Oma kommt
„Anna, Tim – Oma ist da“, ruft Mama. Juchhu! Anna und Tim freuen sich riesig. Sie
haben Oma schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen, weil sie und Opa so weit
weg im Norden wohnen.„Omaaa“, ruft Tim begeistert und wirft sich in ihre Arme.
„Hallo mein Kleiner, nicht so stürmisch“, lacht Oma und streicht Tim liebevoll übers
Haar.
„Ich bin nicht klein, ich bin schon sechs“, sagt Tim trotzig und hält eins, zwei, drei,
vier, fünf – sechs Finger hoch.
„Ah so, wenn du schon so groß bist, wie groß ist denn dann deine Schwester?“,
fragt Oma, während sich Anna ganz fest an sie drückt. Tim überlegt kurz und nimmt
noch zwei Finger dazu. „Anna ist acht!“, sagt Tim. Er ist schon ein bisschen stolz,
dass das mit dem Rechnen nun so gut klappt.
„Oma, warum hast du Opa nicht mitgebracht?“, will Anna wissen.
„Opa ist noch in seiner Holzwerkstatt beschäftigt. Er kommt aber an Weihnachten
nach“, sagt Oma.
„Och, erst Weihnachten?“, sagt Anna. Sie vermisst ihren Opa schon sehr.
„Ihr werdet euch wundern, wie schnell die Zeit bis dahin verfliegt. Wir können so
viel unternehmen und spielen und basteln …“, sagt Oma. Sie ist nämlich extra
gekommen, um auf Anna und Tim aufzupassen, weil Mama und Papa in der
Vorweihnachtszeit besonders viel in ihrer Bäckerei zu tun haben.
„Backst du mit uns auch mal Plätzchen?“, fragt Anna.
„Ja, das können wir in den nächsten Tagen bestimmt machen“, sagt Oma.
„Und wenn es bald schneit, gehst du dann mit uns Schlittenfahren?“, fragt Tim.
„Aber natürlich, mein Timmi“, lacht Oma, „das und noch viel mehr. Ich hab‘ da
schon was im Kopf, ihr werdet noch staunen!“
Anna und Tim strahlen – Oma ist einfach toll! Was sie wohl geplant hat?
Am nächsten Tag erzählt Anna Oma beim Mittagessen, dass sie für die Schule ein
Weihnachtsgedicht auswendig lernen soll. Das handelt von einem „Sinterklaas“,
einem „Santa Claus“ und sogar einem „Väterchen Frost“.
Anna runzelt die Stirn. „Oma, was sind das alles für komische Namen?“
„Santa Claus, Sinterklaas und Väterchen Frost bringen in anderen Ländern die
Geschenke an Weihnachten“, erklärt Oma.
„Stimmt ja gar nicht“, ruft Tim dazwischen, „das macht doch alles der
Weihnachtsmann!“
„Und wie, mein Timmi, soll er das in nur einem Tag schaffen?“, fragt Oma, „auf der
ganzen weiten Welt warten ja Kinder an Weihnachten auf Geschenke.“
Da ist der vorlaute Tim sprachlos. Wie macht der Weihnachtsmann das nur? Bisher
hat Tim immer nur an seine eigenen Geschenke gedacht. Und an die von Anna,
aber Anna spielt eh mit ganz anderen Sachen.
Mit dem Abendessen kann es Anna und Tim heute gar nicht schnell genug gehen.
Ohne Murren machen sie sich bettfertig. In ihrem gemeinsamen Zimmer warten sie
gespannt in Tims Bett auf Oma und die Weihnachtsmänner.
„Oma, wir sind fertig!“, ruft Anna. Sie hören Omas Schritte im Flur. Anna und Tim
sind ganz aufgeregt, wenn Mama und Papa wüssten, wen sie heute Abend
kennenlernen! Ob es Oma auch schafft, Santa Claus, Sinterklaas und Väterchen
Frost unbemerkt durchs Haus zu lotsen?
Endlich geht die Tür auf und Oma kommt herein.
„Ich habe euch etwas mitgebracht“, sagt Oma und setzt sich zu Anna und Tim ans
Bett. Mit geheimnisvoller Miene zieht sie ein altes Buch hervor.„Aber … aber …“, Tim
weiß kaum, was er sagen soll, so enttäuscht ist er.
„Das ist ja nur ein Buch“, beklagt sich nun auch Anna.
„Das ist aber nicht irgendein Buch“, sagt Oma. „Daraus hat mir schon meine
Mutter vorgelesen, da war ich ungefähr in eurem Alter.“
Nein, so haben Anna und Tim sich das nicht vorgestellt. Sie wollten doch die
anderen Weihnachtsmänner kennenlernen, ganz in echt.
Aber was war denn das? Als Oma das Buch aufklappt, hören Anna und Tim das
leise Klingeln vieler kleiner Glöckchen. Das kam ganz eindeutig aus dem Buch. Hat
Oma das denn gar nicht gemerkt?
„In Russland bringt Väterchen Frost die Gaben“, beginnt Oma zu lesen. Im Buch ist
ein Mann auf einer verschneiten Lichtung zu sehen. Er trägt einen langen, blauen
Mantel und hat einen dicken weißen Bart. In seiner Hand hält er einen riesigen
Eiszapfen, der bis zum Boden ragt. Das muss Väterchen Frost sein. Anna und Tim
hören ein Grummeln. Hat sich da nicht auch der Rauschebart im Bild bewegt?
„Wo bleibt sie denn nur?“, brummt eine ganz tiefe Stimme recht verärgert. Das war
aber nicht Oma.
„Wisst ihr, wo mein Schneemädchen sein könnte?“, ertönt es aus dem Buch.
Tatsächlich, Väterchen Frost im Bild kann sprechen - und zwar mit Anna und Tim.
Anna reibt sich verdutzt die Augen. Doch der Mann im Bild bewegt sich wieder. Mit
seinem Eiszapfen stampft er ungeduldig auf den Boden, dass der Schnee
aufwirbelt.
Der vorlaute Tim ist da schon kecker: „Wer soll denn das Schneemädchen sein?“,
fragt er neugierig.
Kaum hat Tim die Frage ausgesprochen, passiert etwas Sonderbares: Gerade
saßen Anna und Tim noch eingekuschelt neben Oma im Kinderzimmer und im
nächsten Moment stehen sie auf der Lichtung - direkt vor Väterchen Frost! Sie
haben noch ihre Schlafanzüge an, aber die Kälte spüren sie nicht, wie merkwürdig.
„Was ist das denn für eine Frage“, grummelt Väterchen Frost, „Snegurotschka
müsste längst hier sein. Wir haben noch so viel vorzubereiten.“
„Snegurotschka ist das Schneemädchen?“, fragt Anna.
„Wer denn sonst“, brummt Väterchen Frost und stampft wieder mit dem großen
Eiszapfen auf den Boden. Er hat keine Zeit und muss wirklich bald weiter.
Vielleicht klappt das ja auch mit Schnee? Anna sucht einen Zweig, mit dem sie die
Schneefigur bearbeitet. Nach und nach erkennt man etwas – eine Nase, Mund,
Augen …
„So?“, fragt Anna schließlich erwartungsvoll. Väterchen Frost ist beeindruckt. Das
hätte er den Kindern nicht zugetraut.
„Nun mach‘ schon“, ruft Tim aufgeregt. „Du musst unser Schneemädchen mit
deinem Eis-Zauber-Dingsstab berühren.“
Das lässt sich Väterchen Frost nicht zweimal sagen. Mit einem Schritt ist er bei der
Schneefigur und tippt sie mit dem Eiszapfen an. Ob Snegurotschka wirklich gleich
erscheint?
Wahrhaftig, vor den Augen der Kinder wird das Schneemädchen lebendig.
Wunderschön ist sie, ihr golddurchwebter weißer Mantel schimmert im Mondlicht.
„Snegurotschka, da bist du ja endlich!“, ruft Väterchen Frost erfreut. Und auch
Snegurotschka lässt ihr helles Lachen ertönen. Er wendet sich den Kindern zu:
„Dank euch, Kinder, ihr habt wirklich unser Weihnachten gerettet.“
Am nächsten Morgen finden sich Anna und Tim in ihren Betten wieder. Sie können
sich gar nicht mehr erinnern, wie sie zurückgekommen sind. Ob alles nur ein Traum
war? Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Oma ruft schon zum Frühstück,
Mama und Papa sind bereits seit Stunden in der Backstube und Anna und Tim
müssen in die Schule.
Endlich ist der Abend gekommen. Mama und Papa sind erstaunt, seit Oma da ist,
gehen die Kinder freiwillig zeitig zu Bett. Dort warten sie schon gespannt auf Oma
und das Buch.
„Oma, liest du uns wieder aus dem Buch mit den Weihnachtsmännern vor?“, fragt
Tim, als Oma das Zimmer betritt.
„Ach, ich dachte, das Buch findet ihr langweilig …“, erwidert Oma und kann ein
Schmunzeln kaum unterdrücken. Aber natürlich hat sie das Buch gleich griffbereit.
Sie beginnt mit dem nächsten Kapitel:
„In Norwegen hat der Weihnachtsmann einen besonderen Helfer“, liest Oma vor,
„der Weihnachtskobold Julenisse hilft dem Weihnachtsmann, die Geschenke
vorzubereiten. Als Gegenleistung erwartet er von den Familien nur ein wenig
Milchreis, den sie ihm auf den Dachboden stellen.“
Verwundert schauen Anna und Tim auf das Bild im Buch – es passt nicht zu dem,
was Oma vorgelesen hat: Ein großer Dachboden ist zu sehen, doch weit und breit
keine Schüssel Milchreis und kein Julenisse … Wie mag der wohl aussehen?
Anna und Tim entdecken auf dem Bild im Buch einen kleinen Jungen am
Dachfenster. Beinahe hätten sie ihn übersehen - er ist so weit ins Fenster
reingeklettert, dass man nur noch seine Beine hervorschauen sieht.
Tim ist ganz kribbelig vor Neugierde. „Hallo? Was machst du denn da?“ - kaum hat
er die Frage ausgesprochen, stehen Anna und Tim auf dem Dachboden. Der Junge
im Fenster erschreckt und lässt fast das Fernglas fallen, das er in den Händen hält.
„Wer seid ihr denn?“, fragt er verdutzt.
„Ich bin Anna und das ist mein Bruder Tim. Bist du der Julenisse?“
„Nein, mein Name ist Emil“, antwortet der Junge.„Und was machst du jetzt hier?“,
erkundigt sich Tim ganz ungestüm.
„Ich halte Ausschau …“, antwortet Emil, „seit einigen Tagen passieren hier
seltsame Dinge: Überall verschwindet nachts Essen aus den Häusern und morgens
laufen Tiere außerhalb ihrer Ställe rum! Ich will rausfinden, was dahinter steckt!“
„Weißt du was, wir helfen dir!“, ruft Anna, „wir spielen ‚Emil und die Detektive!‘“
Gesagt, getan - kaum machen sich die drei Detektive auf den Weg ins Dorf, da
kreuzt ein kleiner Mann ihren Weg.
„Sowas, nein, sowas aber auch!“, murmelt er verärgert vor sich hin. Er ist gerade
mal so groß wie Anna und scheint es sehr eilig zu haben. Die Kinder bemerkt er gar
nicht und tritt Anna fast auf den Fuß.
„He! Warum bist du denn so garstig? Es ist doch bald Weihnachten!“, sagt Anna.
„Was soll denn daran schön sein?“, fragt der kleine Mann zurück.
„Ich bin mitten in den Vorbereitungen für Weihnachten“, quengelt der kleine Mann.
„Ich arbeite und arbeite, um rechtzeitig alle Weihnachtsgeschenke vorzubereiten.
Wisst ihr, wie viele Kinder es in Norwegen gibt? Sehr viele! Das ist anstrengend und
kräftezehrend. Ich hab‘ Hunger!“
„Ach du bist der Julenisse!“, ruft Tim, „du musst doch nur auf den Dachboden einer
Familie hier gehen – die stellen dir Milchreis hin. Das weiß ich von Oma, dann
musst du keinen Hunger mehr haben …“
„Das ist es ja!“, ruft der Julenisse entrüstet aus. „In letzter Zeit stellt niemand mehr
Milchreis hin und trotzdem muss ich die ganzen Geschenke fertigmachen. Ich kann
nicht mehr. Wenn ich Hunger habe, bekomme ich ganz schlechte Laune! Die Leute
wollen mich wohl ärgern … Und wer mich ärgert, den ärgere ich zurück!“
„Du warst das!“ ruft Emil, „du klaust das Essen und lässt die Tiere frei, nicht
wahr?!“
„Du hast es erfasst! Und ich höre nicht damit auf, bis ich wieder meinen Milchreis
bekomme!“, patzig verschränkt der Julenisse seine Arme vor der Brust.
So darf das nicht weitergehen, da sind sich die Kinder einig. Sie versprechen
Julenisse, dass er bald wieder Milchreis bekommt und machen sich auf den Weg
zurück.
Emils Mama erzählen sie gleich vom verärgerten Julenisse. Sie ist recht bestürzt
und bringt ihnen gerne bei, wie man Milchreis kocht. Den stellen sie gemeinsam auf
den Dachboden.
„Das müsst ihr nun allen Nachbarn und Freunden weitererzählen! Dann bekommen
sicher auch alle ihre Geschenke“, sagt Anna Emil. Der nickt dankbar.
„Das machen wir ganz bestimmt! Vielen Dank für eure Hilfe!“
„Anna, wach auf, es ist Nikolaustag“, Tim schüttelt aufgeregt an den Schultern
seiner Schwester.
„Hmmmwas?“, murmelt Anna ganz schlaftrunken. Es ist noch so schön kuschelig
unter der Decke. Doch dann ist sie hellwach. War sie nicht gerade noch bei Emil auf
dem Dachboden? Nein, das ist eindeutig ihr Bett und vor ihr steht der struwwelige
Tim in seinem Schlafanzug, der an ihrer Decke zieht.
„Annaaa, willst du denn gar nicht wissen, was in deinem Stiefel steckt?“, fragt der
ungeduldige Tim. Und ob Anna das will, mit einem Hopser ist sie aus dem Bett und
an der Tür. Ob Mama und Papa überhaupt Zeit hatten, etwas in ihre Stiefel zu tun?
Natürlich hatten sie das. Vor der Kinderzimmertür stehen Tims grüner und Annas
roter Gummistiefel – prall gefüllt mit Süßigkeiten, einem Hörspiel für Anna und –
Hurra! – einer großen Taschenlampe für Tim. „Damit kann ich gaaanz weit
leuchten“, erzählt Tim heute jedem stolz, dem er begegnet.
Abends beginnt Oma eine neue Geschichte. Tim besteht darauf, Oma beim Lesen
mit seiner neuen Taschenlampe zu leuchten.
„In den Niederlanden freuen sich alle auf Sinterklaas“, liest Oma vor. Im Buch ist
ein Strand zu sehen, wie Anna und Tim ihn aus dem letzten Nordsee-Urlaub
kennen. Eine kühle Brise umweht ihre Gesichter. Ist es tatsächlich windig im
Kinderzimmer? Sie hören die Wellen rauschen, auf dem Bild im Buch wird es schon
dunkel.
„So ein Scheibenkleister!“, tönt es von weiter weg. Anna und Tim schauen sich um,
doch weit und breit ist niemand zu sehen.
„Hallo? Ist da jemand?“, ruft Anna – wie von Zauberhand stehen die beiden Kinder
prompt selbst am Strand.
„Hier oben!“, trägt der Wind eine Stimme zu den Kindern. Wo kam das denn her?
„Ich glaube, die Stimme kommt von da drüben“, sagt Anna und zieht Tim in
Richtung eines Leuchtturms, nicht weit von ihnen. In der Dämmerung können Anna
und Tim gerade noch die rot-weißen Streifen des Leuchtturms ausmachen.
„Das ist ja gar kein Leuchtturm“, meint Tim, „ein Leuchtturm muss leuchten und
der hier leuchtet ja gar nicht.“
„Hier, hier oben! Schaut doch mal hoch“, ruft die Stimme wieder. Anna und Tim
schauen am Turm hinauf und sehen ganz oben einen jungen Mann an der Reling
stehen, seine gelbe Regenjacke weht im Wind.
„Direkt vor euch ist eine Tür. Wenn ihr dadurch geht und den Treppen nach oben
folgt, gelangt ihr auch hier hoch. Dann muss ich nicht so schreien …“
Anna und Tim klettern neugierig die Treppen hoch. Oben angelangt betreten sie
einen gemütlichen runden Raum. An der Wand ist ein Ofen, auf dem ein Teekessel
blubbert.
„Ich mach euch erstmal einen Tee, euch muss ja kalt sein in euren Schlafanzügen.
Ich bin übrigens Ruben“, empfängt sie der junge Mann und streckt ihnen freundlich
die Hand entgegen.
„Ich bin Tim und das ist meine Schwester Anna“, stellt Tim vor.
„Warum hast du eben so laut geflucht?“, will Anna wissen.
„Ich bin der Sohn des Leuchtturmwärters und muss heute alleine auf den
Leuchtturm aufpassen, weil mein Vater keine Zeit hat. Und heute legt doch ein ganz
besonders wichtiges Schiff an: Sinterklaas kommt aus Spanien zurück“, erklärt
Ruben.
„Was hat er denn in Spanien gemacht?“, fragt Tim.
„Na, da macht er immer Sommerurlaub. Und kurz vor Weihnachten muss er hier
entlang zum Hafen drüben, um den Familien die Geschenke zu bringen“, sagt
Ruben und reicht den beiden zwei dampfende Tassen Tee.
„Aber Moment mal“, unterbricht ihn Anna, „ein Leuchtturm braucht doch Licht,
damit er den Schiffen den Weg leuchten kann. Und oben im Turm ist es ganz
dunkel.“
„Das ist ja das Problem!“, sagt Ruben ganz zerknirscht. „Ausgerechnet heute ist
das Leuchtfeuer ausgefallen!“
„Ihr macht sonst Feuer im Turm? Das ist doch gefährlich“, sagt Anna mit großen
Augen.
„Früher haben tatsächlich echte Feuer als Signal für die Schiffe gedient, daher auch
der Name. Heute ist natürlich alles elektrisch. Wenn ihr ausgetrunken habt, können
wir uns das ja mal zusammen anschauen“, sagt Ruben.
Kurz darauf machen sich die drei auf den Weg in die Leuchtturmspitze zum
Leuchtfeuer. Ruben drückt noch einmal den Hauptschalter, klick, klack, nichts
passiert. Ratlos stehen die drei im Dunkeln.
Tut-Tuuut, erklingt es von draußen.
„Oh je, das ist das Tuten von Sinterklaas' Schiff, das ist schon ganz nah! Was
mache ich denn jetzt?“, sagt Ruben verzweifelt.
Anna hat plötzlich eine Idee. „Tim, du hältst ja immer noch deine
Spezial-Taschenlampe in der Hand. Die leuchtet doch so weit!“, ruft sie aufgeregt.
„Das ist unsere einzige Chance“, sagt Ruben hoffnungsvoll. Tim schaltet sofort
seine Taschenlampe an und leuchtet aufs Meer hinaus.
„Donnerwetter, die kann wirklich was!“, sagt Ruben beeindruckt, „da! Seht ihr? Da
drüben ist das Schiff! Tim, leuchte jetzt immer hin und her, dann wissen Sinterklaas
und seine Mannschaft, dass der Hafen nicht mehr weit ist.“
Tim schaut ganz konzentriert und leuchtet hin, her, hin, her. Das Schiff kommt
immer näher - ob es den Weg zum Hafen auch findet?
Bald schon erkennen sie zwei Gestalten am Bug des Schiffes. Der eine hat einen
langen weißen Bart und trägt eine rote Bischofsmütze. Das muss Sinterklaas sein,
der niederländische Weihnachtsmann. Neben ihm steht ein Mann in bunter
Kleidung, sein Gesicht ist ganz dunkel, genau wie seine Haare.
„Der guckt aber griesgrämig zu uns rüber, wer ist denn das?“, fragt Anna. Der
Mann ist ihr nicht ganz geheuer.
„Das ist der Zwarte Piet, Sinterklaas‘ Gehilfe. Der ist eigentlich total nett. Er schaut
nur böse, wenn er an unartige Kinder denkt“, sagt Ruben.
Oh weh, ob der Zwarte Piet so garstig schaut, weil Anna und Tim nicht in ihren
Betten sind?
„Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen“, beruhigt Ruben die Kinder,
„ich werde Sinterklaas und dem Zwarten Piet erzählen, was ihr für kleine Helden
seid. Seht mal, das Schiff fährt gerade sicher in den Hafen ein. Was hätte ich nur
ohne euch gemacht!“
„Guten Morgen ihr beiden Schlafmützen, heute ist der 2. Advent“, sagt Oma, als
sie am nächsten Morgen das Kinderzimmer betritt. „Zur Feier des Tages gibt’s
heiße Schokolade ans Bett.“
Mhmm, Schokolaaade, die liebt Tim besonders. Nach der Heldentat letzte Nacht hat
er die sich aber auch redlich verdient.
Später beim Abendessen bemerkt Oma, dass Anna ganz still ist.
„Warum so nachdenklich, junge Dame?“, fragt Oma lächelnd.
Anna überlegt: „Weißt du, was ich mich frage, Oma? Warum gibt es eigentlich nur
WeihnachtsMÄNNER? Gibt es auf der ganzen weiten Welt keine Frauen, die
Geschenke bringen?“
„Aber natürlich, warte mal bis zur nächsten Geschichte …“ kündigt Oma an.
Das klingt vielversprechend …
„Seit Jahren fliegt die Hexe Befana am Dreikönigstag in Italien von Haus zu Haus
und bringt den Kindern ihre Geschenke“, beginnt Oma abends die Geschichte. Im
Buch entdecken Anna und Tim eine alte Frau. Sie sitzt in einer Holzhütte und
begutachtet ratlos einen Besen.
„Bist du die Hexe Befana?“, fragt Tim sie neugierig.
„Oh, hallo Kinder!“, begrüßt sie die Frau, „naja, Hexe werde ich immer von den
anderen genannt, nennt mich einfach Befana.“
„Stimmt etwas mit deinem Besen nicht?“, fragt Anna.
„Ja, wisst ihr: Mein Besen war mir bislang immer ein treuer Begleiter. Jedes Jahr
bringt er mich sicher von Haus zu Haus, damit ich die Weihnachtsgeschenke
verteilen kann. Aber auch er ist älter geworden und er trägt fast kein Reisig mehr …“
„Was ist denn Reisig?“, möchte Tim wissen.
„Schau mal hier…“, sagt Befana und zeigt aufs Ende des Besens, „diese dünnen
Zweigchen nennt man Reisig, die braucht jeder Besen, damit er fegen kann. Doch
mein Besen braucht sie, damit er fliegen kann! Nun hat er über die Jahre zu viel
Reisig verloren und kann nicht mehr fliegen. Und wenn er nicht mehr fliegen kann,
kann ich keine Geschenke ausliefern …“
Das hört sich aber gar nicht gut an. Tim denkt an Opas Werkstatt und wie Opa
immer alle Spielzeuge repariert, die Anna oder ihm manchmal kaputt gehen.
„Kann man den Besen nicht einfach reparieren, damit er wieder fliegen kann?“,
fragt er Befana.
„Sicher, aber viel Zeit bleibt mir nicht mehr bis zum Dreikönigstag“, antwortet sie.
„Na, dann helfen wir dir!“, ruft Anna gleich.
Da braucht Befana nicht lange überlegen – mit Hilfe der Kinder könnte sie es noch
rechtzeitig schaffen.
„Seht ihr den Baum mit der weißen Rinde da drüben?“, Befana zeigt auf einen
schmalen, hohen Baum zwischen ein paar Tannen. „Das ist eine Birke. Nur das
biegsame Birkenreisig eignet sich für meinen Besen. Davon müssen wir also so viel
wie möglich einsammeln.“
Anna und Tim helfen Befana, vom Baum gefallene Birkenzweige zu sammeln – gar
nicht so einfach bei dem ganzen Schnee. Nach einer Weile haben sie endlich genug
Reisig zusammen. Befana zeigt ihnen, wie man ihn mit Hilfe von Weiden zum
Besen bindet – eine Kunst die Befana gerne an die Kinder weitergibt. Während Tim
die gesammelten Zweige auf eine Länge kürzt, fügt Anna das Reisig zu einem
Büschel zusammen.
„Zum Glück seid ihr da, Kinder. Das Spannen des Reisig-Bündels erfordert so viel
Kraft. Alleine hätte ich das in meinem Alter nicht mehr geschafft“, seufzt Befana und
dreht das Reisig-Bündel immer weiter. Anna und Tim wickeln gleichzeitig die
Weiden um die dickeren Zweigenden. Bald ist es geschafft – ein nigelnagelneues
Reisig-Ende für Befanas Besen. Als sie es am Stiel befestigt hat, schwingt sie sich
gleich auf den Besen und startet in den Abendhimmel. Anna und Tim staunen, wie
elegant Befana ihre Runden dreht.
„Der fliegt ja noch viel besser als vorher!“, ruft Befana von oben. „Vielen Dank für
eure Hilfe, Kinder! Ihr habt unser Weihnachtsfest gerettet.“
Beim Abendbrot am nächsten Tag sitzen alle beisammen, Mama und Papa, Oma,
Anna und Tim. Mama und Papa wollen wissen, was Anna und Tim die letzten Tage
so erlebt haben – nach der vielen Arbeit in der Bäckerei bekommen sie ja fast nichts
mit. Anna und Tim erzählen von den tollen Geschichten, die Oma ihnen abends
vorliest.
Die Eltern lachen. „Ihr erzählt das so lebhaft, als wärt ihr dabei gewesen!“ Anna
und Tim wechseln bedeutungsvolle Blicke, sagen aber nichts.
„Und … hab‘ ich dir gestern zu viel versprochen?“, fragt Oma Anna später, als die
sich in ihr Bett kuschelt, „es gibt auch Frauen, die Geschenke verteilen.“
„Ja stimmt schon ...“, sagt Anna zögerlich.
„Warum schaust du dann immer noch so nachdenklich?“, fragt Oma sie.
Anna überlegt. „Es gibt also Weihnachtsmänner, einen Kobold und eine Hexe –
warum sind die denn alle alleine?“, fragt sie.
„Aber Väterchen Frost hat doch das Schneemädchen, Sinterklaas den Zwarte Piet
und Befana ihren Besen … alleine sind die alle nicht“, erwidert Oma.
„Das meine ich doch nicht“, sagt Anna, „ich meine, wie bei uns … Mama und Papa
… Tim und ich … eine Familie halt.“
„Ach so!“, ruft Oma aus, „na, da muss ich euch doch mal Joulupukki und
Joulumuori vorstellen“, sagt Oma und schlägt das Buch auf.
„Der finnische Weihnachtsmann Joulupukki lebt mit seiner Frau Joulumuori auf dem
Berg Korvatunturi. Er ist sehr beschäftigt, denn bald ist Weihnachten“, beginnt Oma
die Geschichte an diesem Abend.
„Haaatschi!“, schallt es aus dem Buch.
„Gesundheit!“, entfährt es Anna und Tim gleichzeitig. Ein alter Mann mit
Rauschebart liegt im dicken Daunenbett und hält sich ein Taschentuch vor die
Nase.
„Ach Joulupukki ...“ seufzt eine Frau mit vollem weißen Haar, das sie kunstvoll auf
ihrem Kopf aufgetürmt hat. In der Hand hält sie eine Wärmflasche, die sie
Joulupukki an die Füße legt. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst mit deinem
Schnupfen nicht in die Sauna gehen. Jetzt kurz vor Weihnachten solltest du nichts
riskieren.“
„Ach, Papperlapapp, Joulumuori!“, tönt es aus dem Bett. „Saunieren stärkt das
Immunsystem. Ich hätte bloß auf das Bad im See danach verzichten sollen. Was
meint ihr, Kinder?“
„Mama sagt, Sauna ist richtig gut für die Gesundheit“, erinnert sich Anna.
„Siehst du, sag ich doch ...“, grinst Joulupukki, recht zufrieden mit der Antwort.
„Wie auch immer“, erwidert Joulumuori, „jetzt müssen wir dich erstmal wieder
aufpäppeln. Du musst doch bald fit sein für den weiten Weg vom Berg aus durch
ganz Finnland. Bis Weihnachten ist nicht mehr viel Zeit. Wer soll die Geschenke
verteilen, wenn du krank bist, mein Lieber? Ich etwa?“
„Kommt gar nicht in die Tüte!“, schallt es hustend aus dem Bett.
„Jetzt mache ich dir erstmal meine berühmte Hühnerbrühe“, sagt Joulumuori, „die
hat schon so manches Wunder bewirkt. Helft ihr mir, Kinder?“
Natürlich wollen Anna und Tim helfen und folgen Joulumuori in die große
Weihnachtsküche. Auf dem Weg über den Flur kann man kaum noch einen Fuß vor
den anderen setzen. Überall türmen sich bereits die vielen Geschenke, die die
fleißigen Wichtel und Helfer des finnischen Weihnachtsmannes vorbereiten.
„So geht das nicht weiter!“, schimpft Joulumuori. „Ich kann nicht Joulupukki
pflegen und gleichzeitig seine Arbeit machen.“
„Jetzt sind wir ja da …“, beruhigt sie Anna. „Wir helfen euch doch gern. Sagt uns
einfach, was zu tun ist!“
Joulumuori ist wirklich erleichtert. Die Kinder sind im rechten Augenblick
gekommen. Sie zeigt ihnen, wie man Hühnerbrühe zubereitet und Joulupukki mit
Wadenwickeln versorgt.
Der gibt ihnen vom Krankenbett aus Anweisungen, wie sie die vielen Geschenke in
den großen Geschenkesack packen sollen – alles mit System: Die Kinder im
finnischen Norden kommen zuerst dran, die Kinder im finnischen Süden zuletzt,
also müssen deren Geschenke ganz nach unten in den Sack. Joulupukki geht es
bei so guter Pflege zusehends besser. Nach kurzer Zeit sind sogar alle Geschenke
vorsortiert.
„Das gibt’s ja nicht …“, ruft Joulumuori erleichtert aus. „In so kurzer Zeit habt ihr
Kinder fast ein Weihnachts-Wunder vollbracht. Dank euch ist mein Joulupukki an
Weihnachten wieder gesund und tausende finnische Kinder können sich an
Heiligabend über ihre Geschenke freuen.“
Es ist Samstag, Tim hopst als erster aus dem Bett und schaut aus dem Fenster.
„Juchhuuu!“, jubelt er, rennt zu Annas Bett und weckt sie unsanft. „Anna, du musst
aufwachen, es hat geschneit!“
Nun ist auch Anna hellwach – der erste Schnee ist da. Wie schön, dass sie heute
nicht in die Schule müssen. Da können sie den ganzen Tag Schlittenfahren. Tim
möchte am liebsten gleich rausrennen.
„Erstmal wird gefrühstückt, mein Lieber“, stoppt Oma ihn, „euer Papa hat doch
extra noch frische Brötchen vorbeigebracht.“
Sie lassen sich das Frühstück schmecken, dann wird sich mollig warm eingepackt:
Schal, Mütze, Handschuhe, Jacke, Stiefel – endlich kann es losgehen! Mit ihren
Schlitten im Schlepptau machen sich Anna, Tim und Oma auf den Weg zum
nächsten schneebedeckten Hügel. Dort hat sich das halbe Dorf versammelt. Im Nu
haben Anna und Tim ihre Freunde gefunden und sausen auf ihren Schlitten den
Abhang hinunter. Der Tag vergeht wie im Flug.
Nach einem warmen Bad am Abend kuscheln sich die Kinder wunderbar erschöpft
in ihre Betten. Tim denkt an den schönen Tag mit seinen Freunden. Ob
Weihnachtsmänner wohl auch Freunde haben?
„Oma, gibt es in jedem Land eigentlich immer nur eine Hauptperson, die alleine die
Geschenke zu Weihnachten bringt?“, fragt er.
„Nein, Timmi. In Island gibt es sogar gleich 13 Geschenke-Lieferanten“, weiß Oma.
„Dann will ich Euch mal von den Weihnachtsgesellen Jólasveinar erzählen.“
Leise ertönt der Klang vieler kleiner Glöckchen – Oma hat das nächste Kapitel
aufgeschlagen.
„Jedes Jahr machen sich die Weihnachtsgesellen Jólasveinar auf den Weg aus den
Bergen zu den Menschen“, beginnt Oma zu lesen. „Jeden Tag kommt einer hinzu,
bis an Heiligabend alle 13 zusammen sind.“
Im Buch entdecken Anna und Tim einen verschneiten Abhang. Der sieht so ähnlich
aus wie der Hügel, auf dem sie heute Mittag noch mit ihren Schlitten hinabgesaust
sind. Auf dem Abhang sind Bäume zu sehen, hinter denen zwei Männer
hervorstapfen. Der eine ist groß und dünn. Der andere sieht sehr stark aus und hat
einen langen Stab in der Hand.
„Wo bleibt denn Stúfur bloß? Ich hab mich extra so beeilt, um pünktlich zu
kommen!“, schimpft der Muskelmann. „Weißt du über wie viele Schluchten ich mich
geschwungen habe?“
Zum Beweis streckt er seinen Stab wie ein Stab-Hochspringer in die Luft.
„Seid ihr die Weihnachtsgesellen?“, platzt es aus Tim heraus.
„Oh hallo, Kleiner! Ja, so ist es“, antwortet der lange Dünne. „Ich bin Stekkjastaur
und das ist unser Schluchtenspringer Giljagaur.“ Der Dünne zeigt schmunzelnd auf
den Muskelmann.
„Jaja, mach‘ dich nur lustig …“, grummelt Giljagaur der Starke. „Ich bin wenigstens
pünktlich. Es wird schon dunkel und Stúfur ist immer noch nicht da!“
„Stúfur?“, fragt Anna neugierig.
„Ja, unser Knirps, der Kleinste von uns“, erklärt Stekkjastaur der Dünne. „Wir sind
jetzt den dritten Tag unterwegs und hier treffen wir uns jedes Jahr mit ihm.
Zusammen ziehen wir dann weiter ins Tal und sammeln einen nach dem anderen
ein. Aber Stúfur taucht einfach nicht auf und uns läuft die Zeit davon.“
„Nicht nur die Zeit, ohne Stúfur sind wir nicht genug Männer, um die Geschenke zu
verteilen. Da werden wohl einige Kinder leer ausgehen an Heiligabend“, prophezeit
Giljagaur der Starke.
„Wir können euch doch suchen helfen“, schlägt Anna vor, Tim nickt eifrig.
„Hm, zu viert haben wir sicher bessere Chancen“, meint Giljagaur der Starke,
„dann lasst uns keine Zeit verlieren.“
Die vier machen sich sogleich auf die Suche. Immer wieder rufen sie „Stúfur!
Stúfur, wo bist du?“ in alle Himmelsrichtungen. Plötzlich ertönt ein leises
Stimmchen: „Hilfe!“
Wo kam das her? Alle bleiben stehen und horchen genau hin.
„Hier unten … Helft mir!“
„Stúfur?“, ruft Stekkjastaur der Dünne. Das Stimmchen scheint aus dem Schnee zu
kommen: „Ja hier, im Fuchsbau! Ich bin reingefallen und der Schnee versperrt mir
den Weg. Ihr müsst mich freischaufeln.“
Mit vereinten Kräften beginnen die vier zu graben. Und tatsächlich: Ein verschütteter
Fuchsbau kommt zu Tage. Stúfur der Knirps sitzt ganz unten und schaut den Vieren
hoffnungsvoll entgegen.
„Hier Stúfur, nimm meine Hand“, sagt Stekkjastaur der Dünne und steckt seinen
Arm so weit wie möglich in den Fuchsbau rein.
„Es reicht nicht, ich komm‘ nicht ran“, antwortet Stúfur der Knirps ganz kläglich.
Stekkjastaur der Dünne und Giljagaur der Starke schauen sich ratlos an.
„Ich glaube, Tim passt da noch rein, er ist als einziger klein genug“, schlägt Anna
vor. „Das mach‘ ich“, sagt Tim mutig. „Giljagaur, kann ich mich an deinem Stab
festhalten?“
Giljagaur der Starke zögert nicht lange und lässt Tim an seinem Stab hinab.
„Ich hab‘ seine Füße“, ertönt Stúfurs Stimmchen dumpf von unten, „zieh‘ uns
hoch, Giljagaur!“
Kurz darauf ist es geschafft und der starke Giljagaur hat Tim und Stúfur heil ans
Tageslicht befördert, alle lachen erleichtert auf.
„Dank euch können wir nun rechtzeitig weiterziehen. Ihr habt unser Weihnachten
gerettet!“, sagt Stekkjastaur der Dünne.
Mit seiner roten Nase könnte er nämlich ganz toll den Weg leuchten. Und von
diesem Moment an finden die anderen Rentiere den Rudolph mit seiner roten Nase
total super.“
Tims Augen leuchten vor Begeisterung. Den muss ich unbedingt kennenlernen,
beschließt er.
Abends im Bett fragt er Oma gleich, ob sie ihnen heute den amerikanischen
Weihnachtsmann vorstellen kann.
„Santa Claus, natürlich!“, sagt Oma und beginnt mit dem nächsten Kapitel.
„Amerika ist ein großes Land mit vielen Staaten und vielen Kindern, die viele viele
Wünsche haben“, liest Oma vor. „Ganze neun Rentiere ziehen den Schlitten von
Santa Claus, damit er die großen Entfernungen schnell genug bewältigen kann.“
Auf dem Bild im Buch sehen Anna und Tim viele kleine Weihnachtselfen in grünen
Jäckchen und Zipfelmützen, die gerade in einem Stall dabei sind, die Rentiere vor
den Schlitten zu spannen. Ein Elf ist ganz in Rot gekleidet. Das muss der Oberelf
sein. Er steht auf einem Strohballen und zählt durch: „Dasher, Dancer, Prancer,
Vixen, Comet, Cupid, Donner, Blitzen …“
Verwirrt schaut er sich um. „Rudolph? Hey Leute, das sind nur acht Rentiere. Wo
ist Rudolph?“ Die Elfen zucken ratlos mit den Schultern.
„Meinst du Rudolph mit der roten Nase?“, fragt Tim einfach dazwischen.
„Oh, hallo Kids! Ja, genau den meine ich“, antwortet der Elf. „Habt ihr ihn
gesehen?“
„Habt ihr Möhren hier?“, fragt Anna die Elfen. Anna hilft manchmal im Pferdestall
zu Hause im Dorf aus. Sie weiß, Pferde lieben frische Möhren – warum dann nicht
auch Rentiere?
„Das ist eine tolle Idee, Kinder! Schaut mal im Stall da drüben nach, da müssten
noch welche liegen“, sagt der Oberelf.
Tatsächlich, im Stall findet sich noch ein ganzer Sack Möhren, aus dem die Kinder
sich bedienen.
„Ruuudooolph!“ Die Rufe der Kinder schallen durch den verschneiten Wald. Es
raschelt hinter dem nächsten Baum.
„Da war was!“, ruft Tim. „Der Baum da bewegt sich …“
Tim erblickt eine rote Nase. „Das sind ja gar keine Äste, das ist das Geweih von
Rudolph!“
Rudolph schaut vorsichtig hinter dem Baum hervor.
„Hier Rudolph“, Anna nähert sich ihm mit einer Möhre. „Wir kommen von Santa
Claus und haben dir leckere Möhren mitgebracht.“
Rudolph bläht seine roten Nüstern.
„Komm, Rudolph, komm“, lockt Anna und geht ein paar Schritte zurück. Rudolph
legt den Kopf zur Seite, als ob er erst überlegen müsse. Doch die Versuchung ist zu
groß und er folgt Anna aus dem Dickicht, immer die Möhre im Blick. Bald ist er so
zutraulich, dass Anna auf einen Stein steigen und sich vorsichtig auf Rudolphs
Rücken setzen kann. Tim klettert gleich hinterher.
„Auf, Rudolph, bring uns zu Santa Claus, da gibt’s noch mehr Möhren“, ruft Anna
und Rudolph trabt sofort los.
„So ein Glück!“, ruft der Oberelf, als er Rudolph und die Kinder erblickt, „der
Möhrentrick hat ja wirklich geholfen!“
„Möhren? Ach herrjeh, die hatte ich Rudolph ja versprochen und völlig vergessen“,
sagt Santa Claus und fasst sich an den Kopf. „Darum ist er beleidigt verschwunden!
Dank euch Kids, jetzt kommen wir doch noch rechtzeitig los!“
Am nächsten Abend erzählt Anna Tim, was sie heute in der Schule gelernt hat:
„Weißt du, dass gerade gar nicht überall auf der Welt Winter ist, Tim? In Australien
ist zum Beispiel jetzt Sommer.“
Tim schaut misstrauisch. Ob Anna ihn veralbern will?
„Nee, das glaub‘ ich nicht“, sagt Tim und schüttelt den Kopf, „wenn Weihnachten
ist, ist doch immer Winter!“
Da kommt Oma mit dem Buch unterm Arm ins Zimmer.
„Wenn du dich da mal nicht täuschst, Timmi“, schmunzelt sie. „Es wird Zeit, dass
ich euch vom australischen Weihnachtsmann erzähle.“
Sie schlägt das Buch auf und schon ist das vertraute Klingeln der vielen Glöckchen
zu hören. Im Buch erblicken Anna und Tim einen Strand, das helle Sonnenlicht
spiegelt sich in den sanften Wellen des Meeres.
Ein weißbärtiger Mann kommt angelaufen. Über der Schulter trägt er einen prall
gefüllten Sack, an dem er schwer zu schleppen hat.
„An irgendwen erinnert der mich …“, murmelt Anna noch, während Tim schon
lachend ruft: „Der Weihnachtsmann in Badehose!“
Tatsächlich, das muss der australische Weihnachtsmann sein. Er sieht ganz schön
komisch aus, über der Badehose trägt er nur ein kunterbuntes Hemd mit lauter
kleinen Palmen darauf. Doch sein Rauschebart ist unverkennbar.
„Puh!“, schnauft er, „ich kann nicht mehr. Bei der Hitze ist das
Geschenke-Ausliefern gleich doppelt anstrengend.“
„Hast du denn gar keine Rentiere?“, fragt Anna.
„Was sind Rentiere?“, fragt der Weihnachtsmann verwundert.
„Santa Claus muss in Amerika die Geschenke nicht selber tragen.“ Anna und Tim
erzählen dem australischen Weihnachtsmann alles über Rudolph und die anderen
amerikanischen Rentiere und wie sie den Schlitten ziehen.
„So einen Schlitten könnte ich auch gut gebrauchen …“, sagt der Weihnachtsmann
und wischt sich schnaufend den Schweiß von der Stirn. „Aber hier liegt ja nicht mal
Schnee! Der würde direkt schmelzen. Und Rentiere haben wir in Australien auch
keine sondern nur Kängurus …“
„Ich hab eine Idee!“ ruft Tim. Er hat in der Schule gerade etwas über Kängurus
gelernt, die sind super stark und können ganz weit springen. „Wir bauen dir einen
Schlitten, den ziehen dann einfach Kängurus“, schlägt er begeistert vor. „Und statt
Kufen machen wir Rollen unter den Schlitten, dann gleitet er auch ohne Schnee!“
„Du bist ja ein cleveres Kerlchen!“, lacht der Weihnachtsmann. „Na, dann kommt
mal mit in meine Weihnachtswerkstatt. Mal sehen, was sich da machen lässt …“
Die ganze Nacht bauen Anna und Tim mit dem Weihnachtsmann einen
Roll-Schlitten, vor den sie neun Kängurus spannen. Das stärkste unter ihnen kommt
nach vorne als Leit-Känguru. Ganz ähnlich wie bei den Rentieren in Amerika.
Am nächsten Morgen ist das Werk vollbracht. Der Weihnachtsmann strahlt mit der
Sonne um die Wette. „Vielen Dank, ihr lieben Kinder! Ohne euch wäre ich nie auf
diese tolle Idee gekommen. Ihr habt eindeutig mein Weihnachtsfest gerettet und
euch dieses Jahr eure Geschenke redlich verdient!“
Anna und Tim sind am nächsten Tag besonders früh wach - heute ist endlich
Heiligabend. Sie helfen Papa, den Weihnachtsbaum zu schmücken und Mama,
Plätzchen zu backen. Ein paar davon legen sie auf einen Teller und stellen ihn
zusammen mit einem Glas Milch auf den Kaminsims - als Begrüßung für den
Weihnachtsmann.
„Wann kommt denn der Weihnachtsmann zu uns?“, will Tim wissen.
„Ein bisschen müsst ihr euch noch gedulden“, sagt Mama. „Und bevor Opa nicht
da ist, können wir eh nicht mit der Bescherung beginnen.“
Ja, wo bleibt Opa eigentlich? Da nützt auch kein Drängeln und kein Fragen, Anna
und Tim müssen eben noch ein bisschen warten.
„Komm Timmi, wir können ja noch was im Kinderzimmer spielen“, schlägt Anna
vor. Draußen wird es immer dunkler. Anna beschleicht eine Ahnung. „Du, Timmi,
wir haben doch nun in so vielen Ländern Weihnachten gerettet. Aber von dem
deutschen Weihnachten hat Oma gar nicht vorgelesen. Was, wenn auch unser
Weihnachtsmann Hilfe braucht?“
Nun schaut auch Tim ganz erschrocken. „Meinst du, dieses Jahr bekommen wir
vielleicht gar keine Geschenke?“, fragt er zaghaft.
Ein schrecklicher Gedanke! Es rumpelt im Kaminschacht. Anna und Tim schauen
sich an.
„Der Weihnachtsmann!“, ruft Tim wie ausgewechselt und will am liebsten sofort ins
Wohnzimmer rennen. Anna bremst ihn gerade noch.
„Opa ist doch noch gar nicht da!“, sagt sie.
„Aber wie lange müssen wir denn noch im Zimmer warten?“, mault Tim.
Auch Anna kann es kaum noch aushalten.
Sie beschließen, heimlich zum Wohnzimmer zu schleichen und durch den Vorhang
an der Tür zu lugen. Und tatsächlich, der Weihnachtsmann ist gerade dabei, die
Geschenke unter den Weihnachtsbaum zu legen - die Oma ihm anreicht.
Oma hilft dem Weihnachtsmann! Anna und Tim sind sprachlos. Doch bevor sie
noch entdeckt werden, flitzen sie wieder in ihr Zimmer. Wenn Opa wüsste, dass
Oma den Weihnachtsmann kennt!
„Anna, Tim - Bescherung!“, rufen Mama und Papa endlich.
„Aber Opa ist ja noch gar nicht da!“, antwortet Tim, als er im Wohnzimmer
ankommt.
Aber Opa ist da - der sitzt neben Oma auf der Couch und strahlt die beiden fröhlich
an.
„Frohe Weihnachten ihr Lieben!“, begrüßt er sie mit dröhnender Stimme, „ja wollt
ihr mich denn gar nicht richtig begrüßen?“
Natürlich wollen sie das und umarmen Opa stürmisch. „Opa, dein Bart kitzelt“,
kichert Anna. Ihr fällt zum ersten Mal auf, dass Opa mit seinem weißen Haar, den
gutmütigen Augen und dem Rauschebart ein bisschen wie der Weihnachtsmann
aussieht. Nur die rote Mütze und der rote Mantel fehlen noch. Ihr bleibt kaum Zeit
darüber nachzudenken, denn Tim hat sich schon auf das erste Geschenk gestürzt.
„Lass' mir auch noch welche!“, ruft Anna ihrem Bruder zu.
Später am Abend bringt Oma die beiden müden Kinder ins Bett. Doch eine Frage
beschäftigt Anna und Tim noch: „Du Oma, wie hast du Opa eigentlich
kennengelernt?“, will Anna wissen.
„Oh, das ist lange her, ich war noch ein junges Mädchen, als wir Freunde wurden“,
sagt Oma.
„War das zu der Zeit, wo deine Mutter dir aus dem Buch vorgelesen hat?“, fragt
Tim.
„Ja“, sagt Oma schmunzelnd, „das war genau zu der Zeit. Und als ich groß war, da
haben wir geheiratet.“ Sie gibt beiden einen Gute-Nacht-Kuss und schließt die Tür.
„Anna“, flüstert Tim im Dunkeln, „glaubst du …?“ Er kann den Satz gar nicht zu
Ende sprechen. Doch Anna ist jetzt alles klar:
„Opa ist der Weihnachtsmann!“