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Stefan Klingner*
Kants Begriff einer intellektuellen
Anschauung und die rationalistische
Rechtfertigung philosophischen Wissens
DOI 10.1515/kant-2016-0052
Abstract: In his critical works, Kant specifies the concept of “intellectual intui-
tion” in three different ways. First, he identifies intellectual intuition with God’s
original intuition. Second, he describes intellectual intuition as non-sensible
intuition that can apprehend noumenal objects. And third, he characterizes a
kind of non-discursive but intellectual perception as intuitive understanding.
The paper points out that this ambiguity is coherent by considering the polemi-
cal context in which Kant criticizes rationalistic metaphysics and epistemology,
especially the views of Spinoza and Leibniz. In addition, it is shown that “moder-
ate” rationalism in contemporary epistemology ignores Kant’s decisive criticism
of the view that non-sensible intuition can justify philosophical knowledge.
Der Dualismus von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand steht im
Zentrum von Kants kritischer Theorie der Erkenntnis.1 Seine Deutung dieses Dua-
lismus ist in zweifacher Hinsicht wegweisend: Ihrem Anspruch nach findet mit ihr
in philosophiehistorischer Hinsicht die Entgegensetzung von Rationalismus und
Empirismus ihr Ende, indem die erkenntnistheoretischen Ansprüche beider Tradi-
tionen legitimiert und zugleich relativiert werden. In systematischer Hinsicht bringt
sie die Irreduzibilität und wechselseitige Bezogenheit der beiden für jede Form von
Erkenntnis wesentlichen Aspekte des Gegebenen und des Gedachten in pointier-
ter Weise zum Ausdruck.2 Im Kontext seiner Deutung des Dualismus von Anschau-
ung und Begriff steht auch Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung.
1 S. bes. KrV, B 33, AA 03: 49.06–20 und KrV, B 74 f., AA 03: 74.09–75.21; ferner Log, AA 09: 35.33–
36.16.
2 S. u. a. Flach, Werner: Grundzüge der Erkenntnislehre: Erkenntniskritik. Logik. Methodologie.
Würzburg 1994, 192.
Bei der Durchsicht der kritischen Schriften Kants ist allerdings leicht der
Eindruck zu gewinnen, dass der Begriff einer intellektuellen Anschauung alles
andere als eindeutig ist. So ist die intellektuelle Anschauung etwa der „Trans-
zendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft zufolge „ursprünglich, d. i.
eine solche, […] durch die selbst das Dasein des Objects der Anschauung gegeben
wird“3. In der Streitschrift gegen Eberhard bestimmt Kant sie dagegen als „dem
Objecte nach ganz intellectuell, d. i. wir schauen die Dinge an, wie sie sind“4. Und
nach den Überlegungen Kants in seinem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen
vornehmen Ton in der Philosophie kann sie wiederum „den Gegenstand unmit-
telbar und auf einmal fassen und darstellen“5. Mit diesen exemplarisch heraus-
gegriffenen Bemerkungen Kants scheint der Begriff ‚intellektuelle Anschauung‘
zumindest durch drei Merkmale bestimmt zu sein: Die intellektuelle Anschauung
ist produktiv, da ‚durch sie selbst das Dasein des Objekts‘ hervorgebracht wird,
ihr Objekt ist nichtsinnlich, da durch sie ‚die Dinge, wie sie sind‘, angeschaut
werden, ihre Erkenntnisweise ist intuitiv, da sie ‚den Gegenstand unmittelbar‘ er-
fasst.
Es ist nicht einfach, diese drei Bestimmungen vor dem Hintergrund von
Kants Deutung des Dualismus von Anschauung und Begriff bzw. Sinnlichkeit
und Verstand in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Denn wenn die
intellektuelle Anschauung ihr Objekt selbst erst hervorbringt, dann ist nicht klar,
inwiefern sie noch sinnvoll als Anschauung bezeichnet werden kann, die „nur
statt[findet], sofern […] der Gegenstand gegeben wird“6. Und wenn sie ihr Objekt
unmittelbar erfasst, dann ist nicht klar, wie sie noch sinnvoll als intellektuell
bezeichnet werden kann, d. h. als etwas, das „zum Denken überhaupt gehört“7.
Lediglich in einem Punkt stimmen alle drei Bestimmungen überein: Der Begriff
‚intellektuelle Anschauung‘ hat keine objektive Realität. Denn Kant zufolge ist
die sinnliche Anschauung „die einzige, die wir haben“8.
Diese Kritik an der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung ist zugleich
eine Kritik an der rationalistischen Erkenntnistheorie. Das ist insofern wenig
überraschend, als Kant selbst den Begriff ‚intellektuelle Anschauung‘ häufig im
9 Vgl. neben der u. a. gegen den Rationalismus Moses Mendelssohns gerichteten Schrift Was
heißt: Sich im Denken orientiren? (s. bes. WDO, AA 08: 142.12–143.06) und der Streitschrift gegen
Eberhard (s. bes. ÜE, AA 08: 216.03–20; ÜE, AA 08: 219.16–220.14; ÜE, AA 08: 240.03–35; ÜE,
AA 08: 248.28–249.01) auch Kants Kritik an der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz im
Amphibolie-Kapitel oder an der rationalen Psychologie im Paralogismus-Kapitel der Kritik der
reinen Vernunft (s. bes. KrV, B 333 f., AA 03: 224.34–225.12; KrV, B 335 f., AA 03: 225.32–226.11; KrV,
B 342 f., AA 03: 229.30–231.19; KrV, B 407 f., AA 03: 267.29–268.06; KrV, B 428 f., AA 03: 279.10–14)
sowie seine Kritik an der ‚Schwärmerei‘ Platons und Baruch de Spinozas in einigen Reflexionen
zur Metaphysik (s. Refl, AA 18: 434.08–439.02, R 6050–6052).
10 Dort bezeichnet Kant mit der Wendung ‚intuitus intellectualium‘ eine ‚urbildliche‘ (arche
typus), ‚göttliche Anschauung‘ (intuitus divinus), die mit der platonischen ‚Idee‘ zu identifizieren
sei (vgl. MSI, § 10, AA 02: 396.19–397.04 und MSI, § 25, AA 02: 413.15 f.; s. für eine Analyse der Dis
sertatio mit ausschließlichem Blick auf den Begriff ‚intuitus intellectualis‘ Garnett Jr., Christopher
B.: „Kant’s Theory of Intuitus Intellectualis in the Inaugural Dissertation of 1770“. In: The Philo
sophical Review 46, 1937, 424–432 und zu Kants Deutung des Ideenbegriffs Platons und ihrem
philosophiehistorischen Hintergrund Santozki, Ulrike: Die Bedeutung antiker Theorien für die
Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken. Berlin/New York
2006, 139–148, bes. 145–147).
11 S. z. B. die zweite Anmerkung des Lehrsatzes 40 zusammen mit den Lehrsätzen 46 (samt
Beweis) und 47 (bes. samt Anmerkung) des zweiten Teils sowie die Lehrsätze 25–36 (samt
Beweisen, Folgesätzen und Anmerkungen) des fünften Teils von Spinozas Ethik (E, 182 f., 194 f.,
568–583) und Leibniz’ Differenzierung des Begriffs ‚Erkenntnis‘ (cognitio, connoissance) in den
Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen (MC, bes. 36 f.) sowie in Art. 24
der Metaphysischen Abhandlung (DM, bes. 126 f.). Die Seitenverweise beziehen sich hier und
im Folgenden auf Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch-
Deutsch. Hrsg. von Wolfgang Bartuschat. 3. Aufl. Hamburg 2010 (=E); ders.: Abhandlung über die
Verbesserung des Verstandes. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. von Wolfgang Bartuschat. 2. Aufl. Ham-
burg 2003 (=TIE); Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Meditationes de cognitione, veritate et ideis“. In:
Kleine Schriften zur Metaphysik. Hrsg. von Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1996, 32–47 (=MC);
ders.: „Discours de métaphysique“. In: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hrsg. von Hans Heinz
Holz. Frankfurt a. M. 1996, 56–165 (=DM).
mit Blick auf das bis heute diskutierte Problem der Rechtfertigung des von einem
bloß rationalistisch philosophierenden Subjekt beanspruchten Wissens hat.
Um Kants mehrdeutige Verwendung des Begriffs ‚intellektuelle Anschau-
ung‘ verstehen zu können, müssen einerseits die verschiedenen Kontexte, in
denen er ihn verwendet, und andererseits seine Kritik an der rationalistischen
Erkenntnistheorie und ihren metaphysischen Voraussetzungen berücksichtigt
werden. Daher werden im Folgenden zuerst Kants verschiedene Bestimmungen
des Begriffs einer intellektuellen Anschauung vorgestellt (1). Darauf ist – zumin-
dest andeutungsweise – zu prüfen, inwiefern sich die kantischen Bestimmungen
auf Spinozas und Leibniz’ metaphysische und erkenntnistheoretische Überle-
gungen beziehen lassen (2), um den Zusammenhang dieser Bestimmungen und
die erkenntniskritische Funktion des Begriffs einer intellektuellen Anschauung
klar und zugleich differenziert herausstellen zu können (3). Abschließend wird
danach gefragt, ob Kants Kritik auch mit Blick auf Überlegungen jüngerer Varian-
ten des Rationalismus und deren Inanspruchnahme eines Vermögens ‚rationaler
Einsicht‘ brauchbar ist (4).
liche Anschauung‘ sind augenscheinlich nicht synonym. Denn mit Blick auf ihren
Gegenstand ist die erste durch das Merkmal der Produktivität, die zweite durch
das der Gegebenheit ausgezeichnet. In beiden Fällen liegt sie aber „schlechter-
dings außer unserem Erkenntnißvermögen“15. Dennoch gibt Kant einige nähere
Bestimmungen beider Begriffe.
Nach der bereits zitierten Passage aus dem letzten Abschnitt von § 8 der
ersten Kritik ist die intellektuelle Anschauung qua ursprüngliche Anschauung als
produktiv ausgezeichnet, die „allein dem Urwesen […] zuzukommen scheint“16.
Diese Auszeichnung findet sich in denjenigen Bemerkungen Kants in der „Trans-
zendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ wieder, die einen anschau-
enden Verstand thematisieren.17 Ein solcher Verstand wäre ein „göttliche[r], der
nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung
die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden“18. Sowohl
die intellektuelle Anschauung als auch der anschauende Verstand sind demnach
in dem Sinne ‚göttlich‘, als ‚durch sie selbst‘ bzw. ‚durch dessen Vorstellung‘
zugleich ‚das Dasein des Objects gegeben‘ würde bzw. ‚die Gegenstände selbst
hervorgebracht‘ würden. Die beiden Merkmale der Hervorbringung und der Gött-
lichkeit zeichnen hier die Begriffe ‚intellektuelle Anschauung‘ und ‚anschauen-
der Verstand‘ aus: Gottes Vorstellungsweise wird insofern als produktiv gekenn-
zeichnet, als bereits seine bloße Vorstellung von Etwas dessen Dasein impliziert,
die bloße Vorstellung also zugleich Hervorbringung bedeutet.19 Für den ‚mensch-
lichen‘, ektypischen Verstand20 ist demgegenüber „eine Synthesis des in einer
Anschauung gegebenen Mannigfaltigen […] nothwendig“21, so dass die Konstitu-
tion von Gegenständlichkeit seine Bezogenheit auf ein gegebenes Mannigfaltiges
nuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie. 4. Aufl. Berlin 1969, 205). Von ihnen kann hier
abgesehen werden.
15 KrV, B 308, AA 03: 210.25 f. Vgl. auch KrV, B 72, AA 03: 72.35–73.02.
16 KrV, B 72, AA 03: 72.36–73.02.
17 Vgl. KrV, B 135, AA 03: 110.26–29; KrV, B 138, AA 03: 112.23–28; KrV, B 145, AA 03: 116.13–23.
18 KrV, B 145, AA 03: 116.14–16.
19 Im Kontext der Philosophien von Leibniz und Wolff bezieht sich die Produktivität des gött-
lichen Verstands bereits auf die bloße Möglichkeit von Gegenständen, während für ihre Wirk-
lichkeit zudem Gottes Wille relevant ist (vgl. z. B. DM, 86–93 und Wolff, Christian: Vernünfftige
Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt. 8. Aufl.,
Halle 1741, §§ 955–976, bes. 975, und §§ 980–990, bes. 988).
20 Vgl. zum Terminus ‚ektypischer Verstand‘, der wesentlich durch das Merkmal ‚Diskursivität‘
bestimmt ist, Cramer, Konrad: Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzen
dentalphilosophie Immanuel Kants. Heidelberg 1985, 268–272. Kant selbst verwendet ihn in KU,
AA 05: 408.21.
21 KrV, B 135, AA 03: 110.21.
22 Vgl. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1991,
z. B. 31.
23 Insofern Kant zufolge „die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses [eines
anschauenden Verstands, S. K.] gar keine Bedeutung haben“ (KrV, B 145, AA 03: 116.17 f.), ist die
‚Wirklichkeit‘ der durch den anschauenden Verstand produzierten ‚Inhalte‘ auch eine andere
als die ‚Wirklichkeit‘ der durch den ektypischen Verstand konstituierten Gegenständlichkeit und
dem anschauenden Verstand Gottes ist genau genommen gar keine Erkenntnis von Gegenstän-
den zuzuschreiben. (vgl. dazu Hiltscher, Reinhard: „Endliche Vernunft als Stifterin von Partial-
wirklichkeit“. In: Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“.
Hrsg. von Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner und David Süß. Berlin 2006, 279–311, bes. 297).
24 KrV, B 125, AA 03: 104.13–15 (Herv. S. K.).
25 KrV, B 125, AA 03: 104.15–17 – Dies trifft wiederum nur mit ausschließlichem Blick auf das
Problem der Erkenntnis zu – „denn von deren [= der Vorstellung, S. K.] Causalität vermittelst des
Willens ist hier gar nicht die Rede“ (KrV, B 125, AA 03: 104.13 f., vgl. dazu Klingner, Stefan: Tech
nische Vernunft. Kants Zweckbegriff und das Problem einer Philosophie der technischen Kultur.
Berlin/Boston 2012, 156 f.).
35 Vgl. dazu Süß, David: „Gegenständlichkeit und Sein in der Erkenntnislehre Immanuel
Kants“. In: Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“. Hrsg.
von Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner und David Süß. Berlin 2006, bes. 229–232.
36 Vgl. KU, AA 05: 196.14 f.
37 Während Kants Ausführungen in der Streitschrift gegen Eberhard eher eine Bestimmung des
Gegenstands einer nichtsinnlichen Anschauung als ‚Erkenntnis‘ des ‚Dinges an sich‘ nahelegen
(vgl. z. B. ÜE, AA 08: 219.16–32), scheint die im Vornehmen Ton genannte intellektuelle Anschau-
ung eher Übersinnliches zum Gegenstand zu haben (vgl. z. B. VT, AA 08: 396.5–398.16). – Wenn
Kant zugestimmt wird, dass ausschließlich dasjenige als Erkenntnisgegenstand qualifizierbar
ist, das mittels sinnlicher Anschauung gegeben und mittels Kategorien minimal bestimmt ist,
dann muss jeder Versuch einer positiven Bestimmung des Gegenstands einer nichtsinnlichen
Anschauung als ein bereits im Ansatz verfehlter gelten. Aber auch wenn Kants eigene Hinweise
in spekulativer Absicht aufgegriffen würden, findet sich kein eindeutiger Ansatzpunkt für eine
positive Bestimmung. Denn diese müsste auch das Verhältnis zwischen diesen Gegenständen
bzw. diesem Gegenstand der nichtsinnlichen Anschauung und der durch den ektypischen Ver-
stand aufgrund sinnlicher Anschauung konstituierten Erscheinungswelt näher kennzeichnen.
Bereits bei einem ausschließlichen Blick auf dieses Verhältnis ist unklar, ob mit der nichtsinn-
lichen Anschauung die den Erscheinungen (mutmaßlich) zugrunde liegenden ‚Dinge an sich‘
oder ein den Erscheinungen (mutmaßlich) zugrunde liegendes ‚Substrat‘ erkannt werden würde.
Sowohl jene ‚Dinge an sich‘ als auch dieses ‚Substrat‘ könnten dann zwar wiederum mit den
‚Entständen‘ der produktiven Vorstellungsweise Gottes ins Verhältnis gesetzt werden. Allerdings
ergäbe sich dann erneut jene Zweideutigkeit. Denn auch mit Blick auf die ‚Entstände‘ der pro-
duktiven Vorstellungsweise Gottes ist nicht klar, ob diese mit den Erscheinungen (mutmaßlich)
zugrunde liegenden ‚Dingen an sich‘ oder mit einem den Erscheinungen (mutmaßlich) zugrun-
deliegenden ‚Substrat‘ bzw. ‚Weltganzen‘ identisch wären. Die erste Option scheint z. B. Heideg
ger in seiner Kant-Interpretation zu vertreten (s. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der
Metaphysik. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1991, 30–35, bes. 33, vgl. Hiltscher, Reinhard: „Endliche Ver-
nunft als Stifterin von Partialwirklichkeit“. In: Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in
Kants „Kritik der Urteilskraft“. Hrsg. von Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner und David Süß. Ber-
lin 2006, 296). Der zweiten Option könnten Hegels Interpretation des kantischen Begriffs eines
‚anschauenden Verstands‘ (s. z. B. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer kritische Schriften.
Hrsg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler. Gesammelte Werke, Bd. 4. Hamburg 1968, 340–
342, vgl. Hespe, Franz: „Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit und Hegels Begriff der Subjektivität“.
In: Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants und zu ihrem Umfeld. Hrsg. von Dieter
Hüning, Stefan Klingner und Carsten Olk. Berlin/Boston 2013, 302–305, bes. 303 f.) oder Bauchs
Auszeichnung des ‚reinen Verstands‘ als ‚Idee eines höchsten Verstands‘ (s. z. B. Bauch, Bruno:
Immanuel Kant. 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1921, 461–465, vgl. Zeidler, Kurt Walter: Kritische Dialektik
und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische
Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners. R. Reinigers und E. Heintels. Bonn
1995, 182–194, bes. 189–191) zugeordnet werden.
38 ÜE, AA 08: 219.17 f.
39 ÜE, AA 08: 220.07 f.
40 S. dazu ausführlich Gawlina, Manfred: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwi
schen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin/New York 1996, bes. 195–217.
41 VT, AA 08: 389.12 f.
42 Anth, AA 07: 187.16. Diese Wendung ist zwar dem letzten Absatz des Abschnitts über das
‚Vorhersehungsvermögen‘ aus Kants Anthropologie entnommen (vgl. Anth, AA 07: 185.29–187.21).
Kants dortige Kritik am Begriff der ‚Vorhersehung‘ (praevisio) ist aber seiner Kritik an der Mög-
lichkeit einer Erkenntnis des Übersinnlichen mittels intellektueller Anschauung im Vornehmen
Ton schon allein in der Wortwahl sehr ähnlich (vgl. v. a. Anth, AA 07: 187.13–17 und VT, AA 08:
397.02–398.11). Von ‚mystischer Anschauung‘ schreibt Kant auch im Kontext seiner Kritik an der
‚Schwärmerei‘ Platons und Spinozas in Refl, AA 18: 435.08, R 6050.
43 Solche Schwärmerei setzt Kant zufolge einen machtorientierten, zugleich ‚vornehmen‘ Habi-
tus sowie die Suspendierung der ‚zu oberst gesetzgebenden Vernunft‘ voraus (vgl. WDO, AA 08:
145.19–27).
44 Es muss hier nicht nur an das philosophierende „Genie“ (WDO, AA 08: 145.20) gedacht wer-
den, das „in schwärmerische Vision“ (VT, AA 08: 405.26) gerät oder „die Stimme eines Orakels“
(VT, AA 08: 405.34) vernimmt. Auch Außerirdische, Halbgötter, Engel, Teufel, Feen, Gespens-
dung des Begriffs einer solchen von der ursprünglichen Anschauung zu unter-
scheidenden nichtsinnlichen Anschauung wird erst dann verständlich, wenn
er als Argumentationsmittel durchschaut und dann in den Kontext einerseits
seiner Kritik an der rationalistischen „Theorie der Sinnlichkeit“45 und anderer-
seits seiner Ablehnung einer „geheime[n] Anschauung des Übersinnlichen“46
gestellt wird. Der erste Punkt verweist auf das zweite der eingangs genannten
Merkmale des Begriffs ‚intellektuelle Anschauung‘, die Nichtsinnlichkeit ihres
Objekts. Kant weist die Vorstellung einer solchen ‚intellektualisierten‘ Anschau-
ung zurück, indem er die Eigenständigkeit der Sinnlichkeit und ihre für jede
Form von Erkenntnis notwendige geltungstheoretische Funktion hervorhebt. Der
zweite Punkt verweist hingegen auf das dritte der eingangs genannten Merkmale
des Begriffs ‚intellektuelle Anschauung‘, ihre intuitive Erkenntnisweise.
Die Annahme einer intellektuellen Anschauung als nichtsinnliche Anschau-
ung sieht sich insofern mit dem Vorwurf der Schwärmerei konfrontiert, als der
Begriff ‚nichtsinnliche Anschauung‘ allein durch die Merkmale der Gegebenheit,
Nicht-Diskursivität und Nichtsinnlichkeit zu unbestimmt ist.47 Als Bezeichnung
einer Anschauung, die gegeben und zugleich nichtsinnlich ist, steht er quer zur
kantischen Definition von ‚Sinnlichkeit‘, nach der diese dadurch ausgezeichnet
ist, „Vorstellungen zu empfangen“48. Als ein solches rezeptives Vermögen ist die
Sinnlichkeit „abgeleitet (intuitus derivatus)“ und kann nur derjenigen Sinnlich-
keit gegenüberstellt werden, die „ursprünglich (intuitus originarius)“ und mit
der produktiven Vorstellungsweise Gottes identisch ist.49 Die nichtsinnliche
Anschauung gleicht Kant zufolge demnach einer „mystische[n] Erleuchtung“ –
„was dann der Tod aller Philosophie ist“.50
Um die Möglichkeiten auszuloten, inwiefern die intellektuelle Anschauung
qua nichtsinnliche Anschauung vom Mystizismusverdacht entlastet werden
könnte, bietet es sich an, auf einige von Kant im § 77 der dritten Kritik dargelegte
Überlegungen zurückzugreifen. Kant entwickelt dort bekanntlich den Begriff
eines intuitiven Verstands, der „nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so
ter usw. kämen in Betracht – solange sie als durch einen ektypischen Verstand ausgezeichnet
gedacht werden.
45 ÜE, 08: AA 220.07 f.
46 Refl, AA 18: 439.01 f., R 6052.
47 Vgl. KrV, B 149, AA 03: 118.19–36, wo Kant diese Unbestimmtheit selbst hervorhebt.
48 KrV, B 74, AA 03: 74.10. Vgl. auch KrV, B 33, AA 03: 49.06–15. Auch wenn davon abgesehen
würde, dass die Sinnlichkeit im Falle des Menschen eine besondere, durch die Formen von Raum
und Zeit bestimmte ist, bliebe sie als Sinnlichkeit durch das Merkmal ‚Rezeptivität‘ definiert.
49 KrV, B 72, AA 03: 72.34 f.
50 VT, AA 08: 398.10 f.
nis zwischen Ganzem und Teilen61 wieder, das für die intuitive Erkenntnisweise
wesentlich ist.
Allerdings kann Kant zufolge der diskursiv verfahrende ektypische Verstand
nicht-göttlicher Subjekte nicht einfach erkennen, ob und – wenn ja – inwie-
fern „das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile […]
enthalte“62. Er kann es sich lediglich vorstellen und versuchen, dieser Vorstellung
wiederum allererst objektive Realität zuzusichern, indem eine Verwirklichung
dieser Vorstellung und damit zielgerichtetes Handeln in Gang gesetzt wird. Rea-
lisiert würde die Funktionsweise des intuitiven Verstands unter den Bedingun-
gen des diskursiv verfahrenden ektypischen Verstands demnach in der techni-
schen Kultur.63 Naturgegenstände nicht ‚nur als Wirkung der konkurrierenden
bewegenden Kräfte ihrer Teile‘, sondern als ihre Teile determinierende Ganze
vorzustellen, bleibt dagegen auch Kant zufolge bloßes Vorstellen.64 ‚Intuitives
Erkennen‘ ist damit gar kein Fall von Erkennen. Nicht nur die Berufung auf eine
nichtsinnliche Anschauung, sondern auch die Behauptung, dass diese als ein
intuitives Erkennen nicht-göttlichen Subjekten möglich sei, kann demnach nur
noch als Schwärmerei gelten. Und genau diesen Vorwurf erhebt Kant gegen den
klassischen Rationalismus.
61 S. zur ‚Zweckidee‘ im Kontext der Funktionsweise technischer Vernunft Klingner, Stefan:
Technische Vernunft. Kants Zweckbegriff und das Problem einer Philosophie der technischen Kul
tur. Berlin/Boston 2012, 170–173.
62 KU, AA 05: 407.35–408.02.
63 S. zur ‚Realisierung‘ der Funktionsweise des intuitiven Verstands in der ästhetischen Erfah-
rung Dörflinger, Bernd: Die Realität des Schönen in Kants Theorie rein ästhetischer Urteilskraft.
Zur Gegenstandsbedeutung formaler und subjektiver Ästhetik. Bonn 1988, bes. 82–90 und 113–115.
Da diese Kant zufolge weder als theoretische Erkenntnis noch als zweckgerichtetes, theoretische
Erkenntnis voraussetzendes Handeln bestimmt werden kann, darf sie hier vernachlässigt wer-
den.
64 Diese Vorstellung ist zwar konstitutiv für zweckgerichtetes Handeln, aber nicht für die Mög-
lichkeit von Erkenntnis. Sie hat Kant zufolge lediglich mit Blick auf die Beurteilung einer beson-
deren Art von Naturgegenständen (Organismen) eine regulative Funktion (vgl. z. B. KU, AA 05:
375.17–25). S. dazu ausführlicher Klingner, Stefan: „Zum Problem der objektiven Realität von
Kants Naturzweckbegriff“. In: Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants. Hrsg. von
Dieter Hüning, Stefan Klingner und Carsten Olk. Berlin/Boston 2013, 242–246 und 258–261.
65 Da hier lediglich Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung im Vordergrund steht, ist
die sachliche Korrektheit seiner Kritik an den philosophischen Positionen Spinozas und Leibniz’
nebensächlich. Ihre Diskussion und Beurteilung kann daher entfallen.
zuerst in den Kontext der Substanzlehren Spinozas und Leibniz’ zu stellen und
darauf eine Klärung seines Zusammenhangs mit Spinozas Konzept einer scientia
intuitiva und Leibniz’ Begriff einer cognitio intuitiva zu versuchen.66
Grundlegend für die ontologische Theorieentwürfe Spinozas und Leibniz’
ist der Substanzbegriff, der in je verschiedener Weise mit Kants Begriff einer
ursprünglichen Anschauung in Verbindung gebracht werden kann. In Hinsicht
auf die Substanzlehre Spinozas genügt dazu ein flüchtiger Blick auf einige Pas-
sagen des ersten Teils der Ethik. An den Anfang seiner Philosophie stellt Spinoza
bekanntlich die Definition des Substanzbegriffs als causa sui.67 Diese identifiziert
Spinoza mit Gott und spricht ihr notwendige Existenz sowie Einzigkeit zu.68 Wird
die Substanz gemäß ihrem Attribut ‚Denken‘ gefasst, sei der Verstand69 Gottes
im Verhältnis zu den Dingen nicht als ‚später‘ (posterior) oder als ‚gleichzeitig‘
(simul) zu bestimmen, sondern die Substanz (auch qua ‚Denken‘) ist vielmehr die
‚Ursache sowohl der Essenz wie der Existenz der Dinge‘ (causa rerum tam earum
essentia quam earum existentiae).70 Die Substanz wird von Spinoza demnach hin-
66 Obwohl hier vor allem die erkenntnistheoretische Funktion von Kants Begriff einer intellek-
tuellen Anschauung und seine Kritik an der rationalistischen Erkenntnistheorie von Interesse
ist, sind gerade mit Blick auf die erste Bestimmung des Begriffs ‚intellektuelle Anschauung‘ als
ursprüngliche Anschauung einige knappe Bemerkungen zu den ontologischen Theorieentwür-
fen Spinozas und Leibniz’ unumgänglich. Denn deren erkenntnistheoretische Überlegungen
sind insofern in jene integriert, als der Ontologie im klassischen Rationalismus bekanntlich ein
begründungstheoretischer Primat gegenüber der Erkenntnistheorie zukommt (sh. zur Kontinui-
tät dieser Auszeichnung in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts Bärthlein, Karl: „Zum Ver-
hältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie in der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahr-
hunderts“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 56, 1974, bes. 277–281). Auch Kants explizite
Kritik an den Philosophien Spinozas und Leibniz’ bezieht sich vor allem auf deren ontologische
Theorieentwürfe (vgl. z. B. die Spinoza-Kritik in KU, AA 05: 393.11–394.17; ÜE, AA 08: 224.24–39;
WDO, AA 08: 143.20–36; Refl, AA 18: 542.07–19, R 6275; sowie die Leibniz-Kritik in KrV, B 320–324,
AA 03: 217.04–219.17; KrV, B 326–333, AA 03: 220.22–224.20; KrV, B 336–346, AA 03: 226.20–232.02;
in der Streitschrift gegen Eberhard oder in der späten Preisschrift).
67 Vgl. die Definitionen 1. und 3. des ersten Teils der Ethik (E, 4 f.). S. zu den begrifflichen Impli-
kationen von Spinozas Substanzdefinition s. Cramer, Konrad 1977: „Kritische Betrachtungen
über einige Formen der Spinozainterpretation“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31,
1977, bes. 536–539.
68 Vgl. die Lehrsätze 11 (samt Beweisen und Anmerkung) und 14 (samt Beweis und Folgesätzen)
des ersten Teils der Ethik (E, 20–27, 30 f.).
69 S. zum Unterschied zwischen dem Attribut ‚Denken‘ und dem Modus ‚Verstand‘ Lehrsatz 31
(samt Beweis und Anmerkung) des ersten Teils der Ethik (E, 64–67).
70 Vgl. die Anmerkung zum Lehrsatz 17 des ersten Teils der Ethik (E, 46 f.) und auch den Folge
satz 1 zu Lehrsatz 16 des ersten Teils der Ethik (E, 40 f.). – Die spinozanische Substanz (Gott)
selbst ‚denkt‘ nicht und ‚hat‘ keinen – etwa von ihrem ‚Willen‘ zu unterscheidenden – ‚Verstand‘
(vgl. bes. die Anmerkung zum Lehrsatz 17 des ersten und die Anmerkung zu Lehrsatz 7 des zwei-
sichtlich ihres Attributs ‚Denken‘ als produktiv bestimmt – sowohl qua (letzter)
Grund als auch qua (erste) Ursache der Dinge.71 Ihr ‚Verstand‘ ist damit ein völlig
anderer als der menschliche72 und kann als ein anschauender Verstand im Sinne
des kantischen Begriffs einer ursprünglichen Anschauung verstanden werden.73
Der Zusammenhang zwischen Leibniz’ Substanzlehre und Kants Begriff der
ursprünglichen Anschauung lässt sich ebenfalls bereits mithilfe flüchtiger Ver-
weise zeigen. Dafür kann hier ein Blick auf einige Passagen seiner Metaphysi
schen Abhandlung genügen. Leibniz dortiger Definition zufolge ist eine Substanz
etwas, aus dessen Begriff alle ihm zukommenden Bestimmungen verstanden
und abgeleitet werden können.74 Wie bei Spinozas Substanzbegriff wird die
Substanz derart gedacht, dass sie eine vollständige Bestimmtheit ist, so dass sie
‚durch sich selbst begriffen‘ werden kann und in sich völlig abgeschlossen ist.75
Im Unterschied zu Spinoza lässt Leibniz allerdings eine Vielheit von Substanzen
zu, wodurch zugleich jede Substanz als eine einzigartige, spezifische Bestimmt-
heit verstanden werden kann.76 Ihre Individualität resultiert daraus, dass jeder
Substanz eine spezifische Regel77 zugrunde liegt, die Inhalt, Menge und Abfolge
der einzelnen Bestimmungen der jeweiligen Substanz (‚Prädikate‘, ‚Perzeptio-
nen‘) determiniert. Die verschiedenen Substanzen stehen daher untereinander
in keiner Grund-Folge- bzw. Kausalrelation, sondern ausschließlich in Relation
zu Gott als einzigem Grund für die teilweise Entsprechung einzelner Bestimmun-
ten Teils der Ethik, E, 42–49 und 110–113). Sie bringt aber selbst ihre Idee qua ‚unendlicher Ver-
stand‘ hervor (vgl. dazu Bartuschat, Wolfgang: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992,
71–80, bes. 75 f.) und kann damit auch vom spinozanisch philosophierenden Subjekt gemäß
ihrem Attribut ‚Denken‘ gefasst werden. Im letzteren Fall ist die Rede von einem ‚produktiven
Verstand‘ mit Blick auf Spinozas Substanzlehre berechtigt.
71 Vgl. zur Nichtunterschiedenheit von ‚Grund‘ und ‚Ursache‘ in Spinozas Ontologie bes. Röd,
Wolfgang: „Spinozas Idee einer Scientia intuitiva und die Spinozanische Wissenschaftskonzep-
tion“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31, 1977, 508.
72 Vgl. die letzten Sätze der Anmerkung zu Lehrsatz 17 des ersten Teils der Ethik (E, 46–49).
73 Das ist insofern legitim, als die spinozanische Substanz (Gott) alle Gegenstände selbst her-
vorbringt – auch wenn diese als deren ‚Entstände‘ der Ontologie Spinozas zufolge letztlich nicht
von ihr unterschieden sind.
74 Vgl. Art. 8 der Metaphysischen Abhandlung (DM, 74 f.).
75 Vgl. Definition 3. des ersten Teils der Ethik (E, 4 f.) und Art. 13 der Metaphysischen Abhandlung
(DM, 84–87).
76 Vgl. bes. Art. 9 der Metaphysischen Abhandlung (DM, 76–79). In Art. 8 nennt Leibniz im
Anschluss an seine Substanzdefinition diese spezifische Bestimmtheit auch ‚individueller
Begriff‘ (notion individuelle) oder haecceitas (hecceïté) (DM, 74 f.).
77 Vgl. dazu Hiltscher, Reinhard: Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Trak
tat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem systematischen Problem der Philosophie. Hildesheim/
Zürich/New York 2006, 142–145.
78 Vgl. Art. 14 und Art. 32 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 92–97 und 148 f.).
79 Vgl. Art. 5 und Art. 14 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 68 f. und 92 f.). Zwar kann
Leibniz zufolge Gottes Verstand jede mögliche Substanz hervorbringen – welche er aber tatsäch-
lich hervorbringt hängt von seinem Willen ab (vgl. Art. 13 der Metaphysischen Abhandlung, bes.
DM, 90 f.)
80 Zwar gibt auch Kant zu, dass die ursprüngliche Anschauung, „soviel wir einsehen, nur dem
Urwesen zukommen kann“ (KrV, B 72, AA 03: 72.26, Herv. S. K.) und dass auch seine moralteleo-
logische Begründung des Gottesbegriffs die theoretische Vernunft zu der Vorstellung führt, dass
„wir einen Verstand desselben [= Gottes, S. K.] bekommen, der nicht denkt, sondern anschaut“
(KpV, AA 05: 137.21 f.). Allerdings gehört diese Vorstellung einer ursprünglichen Anschauung
Gottes eben zu jenen „Eigenschaften, von denen wir uns gar keinen Begriff, zum Erkenntnisse
des Gegenstandes tauglich, machen können“ (KpV, AA 05: 137.27 f.). Der moralteleologische
Gottesbegriff bedarf insofern nicht einer objektiv gültigen Bestimmung des Verhältnisses von
Anschauung und Denken, als für seine Erzeugung Kant zufolge allein die Beantwortung der
Frage nach der Möglichkeit des höchsten Guts (abgeleiteten) Guts bzw. des Endzwecks ent-
scheidend ist (s. dazu Klingner, Stefan: „Kant und der Monotheismus der Vernunftreligion“. In:
Archiv für Geschichte der Philosophie 97, 2015, bes. 460–463 und 465–469). Zudem erübrigt sich
damit die spekulative Frage, ob den ‚Entständen‘ der ursprünglichen Anschauung Gottes das
Weltganze – wie etwa die spinozanische ‚eine‘ Substanz – oder Dinge an sich – wie etwa die
leibnizschen ‚individuellen‘ Substanzen – entsprechen mögen. Sie ist Kant zufolge nicht nur
unbeantwortbar, sondern aus erkenntniskritischer Perspektive einfach überflüssig.
noch für die Religionsphilosophie eine Funktion zukommt, muss es auch nicht
als bedauerlich angesehen werden, wenn ihr jede objektive Gültigkeit abgespro-
chen wird.81
Auch die ausdrücklich erkenntnistheoretischen Überlegungen Spinozas und
Leibniz’ bedienen sich Theoriestücken, die von Kants Kritik am Begriff einer
intellektuellen Anschauung betroffen sind. Denn beide berufen sich auf ein dem
philosophierenden Subjekt mögliches nichtsinnliches Erkennen, dessen Gegen-
stand nicht bloße Erscheinung, sondern das ‚Wesen‘ (essentia, natura) der Dinge
sei. Den verschiedenen ontologischen Theorieentwürfen entsprechend, sind Spi-
nozas und Leibniz’ Kennzeichnungen eines solchen nichtsinnlichen Erkennens
recht unterschiedlich. Gemeinsam ist beiden aber dessen zentrale Funktion für
dasjenige Wissen, das das philosophierende Subjekt beansprucht.
Spinoza unterscheidet drei ‚Gattungen der Erkenntnis‘ (cognoscendi genera),
die kurz als ‚empirische Erkenntnis‘, ‚rationale Erkenntnis‘ und ‚intuitive
Erkenntnis‘ bezeichnet werden können.82 Allein die rationale und die intuitive
Erkenntnis können philosophisch relevant sein.83 Mit Blick auf das Problem der
Rechtfertigung philosophischen Wissens bereitet die Unterscheidung zwischen
rationaler und intuitiver Erkenntnis allerdings einige Schwierigkeiten bei der
Interpretation. Denn da beide notwendig wahr sein und ausschließlich adäquate
81 S. zur rationalistischen Ontotheologie Henrich, Dieter: Der ontologische Gottesbeweis. Sein
Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. 2. Aufl. Tübingen 1967 und zu ihrer erkenntnistheo
retischen Relevanz bes. Hiltscher, Reinhard: Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseolo
gischer Traktat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem systematischen Problem der Philosophie.
Hildesheim/Zürich/New York 2006.
82 Vgl. die Lehrsätze 40–42 (samt Beweisen und Anmerkungen) des zweiten Teils der Ethik
(E, 180–185) sowie bereits die Unterscheidung der vier modi percipiendi in den Abschnitten
18–29 in der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (TIE, 17–27). Die ersten beiden
modi percipiendi (‚aus Zeichen‘ und ‚aus unbestimmter Erfahrung‘) fasst Spinoza in der Ethik als
‚Erkenntnis der ersten Gattung‘ zusammen (vgl. E, 180 f.).
83 Die der ersten Gattung zugeordnete ‚Meinung‘ (opinio) bzw. ‚Vorstellung‘ (imaginatio) resul-
tiert aus der Wahrnehmung von Einzeldingen oder dem Bilden und Wiedererinnern von Zeichen
und ist der Grund für inadäquate und verworrene Ideen. Sie ist für die Gewinnung philosophi-
scher Erkenntnis irrelevant, da mit der Hilfe von Wahrnehmungen und Zeichen lediglich Genera-
lisierungen im Sinne des induktiven Schließens vorgenommen werden können. Die der zweiten
Erkenntnisgattung zugeordnete ‚Vernunft‘ (ratio) erkennt mittels ‚Gemeinbegriffen‘ (notiones
communes) und adäquaten Ideen der Eigenschaften von Dingen. Sie sind Grundlage für das
sichere, deduktive Schließen. Spinoza zufolge umfasst die rationale Erkenntnis ausschließlich
adäquate Ideen und sie ist damit notwendigerweise wahr. Die dritte Gattung, die Spinoza scien
tia intuitiva nennt, erkennt mithilfe adäquater Ideen vom Wesen der Attribute Gottes das Wesen
der Dinge. Sie bezieht somit ihren Gegenstand auf die Substanz. Wie die rationale umfasst auch
die intuitive Erkenntnis ausschließlich adäquate Ideen und ist damit notwendigerweise wahr.
Ideen umfassen sollen, stellt sich die Frage, wodurch sie sich unterscheiden.84
Unzweifelhaft scheint lediglich die Notwendigkeit zu sein, die Spinoza der sci
entia intuitiva für die Gewinnung philosophischen Wissens und damit für ein
gelungenes Leben vor allem in der Ethik zuspricht.85 Eine präzise Bestimmung
von Spinozas Konzeption einer scientia intuitiva mit Blick auf ihren Gegenstand
und ihren Vollzug kann und muss hier nicht gegeben werden. Relevant ist für
den vorliegenden Kontext allein, dass Spinoza sie im Unterschied zur ‚verwor-
renen‘ empirischen Erkenntnis (cognitio confusa)86 als nichtsinnliche und im
Unterschied zur ebenfalls nichtsinnlichen rationalen Erkenntnis als eine unmit-
84 Sowohl die Zuordnung verschiedener Gegenstände bzw. Gegenstandsbereiche als auch die
methodologische Gegenüberstellung einer deduktiven gegen eine intuitive Verfahrensweise
scheinen unangemessen oder zumindest verkürzt, um den von Spinoza in der Ethik gegebenen
Hinweisen zur Unterscheidung der beiden Erkenntnisgattungen gerecht zu werden (s. zum Über-
blick z. B. Röd, Wolfgang: „Spinozas Idee einer Scientia intuitiva und die Spinozanische Wis-
senschaftskonzeption“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31, 1977, 497 f. und Schmidt,
Andreas: Göttliche Gedanken. Zur Metaphysik der Erkenntnis bei Descartes, Malebranche, Spinoza
und Leibniz. Frankfurt a. M. 2009, 295–298).
85 Vgl. bes. die Lehrsätze 25–28 und 31–36 (samt Beweisen, Folgesätzen und Anmerkungen) des
fünften Teils der Ethik (E, 568–571 und 574–583). Spinozas gesamte Philosophie zielt darauf ab,
die Erkenntnis Gottes als ‚höchstes Gut‘ und damit als wesentlich für ein glückseliges Leben
zu qualifizieren (vgl. z. B. Röd, Wolfgang: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart
2002, 13–22). Gerade dieser Aspekt mag es nahelegen, den Unterschied zwischen rationaler und
intuitiver Erkenntnis als bloß psychologischen, aber geltungstheoretisch irrelevanten (vgl. z. B.
Hösle, Vittorio: „Hegel und Spinoza“. In: ders., Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität
und das Problem der Intersubjektivität. 2. Aufl. Hamburg 1998, 688) zu bestimmen. So könnte
sich etwa die Funktion der intuitiven Erkenntnis im Erreichen einer bestimmten Einstellungs-
bzw. Haltungsänderung des einzelnen Subjekts erschöpfen, indem die auf die Gottesidee bezo-
genen rationalen Erkenntnisse zu praktischen Gründen werden (vgl. S chmidt, Andreas: Gött
liche Gedanken. Zur Metaphysik der Erkenntnis bei Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz.
Frankfurt a. M. 2009, 298). Auf der anderen Seite stehen dagegen Interpretationen, die gerade
den nicht-psychologischen Sinn der spinozanischen Rede von einer intuitiven Erkenntnis beto-
nen (vgl. z. B. König, Josef: Der Begriff der Intuition. Halle 1926, 40 und 48–52). Ausgehend von
Spinozas Bestimmung der unendlichen Substanz als (letzter) Grund bzw. (erste) Ursache aller
Dinge, kann zudem geltend gemacht werden, dass der Substanzbegriff Spinozas nach seinen
eigenen Vorgaben weder ein empirisch gewonnener Begriff noch ein rationaler Gemeinbegriff
sein und insofern nur mittels intuitiven Erkennens erfassbar sein könne (vgl. Röd, Wolfgang:
„Spinozas Idee einer Scientia intuitiva und die Spinozanische Wissenschaftskonzeption“. In:
Zeitschrift für philosophische Forschung 31, 1977, 508). Die Rechtfertigung des von Spinoza in der
Ethik vorgelegten philosophischen Wissens müsste demnach – zusätzlich zur Stichhaltigkeit
rationalen Schließens – auf eine intuitive Erkenntnis der Gottesidee und aller auf sie bezogenen
Ideen verweisen.
86 Vgl. neben der zweiten Anmerkung des Lehrsatzes 40 auch den Folgesatz des Lehrsatzes 29
des zweiten Teils der Ethik (E, 162–165).
telbare bestimmt. Wenn mit Blick auf das Problem der Spezifik philosophi-
schen Wissens die derart verstandene intuitive Erkenntnis nicht bloß in einer
„geheime[n] Anschauung des Übersinnlichen“87 bestehen soll, bliebe die Option,
sie im Sinne der Funktionsweise eines ‚intuitiven Verstands‘ zu verstehen. Inso-
fern Spinoza zufolge im Fall intuitiven Erkennens von Gegenständen diese auf die
‚eine‘ Substanz bezogen werden, kommt die scientia intuitiva mit Kants Bestim-
mung eines intuitiven Verstands auch tatsächlich in dem Punkt überein, als sie
den erkannten Gegenstand als ‚Teil‘ eines ‚Ganzen‘ begreifen88 soll. Allerdings
setzte die Erkenntnis, dass ein Gegenstand lediglich ein Moment eines Ganzen
ist, die Erkenntnis des Ganzen – hier der ‚einen‘ Substanz – und dessen objekti-
ver Realität voraus. Nach Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis kann diese
Voraussetzung allerdings nicht mehr als allein mittels rationaler Erkenntnis
erfüllbar89 gelten. Damit geht aber Spinozas scientia intuitiva von der Annahme
einer unmittelbaren Gotteserkenntnis, d. h. aus kantischer Perspektive von einem
Begriff ohne Gegenstandsbezug aus.
Leibniz bestimmt dagegen die intuitive Erkenntnis (cognitio intuitiva) als die-
jenige deutliche Erkenntnis, bei der alle Teilbegriffe eines (komplexen) Begriffs
gleichzeitig gedacht werden.90 Dass diese Erkenntnisweise eher dem göttlichen
als dem menschlichen Geist zukommt, stellt Leibniz klar heraus und bereits ihre
von Leibniz wiederholt hervorgehobene Unmittelbarkeit steht der sukzessiv ver-
fahrenden Erkenntnisweise des auf symbolische Erkenntnis angewiesenen Ver-
stands nicht-göttlicher Subjekte entgegen.91 Allerdings weist Leibniz zugleich
darauf hin, dass eine intuitive Erkenntnis – zumindest unter Umständen und in
92 Vgl. MC, 37 sowie die Art. 24 und 25 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 126 f. und
130 f.).
93 Vgl. Art. 24 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 126 f.).
94 Vgl. v. a. MC, 38–43. Mit seiner Bestimmung der intuitiven Erkenntnis knüpft Leibniz offen-
kundig an die entsprechenden Überlegungen sowohl René Descartes’ als auch Spinozas an.
Denn einerseits kennzeichnet er jene wie Descartes als ein unmittelbares, nicht-diskursives
Begreifen einfacher Begriffe bzw. Sachverhalte (vgl. bes. die dritte Regel von Descartes’ Regulae
ad directionem ingenii). Andererseits zeichnet er sie insofern wie Spinoza als für philosophisches
Wissen notwendige Erkenntnisweise aus, als sie die Erkenntnis der „ersten Möglichkeiten und
unauflöslichen Begriffe“ und damit der „absoluten Attribute GOTTES“ (MC, 40–43) zu ihrem
Ziel hat.
95 Vgl. z. B. Art. 34 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 154 f.).
96 Vgl. Art. 25 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 128 f.).
97 In Art. 27 der Metaphysischen Abhandlung (vgl. DM, 134 f.) nennt Leibniz ‚Sein‘ (estre), ‚Subs-
tanz‘ (substance), ‚Handlung‘ (action) und ‚Identität‘ (identité).
98 Vgl. etwa Martin, Gottfried: „Existenz und Widerspruchsfreiheit in der Logik von Leibniz“. In:
Kant-Studien 48, 1957, 211–214.
99 Vgl. Art. 24 zusammen mit Art. 27 der Metaphysischen Abhandlung (bes. DM, 128 f. und 134 f.).
Leibniz gibt nicht nur keine eindeutigen Beispiele für solche ursprünglichen Begriffe. Es bleibt
auch die schlichte Frage, wie es legitim sein sollte, einen Begriff als einen solchen auszuzeich-
nen, der allen (nur richtig nachdenkenden) Subjekten per se einzuleuchten vermag. Allerdings
erlaubt Leibniz’ Rede von notiones primitivae bzw. notions primitives auch die Deutung von
ursprünglichen Begriffen als solchen Begriffen, die ausschließlich durch ein einziges Merkmal
ausgezeichnet sind. Damit stellten sie einen Fall eines solchen ‚Ganzen‘ dar, das „den Grund der
Möglichkeit der Verknüpfung der Theile [enthält]“ (KU, AA 05: 407.35–408.02). Denn in ihrem
Fall entfiele insofern der Unterschied zwischen ‚Ganzem‘ und ‚Teil‘, als diese bei einem Begriff,
der ausschließlich durch ein einziges Merkmal definiert ist, schlichtweg identisch wären. Kant
weist dagegen etwa in der Jäsche-Logik darauf hin, dass ‚einfache Vorstellungen‘ „nie deutlich
werden; nicht, weil in ihnen Verwirrung, sondern weil in ihnen kein Mannigfaltiges anzutreffen
ist“ (Log, AA 09: 35.01–03).
100 Refl, AA 18: 439.01 f., R 6052.
101 Vgl. z. B. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Kants transzendentale Metaphysik und die Begrün
dung der Naturwissenschaften. Würzburg 1995, 56–84.
und den Grenzen der Rechtfertigung des durch ein philosophierendes Subjekt
beanspruchten Wissens.102
Aus dieser Perspektive müssen sowohl Spinozas als auch Leibniz’ Überle-
gungen zur Rechtfertigung philosophischen Wissens als solche beurteilt werden,
die von Kants kritischer Einschätzung der objektiven Realität des Begriffs ‚intel-
lektuelle Anschauung‘ betroffen sind. Denn erstens nehmen sie einen Begriff
von der spezifischen Vorstellungsweise Gottes in Anspruch, der für die philoso-
phische Begründung von Religion nicht nur überflüssig, sondern auch für die
philosophische Begründung von Erkenntnis spekulativ, im besten Fall regula-
tiv und damit nicht als objektiv gültig qualifizierbar ist. Zweitens ist ihnen vom
Standpunkt der kantischen Theorie der Erkenntnis insofern eine Missachtung
der spezifischen Bestimmtheit der Sinnlichkeit vorzuwerfen, als sie die genuine
Aufgabe der philosophischen Erkenntnis in einer ‚Intellektualisierung‘ des Sinn-
lichen sehen und dabei von der in nichtsinnlicher Weise erfassbaren Gegeben-
heit bestimmter ‚metaphysischer‘ Inhalte ausgehen. Drittens können Spinozas
und Leibniz’ Überlegungen zur Rechtfertigung philosophischen Wissens dem
damit einhergehenden Vorwurf einer Berufung auf eine „geheime Anschauung
des Übersinnlichen“103 auch nicht dadurch entgehen, dass sie eine von der dis-
kursiven zu unterscheidende intuitive Erkenntnisweise, die ‚vom Ganzen zu den
Teilen‘ geht, als die für die philosophische Reflexion wesentliche auszeichnen.104
Denn sie setzen aus kantischer Perspektive einerseits eine zweifelhafte Ontolo-
gie, anderseits eine zweifelhafte Begriffstheorie voraus.
Im Anschluss an Kants Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren? kann
die erkenntniskritische Funktion des kantischen Begriffs einer intellektuellen
Anschauung in der Vermeidung von mystizistischen und rationalistischen Aspek-
ten bei der Konzeption philosophischer Erkenntnis gesehen werden.105 Dabei
102 S. mit besonderem Blick auf Johann Gottlieb Fichtes Begriff einer intellektuellen Anschau-
ung im Kontext des Problems der Rechtfertigung von Wissen Hiltscher, Reinhard: „Fichte und
die Rechtfertigung von Wissen“. In: Fichte-Studien 34, 2009, bes. 274 f.
103 Refl, AA 18: 439.01 f., R 6052.
104 S. für eine solche Auszeichnung von ‚Intuition‘ als für die philosophische Reflexion wesent-
lich König, Josef: Der Begriff der Intuition. Halle 1926.
105 Bekanntlich richtet sich Kant in dem genannten Aufsatz einerseits gegen die ‚geniemäßige‘
Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis, der dort stellvertretend für die im Vornehmen Ton so
genannten „Philosophen der Anschauung“ (VT, AA 08: 390.30) steht, und andererseits gegen
die rationalistische Philosophie Mendelssohns – als Beispiel für ein „Dogmatisiren mit der rei-
nen Vernunft im Felde des Übersinnlichen“ (WDO, AA 08: 138.32 f.). Während die ‚Philosophen
der Anschauung‘ versuchten, in einem „kühnen Schwunge“ (WDO, AA 08: 145.20) die „lang-
same, schwerfällige Vernunft“ (WDO, AA 08: 145.23) durch eine sie erleuchtende, nichtsinnliche
Anschauung völlig zu ersetzen, übersehe der Rationalismus, dass es vom Übersinnlichen „keine
hat der Rationalismus Kant zufolge selbst eine mystizistische Tendenz, insofern
er die Möglichkeit einer nichtsinnlichen Anschauung voraussetzen muss. Wie
anhand der oben angeführten Überlegungen Spinozas und Leibniz’ dargestellt,
muss das rationalistische „Dogmatisiren“106 eine nichtsinnliche Anschauung in
Anspruch nehmen, um die Objektivität philosophischer Erkenntnis zu sichern.
Die Berufung auf eine „geheime Anschauung des Übersinnlichen“107 mag dem
rationalistischen Programm prima facie entgegenstehen. Indem aber der Ratio
nalismus Begriffe verwendet, von denen „schon ausgemacht ist, daß es hier
keine Anschauung vom Objecte […] geben könne“108, und ihnen auch nicht nur
eine regulative Funktion zuschreibt, muss er vonseiten der kritischen Philoso-
phie mit dem Verdacht auf Mystizismus konfrontiert werden. Der Vorwurf, den
Kant dabei in einer Anmerkung zum ontologischen Gottesbeweis äußert, dass
der Rationalismus „subjective Gründe […] für objectiv – mithin Bedürfnis für Ein-
sicht – gehalten“109 habe, wiegt gerade mit Blick auf das Problem der Rechtferti-
gung philosophischen Wissens schwer. Denn im Falle seines Zutreffens, kann das
konkrete philosophierende Subjekt vom Rationalismus schlichtweg nicht über-
zeugt, sondern lediglich überredet werden.
Kant unterscheidet bekanntlich in Anlehnung an die zeitgenössische Schul
philosophie „Überzeugung“ und „Überredung“ als zwei Arten des Fürwahrhal-
tens des konkreten Subjekts.110 Im Fall einer Überzeugung erhebe das Subjekt
für das von ihm fürwahrgehaltene Urteil einen Geltungsanspruch, den es mittels
objektiven Gründen rechtfertigen könne (bzw. zu rechtfertigen versuche) und
der daher auch intersubjektiv überprüfbar sei.111 Im Fall einer Überredung seien
dagegen mit Blick auf die Rechtfertigung des Fürwahrhaltens für das Erkennt-
Anschauung vom Objecte, nicht einmal etwas mit diesem Gleichartigen geben könne“ (WDO, AA
08: 136.24–26), so dass er trotz seiner Berufung auf reine Vernunft als „der gerade Weg zur phi-
losophischen Schwärmerei“ (WDO, AA 08: 138.33) gelten müsse. S. dazu ausführlicher Klingner,
Stefan: „Intellektuelle Anschauung und philosophische Schwärmerei. Kant und die Aufklärung
des philosophierenden Subjekts“. In: Kantovskij Sbornik (2015), bes. 19–24.
106 WDO, AA 08: 138.32.
107 Refl, AA 18: 439.01 f., R 6052.
108 WDO, AA 08: 136.24–26.
109 WDO, AA 08: 138.17–19.
110 S. z. B. Feder, Johann Georg Heinrich: Logik und Metaphysik. 2. Aufl. Göttingen 1770, § 55
des Logikteils. Kant handelt das Fürwahrhalten ausführlich im neunten Abschnitt der „Einlei-
tung“ der Jäsche-Logik (Log, AA 09: 65.25–81.12) und im dritten Abschnitt des „Kanons der reinen
Vernunft“ in der „Methodenlehre“ der ersten Kritik (KrV, B 848–859, AA 03: 531.24–538.16) ab.
S. ferner einige Bemerkungen Kants gegen Ende der „Dialektik“ der zweiten Kritik (KpV, AA 05:
142.01–146.12) sowie die §§ 90 und 91 der dritten Kritik (KU, AA 05: 461.11–473.02).
111 Vgl. Log, AA 09: 72.14–17; Log, AA 09: 73.01–26 und KrV, B 848–850, AA 03: 531.27–532.35.
ob sie Überzeugung ist, als durch sie „jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr ange-
messenen Erkenntnißkraft angewiesen […] wird“119. Erst durch die Zuordnung des
„Inhalt[s] der Begriffe“120 zur Erkenntniskraft ‚Sinnlichkeit‘ oder zur Erkenntnis-
kraft ‚Verstand‘ können Kant zufolge philosophische Irrtümer vermieden werden,
da „der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den
Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjectiven Gründe des
Urtheils mit den objectiven zusammenfließen“121. Damit erlaubt die transzenden-
tale Reflexion auch eine Einschätzung der Legitimität des Geltungsanspruchs
eines philosophischen Fürwahrhaltens. Denn sollte durch sie entdeckt werden,
dass im Falle eines philosophischen Fürwahrhaltens die Sinnlichkeit „auf die
Verstandeshandlung selbst einfließt und ihn [= den Verstand, S. K.] zum Urthei-
len bestimmt“, dann gilt die Sinnlichkeit nicht mehr als „Quell realer Erkennt-
nisse“, sondern als „Grund des Irrthums“.122
Ein solcher ‚unbemerkter Einfluss der Sinnlichkeit auf den Verstand‘ liegt
Kant zufolge dem Fürwahrhalten des rationalistisch philosophierenden Sub-
jekts einerseits mit Blick auf dessen Anspruch auf eine „Erweiterung des reinen
Verstandes“123 durch „transcendente Grundsätze“124 zugrunde.125 Andererseits
liegt er ihm auch dann zugrunde, wenn für die Rechtfertigung des Fürwahrhal-
tens eine nichtsinnliche Anschauung beansprucht wird. Insofern diese nicht
bloß „als Begriff vernünftelt, sondern als Anschauung (Auffassung des Gegen-
standes selbst) gelte[n]“126 und damit ein objektiver Grund für die Rechtfertigung
einer besonderen Erkenntnis sein soll, Anschauung aber im Fall nicht-göttlicher
119 KrV, B 351, AA 03: 235.15–17. Diese Bemerkung Kants findet sich in dem die „Transzenden-
tale Dialektik“ einführenden Abschnitt „Vom transcendentalen Schein“. Hier empfiehlt Kant die
transzendentale Überlegung, um grundsätzliche Irrtümer bei der philosophischen Erkenntnis
zu vermeiden (vgl. KrV, B 351, AA 03: 235.07–17; sowie bereits KrV, B 318, AA 03: 216.04–16.). –
Reinhard Hiltscher hat mich auf die Relevanz des ersten Absatzes dieses Abschnitts für den vor-
liegenden Kontext aufmerksam gemacht.
120 KrV, B 318, AA 03: 216.04 f.
121 KrV, B 350 f., AA 03: 235.01–03 (Herv. S. K.).
122 KrV, B 351, AA 03: 235.33–35.
123 KrV, B 352, AA 03: 235.27.
124 KrV, B 352, AA 03: 235.30.
125 Dabei unterliegt das rationalistisch philosophierende Subjekt einem „transcendentalen
Scheine“ (KrV, B 352, AA 03: 235.22), indem es die bloß regulative Funktion ‚transzendenter
Grundsätze‘ – „sich im Denken, d. i. logisch, zu orientiren“ (WDO, AA 08: 136.03) – übersieht.
Legitim sind sie Kant zufolge bekanntlich allein vor dem Hintergrund des „Bedürfnisses der Ver-
nunft […] etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen
sich nicht anmaßen darf“ (WDO, AA 08: 137.07–10, Herv. S. K.).
126 VT, AA 08: 395.06 f.
dige Erkenntnisquelle137 dar, aus der die Erkenntnisse der Logik, Mathematik und
Philosophie gewonnen werden könnten. ‚Rationale Intuitionen‘ werden dabei als
kognitive Akte bestimmt, die unmittelbar (direct, non-discursive), zugleich intel-
lektuell (intellectual, reason-governed) seien und zum Gegenstand notwendige
Propositionen (necessary propositions) hätten.138 Zudem würden solche Akte
tatsächlich und ständig in der (analytischen) Philosophie als Rechtfertigungs-
gründe verwendet, und bereits dieser ‚phänomenologische‘ Befund zeichne sie
als einen eigenständigen Typ propositionaler Einstellung (primitive propositio
nal attitude) aus.139 Somit sei das Vermögen zu ‚rationaler Einsicht‘ zwar dem
Wahrnehmungsvermögen ähnlich, aber nicht auf dieses reduzibel.140 Wie im
klassischen Rationalismus solle es dem konkreten philosophierenden Subjekt
vielmehr einen besonderen kognitiven Zugang zur Rechtfertigung des Erkennt-
nisanspruchs seiner apriorischen Urteile zur Verfügung stellen, ohne auf empiri-
sche Gründe rekurrieren zu müssen. Dem Vermögen ‚rationaler Einsicht‘ komme
allerdings keine Funktion als ‚Wahrmacher‘ zu, so dass die auf ‚rationale Intuitio-
nen‘ gestützten Einsichten zwar notwendige Propositionen, aber nicht notwendig
wahr, sondern durchaus fallibel seien.141 Gerade dies zeichne den ‚moderaten‘
Rationalismus (moderate rationalism) gegenüber seinen klassischen Varianten
aus.142
Bereits auf den ersten Blick scheint die Inanspruchnahme ‚rationaler Intui
tionen‘ durch den moderaten Rationalismus aus der entwickelten kantischen
Perspektive einen geradezu exemplarischen Fall dafür abzugeben, dass „sub-
jective Gründe […] für objectiv – mithin Bedürfnis für Einsicht – gehalten“143
werden. Denn die Behauptung, es gebe ein von der sinnlichen Anschauung zu
137 BonJour bezeichnet ‚rationale Einsicht(en)‘ als „a genuine and autonomous source of epi-
stemic justification of knowledge” (BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist
account of a priori justification. Cambridge 1998, 98) und Bealer als „basic sources of evidence“
(Bealer, George: „A theory of the a priori“. In: Pacific Philosophical Quarterly 81, 2000, 21).
138 Vgl. BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist account of a priori justifica
tion. Cambridge 1998, z. B. 102 und 106 f. und ähnlich Bealer, George: „A theory of the a priori“.
In: Pacific Philosophical Quarterly 81, 2000, 3 f.
139 Vgl. Bealer, George: „A theory of the a priori“. In: Pacific Philosophical Quarterly 81, 2000,
2–4.
140 S. zu Unterschieden zwischen den Konzeptionen BonJours und Bealers – auch in diesem
Punkt – Casullo, Albert: A priori justification. Oxford 2003, 160–173, bes. 165 f.
141 Vgl. dazu v. a. BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist account of a priori
justification. Cambridge 1998, 110–115.
142 Vgl. z. B. BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist account of a priori justi
fication. Cambridge 1998, 99 f.
143 WDO, AA 08: 138.17–19.
144 Vgl. BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist account of a priori justifi
cation. Cambridge 1998, 113 f. Zwar müssten ‚rationale Einsichten‘ sorgfältig geprüft werden
und das konkrete philosophierende Subjekt müsse ein Bewusstsein von der Notwendigkeit
der behaupteten Erkenntnisse haben. Diese Bedingungen sind aber BonJour zufolge ausrei-
chend, um rationale Intuitionen als für die Rechtfertigung philosophischen Wissens legitim in
Anspruch zu nehmende Gründe zu qualifizieren.
145 Vgl. z. B. BonJour, Laurence: In defense of pure reason. A rationalist account of a priori justi
fication. Cambridge 1998, 110 und 115.
eine ‚Quelle‘ von Erkenntnis und Gewissheit sein kann.146 Seine Begriffe müssen
dafür aber auf sinnliche Anschauung bezogen werden.147 Wird dieser springende
Punkt der kantischen Erkenntnislehre übersehen, ist die Auszeichnung eines Ver-
mögens ‚rationaler Einsicht‘ als eigenständiges Erkenntnisvermögen aus deren
Perspektive nicht nur unangemessen, sondern schlichtweg falsch. Insofern der
moderate Rationalismus beansprucht, die Möglichkeit der Rechtfertigung aprio
rischen Wissens aufzuklären, ist der erste Blick und die aus ihm resultierende
Anwendung der rekonstruierten kantischen Kritik am Begriff der intellektuellen
Anschauung auf die Inanspruchnahme von ‚rationalen Intuitionen‘ also doch
berechtigt. Denn wenn die Bedeutung des Begriffs einer ‚rationalen Intuition‘
bzw. ‚Einsicht‘ nicht nur auf die Eigenschaft des Verstands, im Gemüt des kon-
kreten Subjekts unter Bezugnahme auf sinnlich gegebenes Mannigfaltiges Gewiss-
heit erzeugen zu können, reduziert werden sollte, bliebe nur ihre Auszeichnung
als ein besonderes, von der Sinnlichkeit und dem Verstand zu unterscheiden-
des Erkenntnisvermögen. Ein solches ist aber nicht nur nicht von Kant bei der
Ausarbeitung seiner Theorie der Erkenntnis bloß übersehen worden – es ist als
rationales und zugleich nicht-diskursives innerhalb seiner Theorie schlichtweg
ein Unding.
Dagegen scheinen auch einige von Kants eigenen Überlegungen vor dem Hin-
tergrund der neueren Diskussionen um das Problem der Rechtfertigung aprio
rischen Wissens in einem gewissen Anschluss an den erkenntnistheoretischen
Rationalismus gedeutet werden zu können. So sieht etwa Hanna ausgehend von
Kants Begriff der Überzeugung dessen Lösung dieses Problems gerade in der
Annahme eines Vermögens ‚rationaler Einsicht‘.148 Durch dieses würden solche
Propositionen erkannt, deren ‚semantische Struktur‘ einfach und deren Wahrheit
durch diese Einfachheit verbürgt sei. Diese ‚direkte‘, auf Einsicht einfacher Pro-
positionen beruhende Erkenntnis werde zudem ergänzt durch eine ‚indirekte‘,
mittels Beweisen zustande kommende Erkenntnis, so dass das philosophierende
Subjekt das durch es beanspruchte Wissen im Zusammenspiel beider Erkennt-
nisweisen entwickeln könne, dabei aber jederzeit die Möglichkeit ‚unmittelbarer
146 Vgl. z. B. Kants Bemerkungen zum Erkenntnisbegriff im 5. Abschnitt und zum Gewissheits-
begriff im 9. Abschnitt der „Einleitung“ in die Jäsche-Logik (bes. Log, AA 09: 35.33–36.16; Log, AA
09.38.22–38.31; 65.33–66.23 und Log, AA 09: 70.27–71.15).
147 Unmissverständlich schreibt Kant im Abschnitt über „Die Disciplin der reinen Vernunft im
dogmatischen Gebrauche“ der „Methodenlehre“ der ersten Kritik: „Aus Begriffen a priori (im
discursiven Erkenntnisse) kann aber niemals anschauende Gewißheit, d. i. Evidenz, entsprin-
gen, so sehr auch sonst das Urtheil apodiktisch gewiß sein mag“ (KrV, B 762, AA 03: 481.18–21).
148 Vgl. Hanna, Robert: „How Do We Know Necessary Truths? Kant’s Answer“. In: European
Journal of Philosophy 6, 1998, 115–145.
Einsicht‘ (direct insight) voraussetzen müsse.149 Mit einer solchen Theorie philo-
sophischer Erkenntnis stehe Kant in der rationalistischen Tradition einer ‚Phäno-
menologie der Einsicht‘ (phenomenology of insight), die in Descartes’ und Leibniz’
Schriften allerdings nur in ungenügender Weise vorliege.150 Indem Hanna damit
aus Kants Schriften eine Theorie philosophischer Erkenntnis rekonstruiert, die
die rationalistische Theorie der Rechtfertigung philosophischen Wissens weiter-
führt, gewinnt seine Interpretation einige Relevanz für den vorliegenden Kontext.
Denn wenn der rekonstruierten Kritik Kants am Begriff einer intellektuellen
Anschauung zufolge für die Erlangung einer philosophischen Überzeugung qua
Wissen weder die Annahme einer nichtsinnlichen Anschauung noch eine beson-
dere, der diskursiven gegenüberstehende intuitive Erkenntnisweise entschei-
dend sein dürfen, steht sie mit ihrer Betonung eines ‚Vermögens unmittelbarer
Einsicht‘ (capacity for direct insight) in Verdacht, genau diese Kritik übersehen
zu haben.
Insofern laut Kant eine Überzeugung qua Wissen – im Unterschied zur einer
Überredung – dadurch ausgezeichnet ist, dass die für die Rechtfertigung des
ihr zugrunde liegenden Urteils in Anspruch genommenen Gründe nicht ledig-
lich „für objectiv gehalten“151 werden, sondern tatsächlich objektiv sind, ist zu
fragen, was überhaupt als ‚objektiver Grund‘ gelten kann. Ausgehend von Kants
Deutung des Dualismus von Anschauung und Begriff als irreduziblen und wech-
selseitig aufeinander bezogenen Aspekten jeder Form von Erkenntnis können als
objektive Gründe nur solche Vorstellungen gelten, die sowohl kategorial geformt
als auch (zumindest mittelbar) auf sinnliche Anschauung bezogen sind. Genau
diesem Erfordernis entsprechen auch Kants eigene Ausführungen zur Möglich-
keit philosophischer Erkenntnis in der „Methodenlehre“ der ersten Kritik. Im
vorletzten Absatz des Abschnitts „Die Disciplin der reinen Vernunft im dog-
matischen Gebrauche“ weist er darauf hin, dass „die ganze reine Vernunft […]
nicht ein einziges direct synthetisches Urtheil aus Begriffen [enthält]“152. Viel-
mehr sei die philosophische Erkenntnis als „Vernunfterkenntniß der Dinge […]
durch Begriffe“153 gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie „durch Verstandesbe-
griffe […] zwar sichere Grundsätze [errichtet], aber gar nicht direct aus Begriffen,
149 Vgl. Hanna, Robert: „How Do We Know Necessary Truths? Kant’s Answer“. In: European
Journal of Philosophy 6, 1998, 136 f.
150 Vgl. Hanna, Robert: „How Do We Know Necessary Truths? Kant’s Answer“. In: European
Journal of Philosophy 6, 1998, 117.
151 KrV, B 848, AA 03: 532.04 (Herv. S. K.).
152 KrV, B 764, AA 03: 482.35–483.01 (Herv. S. K.).
153 KU, AA 05: 171.04–06. Vgl. auch KrV, B 741, AA 03: 469.08 f.; KrV, B 760, AA 03: 480.22; MS,
AA 06: 403.16 sowie Log, AA 09: 23.13 und 31.
sondern immer nur indirect durch Beziehung dieser Begriffe auf […] mögliche
Erfahrung“154. Erst die Bezogenheit auf sinnliche Anschauung erlaubt demnach
auch im Kontext philosophischer Erkenntnis Kant zufolge die Qualifikation eines
‚Fürwahrhaltens‘ als Überzeugung qua Wissen.
Wenn Hanna dagegen zu dem Schluss kommt, dass Kant zufolge kein ‚mittel-
bares Wissen‘ (knowledge by proof) ohne das Vermögen ‚unmittelbarer Einsicht‘
möglich sei155, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Vermögen allein bestenfalls
zur Rechtfertigung analytischer Urteile taugt. Zwar setzt auch die philosophi-
sche Erkenntnis die Geltung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch
voraus – es allein ist aber bekanntlich gerade nicht für jene als synthetische
hinreichend.156 Wenn zudem jenes Vermögen ‚unmittelbarer Einsicht‘ als Bedin-
gung jeder Art apriorischen, also auch philosophischen Wissens ausgezeichnet
werden soll157, dann mag dies mit Blick auf den Erkenntnisvollzug eines kon-
kreten Subjekts richtig sein – ist aber geltungstheoretisch irrelevant. Denn das
von Hanna wiederholt aufgerufene „Bewußtsein der Nothwendigkeit“158, das der
Jäsche-Logik zufolge das Wissen qua „Gewißheit“159 auszeichnet, ist eine mög
liche Qualifikation für ein Fürwahrhalten und betrifft somit allein „die Beziehung
auf einen Verstand und also auf ein besonderes Subject“160. Ob das „im Urthei-
len […] für apodiktisch gewiß, d. i. für allgemein und objectiv nothwendig (für
alle geltend)“161, Gehaltene „eine bloß empirische Wahrheit“162 oder eine ‚not-
wendige Wahrheit‘ (necessary truth)163 ist, kann durch einen bloßen Verweis auf
ein ‚Bewusstsein der Notwendigkeit‘ noch nicht als entschieden gelten.164 Soll
sich das Fürwahrhalten nicht nur auf ein analytisches Urteil beziehen, müssen
auch im Fall philosophischer Erkenntnis beide Aspekte jeder Form von Erkennt-
nis berücksichtigt werden. Zwar mag auch Kant zufolge eine ‚unmittelbare Ein-
sicht‘ in ‚notwendige Wahrheiten‘ qua analytische Urteile möglich sein.165 Den
entscheidenden Ausgangspunkt für seine Philosophie stellt aber die synthetische
Einheit der Apperzeption dar.166 Die aus ihr zu gewinnenden, apodiktisch gewis-
sen ‚Einsichten‘ können allerdings „immer nur indirect durch Beziehung [ihrer]
Begriffe auf […] mögliche Erfahrung“167 erlangt werden.
Wie es mit Kants eigener Theorie philosophischer Erkenntnis steht, muss
hier offen bleiben. Gerade die durch den moderaten Rationalismus wieder auf-
geworfene Frage nach der Rechtfertigung philosophischen Wissens durch das
konkrete philosophierende Subjekt scheint sich allein am Buchstaben der Schrif-
scheidet sich von der empirischen durch das Bewußtsein der Nothwendigkeit, das mit ihr verbun-
den ist, sie ist also eine apodiktische, die empirische dagegen nur eine assertorische Gewißheit“
(Log, AA 09: 71.08–11). Abgesehen davon, dass sich in der Jäsche-Logik nicht wenige, sich
zumindest scheinbar widersprechende Aussagen finden lassen und diese für eine Rekonstruk-
tion der philosophischen Position Kants nur behutsam benutzt werden sollte, ist auffällig, dass
Kant einerseits das Fürwahrhalten als ‚problematisch‘ (Meinen), ‚assertorisch‘ (Glauben) oder
‚apodiktisch‘ (Wissen) (vgl. Log, AA 09: 66.11–20), andererseits die Gewissheit als ‚assertorisch‘
oder ‚apodiktisch‘ bestimmt. Die erste Bestimmung „betrifft nur die Urtheilskraft in Ansehung
der subjectiven Kriterien der Subsumtion eines Urtheils unter objective Regeln“ (Log, AA 09:
66.20–23), während die zweite sich „auf die beiden Quellen [bezieht], woraus unser gesammtes
Erkenntniß geschöpft wird“ (Log, AA 09: 70.31 f.), und damit zwar etwas über die mit analyti-
schen und mathematischen Urteilen einhergehende ‚rationale Gewissheit‘, aber noch nicht viel
über die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis gesagt ist.
165 Allerdings müssen auch analytische Urteile – und besonders diejenigen, die in der Mathe-
matik „zur Kette der Methode [dienen]“ (KrV, B 16, AA 03: 38.10) – auf mögliche Gegenstände
der sinnlichen Anschauung bezogen werden können, damit sie nicht nur als notwendige qua-
lifiziert, sondern auch als notwendig wahr qualifizierbar sind. – Auf die für diesen Kontext ein-
schlägige Stelle aus dem fünften Abschnitt der „Einleitung“ der zweiten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft (KrV, B 16 f., AA 03: 38.08–24) wurde ich dankenswerterweise durch ein anony-
mes Gutachten aufmerksam gemacht.
166 Dass der die Apperzeption ausdrückende Satz ‚ich denke‘ in Kants Schriften wiederum
einen eher problematischen Status hat, der auf ein anspruchsvolles Problem der kantischen
Transzendentalphilosophie verweist, ist bekannt. Einer schwierigen Anmerkungen Kants im
Paralogismus-Kapitel der ersten Kritik zufolge „drückt er eine unbestimmte empirische Anschau-
ung, d. i. Wahrnehmung, aus, […] geht aber vor der Erfahrung vorher“ (KrV, B 423, AA 03: 276.21–
24 Anm.). Dass diese ‚unbestimmte empirische Anschauung‘ aber nichts mit einer ‚rationalen
Intuition‘ bzw. ‚Einsicht‘ zu tun hat, dürfte bereits mit Blick auf Kants dort unmittelbar folgende
Ausführungen klar sein.
167 KrV, B 765, AA 03: 483.03–06 (Herv. S. K.).
ten Kants nicht beantworten zu lassen.168 Mit Kant ist aber an jede Theorie der
Rechtfertigung philosophischen Wissens die Forderung zu stellen, dass sie den
Begriff einer intellektuellen Anschauung in keiner der in den vorangegangenen
Überlegungen entwickelten Bedeutungen beanspruchen darf. Ansonsten unter-
liefe sie Kants Deutung des Dualismus von Anschauung und Begriff – und liefe
Gefahr, das philosophierende Subjekt in der Rechtfertigung seiner Wissens
ansprüche mit dem Verweis auf bloß subjektive Gründe und damit auf psycholo-
gische Umstände zu überreden statt zu überzeugen.169
168 S. für eine in kritischer Auseinandersetzung mit der ‚analytischen‘ Erkenntnistheorie ent-
wickelte Rekonstruktion von Kants ‚Reflexionskontextualismus‘ Hiltscher, Reinhard: Der onto
logische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem
systematischen Problem der Philosophie. Hildesheim/Zürich/New York 2006, 237–244, bes. 243 f.
sowie ders.:„Fichte und die Rechtfertigung von Wissen“. In: Fichte-Studien 34, 2009, bes. 291–
296.
169 Der vorliegende Aufsatz ist im Rahmen eines Forschungsprojekts entstanden, das die Fritz
Thyssen Stiftung dankenswerterweise mit einem Stipendium unterstützt hat.