gelang es, die SPD
und Schulz unter Kontrolle zu bringen. Dies ging jedoch nur auf Kosten des gesellschaftlichen
Rückhalts der SPD.

62. Diese internen Reibereien nehmen ständig zu. Mittlerweile scheint ein Kampf um die Führung der
Partei entbrannt. Andrea Nahles wird offen von Gerhard Schröder und Siegmar Gabriel attackiert und
ihr innerparteilicher Rückhalt ist stark angeschlagen. Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz
bringt sich als möglichen Kanzlerkandidaten ins Spiel. Gleichzeitig versucht die SPD-Führung jetzt
auch einen Kosmetikkurs in der Sozialpolitik zu fahren. Persönlichkeiten wie S. Gabriel raten sogar
zum Bruch mit der GroKo, sollte die CDU/CSU nicht auf die „Reformpläne“ der SPD eingehen. In der
SPD setzt sich die Erkenntnis durch, dass sie, um die Partei zu retten, zumindest in ihrer Rhetorik und
im Parteiprogramm, einen Schwenk zu sozialem Populismus machen muss. Sie wird versuchen, durch
Versprechen, den Sozialstaat ausbessern zu wollen, einen Teil ihrer Wählerschaft zurückzugewinnen.
Dabei geht es ihnen insbesondere auch darum, die Polarisierung der Gesellschaft einzudämmen und
nach ihrem Verständnis die „Demokratie zu retten“ – d.h. die politische Stabilität der bürgerlichen
Gesellschaft, speziell des Parlamentarismus und damit die Herrschaft des Kapitals aufrecht zu
erhalten. Tatsächlich gab es einen kleinen Aufwärtstrend in den Umfrageergebnissen, nachdem die
SPD eine vermeintliche Abkehr von Hartz IV verkündete. Dieser Trend fiel jedoch nur sehr klein aus.

63. Diese Auseinandersetzungen und der soziale Populismus der SPD sind nicht nur Ausdruck einer
innerparteilichen Krise, sondern auch der Ausdruck des Umgangs der herrschenden Klasse mit der
SPD. Es gibt in der herrschenden Klasse im Groben zwei Taktiken, die sie gegenüber der SPD
verfolgen: Erstens die SPD weiterhin in der GroKo halten, um keine Neuwahlen zu riskieren und
schwach in der EU und gegenüber den imperialistischen Konkurrenten dazustehen. Denn es ihnen ist
klar, dass es zu instabilen Regierungskonstellationen kommen wird. Jetzt aber Schwäche in der EU

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sowie gegenüber den USA und China zu zeigen, ist für die Bourgeoisie zu gefährlich. Die zweite Taktik
ist es, die SPD in die Opposition zu schicken, um die Angriffe des Kapitals zu erleichtern.

64. Ob die GroKo die Legislaturperiode bis 2021 überdauert, ist fragwürdig, da auch die CDU/CSU wegen
der neuen Ausrichtung der SPD in der Sozialpolitik die SPD angreift und die GroKo teilweise in Frage
stellt. Andererseits kommt ihnen dieser Kurs der SPD sehr gelegen, da sie sich so stärker als
konservative Partei durch eine weitere Rechtsverschiebung darstellen können, in der Hoffnung,
ebenso frühere Wählerschichten zurückzugewinnen.

65. Ob es zum Bruch der GroKo kommt oder die Koalition die Legislaturperiode überdauert, wird in
erster Linie nur eines verändern, nämlich die Intensität, mit der die SPD weiter abstürzt. Eins ist
gegenwärtig sicher: So lange es keine sichtbare und glaubhafte Opposition in der SPD gegen ihre
sozialimperialistische Politik gibt, wird die SPD weiter in Richtung Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Für die Landtagswahlen 2019 in Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie auch für die
EU-Wahlen zeichnen sich wieder enorme Verluste ab und es wird unverblümt die
Mobilisierungsschwäche der SPD an den Tag gelegt. Dabei ist offen ersichtlich, dass bestimmte
Schichten auch der Arbeiterklasse auf die SPD blicken und von dieser eine Politik in ihrem Interesse
erhoffen. Das zeigen die Auf und Ab-Bewegungen bei den Umfragen im Zuge der Beteuerungen der
SPD, sich zu bessern, und der darauf folgenden Enttäuschungen.

66. DIE LINKE

67. DIE LINKE als bundesweit kleinere reformistische Partei erfährt die Krise des Reformismus als
kontinuierliche Stagnation. Sie profitiert kaum vom Niedergang der SPD und auch nicht von der
Polarisierung der Gesellschaft. Die LINKE ist in Ostdeutschland derzeit in drei Landesregierungen
vertreten (Berlin, Brandenburg und Thüringen). In diesen Landesregierungen beugt sie sich den
kapitalistischen Sachzwängen und verwaltet als staatstragende und kapitalfreundliche Partei die
bürgerliche Gesellschaft. In den anderen Bundesländern wird sie nicht als glaubhafte Partei, die die
Interessen der Arbeiterklasse verteidigt, wahrgenommen.

68. Auch die LINKE stützt sich auf den Reformismus und die daraus folgende Klassenzusammenarbeit. Sie
steht klar auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln. Der LINKEN liegt keine
marxistische Analyse des Kapitalismus vor, deshalb fehlt ihr auch eine Strategie diesen zu
überwinden. Auch wenn sie gelegentlich noch von „demokratischen Sozialismus“ spricht, gehen ihre
Forderungen meist nur hin zu einer stärkeren Besteuerung der Unternehmensprofite und Vermögen,
sowie wagen Formulierungen zur Demokratisierung der Wirtschaft. In ihrer Agitation und
Propaganda, bemüht sie allgemeine demokratische Forderungen und leistet keinen wesentlichen
Beitrag, das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse zu heben.

69. Dabei eröffnet sich gerade jetzt die Möglichkeit für die LINKE, mit einem radikalen Reformprogramm,
sich tatsächlich als Arbeitermassenorganisation zu etablieren. Das zeigt die Erfahrung mit Corbyn in
England. Doch die LINKE geht einen anderen Weg. Sie schafft es weder die Kampagnen gegen den
Pflegenotstand noch „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ umfassend für sich zu nutzen. Für eine
Partei mit sozialistischem Selbstverständnis wären diese gesellschaftlichen Bewegungen der Ort für
Agitation mit einem radikalen Programm für die Überwindung des Kapitalismus.

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70. Im Wahlkampf für das Europaparlament stützt sich die LINKE auf ein Programm, das nur einmal die
Forderung nach einem sozialistischen Europa erhebt (Wahlprogramm, S. 7). Sie erklärt aber nicht,
was darunter zu verstehen ist, noch wie dies zu erreichen sei. In der Außenarbeit findet sich diese
Forderung gar nicht. Alles was sie anbietet ist der Wunsch nach einem Neustart der EU mit
umgedrehten Vorzeichen. Dass es für ein Ende der Herrschaft des Profitstrebens der Kapitalisten
sowie einer Unterordnung aller anderen gesellschaftlichen Bereiche unter diese Logik, eine
sozialistische Revolution braucht, hat die LINKE nicht auf dem Schirm. Auch hier beschränkt sich
letztlich alles darauf im EU-Parlament vertreten zu sein.

71. Neben ihrem reformistischen Programm und dem parlamentarischen Kretinismus, leidet DIE LINKE
an einer weiteren schwäche. Sie ist nur sehr vereinzelt und deshalb schwach in Betrieben und
Stadtteilen verankert. Ihre Kampagnenarbeit ist nicht darauf ausgelegt und ihre Mitgliedschaft nicht
mit den Ideen ausgestattet, dies zu erreichen.

72. Außerdem hat die LINKE ihre Orientierung auf die SPD und die Hoffnung, diese von außen nach links
zu drängen, nicht verworfen. Diese unglückliche Idee wird nicht Realität werden. Es ist im Gegenzug
die LINKE die schleichend eine rechts Bewegung hinlegt und sich nur graduell von der SPD
unterscheidet. In Ermangelung einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene, konnte sich dies noch
nicht völlig offen zeigen. Aber das Beispiel Thüringen und Brandenburg, wo Teile der Führung eine
Zusammenarbeit mit der CDU nicht ausschließt, um der AfD „etwas entgegenzusetzen“, zeichnet sich
diese Tendenz deutlich ab. Zudem hat die LINKE in Brandenburg genauso für das neue Polizeigesetze
gestimmt. Sie hat die Privatisierung der Autobahn mitgetragen. Die von ihren getragenen
Landesregierungen betreiben Abschiebungen.

73. Besonders in den Ostbundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, wo sie als die stärkere
sozialreformistische Partei vertreten ist, gehört sie zu den etablierten Parteien und wird zunehmend
als solche wahrgenommen. Daraus resultierten ihre Wahlverluste und ihr Mitgliederschwund im
Osten. Die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im Herbst dieses Jahrs, dürften
diesen Trend verschärfen.

74. Die Landtagswahlen in Bremen sind voll auf eine Regierungsbeteiligung mit der SPD und den Grünen
ausgelegt. Sollte dies eintreten, wäre das ein Novum für die westdeutschen Bundesländer. Jedoch
würde das zu einer weiteren rechts Entwicklung der Partei beitragen. Die Grünen sind gegenwärtig
ganz deutlich darauf aus auf Bundesebene in Regierungsverantwortung zu kommen und biedern sich
sehr stark an die CDU an. Lange war rot-rot-grün auch Wunschtraum der LINKEN auf Bundesebene.
Dieser ist aber in so weite Ferne gerückt wie nie zuvor. Zum einen sind rein rechnerisch derzeit die
Mehrheitsverhältnisse nicht in Sicht. Zum anderen strebt die Führung von SPD und Grünen dies auch
gar nicht an und müsste die LINKE ihr Programm vor allem in der Außenpolitik wesentlich
aufweichen. Erst nach der Erfahrung einer Rechtsregierung und unter starkem gesellschaftlichem
Druck kann die Basis für eine „Mitte-Links“-Regierung entstehen.

75. Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine sowie einige ihrer Mitstreiter haben bestimmte Probleme
der LINKEN erkannt. Und versucht, diese von oben herab zu lösen. Auf ihr Hinwirken gründete sich
die „Bewegung“ Aufstehen. Zielsetzung war es auf der Straße eine Bewegung für eine rot-rot-grüne
Koalition im Parlament zu erzeugen. In der Hoffnung möglichst viele anzusprechen wurde ein mildes
Programm vorgelegt. Durch Mangel an innerorganisatorischer Demokratie und klaren Zielen sowie

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starke Abwendung der Parteien SPD, Grüne und LINKE, ist das Projekt gescheitert. Aufstehen ist als
von oben herab aufgesetzte Massenbewegung gescheitert. Nach dem Wagenknecht die Führung aus
ihren Händen gegeben hat, scheint Aufstehen vollends einzuschlafen.

76. Zu dem zieht sich Sahra Wagenknecht aus dem Fraktionsvorsitz der LINKEN zurück. Welche Folgen
das für die Partei haben wird bleibt abzuwarten. Die internen Fraktionskämpfe werden damit mit
Sicherheit nicht beigelegt sein.

77. Politisches Vakuum

78. Es besteht ein Vakuum nach einer klassekämpferischen Massenbewegung und -partei der
Arbeiterklasse. Tatsächlich ist gegenwärtig die Situation so, dass eine Massenbewegung möglich ist.
Es ist sogar wahrscheinlicher, dass Schichten der Arbeiterklasse erstmal den Weg politischer Proteste
gehen werden, als große ökonomische Kämpfe zu führen. Insbesondere eine Rezession wird den
Druck und die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, erhöhen und damit disziplinierend wirken.
Insbesondere auch die Erfahrung gewerkschaftlicher Kämpfe zeigt, dass damit keine großen und
unmittelbaren Erfolge eintreten, die eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation mit sich
bringen. Deshalb ist der politische Weg wahrscheinlicher, weil der Wunsch nach sofortigen und
umfassenden Verbesserungen das Bewusstsein der Arbeiterklasse bestimmen wird. Diese Proteste
können Ähnlichkeit mit den Gelbwestenproteste in Frankreich oder mit der Indignados-Bewegung
(2011/12) in Spanien annehmen. Welche Auswirkungen das auf die Organisationen der
Arbeiterklasse haben wird, wird davon abhängen, wie sich diese zu solch einer Bewegung verhalten
werden.

79.Arbeits- und Lebenssituation in Ostdeutschland

80. Bald 30 Jahre sind seit der Angliederung der DDR vergangen. Die gesellschaftlichen Unterschiede
zwischen West- und Ostdeutschland bleiben aber weiterhin eklatant groß.

81. Die Zahl der Arbeitslosen ist in den neuen Bundesländern höher. Die durchschnittliche Differenz
beträgt 3 Prozentpunkte oder mehr. Über den Solidarpakt sollen seit 1990 Investitionen in den
Ostbundesländern die Beschäftigung erhöhen, z.B. durch die Subvention von Unternehmen. Alle
deutschen Lohnabhängigen zahlen ab einem bestimmten Einkommen eine zusätzliche Steuer von
5,5%, den "Solidaritätszuschlag". Diese „Investitionen“ tragen jedoch nicht zur Verbesserung der
Arbeits- und Lebensverhältnisse im Osten bei. Nicht nur die Arbeitslosigkeit bleibt höher, sondern
auch die Löhne sind niedriger, die Infrastruktur ist in weiten Teilen heruntergekommener, usw. Kein
DAX-Unternehmen hat den Hauptsitz im Osten. Der Solidarpakt soll 2019 auslaufen.

82. Auf verabscheuungswürdige Art und Weise betrügen die Regierung und ihre Ökonomen die
öffentliche Meinung in Bezug auf die Probleme im Osten. In der ehemaligen DDR gab es viele
Unternehmen und die Arbeitslosigkeit war sehr gering, da die Regierungspolitik immer auf die
Vollbeschäftigung von Männern und Frauen abzielte. Die bürgerlichen Ökonomen und Politiker
unterschlagen, dass westliche Industriekonzerne nach dem Fall der Berliner Mauer die Betriebe im
Osten kauften und stilllegten, um jede mögliche Konkurrenz zu unterdrücken. Die Arbeitslosigkeit
stieg plötzlich an und den Lohnabhängigen wurden schlechtere Arbeitsbedingungen aufgezwungen.

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Mit der Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 brachen die Absatzmärkte in Osteuropa schlagartig
weg.

83. Ost-West-Lohnunterschiede bestehen Jahrzehnte nach der Angliederung der DDR deutlich weiter. Im
Jahr 2005, 15 Jahre danach, betrug das durchschnittliche Bruttoeinkommen im Osten Deutschlands
2239€, im Westen waren es 3009€ (770€ mehr). Mehr als 10 Jahre später, im Jahr 2017, betrug das
durchschnittliche Bruttoeinkommen 3049€ für den Osten und 3885€ für die westlichen Bundesländer
und erreichte eine noch höhere Differenz von 839€.

84. Diese Unterschiede waren eine der Ursachen für eine große Binnenmigration von Osten nach
Westen, vor allem der jungen Generation. Abgesehen von den beiden wichtigsten Städten Dresden
und Leipzig und ausgenommen Berlin, hat fast jede Stadt im Osten seit Jahren einen konstanten
Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. Dieses Phänomen hat sich nach 2012 in den absoluten Zahlen
verringert, sodass die Zuwanderung die Abwanderung etwas übertrifft. Die Bevölkerungszahl der
neuen Bundesländer ist von 1990 bis 2017 insgesamt durchschnittlich um 15 Prozent
zurückgegangen. Dadurch liegt der Anteil von über 65 Jährigen in den Kreisen der neuen
Bundesländern in der Regel über 20 und oftmals über 26 Prozent.

85. Die Lohnlücke hat mehrere Gründe: Erstens sinkt der Anteil der mit einem Tarifvertrag angestellten
Lohnabhängigen seit Jahren dramatisch. 1997 waren im Westen Deutschlands 76% der Beschäftigten
bei einem Unternehmen beschäftigt, das einen Tarifvertrag mit einer Gewerkschaft hatte. Dieser
Anteil lag im Osten bei 63 Prozent. Doch 20 Jahre später, im Jahr 2017, sind nur 57 Prozent der
Lohnabhängigen im Westen und 44 Prozent im Osten durch diese Tarifverträge geschützt. Der Anteil
wird in der Zukunft weiter sinken.

86. Statt sich auf ausgehandelte Tarife stützen zu können, müssen Lohnabhängige in
Einzelverhandlungen mit den Bossen einen Kompromiss finden. Insbesondere für nicht oder
niedrigqualifizierte Lohnabhängige bedeutet das: Den Job zu diktierten Konditionen annehmen oder
Arbeitslosigkeit. Die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen sich gegenseitig zu unterbieten, um
leben zu können steigt. Aber auch qualifizierte Arbeiter (Ingenieure, spezialisierte Techniker und
andere typische Mittelschichtsberufe) profitieren nicht davon. Auch ihr Lohn ist in der Regel niedriger
ist als der ihrer jeweiligen nach Tarif bezahlten Kollegen. Die einzigen Gewinner sind immer die
Kapitalisten.

87. Bürgerliche Ökonomen und die Kapitalisten rechtfertigen die Lohndifferenz mit vermeintlich
niedrigeren Lebenshaltungskosten sowie niedrigerer Produktivität der Arbeit. Dabei sind nur in
wenigen hauptsächlich ländlichen Gebieten Ostdeutschlands Wohnungen tatsächlich günstiger.
Dasselbe gilt aber auch für Wohnungspreise in ländlichen Gebieten im Westen. In den größten
Städten (Leipzig, Dresden, Berlin, Erfurt) gibt es diese Unterschiede fast nicht. Alles andere kostet
genau dasselbe oder noch mehr. Wenn es zum Beispiel im Westen häufiger vorkommt, ein Jobticket
für den öffentlichen Nahverkehr vom Betrieb gestellt zu bekommen, ist das im Osten sehr
ungewöhnlich. Hier muss jeder Beschäftigte 100% der Transportkosten bezahlen oder erhält lediglich
sehr kleine Rabatte.

88. Die Gewerkschaften spielten bei all diesen Veranstaltungen natürlich eine besondere Rolle. Sie haben
die Zerschlagung vieler Betriebe, die mit der Restaurierung des Kapitalismus einsetzte, nicht

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verhindert. Heute bitten sie nicht einmal mehr explizit darum, die Lohnlücke zu schließen. Das hat
dazu geführt, dass die ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter kaum Vertrauen in die
Gewerkschaften haben. Beeindruckend zeigen das die Zahlen der Gewerkschaftsmitglieder.
Nachdem die DDR in die BRD integriert wurde, lösten sich die Ostgewerkschaften (FDGB) im DGB auf.
1990 zählte der DGB 7,9 Millionen Mitglieder und nach der Integration der Ostgewerkschaften fast
12 Millionen (1991). Nach zehn Jahren, also im Jahr 2000, zählte der DGB nur noch 7,7 Millionen
Mitglieder. Insbesondere im Osten waren durch die zerschlagenen Arbeitsplätze besonders viele
ausgetreten. Mittlerweile steigt die Streikbereitschaft wieder und es konnten einige Erfolge erzielt
werden. So wurde der TVöD angeglichen an den Westen angeglichen, in Berlin wird die Charité
immer wieder bestreikt sowie der öffentliche Nahverkehr.

89. Was die Produktivität betrifft, so ist das Problem sehr undurchsichtig. Professor W. Smolny von der
UULM-Universität veröffentlichte 2011 einen sehr interessanten Artikel mit dem Titel " Wage
differentials between East and West Germany: Are they related to the location or to the people?"
(Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland: Hängen sie mit dem Ort oder den Menschen
zusammen?). Dem Artikel liegt zwar keine marxistische Analyse zugrunde, trotzdem kommt Prof.
Smolny zu dem Schluss: Ostdeutsche Lohnabhängige werden ausschließlich für ihre geografische
Lage schlechter bezahlt. Die Studie belegt, dass die geringere Produktivität der Arbeit eine Folge
mangelnder Infrastruktur und Investitionen ist. Allein deshalb besteht die Produktivitätsdifferenz.
Schuld sind aber nicht die Arbeiter. Sie besitzen gleichwertige Fähigkeiten und gleichwertiges
Fachwissen wie ihre westlichen Kolleginnen und Kollegen. Ostdeutsche Schüler fallen besonders in
den MINT-Fächern durch exzellente Leistungen auf. Die Lohnabhängigen in Ostdeutschland zahlen
die Rechnung. Im Durchschnitt arbeiten sie 3-4 Stunden mehr pro Woche als in Westdeutschland. Die
Industrie ist immer noch eine verlängerte Werkbank westdeutscher und internationaler Konzerne.

90. Der zweite Hauptgrund für dieses Lohngefälle ist nämlich, dass die Lohnabhängigen in
Ostdeutschland im Schnitt stärker für die Produktion, aber weniger für Forschung und Entwicklung
ausgebeutet werden. Ein gutes Beispiel sind die Hightech-Produktionsindustrien von Dresden und
Leipzig, vor allem der Region Silicon Saxony. Es gibt mehrere multinationale Unternehmen, die auf
Halbleiterproduktion und High-Tech-Materialien im Allgemeinen ausgerichtet sind. In Chemnitz,
Dresden und Leipzig gibt es auch große Autofabriken von VW, Porsche, BMW und Mercedes. In
diesem Produktionskontext haben die Kapitalisten ein Interesse daran, die Produktionskosten so
gering wie möglich zu halten. Es ist falsch zu sagen, dass es überhaupt keine Forschung gibt. Diese
Entwicklungen sind aber eng mit der Optimierung der Produktion selbst verbunden (schnellere
Produktion, weniger Fehler im Endprodukt).

91. Der Unterschied in der Behandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern aus dem Osten und dem
Westen ist wirklich in Bezug auf jede Art von Beruf der Arbeiterklasse zu finden. Das Gewicht von
Großbourgeoisie und Kleinbürgertum hat im Osten weniger Gewicht. All diese Widersprüche laufen
auf einen Punkt zu, an dem der Klassenkampf irgendwann plötzlich explodieren kann und alle
Arbeiterorganisationen, linken Parteien und Gewerkschaften werden sich völlig unvorbereitet und
unorganisiert darin wiederfinden.

92.Aufstieg der AfD

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93. Diese Umstände sind die materiellen Grundlagen für die angestaute Wut in der Arbeiterklasse und
kleinbürgerlicher Schichten besonders in Ostdeutschland und gleichzeitig die Basis für den Aufstieg
der AfD. Sie findet ihre Zustimmung durch die Opposition gegen Merkels Zuwanderungspolitik. Als
Marxisten sind wir entschieden gegen jede Einwanderungskontrolle. Wir sind der Meinung, dass
jeder Mensch berechtigt ist, seinen Wohnort dort zu suchen, wo es dieser Person recht ist. Sei es, um
bessere Arbeits- oder Lebensbedingungen zu finden oder andere Beweggründe. Merkels
Einwanderungspolitik ist wie die eines jeden Bürgerlichen, rein opportunistisch. Die deutsche
Wirtschaft stützt sich seit langem auf die Arbeitskraft von Migranten. Die deutsche Bourgeoisie und
die bürgerlichen Politiker werben auf verschiedenen Wegen gering- bis hochqualifizierte
Arbeitskräfte an, um sie für ihre Profite auszubeuten. Einer von 10 Lohnabhängigen in Deutschland
hat einen Migrationshintergrund. Die Politik der AfD gegenüber Einwanderern (oder Flüchtlingen) ist
daher rein demagogischer Natur.

94. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann die AfD 12,6 Prozent der Wähler und zog in den Bundestag ein.
Vor allem im östlichen Sachsen erreichte sie mehr als 35 Prozent. Die Gebiete, in denen die AfD viele
Stimmen gewonnen hat, sind in der Regel keine Gebiete mit hohen Einwanderungszahlen. Ganz im
Gegenteil. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel ist die Zahl der Zuwanderer die
niedrigste bundesweit und beträgt jeweils anteilsmäßig 4%. In Sachsen 4,2 % oder Sachsen-Anhalt
4,4%. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 11,2% und in Hessen, Hamburg, Bremen und Berlin über 15%.
Die Wählerbasis der AfD ist vielschichtig und hat unterschiedliche Klasseninteressen. Zum einen sind
es kleinbürgerliche Schichten, die sich im Konkurrenzkampf mit dem Großkapital ruinieren. Auf der
anderen Seite bestimmte Schichten der Arbeiterklasse, die den Abstieg fürchten oder bereits erlebt
haben. Nur ein geringer Anteil der Wählerinnen und Wähler ist tatsächlich durch und durch
rassistisch und nationalistisch motiviert.

95. Der Wahlerfolg ist in Wirklichkeit Ausdruck von Wut und Frustration über eine dauerhaft
abnehmende Lebensqualität und ungewisse Zukunft. Dies wird von der AfD rassistisch und
sozialdemagogisch ausgenutzt. Auch die Medien beteiligen sich daran. Der AfD wird seit Jahren eine
große Bühne in allen Massenmedien geboten. Ihre Spitzenkandidaten werden hofiert und dürfen ihre
rassistische und demagogische Propaganda verbreiten. Als Antwort erhält die AfD in aller Regel leere
moralische Entrüstung sowie die Umsetzung ihrer Positionen durch die Regierungsparteien auf
Landes- und Bundesebene. Die herrschende Klasse ist nicht gegen Migration, sondern für eine
selektive und profitable Migration. Eine gespaltene, sich gegenseitig bekämpfende Arbeiterklasse
verbessert die Ausbeutungsbedingungen.

96. Die AfD ist zudem stark gespalten und es herrschen interne Machtkämpfe. Ein Teil der Faschisten um
André Poggenburg hat sich bereits abgespalten und eine eigene Parteisekte gegründet. Gegenwärtig
versucht sich der Flügel um Björn Höcke stärker in der AfD durchzusetzen. Intern wird mit
Sprechverboten und angedrohten Rauswürfen versucht, die rechtsradikalen Elemente der Partei
ruhigzuhalten. Weitere Spaltungen der Partei sind möglich. Besonders im Hinblick auf die
Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden sich die Spannungen mit Sicherheit
weiter erhöhen. Für die Wahlkämpfe sollen hohe Summen zur Verfügung gestellt werden und die
Höcke-Seite möchte mit Sozialdemagogie und Rassismus á la „Sozial National“ einen Wahlkampf
führen in der Hoffnung, größere Teile der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen. Dieser Ansatz steht
gegen die Ausrichtung der neoliberalen Teile der Partei. Im Osten ist der faschistische Flügel stärker,
im Westen der national-konservative bzw. national-liberale Flügel.

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97. Im vergangenen Jahr gab es viele Demonstrationen, die von rechtsextremen Bewegungen organisiert
wurden. Die rechte Demagogie der Politik zeigte besonders in Chemnitz ihre Auswirkungen, wo Nazis
und Faschisten von rechtsradikalen Parteien und Organisationen wie Pro Chemnitz ungeniert
auftraten und sich angesichts des Desinteresses des Staates sicher fühlten. Der Gipfel waren offene
Hitlergrüße und Parolen, sowie Jagdszenen und Gewalt gegen migrantisch aussehende Menschen.
Zudem kommen immer mehr Informationen zu faschistischen Untergrundnetzwerken in Staat und
Behörden, darunter Polizei und Bundeswehr, ans Tageslicht. Ebenfalls sinnbildlich war die
Verfassungsschutzaffäre um dessen Chef Maaßen und seine Verstrickungen ins Umfeld der AfD.
Gewaltbereit sind zudem nur kleine Gruppierungen von Faschisten und rechtsradikalen Hooligans.
Jedoch führte die gesellschaftliche Polarisierung zu breiten Gegendemonstrationen, die den Rechten
zahlenmäßig weit überlagen. Darüber hinaus werden regelmäßig zehntausende Menschen in
diversen Städten zu antifaschistischen Demonstrationen auf die Straße mobilisiert.

98. Eine Machtübernahme durch eine bewaffnete faschistische Massenbewegung wie 1933 ist in den
kommenden Jahren ausgeschlossen. Faschisten sind in der heutigen Epoche in erster Linie ggf.
Hilfstruppen des bürgerlichen Staates und bemühen sich seit geraumer Zeit um den Aufbau von
Untergrundstrukturen in den Sicherheitsorganen und Geheimdiensten (Polizei, Bundeswehr,
Verfassungsschutz). Gleichzeitig gehören individueller Terror, militante Übergriffe und
Einschüchterungsversuche zum Arsenal faschistischer Banden: Brandanschläge auf Asylunterkünfte,
linke Parteibüros und Kulturzentren, gewalttätige Übergriffe, antisemitische Schmierereien und
Grabschändungen. Solche Taten und rechte Demonstrationen lösen aber in der öffentlichen Meinung
immer breite Reaktionen ebenso wie Gegendemonstrationen aus.

99. Der Großteil der Arbeiterklasse steht in Opposition zu Aufrüstung von Militär und Polizei,
rassistischer Demagogie, Zerstörung der Infrastruktur und Bildungseinrichtungen, Abbau des
Sozialstaates, Wohnungsnot, sinkendem Lebensstandard, Betriebsabwicklungen, Arbeitslosigkeit und
Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse. Insbesondere letztes Jahr ging eine Welle von
Massenprotesten gegen neue Polizeigesetze, Abschiebungen, Mietenwucher, Umweltzerstörung und
rechte Politik durch Deutschland. Fast täglich finden Demonstrationen statt und regelmäßig sind
zehntausende daran beteiligt. Einen vorläufigen Höhepunkt bildet die „UNTEILBAR“-Demonstration
vom 13. Oktober 2018 in Berlin mit bis zu 240.000 Demonstrierenden. Und auch in diesem Jahr
findet das keinen Abbruch, wie die Fridays for Future Schulstreiks zeigen.

100. Die These eines gesellschaftlichen Rechtsruckes ist nicht haltbar, sondern lediglich eine
oberflächliche Betrachtung. Was wir heute erleben ist die Polarisierung der Gesellschaft. Die
herrschende Klasse und ihre politische Vertretung sowie mit ihr verbundene bürgerliche Intelligenz
rücken zunehmend nach rechts, während die Arbeiterklasse objektiv auf einen großen Sprung zu
antikapitalistischen Kämpfen vorbereitet wird. Das Kapital wird durch die Überproduktionskrise und
ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen dazu gezwungen, aggressiver gegen die
Arbeiterklasse vorzugehen. Letztere wird sich deshalb wehren müssen. Diejenigen, die bei den
Demonstrationsbewegungen seit der Krise 2008 dabei waren, werden sich in der nächsten Krise
weiter radikalisieren und den Kapitalismus in Frage stellen. Es werden weitere noch nicht politisierte
oder noch schwankende Schichten ins politische Leben treten. In der gegenwärtigen Entwicklung ist
eine klassenkämpferische Massenbewegung angelegt. Dass sie noch keinen Ausdruck findet, ist der
reformistischen Führung der Arbeiterorganisationen geschuldet.

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101. Die AfD ist ein Spaltungsinstrument gegen die Arbeiterklasse und muss erbittert bekämpft werden.
Ein erfolgreicher Kampf gegen die AfD kann aber nicht mit moralischer Entrüstung und abstrakten
Protesten á la „FCK AFD“ gewonnen werden, sondern nur als revolutionärer Klassenkampf gegen den
Kapitalismus. Die AfD ist ein Krisensymptom. Symptome kann man nur bekämpfen, wenn man die
Ursache an der Wurzel herausreißt

102. Die Jugend erwacht zu politischem Bewusstsein

103. Um die Jahreswende wurden wir Zeugen der Geburt einer spontanen Jugendbewegung, die sich über
alle Ländergrenzen hinweg global ausbreitet. Ausgelöst wurde dies durch die Schulstreiks der
schwedischen Schülerin Greta Thunberg. Sie machte auf das Versagen der Politik in Bezug auf die
größte globale Gefahr für menschliches Leben an sich aufmerksam – die Klimaerwärmung.
Tatsächlich gibt es dafür keine Lösung im Rahmen des Kapitalismus.

104. Die Bewegung ist gegenwärtig natürlich verwirrt. Sie ist durchdrungen von den Illusionen
klassenfremder Ideologien. Die führenden Persönlichkeiten kommen oft aus dem grün-ökologischen
Milieu und versuchen in Dialog mit den Regierenden zu kommen. Auf der anderen Seite predigen sie
das individuelle Konsumverhalten zu ändern. Klassenkampf oder gar Revolution wollen sie nicht. Die
Regierenden versuchen diese Bewegung deshalb auch zu vereinnahmen, insbesondere indem sie mit
den führenden Persönlichkeiten dieser Bewegung in Dialog treten. Dabei verweisen sie aber nur
darauf, Geduld zu haben und die Experten machen zu lassen. Echte Lösungen bieten sie natürlich
nicht an.

105. Gleichzeitig sind wachsende Teile der Jugend dabei, sich zu politisieren und zu radikalisieren. Sie sind
bereit für umgehende Lösungen zu kämpfen. In den Demonstrationsreihen finden sich Slogans, die
einen Systemwechsel fordern. Unsere Aufgabe ist es, marxistische Ideen in diesen Bewegungen zu
verbreiten, Einzelne zu überzeugen und zu gewinnen. Einmal für Ideen gewonnen, werden sie diese
enthusiastisch weiterverbreiten. Dazu trägt bei, dass die bürgerlichen Politiker diese Bewegung nicht
ernstnehmen, keine Lösungen anbieten und damit sich selbst und das gesamte Gesellschaftssystem
diskreditieren.

106. Kapital und herrschende Politiker sind geneigt, davon abzulenken, wer für eine drohende
Umweltkatastrophe verantwortlich ist. Im IMT-Statement „Der Kapitalismus zerstört den Planeten –
Wir brauchen eine Revolution!“ erklären wir: „Es ist das derzeitige Wirtschaftssystem, der
Kapitalismus, das unseren Planeten zerstört. Sein unersättliches Streben nach kurzfristiger
Gewinnmaximierung ist für den Unterbietungswettlauf verantwortlich, durch den Umweltstandards
und Lebensbedingungen immer weiter gesenkt werden. Großunternehmen entscheiden, was und
wie produziert wird. Aber dies basiert nicht auf einem Plan. Stattdessen wird unsere Wirtschaft der
sogenannten „unsichtbaren Hand“ überlassen – also der Anarchie des Marktes. Kapitalistische
Politiker können als Antwort auf diese Zerstörung nichts anbieten. Sie können nur vorschlagen, dass
wir uns alle zusammenschließen und individuelle Entscheidungen treffen sollen, um unseren
ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Dieses liberale, individualistische Mantra steht in völligem
Widerspruch zu den Fakten. Eine aktuelle Studie zeigt zum Beispiel, dass nur 100 Großkonzerne
(hauptsächlich Hersteller fossiler Brennstoffe) für mehr als 70 Prozent der Treibhausgasemissionen
verantwortlich sind. Dies verdeutlicht, wer wirklich schuld am Klimawandel ist.“

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Endfassung Deutsche Perspektiven 2019 18.05.2019

107. Die Umweltfrage ist immer auch eine Klassenfrage, denn in erster Linie leiden die armen und
arbeitenden Menschen unter den Umweltschäden. Junge Menschen sehen mit voller Sorge in die
Zukunft, wenn sie sehen, dass die ökologische Frage nicht ernsthaft angegangen wird. Deshalb
müssen wir uns darauf einstellen, dass auch in Zukunft diese Frage Menschen, besonders
Jugendliche, mobilisieren wird. Umweltkatastrophen haben bereits in der Vergangenheit soziale
Unruhen und Massenbewegungen ausgelöst und Regierungen destabilisiert. Dies gilt etwa für
Chemieunfälle wie in Seveso 1976 und Bhopal 1984. Ökologische Katastrophen sind oftmals auch
Katalysator für neue Bewegungen, die revolutionäre Kräfte entfachen können. Der Kampf um den
Hambacher Forst oder gegen Verkehrsgroßprojekte wie Stuttgart 21 sind nur einige Beispiele hierfür.

108. Außerdem sind Jugendliche einem enormen Leistungsdruck in den Bildungseinrichtungen und auf
dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ausgesetzt. Für diejenigen mit niedrigen Schulqualifikationen
sind Ausbildungsstellen nur eingeschränkt vorhanden, insbesondere solche, die eine sichere
Lebensplanung erlauben. Für die mit Hochschulreife steht ein ebenso verschultes und Leistungsdruck
erzeugendes Studium an, wenn die Einschreibungshürden überhaupt bewältigt werden können. Die
Mieten in den Universitätsstädten steigen und die Konkurrenz um Jobs ist groß. Und nach dem
Studium ist eine sichere Lebensplanung zunehmend nicht vorhanden. 44 Prozent aller
Neueinstellungen sind nur noch befristete Verträge und 60 Prozent der befristet Beschäftigten sind
unter 35 Jahren. Die jungen Generationen werden den Lebensstandard und die Planungssicherheit
ihrer Großeltern und Eltern nicht erleben. Damit einher gehen alle möglichen sozialen und
psychologischen Probleme. Aber auch die Suche nach einer Lösung für diese Probleme. Die Lösung
bietet der wissenschaftliche Sozialismus.

109. Auch in Deutschland sehen wir in der Arbeiterklasse und besonders in der Jugend
Radikalisierungsprozesse und enorme Potentiale für die nähere Zukunft. Diese fortschrittlichen
Elemente der Gesellschaft gilt es von unseren Ideen zu überzeugen und im Funken und in der
International Marxist Tendency zu organisieren. Wir brauchen unsere geeinten Kräfte, um uns in der
Arbeiterbewegung etablieren zu können und eine entscheidende Kraft im Kampf, um den Sozialismus
zu werden! Sorgen wir dafür, dass sich die Niederlagen der Vergangenheit nicht wiederholen! An uns
liegt es jetzt den Grundstein für eine revolutionäre Partei zu legen, damit die Arbeiterklasse dieses
parasitäre System der Ausbeutung erfolgreich stürzten kann! Nieder mit der Klassengesellschaft!
Vorwärts zum Sozialismus!

110. 18.05.2019, Bundeskongress

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