EVA C A S P E R S
Einleitung
»Das Buch als Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Einband- Die vorliegende Arbeit ist die leicht gekürzte Fassung einer
kunst, Typographie und graphische Bildkunst miteinander Dissertation, die im Dezember 1 9 8 6 vom Fachbereich Kulturge-
verbunden sind, ist ein vernachlässigtes Gebiet der Kunstge- schichte und Kulturkunde der Hamburger Universität angenom-
schichte und der musealen Sammlungsarbeit,... obwohl bil- men wurde. Die Anregung zur Bearbeitung des Themas verdanke
dende Künstler den Alltagsgegenstand Buch als Aufgabe der ich Herrn Dr. Jürgen Eyssen ("f 1988) aus Hannover. Herrn Prof.
Kunst seit der W e n d e zum 20.Jahrhundert in Deutschland Dr. Hans-Jürgen Imiela (Mainz) und Frau Rahel E. Feilchenfeldt-
ernstgenommen haben«. 1 Steiner (München) danke ich für die Überlassung von wichtigem
Quellenmaterial, meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Alexan-
Mit der vorliegenden Untersuchung zu den neun- der Perrig (Trier) für seine geduldige Betreuung.
zehn illustrierten Büchern und graphischen Map- Die Angaben und Nummern, die hinter manchen im Text
penwerken, die der Berliner Kunsthändler und erwähnten Illustrationen in Klammern eingefügt sind, beziehen
Verleger Paul Cassirer (1871-1926) zwischen 1909 sich auf folgende Graphik-Verzeichnisse (mit Abbildungen):
SiWa = Sievers/Waldmann: Max Slevogt
und 1921 unter dem Titel Publikationen der Pan-
Schw = Schwarz: Das graphische W e r k von Lovis Corinth
Presse veröffentlichte, soll ein Beitrag zur wissen- Sch II = Ernst Barlach, Werkverzeichnis Bd. 2
schaftlichen Rekonstruktion der Geschichte der Sch III = Ernst Barlach, Werkverzeichnis Bd. 3
deutschen Druckgraphik und Buchillustration im Die Maßangaben zu einzelnen Illustrationen beziehen sich -
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geleistet werden. soweit nicht anders angegeben - auf die Bildgröße (Höhe vor
Breite).
Die Entwicklung dieses speziellen Bereichs der
1 (Ausst. Kat. Münster 1 9 8 1 ) V o m Jugendstil zum Bauhaus,
bildenden Kunst wird dabei als eine Manifestation S.7
Die produktive Auseinandersetzung mit der nen Publikationen steht zur Zeit noch aus.5 Zu
Interpretation von Phänomenen der Wirklichkeit, bedenken ist auch, daß Paul Cassirer mündliche
die die künstlerische Vorlage anbietet, kann zur Geschäftsvereinbarungen schriftlichen Abmachun-
Entdeckung einer Parallelität von Erfahrungen und gen in der Regel vorzog,6 so daß manche Illustra-
Bewußtseinselementen führen, sie kann die Infrage- tions- und Graphikaufträge möglicherweise nie
stellung des eigenen Weltbildes, die Erweiterung schriftlich fixiert wurden.
des individuellen Erlebnishorizontes und die Als umso wertvoller erweist sich das Quellenma-
Aktualisierung der künstlerisch vermittelten Er- terial, das sich in den - teilweise veröffentlichten -
kenntnisse im Lichte der eigenen Lebenserfahrung Korrespondenzen und Nachlässen einzelner
zur Folge haben. Durch die Untersuchung der Künstler, vor allem Ernst Barlachs und Max Sle-
künstlerischen Verarbeitung des gewählten (literari- vogts, erhalten hat.
schen) Stoffes lassen sich daher Aufschlüsse gewin- Auch wenn eine lückenlose Rekonstruktion der
nen über das spezifische Wirklichkeitsverständnis Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Werks der
des jeweiligen Künstlers, dessen intersubjektive Pan-Presse aufgrund der dargelegten Umstände
Geltung sich im Kontext der in den anderen nicht möglich ist, sind die vorfindbaren Dokumente
Werken der Publikationsreihe hergestellten Wirk- und Materialien, zu denen auch diverse Aufsätze
lichkeitsbezüge und der mit ihnen gegebenen Bestä- und Briefe Paul Cassirers gehören, doch ergiebig
tigung, Ergänzung oder auch Relativierung der genug, um die weiter oben skizzierten grundlegen-
verschiedenen Sinnentwürfe ermessen läßt. den Fragestellungen der Untersuchung wissen-
So heterogen und zufallsbedingt die Zusammen- schaftlich fundiert bearbeiten zu können.
stellung der Themen, mit denen sich die Werke der Paul Cassirers Persönlichkeit und seine zahlrei-
Pan-Presse befassen, auf den ersten Blick auch chen Initiativen auf kulturellem Gebiet sind bislang
erscheinen mag, läßt sich bei genauerer Betrachtung in drei Arbeiten ausführlicher thematisiert wor-
doch ein durch zentrale Problemkonstellationen den:
konstituierter innerer Zusammenhang zwischen Wolfgang Freiherr von Loehneysen hat 1972 in
den verschiedenen Arbeiten erkennen. einem Aufsatz einen Überblick über Paul Cassirers
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Leben und Schaffen gegeben. 7 Roy F. Allen hat 1974
unterschiedlichen künstlerischen Lösungsversu- Paul Cassirers Beziehungen zum literarischen Ex-
chen, die in den einzelnen Arbeiten erprobt werden, pressionismus untersucht und dabei hauptsächlich
findet ihre Rechtfertigung in der Erkenntnis, daß
die Werke der Pan-Presse nicht nur als historische
Zeugnisse für das Verständnis des geistigen Lebens
in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg gleichen literarischen Thema zu vergleichen... Eine andere
Möglichkeit bietet sich an im Vergleich von Illustrationen aus
bedeutsam sind, sondern darüber hinaus - aufgrund
einer klar bestimmten und begrenzten Epoche,...«
der bleibenden Aktualität der behandelten Pro- 4 Reste des Verlagsarchivs, vor allem aus den Jahren 1917/
blemstellungen - auch für die Gegenwart häufig 1918, befinden sich in der Bibliothek der Stanford University,
nichts an Aussagekraft eingebüßt haben. Kalifornien (•The Cassirer Collection on Art and Society in Early
20th Century Germany«), die auch Teile der Privatkorrespondenz
Bei den für die Durchführung der Untersuchung
Paul Cassirers besitzt. Nach Auskunft von Herrn Prof. Peter
notwendigen Forschungsvoraussetzungen trifft Paret, Stanford, enthalten die von ihm bearbeiteten Dokumente
man auf eine komplizierte Situation. Diese ergibt der Bibliothek keine Hinweise auf die Werke der Pan-Presse. Aus
sich zunächst aus dem relativ geringen Umfang an diesem Grunde wurde bei der vorliegenden Arbeit auf die -
Quellenmaterial, das für die Erforschung der zahl- für die Geschichte des Paul Cassirer Verlags sicherlich sehr
aufschlußreiche - Auswertung der betreffenden Materialien ver-
reichen Aktivitäten Paul Cassirers, insbesondere
zichtet.
seiner Verlegertätigkeit und seiner Beziehungen zu 5 Frau Rahel Elisabeth Feilchenfeld-Steiner, München, be-
den verschiedenen Künstlern zur Verfügung steht. reitet die Veröffentlichung einer umfassenden Bibliographie der
Nach der Auflösung des Verlages Anfang der 30er Publikationen des Paul Cassirer Verlags vor. Da im Zusammen-
hang mit dieser Bibliographie eine genaue, die bibliophile
Jahre wurden viele Verlagsunterlagen, die für diese
Ausstattung im einzelnen berücksichtigende Erfassung der
Arbeit von Interesse wären - Korrespondenzen und Publikationen der Pan-Presse zu erwarten ist, wurde im Rahmen
Verträge, aber auch Kataloge und Prospekte - der vorliegenden Arbeit von der Erarbeitung eines ausführlichen
vernichtet oder gingen verloren. Das, was erhalten Katalogs der Werke Abstand genommen. Die Werke der Pan-
blieb, wurde über zahlreiche in- und ausländische Presse sind in dem sorgfältigen, allerdings nicht in allen Angaben
korrekten Verzeichnis der »bibliophilen Reihenwerke« von Julius
Bibliotheken, Archive und Antiquariatsbestände
Rodenberg (in: Deutsche Pressen, S . 4 5 2 - 4 5 4 ) erfaßt.
zerstreut. 4 Die Veröffentlichung einer vollständigen 6 Vgl. Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S. 109
Bibliographie der im Paul Cassirer Verlag erschiene- 7 von Loehneysen: Paul Cassirer, S. 1 5 3 - 1 8 0
die Autobiographien von Tilla Durieux und Wil- setzung mit den vielfältigen, sich häufig genug
helm Herzog sowie verschiedene Aufsätze aus der widersprechenden Interpretationsversuchen in der
im Paul Cassirer Verlag erschienenen Zeitschrift Forschungsliteratur geboten, so erscheint bei der
Pan ausgewertet. 8 Peter Paret hat schließlich in anderen Abteilung vor allem eine Erarbeitung
seinem 1981 veröffentlichten Buch über die Berli- grundlegender Fakten über Leben und Werk des
ner Secession Paul Cassirers Rolle als Kunsthändler betreffenden Künstlers sowie die Überprüfung vor-
und Organisator der Künstlervereinigung auf der liegender Materialbefunde notwendig.
Basis gründlicher Materialkenntnisse dargestellt. 9 Bei der Untersuchung der verschiedenen literari-
Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit kann als schen Werke, die als Illustrationsvorlage dienten,
kritische Zusammenfassung, Ergänzung und K o n - liegt eine vergleichbare Situation vor.
kretisierung der von Paret in verschiedenen Zusam- Unausgewogenheiten in der Ausführlichkeit der
menhängen entwickelten Deutung der kunst- und Darstellung und etwas unterschiedliche Schwer-
kulturpolitischen Vorstellungen und Intentionen punktsetzungen bei der Behandlung der einzelnen
Paul Cassirers verstanden werden. Themen begründen sich aus diesem Dilemma.
Eine weitere Schwierigkeit der Arbeitsvorausset- Im Interesse einer möglichst einheitlichen Ana-
zungen liegt in dem sehr ungleichen Entwicklungs- lyse der verschiedenen Publikationen gemäß der
stand der Forschungsergebnisse, die in bezug auf oben dargelegten übergreifenden Fragestellungen
bestimmte Künstler der Pan-Presse bislang erarbei- mußte in einigen Fällen bei der Verarbeitung der
tet worden sind. Während Künstlern wie Barlach einschlägigen Forschungsliteratur selektiv verfah-
und Slevogt zahlreiche Monographien, Aufsätze ren werden; in anderen Fällen mußte der Argumen-
und Dissertationen über Detailprobleme gewidmet tation eine relativ schmale und nicht in allen Fällen
sind, sind Biographie und CEuvre von Künstlern wie gesicherte Materialbasis zugrundegelegt werden.
Otto Hettner, Max Oppenheimer, Rudolf Gross- Das Risiko des Irrtums, das dieses Verfahren in sich
mann u.a. weitgehend unerforscht. Erscheint bei birgt, sei in Kauf genommen in der Hoffnung, eine
der einen Abteilung aufgrund gesicherter Erkennt- Anregung zur intensiveren wissenschaftlichen Be-
nisse über Zusammensetzung und Beschaffenheit fassung mit einem bislang vernachlässigten Bereich
des CEuvres vor allem eine kritische Auseinander- kunstwissenschaftlicher Forschung zu geben.
1 Paul Cassirer
erster Linie das auf die produktive Mitarbeit eines Diese Beschreibung stammt von einem Mann,
Dialogpartners bezogene Gespräch. Hier konnte der von sich selbst in demselben Artikel schreibt,
Paul Cassirer - zumal wenn er sich durch einen daß er zu Lebzeiten Paul Cassirers mit diesem
intellektuell ebenbürtigen Kontrahenten herausge- »außerordentlich« und »ganz mit Recht« »verkracht«
fordert fühlte - all sein Wissen, seinen Einfallsreich- gewesen sei. 8 Hiermit spielt der Verfasser auf eine
tum, seinen Witz und seine Schlagfertigkeit bewei- Komponente in Paul Cassirers Charakterbild an, die
sen; Qualitäten, die ihm den Ruf eintrugen, der in den meisten Würdigungen seiner Person als
»unlangweiligste Mensch von der Welt« zu sein. 3 eigentliche Ursache für die tragischen Momente in
Tilla Durieux beschreibt in ihren Erinnerungen, wie seinem Leben angesehen wird:
sie Paul Cassirer, ihren späteren Mann, bei einer Was Johannes Guthmann im Auge hat, wenn er
Abendgesellschaft im Hause Julius Meier-Graefes in dem eingangs angeführten Zitat von Paul Cassi-
kennenlernte: rers »widerspruchsvollem Temperament« spricht,
Jetzt entwickelte sich ein Gespräch, wie ich es noch nie gehört.
das viele seiner Zeitgenossen verprellt habe, ver-
Meier-Graefes kluge Reden verblaßten und erhoben sich sucht Ernst Barlach in dem Bild der in einen guten
wieder zu gleicher Zeit zu ungekannter Höhe, während P.C. und einen »bösen Bruder« gespaltenen Persönlich-
wahre Kaskaden von Behauptungen und Gegenbehauptungen keit deutlich zu machen, 9 und auch Max Lieber-
über uns sprühen ließ. W i e eine Fontäne sprudelte das
mann zielt auf denselben Punkt in seiner Rede
Gespräch in die H ö h e witziger Bemerkungen und glitt wieder
auf den Grund tiefen Wissens zurück, um sich wieder zu den
anläßlich der Totenfeier für Paul Cassirer:
kühnsten und gewagtesten Folgerungen zu erheben . . . Glän- D e m so glücklich Veranlagten, dem glänzende Erfolge in den
zend, heiter, witzig, jeden Augenblick einen anderen Blick- Schoß zu fallen schienen, fehlte eines: die innere H a r m o n i e . . .
punkt erschließend, Wahrheit - Dichtung - Lüge, die im Grausam und rücksichtslos - und dann wieder kindlich mit
nächsten Augenblick Wirklichkeit sein konnte, Scharaden - seinen Hunden und Katzen spielend - , maßlos in seiner Liebe
Märchen - Tausendundeinenacht. 4 und in seinem Haß, kalt und abweisend gegen die einen,
aufopfernd und voller Hingebung für seine F r e u n d e . . . Paul
Seine »schöne endlose Beredsamkeit« 5 machte Cassirer, der äußerlich als selbstherrlich und tyrannisch auftrat,
Paul Cassirer nicht nur zu einer herausragenden war im Grunde eine weiche, ich möchte fast sagen, sentimen-
tale Natur, der starke Mann hatte ein weiches Herz. 1 0
Persönlichkeit des gesellschaftlichen Lebens im
damaligen Berlin, sondern war nicht zuletzt auch Auch wenn eine genaue Analyse des hier be-
eines der Geheimnisse seines beruflichen Erfolgs: schriebenen Verhaltens einer biographischen Stu-
Glaubt man den Darstellungen seiner Zeitgenossen, die über Paul Cassirer vorbehalten bleibt, sei an
so konnte der Verkauf vieler der in seinem Salon dieser Stelle auf zwei in gewisser Weise gegensätzli-
ausgestellten Kunstwerke weniger auf das unmittel- che Züge in Paul Cassirers Charakterbild zumindest
bare Interesse der Käufer als vielmehr auf die hingewiesen: Die Beschreibungen seines Wesens
hinreißende, Begeisterung entfachende Überre- und Verhaltens lassen auf der einen Seite deutlich
dungskunst Paul Cassirers zurückgeführt werden. 6 ein unbedingtes Streben nach äußerster Unabhän-
Daß Cassirer, wenn es ihm um die Durchsetzung gigkeit der eigenen Existenz sowie nach absoluter
seiner An- und Einsichten ging, mitunter weder vor Autonomie des eigenen Urteils und der eigenen
maßlosen Übertreibungen noch vor handfesten Entscheidung erkennen. So produktiv sich dieses
Lügen zurückschreckte, wird in vielen anekdoti- Wesensmerkmal in seinem Leben auswirkte - es
schen Schilderungen seiner Person festgehalten. machte Paul Cassirer bis zu seinem Lebensende
Stellvertretend für eine ganze Reihe ähnlicher ansprechbar und aufgeschlossen für neue, nicht
Beschreibungen sei hier Alfred Pauers Erinnerung allein künstlerische, sondern auch viele andere
an einen Auftritt Paul Cassirers während einer
Versteigerung in Amsterdam wiedergegeben:
Danach ging er hin und ersteigerte das einzige Bild, das ein 3 Pauer: Napoleon Cassirer, S. 1 9 1 ; vgl. auch Herzog: Men-
Privatmann von Geschmack aus jener Sammlung kaufen schen, S . 4 6 2
konnte - den J o o s van Cleve nämlich - und ersteigerte ihn für 4 Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S . 7 8
8 0 0 0 0 Gulden, ohne dabei die Zigarette aus seinem schiefen 5 Max Liebermann: Rede zu Paul Cassirers 50.Geburtstag
Mundwinkel zu nehmen. U n d als er das getan hatte, verbreitete ( 2 1 . 2 . 1 9 2 1 ) ; abgedruckt in: W i r t h : Berliner Maler, S. 182
er über gewisse prominente Personen Verleumdungen, die in 6 Vgl. u.a. Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S . 8 0 ;
ihrer Lügenhaftigkeit immer noch wahrer waren, als die Herzog: Menschen, S. 4 6 6 ; Kestenberg: Bewegte Zeiten, S. 33
Wahrheit, die die anderen Leute über sie wußten, denn er 7 Pauer: Napoleon Cassirer, S. 191
stellte in ihnen ihr Typisches und Essentielles dar, so wie in 8 Ebd.
einer treffenden Karikatur - und schließlich, wie hätte man 9 Ernst Barlach: Ein selbsterzähltes Leben. In: Barlach:
jenen prominenten Personen denn gerecht werden können, Prosa I, S . 5 8
wenn nicht in der Karikatur? 7 10 In Memoriam Paul Cassirer, S. 3 ff.
geistige Tendenzen, 11 dabei ungemein kritisch Charakter eines wirklich vertrauten, von gelegentli-
gegenüber anderen Leuten, aber auch gegenüber der chen Verstimmungen relativ ungetrübten Verhält-
eigenen Person -, 12 so schwierig machte es diesen nisses. In den meisten Beziehungen zu Freunden
Menschen im Umgang mit seinen Mitmenschen. und guten Bekannten war dagegen eine letztlich nie
Im Grunde war er ein leidenschaftlicher Einzelgän- ganz aufhebbare Distanz spürbar, wie sie Tilla
ger und Vorkämpfer in der Auseinandersetzung von Durieux etwa im Verhältnis von Paul Cassirer und
Interessen und Meinungen: Frank Wedekind beobachtete. 16 In der Gedächtnis-
Seine Tapferkeit dürstete nach der Nähe der Gefahr, da, wo er rede, die Harry Graf Kessler, ein Mann aus Paul
die bestmögliche Unmittelbarkeit der Entscheidung witterte, Cassirers Freundeskreis der Nachkriegsjahre, bei der
w o kein Schild deckte, keine Anonymität schäbig schützte,... Totenfeier hielt, heißt es:
mit unmässiger Risikofreudigkeit stellte er sich in den Brenn- Daß ein solcher Mann mit dem weichen Herzen, dem
punkt der Entscheidungen. zynischen Mund und den heftigen Temperamentsausbrüchen
für alle, die ihn kannten, ein immerwährendes Rätsel war, aber
Dieses Bedürfnis nach einer ständigen Bewäh- zugleich auch sie immer wieder faszinierte, versteht sich von
rung der eigenen, ganz auf sich gestellten Individu- selbst. Daher machte er sich ebenso viele Freunde wie Feinde.
alität war die Ursache für ein oft arrogant, ja Und auch zu seinen Freunden wurde sein Verhältnis dadurch
despotisch wirkendes Auftreten, das die Koopera- zu einem ganz besonderen, zu einem ewigen Zerwürfnis und
tionsbemühungen seitens derjenigen, mit denen er einer durch nichts zu erschütternden Zuneigung, zu einem
zu tun hatte, häufig zunichte machte. So erinnerte ewigen Nein und J a . 1 7
ζ. B. Max Liebermann in seiner Festrede anläßlich
So zwiespältig die Gefühle aber auch waren, die
des 50. Geburtstages Paul Cassirers 1921 mit einer
Paul Cassirers komplizierte Wesensart bei den
immer noch spürbaren leisen Entrüstung an den
meisten Menschen, die ihn kennenlernten, erweck-
»fait accompli«, vor den Paul Cassirer seine Seces-
te, so einhellig fiel angesichts seines Todes das Urteil
sionskollegen stellte,
aus, daß das kulturelle Leben Berlins, wenn nicht das
wenn er in der Nacht vor Eröffnung der Ausstellung, die fix der ganzen Republik, mit diesem Mann eine Persön-
und fertig war, allein mit Bork total umhängte oder noch im lichkeit verloren habe, deren Leistungen und Ver-
letzten Augenblicke einen >Clou< hinein- oder gar ein Bild, das
dienste in den Bereichen des Kunsthandels, des
ihm mißfiel, hinausbrachte. 1 4
Ausstellungs- und Verlagswesens von außerge-
Das undiplomatische Verhalten, mit dem Paul wöhnlicher Bedeutung gewesen waren.18
Cassirer die Menschen seiner Umwelt immer wieder
brüskierte, hatte allerdings Konsequenzen, unter
denen er selbst am stärksten litt: 1.2 Lebenslauf
So heftig nämlich auf der einen Seite sein Bedürf- Verfolgt man Paul Cassirers Lebenslauf, so erkennt
nis nach absoluter Selbstbestimmung des eigenen man fünf deutlich voneinander zu unterscheiden-
Handelns war, so deutlich ausgeprägt war auf der de Lebensabschnitte: Jugend- und Studienzeit
anderen Seite sein Bedürfnis nach Kommunikation (1871-1898), Kunsthandel und Mitarbeit in der
und sozialen Beziehungen. So unabhängig er zu Berliner Secession (1898-1908), Ausweitung des
urteilen und zu entscheiden beliebte, so abhängig
erwies sich sein Be- und Empfinden von der Beur-
teilung seitens derjenigen Menschen, denen er sich
11 Vgl. den Bericht von Grete Fischer, einer Mitarbeiterin des
gleichgesinnt fühlte. Das Gefühl, in den eigenen Paul Cassirer Verlages, in: Fischer: Dienstboten, S. 1 7 9
Beweggründen von Leuten, die er schätzte und 12 Grossmann: Paul Cassirer, S. 95
bewunderte, nicht verstanden, mitunter sogar ver- 13 Barlach: Prosa I, S. 58
kannt zu werden, war ihm so unerträglich, daß er zeit 14 W i r t h : Berliner Maler, S. 182
15 Die Briefe von Paul Cassirer an Maximilian Harden
seines Lebens immer wieder lange schriftliche
(Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Maximilian Harden) und an
Erklärungen an die Adresse von Freunden und Max Slevogt (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt) dokumentieren
Bekannten verfaßte, in denen er durch die nachträg- dieses Phänomen gleichermaßen.
liche Begründung der eigenen Äußerungen und 16 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 1 0 5
Handlungen die sich ständig einstellenden »Mißver- 17 In Memoriam Paul Cassirer, S. 9
18 Bezeichnend hierfür ist Emil Noldes Reaktion auf die
ständnisse« aus der Welt zu räumen versuchte. 15 Nachricht v o m Tode Paul Cassirers. In einem Brief an einen
Paul Cassirers Umgang mit Freunden besaß wohl Freund v o m 2 5 . 1 . 1 9 2 6 (abgedruckt in: Nolde: Briefe, S. 177)
schrieb er: »Du wirst erfahren haben, daß Paul Cassirernicht mehr
nur in den seltenen Fällen, wo ihm der Partner eine
lebt. Berlin ist ärmer geworden. Er war mein starker Feind und
ungewöhnliche Toleranz entgegenbrachte - wie eine Persönlichkeit, explosiv und erregend. A l s Händler war er im
dies bei dem Bildhauer August Gaul und in den 20er Kauf und Verkauf weit bestimmend, passiv fast ebenso wie
Jahren auch bei Ernst Barlach der Fall war - , den aktiv.«
Tätigkeitsbereichs durch Verlagsgründung u.a. Peter Paret, ein Enkel Paul Cassirers, vertritt in
(1908-1914), Politisierung und politische Umorien- seinem Buch Die Berliner Secession allerdings die
tierung (1914-1918), Wiederaufnahme und Weiter- Ansicht, daß Paul Cassirer »die Rolle eines Mittels-
führung von Kunsthandel und Verlag unter den mannes nie ganz entsprochen« habe:
veränderten Bedingungen der Weimarer Republik In seinen Erinnerungen meint Scheffler, daß Cassirers Talente
(1918-1926). ihn zu einem zweiten Lichtwark oder Tschudi bestimmt
hätten; und tatsächlich hätte die Position eines Museumsdi-
rektors mit genügend Muße zum Schreiben von wissenschaft-
lichen und kritischen Artikeln am besten zu ihm gepaßt. Doch
1.2.1 1 8 7 1 - 1 8 9 8 : J u g e n d - und Studienzeit sein Temperament und die Natur der preußischen Bürokratie
hätten es ihm niemals erlaubt, eine höhere Stellung in der
Der am 21.2.1871 in Görlitz bei Breslau geborene Museumsbürokratie zu erreichen. 2 2
Paul Cassirer stammte aus einer wohlhabenden
Für diese Auffassung, daß Paul Cassirers Berufs-
jüdischen Familie. Sein Vater Louis Cassirer war
wahl im Grunde nur negativ, d. h. aus der Einsicht in
Unternehmer, der zusammen mit seinen Söhnen
die Unerfüllbarkeit seines eigentlichen Berufsziels
Hugo und Alfred die Kabelfabrik Dr. Cassirer & Co.
als Museumsfachmann in leitender Stellung be-
in Berlin gründete.
gründet gewesen sei und daß er darunter gelitten ha-
Angesichts der Entscheidung des jungen Man-
be, in seinem Beruf als Kunsthändler und Verleger
nes, nach dem Abitur in München Kunstgeschichte
zuwenig Möglichkeiten zu besitzen, um in der für
zu studieren, darf man wohl davon ausgehen, daß die
wissenschaftliche Studien und Aufsätze erforder-
Atmosphäre im Elternhaus, das Tilla Durieux als
lichen Abgeschiedenheit kreativ arbeiten zu kön-
»schönes, behagliches Heim« beschreibt, kulturellen
nen, gibt es allerdings keinerlei Anhaltspunkte.
Dingen gegenüber aufgeschlossen war und den
einzelnen Familienmitgliedern bei der Verfolgung Wenn Ernst Barlach berichtet, daß Paul Cassirer
der individuellen Interessen und Neigungen einige von sich selbst behauptet habe, er vermöge nicht zu
Freizügigkeit bot.19 schreiben,23 so scheint dies doch eher auf die
Selbsterkenntnis Cassirers hinzuweisen, daß sich
Über den Ablauf von Paul Cassirers Studienzeit
seine auf Wissen und Intuition gründende Überzeu-
ist wenig bekannt. Immerhin muß er sich in diesen
gungskraft in bezug auf künstlerische Fragen eher in
Jahren intensiv mit Fragen der bildenden Kunst und
kommunikativen Situationen, also in der unmit-
Literatur beschäftigt und sich so die Grundlagen
telbaren persönlichen Auseinandersetzung mit
einer umfassenden Bildung erarbeitet haben. Das
Künstlern und kunstinteressierten Menschen zu
spätere Berufsziel stand zu jener Zeit offenbar noch
entfalten vermochte.
keineswegs fest. Die Veröffentlichung mehrerer
literarischer Arbeiten während seiner Studienjahre
scheint darauf hinzuweisen, daß Paul Cassirer
zunächst eher eine schriftstellerische Laufbahn ins 1.2.2 1 8 9 8 - 1 9 0 8 : Kunsthandel und
Auge gefaßt hatte. 1894 veröffentlichte er das Engagement in der Berliner Secession
Prosagedicht Nachtstück und das naturalistische Der Kunstsalon der beiden Vettern in der südlich
Drama Fritz Reiner, der Maler, im folgenden Jahr des Tiergarten gelegenen Victoriastraße erregte von
erschien die NovelleJosef Geiger.20 Eine Zeitlang war Anfang an Aufsehen. Gleich mit der ersten Ausstel-
er auch als Mitredakteur des Simplicissimus enga- lung, die am 1. November 1898 mit Werken von
giert.21 Max Liebermann, Edgar Degas und Constantin
1898 eröffnete Paul Cassirer zusammen mit Meunier eröffnet wurde, bezogen die beiden jungen
seinem Vetter Bruno Cassirer in Berlin eine Kunst- Kunsthändler eine eindeutige Position innerhalb
galerie, der ein Verlag angeschlossen war. der Auseinandersetzung in der Berliner Künstler-
Welche Motive neben dem zweifellos vorhande- schaft über die - von der offiziellen Kunstpolitik des
nen starken Interesse für Kunst und Literatur bei Kaiserreichs protegierte - konservative Kunstrich-
dem Entschluß, Kunsthändler und Verleger zu
werden, eine Rolle gespielt haben mögen, bleibt
eine offene Frage. Paul Cassirer besaß jedenfalls 19 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 7 9 ;
nicht nur die notwendigen Kenntnisse, sondern Vgl. auch Paret: Die Berliner Secession , S. 103 f.
auch das erforderliche organisatorische Geschick 2 0 Z u diesen Texten vgl. Paret: Die Berliner Secession,
S.lllf.
und die finanzielle Ausstattung, die eine erfolgrei-
21 Nach Salzmann: Paul Cassirer, S. 1 6 9
che Ausübung dieses Berufs zur Voraussetzung 2 2 Paret: Die Berliner Secession, S. 112
hat. 2 3 Barlach: Prosa I, S. 58
tung des akademischen Realismus24 und die opposi- tion treu, durch eine sorgfältige Zusammenstellung
tionellen, fortschrittlichen Kunstbestrebungen, die von modernen Kunstwerken des In- und Auslandes
die im Mai 1898 gegründete Berliner Secession Ein- und Uberblicke über das zeitgenössische
repräsentierte. Kunstschaffen, über Entwicklungen und zukünf-
Die beiden Cassirers waren weder die einzigen tige Tendenzen zu vermitteln. Dabei beschränkte er
noch die ersten Kunsthändler in Berlin, die dem sich keineswegs auf die Ausstellung von Werken
Publikum moderne Kunstwerke des In- und Aus- bereits anerkannter Meister des französischen und
lands vorstellten. Bereits 1883 waren im Kunstsalon deutschen Impressionismus, sondern zeigte immer
von Fritz Gurlitt Werke französischer Impressioni- wieder - unbeeindruckt von den Angriffen konser-
sten aus der Sammlung Durand-Ruel ausgestellt vativer Kritiker - Gemälde und Graphiken von
gewesen, und auch Werke moderner deutscher jüngeren, in Deutschland weitgehend unbekannten
Künstler wie Klinger, Leibi, Trübner und Lieber- Künstlern, die erst später in ihrer Bedeutung für die
mann konnten dort besichtigt werden. Die 1886 Entwicklung der modernen Malerei anerkannt wer-
eröffnete Galerie Eduard Schulte stellte seit 1892 den sollten; so u.a. von Paul Cezanne (1901),
alljährlich Arbeiten aus dem Kreis der gegen die Vincent van Gogh (1904) und Henri Matisse
offizielle Kunst- und Ausstellungspolitik in der (1907). 30 Darüber hinaus versuchte Paul Cassirer in
Reichshauptstadt opponierenden »Vereinigung der seinen Ausstellungen häufig, durch die gleichzeitige
Elf«, zu der u.a. Liebermann und Leistikow zählten, Präsentation von Kunstwerken aus vergangenen
vor, und auch die 1897 eröffnete Galerie Keller und Jahrhunderten, ζ. B. von El Greco, Goya, Daumier 31
Reiner präsentierte moderne Kunst. 25 Wenn Bruno und modernen Werken künstlerische Entwick-
und Paul Cassirer gleichwohl schon bald eine domi- lungslinien sichtbar zu machen und so zu einem
nierende Rolle auf dem Berliner Kunstmarkt spiel- besseren Verständnis zeitgenössischer Kunstten-
ten, so lag dies zum einen an der besonderen, zur denzen beizutragen.
intensiven Beschäftigung mit den dargebotenen In die Erinnerung zeitgenössischer Besucher
Werken einladenen Atmosphäre ihres Salons, zu prägten sich viele der ungefähr alle zwei Monate
der auch die von Henry van de Velde entworfene wechselnden Ausstellung der Galerie Cassirer ein
Einrichtung beitrug,26 zum anderen an der hohen als »künstlerische Ereignisse«, die in ihrem hohen
Qualität der ausgestellten Arbeiten sowie der auf- Niveau eine erzieherische Wirkung sowohl auf die
fälligen Sorgfalt, mit der sie zusammengestellt Kunstschaffenden selbst als auch auf das kunstinter-
wurden. essierte Publikum ausübten.32
W e n n die Cassirers eine direktere und bleibendere Wirkung
Der größte Teil der modernen deutschen Kunst,
hatten, so vielleicht, weil sie jede Ausstellung als ein einheitli- mit der Paul Cassirer handelte, bestand aus Werken
ches Ganzes planten, in welchem sie thematische, psychologi-
sche und historische Bezüge zwischen den Arbeiten verschie-
dener Künstler und Schulen aufzuzeigen versuchten, anstatt 2 4 Z u r offiziellen Kunstpolitik des Wilhelminischen Reiches
nur ein paar moderne Gemälde einzeln zwischen konventio- vgl. Klaas Teeuwisse: Berliner Kunstleben zur Zeit Max Lieber-
nelle und leicht verkäufliche Bilder zu verteilen. 2 7 manns. In:(Ausst. Kat. Berlin 1979) Max Liebermann, S . 7 2 ff.;
Paret: Die Berliner Secession, S. 1 7 - 4 6
25 Vgl. (Ausst. Kat. Berlin 1979) Max Liebermann, S . 7 5 ;
Die Partnerschaft zwischen den beiden Vettern
Paret: Die Berliner Secession, S. 104 ff.
war nur drei Jahre von Bestand. Ein Zerwürfnis, 2 6 Vgl. die Zitate aus zeitgenössischen Beschreibungen des
dessen Grund unbekannt geblieben ist, das aber auf Salons in: Paret: Die Berliner Secession, S. 104, 3 7 3 Anm. 32
jeden Fall so tief war, daß sich die beiden Männer für 27 Ebd., S. 107 f.
den Rest des Lebens in feindlicher Rivalität gegen- 28 Die Anzeige, die anläßlich der Geschäftstrennung im
»Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« erschien, ist abge-
überstanden, führte im August 1901 zur Auflösung
druckt in: Imprimatur N . F . 7 (1972), S. 1 1 0
der Geschäftsverbindung. Der erst in den Anfängen 2 9 Vgl. Vollard: Erinnerungen, S. 1 3 0 ; Paret: Die Berliner
steckende Verlag ging in den Besitz Bruno Cassirers Secession, S. 1 3 9
über, während Paul Cassirer die Kunsthandlung 3 0 Doede: Berlin, S . 8 0 , 92, 9 8 ; Hans Purrmann: Leben und
übernahm. 28 Ein Vertrag legte fest, daß für die Dauer Meinungen, S. 117 f.;
Gordon: Modern Art Exhibitions, Bd. 2, S. 1 0 8 , 1 5 0 f . , 186f., 2 4 5 ,
von sieben Jahren keiner der beiden auf dem
431,457 ff.,462,499,507,521,539,570,582,618 f.,649,651,686,
Berufsfeld des anderen tätig werden durfte. 724f., 753f., 8 2 6 , 8 2 7 , 8 5 1 ; Paret: Die Berliner Secession, S . 3 8 0
In der Leitung des Kunstsalons, der in den Jahren Anm. 4
31 von Loehneysen: Paul Cassirer, S. 1 5 8 ; Paret: Die Berliner
nach der Jahrhundertwende schnell zu einer der
Secession, S. 3 7 4 A n m . 3 3
führenden Galerien für moderne Kunst in Deutsch- 32 Vgl. als Beispiel unter vielen die Beschreibung des Kunst-
land wurde,29 blieb Paul Cassirer der bereits in den historikers W e r n e r Weisbach; zitiert bei Paret: Die Berliner
ersten Ausstellungen sichtbar gewordenen Konzep- Secession, S. 3 7 3 A n m . 33
von Mitgliedern der Berliner Secession: Max Lieber- Mag das Pathos, das aus diesen Sätzen spricht,
mann, Walter Leistikow, Max Slevogt, Lovis auch übertrieben klingen - die Auffassung, in der
Corinth, Käthe Kollwitz, Georg Kolbe, August Ausübung seiner Tätigkeit als Kunsthändler und
Gaul und Ernst Barlach - um nur einige Namen zu Mitorganisator der Secession einer kulturpoliti-
nennen - wurden von seiner Galerie vertreten. schen Aufgabe verpflichtet zu sein, meinte Paul
Mit einigen dieser Künstler hatte Paul Cassirer Cassirer durchaus ernst. Interesse für die modernen
besondere Abkommen getroffen, die ihm gegen die künstlerischen Bestrebungen des Auslandes zu
Garantie einer Mindestsumme für den jährlichen wecken, verstand er als »kulturelle Tat« 39 , die sich
Verkauf bzw. gegen die Zahlung eines festen nicht zuletzt der kunsterzieherischen Intention
Gehalts das ausschließliche Vertretungsrecht für die verdankte, den künstlerischen Horizont der einhei-
entstehenden Werke zusicherte. 33 mischen Künstlerschaft zu erweitern und so zu
Die enge Verbindung zur Berliner Secession war einer Qualitätssteigerung der deutschen Kunstpro-
bereits kurz nach der Eröffnung der Galerie zustan- duktion beizutragen:
degekommen. Auf die Initiative von Max Lieber- ... ich spreche von der mir durch meinen Geschäftsbetrieb, wie
mann und Walter Leistikow hin hatte der Vorstand ich ihn verstehe, auferlegten Pflicht, nach meinen Kräften
der Secession im Februar 1899 Kontakt mit den dabei zu helfen, daß sich ein anständiges, künstlerisches
beiden Vettern Cassirer aufgenommen und sie nach Niveau in Deutschland erhält, oder vielmehr entwickelt.
einer Reihe von Verhandlungen zu Geschäftsfüh-
Mit diesen Worten versuchte Paul Cassirer ein-
rern der Künstlervereinigung ernannt. 34 Die mit
mal die ideelle Zielsetzung zu beschreiben, der er
dieser Funktion, auf deren Ausführung Bruno Cassi-
sich in seiner Tätigkeit im kulturellen Bereich
rer 1901 verzichtete, verbundenen Rechte sicherten
verpflichtet fühlte. 40
Paul Cassirer eine einflußreiche Position innerhalb
Dieses Selbstbewußtsein, mit den eigenen Aktivi-
der Organisation, die er mit viel Engagement wahr-
täten einen nützlichen Beitrag für die Entwicklung
nahm. 35 Zusammen mit Max Liebermann setzte er
der Kunst in Deutschland zu leisten, war durchaus
sich nachdrücklich dafür ein, daß auf den jährlichen
nicht unangefochten. Vielmehr sah sich Paul Cassi-
Ausstellungen der Secession auch die moderne
rer aufgrund seines Engagements in bezug auf die
Kunst des Auslands angemessen repräsentiert wur-
Öffnung der Ausstellungen der Berliner Secession
de. 36 Seit der zweiten Ausstellung (1900) waren die
für die moderne Kunst des Auslands immer wieder
führenden Künstler des französischen Impressio-
Angriffen auf seine Person ausgesetzt, die die Unei-
nismus und der nachfolgenden Strömungen -
gennützigkeit seiner Motive in Zweifel zogen.
Manet, Monet, Renoir, Toulouse-Lautrec, Degas,
Pisarro, Signac, Bonnard und Vuillard - immer Massive Vorwürfe wurden zunächst hauptsäch-
wieder mit bedeutenden Werken auf den Ausstel- lich in extrem konservativ eingestellten Kreisen der
lungen vertreten. Außerdem wurden dem Publikum Kunstkritik laut, die die in der Berliner Secession
Gemälde von damals in Deutschland noch völlig repräsentierten künstlerischen Tendenzen, zumal
unbekannten Künstlern wie Cezanne und van Gogh alles, was sich mit dem französischen Impressionis-
sowie Skulpturen moderner ausländischer Bild- mus in Verbindung bringen ließ, entschieden
hauer wie Rodin, Meunier, Minne und Maillol
gezeigt.
33 Solche Verträge mit jeweils unterschiedlichen Konditio-
Seiner [Paul Cassirers] Tatkraft verdankten unsere Ausstellun- nen kamen ζ. B. mit Lovis Corinth, Max Slevogt, August Gaul und
gen die erlesensten Stücke: Bilder, die ich seit Jahren in Paris Ernst Barlach zustande. Vgl. Paret: Die Berliner Secession, S. 142,
bewundert hatte, brachte er nach Berlin, ohne die Risiken zu 146, 1 4 8 , 2 9 4
achten, die damals noch verknüpft waren mit dem Import von 34 Ebd., S. 103, 114 ff.
Manets und Monets, von Cezannes und van Gogh's. 35 Vgl. die von Lovis Corinth in seiner »Selbstbiographie«
Mit diesen Worten würdigte Max Liebermann (S. 150) zitierte Äußerung Cassirers: »Eigentlich machen das
1921 die Verdienste Paul Cassirers, 37 über die dieser ganze Wesen der Berliner Secession nur ich und Leistikow -
selbst Liebermann hat eigentlich nichts zu sagen.«
selbst an anderer Stelle schrieb:
36 Paret: Die Berliner Secession, S . 3 7 5 A n m . 4 6 , S. 137f.,
Welche Opfer habe ich für die Secession gebracht. Die besten
161
Bilder, die mir einen großen Ruf gebracht hätten, habe ich der
37 Rede zu Paul Cassirers 50.Geburtstag; abgedruckt in:
Secession überlassen. Lichtwark konnte schreiben, daß der
Wirth: Berliner Maler, S. 182
große Verdienst der Secession und des damit verbundenen
38 Brief an Max Slevogt vom 4 . 4 . 1 9 1 2 (Neukastel, Nachlaß
Kunsthandels ist, die französischen Impressionisten in
Max Slevogt)
Deutschland eingeführt zu haben. Welche Umdrehung! Aber
39 Paul Cassirer: K u n s t und Kunsthandel, S . 4 6 7
ich ertrage das ohne Bitternis um der Sache willen, und aus 40 Brief an Eberhard von Bodenhausen vom 12.11.1915
Leidenschaft für die Gruppe von Menschen, die mit mehr oder (Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach
weniger Talent dem Ideal, das ich liebe, folgen. 3 8 a. N.)
ablehnten. 41 Die in diesen Kreisen vertretene Bereits 1902 hatte die Unzufriedenheit über die
Kunstauffassung wies den zeitgenössischen deut- Art und Weise, wie Paul Cassirer seinen Einfluß in
schen Künstlern die nationale Aufgabe zu, durch die der Konzeption und Gestaltung der Secessionsaus-
schöne Gestaltung von Idealen und moralischen stellungen geltend machte, zum Austritt von sech-
Tugenden, die man als spezifische geistige Vorzüge zehn konservativ eingestellten Mitgliedern ge-
eines angeblichen deutschen Nationalcharakters führt. 47
ansah, zur Förderung patriotischer Gesinnung und Ungefähr ab 1905 begann sich erneut unter
so zur Größe der eigenen Nation beizutragen. 42 einigen Künstlern der Berliner Secession der Ein-
Gemäß dieser Sicht kam in der künstlerischen druck zu verstärken, daß die eigenen künstlerischen
Sehweise der französischen und deutschen Impres- Bemühungen innerhalb der Vereinigung nur unzu-
sionisten mit ihrer Vorliebe für schlichte, alltägliche reichend berücksichtigt würden, was man auf die
Sujets und ihrem Interesse für die sinnliche Erschei- dominierende Rolle Max Liebermanns und Paul
nungsweise der Gegenstände im Wechselspiel von Cassirers bei der Leitung der Secession zurückführ-
Licht und Atmosphäre eine gegen die idealen te. Zu den Unzufriedenen gehörten nicht nur
Zielsetzungen der Kunst gleichgültige Geisteshal- jüngere Mitglieder wie Max Beckmann und Emil
tung zum Ausdruck, die man als gefährliche Schwä- Nolde, die in der Tat noch um die Anerkennung
chung der angestrebten nationalen Gesinnung nicht nur des Publikums, sondern auch vieler
betrachtete. Für den wachsenden Einfluß impres-
sionistischer Tendenzen in der deutschen Kunst
machte man das Wirken von amoralischen, anti- 41 Ausführlicher zu den geistigen Hintergründen der gegen
deutschen Kräften verantwortlich, die man im die Berliner Secession gerichteten Angriffe: (Ausst. Kat. Berlin
1979). Max Liebermann, S.83 ff.; Paret: Die Berliner Secession,
jüdischen Gewinnstreben< Max Liebermanns und S. 161 ff., 245 ff.
Paul Cassirers zu entdecken vorgab: 42 Programmatisch k o m m t diese Auffassung von der natio-
nalen Bestimmung der Kunst in der Rede Kaiser Wilhelms II.
Man hat aus dem verjudeten Berlin W einen Kunstmarkt anläßlich der Eröffnung der Siegesallee (am 18.12.1901) zum
ersten Ranges gemacht, und man hat es verstanden, diesen Ausdruck; zitiert nach Doede: Berlin, S . 8 2 : »Die Kunst soll
Markt ganz in seine Hände zu bringen. Der Salon Cassirer, den mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch
man ebensogut Salon Liebermann nennen kann, ist die den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglich-
>Secession<, deren Geschäfte in den geschickten >Kassierer<- keit geben, sich an dem Idealen wieder aufzurichten. Uns, dem
Händen liegen, im kleinen. 4 3 deutschen Volk, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern
geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger
verlorengegangen s i n d . . . zu diesen Idealen gehört, daß wir den
So gelassen Paul Cassirer solche Angriffe, die arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben,
Ende der 20er Jahre in den posthumen Diffamierun- sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen
Gedanken heraus- und emporzuarbeiten. Wenn nun die Kunst,
gen seiner Person seitens der Nationalsozialisten
wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend
wiederkehren sollten, 44 hinzunehmen vermochte - noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt
im Vertrauen darauf, daß jeder unabhängig den- sie sich damit am deutschen Volke.« Aus der Tatsache, daß hier
kende Mensch die Unhaltbarkeit der von rassisti- die Kunst nicht auf inhaltlich konkret bestimmbare Ideale, etwa
die Liebe zum Vaterland o.ä., sondern auf das Ideale schlechthin
schen und völkisch-nationalistischen Ressenti-
verpflichtet wird, geht hervor, daß die staatstragende Funktion
ments geprägten Anschuldigungen von selbst von K u n s t nach Auffassung des Kaisers darin bestand, durch das
erkennen würde - , so empfindlich fühlte er sich Sichtbarmachen einer höheren Sinnhaftigkeit der Realität (die
getroffen, wenn die Integrität der Motive, die seine auch das »Elend« der »untersten Schichten« einschloß) die
Tätigkeit in der Berliner Secession und im Kunst- bestehenden Verhältnisse ideell zu rechtfertigen und so zu einer
einheitstiftenden Gesinnung im Volk beizutragen. Es entsprach
handel bestimmten, von Künstlern in Abrede dieser Auffassung, wenn konservative Kunstkritiker und Kunst-
gestellt wurde. Ernst Barlach erwähnt in seiner historiker die »seelenlose Ausländerei« der in der Berliner
Charakterisierung des verstorbenen Freundes, daß Secession repräsentierten künstlerischen Richtungen anpranger-
Paul Cassirer »darunter litt, Nutznießer von Künst- ten, der sie die »Seelentiefe« und den »Idealismus« der »wahren«
deutschen K u n s t entgegenhielten. Vgl. die in . (Ausst. Kat. Berlin
lern genannt zu werden, die ihm so verwandt
1979) Max Liebermann, S . 8 4 f . und bei Paret: Die Berliner
waren« 45 , und Karl Scheffler schreibt in ähnlichem Secession, S. 162 und 252 ff. zitierten Artikelpassagen.
Sinne:
43 Volker: Die Berliner Kunstausstellungen. In: Hochland 1
... es ging ihm mehr um Weltanschauung als um geschäftli- (1903), S . 2 5 2 / 2 5 3 ; zitiert nach Paret: Die Berliner Secession,
chen E r f o l g . . . U m so mehr litt er, wenn das Publikum dem S. 162
Kaufmann nicht ideelle Beweggründe und selbstlosen Enthu- 44 Vgl. den Brief von Ernst Barlach an Hans Barlach vom
siasmus glauben wollte. Dieses war der Stachel... Sein stiller 4 . 3 . 1 9 2 9 ; abgedruckt in: Barlach: Briefe II, S. 156
Gram und seine laute Wut war, daß der Anerkennung seiner 45 Barlach: Prosa I, S. 58
Begabung, die immer wieder zu einem zündenden Streichholz 46 Scheffler: Die fetten und die mageren Jahren, S. 121
wurde, die soziale Bewertung des Berufs im Wege stand. 4 6 47 Paret: Die Berliner Secession, S. 154
Secessionskollegen für die eigenen künstlerischen modernen bürgerlichen Gesellschaft, der in relativer
Ausdrucksweisen kämpfen mußten,48 sondern auch Autonomie, d. h. weitgehend frei von der persönli-
Künstler wie Emil Pottner (vgl. Kap. 3.7.), deren chen Abhängigkeit von einem privaten Auftragge-
künstlerische Auffassung mit der Max Liebermanns ber, für ein anonymes Publikum produziere, stelle
und seiner Anhänger weitgehend übereinstimmte. »die Öffentlichkeit, die für den Maler in vier Formen
In ihrer Kritik, die sich ab 1908 zunehmend of- existiert: die Zeitung, die Kunstausstellung, der
fener artikulierte, machten einige der unzufriede- Kunsthandel, die Galerie,«54 die entscheidende
nen Secessionsmitglieder Gebrauch von Argumen- Bedingung seiner Existenz dar. Dabei komme dem
tationsmustern, die ihren Standpunkt in gefährliche Kunsthandel eine vornehmlich kritische Funktion
Nähe zu jenen Vorwürfen rückte, die von völkisch- gegenüber der durchgesetzten »öffentlichen Mei-
nationalistisch eingestellten Kreisen gegen die Ber- nung« zu, die sich immer wiedergegen die »Neuerer,
liner Secession, insbesondere gegen ihre führenden gegen die Revolutionäre in der Kunst«55 zu ver-
Mitglieder, erhoben wurden. So fühlte sich etwa schließen drohe:
Max Beckmann Anfang 1909 mit einer Reihe von
U m den Kunsthändler versammelte sich die verkannte
Secessionskollegen »einig in dem Gefühl des Wider- Jugend. Die private Öffentlichkeit, die er vertrat, setzte sich in
willens und der Unmöglichkeit für die Entwicklung Gegensatz zu der offiziellen, und je mehr sich Staat und
unserer deutschen Kunst bei dieser gänzlichen Gemeinde u m die offiziellen Kunstausstellungen kümmerten,
Herrschaft des kaufmännischen Interesses bei Cas- u m so mehr bildete es sich aus, daß der Kunsthändler
sozusagen ein aktiver Kritiker - seine Ausstellungen eine Tat
sirer«49 (vgl. Kap. 3.3), und Emil Nolde erschien
gewordene Kritik wurden. 5 6
seine oppositionelle Rolle innerhalb der Vereini-
gung, die 1910 mit dem Ausschluß endete, auch in In diesem Zusammenhang kommt Cassirer auch
der Rückerinnerung noch als heroischer Kampf im auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf der aus-
Interesse der »aufblühenden jungen deutschgebore- schließlich ökonomischen Motivierung seiner Akti-
nen Kunst«: vitäten auf kulturellem Gebiet zu sprechen. Er
leugnet nicht, daß er mit dem Verkauf französischer
Das künstlerisch reine und heiße Streben meiner jungen
Künstlerfreunde schien mir unendlich weit höherstehend als
Impressionisten bedeutende Gewinne erziele, noch
die Verbreitung französischer Anschauung und der schamlose streitet er das Motiv des finanziellen Geschäftser-
Geschäftsbetrieb innerhalb der Secession mit der zur Ware folgs ab. Gegen die Behauptung, die Spekulation auf
herabgewürdigten Kunst. 5 0 ökonomischen Gewinn beeinflusse sein künstleri-
sches Urteilsvermögen, verwahrt er sich jedoch
1911 veröffentlichte der Landschaftsmaler Carl
entschieden, indem er darauf hinweist, daß er
Vinnen, ein ehemaliges Secessionsmitglied, die
immerhin bereits zu einer Zeit mit den Gemälde
Streitschrift Ein Protest deutscher Künstler, in der er
französischer Impressionisten »spekuliert« habe, als
die These vertrat, daß durch die Überschwemmung
die Bilder deutscher Künstler wie Achenbach,
des deutschen Kunstmarktes mit modernen franzö-
Grützner und von Kaulbach eine sehr viel sicherere
sischen Kunstwerken, für die u. a. die gewissenlose
Aussicht auf Gewinn geboten hätten.57
Gewinnsucht einiger - nicht namentlich genann-
ter - Kunsthändler verantwortlich zu machen sei, Will man Paul Cassirers Rolle im Berliner Kunst-
der nationalen Kultur schwerer Schaden zugefügt leben der ersten fünfundzwanzig Jahre dieses Jahr-
werde.51 hunderts gerecht beurteilen, so muß man - zu
Daß auch eine Reihe ordentlicher und korrespon- welchen Ergebnissen man im einzelnen Falle auch
dierender Mitglieder der Berliner Secession, z.B. kommen mag - immerhin festhalten, daß er jenen
Wilhelm Trübner und Käthe Kollwitz, ihre Unter- Künstlern, von deren Talent er ernsthaft überzeugt
schrift unter das Manifest gesetzt hatten,52 mag für war (wie dies ζ. B. bei Ernst Barlach der Fall war), eine
Paul Cassirer den Ausschlag dazu gegeben haben,
sich in einer ausführlichen schriftlichen Stellung- 4 8 Ebd., S. 2 8 7 , 3 0 1 ff.
nahme gegen die deutlich an seine Adresse gerich- 4 9 Beckmann: Leben in Berlin, S.7
teten Angriffe zur Wehr zu setzen. In dem Aufsatz 5 0 Nolde: Jahre der Kämpfe, S. 146
51 Vinnen: Ein Protest;
»Kunst und Kunsthandel«53 widerlegt Cassirer nicht
vgl. Paret: Die Berliner Secession, S. 261 ff.
nur eine Reihe von Behauptungen des Manifests 52 Paret: Die Berliner Secession, S. 271 f.
bezüglich der Import/Exportbewegungen auf dem 53 Paul Cassirer: Kunst und Kunsthandel, S.457-469,
inländischen Kunstmarkt, sondern gibt darüber 558-573
hinaus auch sehr grundsätzlich Rechenschaft über 5 4 Ebd., S. 5 6 9
55 Ebd., S. 5 6 8
sein eigenes berufliches Selbstverständnis:
56 Ebd., S. 5 7 0
Angesichts der Situation des Künstlers in der 57 Ebd., S. 4 6 7
gegenüber ökonomischen Gewinnkalkulationen 58 Ein deutliches Zeugnis von der Empfindlichkeit, mit der
Paul Cassirer auf Vorwürfe reagierte, die ihm eine vorran-
weitgehend unabhängige finanzielle Unterstützung
gig gewinnorientierte Geschäftsführung unterstellten, legt der
zukommen ließ; eine Tatsache, die angesichts der Brief ab, den Cassirer am 12. 11. 1915 an Eberhard von Boden-
offensichtlichen Geschäftserfolge, die seine Kunst- hausen schrieb (Deutsches Literaturarchiv/Schiller-National-
handlung auf manchen Gebieten erzielte, zu Cassi- museum, Marbach a. N.): »Ich habe während der 17 J a h r e ,
die ich m i c h diesem merkwürdigen Beruf bisher gewidmet
rers Erbitterung58 häuf ig in Vergessenheit geriet und
habe, m e h r als 4 0 % meines E i n k o m m e n s jährlich für junge
die auch in neueren kunstwissenschaftlichen Arbei- K ü n s t l e r geopfert, m a n c h m a l im Glauben, dass ich damit
ten nicht immer die angemessene Berücksichtigung eine gute Spekulation m a c h e , meist aber in der vollständigen
gefunden hat.59 K e n n t n i s , dass - mag der betreffende Künstler Talent haben
um sich durchzusetzen, oder nicht - er mir niemals auch nur
einen Teil des ausgelegten Geldes zurückerstatten würde . . .
1.2.3 1 9 0 8 - 1 9 1 4 : Ausweitung Es würde dem entsprechen, wenn die Firma K r u p p 4 0 % ih-
des Tätigkeitsbereichs res E i n k o m m e n s jährlich den Universitäten oder anderen
gelehrten Anstalten zur Verfügung gestellt hätte. Die Firma
Als im August 1908 der Vertrag zwischen den K r u p p wäre trotz ihres riesigen Betriebes zu demselben R e -
sultat g e k o m m e n wie ich, nämlich - dass sich ihr Kapital niemals
beiden Vettern Cassirer auslief, war Paul Cassirer
verändert hätte.«
bereits ein sehr erfolgreicher, international be- und 59 Vgl. die Beurteilung von Cassirers Rolle in der Berliner
anerkannter Kunsthändler. Diese Tatsache beflü- Kunstszene bei G ü s e : Das Frühwerk, S. 37 f., und bei Paas: K u n s t
gelte seinen Ehrgeiz, sofort nach Ende des Vertrags und Künstler, S. 104
selbst auf dem Gebiet des Verlagswesens aktiv zu 6 0 In den Ausstellungskatalogen der Berliner Secession
erschien die erste Anzeige des Paul Cassirer Verlages im »Katalog
werden. Die Ausrichtung des Verlagsprogramms,
der fünfzehnten Ausstellung der Berliner Secession«, Berlin
das Paul Cassirer seit Anfang des Jahres 1908 mit 1908, in derauf zwei Publikationen aufmerksam gemacht wurde:
nachdrücklichem Engagement aufzubauen be- »Coranna«, 35 Z e i c h n u n g e n von Max Slevogt zu einer Indianer-
gann,60 wies das neue Projekt in einigen Punkten geschichte von W . Ciaire; und - mit dem Vermerk »soeben
erschienen« - Lovis Corinth: Das Erlernen der Malerei. Nach den
offen als Konkurrenzunternehmen zum Verlag
Angaben von Hans-Jürgen Imiela (in: Imiela: Max Slevogt, S. 154,
Bruno Cassirer aus. 3 9 6 A n m . 6 ) erschienen Slevogts Illustrationen zu »Coranna«
Bruno Cassirers Verlag hatte sich seit 1901 durch bereits 1 9 0 7 , also vor dem offiziellen Ende des Vertrages
eine Reihe wichtiger Veröffentlichungen, vor allem zwischen Bruno und Paul Cassirer. In einem Brief an Karl Voll
vom 6 . 1 . 1 9 0 8 bezieht sich Slevogt bereits auf eine Kritik seines
auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft, der Künst- Freundes am Druck der Illustrationen. Vgl. auch Kap. 2, A n m . 70.
lerzeugnisse (Briefsammlungen, Tagebücher, theo- In der Ausgabe der Illustrationen ist der Erscheinungsort »Berlin«
retische Abhandlungen von Künstlern) und der ohne Jahreszahl angegeben. Die Vorbereitungen für die Publika-
Buchillustration sowie durch die Herausgabe der tion von Lovis Corinth lassen sich ebenfalls bis in das J a h r 1907
zurückverfolgen: Lovis Corinth berichtet bereits in Briefen vom
Kunstzeitschrift Kunst und Künstler einen Namen
1 6 . 8 . 1 9 0 7 und vom 13.9· 1907 von der Arbeit an seinem Buch
gemacht.61 »Das Erlernen der Malerei«, das er im Auftrag von Paul Cassirer
Im Verlagskatalog Das moderne Buch des Jahres schrieb (abgedruckt in: T h o m a s Corinth: Lovis Corinth, S. 114,
116). In e i n e m Brief vom 2 2 . 3 . 1 9 0 8 (ebd., S. 117) erwähnt der
1910, einem Gesamtkatalog verschiedener Firmen,
Künstler, daß P . C . für die Mitte des Jahres 1908 bereits eine
in dem die Verlage Bruno Cassirer und Paul Cassirer zweite Auflage des Buches plane. Dieser Brief wirft ein deutliches
hintereinander ihre Produktion vorstellen,62 fallen Licht auf das Konkurrenzverhältnis zwischen Bruno und Paul
die Parallelen in der Ausrichtung der beiden Ver- Cassirer.
lagsprogramme deutlich auf. Die Titel, die der neu Z u r Verlagsgründung: Herzog: Menschen, S . 4 6 2 ff.
gegründete Paul Cassirer Verlag aufführt, erschei- 61 Vgl. Sarkowski: Bruno Cassirer, S. 1 0 7 - 1 3 7 ; Paret: Die
nen vielfach als Fortsetzungen bzw. als interessante Berliner Secession, S. 103 ff.
Ergänzungen in den jeweiligen - bereits eine stattli- 6 2 Das Moderne Buch des Jahres 1910, S. 3 3 - 4 8 (Bruno
Cassirer Verlag), S. 4 9 - 6 4 (Paul Cassirer Verlag)
che Anzahl von Werken umfassenden - Sparten, die
6 3 Laut Katalog (ebd., S. 34) waren dies:
der Bruno Cassirer Verlag als Schwerpunkte seines • 1) Bücher über K u n s t und über Künstler: Biographien,
Programms angibt.63 So publiziert Paul Cassirer Abhandlungen, Kunstgeschichten usw.
Theodore Durets Buch über Edouard Manet, Runge 2) Malerbücher (Tagebücher, Briefsammlungen, Urteile von
und die Romantik von Andreas Aubert, von Lovis Künstlern über Künstler, Autobiographien usw.)
3) Illustrierte Bücher mit Zeichnungen führender deutscher
Corinth Das Erlernen der Malerei sowie Das Leben
Künstler
Walter Leistikows und von Hermann Struck das 4) R o m a n e . Deutsche Originalwerke und Musterübersetzungen
Handbuch Die Kunst des Radierens. von fremden R o m a n e n , die der Weltliteratur zugehören
Besonders deutlich wird die Intention Paul Cassi- 5) Wissenschaftliche W e r k e : Philosophie, Kunstwissenschaft,
Studienbücher usw.
rers, in die verlegerischen Domänen seines Vetters 6) Künstleroriginale: Originalradierungen, Originallithogra-
einzudringen, auf dem Gebiet der künstlerischen phien usw. von ersten deutschen Künstlern in eigens dafür
Buchillustration. In seinem dem Verlagsprogramm geschaffenen Werken.«
vorangestellten Einleitungstext präsentiert sich der ny, Peter Baum,Johannes G u t h m a n n und Hermann
Bruno Cassirer Verlag als Wegbereiter einer neuen Essig zählten, wohl kaum herauslesen. In vielen
Auffassung von den Aufgaben moderner Buch- Fällen dürfte die Auswahl der Autoren auf die
kunst, die sich in dem Anspruch zusammenfaßt, persönlichen Kontakte Paul Cassirers zu ihnen und
»die bedeutendsten Illustratoren unserer Zeit zu das so entstandene Interesse des Verlegers an ihren
fruchtbarer Produktivität anzuregen und ihnen Werken zurückzuführen sein. 68
Gelegenheit zur Talententfaltung zu geben«. Die- In der Auswahl der älteren Autoren, die in das
sem Anspruch tritt nun der Paul Cassirer Verlag mit Verlagsprogramm aufgenommen wurden, zeigte
den Publikationen der Pan-Presse entgegen, die in sich, daß weder die Herausgabe von Werken, die
einer ausführlicheren programmatischen Erklärung zum klassischen Kanon der Weltliteratur zählten,
als ein Schwerpunkt der Verlagstätigkeit vorgestellt noch die Veröffentlichung vergessener oder ver-
werden. Dabei werden in fast gleichlautenden For- schollener literarischer Texte zu den vorrangigen
mulierungen die Ziele des Bruno Cassirer Verlags Zielsetzungen des Verlags gehörten. Mit der Veröf-
auf dem Gebiet der Buchillustration als ureigenstes fentlichung der Gesammelten Schriften von Jakob
Anliegen des eigenen Unternehmens reklamiert Michael Reinhold Lenz sowie von Georg Büchner
(vgl. Kap. 2.2). setzte sich der Verlag vielmehr für das Werk zweier
In der literarischen Abteilung seines Verlags Autoren ein, die als wichtige Vorläufer und Vorbil-
verfolgte Paul Cassirer allerdings eine andere Ziel- der der zeitgenössischen Literatur angesehen wer-
setzung als sein Vetter. Während nämlich Bruno den konnten. Ende des 19·Jahrhunderts hatten die
Cassirer im ersten Jahrzehnt seiner Verlagstätigkeit Naturalisten Lenz und Büchner wiederentdeckt.
vorrangig literarische Werke des 19-Jahrhunderts Seitdem wurde das Werk der beiden Autoren, das
herausbrachte - zu den wenigen zeitgenössischen man aufgrund der gestalteten Charaktere mit ihren
Autoren, die der Verlag in jenen Jahren verlegte, Problem- und Bewußtseinskonflikten als ausgespro-
gehörten Robert Walser, Christian Morgenstern chen modern empfand, von vielen zeitgenössischen
und Frank Wedekind - , ging es Paul Cassirer in Schriftstellern, u.a. von Gerhart Hauptmann und
erster Linie u m den Aufbau eines modernen Verlags Frank Wedekind, besonders geschätzt. 69 Durch die
für zeitgenössische deutsche Literatur. Die »Säulen« Publikation der literarischen Schriften von Lenz
des Unternehmens sollten nach der Intention, die (hrsg. von Ernst Lewy) und Büchner (hrsg. von Paul
Paul Cassirer mit dem 1909 engagierten jungen
Lektor Wilhelm Herzog teilte, die Schriftsteller
64 Herzog: Menschen, S. 464
Frank Wedekind und Heinrich Mann werden. 64 65 Ebd., S. 203; vgl. auch Kutscher: Frank Wedekind, S. 241
Obwohl Frank Wedekind, seit 1908 unter Vertrag 66 Heinrich Mann, Texte zur Wirkungsgeschichte, S. 12
bei Bruno Cassirer, schon bald nach einem neuen 67 Herzog: Menschen, S. 231, 472;
Verleger zu suchen begann, gelang es Paul Cassirer Heinrich Mann: Ein Zeitalter, S.222£.
Die Briefe von Paul Cassirer an Heinrich Mann (Deutsches
nicht, den Dichter, den er außerordentlich schätzte
Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N.) haben
und mit dem er befreundet war, für seinen Verlag zu finanzielle Streitigkeiten zwischen Verleger und Autor zum
gewinnen. 65 Heinrich Mann allerdings ließ sich Gegenstand. Sie lassen aber auch das verlegerische Bemühen Paul
aufgrund seiner Unzufriedenheit mit dem Münche- Cassirers um den Autor erkennen, so ζ. B. in einem Brief vom
ner Verleger Albert Langen und dank seiner persön- 20.6.1911: »Für Ihr Entgegenkommen betreffs der »Göttinnen,
danke ich Ihnen sehr. Das Buch wird jetzt angefangen zu
lichen Verbindung zu Wilhelm Herzog dazu bewe- drucken, d. h. es werden noch 14 Tage vergehen, weil ich ein sehr
gen, die Verlagsrechte für seine bereits erschienenen schönes Papier bestellt habe, das aber noch nicht fertig ist. Das
sowie für künftige Werke dem Paul Cassirer Verlag Papier ist viel besser als das der ersten Auflage von Langen. Ich
zu überlassen. Da der Verkaufserfolg seiner in einer werde überhaupt versuchen, Ihren Büchern ein würdiges
Gewand zu geben...«
ersten Werkausgabe, zum Teil in 2. Auflage veröf-
68 Vgl. Halbey: Der Erich Reiss Verlag, S. 1150
fentlichten Arbeiten sehr bescheiden blieb (dies
69 Zur Rezeption von J. M. R. Lenz und Büchner im Natura-
sollte sich erst nach Manns Wechsel zum Kurt lismus und Expressionismus vgl. Stephan/Winter: »Ein vorüber-
Wolff Verlag 1916 ändern 66 ), trug der Autor, dem gehendes Meteor«?, S. 112 ff. Die Entscheidung Paul Cassirers,
ein relativ großzügiges Jahresgehalt bewilligt wurde, das literarische Werk von Lenz zu verlegen, kann vermutlich auf
wohl zum Renommee, nicht aber zum finanziellen Frank Wedekinds Einfluß zurückgeführt werden. Vgl. Genton:
Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 128. Zur Bedeutung der
Gewinn des Unternehmens bei.67 Eine eindeutige Büchner-Ausgabe des Paul Cassirer Verlages für die Rezeptions-
programmatische Ausrichtung auf eine bestimmte geschichte Büchners vgl. Goltschnigg: Rezeptions- und Wir-
zeitgenössische literarische Richtung läßt sich aus kungsgeschichte Georg Büchners, S. 48.
der Liste der frühen Autoren des Verlags, zu denen Goltschnigg hebt die hervorragenden Werkanalysen des Heraus-
u. a. Rene Schickele, Hermann Bahr, Ludwig Hatva- gebers Paul Landau hervor, mit denen »die literarhistorisch
umfassend fundierte Büchner-Forschung« beginnt.
Landau) - beide Ausgaben erschienen 1909 - Ein weiteres Projekt Paul Cassirers aus dem Jahre
machte der Paul Cassirer Verlag auf zwei Dichter- 1910 war die »Pan-Gesellschaft«, eine Theaterverei-
persönlichkeiten aufmerksam, die in ihrer »Kompli- nigung, die unbekannte und selten aufgeführte
ziertheit« und »Zerrissenheit« auch für jüngere Theaterstücke der vom Verlag und der Pön-Redak-
Schriftsteller wie Robert Walser, Georg Trakl und tion bevorzugten zeitgenössischen Autoren zur
Georg Heym eine große Anziehungskraft besaßen. einmaligen Aufführung bringen sollte, um die
Maßgeblichen Anteil daran, daß sich der Verlag in öffentlichen Bühnen auf sie aufmerksam zu
den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem in machen. Soweit bekannt, kamen lediglich zwei
seiner Art profilierten und angesehenen Unterneh- Produktionen, beide 1910 in Berliner Theatern vor
men entwickelte, 70 hatte neben den Publikationen einem geschlossenen Kreis geladener Gäste von
der Pan-Presse auch die Zeitschrift Pan, die Paul ohne Honorar spielenden Schauspielern aufgeführt,
Cassirer zusammen mit seinem Lektor Wilhelm auf die Förderung der »Pan-Gesellschaft« hin
Herzog im Herbst 1910 gründete. 71 Diese Halbmo- zustande: Frank Wedekinds Stück Die Büchse der
natsschrift mit dem Namen des zu jener Zeit bereits Pandora und drei Einakter von Heinrich Mann Der
legendären Vorbilds, des 1895 von Julius Meier- Tyrann, Variete und Die Unschuldigen,75
Graefe und Otto Julius Bierbaum gegründeten Pan, Auch in Paul Cassirers Tätigkeit als Kunsthändler
enthielt vorwiegend Aufsätze, Artikel, Rezensionen und Mitorganisator der Berliner Secession, die
und Glossen, die sich auf der Basis einer gegenüber durch das Engagement für die neugegründeten
dem Wilhelminischen Staat weitgehend kritischen, Unternehmungen keinesweg in den Hintergrund
von demokratischen Vorstellungen geprägten gei- gedrängt worden war, begann mit dem Jahr 1908
stigen Orientierung sowohl mit literarisch-kulturel- eine neue Phase.
len als auch mit politischen, ökonomischen und
Zur gleichen Zeit, zu der den Werken des fran-
juristischen Themen befaßten.
zösischen und deutschen Impressionismus nach
Außerdem veröffentlichte die Zeitschrift regel- Jahren des kämpferischen Einsatzes für diese nun
mäßig literarische Arbeiten - Essays, Gedichte, seitens eines größeren Teils der Öffentlichkeit ein
Prosa- und Dramenstücke - vieler zeitgenössischer
Autoren. Neben den Autoren des Verlags wie
Heinrich Mann (dessen wichtiger Aufsatz Geist und
Tat im ersten Jahrgang des Pan veröffentlicht 7 0 Dies bezeugt u. a. die Tatsache, daß Carl Sternheim, dessen
W e r k e im Insel-Verlag, bei Kurt Wolff und bei Erich Reiss
wurde), Rene Schickele, Hermann Essig und Lud-
verlegt wurden, 1 9 1 3 auch Paul Cassirer als potentiellen Verleger
wig Hatvany fanden nicht nur namhafte Literaten seiner Arbeit anführte. Vgl. den Brief von Carl Sternheim an den
wie Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Max Kurt Wolff Verlag v o m 2 8 . 4 . 1 9 1 3 in: Wolff, Briefwechsel, S. 2 0
Dauthendey und Jakob Wassermann, sondern auch 71 Vgl. Allen: Literary Life, S. 4 0 0 ff.
jüngere und unbekanntere Schriftsteller wie Georg 72 Bibliographie der Beiträge in: Index Expressionismus,
Bd. 14, S. 2 3 2 6 - 2 4 0 5
Heym, Kurt Hiller, Ludwig Rubiner, Ferdinand
73 Herzog: Menschen, S. 396.
Hardekopf, Robert Musil und Robert Walser Beach- Aus den Briefen Paul Cassirers an Maximilian Harden, Herausge-
tung. 72 ber der Zeitschrift »Die Zukunft« (Bundesarchiv Koblenz, Nach-
laß Maximilian Harden), in denen er sich wiederholt für im »Pan«
Bereits bei der Arbeit an den ersten Nummern
veröffentlichte Beiträge entschuldigt, geht hervor, daß einer der
des Pan ergaben sich Meinungsverschiedenheiten Gründe von Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und
zwischen Paul Cassirer als Verleger und dem von seinen Redakteuren in der feindlich-rivalisierenden Haltung lag,
ihm an sich sehr geschätzten Chefredakteur Wil- die Herzog und Kerr als politische Publizisten Maximilian
helm Herzog, die sich noch verschärften, nachdem Harden gegenüber einnahmen. Vgl. zu diesem Thema auch
Herzog: Menschen, S . 7 4 f . und 3 9 8 f. Während in den Briefen
Herzog zur Stärkung seiner Position den Kritiker Cassirers mehrfach von den »Tborheiten« und der »lächerlichen
Alfred Kerr als festen Mitarbeiter der Redaktion Imitation Ihrer [Maximilian Hardens] Arbeit«, für die Wilhelm
engagiert hatte. 75 Herzog verantwortlich sei, die Rede ist (Brief vom 3 0 . 1 0 . 1 9 1 1
und 2 0 . 1 1 . 1 9 1 1 ) , unterschlägt Herzog in seinen Erinnerungen
Bereits im Oktober 1911 schied Wilhelm Herzog
seine eigene Beteiligung an der beschriebenen Auseinanderset-
aus der Redaktion des Pan sowie aus dem Verlag aus. zung. Neuen Stoff für Meinungsverschiedenheiten zwischen
Nachdem wenig später, im Dezember 1911, auch Cassirer, Herzog und Kerr brachte die von Alfred Kerr initiierte
Alfred Kerr die Redaktion verließ, behielt Paul und durchgeführte publizistische Kampagne des »Pan« gegen
Cassirer die Zeitschrift nur noch wenige Monate. den Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow mit sich. Vgl.
dazu Paret: Die Berliner Secession, S. 3 2 1 ff., 4 0 8 A n m . 4 0
Der ständigen Auseinandersetzungen mit den
7 4 Z u den Hintergründen des Verkaufs und dem veränderten
diversen Redakteuren offenbar zunehmend über-
Charakter der Zeitschrift unter dem neuen Herausgeber Alfred
drüssig, verkaufte er den Pan im März 1912 schließ- Kerr vgl. Allen: Literary life, S . 4 1 0 , 420ff.
lich an den Hammer-Verlag. 7 4 75 Ebd., S. 4 3 0 f.
wachsendes Interesse entgegengebracht wurde, 76 einen aktiven Part in der Maßregelung eines Vertre-
sah sich Paul Cassirer in seinem künstlerischen ters der »Jungen«, zog jedoch wenige Tage später aus
Beurteilungsvermögen durch die aktuelle Entwick- den insgesamt als »innere Niederlage« 83 empfunde-
lung der Malerei im In- und Ausland vor neue nen Vorgängen innerhalb der Organisation ebenso
Anforderungen gestellt. Seit dem Tode des - stets wie Max Liebermann, der sein Präsidentenamt zur
um Toleranz und Integration der unterschiedlichen Verfügung stellte, die Konsequenzen und trat aus
künstlerischen Bestrebungen bemühten - Walter dem Vorstand zurück.
Leistikow im Sommer 1908 wuchs die Unzufrieden- Nach dem Wechsel in der Besetzung des Präsi-
heit der jüngeren Vereinsmitglieder der Secession, dentenamtes und des Vorstandes - Liebermanns
einer hinsichtlich ihrer künstlerischen Zielsetzun- Nachfolger war Lovis Corinth geworden - nahm die
gen übrigens keineswegs homogenen Gruppe, mit Aufgeschlossenheit gegenüber expressionistischen
dem autoritären Führungsstil Liebermanns und bzw. zum Expressionismus hin tendierenden
Cassirers und führte zu Spannungen, die sich in dem Künstlern in der Organisationsleitung keineswegs
Konflikt um die Neubesetzung des Organisations- zu; im Gegenteil: Infolge der konservativen Ausstel-
vorstandes Anfang 1910 zum erstenmal öffentlich lungspolitik des neuen Vorstands, der für die Som-
entluden. 77 mer·Ausstellung 1911 zwar eine Reihe von Werken
Paul Cassirers Einstellung zu den sogenannten französischer »Expressionisten« 84 (u. a. waren Werke
»Jungen« 78 innerhalb der Berliner Secession war von Braque und Picasso ausgestellt), aber keine
ambivalent; sein Umgang mit ihnen blieb daher einzige Arbeit der deutschen Expressionisten aus-
widersprüchlich. Einerseits gelang es ihm vielfach gewählt hatte, verlor die Berliner Secession endgül-
nicht, den neueren künstlerischen Bemühungen, tig ihre herausragende Bedeutung als Vereinigung
sich von der impressionistischen Forderung nach der künstlerischen Avantgarde in Deutschland.
realitätsgetreuer Wiedergabe der Objekte gemäß Die Ausstellungen der »Neuen Secession«, die
ihrer sinnlichen Erscheinungsweise in Licht und von den 1910 von der Secessionsjury zurückgewie-
Raum zu emanzipieren, dasselbe spontane Ver- senen Malern gegründet worden war, waren nicht
ständnis entgegenzubringen, das einst sein Engage- die einzigen Veranstaltungen, die bewiesen, daß die
ment für die Impressionisten so wirkungsvoll Künstler der jungen Generation in Deutschland
gemacht hatte: auch ohne die Unterstützung der Berliner Secession
Foren für sich zu schaffen in der Lage waren, die die
Meiner Ansicht nach ist die ganze Kunst der Nauen, Nolde
Aufmerksamkeit einer kunstinteressierten Öffent-
und wie sie alle heißen, Kunst, die auf den Düngerhaufen
gehört, lichkeit auf sich zogen. 85
Daß Paul Cassirer, der während der aktiven Amts-
schrieb Paul Cassirer im Februar 1910, 79 nachdem er zeit von Lovis Corinth zunächst mit den Angelegen-
für ein halbes Jahr von seiner Tätigkeit als Geschäfts- heiten der Berliner Secession nur noch wenig zu tun
führer und jurierendes Vorstandsmitglied der Berli- hatte, diese Entwicklung nicht nur schnell erkannte,
ner Secession beurlaubt worden war. 80 Andererseits sondern auch bereit war, ihr Rechnung zu tragen,
war sich Cassirer aber auch sehr genau darüber im wird deutlich an der Tatsache, daß er seinen Kunst-
klaren, daß die Berliner Secession in dem Moment
ihre Daseinsberechtigung verlieren würde, in dem
sie unter Berufung auf etablierte Kunstauffassungen 76 Paret: Die Berliner Secession, S. 225 ff.
versuchen würde, sich der Entwicklung neuer 77 Ebd., S. 299f.;
künstlerischer Ausdrucksformen reglementierend Doede: Die Berliner Secession, S. 37
78 Diese Bezeichnung benutzt Cassirer in einem Brief an
in den Weg zu stellen. 81 Ob ihn diese Einsicht
Maximilian Harden vom 2 2 . 1 2 . 1 9 1 0 (Bundesarchiv Koblenz,
allerdings dazu bewogen hätte, der Gefahr einer Nachlaß Maximilian Harden).
Spaltung, die sich infolge der Zurückweisung der 79 Brief an Leo von K ö n i g vom 1 0 . 2 . 1 9 1 0 ; zitiert nach
Einsendungen von 27 jüngeren Künstlern (darunter Doede: Die Berliner Secession, S . 6 6 A n m . 132
Heckel, Kirchner, Pechstein, Nolde und Schmidt- 8 0 Vgl. Paret: Die Berliner Secession, S. 300
Rottluff) für die Sommer-Ausstellung 1910 deutlich 81 Vgl. Doede: Die Berliner Secession, S . 6 6 A n m . 132
82 Einige der Künstler gründeten anläßlich der Zurückwei-
abzeichnete, 82 wirksam entgegenzutreten, ist eher
sung die »Neue Secession«, die im Mai 1910 ihre erste Ausstel-
zweifelhaft. lung mit den abgelehnten Werken eröffnete.
In dem Ausschlußverfahren gegen Emil Nolde im 83 Brief an Maximilian Harden vom 2 2 . 1 2 . 1 9 1 0 (Bundes-
archiv Koblenz, Nachlaß Maximilian Harden)
Dezember 1910, mit dem die Berliner Secession auf
84 Katalog der XXII. Ausstellung der Berliner Secession.
Noldes öffentliche Polemik gegen Max Liebermann 1911, V o r w o r t S . 11
reagierte, übernahm Paul Cassirer noch einmal 85 Paret: Die Berliner Secession, S . 3 0 9 f .
salon nun verstärkt auch für Künstler der jüngeren Frühjahr 1914 gegründeten) »Freien Secession«, der
Generation öffnete, die nicht in der und durch die neben den ausgetretenen Secessionsmitgliedern
Berliner Secession vertreten wurden. So stellte er nun auch jüngere Künstler wie Oskar Kokoschka,
bereits 1910 in seiner Galerie Gemälde von Oskar Ludwig Meidner und Max Oppenheimer angehör-
Kokoschka aus;86 1911 zeigte er Bilder von Max ten und an deren Ausstellungen sich viele expressio-
Pechstein und 1912 waren Arbeiten von Max nistische Maler beteiligten, besaß der Kunsthändler
Oppenheimer in seiner Galerie zu besichtigen. nur noch eine Ehrenmitgliedschaft und einen ent-
Nachdem Lovis Corinth im Dezember 1911 sprechend geringen Einfluß auf die Organisations-
einen Schlaganfall erlitten hatte und für die Leitung leitung.92 Angesichts des persönlichen Scheiterns,
der Secession infolgedessen mehrere Monate nicht als das Paul Cassirer sein Engagement für die
zur Verfügung stand, wurde Paul Cassirer wieder Secession empfand, 93 mag der »phantastische Er-
intensiver mit organisatorischen Aufgaben betraut. folg«94 der van Gogh-Ausstellung, die im Juni 1914
Aus den Aktivitäten, die er nun innerhalb der in der Galerie Cassirer gezeigt wurde, für ihn
Vereinigung entfaltete - so bemühte er sich z.B. insofern eine besondere Genugtuung gewesen sein,
erfolgreich um die Rückgewinnung Max Pechsteins als sein Ruf als Vermittler wichtiger Anregungen für
für die Sommer-Ausstellung 19 1 287 - sprach deut- die künstlerische Avantgarde in Deutschland dabei
lich die Entschlossenheit, eine grundlegende Er- noch einmal nachdrücklich in Erinnerung gerufen
neuerung innerhalb der Secession durchzusetzen. wurde.
Dieser Erneuerungskurs, der nicht nur die Öffnung
der Ausstellungspolitik gegenüber den neuesten
Entwicklungen in der Malerei, sondern auch eine 1.2.4 1 9 1 4 - 1 9 1 8 : Politisierung
kritischere Haltung gegenüber den künstlerischen und politische Umorientierung
Leistungen derjenigen Mitglieder vorsah, die der
impressionistischen Stilrichtung treu geblieben Als der Erste Weltkrieg ausbrach, stellte Paul Cassi-
waren, bedeutete für die Berliner Secession eine rer fast alle Aktivitäten auf dem Gebiet des Kunst-
schwere Belastungsprobe, unter der sie 1913 ausein- handels und Verlagswesens ein. Bereits einen Monat
anderbrach. nach Kriegsbeginn hatte er
unser früheres Leben ganz aus den Augen verloren und
Die Radikalität, mit der Paul Cassirer nach seiner
beinahe vergessen, daß es noch Kunst gibt. Vergessen nun
Wahl zum 1. Vorsitzenden im Dezember 1912 die freilich nicht, wir fühlen, daß da etwas schlummert, was uns
Vereinspolitik in die neue Richtung lenkte, trug beinahe noch mehr bedeutet als das Leben, das jetzt um uns
ihm zusätzlich zu dem nach wie vor vorhandenen
Mißtrauen einiger jüngerer Secessionsmitglieder88
nun auch die Gegnerschaft derjenigen Künstler ein, 86 Maßgeblichen Anteil am Zustandekommen dieser ersten
Ausstellung Kokoschkas in Deutschland hatte Herwarth Wai-
die von Cassirers Devise, daß die Secession »für ihre
den, der den Künstler durch die Vermittlung von Adolf Loos und
Mitglieder keine Existenzsicherung, sondern eine Karl Kraus kennengelernt hatte und sich seit 1910 nachdrücklich
Existenzgefährdung« sei - »denn sie macht die für ihn einsetzte. Über Kokoschkas frühe Kontakte zu Paul
Kräfte der Kommenden immer wieder mobil« -, 89 Cassirer und über Cassirers zurückhaltend-wohlwollende Beur-
zu Recht befürchten mußten, mit ihren Arbeiten teilung seiner Arbeiten vgl. Schweiger: Der junge Kokoschka,
S. 125f., 157ff.; Kokoschka: Briefe I, z.B. S.81, 86f., 157
zukünftig weniger Beachtung zu finden.
87 Katalog der XXIV. Ausstellung der Berliner Secession.
Die von Cassirer organisierte Sommer-Ausstel- 1912, Nr. 194-196
lung 1913 verhalf der Secession dank der Reichhal- 88 Vgl. Doede: Die Berliner Secession, S.48, 67 Anm. 137
tigkeit und Qualität der ausgestellten Werke - 89 Katalog der XXVI. Ausstellung der Berliner Secession.
1913, VorwortS. 10
neben einer Reihe bedeutender Gemälde aus dem
90 Ausgestellt waren z.B. Werke von Max Oppenheimer,
Ausland, darunter dem »Reigen« von Matisse, und Hans Purrmann, Oskar Kokoschka, Karl Schmidt-Rottluff, Max
den Arbeiten vieler Secessionsmitglieder wurden Pechstein, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel. Vgl.
jetzt auch Gemälde der künstlerischen Avantgarde Doede: Die Berliner Secession, S.47; Paret: Die Berliner Seces-
in Deutschland gezeigt90 - zu einem letzten großen sion, S. 315 f.
91 Ebd., S. 329
Erfolg. Zugleich führte sie aber auch zur offenen
92 Ebd., S. 330
Rebellion von dreizehn refüsierten Mitgliedern,91 93 Vgl. die im Text weiter unten wiedergegebene Stelle aus
die mit dem Austritt der Mehrheit der Mitglieder einem Brief Cassirers an Max Slevogt vom 24.7.1918
(darunter Liebermann, Cassirer, Slevogt, Gaul und (Anm. 120)
Barlach) aus der Vereinigung endete. 94 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 4.7.1914
(Neukastel, Nachlaß Max Slevogt); Vgl. auch die anerkennende
Damit war Paul Cassirers aktive Rolle als Organi- Kritik der Ausstellung von Karl Scheffler in: Kunst und Künstler
sator einer Künstlervereinigung beendet. In der (im 12(1913/1914), S.555f.
herum ist und uns jetzt so erfaßt hat, daß wir ein Teil dieser In der Begeisterung über die Realität gewordene
großen Masse geworden sind. 9 5
Einheit zwischen den eigenen Bestrebungen und
Die jähe Unterbrechung seiner beruflichen Tätig- denjenigen der großen Masse des Volkes, die Julius
keit wurde nicht nur durch äußere Umstände Meier-Graefe stellvertretend für viele Künstler in
erzwungen - die Störung der internationalen seinem Beitrag für die erste Nummer der Kriegszeit
Geschäftsbeziehungen führte zu einer prekären formulierte,98 erschien es keineswegs problema-
Finanzlage sondern war vor allem dadurch tisch, daß diese Einheit mit etwas erkauft wurde,
bedingt, daß er sich mit der seinem Temperament wogegen sich die - gegen die offizielle Kunstpolitik
eigenen Einsatzbereitschaft zur Meldung als Kriegs- des Kaiserreichs opponierende - Künstlerschaft
freiwilliger entschloß. Wie so viele Intellektuelle jahrelang zur Wehr gesetzt hatte: mit der Bereit-
seiner Zeit war Paul Cassirer, der vor dem Kriege bei schaft nämlich, die eigene künstlerische Arbeit in
einer insgesamt wohl von liberal-demokratischen den Dienst einer nationalistischen Propaganda zu
Vorstellungen geprägten politischen Einstellung stellen. Die Beiträge der zahlreichen Mitarbeiter der
den tagespolitischen Ereignissen wenig Aufmerk- Kriegszeit, die meisten von ihnen Mitglieder der
samkeit und noch weniger kritische Reflexion »Freien Secession« (besonders häufig vertreten
gewidmet hatte,96 im August 1914 davon überzeugt, waren Max Liebermann, August Gaul, Otto Hettner
daß der Krieg zur Verteidigung der nationalen und Ernst Barlach),99 fielen allerdings hinsichtlich
Unabhängigkeit und Kultur Deutschlands gegen der Deutlichkeit, mit der sich die nationalistische
die Machtansprüche des feindlichen Auslands, ins- Intention als bildbestimmend erwies, sehr unter-
besondere des russischen Despotismus<, notwendig schiedlich aus: Während die einen regierungsamt-
und berechtigt sei.
Auch mit seinem Verlag wollte Paul Cassirer
einen Beitrag zur Unterstützung des nationalen 95 Brief an Max Slevogt vom 2 . 9 . 1 9 1 4 (Neukastel, Nachlaß
Anliegens leisten. Noch bevor er als Meldefahrer an Max Slevogt)
9 6 Diese Einschätzung stützt sich auf die Beschreibung von
die Westfront ging, gründete er die Zeitschrift
Herzog: Menschen, S. 4 6 5 , der die Atmosphäre im Verlag und im
Kriegszeit, deren Charakter mit dem Untertitel Kunstsalon folgendermaßen charakterisiert: »Es war ein
Künstlerflugblätter treffend gefaßt ist. Bei dieser geschäftliches Milieu ohne geschäftlichen Anstrich. Ein buntes
Zeitschrift handelte es sich um ein wöchentlich Durcheinander von ästhetischen, literarischen und kunstkriti-
schen Meinungen, die oft einander befehdeten. Probleme der
erscheinendes Doppelblatt, das auf billigem Papier
Politik und der Wirtschaft wurden selten berührt.« Auch Tilla
und zu einem niedrigen Preis neue lithographische Durieux betont in ihren Memoiren (Meine ersten neunzig Jahre,
Arbeiten zum Thema Krieg veröffentlichte.97 Wie S. 1 9 0 f. und 2 1 0 ff.) die politische Naivität, mit der Paul Cassirer
um den Verdacht, der Verlag versuche angesichts und sie selbst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die
einer Situation der nationalen Bedrohung aus der Veränderungen der politischen Lage registrierten.
Stimmung des Augenblicks für sich Kapital zu 97 Verzeichnis der in der »Kriegszeit« veröffentlichten Litho-
graphien in: (Ausst. Kat. Bremen 1968) Ernst Barlach,
schlagen, von vornherein zu widerlegen, enthielt der
S. 1 4 9 - 1 6 7
Titel der Normalausgabe den Zusatz: »Der Ertrag ist 9 8 Julius Meier-Graefe in: Kriegszeit, Künstlerflugblätter.
für gemeinnützige Zwecke bestimmt!« Berlin: Paul Cassirer, Nr. 1 ( 3 1 . 8 . 1 9 1 4 ) S . 4 : »Der Krieg beschert
uns. W i r sind anders als gestern. Der Streit um W o r t e und
Max Liebermanns Lithographie auf der Titelseite
Programme ist zu Ende. W i r kämpften gegen Windmühlen.
der ersten Nummer, die am 31. August 1914 er- Manchem war die Kunst ein Zeitvertreib. W i r hatten Farben,
schien, kann in gewisser Hinsicht als programma- Linien, Bilder, Luxus. W i r hatten Theorien. W a s uns fehlte, der
tisch für die Tendenz der Kriegszeit angesehen Inhalt, das, Brüder, gibt uns die Zeit. Sein wir ihrer würdig. Keine
werden. Die Darstellung der vor dem Berliner gemähliche Hingabe mehr! Aus Feuerschlünden, aus Not und
Blut, aus Liebe und heiligem Haß wird uns Erlebnis. W e h e dem
Schloß versammelten und der Ansprache des Kai- Künstler, der heute nicht erlebt! Brüder, zeigen wir den Verleum-
sers lauschenden Menschen, deren Gestalten unter dern, die unsere Waffen kosten, ob wir im Recht, ob wir Barbaren
Auslöschung jeglicher individuellen Züge zu einer sind. Die Macht wird von den Waffen erwiesen, das Recht v o m
dunklen homogenen Masse verschmelzen, sollte Geiste. Der Geist, der unsere Ehre entflammt, beschwinge des
Künstlers Auge. Einheit gab uns der Krieg. Alle Parteien gehen
verdeutlichen, daß die Parole des Kaisers: »Ich
mit zum Ziel. Die Kunst folge.«
kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch
9 9 Ernst Barlach erklärte sich nur widerwillig zur Mitarbeit
Deutsche« (dies ist die Unterschrift der Lithogra- bereit. W i e seine Eintragungen im »Güstrower Tagebuch« (in:
phie) nicht einen von oben erzwungenen, sondern Barlach: Prosa II, S.27) erkennen lassen, richteten sich seine
einen von den Untertanen aus freien Stücken Bedenken nicht gegen die politische Intention der »Kriegszeit«,
eingegangenen Burgfrieden zwischen den verschie- sondern gegen die Auffassung, man könne mit künstlerischer
Arbeit für die nationale Sache kämpfen. Vgl. auch den Brief
denen gesellschaftlichen Klassen, Parteien und Barlachs an Arthur Moeller von den Bruck vom 9 . 3 . 1 9 1 5 , in:
Interessensgruppen meinte. Barlach: Briefe I, S . 4 3 9
liehe Interpretationen und Rechtfertigungen des Bemerkenswert in dem Einführungstext ist die
Kriegsgeschehens regelrecht illustrierten, Szenen für eine Publikation des Paul Cassirer Verlags neue
des Krieges aus der distanzierten, quasi strategisch Betonung einer auf demokratische Massenwirksam-
orientierten Sicht des Schlachtenbeobachters wie- keit zielenden verlegerischen Intention, die auch im
dergaben oder soldatische Tugenden wie Standfe- Untertitel der Zeitschrift »Steinzeichnungen fürs
stigkeit und Opferbereitschaft in symbolischen deutsche Volk« hervorgehoben wird. Hierin verrät
Darstellungen heroisierten, stellten andere den sich deutlich der Einfluß Leo Kestenbergs, der
Kriegsalltag nüchtern-realistisch aus der Perspek- bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in
tive der von Zerstörung und Not betroffenen Men- der Arbeiterbildung aktiv gewesen war.106
schen dar. Paul Cassirer und Leo Kestenberg hoffen offen-
Da Paul Cassirer während der Erscheinungszeit bar, durch die Veröffentlichung künstlerisch quali-
der Kriegszeit die meiste Zeit an der Front zubrach- tätsvoller Lithographien, die die Stimmung der Zeit
te, war er an der redaktionellen Arbeit, d.h. der aus je individueller Sicht und in vielfacher Brechung
Auswahl, Zusammenstellung und Kommentierung reflektieren sollten, eine in weiten Kreisen der
der eingereichten Arbeiten, die in den Händen des Bevölkerung ansatzweise vorhandene Haltung der
Mitherausgebers Alfred Gold lag, wohl kaum betei- Nachdenklichkeit und der Besinnung auf lebensbe-
ligt. jahende, humane Werte zu unterstützen und zu
Unter dem Eindruck des Kriegsalltags an der verbreiten und so zu einem Klima der Verständi-
Front mit seinen »Erschütterungen, Sonderbarkei- gungsbereitschaft zwischen denverfeindeten Natio-
ten und Kostbarkeiten« 100 und angesichts des realen nen beizutragen. Die Motive der im Bildermann
Kriegsverlaufs, der alle Illusionen über ein rasches, veröffentlichten Arbeiten - neben Lithographien
siegreiches Ende blutig widerlegte, wich die anfäng- von Slevogt, Liebermann, Gaul und Barlach zeigte
liche Kriegsbegeisterung, die Paul Cassirer mit die Zeitschrift auch expressionistische Graphik von
vielen Deutschen geteilt hatte, 101 im Laufe des Kirchner, Heckel u. a. - waren vielseitig: Darstellun-
Jahres 1915 zwiespältigeren Gefühlen. 102 Die verän- gen von friedlichen Szenen aus dem Alltagsleben
derte Einstellung des Verlegers zum Zeitgeschehen und von Landschaften gehörten ebenso dazu wie
wirkte sich aus in der Gründung einer neuen symbolische und karikierende Darstellungen des
Zeitschrift, dem Bildermann, der ab April 1916 an Zeitgeistes. 107 Ende des Jahres 1916 mußten sich
die Stelle der Kriegszeit trat. 103 An der Konzeption Paul Cassirer und Leo Kestenberg eingestehen, daß
des Bildermann, mit der Paul Cassirer nach seiner ihre Erwartung, mit dem Bildermann auf eine
Entlassung aus dem Wehrdienst Anfang 1916 spontane, breite Resonanz zu stoßen, auf einer
begann, beteiligte er den als Pazifisten bekannten idealistischen Verkennung der Situation basiert
Pianisten und Musikkritiker Leo Kestenberg, dem hatte, in der sich die mit den Notwendigkeiten des
er - unter Vorbehalt eines Mitspracherechts - die täglichen Überlebens kämpfende Bevölkerung be-
Redaktion übertrug. 104 fand:
Auch wenn der zur Werbung für die neue
Zeitschrift entworfene Text »Zur Einführung«, 105
dessen Formulierungen wohl mit Blick auf die 1 0 0 Siehe den Bericht über Paul Cassirers Kriegserlebnisse
von Ernst Barlach, Güstrower Tagebuch, Eintragung vom 2 3 . 7 .
Zensur besonders vorsichtig gewählt waren, kein
1915, in: Prosa II, S . 2 6 2
Dokument einer entschlossenen Kriegsgegner- 101 Diese Haltung wurde Paul Cassirer in den folgenden
schaft darstellt, sind pazifistische Tendenzen er- Jahren häufig zum Vorwurf gemacht. Vgl. Rene Schickele,
kennbar. Die »kriegerische Gegenwart, der wir uns Tagebucheintragung v o m 1 5 . 2 . 1 9 1 8 (in: Schickele: W e r k e in
nicht entziehen werden«, wird ohne die vormaligen drei Bänden. Bd. 3, S. 1024): .Auf der Straße traf ich Hardekopf...
Sein grotesker Deutschenhaß ist sich gleich geblieben; er macht
idealistischen Verklärungen (siehe Julius Meier-
überall, wie er sich brüstete, Cassirer schlecht wegen des >furor
Graefes Beitrag in der ersten Nummer der Kriegs- teutonicus<, den der zu Beginn des Krieges affichierte.«
zeit) als eine Zeit des »Schreckens«, der »Schicksals- 102 Paret: Die Berliner Secession, S. 3 4 3
schläge und Mühsale« charakterisiert und es wird 103 Verzeichnis der Lithographien im »Bildermann« in:
eine im Volk wachsende »Sehnsucht nach Schön- (Ausst. Kat. Bremen 1968) Ernst Barlach, S. 1 6 8 - 1 7 4
104 Kestenberg: Bewegte Zeiten, S . 3 5 f.;
heit und Innerlichkeit«, »nach Reinem, Höherem«
Paret: Die Berliner Secession, S. 3 4 4
und der »schöneren Zukunft« sowie eine dadurch 105 Paul Cassirer und Leo Kestenberg: Z u r Einführung!
bedingte Aufnahmebereitschaft für künstlerische In: Der Bildermann, Nr. 1 ( 5 . 4 . 1 9 1 6 ) ; abgedruckt in: Paret: Die
Schöpfungen angesprochen, der man mit den Bei- Berliner Secession, S. 3 4 5
trägen des Bildermann Rechnung zu tragen ge- 1 0 6 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 111 f.
107 Ausführlicher zu diesem T h e m a : Paret: Die Berliner
denke.
Secession, S. 3 4 4 ff.
D e r Gedanke, die K u n s t unserer Zeit durch ein vornehmes für den Verlag gewonnen werden konnten: Oskar
künstlerisches Mittel, den Steindruck, weiten Kreisen unseres
Kokoschka {Hiob, 1917; Vier Dramen, 1919), Bruno
Volkes zu vermitteln, hat uns bei der Gründung unserer
Zeitschrift geleitet. Die Zeitumstände führen zu der Erkennt- Schönlank (In diesen Nächten, 1917) und Adolf von
nis, daß die Ausführung dieses Gedankens heute auf unüber- Hatzfeld {Franziskus, 1918).
windliche Schwierigkeiten stößt. W i r müssen uns entschlie- Die politische Tendenz der Aktivitäten, die Paul
ßen, den Plan zu vertagen, bis wieder die W e g e gangbar sind,
Cassirer nach seiner offiziellen Entlassung aus dem
die das arbeitende V o l k zu friedlichen künstlerischen Bestre-
bungen f ü h r e n . 1 0 8 Militärdienst Anfang 1916 entfaltete - u.a. gehörte
dazu auch die Veranstaltung literarischer Abende in
Da nur wenige Abonnenten für den Bildermann seiner Galerie, an denen pazifistische Texte vorge-
gewonnen werden konnten, wurde das Erscheinen tragen wurden114 - erregte die ständige Aufmerk-
der Zeitschrift, deren pazifistische Tendenz im samkeit der preußischen Behörden, die mehrfach
Laufe des Jahres immer deutlicher geworden war, im mit neuen Einberufungsbefehlen reagierten.115 Um
Dezember 1916 eingestellt. Das Titelblatt der letz- sich der bleibenden Gefahr weiterer »Willkürakte«
ten Ausgaben vom 20. Dezember 1916 zeigte Bar- der Obrigkeit 116 zu entziehen, entschloß sich Paul
lachs Lithographie: »Dona nobis pacem«. Cassirer Mitte 1917, für einige Zeit als Mitarbeiter
Nach dem Ende des Bildermann begann sich von Harry Graf Kessler in die Schweiz zu gehen.
Paul Cassirer mit verstärktem Einsatz um seinen Kessler, der sich seit 1916 im Auftrag des Auswär-
Verlag zu kümmern, der im Unterschied zu der tigen Amtes in Bern aufhielt, um - laut offizieller
während des Krieges kontinuierlich weitergeführ- Interpretation - die deutsche Kulturpropaganda zu
ten Kunsthandlung 109 völlig wiederaufgebaut wer- organisieren, sollte geheimdiplomatische Verhand-
den mußte. Bereits 1916 hatte er Leo Kestenberg lungen mit Frankreich über mögliche Friedensbe-
damit beauftragt, im Zusammenhang mit der redak-
tionellen Arbeit am Bildermann zu versuchen, neue
Autoren für den eigenen Verlag zu gewinnen. Ende
1916 war es Cassirer gelungen, Walter Hasenclever, 108 Schlußwort in der letzten Ausgabe des »Bildermann«,
Nr. 18, ( 2 0 . 1 2 . 1 9 1 6 ) ; die Mitteilung ist unterzeichnet mit: »Ver-
zuvor Autor des Kurt Wolff Verlages, dem seit
lag und Redaktion des >Bildermann·«.
Anfang 1916 auch Heinrich Mann angehörte,110 109 Auch Ausstellungen kamen in dieser Zeit zustande, so
unter Vertrag zu nehmen. Walter Hasenclever, z.B. eine Ausstellung von Werken Slevogts im Dezember
dessen pazifistische Gedichte Jaures' Tod, Jaures' 1915.
Auferstehung im Bildermann veröffentlicht worden 1 1 0 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Heinrich Mann und
Kurt Wolff; abgedruckt in: Wolff, Briefwechsel, S.222ff. Im
waren,111 sollte mit seinem Werk einen Schwer-
Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Übernahme
punkt in der literarischen Abteilung des Verlages der W e r k e Heinrich Manns aus dem Paul Cassirer Verlag in den
bilden.112 Als erste seiner Veröffentlichungen im Kurt Wolff Verlag ging auf W u n s c h Cassirers der größte
neuen Verlag erschien 1917 die Tragödie Antigone, Bestandteil seines damaligen Verlags an Wolff über. Vgl. Göbel:
Bibliographie des Kurt Wolff Verlages, Sp. 1 3 3 3
eine expressionistische Aktualisierung des antiken
111 Nr. 1 4 ( 2 0 . 1 0 . 1 9 1 6 ) , Beilage
Stoffes, die die Ideale des Pazifismus und der
112 Vgl. Brief von Walter Hasenclever an Kurt Wolff vom
Menschheitsverbrüderung in den Vordergrund 6 . 1 1 . 1 9 1 6 ; abgedruckt in: Wolff, Briefwechsel, S . 2 4 8 . Cassirers
rückte. Angebot an Hasenclever, in seinem Verlag eine von ihm
eigenverantwortlich geleitete Zeitschrift herauszugeben, könnte
Im März 1917 forderte Paul Cassirer Ernst Bar- möglicherweise mit der geplanten Fortsetzung des »Bildermann«
lach auf, dem Verlag ein neues Manuskript einzu- im Zusammenhang gestanden haben, die in der Verlagsmittei-
senden,113 und bekundete so seine Entschlossen- lung der letzten Ausgabe (vgl. A n m . 108) angekündigt worden
war.
heit, sich nicht nur als Kunsthändler, sondern auch
113 Vgl. Barlach: Briefe I, S. 5 0 6
als Verleger weiterhin für das Werk des Künstlers
114 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S . 2 3 3 f . ; Kollwitz:
einzusetzen. Barlach sandte daraufhin sein bereits Ich will wirken, S.67 f
vor Kriegsausbruch fertiggestelltes Drama Der arme 115 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S . 2 3 4 , 248. Die
Vetter nach Berlin, das der Verlag Anfang 1919 als Angaben sind ungenau: Paul Cassirers Einberufung nach Rathe-
Vorzugsausgabe mit lithographierten Illustrationen now ( S . 2 3 4 ) ereignete sich im S o m m e r 1917, wie aus einem Brief
Paul Cassirers an Max Slevogt (vgl. A n m . 116) hervorgeht.
des Künstlers herausbrachte. Sämtliche Dramen
1 1 6 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 7 . 6 . 1 9 1 7 ,
Barlachs, die in den folgenden Jahren entstanden, Rathenow, Lazarett (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt): »Von
erschienen im Paul Cassirer Verlag. meinem tragikomischen Geschick werden Sie wohl schon gehört
haben; ich nahm es mit gutem Humor, als man mich mit einem
Daß sich die Wahl der beiden genannten Autoren
Schutzmann durch die Straßen von Berlin transportierte. Schade,
einer bewußten Ausrichtung des neuen Verlags- daß die Russen diese Willkürakte so gut in ihren Romanen
programms auf expressionistische Dichtung ver- beschrieben haben, daß unsereinen selbst die Merkwürdigkeit
dankte, bestätigen die Namen weiterer Autoren, die von sich selbst nicht mehr erwähnenswert scheint.«
dingungen führen und wollte sich dabei Paul Cassi- Autoren gewinnen: den alten Freund und ehemali-
rers Verbindungen nach Paris zunutze machen. 117 gen Verlagsautoren Rene Schickele, 121 Else Lasker-
Immer neue Schwierigkeiten mit den preußi- Schüler, von deren Werken eine Gesamtausgabe
schen Behörden bewegten Cassirer gegen Ende des erstellt werden sollte (erschienen 1919) 1 2 2 und Kasi-
Jahres 1917 zu der Entscheidung, auf unbestimmte mir Edschmid. 123
Zeit in der Schweiz zu bleiben, wo er dann bis zum Daß die vielfältigen Kontakte zu pazifistisch und
Kriegsende lebte. Die Führung der Kunsthandlung sozialistisch orientierten Literaten, Musikern und
ließ Cassirer in den Händen seines neuen Geschäfts- Verlegern 124 bei Cassirer ein zunehmendes Interesse
partners Leo Blumenreich 118 und des Kunsthistori- für politische Zusammenhänge und Fragestellun-
ker Viktor Wallerstein, die Verlagsleitung in den gen wachriefen, dokumentiert sein Aufsatz Krieg
Händen Leo Kestenbergs zurück. undKunst( 1918), in dem er mit neuem, geschärftem
Auch unter den neuen Bedingungen, d.h. der politischen Bewußtsein darlegt, daß der Verweis auf
räumlichen Distanz zu Berlin und dem einge- die Leistungen einer Nation auf kulturellem Gebiet
schränkten eigenen Aktionsradius, ließ Cassirers nicht das Geringste über die moralische Legitimität
persönliches Engagement für seinen Verlag und
seine Kunsthandlung nicht nach. In der Kunst-
117 Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S.252, 259f.
handlung setzte er sich, soweit dies aus der Ferne
118 Ebd., S. 249
möglich war, weiterhin für die Verwirklichung 119 Ende 1916 hatte Paul Cassirer Kokoschka unter Zusiche-
seines Konzeptes ein, durch die ausgewogene Prä- rung einer nach Ansicht des Künstlers »sehr hohen Pauschal-
sentation von Werken jüngerer Künstler wie Oskar summe« unter Vertrag genommen.
Vgl. den Brief Kokoschkas an Kurt Wolff vom 2 1 . 1 1 . 1 9 1 7 in:
Kokoschka, Ludwig Meidner, Hans Purrmann 119
Wolff: Briefwechsel, S. 196
u.a. und Arbeiten der nach wie vor von ihm Vgl. auch die Briefe Kokoschkas vom 9 . 5 . 1 9 1 6 , vom 2 2 . 1 0 . 1 9 1 6
besonders geschätzten führenden Mitglieder der und vom 2 3 . 1 0 . 1 9 1 6 in: Kokoschka: Briefe I, S.247, 255 f.;
Berliner Secession Max Liebermann, Max Slevogt, Schweiger: Der junge Kokoschka, S. 159.
August Gaul und Ernst Barlach auf eine wechselsei- Während Paul Cassirer vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber
Kokoschkas Arbeiten eine insgesamt wohlwollende, zugleich
tige produktive Bereicherung im Schaffen der jün-
aber auch abwertend-distanzierte Haltung eingenommen hatte
geren expressionistischen und der älteren impres- (vgl. Anm.86), entwickelte er seit 1916 ein ernsthaftes Interesse
sionistischen Künstlergeneration hinzuwirken. In an dem Künstler und seinen Arbeiten. Diese geht u.a. auch aus
diesem Sinne schrieb Cassirer im Juli 1918 an Max einem Brief Paul Cassirers an Max Slevogt vom 2 4 . 7 . 1 9 1 8
Slevogt: (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt) hervor, in dem er über
Kokoschka schreibt:
Mein Haus hat sich in der letzten Zeit sehr stark mit jüngeren »Vor acht Jahren bäumte er sich gegen Sie auf, heute sucht er Sie
Künstlern beschäftigt, wie Kokoschka, Purrmann, Meidner. und bewundert Sie. Als er in seiner Wildheit, in seiner Ablösung
Meine Grundidee dabei ist aber nicht etwa, daß nun eine von der Tradition zu hässlichem Urteil und, was schlimmer war,
Generation durch die andere abgelöst werden soll oder daß die zu unernsthaften Werken kam, habe ich mich von ihm getrennt,
Kluft zwischen der einen und der anderen Generation verbrei- und wir haben uns erst wiedergefunden, nachdem er als ein ganz
tert werden soll, sondern meine Grundidee strebt gerade nach Anderer aus dem Krieg zurückgekommen ist.«
dem Umgekehrten. Sie kennen ja meine Bestrebungen in der Ende 1917 bot Paul Cassirer auch Ludwig Meidner einen Vertrag
Sezession, die leider scheiterten. Ich glaube, daß die jüngere sowie die Organisation einer umfassenden Ausstellung an, die im
Kunst nicht an Mangel an Talent leidet, daß sie etwa falschen Januar 1918 stattfand und großes Interesse erweckte. Vgl.
Theorien huldigt, sondern ich glaube, daß sie daran leidet, daß Grochowiak: Ludwig Meidner, S. 115, 148
der Bruch mit der Tradition der vorhergehenden Generation 120 Brief an Max Slevogt vom 2 4 . 7 . 1 9 1 8 (Neukastel, Nachlaß
zu krass ist. Ich sehe in Kokoschkas und in Purrmanns Max Slevogt)
Bemühungen nur eine Weiterbildung Ihres Strebens, eine 121 Vgl. Schickele: Werke in drei Bänden, Bd.3, S.1021
Variation, um mich so auszudrücken, und nicht einen Bruch. (Tagebucheintragung vom 30.01.1918);
Ich glaube, daß die neue Generation vor der Sensationslust und Wolff, Briefwechsel, S. 204 f.
vor dem Trachten nach dem Unerhörten, zu dem sie durch 122 Vgl. Schickele: Werke in drei Bänden, Bd.3, S . 1 0 2 4
eine Horde von Kunstschriftstellern und ungebildeten Ama- (Tagebucheintragung vom 15.2.1918)
teuren gereizt wird, nur dadurch bewahrt werden kann, daß Zum Verhältnis Paul Cassirers zu Else Lasker-Schüler:
ihre Besten den Anschluß an die vorhergehende Generation Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S. 145;
finden. Ich glaube auch, daß die Generation, die mit mir Fischer: Dienstboten, S. 133 ff.;
aufgewachsen ist, nicht in die Opposition gedrängt werden Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S.38 ff, 157 ff.
darf gegen die Jüngeren, weil Bitterkeit und prinzipielles 123 Edschmid: Lebendiger Expressionismus, S. 218 f.
Ableugnen der heutigen Gesinnung nicht anregend wirken 124 Zum Kreis der neuen Bekannten gehörte der Schweizer
kann auf den Künstler von 50 Jahren, der nur seine Frische Verleger Max Rascher, Inhaber des Rascher Verlages in Zürich, in
erhalten wird in der Treue zu seiner eigenen Vergangenheit dem die Zeitschrift »Die weißen Blätter« verlegt wurde. Zusam-
und in der Liebe zur Zukunft seiner Nachfolger. 120 men mit Rascher gründete Paul Cassirer den Zweigverlag
Rascher & Co., um Werke pazifistischer Schriftsteller, die in
Für seinen Verlag konnte Paul Cassirer während Deutschland verboten waren, verlegen zu können. Vgl. Durieux:
seines Aufenthaltes in der Schweiz drei weitere Meine ersten neunzigjahre, S. 263 f.
der aktuellen Politik einer Nation auszusagen ver- der Verlag ausgewählte Texte zum Thema Sozialis-
möge: mus von Heinrich Heine, Robert Owen, Saint-
Deutschlands Feinde behaupten, unsere Politik, unsere Krieg-
Simon, Karl Marx u.a. vor.130
führung, unser Machthunger stempelten uns zu Barbaren. Das Die Tore stehen offen. Hunderttausende sind auf dem Marsch.
können wir nur mit Zeugnissen über unsere Politik und unsere Wer führt?
Kriegführung und unseren Machthunger widerlegen... der Der Geist des Sozialismus. Dieser Geist aber fordert, daß man
Staat soll nicht meinen, daß man mit Kunst - Kriege machen sich ihm hingibt, sich in ihn versenkt. Das Wissen um ihn
kann. Mit Kunst kann man nichts machen als Kunst, nicht fordert Vertiefung, seine Lehren fordern Verbreitung. Bis zum
einmal Krieg, nicht einmal Frieden.. , 1 2 5 9. November 1918 war alles Theorie. Jetzt ist praktische Wis-
senschaft, was an sozialistischen Bekenntnissen und Erkennt-
Mit diesen Formulierungen kritisierte Cassirer nissen niedergelegt worden ist und wird. Der Verlag Paul
natürlich nicht zuletzt ehemalige eigene Vorstellun- Cassirer folgt von jeher dem geistigen Gebot der Zeit. Er bringt
gen über die propagandistische Nutzbarkeit von heute sozialistische Schriften zur Revolution, die zu allen
sprechen, weil sie für alle geschrieben sind... Wer führt?
Kunst für politische Ziele, wie sie der Konzeption Der Wille zur friedlichen Durchdringung. Die geistige Revo-
der Kriegszeit und in anderer Weise auch dem lution bedarf ihrer Garde. Wir lassen die Armee des sozialisti-
Bildermann zugrunde gelegen hatten. schen Geistes marschieren. Bannerträger sind wir alle, die
nicht die Geister mit Gewalt erobern und Zwingburgen
aufrichten wollen gleich denen, die am 9. November gefallen
sind...
1.2.5 1 9 1 8 - 1 9 2 6 : Wiederaufnahme der
Tätigkeit im Kunsthandel und
Verlagswesen unter den veränderten
Bedingungen der Weimarer Republik 125 Paul Cassirer: Krieg und Kunst, S. 155-159
126 Kessler: Tagebücher, S.26, 29, 77f., 84f., 106, 155, 175
Aus der Erkenntnis, daß durch Aktivitäten auf 127 A m 9.12.1917 schreibt Gustav Landauer in einem Brief
kulturellem Gebiet wohl kaum, durch politisches an Georg Springer (abgedruckt in: Landauer, Sein Lebensgang in
seinen Briefen, Bd. 2, S. 199):
Engagement hingegen durchaus ein wirksamer Bei-
»Von Kestenberg hatte ich gestern ein Telegramm, worin er mir
trag zu einer grundlegenden Veränderung der Ziel- die Ubersendung des Entwurfs eines Vertrags mit Cassirer
setzungen deutscher Außen- und Innenpolitik zu ankündigt. Es wäre mir sehr recht, wenn da etwas zustande käme,
leisten sei, zog Paul Cassirer persönliche Konse- und es wird leicht sein, wenn Cassirer sich für den ganzen
quenzen: Er wurde Mitglied der USPD und betei- Schriftsteller Landauer, besonders den Sozialisten interessiert.«
Vgl. auch den Brief an Leo Kestenberg vom 13.12.1917 (ebd.,
ligte sich nach seiner Rückkehr nach Berlin im
S. 201 f.), in dem sich Landauer ausführlich über die geplante
November 1918 aktiv am politischen Leben der Veröffentlichung mehrerer Schriften im Paul Cassirer Verlag
neuen Republik. Harry Graf Kessler berichtet in äußert.
seinen Tagebucheintragungen aus den Monaten 128 Schickele: Werke in drei Bänden, Bd. 3, S.1019 (Tage-
nach der Revolution in Berlin mehrfach von priva- bucheintragung vom 17.1.1918):
»Kautsky leidet sehr darunter, daß er aus der >Neuen Zeit«
ten politischen Zusammenkünften, bei denen Paul
herausgeworfen worden ist. Kestenberg unterhandelt mit ihm
Cassirer zusammen mit führenden Mitgliedern der wegen eines Buches für den Verlag Paul Cassirer. Rosa Luxem-
USPD wie Rudolf Breitscheid, Hugo Simon und burg übersetzt für ihn Korolenko.«
Rudolf Hilferding sowohl über die Einschätzung der Karl Kautsky veröffentlichte bei Paul Cassirer:
aktuellen Ereignisse als auch über allgemeine politi- Habsburgs Glück und Ende. 1918;
Demokratie oder Diktatur. 1919;
sche Konzepte und Strategien diskutierte.126
Wie der Weltkrieg entstand, dargestellt nach dem Aktenmaterial
Auch die Aufnahme einer Reihe von Schriften des Deutschen Auswärtigen Amtes. 1919;
sozialdemokratischer und sozialistischer Theoreti- Sozialisierung der Landwirtschaft. 1919.
Zu Rosa Luxemburgs Ubersetzung von Wladimir Korolenko:
ker in das Programm seines Verlages bezeugt die
Die Geschichte meines Zeitgenossen (1919 im Paul Cassirer
Wichtigkeit, die Paul Cassirer 1918 der Beschäfti- Verlag veröffentlicht) vgl. Hirsch: Rosa Luxemburg, S. 111.
gung mit politischen Themen beimaß. Bereits Ende Aus den Briefen Rosa Luxemburgs an Luise Kautsky (zitiert ebd.)
1917 hatte Leo Kestenberg Gustav Landauer als geht hervor, daß Rosa Luxemburg schon Anfang 1917 mit Leo
Verlagsautor gewonnen,127 dessen Aufruf zum Kestenberg wegen der Ubersetzung verhandelte.
129 Von Eduard Bernsteins Schriften erschienen im Paul
Sozialismus 1919 neu veröffentlicht wurde. Ab 1918
Cassirer Verlag:
gehörte Karl Kautsky128 ebenso wie Eduard Bern- Völkerbund oder Staatenbund. 1918;
stein zu den politischen Schriftstellern des Verlages. Völkerrecht und Völkerpolitik, Wesen, Fragen und Zukunft des
Bernstein veröffentlichte nicht nur eigene Schrif- Völkerrechts. 1919;
ten,129 sondern gab auch eine zwölfbändige Gesamt- Ferdinand Lassalle, Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers.
1919
ausgabe von Ferdinand Lasalle heraus, die 1919
130 Fischer: Dienstboten, S. 184f.; Loehneysen: Paul Cassi-
erschien. In der Reihe Wege zum Sozialismus stellte rer, S. 172
Diese enthusiastischen Zeilen aus einem Verlags- tiert er mit dem positiven Gegenentwurf eines
prospekt, der Anfang 1919 veröffentlicht wurde,131 künstlerischen Schaffens, das dem neuen Auftrag-
verraten etwas von dem optimistischen Elan, mit geber >Volk< und seinen kulturellen Bedürfnissen
dem Paul Cassirer im ersten Jahr nach Ende des verpflichtet sei, das sich daher nicht mehr »haltlose
Ersten Weltkriegs seine Tätigkeit als Verleger wie- individualistische Experimente«, sondern die »Stei-
der aufnahm. gerung« und den »künstlerischen Ausdruck der
In der Beurteilung von Produktionen der bilden- seelischen Mächte des Volkes«139 zum Anliegen
den Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion mache:
machte sich Paul Cassirers politischer Gesinnungs-
Das Bedürfnis nach Kunst wuchs und wuchs... Das Volk trieb
wandel ebenfalls geltend. Dies beweist der Aufsatz die Maler, kam mit Forderungen, mit Bitten, mit Aufträgen,
Utopische Plauderei,veröffentlicht im März 1919 wollte seine, seine Sehnsucht und seine, seine Träume verwirk-
in der - mittlerweile in den eigenen Verlag überge- licht sehen, kam zu dem Maler, von dem es kein Unterschied
der Bildung und des Standes trennte, bat ihn, beauftragte ihn,
gangenen - Zeitschrift Die weißen Blätter,133 in dem
diskutierte mit ihm, forderte, quälte und war stolz, wenn sein
Cassirer selbst noch einmal in aktuelle Auseinander- Festraum ein schönes Bild erhielt.
setzungen eingriff, die in fortschrittlichen Künstler-
kreisen über die zukünftigen Zielsetzungen und Diese Vorstellungen knüpfen an ästhetische
Aufgaben der bildenden Kunst geführt wurden.134 Konzepte von Sozialrevolutionären Theoretikern
In diesem fiktionalen Text entwirft der Verfasser das des 19-Jahrhunderts wie William Morris an, dessen
Bild eines revolutionierten gesellschaftlichen Le- utopische Erzählung News from Nowhere (1892/
bens in der Stadt Berlin, das nicht nur gekennzeich- 1893 in deutscher Übersetzung veröffentlicht) der
net ist durch eine - nicht näher charakterisierte - Utopischen Plauderei Paul Cassirers möglicherweise
Veränderung der ökonomischen Produktionsver- als Vorbild gedient hat. 141
hältnisse, sondern auch durch eine neue Bewertung
der natürlichen Umwelt, 135 ein freies Verhältnis
zwischen Mann und Frau 136 sowie durch einen
neuen Stellenwert der künstlerischen Arbeit für die 131 Sozialistische Schriften zur Revolution. (Verlagsanzeige)
Berlin: Paul Cassirer Verlag, 14.1.1919 (Deutsches Literatur-
große Masse des Volkes. Cassirer bezieht sich auf archiv/Schiller-Nationalmuseum, Marbach a. N.)
aktuelle Standpunkte und Erwartungen vieler 132 Paul Cassirer: Utopische Plauderei, S. 105-117
Künstler in den Jahren 1918/1919, wenn er die - 133 Zur Geschichte der Zeitschrift »Die weißen Blätter·:
vom Standpunkt der Erzählzeit aus längst überwun- Schlawe: Literarische Zeitschriften, S. 12
134 Diese Auseinandersetzungen wurden vor allem in den
denen - Fehler der Künstler bei Ausbruch der
nach der Novemberrevolution in Berlin gegründeten Künstler-
Revolution schildert: vereinigungen »Novembergruppe« (gegr. am 3.12.1918) und
»Arbeitsrat für Kunst« (gegr. Ende 1918) geführt. Im Manifest des
»Arbeitsrates für Kunst« vom März 1919 (abgedruckt in: (Ausst.
Als die Revolution ausbrach, stürzten sich die Künstler auf die
Kat. Berlin 1980) Arbeitsrat für Kunst, S. 88 f.) wird Paul Cassirers
Macht. Plötzlich waren sie, die im wildesten Individualismus
Name unter der Rubrik »Einheimische und auswärtige Freunde
dahingelebt hatten, Sozialisten. Sie hatten etwas vom Selbstbe-
des Arbeitsrates für Kunst, die seinen Zielen zugestimmt haben«
stimmungsrecht gehört, von dem Selbstbestimmungsrecht
aufgeführt. Vermutlich wollte Paul Cassirer in seiner »Utopi-
der Nationen, und sie wandten dieses unbestimmte Wort auf
schen Plauderei« auch eine Stellungnahme abgeben zu dem
sich an, wollten jeden Rest von Einfluß des Auftraggebers, des
Katalog von kulturpolitischen und kunstpädagogischen Fragen,
Zweckes zerstören; steuerten auf das tollste l'art pour l'art zu
den der »Arbeitsrat für Kunst« im Frühjahr 1919 erstellt hatte.
und nannten das Sozialismus, Recht auf Freiheit. Überall
gründeten sie Künstlerräte, Kommisionen, beratende und 135 Paul Cassirer: Utopische Plauderei, S. 108 f.
überwachende. ... Sie hatten nicht erkannt, in welch eine 136 Ebd., S. 106
furchtbare Lage die Kunst am Ende der kapitalistischen 137 Ebd., S. 112 f.
Epoche geraten war. Sie wollten diesen unseligen Zustand Nimmt man die Stellungnahmen der 28 Mitglieder des »Arbeits-
verewigen, sie wollten die Loslösung der Künstler von der kreises für Kunst« zur Kenntnis, die in der Publikation »Ja!
Stimmen des Arbeitsrates für Kunst in Berlin« (Berlin 1919)
Allgemeinheit sozusagen gesetzlich festlegen und ihn noch
veröffentlicht wurden (abgedruckt in: (Ausst. Kat. Berlin 1980)
vergröbern. 137
Arbeitsrat für Kunst, S. 9-76), so erkennt man, daß Paul Cassirer
hier sehr konkret ein unter den Mitgliedern vielfach verbreitetes
Cassirer kritisiert hier ein künstlerisches Selbst- Elite-Bewußtsein kritisiert, das in Forderungen nach einem
verständnis, das die zum »Höchsten« deklarierte »festen Zusammenschluß in der Form eines Ordens« (ebd., S. 18),
»Freiheit der Persönlichkeit« in einer isolierten nach einer »vorübergehenden Diktatur der Künstler« (ebd., S. 25)
Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, in einem u. a. zum Ausdruck kommt. Vgl. hierzu auch: Manfred Schlösser:
Der Utopie eine Chance (ebd., S.81 f.)
»abstrakten Raum« zu verwirklichen suche, von dem
138 Paul Cassirer: Utopische Plauderei, S. 113
»die Menge, die Masse, das Volk, die Zeit... streng
139 Ebd., S. 114
ausgeschlossen«138 seien. Diese - als elitäres, bürger- 140 Ebd., S. 114 f.
liches Denken abgelehnte - Gesinnung konfron- 141 Morris: Kunde von Nirgendwo
Auch in dem Jahrbuch des Paul Cassirer Verlags in den letzten Jahren seines Lebens entfaltete, mit
Unser Weg 1920 findet die Idee, daß künstlerische der Vielfalt der unternehmerischen Initiativen, für
Produktivität als Vorbild einer für alle Gesellschafts- die er sich bis zum Anfang der 20er Jahre engagierte,
mitglieder anzustrebenden freien Selbstverwirkli- so wird man ein deutliches Nachlassen der innovati-
chung des Menschen in der schöpferischen Arbeit ven Energie feststellen: Anfang der 20er Jahre
aufzufassen sei, einen deutlichen Ausdruck: wurden die Verträge mit den meisten Verlagsauto-
Unser W e g führt unbekümmert um Angriffe von links und
ren aufgelöst bzw. nach ihrem Auslaufen nicht mehr
rechts in die freien Bezirke, in denen der erträumte Mensch der verlängert,148 die Verlagsrechte für die sozialisti-
Zukunft frei von den unerträglichen Beschwerden unseres schen Schriften gingen ebenfalls in andere Verlage
Alltags sein Leben in freudiger künstlerischer Arbeit entwik- über und auch die Publikationen der Pan-Presse -
keln wird. 1 4 2
nach dem Krieg erschienen noch sechs Veröffentli-
Die Frage, wie Paul Cassirer in den ersten Nach- chungen - wurden 1922 eingestellt, die Pan-Presse
kriegsjahren die konkreten Verwirklichungsmög- selbst verkauft. Bei den Publikationen, die der
lichkeiten seiner - von ihm selbst als Utopie Verlag nach 1921 herausbrachte, lag das Schwer-
eingestuften - Perspektive eines von der breiten
Masse des Volkes getragenen kulturellen Schaffens
einschätzte, muß unbeantwortet bleiben. 142 Unser W e g 1920, Ein Jahrbuch des Verlags Paul Cassirer.
In seinem praktischen Engagement als Kunst- Berlin 1919, S . 1 2 4
händler läßt sich keine tiefgreifende Änderung der 143 Ebd.
144 Vogt: Geschichte der deutschen Malerei, S. 2 1 8
Bewertung von Tendenzen und Strömungen inner-
145 Manifest des Arbeitsrats für Kunst, abgedruckt in: (Ausst.
halb der zeitgenössischen Kunstproduktion erken- Kat. Berlin 1980) Arbeitsrat für Kunst, S . 8 8 f .
nen. Nach wie vor setzte er sich mit besonderer 1 4 6 In diesem städtebaulichen Entwurf mit seinen charakte-
Liebe für die künstlerischen Arbeiten der deutschen ristischen Merkmalen - der zentralistischen Gesamtkonzeption
Impressionisten Max Liebermann, Max Slevogt und der Stadtanlage, der Trennung des Bereichs der Produktion und
des öffentlichen Lebens (der »Arbeitsstadt·) von der Sphäre des
August Gaul ein und bemühte sich um die Förde-
W o h n e n s (der »Wohnstadt«), der Durchgrünung der gesamten
rung von Ernst Barlach und Oskar Kokoschka. Neu Stadt und der Einschränkung des Verkehrs im Wohnbereich -
war allerdings die - im Jahrbuch Unser Weg 1920 scheint Paul Cassirer vor allem Vorstellungen aus der Garten-
hervorgehobene - Aufgeschlossenheit für »die den stadtbewegung aufgenommen zu haben. Diese Vorstellungen
Sezessionen nahestehenden Künstler«,143 womit könnten ihm u.a. durch den Architekten Bruno Taut, Mitbegrün-
der des »Arbeitsrats für Kunst«, nahegebracht worden sein. Vgl.
auch expressionistische Künstler wie Max Pech-
Pehnt: Die Architektur des Expressionismus, S. 7 8 f . ; Franziska
stein und Otto Müller144 gemeint waren, die in der Bollerey, Kristina Hartmann: Bruno Taut. V o m phantastischen
»Novembergruppe« und im »Arbeitsrat für Kunst« Ästheten zum ästhetischen Sozial(ideal)isten. In: (Ausst. Kat.
mitarbeiteten. Berlin 1980) Bruno Taut, S. 4 7 f.; Im Vergleich mit den phantasti-
schen städtebaulichen Visionen mit ihren oft religiös anmuten-
Neu war darüber hinaus Paul Cassirers wachsen- den Akzenten, die Bruno Taut und andere zeitgenössische
des Interesse für die zeitgenössischen Aufgaben der Architekten in den ersten Nachkriegsjahren entwickelten, wirkt
Architektur, das vermutlich durch aktuelle Diskus- Paul Cassirers Stadtkonzept mit seinen Bedingungen des Arbei-
sionen im »Arbeitsrat für Kunst« über den »Zusam- tens und Wohnens, die ohne idealistische Überhöhungen
beschrieben werden, erstaunlich sachlich, nüchtern und darin -
menschluß der Künste unter den Flügeln einer
aus heutiger Sicht - modern.
großen Baukunst«143 befördert wurde. Die Utopische 147 (Ausst. Kat. Berlin 1976) Fünf Architekten, S. 155ff.; Vgl.
Plauderei enthält den literarischen Entwurf einer auch (Ausst. Kat. Berlin 1977) Tendenzen der zwanziger Jahre,
neuartigen Stadtanlage von Berlin, der auf eine S. 2 / 1 6 und Nr. 2 / 1 1 2 - 1 1 4 . Daß Paul Cassirers neues Interesse für
Auseinandersetzung des Verfassers mit zeitgenössi- moderne architektonische Konzepte von einem Teil der Besu-
cher seines Kunstsalons nicht nachvollzogen, sondern als äußerst
schen städtebaulichen Konzepten verweist.146 Aber
irritierend empfunden wurde, beweist die Reaktion Karl Scheff-
auch in Paul Cassirers praktischer Tätigkeit als lers (in: »Kunst und Künstler« 18 ( 1 9 1 9 / 1 9 2 0 ) , S. 183, 283): »Im
Kunsthändler machte sich sein neues Interesse für Salon Paul Cassirer scheint man die Orientierung verloren zu
architektonische Aufgaben und Lösungen geltend: haben; die beiden letzten Ausstellungen waren für die Tradition
So zeigte er 1919 in seinem Kunstsalon die kühnen dieses Kunsthauses kompromittierend: Zuerst Erich Mendel-
sohn, jetzt Anton Kerschbauer. W o h e r k o m m t mit einem Mal
Entwurfszeichnungen für eine »Architektur in
dieses Interesse für Architekturzeichnungen?...«
Eisen und Beton« von Erich Mendelsohn, der 1 4 8 Bereits 1 9 1 9 wechselte Walter Hasenclever zum Ernst
ebenfalls Mitglied der »Novembergruppe« war und Rowohlt Verlag. Vgl. den Brief von Hasenclever an Kurt Wolff
mit den Bestrebungen des »Arbeitsrats für Kunst« v o m 1 0 . 1 2 . 1 9 1 9 in: Wolff, Briefwechsel, S . 2 6 3 . 1921 schied
sympathisierte. Diese Ausstellung machte Mendel- Rene Schickele aus dem Verlag aus und kehrte zu Kurt Wolff
zurück; vgl. Briefwechsel Schickele/Wolff in: Wolff: Briefwech-
sohn »sogleich weithin bekannt«.147
sel, S. 208. Kasimir Edschmid verließ den Verlag ungefähr ein
Vergleicht man die Aktivitäten, die Paul Cassirer Jahr später; vgl. Edschmid: Lebendiger Expressionismus, S. 2 0 0
gewicht auf kunstwissenschaftlicher Literatur, 149 Umschwung aus. Paul konnte sich nicht damit abfinden. W a r
früher der Kunsthändler auch zugleich Mäzen und Sammler
daneben erschienen in geringerem Umfang auch
gewesen, glitt er nun ganz zum reinen Händler ab. Paul, der
weiterhin philosophische und literarische Werke, Kämpfer, hatte nichts mehr zu kämpfen, das Geldverdienen
u.a. von Ernst Bloch und Ernst Toller, 150 sowie allein machte ihm keinen Spaß. Mit der ganzen jungen
graphische Mappenwerke und illustrierte Bücher Generation der Maler konnte er sich nicht so rasch anfreunden
(Rudolf Grossmann: Unold von Kaltenquell. Mit 50 und ließ diesen Teil des Kunsthandels ganz in den Händen von
Alfred Flechtheim. Kriegsgewinnler legten sich Sammlungen
Lithographien, 1922; Marc Chagall: Mein Leben. 18
an, und nur selten gab es darunter einen, der auch an den
Radierungen, 1923; Ernst Barlach: Illustrationen zu Bildern Freude hatte, weil sie ihm gefielen. 1 5 7
Goethes Walpurgisnacht, 1924).
Die Publikation von Illustrationen zu ausgewähl- Die politische Desillusionierung, die Unbefrie-
ten Gedichten Goethes, mit denen eine Reihe von digtheit im Beruf und der Verlust vieler enger
Künstlern beauftragt werden sollten - zur Ausfüh- Freunde und Gesprächspartner 158 hatten Paul Cassi-
rung kamen die Arbeiten Max Liebermanns, Ernst rers psychische Standfestigkeit und seinen Lebens-
Barlachs, Hans Meids und Karl Walsers - war das willen bereits soweit untergraben, daß ihn das
letzte bedeutende Verlagsprojekt, das auf die Initia- endgültige Auseinanderbrechen seiner Ehe schließ-
tive Paul Cassirers hin zustande kam. 151 lich in jene Verzweiflung trieb, die ihn zum Selbst-
Fragt man nach den Ursachen für den konstatier- mord bewegte. A m 7.Januar 1926 starb Paul Cassi-
ten Rückgang der Produktivät nach 1921, so wird rer an den Folgen einer sich selbst zugefügten
man mehrere Umstände in Betracht ziehen müssen: Schußverletzung.
Nachdem Leo Kestenberg Ende 1918 eine Stellung
im Preußischen Ministerium für Wissenschaft,
Kunst und Volksbildung angenommen hatte,
erwiesen sich die verbliebenen Mitarbeiter des
Verlags als unfähig, seine Rolle bei der Gestaltung 149 Vgl. die im Januar 1 9 2 3 veröffentlichte Charakterisierung
und Organisation des Unternehmens zu überneh- des Paul Cassirer Verlags in: Der Zwiebelfisch 15 ( 1 9 2 2 / 1 9 2 3 ) ,
S.66.
men. 1 5 2 Aufgrund finanzieller Komplikationen, die
Die kunstwissenschaftlichen Publikationen des Paul Cassirer
sich nach Kriegsausgang, 153 vor allem aber dann in Verlages umfaßten die Sparten
der Zeit der Inflation und Währungsreform einstell- - Graphik: Technik und Geschichte der Graphik, Graphikver-
ten, mußte sich Paul Cassirer zeitweise vorrangig um zeichnisse einzelner Künstler
die geschäftliche Seite seiner Unternehmen küm- - Künstlermonographien, u. a. über zeitgenössische Künstler, die
von Paul Cassirer vertreten wurden (August Gaul, Oskar
mern. 1 5 4 Außerdem zwang ihn die Verschlechterung
Kokoschka)
seines Gesundheitszustandes wiederholt zu länge- - Künstlerdokumente
ren Erholungspausen. - Kunstgeschichte und Kunsttheorie
Ausführlicher hierzu: Loehneysen: Paul Cassirer, S. 174f.
Stärker noch als die genannten Umstände zur
150 E m s t Bloch veröffentlichte bei Paul Cassirer die W e r k e :
Schwächung seiner Tatkraft beigetragen haben Thomas Münzer als Theologe der Reformation, 1 9 2 2 ;
dürfte die persönliche Krise, in die Paul Cassirer in Geist der Utopie. (2. Aufl. in endgültiger, systematischer Form)
den letzten Jahren seines Lebens geriet. Hält man 1 9 2 3 ; Durch die Wüste, Kritische Essays. 1923.
Von E m s t Toller erschien: Die Rache des verhöhnten Liebhabers
sich die hochgespannten Erwartungen vor Augen,
oder Frauenlist. 1 9 2 5
die er nach der Novemberrevolution in die Zukunft
151 Vgl. (Ausst. Kat. Bonn 1982) Goethe in der Kunst des
einer auf friedlichem Wege revolutionierten Gesell- 20.Jahrhunderts, S. 15 ff. Von den ursprünglich geplanten zwölf
schaft setzte, so wird das Ausmaß der Enttäuschun- Lieferungen, die von verschiedenen Künstlern (u. a. von Slevogt,
gen nachvollziehbar, die sich bei ihm und vielen Heckel und Kokoschka) illustriert werden sollten, erschienen
lediglich vier: Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte, Bd. 1 mit
gleichgesinnten Intellektuellen angesichts der Ent-
31 Lithographien von E m s t Barlach; Bd. 2 mit 15 Steinzeichnun-
wicklung des politischen und kulturellen Lebens gen von Max Liebermann; Bd. 3 mit 23 Lithographien von Hans
der Weimarer Republik in den 20er Jahren notwen- Meid; B d . 4 mit 2 0 Lithographien von Karl Walser. (Je 1 0 0
dig einstellen mußten. Die Hoffnungen auf eine Exemplare) Berlin: Paul Cassirer 1 9 2 4 / 1 9 2 5
grundlegende Veränderung der sozialen und politi- 152 Fischer: Dienstboten, S. 1 8 9
schen Verhältnisse erwiesen sich als gescheitert, 155 153 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S . 2 9 6 f .
154 In den Jahren 1921 und 1922 gründete Paul Cassirer
und auch die Abhängigkeit der Kunst vom »Geldbe-
Zweigstellen seiner Kunsthandlung in Amsterdam und New
sitz«, die Paul Cassirer in seiner »Utopischen Plaude- York. Vgl. Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 3 0 3 ff.
rei« angegriffen hatte, 156 blieb ungebrochen: 155 Vgl. Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewe-
gung, S. 153 ff.
Die Rentenmark war eingeführt worden, die Inflation beendet. 1 5 6 Paul Cassirer: Utopische Plauderei, S. 113
Viele reiche Familien zählten zu den Opfern. Die >Neureichen< 157 Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S . 3 0 9
dominierten. A u c h auf den Kunsthandel wirkte sich dieser 158 Ebd., S.310ff.
2.1 Gründung der Pan-Presse seinem Vetter einnahm, 5 zum Teil auch eine Reak-
tion auf die Gewißheit, daß ihm Paul Cassirer als
Unter den vielfältigen Unternehmungen, denen neuer Verleger ausgerechnet auf jenem Gebiet
sich Paul Cassirer im Laufe seines Lebens widmete, Konkurrenz zu machen gedachte, das Bruno Cassi-
gehört die Pan-Presse nicht nur zu den dauerhafte- rer als Aufgabenfeld für Pionierleistungen der eige-
sten, sondern wohl auch zu den von seiner Persön- nen Verlegertätigkeit ins Auge gefaßt hatte:
lichkeit am deutlichsten geprägten Projekten. 1908 gemeint ist das Gebiet der künstlerischen Buchillu-
in Verbindung mit dem Verlag gegründet, blieb die stration.
Pan-Presse fünfzehn Jahre lang im Besitz Cassirers, Bruno Cassirer hatte sich schon zu einem Zeit-
bis sie schließlich 1922 an die Druckerei Otto punkt für das künstlerisch illustrierte Buch zu
Feising verkauft wurde. engagieren begonnen, als sich der Verlag noch im
Als im Dezember 1908 im Katalog der - alljähr- gemeinsamen Besitz der beiden Vettern befand.
lich im Winter stattfindenden - Graphik-Ausstel- Bereits im Frühjahr 1901 verhandelte er schriftlich
lung der Berliner Secession eine Anzeige auf die mit Max Slevogt über eine »Illustrationsangelegen-
Pan-Presse als eine neue »Druckerei für Künstler-
Graphik« aufmerksam machte, 1 war der Vertrag
zwischen Bruno und Paul Cassirer erst seit kurzer 1 Katalog der sechzehnten Ausstellung der Berliner Seces-
Zeit abgelaufen. sion. 1908
2 Der vollständige Text der Anzeige, mit der in Zeitschriften
Dieser Tatbestand läßt vermuten, daß sich Paul wie dem »Pan« für die Pan-Presse geworben wurde, lautete: »Die
Cassirer bereits geraume Zeit vor Vertragsende mit Pan-Presse übernimmt Aufträge für Andruck und Auflage. Es
der Planung und den Vorbereitungen zur Einrich- sind nur Handpressen für Kupferdruck sowohl, wie für Lithogra-
tung einer eigenen Graphik-Druckerei befaßt hatte. phie und Holzschnitt vorhanden. Da die Druckerei nicht von
Handwerkern, sondern von Künstlern geleitet wird, kann jedem
Ende 1908 war die Pan-Presse, die - wie in späteren
Anspruch auf künstlerische Ausführung entsprochen werden.
Anzeigen ausdrücklich hervorgehoben - »nur Die Drucker sind gewöhnt, auf die Intentionen der Künstler
Handpressen für Kupferdruck sowohl wie für Litho- einzugehen, daher können auch auswärtige Graphiker der Erfül-
graphie und Holzschnitt«2 besaß, vermutlich bereits lung ihrer künstlerischen Ansprüche versichert sein.«
vollständig funktionsbereit, denn ihr erstes Produkt, 3 Imiela: Max Slevogt, S. 159, 399 Anm.24
4 Daß der Entwurf des Signets von Slevogt stammt, beweist
12 Lithographien von Max Slevogt zum Märchen
ein im Nachlaß in Neukastel vorhandener Klebeband, in dem der
vom gestiefelten Kater, das als Privatdruck für den Künstler Reproduktionen von diversen eigenen Entwürfen
Künstler hergestellt wurde, weist die Bezeichnung gesammelt hat. Dieser Klebeband enthält auch das Signet mit
>Erster Druck der Pan-Presse< und die Jahreszahl dem schwarzen Panther. (Nach einer mündlichen Auskunft von
1908 auf.3 Herrn Prof. Imiela, Mainz). Zwei weitere Entwürfe Slevogts für
die Pan-Presse lassen sich im Zusammenhang mit den Arbeiten
Max Slevogts Name ist durch zwei weitere an den »Lederstrumpf«-Lithographien nachweisen: Auf dem
Umstände eng mit der Gründung der Pan-Presse Vignettenblatt Nr. 402 in: Sievers/Waldmann: Max Slevogt, S. 38
verknüpft: Seine Lithographien zu Coopers Leder- (mit Abb.) erkennt man neben Entwürfen für die »Leder-
strumpf-Erzählungen, an denen er seit Mitte 1908 strumpf.-Ausgabe zwei Entwürfe für die Pan-Presse: Dargestellt
ist jeweils Pan, das eine Mal auf der Syrinx blasend und auf einem
arbeitete, sollten das erste Werk der unter dem Panther reitend, das andere mal Pressendrucke verteilend.
Namen der Pan-Presse veröffentlichten Publika- Slevogts Entwurf mit dem schwarzen Panther wurde von Paul
tionsreihe werden. Und Slevogt war es auch, der das Cassirer zunächst als Verlagssignet verwendet, so z.B. in der
Signet der Pan-Presse - einen auf einem Felsblock Anzeige zu den beiden ersten Publikationen des Paul Cassirer
ruhenden schwarzen Panther in quadratischer Rah- Verlags im »Katalog der fünfzehnten Ausstellung der Berliner
Secession«, Berlin 1908. Erst in den folgenden Jahren wurde das
m u n g - entwarf.4 Es war Paul Cassirer also gelungen, Panther-Signet explizit mit der Pan-Presse und ihren Publikatio-
ausgerechnet jenen Künstler als Mitarbeiter für sein nen verknüpft. Auf einem Anzeigenblatt (im Besitz von Herrn
neues Projekt zu gewinnen, dessen Produktivität auf Prof. Imiela, Mainz), in dem den Kunden der Pan-Presse der
dem Gebiet der Buchillustration von Bruno Cassirer Umzug der Druckerei in andere Räume (zwischen Frühjahr 1912
als Verleger zuerst entdeckt und gefördert worden und Frühjahr 1913) bekannt gegeben wurde, erscheint das
Panther-Signet, in dessen Rahmung nun der Name >Pan-Presse<
war. Damit kündigte sich bereits an, daß Paul eingefügt ist. Auf der Rückseite weist dieses Anzeigenblatt ein
Cassirer mit der Gründung der Pan-Presse Absich- anderes Pan-Pressen-Signet auf: Es zeigt über einem länglichen
ten verfolgte, die über den Plan, künstlerische Sockel mit der Aufschrift Pan-Presse einen auf dem Rücken
Originalgraphik zu verlegen, hinausgingen. Viel- liegenden schwarzen Panther, der auf seinen emporgestreckten
leicht war die besonders feindliche Haltung, die Vorderläufen ein Panskind, das auf der Syrinx bläst, balanciert.
5 Vgl. Lovis Corinth in einem Brief vom 1. 10. 1908; abge-
Bruno Cassirer gerade im Herbst 1908 gegenüber
druckt in: Thomas Corinth: Lovis Corinth, S. 123
heit«, die sich auf Slevogts Zeichnungen zum Mär- und seiner engen Verbindung zur Berliner Secession
chen Ali Baba und die vierzig Räuber bezog.6 1903 in einem eindeutigen Vorteil befand, den er auszu-
wurde mit einer Auswahl dieser Zeichnungen in nutzen entschlossen war.12
photomechanischer Reproduktion die lange Reihe Diese Vermutung würde den Tatbestand erklä-
der von Max Slevogt illustrierten Bücher eröffnet, ren, daß Bruno Cassirer in den folgenden Jahren
die der Bruno Cassirer Verlag bis in die 20er Jahre offenbar nur noch geringen Wert darauf legte, neue
hinein veröffentlichte. 7 Künstler für die Aufgaben der Buchillustration zu
1905 brachte der Verlag sein erstes illustriertes interessieren und sich stattdessen in erster Linie auf
Buch heraus, das Originalgraphik enthielt: Cervan- die Herausgabe illustrierter Werke seiner beiden
tes Don Quixote mit 16 Originalradierungen von >Hauskünstler< Max Slevogt und Karl Walser kon-
Karl Walser. 8 1908, im Gründungsjahr der Pan- zentrierte. 13
Presse, folgte dann mit den Illustrationen zum
Märchen Sindbad der Seefahrer das erste Buch, das
von Max Slevogt mit Originallithographien ausge- 2.2 Das Programm der Publikationen
stattet worden war. der Pan-Presse
Der >Sindbad< begründete nicht nur den R u h m Slevogts als des
Wie bereits erwähnt(vgl. Kap. 1.2.3), läßt sich in den
größten Illustrators unserer Zeit, sondern er wurde auch das
Urbild der unendlichen Flut graphischer Bücher, mit denen in
programmatischen Texten des Verlagskatalogs Das
den folgenden Jahrzehnten Deutschland förmlich über- moderne Buch des Jahres 1910 die Identität der
schwemmt worden ist, verlegerischen Position, die die rivalisierenden Vet-
tern Bruno und Paul Cassirer auf bibliophilem
schrieb Bruno Cassirer in den 20er Jahren. 9
Gebiet für sich beanspruchten, besonders deutlich
Trotz dieser Pionierleistungen seines Verlages 10
erkennen.
konnte Bruno Cassirer allerdings nicht verhindern,
daß ihm Paul Cassirer mit der Gründung der Als eine seiner wichtigsten Aufgaben betrachtet es ... der
Verlag, die bedeutendsten Illustratoren unserer Zeit zu frucht-
Pan-Presse äußerst erfolgreich den Ruf streitig
barer Produktivität anzuregen und ihnen Gelegenheit zur
machte, sich durch den verlegerischen Einsatz für Talententfaltung zu geben. Der Verlag geht von der Meinung
das künstlerisch illustrierte Buch in Deutschland aus, daß das Buch nicht ausschließlich dem kunstgewerblichen
Verdienste erworben zu haben, die denjenigen des Typographen überantwortet sein darf, wenn nicht eine ent-
schiedene Verarmung die Folge sein soll; und er schmeichelt
französischen Verlegers Ambroise Vollard ver-
sich, die Richtigkeit seiner Meinung bereits erwiesen zu haben,
gleichbar seien. indem er die Deutschen mit wertvollen Werken des starken
So konnte Paul Cassirer, ohne dabei als skrupellos Illustratorentalents Max Slevogts - dem stärksten Zeichenta-
zu gelten, in späterer Zeit ebenfalls öffentlich für lent seit Menzel, wie berufene Kritiker gesagt haben - und mit
den graziös originellen Arbeiten Walsers bekannt gemacht
sich den Ruhm in Anspruch nehmen, einst mit hat.
seiner Pan-Presse den gewagten »ersten Versuch...,
das immer stärker werdende Bedürfnis des Künst-
lers nach Originaldrucken mit den Bedürfnissen des 6 Imiela: Max Slevogt, S. 3 6 7 A n m . 4
Buchdrucks harmonisch zu verbinden«, unternom- 7 R ü m a n n : Verzeichnis der Graphik von Max Slevogt
men zu haben. 11 8 Katalog des Bruno Cassirer Verlags 1 8 9 8 - 1 9 0 9
9 Bruno Cassirer im Vorwort zu:
In der ersten Zeit nach Gründung der Pan-Presse
Max Slevogt, Ein Verzeichnis der von ihm illustrierten Bücher,
bemühte sich Bruno Cassirer intensiv darum, seine S.3
führende Position als Verleger von Büchern, die mit 10 Vgl. Scheffler: Die impressionistische Buchillustration,
originalgraphischen Illustrationen ausgestattet wa- S. 2 1 :
•Bruno Cassirer hat, trotz der >Pan-Presse< und anderer Unter-
ren, zu verteidigen und auszubauen. Dies geht u. a.
nehmungen, das moderne, v o m Künstler illustrierte Buch eigent-
aus der Tatsache hervor, daß er im Frühjahr 1910
lich geschaffen und ihm die F o r m bestimmt..
Ernst Barlach, der zu diesem Zeitpunkt bereits bei 11 Verlagsmitteilung zu den Veröffentlichungen der Pan-
Paul Cassirer unter Vertrag stand, mit Holzschnittil- Presse, Dezember 1 9 1 9
lustrationen zu Kleists Erzählung Michael Kohlhaas 12 Vgl. die Karikatur von Emil Preetorius zu Bruno und Paul
Cassirer in: Das kleine Zwiebelfisch Kulturkratzbürsten Vade-
beauftragte - ein Projekt, das dann aufgrund des
m e c u m 1913. Hrsg. von Hans W e b e r und von Emil Preetorius
massiven Einspruchs von Paul Cassirer scheiterte
mit boshaften Bildern aus der deutschen Bücherwelt ge-
(vgl. Kap. 3.10). schmückt, München 1 9 1 3 ; abgebildet in: Imprimatur N . F . 7
Möglicherweise brachte der Mißerfolg im Falle (1972), S. 118
13 Uber Bruno Cassirers Engagement für die künstlerische
Barlach Bruno Cassirer zu der Erkenntnis, daß sich
Buchillustration vgl. Scheffler: Die impressionistische Buchillu-
sein Vetter in der Konkurrenz um die Gewinnung stration, S. 21 ff.; Sarkowski: Bruno Cassirer, S. 115 ff.
neuer Illustratoren aufgrund seines Kunsthandels 14 Das Moderne Buch des Jahres 1910, S . 3 4
Mit diesen Sätzen stellte der Bruno Cassirer folge sich die Buchillustration sowohl in der Wahl
Verlag seine Reihe illustrierter Werke vor, zu denen der graphischen Technik als auch in der künstleri-
neben den drei bereits erwähnten noch drei weitere schen Ausführung der emphatisch progagierten
Bücher gehörten, die von Karl Walser mit Radierun- >Einheit des Buchganzen< unterzuordnen habe.
Wenngleich Paul Cassirer diesem Standpunkt als
gen oder Lithographien ausgestattet worden waren.15 Reaktion auf den »Unrat der Gründerjahre« eine
Wie eine nähere Erläuterung des hier vertretenen historische Berechtigung zugesteht, sieht er in ihm
Standpunkts lauteten die Ausführungen, die der doch gleichzeitig auch die Gefahr eines durch
Paul Cassirer Verlag zu den vier angezeigten Publi- Geschmacks(vor)urteile bedingten und darin kunst-
kationen der Pan-Presse gab: feindlichen Dogmatismus angelegt, der zu einer
Bedrohung der künftigen Entwicklung der moder-
Die Verbindung des Steindrucks und des Kupferdrucks mit nen Buchausstattung führen könne. Im erwähnten
dem Buchdruck gilt nicht als buchgerecht, sie ist auch - Katalog der Pan-Presse von 1912 heißt es dazu:
theoretisch gesehen - nicht buchgerecht. Die Folge davon war,
So berechtigt es ist, die Künstelei aus allen Dingen zu
daß dem modernen Künstler, der ein Buch illustrieren will, die
entfernen, so notwendig scheint es uns, der Kunst kein Mittel
beiden edelsten Arten der Reproduktion g e n o m m e n wurden,
der Propaganda zu nehmen, das ihr gelegen ist. Solch ein Mittel
und weiter ergab sich daraus, daß, während der Geschmack des
bietet das illustrierte Buch. W i r wollen weder jene glücklich
Buches, des Papieres, des Einbandes stetig sich hoben, die
großen, modernen Künstler keinen Anteil an der Herstellung verbannten Familienbücher, in denen das banale Bild den Text
des Buches hatten. wiederholte, zurückrufen, noch uns von der dankbaren Teil-
nahme an der Errungenschaft des neuen deutschen Buchge-
Die Leitung der Pan-Presse setzt sich bewußt über die
Theorien des Buchgerechten hinweg und sieht es als ihre werbes ausschließen. W i r möchten nur bei den Bibliophilen
Aufgabe an, zur Herstellung von Büchern die größten leben- Deutschlands für Duldung eines Kompromisses plädieren, der
den Künstler heranzuziehen und ihnen Gelegenheit zu geben, darauf fußt, daß keine Forderung der Uberlieferung und des
sich in der Technik auszudrücken, die ihrem Talent und Geschmacks so feste Gültigkeit besitzt, daß sie nicht von
T e m p e r a m e n t adaequat ist. 1 6 einem höheren Standpunkt Umänderungen vertrüge. Die
Verbindung des Steindrucks mit dem Buchdruck gilt nicht als
In Bruno Cassirers Abgrenzung gegenüber dem >buchgerecht<. D e m Reliefcharakter des geschnittenen Buch-
»kunstgewerblichen Typographen«, dem die mo- stabens entspricht nur der Holzschnitt; er allein kann mit dem
derne Buchgestaltung »nicht ausschließlich... über- Textdruck zusammen die gleiche Farbe ergeben. William
antwortet sein darf«, kommt ebenso wie in Paul Morris wäre vor Scham gestorben, wenn man seiner Calmscot-
Cassirers selbstbewußter Distanzierung von den Preß zugemutet hätte, ihre Typen auf dasselbe Papier mit
»Theorien des Buchgerechten« zum Ausdruck, daß lithographischen Zeichnungen zu drucken. Aber man tritt
seinem Andenken kaum zu nahe, wenn man behauptet, daß er
beide Verleger ihr Engagement für die künstlerische
die Ausnahme von der Regel auch dann nicht gestattet hätte,
Buchillustration als Bestandteil der zeitgenössi- wenn der Zeichner ein Rembrandt gewesen wäre. W i r verlan-
schen Buchkunstbewegung in Deutschland verstan- gen diese Ausnahme nur für unsere besten Künstler, und auch
den wissen wollten, zu deren Entwicklung sie einen nur dann, wenn ihre Art nach einem weicheren, reicheren,
selbständigen Beitrag zu leisten beabsichtigten. biegsameren Material verlangt, als es der Holzstock bietet,
wenn es ihnen unmöglich erscheint, sich anders als auf dem
Paul Cassirer kommt in derselben Anzeige, deren
Stein mit gleicher Vollkommenheit zu äußern. 1 8
Formulierungen in dem ausführlichen programma-
tischen Vorwort des »Katalogs der auf der Pan-
Die selbstbewußte Charakterisierung der hier
Presse gedruckten Bücher und Mappenwerke« von
vertretenen Ansicht, daß den künstlerischen Versu-
1912 wiederkehren, ausdrücklich auf die Errungen-
chen auf dem Gebiet der Buchillustration jene -
schaften der seit 1890 in Gang gekommenen »Re-
jeder anderen Kunstausübung selbstverständliche -
formation der Buchherstellung« zu sprechen:
Autonomie in der Wahl der Mittel zugestanden
Die Gegenwart ist reich an vortrefflichen Druckwerken. werden müsse, als einen geistig »höheren Stand-
Deutschland hat den Vorsprung Englands eingeholt und sich
punkt« markiert einen Wendepunkt in der
die Lehren der modernen englischen Drucker dienen lassen.
W i r haben zahlreiche Verleger, die nur musterhaft gedruckte
Geschichte der modernen Buchausstattung in
Bücher herausgeben. Die Regeln der Typographie, die einer Deutschland, dessen historischer Stellenwert vor
früheren Generation belanglos erschienen, haben mit Recht dem Hintergrund der Entwicklung der Buchkunst-
ihre Bedeutung wiedererlangt. Begabte Zeichner gaben ihr bewegung seit 1890 deutlich wird.
vortreffliche Zierstücke, die sich organisch dem Text einfügen,
und zuletzt hat sich auch die schmucklose Einfachheit des
15 Robert Walser: Gedichte. Mit 16 Originalradierungen von
vornehmen Druckes den Markt erobert. 1 7
Karl Walser, Berlin 1 9 0 8 ; Georg Büchner: Leonce und Lena. Mit
Die in diesen Sätzen formulierte Würdigung der 10 Lithographien von Karl Walser, Berlin 1 9 1 0 ; Ninon de
Leistungen des »neuen deutschen Buchgewerbes« Lenclos: Briefe. Mit 10 Radierungen von Karl Walser, Berlin
1910
bildet den Auftakt für eine Kritik an dem von
16 Das Moderne Buch des Jahres 1910, S . 6 3
führenden zeitgenössischen Buchgestaltern vertre- 17 Ebd.
tenen Standpunkt des »Buchgerechten«, demzu- 18 Katalog der Pan-Presse 1912, S. 5 f.
2.2.1 Exkurs: Die Entwicklung der deutschen stellung, der Morris mit seiner künstlerischen
Buchkunst von 1890 bis 1910 Arbeit in diversen Bereichen des Kunstgewerbes
gerecht zu werden versuchte, verständlich als ein
Mit der Erwähnung von William Morris und seiner Programm, mit Hilfe dessen die Kunstproduktion
Kelmscott-Press trug Paul Cassirer der unter den seiner Zeit eine neue Legitimität gewinnen sollte.
Bibliophilen seiner Zeit selbstverständlichen An- In der Rückbesinnung auf die Tugenden des
sicht Rechnung, daß der englische Reformator mit soliden Handwerks sollte sich die künstlerische
seinen Leistungen auf dem Gebiet der Buchkunst Arbeit auf die Herstellung von Gegenständen des
den entscheidenden Anstoß zu einer grundlegen- täglichen Gebrauchs konzentrieren, die durch die
den Erneuerung auch des deutschen Buchgewerbes hohe Qualität ihrer sowohl zweckmäßigen als auch
gegeben habe. In der falschen Schreibweise des ästhetisch befriedigenden Gestaltung als Resultate
Namens der von Morris gegründeten Presse und in eines Arbeitsprozesses erkennbar sein sollten, der
der Charakterisierung von Morris als eines Dogma- das Bewußtwerden und den Genuß der freien
tikers, der sich in seinen Vorstellungen auch durch Entfaltung kreativer Fähigkeiten und so die Selbst-
das künstlerische Genie eines Rembrandt nicht verwirklichung des Menschen in der produktiven
hätte beeindrucken lassen, drückt sich allerdings Arbeit ermöglichte. Gemäß seiner Bestimmung von
zugleich ein weitgehendes Desinteresse, wenn nicht Kunst als »Ausdruck der Freude eines Menschen an
sogar ein völliges Unverständnis gegenüber den seiner Arbeit« 20 wollte Morris seine eigene künstle-
kulturrevolutionären Intentionen aus, die Morris in rische Praxis als Gegenentwurf zur entfremdeten
seinem Unternehmen zu verwirklichen versucht Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozeß ver-
hatte. standen wissen: Die konkrete Vorwegnahme e i n e r -
Die 1891 in Hammersmith bei London gegrün- in bezug auf die gesamtgesellschaftlich herrschende
dete Kelmscott-Press stellte einen von William Praxis (noch) als Utopie aufzufassenden - Form des
Morris' Versuchen dar, die eigenen programmati- Arbeitens, die sowohl von den unmittelbaren Pro-
schen Forderungen nach einer grundlegenden duzenten als auch von den Nutznießern der herge-
Reform der künstlerischen Produktion seiner Zeit stellten Produkte als »Beglückung« 21 erfahren wer-
in die Praxis umzusetzen. Die theoretische Grund- de, sollte in der Masse des Volkes die Einsicht in die
lage dieses Reformprogramms lag in Morris' gesell- Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung
schaftskritischer Position, die die ökonomischen der ökonomischen und sozialen Verhältnisse vertie-
und sozialen Widersprüche der damaligen Gegen- fen helfen. 22
wart als Phänomene eines kulturellen Verfalls inter- Unter den Unternehmen, mit denen Morris sein
pretierte. Morris' Protest richtete sich gegen die künstlerisches Programm zu verwirklichen versuch-
Resultate eines ökonomischen Produktionsprozes- te, besaß die Kelmscott-Press einen wichtigen Stel-
ses, in dem durch den zunehmenden Einsatz von lenwert. 23 Angesichts der kultur- und Sozialrevolu-
Maschinerie im großen Maßstab zur Produktion der tionären Stoßrichtung dieses Programms verbietet
Gegenstände des täglichen Bedarfs immer mehr es sich, die von Morris am Vorbild italienischer und
menschliche Arbeitskraft ersetzt wurde, in dem deutscher Inkunabeln entwickelten Forderungen
zugleich aber die produktive Tätigkeit der beschäf- für die Arbeit seiner Presse - höchste, nur in
tigten Menschen als Qual einer extrem vereinseitig- sorgfältiger Handarbeit herstellbare Qualität der
ten und inhaltsleeren Arbeit erschien, die in vielen verwendeten Materialien, harmonische Verbindung
Fällen nur noch Produkte mit unbefriedigenden aller Gestaltungselemente (Papier, Druckfarbe,
Gebrauchswerteigenschaften herzustellen in der Schrifttype, Schriftsatz und Illustration) zu einer
Lage war. geschlossenen Einheit, vollkommene technische
Eine der ökonomischen und sozialen Entwick- Ausführung des Druckverfahrens mit der Hand-
lung entsprechende Degenerationserscheinung sah presse - als anachronistische Schwärmerei und
Morris in der gesellschaftlichen Funktion der zeit- fortschrittsfeindliche Maschinenstürmerei zu ver-
genössischen Kunstproduktion, die als eine gegen- werfen.
über dem alltäglichen Leben und den alltäglichen
Bedürfnissen der großen Masse des Volkes verselb- 19 Vgl. Z a p f : William Morris, S. 15
ständigte Sphäre lediglich einem kleinen Kreis 2 0 Z i t i e r t n a c h Pevsner: Wegbereiter moderner Formgebung,
Gebildeter zugänglich sei und so jegliche Daseins- S. 13
berechtigung zu verlieren drohe. 19 21 Ebd.
22 Vgl. Zapf: William Morris, S. 15
Angesichts des hier skizzierten kulturkritischen 23 Ausführlich zu diesem T h e m a : Zapf: William Morris,
Ausgangspunktes wird die spezifische Aufgaben- S. 22 ff.; S c h m i d t - K ü n s e m ü l l e r : William Morris
Aber auch eine positive Würdigung der Ziele der vor allem in den neugegründeten Zeitschriften Pan
Kelmscott-Press, die diese ausschließlich als Reak- (gegr. 1895),Jugend (gegr. 1896) und Die Insel (gegr.
tion auf den Qualitätsverlust der in industrieller 1899) propagiert wurde, war die Einbindung der
Massenfertigung hergestellten Druckerzeugnisse künstlerischen Produktion in einen gesamtgesell-
und als eine zur Reform des Buchgewerbes notwen- schaftlichen Zusammenhang. 27
dige Rückbesinnung auf handwerkliche Traditio- Das Programm einer universellen Durchdrin-
nen interpretiert, verkürzt Morris' Intentionen um gung des Lebens mit Kunst wurde getragen vom
ihre Sozialrevolutionäre Dimension. Ideal einer ästhetisch zu stiftenden Harmonie und
Eben diese verkürzte Auffassung von Morris' Stimmigkeit aller Lebensbereiche und -äußerungen.
Bestrebungen war für die Rezeption der Erzeugnisse Daß die darin zum Ausdruck kommende Idee der
der Kelmscott-Press in Deutschland, die kurz vor Versöhnung, des sinnhaften Aufeinanderbezogen-
der Jahrhundertwende einsetzte, von Anfang an seins aller Dinge von Anfang an eher zur Affirma-
bestimmend. tion des gesellschaftlichen status quo als zur kriti-
Bereits die frühen Aufsätze über Morris' Buch- schen Antizipation einer veränderten Gesellschaft
kunst, die ab 1896 in Deutschland veröffentlicht tendierte, eher im Wunschbild des sozialen Friedens
wurden, 24 beweisen, daß auch in der Ende des als in der Vorstellung einer realen Aufhebung der
19-Jahrhunderts einsetzenden deutschen Buch- ökonomischen und sozialen Gegensätze ihre Ent-
kunstbewegung jener ideengeschichtliche Wand- sprechung fand, beweist das selbstbewußte Be-
lungsprozeß zur Geltung kam, den Gert Seile in kenntnis der Propagandisten der >Stilwende< zur
seinen Untersuchungen über Jugendstil und Kunst- Exklusivität ihres kulturellen Anspruchs 28 ebenso
industrie in bezug auf die kunstgewerbliche Re- wie ihre künstlerische Praxis, die sich vorrangig an
formbewegung der Jahrhundertwende allgemein den Bedürfnissen des wohlhabenden und gebilde-
aufgezeigt hat: ten Bürgertums nach ästhetischer Gestaltung seiner
Sphären des Rückzugs ins Private, der Villa und des
Morris plante keine Stilinnovation im Sinne des ästhetischen Interieurs, orientierte. 29
Individualismus der Jugendstilkunst, weder Luxuskunst noch
eine für die gebildeten Schichten reizvolle Pseudo-Volkskunst Unter den Gebrauchsgegenständen, die im Rah-
im Gegensatz zur industriellen Massenware. Sein utopisches men der kunstgewerblichen Reformbestrebungen
Leitbild war weit weniger die Durchsetzung einer neuen um die Jahrhundertwende als Objekte künstleri-
Produktkultur als die Veränderung der Lebens- und Arbeits-
schen Gestaltens (wieder)entdeckt wurden, zog das
bedingungen der arbeitenden und in der Arbeit ausgebeute-
ten, entwürdigten Klasse durch ihre sozialistisch-kulturelle Buch als Aufgabe ästhetischen Bemühens beson-
Emanzipation. Darin ist Morris geradezu Gegenfigur zum dere Aufmerksamkeit auf sich. Der hohe Stellen-
Jugendstil, obwohl sein Asthetizismus und seine beispielhafte wert, den Bildung im Selbstverständnis der bürger-
kunsthandwerkliche Praxis ihn dazu prädestinieren, als 'Vor- lichen Trägerschicht der neuen Stiltendenzen
läufer' der Stilkunstbewegung glatt vereinnahmt zu wer-
einnahm, ließ das künstlerisch ausgestattete Buch
den. 2 5
zu einem unentbehrlichen Requisit kultivierten
Die ideologische Basis der kunstgewerblichen Wohnens werden, das zudem besonders gut geeig-
Reformbewegung in Deutschland, in die die Bestre- net schien, als kleines >Gesamtkunstwerk< die Idee
bungen um eine Erneuerung der Buchkunst einzu- des harmonischen Zusammenwirkens der verschie-
ordnen sind, lag in dem sich seit 1890 in Kreisen des denen Künste sichtbar zu machen. 30
liberalen, gebildeten Bürgertums zunehmend nach- Die erste Zeitschrift in Deutschland, die auf die
drücklicher artikulierenden Bedürfnis nach einem Aufgaben der modernen künstlerischen Buchaus-
Neuanfang in der zeitgenössischen Kulturproduk-
tion. In Reaktion auf die kulturellen Schöpfungen
der Gründerzeit, deren historistisches Formenre- 24 von Bodenhausen: Das englische Buch, S. 3 3 7 - 3 4 0 ; Sond-
pertoire man als geschmacklose Imitation und heim: William Morris, S. 1 2 - 2 0
sinnentleerte Fassade ablehnte, entwarfen junge 25 Seile: Jugendstil und Kunstindustrie, S. 51 f.
künstlerisch tätige und interessierte Intellektuelle 2 6 Hermand: Vorschein im Rückzug, Z u m Sezessionscharak-
ter des Jugendstils. In: (Ausst. Kat. Darmstadt 1976) Ein
das Konzept eines neuartigen kulturellen Schaffens,
Dokument Deutscher Kunst, Bd. 1, S. 15 f.
das dem >modernen<, d.h. dem gesellschaftlichen 27 Ebd., S. 17
Entwicklungsstand entsprechenden bürgerlichen 28 Vgl. Paas: Kunst und Künstler, S.60ff.
Selbstverständnis und Lebensgefühl zum Ausdruck 2 9 Vgl. Seile:Jugendstil und Kunstindustrie, S . 6 6 ff.; Werner
verhelfen und deshalb auf Anleihen bei historischen Hofmann: Luxus und Widerspruch. In: (Ausst. Kat. Darmstadt
1976) Ein Dokument Deutscher Kunst, Bd. 1, S. 2 1 - 2 8
Vorbildern verzichten wollte. 26 Charakteristisch für
3 0 Vgl. Hofstätter: Geschichte der europäischen Jugendstil-
das kulturelle Erneuerungsprogramm, das zunächst malerei, S. 27 ff: »Das Buch als Gesamtkunstwerk«
stattung nachdrücklich aufmerksam machte, war Tendenz zu Schlichtheit und Sachlichkeit in der
der 1895 von Otto Julius Bierbaum und Julius Buchausstattung setzte sich in den vielen gelunge-
Meier-Graefe gegründete Pan.31 nen Leistungen, die in den folgenden Jahren auf
Die vielfältigen buchkünstlerischen Anregungen dem Gebiet der Buchkunst geschaffen wurden, so
des Pan, die u. a. von den Zeitschriften Jugend und nachdrücklich durch, daß es berechtigt ist, von
Die / « ^ / a u f g e n o m m e n und im Sinne des dekorati- dieser Zeit als einer Phase des >Primats der Typogra-
ven >Jugend<stils der jüngeren Künstlergeneration phie< zu sprechen. 36
weiterentwickelt wurden, führten bereits nach Buchgestalter wie F. H. Ehmcke, Walter Tiemann
kurzer Zeit zu einer wachsenden Aufgeschlossen- und E . R . Weiß, um nur drei wichtige Namen zu
heit deutscher Verleger für Fragen einer ästhetisch nennen, folgten in ihrer Arbeit für die Verlage
befriedigenden Buchausstattung. Neue, kurz vor der Eugen Diederichs, Insel, S.Fischer u.a. der »Uber-
Jahrhundertwende gegründete Unternehmen wie zeugung von der Einheitlichkeit des Buches in allen
der Eugen Diederichs Verlag und der Insel-Verlag seinen Teilen«. 37
begannen als erste, die jungen Künstler Heinrich In dem Maße, wie die Sensibilität für die Eigenar-
Vogeler, Otto Eckmann, Peter Behrens, Emil ten und Ausdrucksmöglichkeiten unterschiedlicher
Rudolf Weiß und Fritz Helmuth Ehmcke, die Schriftarten und für die architektonische Funktion
bereits durch ihre Beiträge in den genannten biblio- des Satzspiegels bei deutschen Buchkünstlern
philen Zeitschriften auf sich aufmerksam gemacht wuchs, stieg die Bewunderung für die Pressen-
hatten, mit der künstlerischen Gestaltung ihrer drucke der englischen Doves Press, die Rudolf
Verlagswerke zu beauftragen. 32 Kautzsch in seinem 1902 veröffentlichten Werk
Die frühen Versuche der neuen deutschen Buch- »Die neue Buchkunst« noch als »wohl vornehm«,
kunst gingen von einem malerischen Ansatz aus, der aber »blutlos« abgelehnt hatte. 38 In den Werken der
einen ästhetisch überzeugenden Gesamteindruck Doves Press, die T.J. Cobden-Sanderson 1900 in
des Buchganzen durch die harmonische Einbin- Hammersmith gegründet hatte, war von Anfang an
dung des Textes in ein linear-ornamentales Dekora- auf jegliche dekorative oder illustrative Ausstattung
tionssystem zu erreichen suchte, wobei die Textge- verzichtet worden, so daß der ästhetisch überzeu-
staltung selbst meist eher traditionellen typographi- gende Eindruck der Bücher allein durch die
schen Regeln folgte. 33 vollendete typographische Gestaltung erreicht wur-
Wie leicht sich dieses buchkünstlerische Gestal- de. Gleichzeitig mit der wachsenden Anerkennung
tungsprinzip pervertieren ließ, bewies die nach der der Erzeugnisse der Doves Press als vorbildliche
Jahrhundertwende im Buchgewerbe rasch einset-
zende industrielle Vermarktung der neuen Deko-
rationsformen, die die Jugendstilornamentik zu
31 Vgl. Schmidt-Künsemüller: William Morris, S. 112 f.
einem willkürlich auf die verschiedensten Objekte
32 Vgl. ebd., S. 116ff.; Eyssen: Buchkunst in Deutschland,
applizierbaren >Zierrat< ausschlachtete und damit S. 108ff. Z u Eugen Diederichs: Oschilewski: Eugen Diederichs,
auf die Ebene des historisierenden Formenre- S. 1 7 - 3 2 . Z u m Insel-Verlag: Meiner: Die Anfänge des Insel-
pertoires der Gründerzeit herunterbrachte, dessen Verlages, S . 4 5 - 6 8 ; (Ausst. Kat. Marbach 1965) Die Insel; Der
Insel-Verlag, Eine Bibliographie
Unehrlichkeit die Jugendstilkünstler mit dem
33 Vgl. Emil Rudolf Weiß: Das Buch als Gegenstand, Ein
Prinzip des Sach- und Materialgerechten gerade
Brief, 1911. In: Typographie und Bibliophilie, S. 156; Schmidt-
bekämpfen wollten. 34 Künsemüller: William Morris, S. 1 2 0 f.
Die sich im Buchgewerbe wie auch in anderen 3 4 So versuchte z.B. die Schriftgießerei Rudhard in Offen-
bach a. M., Buchschmuck-Entwürfe von Heinrich Vogeler als
Bereichen des Kunstgewerbes nach 1900 immer
»Zierrat für die Ausstattung von Büchern und Zeichnungen von
deutlicher abzeichnenden kulturindustriellen Ten- Heinrich Vogeler« zu vermarkten. Vgl. den Prospekt der Schrift-
denzen brachten viele der als Buchausstatter tätigen gießerei Rudhard von 1904, angeführt in: (Ausst. Kat. Münster
Künstler schon bald zu der Erkenntnis, daß ein 1981), V o m Jugendstil zum Bauhaus, Kat. Nr. 35. Heinrich
Vogeler war mit dieser Vermarktung nicht einverstanden. Vgl.
Gestaltungsprozeß, der die Idee vom Buch als einer
hierzu und zur Rolle des Insel-Verlages in dieser Angelegenheit:
- nicht durch äußerliche Formapplikationen bloß (Ausst. Kat. Berlin 1983), Heinrich Vogeler S. 56 f.
suggerierten, sondern durch innere Formbezüge 35 Abgedruckt in: (Ausst. Kat.Münster 1981) V o m Jugendstil
tatsächlich hergestellten - künstlerischen Einheit zum Bauhaus, S . 4 7
zu verwirklichen suche, notwendig an den Grund- 3 6 Jürgen Eyssen: Primat der Typographie, Tendenzen deut-
elementen jedes Buches - der Schriftform und dem scher Buchkunst 1 8 9 0 - 1 9 3 0 . In: (Ausst. Kat. Münster 1981) V o m
Jugendstil zum Bauhaus, S. 4 4 - 5 4
Schriftsatz - ansetzen müsse.
37 Ebd., S. 4 8
Die sich bereits im Prospekt der Steglitzer 38 Rudolf Kautzsch: Die neue Buchkunst. Weimar 1902;
Werkstatt aus dem Jahre 1902 3 5 ankündigende zitiert nach Schauer: Deutsche Buchkunst, Bd. 1, S. 57
buchkünstlerische Leistungen fand nun auch Cob- Gestaltung des Satzspiegels (Schriftgrad, Abstand
den-Sandersons theoretische Schrift Ideal book or der Buchstaben und Zeilen) und die Anordnung
book beautiful, die 1901 in der Zeitschrift für desselben auf der Buchseite (Format, Papierränder);
Bücherfreunde veröffentlicht worden war,39 zuneh- der Entwurf von dekorativem Schmuck (Initialen,
mend Beachtung. Titelblatt, Zierleisten); die technische Durchfüh-
In den Vorstellungen deutscher Buchkünstler rung des Druckvorganges, der fast immer auf der
und Bibliophiler wurde die von Cobden-Sanderson Handpresse erfolgte, und schließlich die Arbeit des
als »Moral«40 bezeichnete Forderung, daß sich die Einbindens - all diese Schritte sollten kraft des
individuelle künstlerische Freiheit der an der Buch- übergreifenden ästhetischen Gestaltungswillens der
gestaltung beteiligten Mitarbeiter am höheren leitenden Künstler harmonisch ineinander greifen
Zweck der gemeinsamen Aufgabe zu relativieren und so zur Produktion von Druckwerken beitragen,
habe, zu einem wichtigen Grundsatz, wobei man die die durch ihre vollkommen stimmige Gestaltung
von Cobden-Sanderson philosophisch gedeutete den literarischen Gehalt und Wert der Textvorlage
gemeinsame Aufgabe als das Anliegen interpretier- zur Anschauung bringen sollten. Daß die Pressen-
te, den geistigen Gehalt des jeweiligen Textes durch drucke infolge der Höhe von Materialkosten und
die buchkünstlerische Gestaltung sichtbar werden Arbeitsaufwand sowie aufgrund der technisch
zu lassen. bedingten niedrigen Auflage einen äußerst exklusi-
Dem Gebiet der Buchdekoration und -illustra- ven Charakter besaßen, erschien den an der Herstel-
tion gestanden nun viele Buchgestalter nur noch die lung beteiligten Buchkünstlern gerechtfertigt durch
sekundäre Bedeutung zu, schmückendes Beiwerk die beispielgebende Wirkung, die man sich für das
zu liefern, von dem man in erster Linie verlangte, gesamte Buchgewerbe erhoffte. Entsprechend dem
daß es sich unaufdringlich in den durch die typogra- buchkünstlerischen Grundsatz, daß Schrift und Satz
phische Gestaltung erzeugten Gesamteindruck des nicht nur materielle Transportmittel eines geistigen
Buches einzufügen habe. 41 Gehalts sind, sondern als >Bilder< eine über ihre
funktionelle Bestimmung hinausgehende ästhe-
Im August 1907 gründeten C. E. Poeschel und
tische Ausdruckskraft besitzen, lag das Schwerge-
Walter Tiemann in Leipzig die erste nach engli-
wicht der Pressenarbeit auf der vollendeten typogra-
schem Vorbild konzipierte Privatpresse in Deutsch-
phischen Gestaltung der hergestellten Bücher, wäh-
land - die Janus-Presse. Noch im selben Jahr begann
rend von den Möglichkeiten der dekorativen und
in Darmstadt die Ernst-Ludwig-Presse unter der
illustrativen Textauslegung sehr zurückhaltend
Leitung von Friedrich Wilhelm und Christian Hein-
oder gar kein Gebrauch gemacht wurde.44.
rich Kleukens zu produzieren. In den Jahren bis
zum Beginn des Ersten Weltkriegs folgten weitere
Pressengründungen: dazu zählte die Gründung der
Bremer Presse (1911), der Officina Serpentis (1911)
2.2.2 Die Stellung der Pan-Presse
und der Cranach-Presse (1913). 42
innerhalb der zeitgenössischen
Für die Entwicklung der deutschen Buchkunst
Buchkunstbewegung
brachte die Arbeit dieser Druckwerkstätten wich-
tige neue Impulse, die ihre Wirksamkeit bis weit in In der Reflexion auf die Entwicklung der deutschen
die 20er Jahre hinein entfalteten. Buchkunstbewegung im ersten Jahrzehnt des
Die Gemeinsamkeit der genannten Pressen, die 20.Jahrhunderts läßt sich der historische Stellen-
als finanziell unabhängige Unternehmen keine
Rücksicht auf die Zwänge verlegerischer Gewinn-
kalkulationen nehmen mußten, lag in dem Ziel, »wie
die bekannten Pressen des Auslandes das Hauptge- 3 9 Cobden-Sanderson: Ideal book or book beautiful,
wicht ihrer Tätigkeit auf die künstlerische Durchbil- S. 1 8 0 - 1 8 5
dung des Buches« 43 zu legen. Eine notwendige 4 0 Ebd., S. 185
Produktionsbedingung der Pressenarbeit war dem- 41 Vgl. etwa Carl Ernst Poeschel: Zeitgemäße Buchdruck-
kunst. Leipzig 1 9 0 4 ; abgedruckt in: Typographie und Bibliophi-
zufolge die Leitung und Überwachung des Herstel-
lie, S. 136, 1 5 0
lungsprozesses der Werke in allen Phasen nach 4 2 Zur Bestimmung des Begriffs »Privatpresse« vgl. Roden-
einheitlichen künstlerischen Gesichtspunkten. Die berg: Deutsche Pressen, S. 4 3 ff.
sorgfältige Auswahl der Materialien (Papier, Druck- 43 Aus dem Ankündigungstext der Janus-Presse, Leipzig
farbe) und der geeigneten Schrifttype, die häufig für 1907, zitiert nach Rodenberg: Deutsche Pressen, S . 9 3
4 4 Ausführlicher zu den Zielsetzungen und Leistungen der
den jeweiligen Text eigens entworfen wurde; die
verschiedenen Pressen: Schmidt-Künsemüller: William Morris,
Lösung aller typographischen Fragen, d.h. die S. 135 ff.; Eyssen: Buchkunst in Deutschland, S. 7 4 ff.
wert der Position, die sich mit der Gründung der 2.2.3 Die Bewertung von originalgraphischen
Pan-Presse allgemeine Geltung verschaffte, genauer Reproduktionsverfahren vor dem
fassen: Hintergrund der Geschichte der
Unter einem Namen, der ausdrücklich auf die künstlerischen Druckgraphik seit der
noch junge buchkünstlerische Tradition Bezug
zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts
nahm und gleichzeitig eine Integration der eigenen
Zielsetzungen in aktuellen Tendenzen auf dem Angesichts des Einspruches, den Paul Cassirer im
Gebiet der modernen Buchausstattung anzudeuten Programmtext der Pan-Presse gegen die Vorstel-
schien, trat hier ein Unternehmen an die Öffentlich- lung erhob, daß die Erzeugung eines vollkommen
keit, das sich zur Aufgabe setzte, »zur Herstellung stimmigen ästhetischen Eindrucks des Buchganzen
von Büchern die größten lebenden Künstler heran- oberstes Ziel der modernen Buchausstattung zu
zuziehen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich in sein habe, verwundert es nicht, daß auch bei der
der Technik auszudrücken, die ihrem Talent und technischen Herstellung der illustrierten Bücher
Temperament adäquat ist« - eine Ankündigung, der Pan-Presse ein Verstoß gegen die buchkünstleri-
deren polemische Stoßrichtung gegen die zeitge- sche Forderung nach absoluter Einheitlichkeit des
nössischen Pressengründungen und ihren Bestre- technischen Verfahrens von Text- und Illustrations-
bungen unübersehbar war. druck selbstbewußt in Kauf genommen wurde:
Gegenüber der Auffassung, daß sich die moderne Während der Textdruck mit Hilfe industrieller
Buchillustration sowohl in ihrer inhaltlichen Aus- Fertigungsmethoden, also maschinellem Satz und
führung als auch in der Wahl der technischen Mittel Druck auf der Schnellpresse, erfolgte, wurde beim
dem einheitlichen ästhetischen Gesamteindruck Druck der Buchillustrationen ausschließlich von
des Buches dienend unterzuordnen habe, wird hier den originalgraphischen Reproduktionsmethoden
darauf bestanden, daß die bildliche Textinterpreta- der Lithographie, des Holzschnitts und der Radie-
tion als eigenständiger Bereich künstlerischen rung Gebrauch gemacht. Einerseits wurden also für
Schaffens aufgefaßt werden müsse, in dem aus- den Textdruck die modernen Herstellungsmetho-
schließlich die immanenten Notwendigkeiten des den der »Industrie«, die »gute alte Typen und nicht
Gestaltungsvorganges Geltung besäßen. weniger gute neue in ihre Muster aufgenommen«
Das Konzept vom Buch als künstlerischer Ein- habe, 45 ganz selbstverständlich in Anspruch genom-
heit wird abgelehnt als ein gegenüber den realen men; andererseits wurden - im Gegensatz zur
Tendenzen der zeitgenössischen Kunstproduktion damals in Deutschland üblichen Verlagspraxis - die
blindes Ideal, dessen Verwirklichung die systema- Möglichkeiten einer »mechanischen Reproduktion«
tische Mißachtung, wenn nicht gar Unterdrückung für den Druck der Illustrationen strikt abgelehnt.
individueller und darin authentischer künstleri- Sogar die Werbeanzeigen und -prospekte sollten
scher Empfindungen und Ausdrucksbedürfnisse keine photomechanischen Reproduktionen enthal-
zur Folge habe. ten, teilte der Verlag 1910 mit (ein Versprechen, das
Im Exkurs zur Entwicklung der deutschen Buch- allerdings schon bald gebrochen wurde), »weil es
kunst wurde die These vertreten, daß in der Vorstel- dem Prinzip der Pan-Presse nicht entspräche, daß
lung vom >Buch als Gesamtkunstwerk« unterschwel- zwischen der Arbeit des Künstlers und dem Druck
lig die Forderung nach Aufhebung der Autonomie die mechanische Reproduktion gezeigt wird.«46
von Kunst durch die Einbindung künstlerischen Die Aufspaltung des technischen Herstellungs-
Produzierens in die Reproduktionsbedürfnisse des verfahrens begründete eine gewisse Ambivalenz im
alltäglichen Lebens weiterwirkte, die einst von Charakter der Bücher der Pan-Presse. Während die
Morris als sozialrevolutionäres Ziel aufgestellt und technischen Umstände des Textdrucks - im Unter-
später von den Jugendstilkünstlern als ein innerhalb schied zu den niedrigen Auflagen der Handpressen-
der bestehenden Gesellschaft verwirklichbares kul- drucke - prinzipiell hohe Auflagenzahlen und dem-
turelles Reformprogramm verfochten worden war. entsprechend eine weite Verbreitung der verlegten
Gemäß diesem Erklärungsversuch ließe sich das Werke ermöglichten, war die tatsächliche Auflagen-
Programm der Pan-Presse auch als Eingeständnis höhe durch die Bedingungen des Illustrationsdruk-
der realen Situation der Kunst um 1910 interpretie- kes auf nur wenige hundert Exemplare begrenzt,
ren, in der die Idee einer Aussöhnung des künstleri- welche so von vornherein nur einem exklusiven
schen Bedürfnisses nach individueller Selbstver- Kreis zahlungskräftiger Käufer zugänglich waren.
wirklichung mit den Anforderungen des gesell-
schaftlichen Lebens allen Realisierungsversuchen 45 Katalog der Pan-Presse 1912, S. 5
zum Trotz weiterhin als Utopie erscheinen mußte. 4 6 Das Moderne Buch des Jahres 1910, S . 6 3
Angesichts dieses Umstandes stellt sich die Frage Winter veranstaltete. 49 Der Hinweis auf den aktuel-
nach den Motiven, die Paul Cassirers Entschluß, in len »gewaltigen Aufschwung« der graphischen Kün-
den Publikationen der Pan-Presse ausschließlich ste macht dabei auf eine kunstgeschichtliche Ent-
originalgraphische Reproduktionsverfahren zur wicklung aufmerksam, deren Geschichte bis in die
Anwendung zu bringen, zugrunde lagen. Verdankte Mitte des 19·Jahrhunderts zurückreicht.
sich das Plädoyer für Originalgraphik einer rein Die Erfindung der Photographie hatte in der
ökonomisch orientierten Spekulation auf eine zweiten Hälfte des 19-Jahrhunderts zur Entwick-
>Marktlücke<, die durch die Bedürfnisse einer an lung und fortschreitenden Vervollkommnung zahl-
kostbaren und seltenen Luxusausgaben interessier- reicher photomechanischer Reproduktionsverfah-
ten, elitären Käuferschicht bestimmt wurde? War ren geführt, die den traditionellen graphischen
also die Herstellung von teuren »Luxusdrucken« das Reproduktionstechniken allmählich auf allen Illu-
von vornherein angestrebte Ziel der Arbeit der strationsgebieten, bei denen es auf eine möglichst
Pan-Presse, oder war sie vielleicht eher eine aus sachliche, wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der ab-
anderen Beweggründen in Kauf genommene un- gebildeten Objekte ankam, Konkurrenz zu machen
umgängliche Konsequenz? begannen. Dieser Prozeß der technischen Umwäl-
Im Programm-Vorwort der Pan-Presse von 1912 zung der Reproduktionsmethoden hatte die zeitge-
nahm Paul Cassirer zum Thema Originalgraphik nössischen Maler und Graphiker zu einer Neubesin-
ausführlicher Stellung. So heißt es dort gleich zu nung auf die eigenen Möglichkeiten und Qualitäten
Beginn: der traditionellen druckgraphischen Techniken
gedrängt.
Der gewaltige Aufschwung, den die graphischen Künste seit
einigen Jahren g e n o m m e n haben, brachte auch bei uns in
Seit den 50er Jahren wurde die Radierung in
Deutschland viele Künstlerhände zu eifriger Regsamkeit... So Frankreich von vielen Künstlern als Ausdrucksmit-
entstanden in neuerer Zeit zahllose interessante Blätter, die tel wiederentdeckt, das in besonderer Weise geeig-
uns Gelegenheit geben, in Original-Werken die Individualitä- net schien, die Ursprünglichkeit der spontanen
ten der verschiedensten hervorragenden Meister kennen und
genießen zu lernen. 4 7
Erfindung sowie die Originalität der individuellen
künstlerischen Anschauung und Empfindung zu
In der Betonung, daß jede Radierung, Lithogra- vermitteln. 50
phie und jeder Holzschnitt als originales künstleri- Das Interesse an einer Sensibilisierung des kunst-
sches Werk aufzufassen sei, kommt Paul Cassirers interessierten Publikums an den eigenständigen
Auffassung zum Ausdruck, daß sich die individuelle Qualitäten originaler Künstlergraphik veranlaßte
>Handschrift< eines Künstlers nur mit Hilfe der viele Künstler, die sich im Unterschied zu den als
traditionellen manuellen Druckverfahren unver- Kupferstecher und Radierer spezialisierten Repro-
fälscht reproduzieren lasse. Für eine authentische duktionsgraphikern als »Peintres-Graveurs« be-
Wiedergabe der künstlerischen Vorlage sei es not- zeichneten, verstärkte Aufmerksamkeit auf eine
wendig, daß der Künstler seinen Entwurf eigenhän- sorgfältig kontrollierte Herstellung der Abzüge von
dig auf den Druckstock (Lithostein, Holzstock oder den Druckplatten zu legen. Allmählich wurde es
Kupferplatte) übertrage, von dem dann eine üblich, die verschiedenen Zustände der Platten, die
begrenzte Zahl von Abzügen auf der Handpresse Exemplarnummer des Abzugs sowie die Auflagen-
hergestellt werden könne. Zum Druckvorgang höhe anzugeben und den Original-Charakter des
selbst heißt es in demselben Text: einzelnen Drucks durch die handschriftliche Signa-
tur zu beglaubigen.
Die Handpresse, die für den die Technik vollkommen ausnut-
zenden Künstler allein in Frage kommt, ist ein in Deutschland
überaus vager Begriff. Alle Veröffentlichungen der Pan-Presse
sind mit der Hand gedruckt. Nur der Handpresse ist es
47 Katalog der Pan-Presse 1912, S. 3 f.
möglich, dem Drucke vom Stein, von der Kupferplatte und
4 8 Ebd., S . 7
v o m Holzstock den edlen Charakter zu erhalten, der diesen
4 9 Vgl. das Vorwort im Katalog der einundzwanzigsten
Künsten eigen ist. 4 8
Ausstellung der Berliner Secession, 1 9 1 0 / 1 9 1 1 , S . 9 : »Wenn man
sich die Schwarz-Weiß-Ausstellungen der Berliner Secession die
Bei der Darlegung seines Standpunktes konnte sieben J a h r e hindurch, wo sie existieren, vergegenwärtigt, so ist zu
sich Paul Cassirer auf die wachsende Aufgeschlos- konstatieren, dass das Arbeiten der Künstler in der zeichneri-
senheit des zeitgenössischen kunstinteressierten schen Beziehung sowie das Interesse des Publikums daran von
J a h r zu J a h r intensiver geworden ist.«
Publikums für künstlerische Originalgraphik beru-
5 0 Z u r Wiederentdeckung der Radierung als künstlerisches
fen, die sich ζ. B. in der positiven Resonanz auf die Ausdrucksmittel in Frankreich: Glaser: Die Graphik der Neuzeit,
Ausstellungen der »Zeichnenden Künste« manife- S. 3 4 3 ff.; (Ausst. Kat. Hamburg 1977) V o n Delacroix bis Munch,
stierte, die die Berliner Secession alljährlich im S.48ff.
Die 1889 in Paris gegründete »Societe des Pein- Auflagen konnten sich die Künstler auf einige
tres-Graveurs Fransais« setzte schließlich einen spezialisierte Druckereien in Paris verlassen, die
genau definierten Begriff von »Originalgraphik« qualitativ hochwertige Resultate auch bei kompli-
durch, von dessen allgemeiner Anerkennung Paul zierten Druckvorgängen garantierten. 52
Cassirer in seinen Ausführungen über die Prinzipien Im Zusammenhang mit ihrem Engagement für
der Pan-Presse ausgehen konnte. die Veröffentlichung zeitgenössischer Künstler-
Die Lithographie stand um die Jahrhundertmitte graphik kamen Verleger wie Henry Floury und der
in Frankreich allgemein in dem Ruf, eine für Kunsthändler Ambroise Vollard - um nur zwei der
künstlerische Ausdrucksbedürfnisse weitgehend für die Entstehung des sogenannten >Malerbuchs<
untaugliche graphische Technik zu sein. Dieses wichtigsten Namen zu nennen - auf die Idee, das
Urteil läßt sich als Reaktion auf die Resultate neue Interesse vieler Künstler an der lithographi-
erklären, die die vielfältige kommerzielle Nutzung schen Technik auch für das Gebiet der Buchillustra-
der Lithographie, die auf dem Gebiet der tion fruchtbar zu machen. 5 3 Während in den von
Gebrauchsgraphik (Plakate, Werbezettel etc.) ein französischen Künstlern illustrierten Büchern bis
relativ kostengünstiges und zudem farbige Abbil- 1890 neben der photographischen und photome-
dungen ermöglichendes Reproduktionsverfahren chanischen Reproduktion von Zeichnungen vor
abgab, mit sich brachte. allem die graphischen Techniken des Holzstichs
Eines dieser Resultate bestand darin, daß die und der Radierung Verwendung fanden, erschienen
modernen, auf Massenauflagen eingestellten litho- im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts zahlrei-
graphischen Druckereien aufgrund ihrer aus Renta- che Bücher mit Originallithographien. Genannt
bilitätserwägungen abgeleiteten Gepflogenheiten seien an dieser Stelle die lithographischen Illustra-
(Vervielfältigung des Original-Entwurfs durch häu- tionen von Henri Toulouse-Lautrec (Gustave Gef-
figen Umdruck, standardisierter Ablauf des Druck- froy: Yvette Guilbert, 1894; Georges Clemenceau:
vorgangs, Verwendung von schlechter Druckfarbe Au Pied de Sinai, 1898; Jules Renard: Histoires
und schlechtem Papier) nur qualitativ minderwer- Naturelles, 1899), von Maurice Denis (Andre Gide:
tige Drucke zustandebrachten. Le voyage d'Urien, 1893) und Pierre Bonnard (Paul
Verlaine: Parallelement, 1900; Longus: Daphnis et
Von einer öffentlichen Rehabilitierung der Litho-
Chloe, 1902).54
graphie als eines gegenüber der Radierung gleich-
wertigen künstlerischen Ausdrucksmittels kann Diese Werke, in denen sich die Illustrationen -
erst in den 90er Jahren gesprochen werden. 51 Fran- skizzenhaft-leichte, weniger auf erzählerische Ge-
zösische Verleger, die im letzten Jahrzehnt des halte als auf atmosphärische Werte angelegte
19-Jahrhunderts dem Vorbild des Verlegers Alfred Impressionen - in malerischer Freiheit mit dem
Cadart in der Aktivierung künstlerischer Produkti- Text verbinden, lassen eine neue Form der Buchillu-
vität auf dem Gebiet der Originalgraphik nacheifer- stration erkennen, die man auf Edouard Manets
ten, erkannten, daß gerade die Möglichkeiten der
Lithographie den Ausdrucksbedürfnissen jüngerer
zeitgenössischer Künstler, die eine großflächig- 51 Über den neuen Aufschwung der Lithographie E n d e des
malerische und farbige Bildwirkung anstrebten, 19.Jahrhunderts und seine Vorgeschichte: Glaser: Die Graphik
der Neuzeit, S. 3 7 2 ff.; (Ausst. Kat. Bremen 1976) Die Lithogra-
entgegenkamen. In Graphikpublikationen wie ζ. B.
phie, S. 108 ff.; (Ausst. Kat. Hamburg 1977) Von Delacroix bis
den zwischen 1893 und 1895 veröffentlichten Munch, S. 145 ff.
Alben von L'Estampe originale (hrsg. von Andre 52 Z u den bekanntesten Pariser Druckereien für Künstler-
Marty) und den 1896 und 1897 veröffentlichten lithographien zählte die Werkstatt von Auguste Clot, in der
Alben der Galerie Vollard, in den Beilagen von Künstler wie Degas, Bonnard, Toulouse-Lautrec und M u n c h ihre
Arbeiten drucken ließen. Aufgrund ihrer Erfahrung und Sorgfalt
Zeitschriften wie der Revue Blanche, die künstleri-
bei der Behandlung drucktechnischer Probleme genoß die
sche Originalgraphik enthielten, sowie durch die Clotsche Druckerei ein hohes A n s e h e n . In Deutschland stand sie
Veröffentlichung zahlreicher graphischer Zyklen auch noch im ersten J a h r z e h n t des 20. Jahrhunderts in dem Ruf,
von Henri Toulouse-Lautrec, Maurice Denis, Pierre drucktechnischen Anforderungen gewachsen zu sein, die deut-
sche Druckereien nicht zu bewältigen vermochten. So ließ ζ. B.
Bonnard und Edouard Vuillard wurde das Publikum
Bruno Cassirer die empfindlichen Tuschlithographien Max
auf die Vielfalt und den Reichtum des künstleri- Slevogts zu G o e t h e s Übersetzung der Lebenserinnerungen des
schen Schaffens auf dem Gebiet der - vielfach Benvenuto Cellini für die Vorzugsausgabe bei Clot in Paris
farbigen - Lithographie aufmerksam gemacht. drucken. Vgl. Bruno Cassirer im Vorwort zu: Max Slevogt, Ein
Verzeichnis der von ihm illustrierten Bücher, S. 3
Bei der technischen Herstellung der lithographi-
53 Vgl. Ray: T h e Art of the French Illustrated Book, B d . 2 ,
schen Abzüge auf der Handpresse in kleinen, häufig S. 4 9 6 ff.
nicht mehr als hundert Exemplare umfassenden 54 Ebd., Kat. Nr. 3 7 5 , 3 8 0 - 3 8 4
Illustrationen aus den 70er Jahren (Charles Cros: Le sichtsrats der Genossenschaft, über die Anforderun-
fleuve, 1874; Edgar Allen Poe: Le corbeau, 1875) gen an die Ausstattung einer illustrierten Kunstzeit-
zurückführen kann. 55 schrift. Bode ging darin ausführlich auf die verschie-
Die meisten der frühen >Malerbücher< waren in denen photomechanischen Reproduktionsverfah-
den Jahren nach ihrem Erscheinen kaum zu verkau- ren ein, die seit ihrer Einführung in der zweiten
fen; erst dreißig Jahre später sollten sie zu allgemei- Hälfte des 19-Jahrhunderts (Strichätzung um 1860;
ner Berühmtheit gelangen. 56 Innerhalb eines kleine- Lichtdruck 1869; Heliogravüre 1879; Autotypie
ren Kreises von in- und ausländischen Kunstliebha- 1882) die traditionelle Technik des Holzstichs auf
bern, die den avantgardistischen Tendenzen der dem Gebiet der Illustrationsgraphik zu verdrängen
zeitgenössischen Kunstproduktion aufgeschlossen begannen. 6 0
gegenüberstanden, wurden sie allerdings schon bald Über die neuentwickelten Methoden, gezeich-
als vorbildliche Leistungen auf dem Gebiet einer nete Vorlagen auf photographischem Wege auf
spezifisch modernen Buchillustration bewundert. 57 Zinkplatten zu übertragen, aus denen durch Ätzung
Auch in Deutschland setzte sich in der zweiten Hochdruckplatten angefertigt wurden, die »wie ein
Hälfte des 19.Jahrhunderts - allerdings deutlich Holzstock in den Satz gestellt werden« konnten,
später als in Frankreich und England - eine Neu- schrieb Bode:
bzw. Wiederbesinnung auf die Erkenntnis durch,
W i e wenig diese verschiedenartigen Hochätzungen künstleri-
daß Druckgraphik nicht nur unselbständige Repro-
schen Anforderungen in der Regel entsprechen, das können
duktionsaufgaben zu erfüllen habe, sondern einen sich auch die aufrichtigsten Freunde dieser Vervielfältigungs-
eigenständigen Wirkungsbereich künstlerischen arten nicht verheimlichen... Die Wiedergabe durch das Netz,
Produzierens darstelle. 58 mag dieses noch so fein sein, hat immer einen unkünstleri-
schen flauen Charakter und wirkt namentlich da, wo helle
Nach Wilhelm Leibi, der bereits Mitte der 70er Lichter in den Kunstwerken sind, besonders störend; das
Jahre einige Originalradierungen schuf, war vor Kornverfahren hat dagegen den Fehler, die Schatten zu dunkel
allem Max Klinger mit seinen zahlreichen, ab 1879 und klexig erscheinen zu lassen und dem Ganzen eine
unbestimmte Erscheinung und einen russigen Ton zu
veröffentlichten Radierzyklen und seiner theoreti-
geben. 6 1
schen Schrift Malerei und Zeichnung (erschienen
1891) für die Wiederbelebung des Interesses an Für den Pan, der ein »musterhaftes Beispiel« für
künstlerischer Originalgraphik wichtig. die künstlerische Ausstattung von Büchern und
Im Zuge der Rehabilitierung der Radierung als Zeitschriften geben sollte, forderte Bode:
künstlerisches Ausdrucksmittel, die sich u.a. in der Einzelblätter sollten im Stich, Radierung, Holzschnitt und
Gründung von Radiervereinen in vielen Städten (ab Lithographie, gelegentlich auch im Farbenstich oder Farben-
1876) manifestierte, gelangten in den 90er Jahren holzschnitt, kurz in allen freien künstlerischen Reproduk-
auch die Techniken der Lithographie und des
Holzschnittes zu neuer Anerkennung. Angeregt
durch die aktuellen Entwicklungstendenzen der 55 Rolf Söderberg: French Book Illustration, S. 134ff.
Graphik in Frankreich wandte sich z.B. Edvard 56 Vgl. ebd., S. 1 4 0 ff.,S. 1 5 0
Munch, dessen erste Kaltnadelradierungen 1894 57 Vgl. Vollard: Erinnerungen, S. 1 3 1 :
entstanden, ab 1895 der Lithographie und wenig »Ich erinnere mich, daß mitten im Krieg, im Jahre 1917, in der
Schweiz eine Ausstellung deutscher Bücher stattfand. Man
später dem Holzschnitt zu.
konnte dort die Ausgaben sehen, die ich veröffentlicht hatte:
Einen wichtigen Beitrag zum allgemeinen »Auf- >Parallelement< und >Daphnis und Chloe·, illustriert von Bon-
schwung der graphischen Künste« in Deutschland, nard, die die Bibliotheken jenseits des Rheines zu einer Zeit
ehrfürchtig aufgenommen hatten, als sie in Frankreich noch sehr
der im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts
wenig geschätzt wurden. Damals zögerte der bekannte deutsche
begann, leistete die Zeitschrift Pan, über die Paul Kritiker Meier-Graefe nicht, in der .Frankfurter Zeitung< zu
Cassirer im Programm-Vorwort der Pan-Presse von schreiben, daß ein Buch wie «Daphnis und Chloe<, bei dem Papier,
1912 schrieb: Druck und Illustration so vollkommen harmonierten, in Deutsch-
land niemals erscheinen könnte. Als ich 1902 > Daphnis und
Der Name Pan wurde mit dem Unternehmen verknüpft im Chloe< herausgebracht hatte, war es auch ein deutscher Kunsten-
Andenken an die Bestrebungen der Genossenschaft Pan, die thusiast, Harry Graf Kessler, der für dies Buch begeistert Reklame
im Jahre 1 8 9 4 gegründet wurde und damals den äußeren Anlaß unter seinen Freunden machte.«
eines folgenreichen Aufschwungs gab. W i r glauben, daß unsere 58 Vgl. Glaser: Die Graphik der Neuzeit, S. 4 2 5 ff., 51 Iff.;
Tendenzen mit denen der Gründer des alten Pan übereinstim- (Ausst. Kat. Hamburg 1977) Von Delacroix bis Munch,
men und sind uns wohl bewußt, welche Pflichten dieser S. 116 ff.
Hinweis mit sich bringt. 5 9
59 Katalog der Pan-Presse 1912, S . 6
60 Vgl. Hanebutt-Benz: Studien zum Deutschen Holzstich,
Bereits in der ersten Nummer des Pan erschien S. 9 1 5 ff.
ein Aufsatz von Wilhelm Bode, Mitglied des Auf- 61 Bode: Anforderungen an die Ausstattung, S. 31
tionsarten ausgeführt s e i n . . . Für die Textillustration sollten, Kunstfreunde und Bibliophilen zu überzeugen ver-
außer der Hochätzung für einfache lineare Reproduktionsar-
suchen«:
ten nach Holzschnitten, Stichen oder Zeichnungen, nur die
rein künstlerischen Reproduktionsweisen gepflegt werden; in Da es darauf ankam, die Handschrift des Künstlers im Buch so
erster Linie der Holzschnitt, und zwar in der seiner Natur lebendig wie möglich zu erhalten, so mußten mechanische
entsprechenden kernigen konturartigen Behandlung, daneben Verfahren ausgeschaltet werden und an deren Stelle ein
die Lithographie, sowie die Radierung und der Stich, deren graphisches Verfahren treten. Mechanische Reproduktionen
Druck im T e x t freilich besondere Schwierigkeiten bietet. 6 2 blieben natürlich notwendig, wenn das Haupterfordernis
Billigkeit war. 6 8
Diese Forderungen fanden die Zustimmung der
Redaktion, und so veröffentlichte der Pan zahlrei- Ähnliche Überlegungen können als Begründung
che originalgraphische Beiträge von in- und auslän- für die Entscheidung Paul Cassirers, bei den Werken
dischen Künstlern.63 der Pan-Presse ausschließlich originalgraphische
Gleichzeitig hatte der Leser dadurch, daß in der Reproduktionsverfahren zuzulassen, angenommen
Zeitschrift auch die verschiedenen photomechani- werden. Er, der wie Bruno Cassirer nach dem
schen Reproduktionsverfahren häufig zur Anwen- Vorbild des französischen Kunsthändlers und Ver-
dung kamen, die Gelegenheit, die einzelnen Ver- legers Vollard die besten zeitgenössischen Künstler
vielfältigungsmethoden auf ihre Leistungsfähigkeit in Deutschland für die Buchillustration gewinnen
hin zu überprüfen. wollte - wobei er wohl in erster Linie an die
Trotz der großen Wirkung, die das Vorbild des führenden Mitglieder der Berliner Secession dachte
Pan auf die Praxis der Buchausstattung deutscher - , war davon überzeugt, daß das illustrierte Buch
Verlage - z.B. Eugen Diederichs, Insel, S.Fischer seine Wirksamkeit als »Mittel der Propaganda«69 für
und Hans von Weber - insgesamt ausübte, fand die moderne Künstlergraphik nur entfalten könne,
Anregung zu originalgraphischen Buchillustratio- wenn durch die Vervielfältigungsmethoden garan-
nen, anders als in Frankreich, in Deutschland tiert werde, daß die Qualität der Illustrationsent-
zunächst keine Resonanz. Künstler wie Heinrich würfe in jedem Druck erkennbar sei.
Vogeler, Marcus Behmer, Th.Th. Heine und Emil Die Entscheidung für kostspielige originalgraphi-
Preetorius, die in den Jahren vor und nach der sche Reproduktionsverfahren und eine entspre-
Jahrhundertwende nicht nur als Buchgestalter, son- chende Begrenzung der Auflagenhöhe auf wenige
dern auch als Illustratoren für verschiedene Verlage hundert Exemplare schloß allerdings von vornher-
tätig waren, schufen ihre Entwürfe als gezeichnete ein aus, daß die beabsichtigte »Propaganda« durch
Vorlagen, die dann als Strichätzungen oder Auto- das illustrierte Buch ein größeres, weniger zahlungs-
typien gedruckt wurden. kräftiges Publikum überhaupt erreichte. Daß die
Auch Slevogts erste Illustrationsarbeiten, die Reflexion dieses Widerspruchs in Paul Cassirers
Zeichnungen zu Ali Baba und die 40Räuber, wur- Überlegungen zum Zeitpunkt der Gründung der
den als Lichtdrucke, Strich- und Netzätzungen Pan-Presse keine Rolle spielte, wird verständlich
reproduziert. Anders aber als bei den Entwürfen der angesichts der Tatsache, daß eine breitere Nachfrage
zuvorgenannten Illustratoren, die sich aufgrund der nach den geplanten Publikationen auch bei einer
linear-ornamentalen Strichführung und ihrer mit billigeren Herstellung zunächst nicht vorausgesetzt
reinen Schwarz-Weiß-Kontrasten arbeitenden Flä- werden konnte.70
chengestaltung für die photomechanische Repro-
duktion eigneten und häufig von vornherein dafür
konzipiert waren,64 mußten bei der photomechani- 62 Ebd., S. 32 f.
schen Reproduktion von Slevogts Zeichnungen mit 6 3 Ebd., S . 4 0 : »Zur Ausstattungsfrage« (Stellungnahme der
ihrer weichen, lockeren Strichführung und der Redaktion des »Pan«)
6 4 Hofstätter: Jugendstil, S. 15 f.
differenzierten Abstufung von Grautönen deutliche
65 Vgl. Glaser: Die Graphik der Neuzeit, S . 4 9 8 f . ; Heffels:
Qualitätsverluste hingenommen werden.65 Die Buchillustration von Max Slevogt, S. 195
Da die Veröffentlichung von Slevogts Illustratio- 6 6 Bruno Cassirer im Vorwort zu: Max Slevogt, Ein Verzeich-
nen zum Ali Baba ein verlegerischer Mißerfolg nis der von ihm illustrierten Bücher, S. 2 f.
67 Max Slevogt in einem Brief an Karl Voll vom 1 6 . 4 . 1 9 0 7 ;
wurde, entschied sich Bruno Cassirer bei dem
abgedruckt in: Imiela: Max Slevogt, S . 3 9 8 A n m . 2 2
nächsten Werk des Künstlers gegen den »Versuch, 6 8 Vorwort zu: Max Slevogt, Ein Verzeichnis der von ihm
ins Volk zu dringen«66 - übrigens zum Bedauern illustrierten Bücher, S. 2 f.
Slevogts, der das Bedürfnis bekundete, »(wohlge- 6 9 Katalog der Pan-Presse 1912, S. 5
merkt bei zeichnerischen Dingen) >viele< gegen 7 0 Vgl. Max Slevogt in einem Brief an Karl Voll v o m
6 . 1 . 1 9 0 8 ; abgedruckt in: Imiela: Max Slevogt, S . 4 0 1 . A n m . 4 3 :
ihren Willen zu beglücken«.67 Stattdessen wollte
»Das dritte opus »Sindbad der Seefahrer< erscheint jetzt, ist aber so
Cassirer »zunächst einmal den kleinen Kreis der kostbar in Pergament, Druck u. Lithograph., daß ich wieder
Um eine auch komplizierten Anforderungen sollten die Arbeiten verschiedener Künstler für die
genügende Qualität der in der Pan-Presse herge- Werke der Pan-Presse einem größeren Publikum
stellten Handpressenabzüge sicherzustellen, über- zugänglich gemacht werden. Daß das Konzept der
trug Paul Cassirer dem Graphiker Reinhold Hoberg Volksausgaben tatsächlich eher auf kunstpädagogi-
die Leitung der Druckerei. Hoberg, dessen künstle- schen als auf ökonomischen Zielsetzungen beruhte,
rische Qualifikation in den Anzeigen der Pan-Presse geht aus einem Brief Paul Cassirers aus dem Jahre
stets ausdrücklich hervorgehoben wurde,71 bezeich- 1918 hervor, in dem er Max Slevogt für die Illustra-
nete seine Tätigkeit bei Paul Cassirer, die er bis 1919 tion einer Faust-Ausgabe zu gewinnen versuchte. In
ausübte, in der Rückerinnerung als diesem Brief bezeichnete er die geplante Volksaus-
gabe als ein in ökonomischer Hinsicht »unüber-
Jahre voller Arbeit und Arger - an die ich aber doch gerne
zurückdenke, führten sie mich doch mit Max Liebermann und sichtliches Kapitel« - im Unterschied zur »Luxus-
Slevogt und anderen tüchtigen Menschen zusammen, denen ausgabe«, die sicherlich »viel Geld bringen« werde.75
ich vieles, ganz besonders in der Fortentwicklung des moder- Um die Verkaufspreise möglichst niedrig zu halten,
nen Holzstiches, wie ich ihn anstrebe, zu danken habe.72 wurden bei der Herstellung der Volksausgaben die
strengen Maßstäbe, die für die Arbeit der Pan-Presse
Auch wenn die Drucke der Pan-Presse durchaus
nicht immer das qualitative Niveau der Probeabzüge
erreichten, die die Künstler von ihren Arbeiten
machten, läßt der Erfolg der Presse, die nicht nur
verzweifeln muß, ob ich Dir ein Exemplar zustellen kann. Das ist
Graphik der von Paul Cassirer vertretenen Künstler der Fluch, daß bei unseren Verhältnissen in Deutschland der
druckte, sondern auch Aufträge von anderen Verle- Verleger nur an ein winziges, mit gespicktem Beutel begabtes
gern erhielt, doch auf eine - zumindest gemessen Publikum denken mag - und eine breite Auflage a la Indianerge-
am damaligen Standard in deutschen Druckereien schichte ein liebenswürdiger, aber wohl vergeblicher Versuch
bleibt, den ich nur meinen persönlichen Beziehungen verdanke.«
für Künstlergraphik - generell hohe Qualität der Mit der »Indianergeschichte« meinte Slevogt die Erzählung
Erzeugnisse schließen.73 »Coranna, Eine Indianergeschichte« von W. Ciaire, die mit 35
Erst im Zusammenhang mit den Zeitungsprojek- Illustrationen des Künstlers (Strichätzungen nach Federzeich-
nungen) im Paul Cassirer Verlag erschien (vgl. Kap. 1, Anm.60).
ten Kriegszeit und Der Bildermann rückte in Paul
71 Vgl. Anm. 2
Cassirers verlegerischen Überlegungen der Ge-
72 Gurlitt: Das graphische Jahr, S.60. Aus welchen Gründen
danke in den Vordergrund, daß das originalgraphi- Hoberg 1919 seine Stellung als Leiter der Pan-Presse aufgab, ist
sche Reproduktionsverfahren der Lithographie ein nicht bekannt. Die zitierte biographische Notiz scheint auf ein
ausgezeichnetes Mittel darstelle, »die Kunst unserer Zerwürfnis zwischen Paul Cassirer und Reinhold Hoberg hinzu-
Zeit ... weiten Kreisen unseres Volkes zu vermit- deuten. Für diese Vermutung spricht auch die Tatsache, daß
Hoberg nach 1919 als Graphiker für den Fritz Gurlitt Verlag
teln« (vgl. Kap. 1.2.4). In der Einführung des Bilder- arbeitete. Bei Fritz Gurlitt erschien auch das Buch »Die graphi-
mann machten die Herausgeber das Publikum schen Techniken und ihre Druckverfahren« ( = Fritz Gurlitt, Das
nachdrücklich darauf aufmerksam, daß die lithogra- graphische Jahr. Berlin 1923), in dem Hoberg seine langjährigen
phischen Abzüge (die übrigens nicht in der Pan- Erfahrungen in der Pan-Presse verarbeitete.
Presse, sondern in der Druckerei von M.W. Lassally 73 In dem Zeitraum zwischen dem Frühjahr 1912 und dem
Frühjahr 1913 wurde die Pan-Presse in neuen, größeren Räumen
hergestellt wurden) als künstlerische Originale auf-
untergebracht (vgl. die Adressenänderung in den Katalogen zur
zufassen seien: 24. und 26. Ausstellung der Berliner Secession). Der Umzug der
Druckerei wurde den Kunden u. a. durch ein als Brief gestaltetes
Was wir bringen, sind keine Reproduktionen. Der Druck vom Anzeigenblatt (vgl. Anm. 4) mitgeteilt, in dem darauf hingewie-
Stein ist ein Original. Die photographische Platte ist nicht sen wird, »daß sich durch das rege und erfreuliche Interesse,
zwischen die Zeichnung des Künstlers und den Druck welches die Bestrebungen der Pan-Presse in den Kreisen der
getreten. Der Strich der Lithographie ist so lebendig wie der Künstler und Verleger fand, die Notwendigkeit ergab grössere
Strich der Zeichnung. Das Unbewußte des Künstlers, das sich und geeignetere Räume für dieselbe zu beschaffen.« Für andere
ausdrückt in den leisen, niemals zu reproduzierenden Bewe- Verlage druckte die Pan-Presse z.B. die Illustrationen zu:
gungen der zeichnenden Hand, bleibt der Künstlersteinzeich- Theophile Gautier: Mademoiselle de Maupin. Mit 12 Farblitho-
nung erhalten.74 graphien von Karl Walser, München, Leipzig: Georg Müller
1913;Jakob Wassermann: Donna Johanna von Castilien. Mit 16
Auch nach dem Scheitern des Bildermann-Pro- Steindrucken von Hans Meid, Berlin: Hans von Weber 1914
jekts blieb die Idee, die Möglichkeiten künstleri- (1. Dreiangeldruck); Friedrich Schiller: Wallenstein, Ein dramati-
scher Druckgraphik für das Ziel einer weiten Ver- sches Gedicht. Mit 60 Steinzeichnungen von Hans Meid, Berlin:
Maximilian-Gesellschaft 1914/1915 (die Illustrationen sind bis
breitung zeitgenössischer Kunst im Volk zu nutzen,
S. 192 von der Pan-Presse gedruckt)
in Paul Cassirers Vorstellungen lebendig. Dies
74 Paul Cassirer und Leo Kestenberg: Zur Einführung;
beweist die Konzeption der sogenannten »Volks- abgedruckt in: Paret: Die Berliner Secession, S. 345
ausgaben«, die der Verlag nach dem Ende des Ersten 75 Brief an Max Slevogt vom 14.2.1918 (Neukastel, Nachlaß
Weltkriegs herausgab. In diesen Volksausgaben Max Slevogt); vgl. Anm. 93
galten, nicht eingehalten: So wurden ζ. B. die Fabel- 2.2.5 Auswahl der Textvorlagen und
Illustrationen von August Gaul für die Volksausgabe Themengebiete
auf der lithographischen Schnellpresse von M.W.
Über die Auswahl der für die Publikationsreihe der
Lassally gedruckt. Von den Holzstöcken, die Ernst
Pan-Presse vorgesehenen literarischen Werke hieß
Barlach für das 16. und 19. Werk der Pan-Presse
es im Vorwort des Katalogs von 1912 lediglich, daß
geschnitten hatte, wurden Galvanos angefertigt, um
die Texte »mit Sorgfalt ausgewählt und mit Sorgfalt
die Arbeiten maschinell drucken zu können. Und
gedruckt« würden.77 Daß in dieser Formulierung die
bei der Nachkriegsausgabe von Pascins Heine-
Frage nach den inhaltlichen Kriterien der Literatur-
Illustrationen wurde sogar von dem Verfahren der
auswahl völlig offenblieb, erklärt sich aus der Tatsa-
Photolitographie Gebrauch gemacht.
che, daß die literarischen Vorlagen häufig von den
Im Vergleich der Volksausgaben-Abzüge mit den Illustratoren selbst ausgesucht wurden. Nur in
Drucken der Pan-Presse ist der enorme Qualitäts- einem einzigen Fall - beim dritten Werk der
unterschied, der durch die schlechte Beschaffenheit Pan-Presse - läßt sich nachweisen, daß Paul Cassirer
des in den Volksausgaben benutzten Papiers noch seinen Illustrationsauftrag (an Beckmann) mit der
verstärkt wird, unübersehbar. Vorgabe eines ganz bestimmten Textes verknüpfte.
In jenen Fällen, in denen eine Mitwirkung Paul
Cassirers bei der Textauswahl vermutet werden
2.2.4 Auswahl der Künstler kann, scheint das Bemühen des Verlegers vor allem
darin bestanden zu haben, eine dem künstlerischen
In dem bereits erwähnten Anzeigentext von 1910 Themen- und Vorstellungsbereich des jeweiligen
bezeichnete es Paul Cassirer als die Aufgabe der Illustrators entsprechende literarische Vorlage zu
Leitung der Pan-Presse, »zur Herstellung von finden.
Büchern die größten lebenden Künstler heranzuzie-
Infolge dieser Praxis repräsentierten die Publika-
hen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich in der
tionen der Pan-Presse ein bunt gemischtes literari-
Technik auszudrücken, die ihrem Talent und Tem-
sches Programm, zu dem bekannte und weniger
perament adaequat ist«.76 Angesichts dieser Ankün-
bekannte Texte der Weltliteratur ebenso gehörten
digung, die erwarten ließ, daß ausschließlich Künst-
wie die in ihrem literarischen Rang zur damaligen
ler, die in Deutschland allgemein anerkannt waren,
Zeit keineswegs unumstrittenen Erzählungen J. F.
für die Mitarbeit gewonnen werden sollten, mußte
Coopers und Heinrich Heines sowie die Erstveröf-
die tatsächliche Auswahl der Künstler, deren Werke
fentlichungen von zeitgenössischer Dichtung.
in die Publikationsreihe aufgenommen wurden,
Erstaunen hervorrufen. Denn nur Max Slevogt, Diese Textzusammenstellung unterschied sich in
Lovis Corinth und August Gaul waren zum Zeit- ihrem heterogenen Charakter deutlich von den
punkt der Veröffentlichung ihrer Illustrationen literarischen Programmen anderer zeitgenössischer
bereits berühmte Künstler. Andere hingegen, wie bibliophiler Veröffentlichungsreihen, wie ζ. B. Hans
Max Beckmann, Ernst Barlach, Rudolf Grossmann von Webers Drucken für die Hundert, die sich am
und Max Oppenheimer, waren höchstens bei einem »vertrauten Bildungskanon des deutschen Bürger-
kleinen, den aktuellen künstlerischen Entwicklun- tums« orientierten.78
gen gegenüber aufgeschlossenen Publikum als Gerade aber aufgrund der weitgehenden Freiheit,
talentierte junge Künstler bekannt. die den Künstlern bei der Auswahl der Textvorlagen
und Themengebiete gelassen wurde, geben die
Die Entstehungsgeschichte der einzelnen Publi-
Publikationen der Pan-Presse besonders deutlich
kationen, soweit sie sich rekonstruieren läßt, legt die
Aufschluß über zentrale Problemkonstellationen,
Vermutung nahe, daß Paul Cassirer die verschiede-
mit denen sich viele Künstler in den Jahren vor und
nen Künstler nicht nach einem wohlüberlegten
nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigten:
Plan, sondern eher aufgrund spontaner Entschei-
Die Isolation und Verlassenheit des Individuums;
dungen auswählte, die häufig im Verlauf von münd-
das Leiden des vereinzelten Subjekts an den ent-
lichen Unterredungen zustande kamen. Vorausset-
fremdeten, von Gewalttätigkeit geprägten mensch-
zungen für diese Entscheidungen waren weder die
lichen Beziehungen; die Fragwürdigkeit eines zivili-
Existenz enger persönlicher Kontakte noch der
satorischen Fortschritts, der die Unterdrückung
Nachweis besonderer Erfahrung auf dem Gebiet der
Druckgraphik und Buchillustration; ausschlagge-
bend scheint vielmehr Paul Cassirers Überzeugung
76 Das Moderne Buch des Jahres 1910, S.63
von der Entwicklungsfähigkeit der graphischen Be- 77 Katalog der Pan-Presse 1912, S.4
gabung des jeweiligen Künstlers gewesen zu sein. 78 Eyssen: Hans von Weber, S. 274
menschlicher Bedürfnisse und die Zerstörung der erschienen nochmals zwei Publikationen; eine
Natur einschließt - diese Themenkomplexe, aus davon - Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili
denen sich das Interesse für Außenseiterexistenzen mit den Lithographien Otto Hettners - wurde noch
(ζ. B. den Abenteurer und den Künstler) und für - nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröf-
die Beschränkungen des alltäglichen Lebens außer- fentlicht.
kraftsetzende - Ausnahmesituationen ableiten läßt, Als die Pan-Presse 1919 - nach einer Unterbre-
werden in vielen Werken be- und verarbeitet. Die chung von fünf Jahren - ihre Publikationstätigkeit
Häufigkeit, mit der dieselben oder verwandte Pro- wiederaufnahm, hatten sich die Verhältnisse auf
blemstellungen in den einzelnen Werken wieder dem Buchmarkt entscheidend verändert: Bereits
auftauchen, die sich doch auf den ersten Blick mit vor dem Ersten Weltkrieg hatten einige Verleger
ganz unterschiedlichen Stoffen zu befassen schei- wie Hans von Weber, Georg Müller und Reinhard
nen, weist darauf hin, daß sich hier ein intersubjek- Piper - dem Beispiel Bruno und Paul Cassirers
tives Krisenbewußtsein artikuliert, das das Lebens- folgend - damit begonnen, Bücher mit original-
gefühl der verschiedenen Künstler-vermittelt über graphischen Illustrationen zu veröffentlichen. 80 Ab
die Besonderheiten der individuellen Biographie - 1917 kam die durch den Ausbruch des Weltkriegs
mehr oder weniger prägt. Verunsicherung und zunächst unterbrochene Entwicklungstendenz im
Skepsis gegenüber den herrschenden Prinzipien des deutschen Verlagswesen zur Publikation von origi-
gesellschaftlichen Lebens können als Grundzüge nalgraphischen Buchillustrationen und Mappen-
dieses Bewußtseins angesehen werden, die die in werken erneut und verstärkt zur Geltung. Den
der Literatur weitverbreitete Charakterisierung von Bestrebungen der bereits genannten Verleger, die
impressionistischer Buchillustration und Graphik ihr Engagement auf bibliophilem Gebiet fortsetz-
als einer vorwiegend heiteren Kunst 7 9 in Frage ten, schlossen sich weitere namhafte Verleger wie
stellen. Kurt Wolff und Erich Reiss an, die neue Buchreihen
mit originalgraphischen Illustrationen eröffneten. 81
Daneben traten viele neugegründete Verlage -
2.3 Ü b e r b l i c k ü b e r die P u b l i k a t i o n s t ä t i g k e i t stellvertretend genannt seien der Fritz Gurlitt Ver-
der P a n - P r e s s e v o n 1 9 0 9 bis 1 9 2 1 lag und der Verlag der Galerie Flechtheim - und
Im Uberblick über den gesamten Zeitraum von bibliophile Vereinigungen, wie z.B. die 1917 von
1909 bis 1921, in dem sämtliche Werke der Pan- Julius Meier-Graefe gegründete Marees-Gesell-
Presse veröffentlicht wurden, zeichnen sich die schaft, mit illustrierten und kostbar ausgestatteten
ersten Jahre nach Gründung der Presse als beson- Veröffentlichungen auf den Markt. 82 Dabei fanden
ders produktive Publikationsphase ab. Wie stark sämtliche Unternehmen dieser Art wesentlich gün-
sich Paul Cassirer zunächst für sein neues Projekt stigere Absatzbedingungen als vor dem Ersten
engagierte, das ihm die Möglichkeit einer Synthese Weltkrieg vor:
seiner Aktivitäten auf dem Gebiet des Kunsthan- Da sich die Inflation gegen Kriegsende spürbar
dels und Verlagswesens bot, läßt sich an der raschen verschärfte und viele Gebrauchsgegenstände des
Abfolge ablesen, in der die ersten Illustrationsauf- täglichen Bedarfs kaum noch zu kaufen waren,
träge erteilt wurden. In den ersten Jahren waren wuchs das Interesse Vieler am Erwerb von soge-
ständig mehrere Künstler zur gleichen Zeit mit nannten >Sachwerten<, zu denen u.a. auch wertvolle
Arbeiten für die Pan-Presse beschäftigt; ein Bücher und Künstlergraphik zählten.
Umstand, der mitunter zu Schwierigkeiten in der Um diese Nachfrage auszunutzen, die erst nach
Koordination der Veröffentlichungstermine führte der Währungsreform im Jahre 1923 - dann aller-
(vgl. Kap. 3.2). Die Publikationspraxis der ersten drei
Jahre läßt eine zugrundeliegende verlegerische Pla-
7 9 Vgl. z.B. Lang: Expressionistische Buchillustration, S. 15
nung vermuten, derzufolge mit Rücksicht auf die
8 0 Über Hans von W e b e r : Eyssen: Buchkunst in Deutsch-
Aufnahmefähigkeit des Buchmarktes pro Jahr nicht land, S. 120ff.; Eyssen: Hans von Weber. Über Georg Müller:
mehr als zwei Werke erscheinen sollten. Der unge- (Verlagsverzeichnis) Liebhaberausgaben des Verlages Georg Mül-
wöhnlich hohe Produktionsausstoß von fünf Wer- ler; (Verlagsverzeichnis mit Text) Fünfundzwanzig Jahre Georg
ken im Jahre 1912 wurde ausgeglichen durch eine Müller Verlag München; Bachmair: Georg Müller, S. 3 3 - 4 4 . Über
Reinhard Piper: 75 Jahre Piper, Bibliographie
Veröffentlichungspause im Jahre 1913, die u. a. wohl
81 Über Kurt Wolff: Göbel: Der Kurt Wolff Verlag, Sp. 81 ff.;
auch darauf zurückzuführen ist, daß sich Paul Göbel: Bibliographie des K u r t Wolff Verlages, S p . 1 3 8 6 . Über
Cassirers Aufmerksamkeit in dieser Zeit vorrangig Erich Reiss: Halbey: Der Erich Reiss Verlag, Sp. 1146ff.,
auf die Vorgänge und Auseinandersetzungen inner- 1 2 4 3 ff.
halb der Berliner Secession konzentrierte. 1914 8 2 Vgl. die Bibliographie der »bibliophilen Reihenwerke« in:
Rodenberg: Deutsche Pressen, S. 3 1 4 ff.
dings schlagartig - zurückging, brachten zahlreiche künstlerischen Leistungen der Pan-Presse erklären.
Verlage kostbar ausgestattete >Luxusausgaben< her- Darüber hinaus artikuliert sich hier möglicherweise
aus, deren oft fragwürdige Qualität von ernsthaften aber auch ein neues Verständnis für die einst von
Bibliophilen und Graphiksammlern schon bald William Morris mit seinen buchkünstlerischen
öffentlich beklagt wurde. Arbeiten verbundenen kulturrevolutionären Inten-
Heute k o m m t es wirklich nicht mehr darauf an, ob ein Buch tionen, das sich in Zusammenhang bringen ließe
gut ist. W e n n der Prospekt nur einige gewohnheitsmäßige mit der neuen Auffassung von den Aufgaben der
Vorzüge der Liebhaberausgaben und einen mindestens drei- zeitgenössischen Kunstproduktion, die Paul Cassi-
stelligen Preis nennt, kann der Erfolg als sicher gelten. 8 3
rer in den ersten Nachkriegsjahren entwickelte (vgl.
Diese Beschwerde Georg Witkowskis fand Un- Kap. 1.2.5).
terstützung bei vielen engagierten Bibliophilen. So Betrachtet man die Vorkriegsproduktion der
polemisierte ζ. B. Hans von Weber ebenfalls bereits Pan-Presse im Hinblick auf die Auswahl der Künst-
1918 gegen den »Tanz um's teure Buch« und gegen ler und der gestalteten Themen und vergleicht
die aus dem Boden schießenden »Luxusdruckfabri- damit die sechs Werke, die nach dem Krieg erschie-
ken«.84 nen, so drängt sich die Frage auf, ob Paul Cassirers
Nachdem 1919 in der Reihe der Pan-Presse vier Aufgeschlossenheit gegenüber jüngeren, unbe-
weitere Werke erschienen waren, veröffentlichte kannteren Künstlern und ungewohnten Themen
der Paul Cassirer Verlag Ende des Jahres eine bzw. Themenbearbeitungen in der Nachkriegszeit
Anzeige, die die mit den Publikationen verbundene nachließ. Im Überblick über die Nachkriegsproduk-
verlegerische Intention erläutern sollte. Um dem tion fällt nämlich auf, daß alle graphischen Arbeiten
Verdacht, der Verlag schwimme auf einer profit- von angesehenen Künstlern der Berliner Secession
trächtigen Modewelle mit, entgegenzuwirken, stammten, zu denen neben Slevogt und Gaul nun
wurde darin die Pionierleistung der Pan-Presse auf auch Barlach und Pechstein gerechnet werden
dem Gebiet des originalgraphisch illustrierten konnten, und daß unter den bearbeiteten Texten
Buches hervorgehoben und die Kontinuität in der und Stoffen nun verstärkt Themen, die sich mit
inhaltlichen Ausrichtung der Publikationsprinzi- allgemeinmenschlichen Fragen ohne erkennbaren
pien betont: direkten Gegenwartsbezug befaßten, sowie Stoffe
aus dem Bereich eines allgemein verbreiteten und
Die Pan-Presse, im Jahre 1 9 0 8 gegründet, stellte den ersten
anerkannten humanistischen Bildungsguts gewählt
Versuch dar, das immer stärker werdende Bedürfnis des
Künstlers nach Originaldrucken mit den Bedürfnissen des
wurden.
Buchdrucks harmonisch zu verbinden. Dieser Versuch war Angesichts dieser Beobachtung liegt der Schluß
gewagt, und ist es unserer Ansicht auch heute noch, obwohl
auf eine in den Nachkriegsjahren konservativer
der Markt seitdem mit zahllosen ähnlichen Versuchen über-
schwemmt worden ist. Trotz dieses äußeren Erfolges von nicht werdende verlegerische Orientierung Paul Cassirers
immer vollendeter Qualität beharren wir dabei, zwei Dinge, die auf bibliophilem Gebiet, die sich in der Bevorzu-
dem Puristen unvereinbar erscheinen, einerseits durch die gung bewährter Künstler und »zeitloser«, heiterer
Gewöhnung des Künstlers an die neue Aufgabe, andererseits Themen geltend mache, nahe. Die Unhaltbarkeit
durch eine immer größere Pflege des Druckes im idealen
einer solchen Vermutung erweist sich allerdings,
Kunstwerk zu vereinigen.
W i r waren uns immer bewußt, daß der W e g ein sehr langer und wenn man die Liste der illustrierten Bücher und
mühsamer sein werde. A b e r wie wir 1 9 0 8 nicht davor zurück- graphischen Mappenwerke mit in Betracht zieht,
scheuten, so lassen wir uns heute durch den scheinbaren Erfolg die ab 1917 - außerhalb der Publikationsreihe der
nicht davon abbringen, unser Ziel mit der größten Hartnäckig- Pan-Presse - vom Paul Cassirer Verlag herausge-
keit und Gewissenhaftigkeit weiterhin zu verfolgen. 8 5
bracht wurden: So veröffentlichte der Verlag 1917
Vergleicht man diese Formulierungen mit den Oskar Kokoschkas Drama Hiob mit 14 Lithogra-
programmatischen Aussagen zur Arbeit der Pan- phien des Künstlers, 86 1919 Barlachs Drama Der
Presse aus der Gründungszeit, so fällt auf, daß im
Unterschied zur früheren Betonung der Autonomie 83 Witkowski: Das künstlerische Buch, S . 2 1
des illustrierenden Künstlers, die gegen die buch- 8 4 W e b e r : Der Tanz um's teure Buch, S. 1 6 - 2 0
85 Verlagsmitteilung zu den Veröffentlichungen der Pan-
künstlerische Vorstellung von der dienenden Funk- Presse, Dezember 1 9 1 9
tion der Buchillustration gerichtet war (vgl. Kap. 8 6 Zur Entstehung vgl. den Brief von Oskar Kokoschka
2.2), nun die harmonische Verbindung von Text- an Leo Kestenberg v o m 3 1 . 3 . 1 9 1 7 (in: Kokoschka: BriefeI,
druck und originalgraphischer Illustration als künst- S. 264 f.), in dem Kokoschka schreibt, er halte sich für verpflich-
tet, seinen »Hiob· Paul Cassirer zur Verfügung zu stellen, und
lerische Aufgabe ausdrücklich anerkannt wird.
Illustrationen dazu in Aussicht stellt. Die vierzehn Kreidelitho-
Diese Akzentverschiebung läßt sich zum einen als graphien wurden in der Pan-Presse gedruckt; vgl. Wingler/Welz:
Resultat einer selbstkritischen Analyse der buch- Oskar Kokoschka, S. 102
arme Vetter mit 34 Lithographien des Autors sowie Für zeitgenössische Werke der bildenden Kunst,
zwei Mappenwerke von Otto Gleichmann und 1920 die als Versuch aufgefaßt werden konnten, diese
Ludwig Meidners Septemberschrei mit 14 Lithogra- Tradition zu bewahren und mit einer unsentimenta-
phien des Künstlers. Angesichts des Charakters len Heiterkeit für die Kunstproduktion der Gegen-
dieser Publikationen, die zum Teil zu den wichtigen wart mit ihrem zentralen Thema der »inneren Not
Werken der expressionistischen Buchillustration in des heutigen Menschen« 91 fruchtbar zu machen,
Deutschland zählen, 87 wird deutlich, daß Paul Cassi- setzte sich Paul Cassirer mit besonderem Nach-
rer als Verleger von graphischen Arbeiten nach wie druck ein. So versuchte er seit 1917 mit großer
vor experimentierfreudig und aufnahmebereit für Beharrlichkeit, Max Slevogt zur Wiederaufnahme
neue künstlerische Themen und Lösungsversuche und Beendigung der Arbeiten an den Radierungen
war. zur Zauberflöte zu bewegen (vgl. Kap. 3.17). In einem
Aus welchen Gründen die genannten Werke Brief an den Künstler vom 24. Juli 1918 begründete
nicht in die Publikationsreihe der Pan-Presse aufge- er das Interesse seines Verlages an den Randzeich-
nommen wurden, ob zufällige druck- und/oder nungen zur Zauberflöte aus der Sicht seines Mitar-
verlagstechnische Umstände oder andere Entschei- beiters Kestenberg:
dungskriterien dabei eine Rolle spielten, ist nicht Ich kann mir denken, daß Sie sich manchmal wundern, warum
bekannt. Kestenberg, den Sie als einen begeisterten Soldaten der neuen
Unabhängig davon kann man in bezug auf die Bewegung kennen, sich so sehr um die 'Zauberflöte· und um
das Buch »Improvisationen, (das ich lieber Scherz und Laune
Werke, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Reihe
nennen würde) bemüht. Aber, wenn Sie eben die junge
der Pan-Presse erschienen, die These formulieren, Bewegung genau kennen würden, wie sie sich jetzt gestaltet
daß Paul Cassirer die Auswahl - vielleicht nach- hat, würden Sie es für ganz selbstverständlich empfinden, daß
drücklicher als in der Vorkriegszeit - abhängig Kestenberg mit seinem Enthusiasmus für die Zukunft seine
machte von der eigenen Überzeugung, mit dem Liebe für Sie verbindet, und daß diesem, wie Sie wohl wissen,
dem Geschäft vollständig abgewandten Mann die Erwerbung
jeweiligen Werk eine vorbildliche künstlerische
dieser beiden W e r k e als der notwendige Grundstein für die
Leistung zu veröffentlichen, deren Aussagekraft ganze künstlerische Seite unseres Verlages erscheint.
über die aktuelle, d. h. an die historische Situation Immer wieder in seinen Briefen und in seinen Gesprächen
gebundene Bedeutung hinausreiche, weil in ihr k o m m t die Klage, daß wir in der Luft schweben. 9 2
unvergängliche lebensbejahende und humane Ge-
Auch der von Paul Cassirer im Februar 1918
halte ausgesprochen seien.
unternommene Versuch, Max Slevogt als Illustrator
Eine derartige Intention wäre zum einen aus der für eine geplante Faust-Ausgabe zu gewinnen - ein
Opposition gegenüber der auf dem Buchmarkt Vorhaben, das aus unbekannten Gründen nicht zur
allmählich überhandnehmenden »Flut der Mittel- Ausführung kam - , dürfte von der Idee ausgegangen
mäßigkeit« 88 heraus verstehbar. Darüber hinaus sein, den »in der Luft« eines inhalts- und perspektiv-
ließe sie sich aber auch als Resultat einer tieferlie- losen Anti-Traditionalismus schwebenden zeitge-
genden Motivation erklären, die in schriftlichen nössischen Kunstproduktionen ein Werk gegen-
Äußerungen Paul Cassirers seit 1916 zum Ausdruck überzustellen, das seine künstlerische Aussagekraft
kommt. So artikuliert sich etwa in den Formulierun- aus der Auseinandersetzung mit einem von nationa-
gen der Einleitung zum Bildermann, in denen die listischen Mißdeutungen befreiten kulturellen Erbe
»Liebe und Freude an den Werken jeglicher Kunst«,
die »Sehnsucht nach Schönheit und Innerlichkeit«
und das »Sehnen aus dem Schrecken heraus nach
Reinem, Höherem« beschworen werden, 89 das 87 Vgl. Lang: Die expressionistische Buchillustration, S. 32 ff.,
54, 2 1 6
Bedürfnis nach einer geistigen Neuorientierung, das
8 8 Curt Glaser: V o m Graphik-Sammeln. In: Deutsche
die Herausgeber Cassirer und Kestenberg mit vielen Graphik des Westens, S. 13 f.
Zeitgenossen teilten. Desillusioniert über die eige- 8 9 Paul Cassirer und Leo Kestenberg: Z u r Einführung!
nen vormals geteilten Ideale und Weltbilder, die 9 0 Vgl. Paul Cassirer: Krieg und Kunst, S. 157 f. »Künstler
durch die Erfahrungen des Kriegsalltags in Frage sind Brüder, gehören zu einer Familie, wes Volk sie auch seien.
gestellt worden waren, erhofften sich viele Intellek- Und was auch gezeigt wird, was an Kunst zum Kampf in das
neutrale Zwischenland, an die Grenze des Feindes vorgetrieben
tuelle die Wiedergewinnung einer geistigen Identi-
wird, kämpft nicht, stößt nicht, dient nicht, es tut unendlich
tät aus der bewußten Anknüpfung an die Tradition wenig oder unendlich viel: es singt, es spricht, es tönt, es leuchtet
deutscher Kulturschöpfungen, die die Lebendigkeit den einen Sinn: Mensch!...«
einer humanen, nicht durch die Akkomodation an 91 Verlagsanzeige zu Ludwig Meidners »Septemberschrei« in:
Machtinteressen korrumpierten, weltbürgerlich- Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2 (1920), S . 2 3 9
9 2 Brief an Max Slevogt vom 2 4 . 7 . 1 9 1 8 (Neukastel, Nachlaß
offenen Geisteshaltung bezeugten. 90
Max Slevogt)
und seinen humanen Gehalten zu gewinnen ver- hielt sie manchmal (1., 12., 13. und 16. Werk) als
mochte. 9 3 Beilage separate, handschriftlich signierte Abzüge
Die Entscheidung, die Publikationsreihe der Pan- der Illustrationen.
Presse nach der Veröffentlichung des 19. Werks im Die Auflage der illustrierten Bücher wurde
Jahre 1921 einzustellen und die Presse selbst 1922 zunächst - mit Ausnahme des 3. Werks (Auflage
an die Otto-Felsing-Druckerei zu verkaufen, wird insgesamt 6 0 Exemplare) - auf 3 1 0 Exemplare
im Zusammenhang mit der Entwicklung der Akti- festgelegt, wobei 60 Exemplare in der A- und 250
vitäten Paul Cassirers Anfang der 20er Jahre (vgl. Exemplare in der B-Ausgabe hergestellt wurden. Bei
Kap. 1.2.5) verständlich: Infolge der - zum Teil den ersten beiden graphischen Mappenwerken (6.
inflationsbedingten - finanziellen Schwierigkeiten, und 9. Werk) betrug die Auflagenhöhe 160 (A:10,
in die seine Unternehmen zeitweise gerieten, und B: 150) bzw. 180 ( A : 3 0 , B: 150) Exemplare.
wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes Ab dem 10. Werk wurden die Auflagen beträcht-
konnte sich Paul Cassirer kaum noch um die lich reduziert: Das 10.Werk erschien in einer
Fortsetzung des Publikationsprogramms der Pan- Auflage von insgesamt 210 und das 11. Werk in
Presse kümmern. Angesichts der harten Konkur- einer Auflage von insgesamt 250 Exemplaren. Das
renz vieler Verlage um ein kaufendes Publikum, das 12. W e r k wurde als illustriertes Buch in ingesamt
sich häufig aus rein ökonomischen Gründen für nur 4 0 Exemplaren aufgelegt; außerdem wurden die
wertvolle, künstlerisch ausgestattete Bücher inter- Radierungen als Mappen ohne den gedruckten Text
essierte, mag ihm die Fortsetzung der Veröffentli- in weiteren 4 0 Exemplaren veröffentlicht. Auch die
chungsreihe zudem nicht mehr so sehr am Herzen Auflage des 13.Werks betrug nicht mehr als 90
gelegen haben wie in früheren Jahren. Möglicher- Exemplare.
weise trugen auch Schwierigkeiten, für den langjäh-
rigen künstlerischen und technischen Leiter der 93 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 1 4 . 2 . 1 9 1 8
Pan-Presse Reinhold Hoberg (der 1919 aus dem (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt): »Der Appetit k o m m t beim
Unternehmen ausgeschieden war), einen geeigne- Essen. Ich k o m m e mit einer neuen Anfrage, die ich aber ganz
ten Nachfolger zu finden, zu dem Entschluß bei, die vorsichtig stelle. Ich bitte Sie, meine Anfrage nicht als aufdring-
lich zu empfinden. Ich gebe einen schön gedruckten >Faust<
Pan-Presse aufzugeben. Daß Paul Cassirers Leiden- heraus, I. und II.Teil, nicht ein übermäßiges F o r m a t . . . ich habe
schaft für das originalgraphisch illustrierte Buch dabei die Idee, zunächst wieder eine sehr teure Luxusausgabe zu
auch in den 20er Jahren lebendig blieb - trotz des machen, dann aber eine Volksausgabe nach dem Krieg, wenn das
Verkaufs der Pan-Presse und trotz des rapiden Papier billig ist. Volksausgabe ist natürlich etwas kühn gesagt, da
auch in der Volksausgabe der Band sicherlich 1 5 - 2 0 M . kosten
Rückgangs der bibliophil orientierten Nachfrage,
wird oder vielleicht noch mehr, aber ich meine damit ein
den die Währungsreform im Jahre 1923 zur Folge Geschenkbuch für das deutsche Volk, einen Ersatz für die
hatte - , bezeugen so bedeutende verlegerische Dore'sche Bibel. Die Leute kaufen, und haben es immer getan, zu
Initiativen wie der 1922 an Marc Chagall erteilte Konfirmationen, Hochzeiten und überhaupt zu den großen
Erinnerungstagen sogenannte Prachtwerke, und so dächte ich,
Auftrag zur Illustration seiner Autobiographie 94
dass der Faust, der doch unser ureigenstes deutsches W e r k ist,
und das ab 1923 in Angriff genommene Projekt einem Künstler wie Ihnen die Gelegenheit bieten könnte,
einer illustrierten Ausgabe von Goethe-Gedichten, wirklich dem Volk ein Geschenk zu machen. W i e denken Sie
das die Vielfalt der graphischen Ausdrucks- und darüber? Zunächst handelt es sich nur um die 12 Steindrucke für
Interpretationsmöglichkeiten innerhalb der zeit- den ersten Teil. Es ist seltsam, dass ich Ihnen jetzt, wo ich hoffe,
dass Sie an der .Zauberflöte, arbeiten, plötzlich mit einem neuen
genössischen Kunst sichtbar machen sollte (vgl. Projekt komme. Aber mir ist, als läge der Faust bei Ihnen fertig,
Kap. 1.2.5). vielleicht nicht auf dem Stein oder auf dem Papier, aber sicherlich
im Kopf. Ich könnte mir denken, daß Sie diese Steine rascher
zeichnen könnten, als wir das Buch drucken. Hoffentlich ist man
Ihnen nicht schon von anderer Seite mit diesem Vorschlag
2.4 Die Pan-Presse als geschäftliche gekommen. Bitte, seien Sie so lieb, antworten Sie mir rasch. Ich
weiß nicht, aber ich bin so voll von dem Gedanken, dass Sie das
Unternehmung tun. Uber das Geschäftliche würden wir uns leicht einigen,...«.
Aus welchen Gründen Slevogt nicht auf Paul Cassirers Vorschlag
2.4.1 Erscheinungsweise der Publikationen einging, ist nicht bekannt. Erst im Jahre 1 9 2 4 begann sich der
Künstler mit Illustrationen zum zweiten Teil von Goethes
Wie bei bibliophilen Veröffentlichungen üblich,
»Faust« zu beschäftigen, die in einer Ausgabe des Bruno Cassirer
erschienen die Werke der Pan-Presse in der Regel in Verlages veröffentlicht werden sollten (erschienen 1927). Vgl.
zwei Ausgaben. Die teurere A-Ausgabe - die auch Imiela: Max Slevogt, S. 240ff.
Vorzugs- oder Luxusausgabe genannt wurde -
9 4 Zur Entstehung von Chagalls Radierungen »Mein Leben«,
zeichnete sich durch die Verwendung von beson- seinen ersten druckgraphischen Arbeiten und zur Rolle, die Paul
ders kostbaren Materialien für den Einband und Cassirer und Walter Feilchenfeldt dabei spielten: Meyer: Marc
besonders qualitätvolles Papier aus. Außerdem ent- Chagall, S . 3 1 8
Die nach dem Ersten Weltkrieg erschienenen wird dieser Kunstgenuß explizit mit kulinarischen
Werke der Pan-Presse hatten sehr unterschiedliche Freuden verglichen, wenn es im Schlußsatz heißt:
Auflagenhöhen: V o m 14. Werk wurden 110 Exem- Für den Bibliophilen und den Feinschmecker graphischer
plare, vom 15. Werk 8 0 0 Exemplare, vom 16. Werk Kunst dürfte das Werk eine ganz besondere Delikatesse
210 Exemplare, vom 17. W e r k 100 Exemplare, vom •
sein. 95
halten sollten, läßt die Verlagsanzeige offen. Max Slevogts Zauberflöten-Radierungen nachge-
Gedacht war dabei vermutlich an die in der Novelle wiesen werden kann, war dagegen eine - vielleicht
geschilderte Aussöhnung und Solidarisierung der einmalige - Ausnahme. 100
zuvor verfeindeten Gesellschaftsmitglieder »mitten Aus einem Brief von Marcus Behmer an Her-
in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle mann Struck aus dem Jahre 1911 geht hervor, daß
irdischen Güter der Menschen zugrunde gingen«; Behmer als Honorar für seine Radierungen zu
eine Situation allgemeiner Verbrüderung, die Kleist Voltaires Zadig pro Platte 50 M, also insgesamt
durch den Ausgang der Erzählung allerdings als 1.200 Μ sowie 300 Μ für die Überwachung der
trügerischen Schein entlarvt. Druckarbeiten erhalten sollte. 101 Behmers Einkom-
men von insgesamt 1.500 Μ erscheint im Verhältnis
zu der vom Künstler tatsächlich investierten Ar-
2.4.3 Preise, H o n o r i e r u n g , Verkaufserfolge beitszeit und im Verhältnis zum Gesamterlös der
Über die ökonomische Seite des Pan-Pressen-Pro- verkauften Auflage außerordentlich gering. Gleich-
jekts, d.h. über Fragen der Preisgestaltung, der wohl lassen sich aus dieser Feststellung keine Rück-
Honorierung und Kalkulation, läßt sich wegen der schlüsse auf entsprechend hohe Gewinne des Paul
weitgehenden Unauffindbarkeit von Verlagsunter- Cassirer Verlags ziehen.
lagen wie Verträgen und Verkaufsabrechnungen Peter Paret charakterisiert die Pan-Presse als
nur wenig Gesichertes sagen: Unternehmen, »das jahrelang mit Verlust betrieben
Zur Frage nach der Preisgestaltung muß zunächst wurde«,102 »nicht nur weil... die Nachfrage ziemlich
einmal festgehalten werden, daß die Publikationen gering war, sondern auch weil die Preise die Kosten
der Pan-Presse aufgrund des hohen Preisniveaus kaum deckten. 103
den Charakter von Luxusgütern hatten, die für die Diese Aussage, bei der sich Paret auf mündliche
große Mehrzahl der Bevölkerung unerschwinglich Informationen seines Vaters stützt, der im Paul
waren. Hält man sich vor Augen, daß der jährliche Cassirer Verlag gearbeitet hatte, läßt sich im einzel-
Durchschnittslohn eines Industriearbeiters im nen nicht überprüfen. Allerdings sprechen einige
Jahre 1910 1.030 Reichsmark betrug und daß ein Hinweise für die Vermutung, daß die Preise der
mittlerer Beamter mit Familie zwischen 4.000 und Publikationen in der Regel durchaus nicht kosten-
6.000 Mark im Jahr verdiente, 98 so wird deutlich, daß deckend, sondern so kalkuliert waren, daß sie eine
die Werke der Pan-Presse ausschließlich von Leuten gewisse Gewinnspanne garantierten, deren durch-
mit »sehr viel Geld« 99 gekauft werden konnten. schnittliche Höhe sich jedoch nicht angeben läßt.
Im Uberblick über die Produktion der Pan-Presse Wenn Paul Cassirer in seinen Briefen an Max
in dem Zeitraum von 1910 bis 1912 kann man sich Slevogt aus dem Jahre 1918 immer wieder betonte,
einen Eindruck von der Höhe der Preise verschaf- »daß ich [mit den Zauberflöten-Radierungen] nicht
fen: Geld durch Sie verdienen will - ich nehme es, wenn
Das teuerste Werk der ersten Jahre, Coopers ich es verdiene - , sondern daß mir einzig und allein
Lederstrumpf-Erzählungen mit den Lithographien daran liegt, Ihren Namen mit meinem manchmal
von Slevogt, kostete in der A-Ausgabe 800 und in verbunden zu sehen«, 104 so brachte er seine beson-
der B-Ausgabe 250 Mark. Die nächste Preisklasse dere Verehrung gegenüber dem Künstler ja gerade
bildeten die beiden von Corinth illustrierten Bücher
der Bibel (A: 300 Μ, B: 180 M), Willi Geigers Stier-
kampf-Mappe (A: 3 0 0 Μ , B: 2 0 0 M ) und Barlachs 9 8 Walter G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen
Mappenwerk Der tote Tag(A: 300 Μ, Β: 150M). Wirtschaft, S . 4 7 0 ; Paret: Die Berliner Secession, S . 3 4 5
9 9 Vgl. die Tagebucheintragung von Käthe Kollwitz am
Zu den Werken der niedrigsten Preisklasse zähl-
1 2 . 1 . 1 9 1 6 (abgedruckt in: Kollwitz: Ich sah die Welt, S. 166):
ten die Arbeiten von Pascin (A: 120Μ, B: 6 0 M ; »Slevogt bei Cassirer, eine schöne Ausstellung... A m schönsten
1912 verteuert auf A : 200 Μ, B: 80 M), Behmer (A: find ich eigentlich seinen Lederstrumpf. Hätte ich noch Jungen
150M, B: 80M), Grossmann (A: 100Μ, B: 60M), und hätte ich sehr viel Geld, dann würde ich ihnen den
Beckmann (60 M) und Pottner (A: 50 Μ, B: 20 M). schenken.«
100 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 5 . 1 0 . 1 9 2 0
Die Bezahlung der graphischen Arbeiten für die
(Neukastel, Nachlaß Max Slevogt)
Publikationen der Pan-Presse erfolgte in der Regel 101 Brief von Marcus Behmer an Hermann Struck vom
in der Form eines festen Honorars, das vom Verlag 2 7 . 6 . 1 9 1 1 (Universitätsbibliothek Münster)
mit dem jeweiligen Künstler individuell ausgehan- 102 Paret: Die Berliner Secession, S. 114
delt wurde. Eine Entlohnung des bildenden Künst- 103 Nach einer schriftlichen Auskunft von Herrn Peter Paret
vom 2 5 . 7 . 1 9 7 9
lers in Form der Beteiligung am Reingewinn nach
104 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 1 4 . 2 . 1 9 2 0
einem vorher vereinbarten Prozentsatz, wie sie für (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt)
durch die Bereitschaft zum Ausdruck, in diesem Fall 4. Werks (Pascins Illustrationen zu Heine), das sich
von den normalen Prinzipien seiner Geschäftspraxis nach 1910 erheblich verteuerte, blieben die Preise
Abstand zu nehmen. Praktisch unter Beweis zu sämtlicher Veröffentlichungen von ihrem Erschei-
stellen brauchte Paul Cassirer seine Bereitschaft in nungsjahr bis 1917 unverändert. Erst 1919 wurde
diesem Fall allerdings nicht: Über 50 Prozent des dann bei den meisten Werken ein Preiszuschlag
Verkaufserlöses der Zauberflöten-Auflage konnte als (zwischen 20 und 60 % ) erhoben, der der wachsen-
Reingewinn verbucht werden, der zwischen dem den Inflation Rechnung tragen sollte. Daß beim 3.
Verlag und dem Künstler zu gleichen Hälften (Beckmann) und beim 9. Werk (Grossmann) auf den
geteilt wurde. 105 Teuerungszuschlag verzichtet wurde, legt die Ver-
Wenn das Pan-Pressen-Projekt insgesamt als mutung nahe, daß der Verlag diese beiden Werke als
Verlust-Geschäft zu beurteilen war, so lag dies in immer noch schwer verkäuflich einstufte.
erster Linie an der jahrelang nur sehr geringen Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verbesser-
Nachfrage nach den Publikationen, die sich erst ten sich aufgrund der veränderten Situation auf dem
gegen Ende des Ersten Weltkriegs zu steigern Buchmarkt, die bereits weiter oben beschrieben
begann. Daß mit der Eröffnung der Reihe Werke wurde, die Absatzchancen für die meisten Bücher
der Pan-Presse wegen der Unkalkulierbarkeit der und Mappenwerke der Pan-Presse. Originalgraphi-
an bibliophilen Veröffentlichungen interessierten sche Illustrationen aus der Hand der führenden
Nachfrage ein hohes finanzielles Risiko verbunden künstlerischen Repräsentanten der Berliner Seces-
war, war zeitgenössischen Kennern des Buchmarkts sion waren nun sehr begehrt. Vor allem die graphi-
durchaus bewußt und wurde in frühen Rezensionen schen Arbeiten von Max Slevogt galten unter
mitunter lobend hervorgehoben; so z.B. in einer Verlegern als »sicheres Geschäft«. 108 1920 waren drei
Besprechung von Slevogts Leders trumpf-l\\ustratio- Publikationen (3., 4., 17. Werk) der Pan-Presse voll-
nen: ständig und sieben weitere (1., 2., 5., 6., 11., 12. und
13. Werk) in der A-Ausgabe vergriffen. 109 1922 war
Daß indessen ein Verlag... den Mut besitzt, ein so kostspieliges
Experiment, dessen Ausgang zunächst immerhin zweifelhaft die Auflage von elf Werken vollständig verkauft.
war, überhaupt zu wagen, ist nicht genug anzuerkennen. Hier Dagegen waren auch 1927 in der B-Ausgabe
wurden zweifellos große Opfer im Interesse der Kunst
immer noch nicht vergriffen die drei Werke von
gebracht ohne jeden materiellen Hintergedanken. 1 0 6
Ernst Barlach (10., 1 6 , 19. Werk), Corinths Illustra-
Auch wenn Paul Cassirer und seine Mitarbeiter tionen zum Hoben Lied (5.Werk), Grossmanns
bei der Produktion und beim Verkauf der Werke der Mappe Um Berlin (9. Werk) und Pechsteins Reise-
Pan-Presse einen ökonomischen Gewinn durchaus bilder( 15. Werk). 110
anstrebten und auch mit Hilfe produktionstechni-
scher und kaufmännischer Maßnahmen zu beför-
dern versuchten, die mitunter das Mißfallen des am
Werk beteiligten Künstlers erregten (vgl. Kap. 3.11),
läßt sich die idealistische, geschäftsfremde Kompo-
nente des Pan-Pressen-Unternehmens nicht über-
sehen: Diese lag darin, daß Paul Cassirer - ohne
Rücksicht darauf, ob sich der Geschäftserfolg im
Einzelfall tatsächlich einstellte oder nicht - über 105 Brief von Paul Cassirer an Max Slevogt vom 5 . 1 0 . 1 9 2 0
viele Jahre hinweg an der Fortführung des Pan- (Neukastel, Nachlaß Max Slevogt)
Pressen-Projekts in seiner ursprünglichen Konzep- 1 0 6 Rezension von Hans Rosenhagen im «Tag«, abgedruckt
in: Katalog der Pan-Presse 1912, S. 12
tion festhielt und immer wieder bereit war, neue
107 (Verlagskatalog) Deutsche Graphik, Pan-Presse 1917
finanzielle Wagnisse dafür einzugehen.
108 Horodisch: Aus den Erinnerungen, S. 2 4 6
Aus den Preisangaben, die die Anzeigen und 1 0 9 Unser W e g 1920, Ein Jahrbuch des Verlags Paul Cassirer.
Prospekte zu den Veröffentlichungen der Pan- Berlin 1919. Das 5 . W e r k wird hier als vollständig vergriffen
ausgewiesen, taucht aber in späteren Anzeigen als in der
Presse aus verschiedenen Jahren enthalten, läßt sich
B-Ausgabe noch verkäuflich auf.
erschließen, daß der Absatz der Publikationen vor 1 1 0 Diese Angaben stützen sich auf ein Preisverzeichnis des
dem Ersten Weltkrieg äußerst schleppend vor sich Paul Cassirer Verlages vom Juni 1927, das sich im Archiv der
ging: Abgesehen von der A-Ausgabe des 1., des 4. Nationalgalerie in Ost-Berlin befindet. Laut einer Anzeige des
und des 12. Werkes (Slevogt, Pascin, Oppenheimer) Paul Cassirer Verlages zu den 1 9 2 4 lieferbaren graphischen
Werken von Ernst Barlach (in der Buchausgabe von Barlachs
waren 1917 sämtliche Publikationen noch nicht
Drama »Die Sündflut«; abgedruckt in: Barlach, W e r k und
vergriffen, 107 obwohl die Auflagenhöhe seit dem Wirkung, S. 2 4 5 ) waren das 10. und das 16. W e r k der Pan-Presse
10. Werk gesenkt worden war. Mit Ausnahme des allerdings vergriffen.
3.1 Max Slevogt, 312 Lithographien zu: Handschrift des Künstlers im Buch so lebendig wie
James Fenimore Cooper, »Lederstrumpf- möglich zu erhalten« (vgl. Kap. 2.2.3), begann Sle-
Erzählungen«. Übersetzt und bearbeitet vogt nun damit, Buchillustrationen als Lithogra-
von Karl Federn. 1909 (1. Werk) phien zu konzipieren und auszuführen. Als erstes
der von Slevogt mit Originalgraphik ausgestatteten
Über die Entstehung der Lederstrumpf-Illustratio- Bücher erschien 1908 im Bruno Cassirer Verlag das
nen gibt eine handschriftliche Notiz Auskunft, die Märchen Sindbad der Seefahrer, dessen Lithogra-
Slevogt in den 20er Jahren auf den Vorsatz eines phien der Künstler im April 1907 geschaffen
Sammelbandes schrieb, worin er eine Anzahl von hatte. 5
Entwurfszeichnungen zu Coopers Erzählungen für Der Plan zur Illustration von Coopers Leder-
sich aufbewahrte: strumpf-Erzählungen entstand also zu einem Zeit-
Diese erste Aufzeichnung (I) u. der Plan für den Lederstrumpf punkt, als Slevogts Entdeckung der lithographi-
mit Lithographien entstanden 1907 unvermittelt in einer schen Technik als eines für seine künstlerischen
Nacht, als mir zufällig das Jugendbuch wieder in die Hände Ausdrucksbedürfnisse als Illustrator besonders
kam.
geeigneten Druckverfahrens noch neu und sein
Die Entwürfe etwas größeren Formates (II) begleiteten dann in
unregelmäßigen Zwischenräumen die Arbeit an den Steinen Interesse an der Erprobung der durch diese Technik
bis zum Abschluß des Ganzen (Januar 1910). gebotenen gestalterischen Möglichkeiten in weite-
Die Antuschung mit Farben erfolgte später (1924) - zur ren Illustrationsarbeiten vermutlich groß war.
Unterhaltung, auch zur Verdeutlichung für meine Kinder. 1
Daß dem Künstler bei der Suche nach einem
Die Mitteilung des Künstlers, daß er die Illustra- neuen Illustrationsstoff Coopers Romane in die
tionen zu Coopers Lederstrumpf-Erzählungen von Hände fielen, erscheint durchaus nicht ganz »zufäl-
vornherein als Lithographien konzipiert habe, lig«, wenn man bedenkt, daß Slevogt ein begeisterter
macht deutlich, daß dieses Illustrationsprojekt in Leser von Indianer-Geschichten war, deren drama-
einer bereits fortgeschrittenen Entwicklungsphase tische Episoden seine illustrative Phantasie schon
von Slevogts illustrativem Schaffen geplant wurde. früh und immer wieder beschäftigten: Bereits um
Seine frühesten Buchillustrationen hatte Slevogt als die Jahrhundertwende entstanden Zeichnungen zu
Zeichnungen entworfen, die photomechanisch re- Romanen von Karl May; 6 zwischen 1903 und 1905
produziert werden mußten: 1903 erschien im Bruno entwarf Slevogt zahlreiche Illustrationen zu Gabriel
Cassirer Verlag als erstes der vielen vom Künstler Ferrys Roman Der Waldläufer7 und im Dezember
illustrierten Bücher das Märchen Ali Baba und die 1905 führte er die Federzeichnungen zu der bereits
40 Räuber, das Lichtdrucke, Strich- und Netzätzun- erwähnten Erzählung Coranna, Eine Indianerge-
gen nach Zeichnungen von Slevogt enthielt; und schichte von W. Ciaire aus.8
1907 publizierte Paul Cassirer W. Claires Erzählung Angesichts dieser Vorliebe für Indianer-Romane
Coranna, Eine Indianergeschichte, die mit Strich- erstaunt es nicht, daß dem Künstler bei seiner Suche
ätzungen nach Federzeichnungen des Künstlers nach einem neuen Illustrationsthema die Leder-
ausgestattet war. strumpf-Erzählungen, die nach ihrer Veröffentli-
In den Jahren nach der Jahrhundertwende ging chung zwischen 1823 und 1841 das klassische
die Entwicklung von Slevogts künstlerischer Arbeit Vorbild für zahlreiche Abenteuer-Geschichten
mit einem »verstärkten Bemühen um die Druckgra- geworden waren, besonders geeignet erschienen.
phik«2 einher. Als dessen Ergebnis entstand in den Slevogt hielt die bei der erneuten Beschäftigung mit
Jahren 1904 und 1905 eine Folge von sieben
Radierungen, die 1905 unter dem Titel Schwarze
Szenen im Verlag von Bruno Cassirer veröffentlicht 1 Zitiert nach einer von Herrn Prof. Imiela, Mainz, zur
wurde.3 1907 folgte der lithographische Zyklus Verfügung gestellten Photographie der Notiz. Die Zeichnungen
Achill, der im Münchener Verlag von Albert Langen des Sammelbandes, der sich im Nachlaß Max Slevogt in Neu-
kastel befindet, sind aufgeführt in: Imiela: Max Slevogt, S . 3 9 9
erschien. 4 Anm.25
Unterstützt durch Bruno Cassirer, der nach dem 2 Ebd., S. 154
geschäftlichen Mißerfolg des Ali Baba mit der 3 Abb. in: Sievers/Waldmann: Max Slevogt, N r . 5 - 1 1
Veröffentlichung weiterer Illustrationsarbeiten von 4 Abb. ebd., Nr. 1 7 - 3 1
5 Abb. ebd., Nr. 3 7 - 7 4
Slevogt »zunächst einmal den kleinen Kreis der
6 Vgl. Imiela: Max Slevogt, S. 154, 3 9 6 A n m . 4
Kunstfreunde und Bibliophilen zu überzeugen ver- 7 Vgl. ebd., S. 154, 3 9 6 A n m . 4
suchen wollte« und daher daran interessiert war, »die 8 Vgl. ebd., S. 154, 3 9 6 A n m . 6
dem Lederstrumpf spontan in seiner Phantasie auf- strumpf erfuhr, zögerte er sicherlich nicht, sich
steigenden Bildvorstellungen in einer Fülle von sogleich das Recht zur Veröffentlichung dieses
Bleistiftskizzen fest, die zeigen, wie lebendig seine Werks als erste Ausgabe der geplanten Publika-
Erinnerung an die mit dem »Jugendbuch« verbun- tionsreihe zu sichern.
denen Eindrücke geblieben war. Mitte 1908 waren die Vereinbarungen über die
Bei der Entscheidung zur Illustration von Veröffentlichungsbedingungen offenbar in den
Coopers Romanen war für Slevogt offenbar nicht wichtigsten Punkten abgesprochen, so daß Slevogt
nur die Faszination, die er in der Lektüre stets von mit der Arbeit an den Lithographien beginnen
neuem spürte, sondern auch die Überzeugung, daß konnte. Als der Künstler im Juni 1908 Paul Cassirer
sich diese Faszination aus der hohen künstlerischen und Tilla Durieux in ihrem holländischen Feriendo-
Qualität der Texte begründe, wichtig. Dies geht aus mizil Noordwijk besuchte, hatte er sich bereits so
einer Bemerkung hervor, die der Künstler in späte- sehr in die Vorstellungswelt der Lederstrumpf-
rer Zeit einmal in einem Brief an Bruno Cassirer Erzählungen eingelebt, daß er seine Gastgeber, die
machte: sich in seiner Phantasie in die »Prärieblume« und in
den »listigen Fuchs« verwandelten, zu ausgelassenen
Daß Sie sich so spät des Lederstrumpfs erfreut haben, ist mir
eine Genugtuung. Ich habe immer diese Figur für bedeutend
Indianer-Spielen animierte. 11
gehalten, abgesehen davon, daß der Stoff Bewegung, Land- Aus den Datierungen der im Katalog von Johan-
schaft u. jede Freiheit bot. Sonderbar, wie wenig sich zu einem nes Sievers und Emil Waldmann verzeichneten
Einleben - ich spreche natürlich ganz persönlich - bietet.
Probedrucke (SiWa, 9 0 - 4 1 9 ) geht hervor, daß Sle-
I m m e r noch spähe ich nach einem Abenteurerroman dieser
Art, der nicht literarisch belastet ist. 9 vogt vor allem in der Zeit vom Juni 1908 bis zum
April 1909 sowie vom September 1909 bis zum
Auch wenn zur Frage, wann und wie die Verein- März 1910 intensiv an den Lederstrumpf-Lithogra-
barung mit Paul Cassirer über die Veröffentlichung phien arbeitete.
der von Slevogt mit Lithographien ausgestatteten Bedenkt man die anspruchsvollen verlegerischen
Lederstrumpf-Erzählungen als erstes Werk der Pan- Zielsetzungen, die Paul Cassirer mit der Veröffentli-
Presse keine schriftlichen Quellen vorliegen, lassen chung der Werke der Pan-Presse verfolgte, so muß
sich die Umstände, unter denen diese Vereinbarung man davon ausgehen, daß er Slevogts hohe Meinung
getroffen wurde, doch mit einiger Sicherheit rekon- von der künstlerischen Qualität der Lederstrumpf-
struieren: Erzählungen teilte, was angesichts der Rezeption
Den ersten persönlichen Kontakt zu Max Slevogt von Coopers Romanen im ersten Jahrzehnt des
hatte Paul Cassirer bereits vor der Jahrhundert- 20.Jahrhunderts durchaus nicht selbstverständlich
wende hergestellt. 1899 hatte er mit dem damals war. Zwar wurden die in der ersten Hälfte des
noch in München wohnenden Künstler einen län- 19.Jahrhunderts in Deutschland überaus erfolgrei-
gerfristigen Vertrag abgeschlossen, der ihm gegen chen Lederstrumpf-Romane12 nach wie vor - vor
die Garantie einer Mindestverkaufssumme von vier- allem von Jugendlichen - viel und gern gelesen, 13
tausend Mark im Jahr das Alleinvertretungsrecht doch der literarische Rang dieser Texte war keines-
von Slevogts Bildern (abgesehen von Porträts) zusi- wegs mehr unumstritten. 14 Die sehr informative
cherte. 10 1901 gab Slevogt dem Drängen seines
Kunsthändlers nach und verlegte im Herbst des
9 Brief an Bruno Cassirer vom 7 . 9 . 1 9 2 9 ; abgedruckt in:
Jahres seinen Wohnsitz nach Berlin. Durch seine Wirth: Berliner Maler, S . 2 2 2
Mitarbeit in der Berliner Secession, deren Vorstand 10 Vgl. Imiela: Max Slevogt, S. 52
er seit 1902 angehörte, ergaben sich viele Gelegen- 11 Vgl. ebd., S. 3 9 9 Anm. 2 7 ; Guthmann: Scherz und Laune,
heiten zu einem persönlichen Umgang mit Paul S. 112 f., 115, Abb. S . 1 4 1
12 Vgl. Rossbacher: Lederstrumpf in Deutschland
Cassirer. Da sich im Laufe der Jahre ein freund-
13 Ein begeisterter Leser von Coopers »Lederstrumpf-Erzäh-
schaftliches Verhältnis zwischen den beiden Män- lungen« war Ernst Barlach. In seinen Briefen äußerte er sich
nern entwickelte, läßt sich vermuten, daß Paul wiederholt über die Bedeutung, die er seiner Jugendlektüre
Cassirer bei seinen Plänen zur Gründung der Pan- beimaß, und hob die Freude hervor, die ihm das Buch nach wie
Presse und einer mit diesem Unternehmen verbun- vor bereitete. Vgl. Barlach: Briefe I, S. 14 f., 36, 65, 73, 8 2 f, 3 4 3
14 Vgl. die Rezension von Hans Rosenhagen zu Slevogts
denen bibliophilen Publikationsreihe, die er offen-
»Lederstrumpf.-Illustrationen im »Tag«; abgedruckt im »Katalog
bar bereits geraume Zeit vor dem Ablaufen seiner der auf der Pan-Presse gedruckten Bücher und Mappenwerke«,
Geschäftsvereinbarung mit Bruno Cassirer ins Auge Berlin 1912, S . 8 : »Es mag zunächst sonderbar berühren, daß ein
faßte (vgl. Kap. 2.1), von Anfang an auf die Mitarbeit moderner Maler auf die Idee kommt, ein literarisches Werk zu
Slevogts als Illustrator setzte. Als Paul Cassirer von illustrieren, das nach heutigen Begriffen total veraltet ist und
selbst als Jugendlektüre viel von dem R u h m und der Bewunde-
Slevogts Absichten zur Illustration des Leder-
rung eingebüßt hat, die ihm einst gehörten.«
Einleitung zur ersten Publikation der Pan-Presse, den Druckspiegel angepaßten oder schmaleren
die der Völkerkundler Walter Krickeberg verfaßte, Textbilder sowie die ganzseitigen Illustrationen,
beginnt daher mit folgender Passage: deren Rückseiten unbedruckt blieben, in und zwi-
In den folgenden Blättern soll einer der ältesten und besten
schen die Textseiten eingegliedert. Da Slevogt in
Indianerromane in seiner ursprünglichen Gestalt Wiederaufle- seinen Illustrationen manche Episoden in mehreren
ben. Man ist, und zwar gerade in der neuesten Zeit, auf das Phasen darstellte, konnten die Lithographien nicht
schärfste gegen diese und ähnliche Literaturgattungen zu immer in unmittelbarer Nähe zur jeweiligen Text-
Felde gezogen. Es sei eine Geschmacksverderbnis, sich in
stelle untergebracht werden.
Erzählungen, in denen blutige Szenen, aufregende Abenteuer
eine so vorwiegende Rolle spielen, zu ergötzen. Die Eiferer Den Anfang jedes Kapitels schmückte der
haben insofern nicht so Unrecht, als eine Flut der albernsten Künstler mit einer Initialzeichnung, die er als
und widerwärtigsten Erzeugnisse im Stile blutrünstig-senti-
Komposition in einem kleinen, annähernd quadra-
mentaler Hintertreppenromane auf jene ersten guten Romane
folgte, deren Schicksal es naturgemäß war, in die gleiche
tischen Feld von ca. 5x5 cm konzipierte. Die von
Kategorie mit jenen eingesargt zu werden. Dazu kam noch, Emil Rudolf Weiß in Frakturtypen geschriebenen
daß sich die Jugendliteratur des Indianerromans bemächtigte und in der rechten oberen Hälfte angeordneten
und ihn für ihren Leserkreis in der bekannten Manier .bearbei- Initialen wirken wie ein in der vordersten Bildebene
tete« - man nahm dem W e r k e sein farbenschillerndes Gewand,
seine Poesie und ließ nur das rohe Gerippe als eine oft ganz
befindliches Gitter, hinter dem in der Tiefe des
unmotivierte Aufeinanderfolge von aufregenden Ereignissen Bildraums Landschaftsausschnitte und kleine Sze-
bestehen. 1 5 nen sichtbar werden, die in dem jeweiligen Kapitel
des Textes beschrieben sind. 17
Mit welcher verlegerischen Sorgfalt Paul Cassirer Mit der Veröffentlichung der Lederstrumpf-Illu-
die erste Publikation der Pan-Presse vorbereitete, strationen setzte sich in der Kunstkritik Slevogts
wird daraus ersichtlich, daß er den Schriftsteller Karl Ruf als der bedeutendste zeitgenössische Illustrator
Federn, der auch literaturwissenschaftliche Studien in Deutschland endgültig durch. Zwar wurde die
und Übersetzungen veröffentlichte, mit einer Neu- Kombination des eng gedruckten Textes mit der
übertragung des englischen Originals in die deut- aufgelockerten graphischen Struktur der Lithogra-
sche Sprache beauftragte. Aus der Vorbemerkung phien von vielen Rezensenten als problematisch
von Federn zu seiner Bearbeitung des Textes geht empfunden (vgl. Kap. 4.2), aber die hohe künstleri-
hervor, daß der Verleger zunächst geplant hatte, »das sche Qualität der Illustrationen fand bei fast allen
Original Satz für Satz... übersetzen« zu lassen und so Kritikern große Anerkennung. 18 In einem 1912
»eine im wörtlichen Sinn vollständige deutsche veröffentlichten Aufsatz über Max Slevogts Illustra-
Ausgabe des Lederstrumpf herauszugeben.« Im tionen charakterisierte Emil Waldmann die Leder-
Laufe seiner Arbeit gelangte Federn jedoch zu der i/rMW/>/-Lithographien als »graphisches Meister-
Überzeugung, daß mit Rücksicht auf den »Ge- werk« des Künstlers, 19 und 1922 bekräftigte Curt
schmack und die Auffassung der Leser« gewisse Glaser in seinem Buch Die Graphik der Neuzeit
Kürzungen des Textes unumgänglich seien. Der nachdrücklich den Ruhm der Illustrationen:
Übersetzer versicherte, daß er bei der Vornahme
... der 1 9 0 9 vollendete Lederstrumpf wurde das Monumental-
dieser Kürzungen »jede einzelne Episode... künst- werk der neuen Buchillustration, die unbekümmert um den
lerisch durchgearbeitet und nur die überflüssigen selbstgewissen Geschmack des strengen Bibliophilen das
Worte und zwecklosen Wiederholungen daraus Vorrecht der Kunst verkündet... Im Lederstrumpf ist Slevogt
entfernt« habe. 16 aufs vollkommenste Herr der Mittel einer malerisch suggesti-
ven Kreidezeichnung, die in der vollen Skala des Schwarz-
Slevogt stattete den Lederstrumpf mit 165 Initial- Weiß mit Licht und Schatten die Fläche belebt und mit
zeichnungen, 95 Textbildern und 52 ganzseitigen sparsamen Andeutungen Bilder von einer erstaunlichen Fülle
landschaftlichen Reichtums schafft. In Umfang wie an Bedeu-
Illustrationen aus, wobei er meistens litho-
tung steht Slevogts Lederstrumpf unerreicht da in der
graphische Kreide, gelegentlich aber auch Feder Geschichte der neueren Buchillustration. 2 0
und Tusche verwendete. Die Wahl eines ziemlich
großen Formats für die ganzseitigen Lithographien
war gleichbedeutend mit der Entscheidung, das 15 Vorwort von Walter Krickeberg; abgedruckt auf der ersten
Seite nach dem Titelblatt.
Werk als voluminösen Buchband in Großfolio-
16 Karl Federn in der »Vorbemerkung des Übersetzers«; abge-
Format zu gestalten. Der trotz der vom Übersetzer druckt nach S . 4 7 3
vorgenommenen Kürzungen nach wie vor umfang- 17 Z u m Entstehungsprozeß der Initialzeichnungen vgl. Imie-
reiche Text wurde in einer Frakturtype von verhält- la: Max Slevogt, S. 160, 4 0 0 Anm. 29
nismäßig kleinem Schriftgrad gesetzt und in engem 18 Vgl. etwa die begeisterte Kritik von Karl Scheffler in seiner
Ausstellungs-Rezension »Zeichnende Künste«, S. 189
Zeilenabstand zweispaltig auf den Buchseiten ange-
19 W a l d m a n n : Max Slevogt als Illustrator, S . 3 6
ordnet. In lockerer Folge wurden die in der Breite an 2 0 Glaser: Die Graphik der Neuzeit, S. 4 8 9 ff.
Auch aus heutiger Sicht erscheint der herausra- läßt in einer Weise, wie wir es m a n c h e m modernen Kolonial-
politiker wünschen könnten - diese Tragik bildet das Grund-
gende künstlerische Rang, der Slevogts Leder-
motiv für den ganzen Roman.
,rfrwm^/-Illustrationen von der zeitgenössischen
Kunstkritik zugebilligt wurde, gerechtfertigt. Denn In den Illustrationen zu den ersten drei Romanen
nach wie vor faszinieren diese Lithographien den gilt Slevogts Interesse vor allem der Darstellung der
Betrachter durch die ungeheure Produktivität der in Indianer und ihrer Versuche, sich gegen die ihnen
der Erfindung von Figuren, Szenen und Landschaf- den Lebensraum streitig machenden Weißen zur
ten gleichermaßen lebendigen Bildphantasie des Wehr zu setzen und sich in den kriegerischen
Künstlers ebenso wie durch die frappierende Leich- Auseinandersetzungen zwischen den englischen
tigkeit und Sicherheit in der künstlerischen Gestal- und französischen Kolonien zu behaupten. Zahlrei-
tung der abwechslungsreichen Bildvorstellungen. che Lithographien zeigen die Ureinwohner Ameri-
In der Darstellung der vielen spannenden Szenen, kas auf dem Kriegspfad gegen die in ihre Welt
die sich in der unwegsamen, von Seen, Flüssen und eingedrungenen Weißen: So wird der Betrachter
Wasserfällen durchzogenen Urwaldlandschaft im Zeuge, wie die Indianer von dem über dem Fluß
bergigen Hinterland des Staates New York, an den hängenden Ast eines Baumes aus den Überfall auf
südlichen Ufern des Ontario-Sees und in der Weite Tom Hutters Arche vorbereiten (SiWa 100), wie sie
der Prärie westlich des Mississippi abspielen, ver- in einer blitzschnellen Aktion den weißen Skalpjä-
mitteln Slevogts Illustrationen lebhafte und atmo- ger Harry March überwältigen (SiWa 103), wie sie in
sphärisch außerordentlich dichte Eindrücke von der verlassenen Biberburg auf der Lauer liegen
den Schauplätzen, an denen die Kolonisation Nord- (SiWa 130), wie sie in wilder Jagd über einen Baum-
amerikas in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts stamm, unter dem sich der flüchtende Wildtöter
vorangetrieben wurde. versteckt hat, springen (SiWa 136) und wie sie zu
Die Meisterschaft in der Wiedergabe dramatisch Wasser und zu Fuß mit großer Beharrlichkeit,
bewegter Szenen, in der Darstellung stimmungsvol- Kühnheit und Geschicklichkeit den Spuren der
ler Landschaften und in der Handhabung der fliehenden Weißen folgen (SiWa 161,225).
lithographischen Technik, die der Künstler in sei- In Slevogts Darstellungen, die die in Coopers
nen Lederstrumpf-Illustrationen unter Beweis stell- Erzählungen hervorgehobene Unterscheidung zwi-
te, ist in verschiedenen älteren und jüngeren Veröf- schen den guten, vertrauenswürdigen Delawaren
fentlichungen, von denen an erster Stelle die Disser- und den bösen Mingos außer acht lassen, erscheinen
tation von Monika Heffels über die Buchillustratio- die Indianer nicht als edle Wilde. Vielmehr treten
nen von Max Slevogt zu nennen wäre,21 eingehend die halbnackten, dunklen Gestalten mit den bis auf
beschrieben und analysiert worden, so daß es sich die Skalplocke kahlgeschorenen Köpfen und den
erübrigt, an dieser Stelle nochmals ausführlicher bemalten Gesichtern dem Betrachter als die
darauf einzugehen. unheimlichen Bewohner einer gänzlich fremden
Im folgenden soll vielmehr das Augenmerk auf Welt gegenüber. Slevogt stellt die Ureinwohner
die Beobachtung gerichtet werden, daß Slevogt die Amerikas aus der Perspektive der Weißen dar, ohne
zentrale Thematik von Coopers Lederstrumpf- für die letzteren Partei zu ergreifen: Denn was aus
Erzählungen - die konfliktbeladene Begegnung der Sicht der Weißen die Unheimlichkeit im
zwischen den >Wilden< und den »Zivilisiertem - in Erscheinungsbild der >Wilden< ausmacht, ist nicht
seinen Lithographien aufgegriffen und sichtbar so sehr die erkennbare Entschlossenheit der India-
gemacht hat, so daß die Charakterisierung des ner zur Ausführung grausamer Taten, sondern vor
Textgehalts, die Walther Krickeberg in seinem allen Dingen ihre unglaubliche Sicherheit bei der
Vorwort formulierte, durch die Illustrationen unter- Orientierung und Fortbewegung im Gelände, die
stützt wird: Slevogt mit Hilfe seiner Kunst der bildlichen
Darstellung schnellster Bewegungsabläufe immer
Die fünf Erzählungen, denen die bald stärker, bald schwächer wieder auf überzeugende Weise sichtbar macht.
hervortretende schlichte und ergreifende Figur ihres Helden
> Lederstrumpf. schon rein äußerlich ein Bindeglied gibt, sind
Auch in Coopers Erzählungen wird an verschie-
im Grunde g e n o m m e n eine Folge von Episoden aus der denen Stellen deutlich, daß das Dämonische, das
großartigen Geschichte der nordamerikanischen Kolonisa- nach Auffassung der Weißen im Verhalten der
tion, des zähen Existenzkampfes und der Vernichtung der Indianer zum Ausdruck kommt, nichts anderes als
roten Rasse. Die Tragik, die darin liegt, daß sich zum
der in das Erscheinungsbild der > Wilden« projizierte
Vorkämpfer und Pionier dieser gewaltigen geschichtlichen
Bewegung ein Mann hergibt, der in all den rauhen Kämpfen
Schrecken der >Zivilisierten< über die eigene Unfä-
sich doch ein warmes Mitgefühl für die unterdrückte Rasse
bewahrt hat, der sie versteht und ihr Gerechtigkeit widerfahren 21 Heffels: Die Buchillustration von Max Slevogt
higkeit ist, sich in der als das schlechthin Fremde Besatzungen zahlreicher in der Wildnis errichteter
erlebten freien Natur zurechtzufinden. Häufig emp- Forts sichergestellt wird.
finden die weißen Männer und Frauen, die vom In der Illustration zum zweiten Buch, die die
Jäger Lederstrumpf durch die Wildnis geführt wer- Unterredung zwischen dem französischen General
den, in jenen Augenblicken das größte Entsetzen, in Montcalm und dem englischen Offizier Munro über
denen ihnen durch das plötzlich einsetzende den Abzug der englischen Truppen aus dem Fort
Geheul der Indianer bewußt wird, daß sie aufgrund »William Henry« darstellt (SiWa 176), rückt Slevogt
der Unzuverlässigkeit ihres eigenen Wahrneh- die Indianer, die als Hilfstruppen der Franzosen an
mungs- und Orientierungsvermögens nicht be- der Belagerung des Forts teilgenommen haben, ganz
merkt haben, wie sie von den fremden Bewohnern weit in den Hintergrund und macht so auf die Rolle
des Waldes beständig verfolgt und beobachtet wor- aufmerksam, die die >Wilden< in den kriegerischen
den sind. Auseinandersetzungen zwischen den englischen
Gewinnt der Betrachter der Lederstrumpf-lAtho- und französischen Kolonien um die Vormachtstel-
graphien zunächst den Eindruck, daß sich die lung in Nordamerika spielen. Die Hoffnung der
Ureinwohner Amerikas dank ihrer von den Weißen Ureinwohner, als Verbündete der einen oder ande-
kaum nachvollziehbaren Vertrautheit mit der sie ren Seite mit ihren existentiellen Belangen Aner-
umgebenden Natur immer wieder als die eigentli- kennung zu finden, erweist sich immer wieder als
chen Besitzer des Landes behaupten, so machen die eine Illusion mit verhängnisvollen Folgen. Nach
Illustrationen im Fortgang sichtbar, daß die Indianer Maßgabe von Erwägungen, die auf ihre Anliegen
mit ihren besonderen Fähigkeiten den Prozeß der keinerlei Rücksicht nehmen, werden die Indianer
allmählichen Verdrängung und Vernichtung der von den Befehlshabern der englischen und französi-
roten Rasse allenfalls verzögern, nicht aber verhin- schen Truppen zum Friedenhalten verpflichtet oder
dern können. Auch wenn die Weißen, wie eine zum Kriegführen aufgestachelt und dabei beständig
Lithographie zum dritten Band zeigt (SiWa214), in Konflikte verwickelt, in denen die militärisch
den Urwald beim ersten Anblick als eine chaotische, überlegenen Weißen die >Wilden< oder die Angehö-
unwegsame Wildnis voller unbekannter Gefahren rigen der auf verschiedenen Seiten kämpfenden
erleben, läßt sich ihr Vordringen in die fremde Welt Indianerstämme einander wechselseitig umbringen
auf die Dauer nicht aufhalten, weil ihnen Mittel der und damit zur Ausrottung der roten Rasse beitragen
Durchsetzung zur Verfügung stehen, gegen die die (SiWa 259, 211).
Indianer machtlos sind. Aus der Welt der amerikanischen Siedlung Tem-
Die Illustrationen zum ersten Band lassen die pleton, die Slevogt dem Betrachter in den Illustra-
Frage über Sieg und Niederlage im Kampf zwischen tionen zum vierten Band vor Augen führt, sind die
den Indianern und den Weißen zunächst noch Ureinwohner des Landes bereits verschwunden.
offen: Zwar ist der weiße Skalpjäger Harry March Nur der alte Delawaren-Häuptling Chingachgook
seinen Gegnern an körperlicher Größe und Kraft lebt als ein zum Christentum bekehrter und durch
weit überlegen (SiWal32), aber die Stärke der das Feuerwasser der Weißen gefügig gemachter
Indianer im Kampf liegt in ihrer Beweglichkeit und >Wilder< zusammen mit seinem Freund, dem Jäger
in ihrem taktischen Geschick (SiWa 138), so daß sich Natty Bumppo, am Rand der Gesellschaft von
Harry Hurry schließlich nur mit fremder Hilfe Templeton in den Wäldern, wo er schließlich ein-
retten kann. Eine der letzten Illustrationen zum sam, nur von seinem weißen Freund betrauert, stirbt
ersten Buch (SiWa 147), die darstellt, wie zahlreiche (SiWa 3 3 2).
englische Soldaten durch den Urwald vorrücken In seiner Darstellung des Jägers >Lederstrumpf«
und die völlig überraschten Indianer erbarmungslos macht Slevogt die widersprüchlichen Wesenszüge
niedermetzeln, gibt zum ersten Mal eine Andeu- dieser literarischen Gestalt sichtbar. Das lange
tung auf die tatsächlichen Machtverhältnisse zwi- Gewehr, das >Lederstrumpf< in den Illustrationen
schen den >Wilden< und den >Zivilisierten<. stets griffbereit zur Hand hat, kennzeichnet ihn als
Die Illustrationen zu den folgenden Bänden treffsicheren Schützen, als Mann der Tat, der in
legen diese Machtverhältnisse offen: Die »großen entscheidenden Situationen nicht zögert, sich die
Herren« der Kolonien, die - wie Wildtöter im ersten Bedingungen seines Lebens in der Wildnis mit der
Buch sagt - »selbst Besitzer der Wildnis heißen« Waffe zu erkämpfen (SiWa 106). Zugleich wird das
wollen, »wenn auch keiner von ihnen in eigener Erscheinungsbild des Jägers aber durch ein weiteres,
Person auch nur in sie hineinzuschauen wagt«,22 zu dieser Charakterisierung in einem gewissen
setzen ihre Ansprüche mit militärischer Gewalt
durch, deren Schlagkraft durch die soldatischen 22 Ausgabe der Pan-Presse, S. 2
erscheint auch nicht zu spät. Ich habe Ihnen ja immer gesagt, Rechnet man die Anfangsinitiale und die Randlei-
daß der >Lederstrumpf< erst erledigt sein muß; ich kann mit
sten nicht ein, so beziehen sich die ersten fünf
dem Einen nicht dem Anderen Konkurrenz machen. Der
• Lcderstrumpf, muß wenigstens schon sehr weit fortgeschrit-
Illustrationen (Schw 54, III—IX) auf die im Text
ten sein und seinem Ende nahe sein, ehe das Buch >Judith< geschilderte Bedrohung des jüdischen Volkes durch
erscheint. A m 1. April spätestens ist dieser Zeitpunkt einge- die Assyrer, deren Grausamkeit in der Passion des
treten. 4 Achior dargestellt wird. Dieser erste Teil, der mit der
Corinth war offenbar verärgert über eine ver- Darstellung der im Roten Meer ertrinkenden Ägyp-
meintliche oder tatsächliche Verzögerung in der ter bereits einen Hinweis auf den göttlichen Bei-
Veröffentlichung der Illustrationen,5 die ζ. T. bereits stand für die bedrängten Juden enthält, bildet die
in der 19-Ausstellung der Berliner Secession im Begründung für Judiths Handeln, dem die folgen-
Winter 1909 besichtigt werden konnten.6 den sieben Illustrationen gewidmet sind (Schw 54,
X-XVI): Geschildert wird die Vorbereitung Judiths
Mit dem Hinweis, daß ein späterer Zeitpunkt der auf ihre Tat, ihr Aufenthalt im Lager des Feindes, die
Herausgabe nicht zuletzt in Corinths eigenem Tötung des Holofernes und die Heimkehr zu ihrem
Interesse liege, scheint Paul Cassirer den Künstler Volk. Der letzte Teil umfaßt drei Illustrationen, die
einigermaßen beruhigt zu haben. Jedenfalls äußerte sich mit den Folgen von Judiths Tat befassen
sich dieser am 20. Mai 1910 recht gelassen: (Schw 54, XVIII-XX): dargestellt ist die Auffindung
Uber den Deckel der Judith, sprachen wir; auch über das des Leichnams, das dadurch im Lager des Feindes
>Hohelied<. Es wird alles so allmählich vor sich g e h e n . . . 7 sich ausbreitende Entsetzen und der abschließende
Bei der Betrachtung der Illustrationen erkennt siegreiche Kampf der Juden.
man, daß sich Corinth mit der Textvorlage einge- Ein über die thematische Dreigliederung hinaus-
hend beschäftigt hat. Er greift die zentralen Ereig- gehendes strukturelles Prinzip in der Abfolge der
nisse, die dramatischen Höhe- und Wendepunkte Illustrationen ist in dem antithetischen Verhältnis
der Handlung auf, so daß die Lithographien in ihrer zwischen bestimmten Darstellungen zu erkennen,
Abfolge den strukturellen Aufbau der Erzählung das sich - ob im einzelnen Fall vom Künstler
widerspiegeln. beabsichtigt oder nicht - als inhaltlich sinnvoll
Die erste und die letzte Lithographie (Schw 54,1 begründen läßt. So setzt sich die Gegensätzlichkeit
und Schw 54, XXII) schließen sich aufgrund ihrer der beiden rahmenden Darstellungen in den sich
formalen Gemeinsamkeiten zu einem Rahmen jeweils nach innen anschließenden Illustrationen
zusammen. Die zu Beginn dargestellte Kampfszene fort: Der Darstellung des assyrischen Heeres am
kündigt das heroische Geschehen, von dem Das Anfang (Schw 54, III), das mit seiner erdrückenden
Buch Judith berichtet, an. Über einem am Boden Übermacht an »Wagen, Reitern und Bogenschüt-
liegenden Gefallenen und einem zusammengebro- zen, die den Erdboden bedeckten wie Heuschrek-
chenen Pferd stürmen feindliche Krieger aufeinan- ken«, wie es im Bibeltext heißt, in einem wohlgeord-
der ein. Die Dramatik des Geschehens wird augen- neten Zug gegen die unbotmäßigen Völker des
fällig in den sich aufbäumenden Pferden, deren Westens zieht, entspricht am Ende die Darstellung
Konturen vor der ausgesparten Mitte wie die ausein- des Kampfes derJuden gegen das sich in chaotischer
andergerissenen Hälften einer Form aufeinander Auflösung befindliche assyrische Heer (Schw 54,
bezogen erscheinen. XX). Auch die sich wiederum nach innen anschlie-
Im Gegensatz zu dieser Darstellung ist die Litho- ßenden Illustrationen beziehen sich aufeinander:
graphie am Ende des Buches heiter und gelöst: Sie Zu Beginn Holofernes in seinem Lager im Glanz
zeigt den glücklichen Ausgang der Erzählung an. seiner Macht (Schw 54, IV), am Ende das Entsetzen
Tanzende und musizierende Knaben und Mädchen seiner Gefolgsleute bei der Entdeckung des ent-
bewegen sich bildparallel in einem Reigen von haupteten Leichnams (Schw 54, XIX).
rechts nach links. Im orgiastischen Taumeln der In der fünften Illustration des ersten Teils wird
Vortänzerin und in der harmonischen Rhythmik die grausame Behandlung des Achior drastisch vor
der tanzenden Gruppe, die an antike Darstellungen
denken läßt, artikuliert sich die Stimmung einer 4 Abgedruckt in: Thomas Corinth: Lovis Corinth, S. 132
unbeschwerten, heiteren Festlichkeit, die das barba- 5 Es war nicht das erste Mal, daß Corinth argwöhnte, seine
rische Geschehen, mit dem sich der Text und die Verleger setzten sich nicht genügend für ihn ein; vgl. die Briefe
Illustration vorher beschäftigen, vergessen macht. vom 2 9 . 3 . 1 9 0 8 und vom 7 . 4 . 1 9 0 8 ; abgedruckt in: Thomas
Corinth: Lovis Corinth, S. 1 1 8 f.
Innerhalb des beschriebenen Rahmens kann man 6 Katalog der neunzehnten Ausstellung der Berliner Seces-
die Illustrationen thematisch in drei Gruppen sion, Nr. 1 5 1 - 1 5 7
unterteilen: 7 Thomas Corinth: Lovis Corinth, S. 1 3 4
Augen geführt (Schw 54, IX). Indem die Darstellung Ausschnitts erhält, und die optische Verriegelung
von Judiths Mord an Holofernes ebenfalls in der des Hintergrundes - all dies sind Kompositions-
fünften Illustration des mittleren Teils erfolgt, prinzipien, die sich nicht nur in anderen Illustratio-
erscheint ihre Tat nicht zuletzt motiviert als ein nen des Buches Judith wiederfinden. Sie sind viel-
Racheakt für die dem Achior angetane Pein. mehr charakteristisch für den Gemäldetyp der
Gleichgültig, ob es sich um vielfigurige Szenen »literarischen Figurenbilder«, mit denen Corinth
handelt oder ob die Darstellung auf wenige Figuren seit 1900 vor allem Erfolg hatte. 8 Corinth schätzte
beschränkt ist - Corinth hat jede Illustration zu das anspruchsvolle Fach der figurenreichen Kom-
einer vollständigen Komposition ausgestaltet und position, die sich auf eine literarische Thematik
die einzelnen Konzeptionen in der Wahl des Bild- bezieht, besonders wegen seiner Möglichkeiten,
ausschnitts, in der Höhe und Entfernung des zugleich literarische Bildung, malerisches Können
Betrachterstandpunkts und in der graphischen (in der Darstellung mannigfaltiger Körperformen
Behandlung ideenreich variiert. Hinsichtlich der und -bewegungen und in ihrer Einbindung in eine
Ausdruckskraft und Eindringlichkeit der gestalteri- anspruchsvolle Komposition) und künstlerische
schen Idee sind die einzelnen Illustrationen aller- Originalität in der individuellen Auffassung eines
dings von sehr unterschiedlicher Qualität. bekannten Themas zu demonstrieren. Charakteri-
Eine überzeugende Lösung ist Corinth u.a. mit stisch für viele Gemälde Corinths aus der Zeit vor
der vierten Illustration gelungen (Schw 54, IV): 1913 ist das Bemühen um eine akademisch schulge-
Dargestellt ist Holofernes, der in seinem Lager eine rechte Ausgewogenheit der Komposition bei einem
Gesandtschaft empfängt. Die gebieterische Gestalt gleichzeitigen Bestreben, das Thema in möglichst
des Feldherrn, die das linke Drittel der Komposi- direkter naturalistischer Unmittelbarkeit zu erfas-
tion ausfüllt, dominiert die Szene. Corinth betont sen. Letzteres wird erkennbar in einem oft drasti-
das Gewalttätige in der Erscheinung des Holofernes schen Realismus in der Darstellung von Einzelhei-
durch eine Vielzahl von Mitteln: die Größe und ten wie Physiognomie und Gebärden, der sich auf
Grobschlächtigkeit seines Körpers, die aggressive der einen Seite als unmittelbare Abhängigkeit vom
Farbigkeit in seinem Gewand, die durch die Modell, auf der anderen Seite als Tendenz zur
Schwärze von Bart und Haar unterstrichene Finster- karikaturhaften Überzeichnung geltend macht.
nis der Physiognomie, die Herrschergebärden, mit Auch im BuchJuditbwerden diese Züge deutlich,
der er seinen Fuß auf den Rücken eines auf den etwa in der Darstellung des in die Hände klatschen-
Boden geworfenen Mannes stützt und mit der er den Dieners Bagoa vor dem Zelt des Holofernes
den Bogen in seiner Linken vor den Körper hält. Die oder in der Darstellung der Auffindung des Leich-
hinter ihm rechts und links erscheinenden Leib- nams (Schw 54, XVIII und 54, XIX).
wächter in Frontalansicht rahmen durch die Verti- In der betrachteten vierten Illustration kommt es
kalen ihrer aufgestützten Lanzen seine Gestalt und Corinth allerdings nicht so sehr auf eine realistische
trennen sie vom übrigen Bildgeschehen ab. Vergegenwärtigung, sondern eher auf eine Beto-
Der Zorn, der aus der Miene und den Gesten des nung des orientalisch fremdländischen Charakters
Holofernes spricht, richtet sich auf einen Mann, der der Szene an; wie die Darstellung des langen
rechts hinter der am Boden kauernden Gestalt Gewandes mit der Schärpe, der Haar- und Bart-
erscheint. Nur im Oberkörper sichtbar, also gleich- tracht und des Bogens in der Linken des Holofernes
falls knieend, wendet er sich mit flehend erhobenen zeigen, hat sich der Künstler hier an assyrischen
Händen an den Feldherrn. Hinter ihm erkennt man Reliefdarstellungen orientiert. 9 Dabei geht es ihm
den dunklen Körper eines Kamels, dessen Kopf sich keineswegs um eine historistische Genauigkeit im
wie der eines Ungeheuers in das Zentrum des Bildes Detail - dies wäre auch verfehlt bei einem Text,
schiebt. Als tragendes Element in die Komposition dessen historischer Kern sich aufgrund der wider-
einbezogen, verleiht die Gestalt dieses in der Orient- sprüchlichen historischen und geographischen
malerei des 19-Jahrhunderts beliebten Tieres der
Szene mehr als nur den Eindruck orientalischer
Exotik: Eine Atmosphäre des Bedrohlichen und
Unheimlichen breitet sich aus, die den Fortgang des 8 Peter Hahn: Das literarische Figurenbild. In: (Ausst. Kat.
Geschehens anzukündigen scheint. München 1975) Lovis Corinth, S. 7 6 - 9 2
Die eng gedrängte Anordnung der Figuren auf 9 Bei der Darstellung des Holofernes könnte sich Corinth an
einem Alabasterrelief aus dem Palast Assurbanipals in Ninive
einer schmalen Grundfläche, die Beschneidung
orientiert haben, das sich zu seiner Zeit bereits in der Vorder-
einzelner Gestalten durch den Rahmen, durch die asiatischen Abteilung der Berliner Museen befand; vgl. Führer
die Darstellung den Charakter eines momentanen durch das Alte und das Neue Museum, Nr. 9 6 0 - 9 6 3
hier »nicht Bewunderung für die weibliche Heroine, das Gebaren des Holofernes als dumme Kraftmei-
sondern Grauen als vor einem Monstrum.« 18 erei lächerlich macht, auf der anderen Seite Judiths
In dieser Hinsicht folgt Corinths Auffassung Handeln als Resultat ihrer altjüngferlichen Ableh-
jener Interpretation der Judith-Gestalt, wie sie nung gegenüber der eigenen Sexualität entlarvt,
Friedrich Hebbel in seiner 1839 entstandenen Tra- wendet er die Tragik des Konflikts, die Hebbel
gödie Judith verarbeitete. gestalten wollte, bewußt ins Komische: Berühmt
Die Tragödie der Judith besteht in Hebbels geworden ist die Darstellung der nackten Judith, die
Deutung darin, daß sie zum Werkzeug eines höhe- sich in einer Ekel und Verachtung signalisierenden
ren, göttlichen Zweckes wird durch eine individuell extremen Biegung des überschlanken Körpers über
motivierte Überschreitung ihrer naturbedingten die Schulter umblickt nach dem am Boden liegen-
Rolle als Frau, deren Konsequenzen sie sich nicht den Haupt des Holofernes, dessen Gesicht eine
gewachsen zeigt. Judith ermordet Holofernes aus brutale Sinnlichkeit verrät und dessen schwarze
persönlicher Rache für eine Erniedrigung, die für sie Haarsträhnen sich wie Greifarme am Boden ent-
nicht eigentlich in der ihr von Holofernes angetanen langschlängeln. 24
Gewalt besteht, sondern in ihrer eigenen weiblichen Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Aus-
Schwäche, also darin, daß sich ihre Gefühle gegen einandersetzung mit der Judith-Thematik ergibt
ihren Willen dem sie rücksichtslos unterwerfenden sich für die Beurteilung von Corinths Interpretation
Mann zugewandt haben. Gerade zur Entstehungs- ein komplexes, in sich widersprüchliches Bild:
zeit von Corinths Illustrationen war die Auffassung Auf der einen Seite scheint Corinth - wenngleich
von der natürlichen Bestimmung der Frau zur mit völlig anderen künstlerischen Mitteln - an die
passiven Unterordnung unter den aktiven Mann ein Auffassung der Illustrationen seines Münchener
weitverbreitetes Gedankengut innerhalb der gebil- Freundes Thomas Theodor Heine anzuknüpfen,
deten Schichten. 1 9 Hebbels Dramen erfreuten sich indem er den Prozeß der Distanzierung von der seit
einer besonderen Beliebtheit. 2 0 dem 19.Jahrhundert traditionell negativen Inter-
Ungefähr zur selben Zeit, in der die Illustrationen pretation der Judith-Geschichte als einer verhäng-
zum Buch Judith entstanden, bereitete Max Rein- nisvollen Grenzüberschreitung der Frau weiter-
hardt am Deutschen Theater in Berlin eine Auffüh- führt: Statt Hebbels Verarbeitung des Judith-Stoffes
rung von Hebbels Judith vor. Tilla Durieux spielte zu einer Tragödie legt er die biblische Quelle
die weibliche Hauptrolle in dieser Inszenierung, die zugrunde, in der ja Judiths Tat als eine dem Kampf
am 25. Februar 1910 Premiere hatte. 21 Davids gegen Goliath ebenbürtige Heldentat der
Aufschlußreich ist nun aber auch die Tatsache, jüdischen Geschichte mit einem glücklichen Aus-
daß noch im selben Jahr Nestroys gelungene Parodie gang gefeiert wird. 25
Judith und Holofernes auf Hebbels Tragödie eben- Auch im spielerischen Zitieren nach Motiven aus
falls am Deutschen Theater zur Aufführung kam. 22 der assyrischen Kunst, das unterschwellig auf die
Hier zeigt sich, daß die Auffassung von der Naturbe- Historizität des Stoffes anspielt, und in der Tendenz
stimmtheit der Verhaltensweisen und Aufgabenbe- zur satirischen Überzeichnung in der Darstellung
reiche des weiblichen und männlichen Geschlechts, einzelner Figuren zeigt sich eine gewisse Distanz
wie sie Hebbel in seinen Dramen verarbeitete, trotz
ihrer immer noch vorhandenen Faszination um
1910 doch bereits auch äußerst fragwürdig gewor-
den war.23
18 Ebd., S. 35
Auch im Bereich der Buchkunst gibt es ein
19 In aller Schärfe wird diese Position z.B. vertreten in dem
Beispiel für dieses Moment der Verunsicherung:
vielgelesenen Buch von Otto Weininger: Geschlecht und Cha-
Thomas Theodor Heines Illustrationen zu Hebbels rakter. W i e n 1 9 0 3 ; vgl. zu diesem T h e m a auch: (Ausst. Kat.
Judith, die 1908 in dem Münchener Hyperion- München 1 9 7 5 ) Lovis Corinth, S . 9 0 f .
Verlag Hans von Webers erschienen. 2 0 Vgl. etwa die Anmerkungen zu einer aktuellen Studie über
Hebbel in: Das literarische E c h o 12 ( 1 9 0 9 / 1 9 1 0 ) , S p . 2 7 8 / 2 7 9 :
T h . T h . Heine ironisiert Hebbels Deutung der
»Holländischer Brief«
Judith-Geschichte, indem er die Wesensmerkmale 21 Vgl. Max Reinhardt, Die Spielpläne, S. 19; Abb. in: Rothe:
der beiden Protagonisten als antagonistischen Max Reinhardt, Taf.67, 117
Gegensatz überzeichnet: Holofernes erscheint als 2 2 Max Reinhardt, Die Spielpläne, S . 2 0
eitler Kraftprotz, der sich in seiner mächtigen 2 3 A u c h Georg Kaiser schrieb 1 9 0 4 eine Parodie auf Hebbel:
»Die jüdische Witwe«, deren zweite Fassung 1 9 0 8 fertiggestellt
Körperfülle in Positur stellt. Judiths Gestalt dage-
wurde.
gen ist bis an die Grenze der vollständigen Auflö- 2 4 Abb. in: Loubier: Buchkunst, S . 2 6
sung ins Ornament entmaterialisiert. Indem Heine 25 Kindlers Literatur Lexikon, Bd.2, Sp. 1 0 3 5
und Unbefangenheit gegenüber dem Stoff.26 Auf der tion der Geschichte erfaßt. Daß er dem »unernsthaf-
formalen Ebene artikuliert sich diese Haltung in der ten Zug« in vielen Illustrationen kein Verständnis
Tendenz, Verzeichnungen und Verzerrungen der entgegenbringen kann, liegt nicht nur an seinen
Form nicht nur zuzulassen, sondern bewußt bis an noch von der virtuosen Zeichenkunst des ^ . J a h r -
die Grenze zum Archaisierenden zu treiben. hunderts geprägten Sehgewohnheiten, sondern vor
Auf der anderen Seite kann sich Corinth in der allem daran, daß er den tieferen Grund für das
Darstellung von Judiths Tat aber doch nicht freima- Schwanken zwischen Komik und Ernst nicht
chen von jener zu seiner Zeit populären negativen durchschaut: die Ambivalenz in der Beurteilung der
Deutung, der »letztlich das beängstigende Bild des Judith als Beispiel einer autonom entscheidenden
weiblichen Vampyrs« zugrundeliegt. 27 Die großar- und aktiv handelnden Frau.
tige Ausdruckskraft, die Corinth in seiner Verbildli-
chung des Vorgangs der Ermordung erreicht, basiert
auf einer souveränen Linienführung, in der die 3.3 Max Beckmann, 9 Lithographien zu:
sichere Beherrschung der anatomischen Formen Johannes Guthmann, »Eurydikes
zur Geltung kommt.
Wiederkehr«. 1909 (3. Werk)
Diese Unstimmigkeit in der Haltung des Illustra-
tors gegenüber dem Text und seiner Hauptfigur, die Guthmann beschreibt in seinen Erinnerungen, wie
sich auch in der formalen Ausführung bemerkbar Paul Cassirer sein »kleines episches Gedicht« (so
macht, ist vielleicht einer der Gründe, warum in den bezeichnet der Autor sein Werk) aufnahm:
zeitgenössischen Reaktionen neben begeisterter Er blätterte in meinen Versen, las sie am selben Tag noch Wort
Zustimmung und strikter Ablehnung mitunter für Wort, nahm sie in seinen Verlag, zog ihnen ein schlichtes,
auch eine gewisse Unentschiedenheit und Ratlosig- aber gediegenes Gewand an, brachte sogar eine Luxusausgabe
mit Lithographien von Max Beckmann heraus - und wartete
keit in der Beurteilung von Corinths Illustrationen
auf den Erfolg. >Sie sind meine größte Enttäuschung«, sagte er
zum Ausdruck kommt. 2 8 nach einiger Zeit. .Sie haben in Ihrer >Eurydike< etwas Schönes,
Die »Rohheit« und »Derbheit« der Illustrationen nichts anderes als etwas schlechthin Schönes geben wollen, das
wurde in fast allen frühen Rezensionen hervorgeho- heißt, etwas so gänzlich dieser Zeit nicht Gemäßes, daß ich mir
ein Bombengeschäft davon versprach. Ich bin enttäuscht.« Der
ben; dabei gelangten die Rezensenten allerdings zu
kluge Mann hatte wohl recht - ich sollte das noch oft genug
vollständig verschiedenen Bewertungen : 29 hören - , und >Eurydikes Wiederkehr« wartet noch heute ihres
Alles meilenweit ab von der landläufigen Bibelillustration, aber Tages. Ich habe sie unter meinen literarischen Versuchen
den wahren Inhalt der morgenländischen Geschichte tiefer immer besonders geliebt. 1
packend als je ein früherer Illustrator,
Auch wenn die Cassirer in den Mund gelegten
konstatierte Max Osborn; 30 Käthe Kollwitz notierte Worte nicht authentisch sein mögen - die Wert-
dagegen 1916: schätzung von Kunst als Reich des »dieser Zeit«
Corinth, Das Hohe Lied und ein anderes Buch aus der Bibel. entgegengesetzten »schlechthin Schönen« ent-
Ganz wenig Gutes, meist unerträglich roh. 31 spricht in erster Linie Guthmanns eigener Auffas-
sung2 - , darf man dem Verfasser doch glauben, daß
Alfred Kuhn bemühte sich 1925 um eine diffe-
renzierte Analyse von Corinths Illustrationen:
26 Diese Haltung findet sich auch in anderen frühen Werken
Jedes einzelne Sujet ist als ein in sich geschlossenes Gemälde Corinths; vgl. (Ausst. Kat. München 1975) Lovis Corinth,
ausgestaltet, jedes einzelne hat eine mehr oder minder komi- S.87f.
sche Note, aber diese ist nicht gewachsen aus dem Geist des 27 Hofstätter: Symbolismus, S. 194
Buches selbst, sondern wirkt wie ein Witz, den der Künstler
28 Vgl. etwa Scheffler: Zeichnende Künste, S. 189
sich mit dem Text erlaubt hat. Dies ist umso deutlicher, wenn
29 Allgemein zur Rezeption von Corinths Werken: Carla
man dann immer wieder ideelle Entgleisungen bemerkt,
Schulz-Hoffmann: Corinth im Urteil der Kunstkritik bis 1945.
Rückfälle sozusagen in die Ernsthaftigkeit des Textes selbst.
In: (Ausst. Kat. München 1975) Lovis Corinth, S. 1 0 2 - 1 0 8
Von großartiger Monumentalität und auch erschütternder
30 Zitiert in einer Anzeige zum >Hohen Lied« in: Katalog der
Kraft ist das Bild der sich über den liegenden Holofernes
Ausstellung des Lebenswerkes von Lovis Corinth. Paul Cassirer,
beugenden Judith, die das Messer schwingt vor blutrotem
in den Räumen der Sezession. Berlin 1913
Vorhang,...
31 Tagebucheintragung vom 12.1.1916; abgedruckt in: Koll-
Dagegen kann die Unterhaltung des Königs mit der sich
witz, Ich sah die Welt, S. 166
entschleiernden Jungfrau nur komisch wirken, nicht minder
32 Kuhn: Lovis Corinth, S.91 f.
das Hereinreiten der Ägypter ins Meer mit unglaublich
1 Guthmann: Goldene Frucht, S. 121
verzeichneten Pferdetypen.
2 Obwohl sich Guthmann nicht explizit zu seinem Kunst-
verständnis äußert, läßt es sich aus seiner Vorliebe für Literaten
Im konstatierten Gegensatz >komisch - ernsthaft<
aus dem Kreis Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges
hat Kuhn etwas von der den Illustrationen eigen- sowie aus verstreuten Anmerkungen innerhalb seines Buches
tümlichen Widersprüchlichkeit in der Interpreta- leicht erschließen; ζ. B. S.313, 316
der Verleger sein Werk wohlwollend aufnahm. plänen bekommen und nun sich an mich heranmachen
möchte. Ich halte das auch immer noch für möglich. Morgen
Anderenfalls hätte Cassirer es wohl kaum als eines
Nachmittag bat er möchte ich mich entscheiden. Hatte erst
der ersten Werke in das Programm seiner gerade wenig Lust d a z u . . . Auf dem Rückweg las ich dann Manuscript
begonnenen Reihe bibliophiler Ausgaben aufge- von Guthmann und fand daß es nicht schlecht und etwas
nommen, das ja nicht nur in der Auswahl der daraus zu machen sei. Entschloß mich also, es zu machen. Mink
bildenden Künstler, sondern auch der literarischen las es auch und war auch zuerst etwas abgeneigt und dann auch
dafür... 9
Vorlagen ein hohes Niveau anstrebte. Guthmann,
ein gebildeter Kunstkenner und -liebhaber,3 geht in Zum Verständnis dieser Zeilen muß man Beck-
seinen Erinnerungen mit keinem Wort näher auf manns Tagebuch-Notizen der vorausgehenden
die illustrative Ausstattung des Buches ein. Man Monate heranziehen:
darf daher wohl annehmen, daß er persönlich für Am 27. Dezember 1908 berichtet Beckmann, daß
Beckmanns Graphik, wahrscheinlich auch für sein er den Malern Wilhelm Schocken und Waldemar
malerisches Werk, wenig Verständnis aufbringen Rosier den Plan der Gründung einer neuen Seces-
konnte. sion vorgetragen habe.10
Mit Sicherheit stammte die Idee, Max Beckmann Grundlage für dieses Projekt, das sich wegen
mit der Illustrierung des Textes zu beauftragen, von Finanzierungs- und anderen Schwierigkeiten sehr
Paul Cassirer. Max Beckmann hatte es zu jener Zeit bald zerschlug,11 war eine Unzufriedenheit mit der
als Maler bereits zu einigem Erfolg gebracht. Seit der Berliner Secession, die Beckmann mit einer Reihe
Ausstellung seines Gemäldes »Junge Männer am meist jüngerer Vereinsmitglieder teilte.12 Man war
Meer« 1906 im Deutschen Künstlerbund in Wei- allgemein der Ansicht, daß in der Ausstellungspra-
mar, dem anschließenden Ankauf des Bildes durch xis Werke des französischen und deutschen Impres-
das Großherzogliche Museum für Kunst und sionismus zu sehr bevorzugt und den davon abwei-
Kunstgewerbe, der Verleihung des Villa-Romana- chenden neueren künstlerischen Bestrebungen zu
Preises (1906) und seiner Mitgliedschaft in der wenig Entfaltungsmöglichkeiten geboten würden.
Berliner Secession (1907), auf deren Ausstellungen Die Hauptverantwortung für den beklagten Man-
er seit 1906 regelmäßig mit einigen Werken vertre- gel an künstlerischem Verständnis und materieller
ten war,4 galt Beckmann in Berliner Kunstkreisen Förderung lastete man Max Liebermann, dem
allgemein als vielversprechendes junges Talent, des- berühmtesten Mitglied des Vorstands, und Paul
sen künstlerische Bemühungen in der Kunstkritik Cassirer an. Beckmann formuliert in seinem Tage-
zwar nicht vorbehaltlos anerkannt, aber doch in der buch:
Mehrzahl der Fälle zumindest wohlwollend beur-
teilt wurden.5 Als Graphiker hingegen war Beck-
mann zur damaligen Zeit noch völlig unbekannt.
Zwar hatte der Künstler auf der 16. Ausstellung der 3 Johannes Guthmann, geb. 2 7 . 8 . 1 8 7 6 in Berlin, gest. 9 . 9 .
1 9 5 6 in Ebenhausen; Studium der Kunstgeschichte; Promotion
Berliner Secession immerhin 15 Zeichnungen aus-
1 9 0 0 ; freier Schriftsteller in Berlin, Neu-Cladow bei Spandau;
gestellt, wurde aber in den Kritiken nicht er- später in Untergrainau bei Garmisch. Seit 1911 war Guthmann
wähnt.6 mit Max Slevogt befreundet, der für ihn den Pavillon in
Neu-Cladow ausmalte.
So drängt sich die Frage nach den Beweggründen
4 Vgl. die Dokumentation in: Gässler: Studien zum Früh-
auf, die Paul Cassirer veranlaßten, ausgerechnet werk, S. 3 1 0 - 3 9 2
diesen auf graphischem Gebiet nicht nur unbekann- 5 Vgl. ebd., S. 3 1 6 : »ein starkes Talent; das stärkste im ganzen
ten, sondern auch in der Technik der Lithographie Nachwuchs« ( 1 9 0 7 ) ; S. 3 2 0 : »höchst talentvolle - wenn auch nicht
unerfahrenen Künstler 7 mit der Illustrierung zu immer sympathische Arbeiten« ( 1 9 0 7 ) ; S. 3 2 6 : »Max Beckmann
beweist... von neuem, daß er begabt ist« ( 1 9 0 8 )
beauftragen.
6 Vgl. Beckmann: Leben in Berlin, S . 2 7 , Eintragung v o m
Max Beckmann hatte dafür eine eindeutige Erklä- 16.1.1909
rung. In seinem Tagebuch notierte er unter dem 7 Außer einem lithographierten Selbstporträt von 1 9 0 3 sind
Datum des 3.4.1909, ein Telegramm von Paul keine lithographischen Versuche Beckmanns bekannt, die früher
als die Illustrationen zu Guthmanns Text entstanden sind. Vgl.
Cassirer erhalten zu haben, in dem dieser ihn bat,
J a m e s Hofmaler: Max Beckmann als Graphiker. In: (Ausst. Kat.
»ihn wegen einer Illustrationssache morgen früh Köln 1984) Max Beckmann, S. 143 A b b . 3 und S. 144f.
aufzusuchen.«8 Unter der Eintragung vom nächsten 8 Beckmann: Leben in Berlin, S . 3 7
Tag heißt es dann: 9 Ebd., S. 3 8
10 Ebd., S.7
Morgens bei Cassirer er war sehr liebenswürdig und hatte 11 Ebd., S.8, 23, 3 7 ; vgl. zu diesem T h e m a : Güse: Das
wirklich etwas da was ich illustrieren sollte. Ein Buch in Versen Frühwerk, S. 3 7 - 4 1
von einem Herrn Dr. Guthmann. Mink und ich haben ihn 12 Vgl. Beckmann: Leben in Berlin, S . 3 0 , Eintragung vom
nämlich in Verdacht daß er irgend W i n d von den Revolutions- 24.1.1909
Alle waren wir uns einig in dem Gefühl des Widerwillens und Gesängen« die antike Sage des Sängers Orpheus
der Unmöglichkeit für die Entwicklung unserer deutschen
neu. Der erste Gesang: »Leier der Liebe« beginnt mit
Kunst bei dieser gänzlichen Herrschaft des kaufmännischen
Interesses von Cassirer, bei seiner Indolenz und Blasiert-
der Schilderung der Bestattung des Leichnams von
heit. 1 3 Orpheus' Gattin Eurydike, die an einem Schlangen-
biß gestorben ist. Der trauernde Orpheus legt seine
Der Künstler deutet hier seine persönliche Erfah- Leier auf die Bahre der Toten, bevor diese verbrannt
rung der - aus seiner Sicht heraus - ungerechtfertig- wird. Weil der Sänger erst durch die Begegnung mit
ten Benachteiligung seitens der einflußreichsten Eurydike zu seiner künstlerischen Identität gefun-
Secessionsmitglieder als Teil einer prinzipiellen den hat,18 soll seine Kunst ihren Tod nicht überle-
Problematik: nämlich der der »Entwicklung unserer ben:
deutschen Kunst«. Dabei macht er sich einen Ich gebe alles, was ich bin und kann,/verklungen sei das
Vorwurf gegen Paul Cassirer zueigen, der - seit 1905 Saitenspiel: die Leier/der Liebe, Eurydike, fahre hin. 1 9
in verstärktem Maße - aus konservativ-nationali-
stisch eingestellten Intellektuellenkreisen, die die Erst nach der Bestattung der Toten beginnt
Idee einer der politischen Hegemonie Deutsch- Orpheus zu erkennen, daß er die geliebte Frau
lands entsprechenden Vormachtstellung deutscher unwiederbringlich verloren hat und verzweifelt
Kultur verfochten, erhoben wurde: Aus rein ökono- angesichts des Bewußtseins »ungetaner, versäumter
mischen Motiven heraus befördere Cassirer haupt- Liebe«. Die Sehnsucht nach Eurydikes »Leib und
sächlich französische Künstler bzw. ihre deutschen Gegenwart und allen Fühlens / und Liebens leiden-
Nachahmer und begehe damit Verrat an den hohen schaftlichen Genuß«20 ist so stark, daß sich der
Zielen einer national eigenständigen Kunst.14 Sänger, als ihm seine Mutter die Leier seines Vaters
gibt und damit auffordert, sich erneut seiner Kunst
Das Verhältnis zwischen Beckmann und Cassirer,
zu widmen, entschließt, die Geliebte aus der Herr-
dem die grundsätzlich ablehnende Haltung des
schaft der Götter zurückzuerobern. Der erste
Künstlers sicher nicht verborgen geblieben war, war
Gesang endet mit Orpheus' Aufbruch zur Unterwelt
also äußerst gespannt.15 Beckmann vermochte in
und den ihn begleitenden Gedanken der Mutter:
dem Illustrationsauftrag daher auch nichts anderes
zu entdecken als den geschickten Schachzug eines
Geschäftsmannes, der sich an ihn »heranmache«, um
seine Emanzipationsbestrebungen sowie die seiner 13 Ebd., S . 7
14 Mit dieser Ansicht stand Beckmann unter den jüngeren
Künstlerkollegen zu vereiteln. Secessionsmitgliedern nicht allein. Emil Nolde, den Beckmann
Daß derartige Überlegungen Cassirers beim Zu- übrigens als Künstler und als Persönlichkeit ablehnte (ebd., S. 37),
standekommen des Auftrags eine Rolle gespielt beschrieb die Motive seiner Auseinandersetzung mit der Seces-
haben könnten, ist durchaus möglich.16 Darin den sion 1910, die zu seinem Ausschluß führte, in sehr ähnlichen
Formulierungen (vgl. Kap. 1.2.2). Z u den Motiven von Beck-
entscheidenden Grund für den Auftrag zu sehen, manns und Noldes Kritik an der Secession vgl. Güse: Das
erscheint allerdings wenig plausibel. Zum einen Frühwerk, S. 3 9 - 4 1 . In Güses Darstellung scheint mir die Kritik
standen dem Kunsthändler und Verleger eine ganze an den reaktionären Tendenzen in Beckmanns und Noldes
Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, um einen Vorwürfen etwas zu kurz zu kommen. Schärfer herausgearbeitet
werden diese in: Paret: Die Berliner Secession, S . 3 0 6
Künstler in eine abhängige Situation zu bringen.17
15 Beckmann: Leben in Berlin, S . 2 3 , Eintragung vom 1 5 . 1 .
Zum anderen spricht das angestrebte anspruchs-
1 9 0 9 : » . . . ich nach Berlin in die Secession. Nervöse Stimmung da
volle Niveau der Pan-Presse gegen die Vermutung, ich das Lokal nicht ausstehen kann. Ankunft. Nölereien mit
Cassirer habe in diesem Fall den Illustrationsauftrag Cassirer. Gegenseitiges A n ö d e n . . . «
nach rein geschäftsstrategischen Gesichtspunkten 16 Genauere Informationen über die Entstehungsbedingun-
erteilt. gen des Auftrages gibt es nicht: Laut einer schriftlichen Mittei-
lung von Dr. Peter Beckmann, Murnau, vom 1 6 . 1 0 . 1 9 8 1 sind
Man muß davon ausgehen, daß Cassirer Beck- »aus den Jahren keinerlei Notizen und Briefe vorhanden.«
mann für einen geeigneten Illustrator von Guth- 17 Der Bildhauer Georg Kolbe befand sich z.B. dadurch unter
manns Text hielt - aus welchem Grunde, läßt sich Druck, daß er bei Cassirer verschuldet war. Vgl. Beckmann:
Leben in Berlin, S. 23. Vgl. auch Nolde J a h r e der Kämpfe, S. 1 5 1 :
vielleicht aus einer näheren Betrachtung von Text-
»Hettner kam als Abgesandter der jungen Secessionisten, fra-
vorlage und illustrativer Ausstattung erschließen. gend: >Haben Sie einen Geldmann hinter sich?< >Nein<, sagte ich.
Angesichts der völligen Vergessenheit, in die >Dann können wir den Sprung ins Dunkle nicht wagen, denn
Guthmanns Text bereits unmittelbar nach seinem manche von uns haben Frau und K i n d . . . Kolbe hat für 15 0 0 0
Mark Plastiken in Paul Cassirers Keller stehen. W i r müssen gegen
Erscheinen geraten und in der er bis heute geblieben
Sie stimmen.<«
ist, mag eine ausführlichere Darstellung und Ana-
18 Ausgabe der Pan-Presse, S. 2 6
lyse des Werkes an dieser Stelle angebracht sein: 19 Ebd., S. 12
Das Epos Eurydikes Wiederkehr erzählt in »drei 2 0 Ebd., S. 2 9
. . . W e h e , wem die Götter/den Sinn für's Höchste gaben und Erinnerungen daran ein anderer geworden. Die
das Herz - / i n Lieb' und Leid verstrickt das Menschenherz
Erfahrungen in der Welt der Schatten, deren Qual in
- / i h m ließen!...21
dem unermüdlichen, stets scheiternden Bemühen
Der zweite Gesang »Leier des Zorns« berichtet besteht, der Unbestimmtheit ihres Daseins zu ent-
von Orpheus' Aufenthalt im Reich der Toten. rinnen, und das Erlebnis von der erlösenden Macht
Mühsam und voller Grauen dringt Orpheus durch seiner Musik lassen Orpheus die Bestimmung seiner
die ihn bedrängenden Schatten der Toten, die sich Kunst erkennen. Deren Aufgabe ist es, dem in der
ewig vergeblich bemühen, »aufs neu Gestalt zu Zufälligkeit und Vergänglichkeit des irdischen
werden.«22 Getrieben durch die leidenschaftliche Daseins aufscheinenden Schönen Dauer zu verlei-
Kraft seiner Liebe, erreicht er schließlich den hen. 26
Thronsaal des Hades. Im Angesicht des Herrscher- Die naiv-kindliche Eurydike vermag Orpheus in
paares über das Totenreich fordert Orpheus Eury- der Erkenntnis des hohen Ziels seiner Kunst nicht
dike zurück, doch Hades verweigert sein Begehren. zu folgen:
Der Sänger läßt aber nicht nach, so daß der Herr der
A n seinen Lippen hing das holde Kind/und lauschte aufmerk-
Unterwelt schließlich erzürnt auch Orpheus in
sam den fremden Worten,/wie man auf unbekannte Lieder
einen Schatten verwandeln will. Doch dieser rettet horcht,/die Wundervolles zu erzählen scheinen/und die man
sich, indem er sich an Persephone wendet. Mit nicht versteht. Und etwas Scheu,/vielleicht ein Schatten auch
seinem Gesang und Leierspiel weckt er nicht nur bei von langer Weile,/war der Bewunderung hinzugemischt.
ihr die »Erinnerung an goldne Zeit« 23 , sondern ruft
E r sah ihr in das Auge, das auf ihn/mit stummer Gläubigkeit
auch in den Schatten der Toten eine Lebensregung
geheftet war:/sein Herz, das nach Verständnis schmachtete,
hervor: Angelockt durch die Macht der Musik, empfand wie Frost unmerklich einen Hauch/und zuckte leise
stimmen sie den von Orpheus gedichteten Totenge- auf...27
sang an. Bei diesem Anblick läßt Hades sich rühren
und gewährt des Sängers Begehren, allerdings mit Orpheus beginnt sich in seinen Gedanken immer
einer Auflage, die sich von dem bekannten Gebot mehr von der Erfahrungswelt seiner Geliebten zu
der antiken Sage unterscheidet: entfernen, so daß der Tag anbricht, an dem Eurydike
die Erde endgültig verlassen muß. Diesmal fügt sich
Doch du, der als ein Feind zu mir gedrungen/und wie ein Orpheus in die Unvermeidlichkeit seines Schick-
Bruder nun dämonisch W u n d e r / m i r wirkst, sei anerkannt und
sals. Gegenüber den Prophezeihungen seiner Mut-
sei erhört : / U m die du machtvoll warbest, Eurydike,/das holde
Kind, sei dein, - doch wisse: Den/Gesetzen eurer W e l t ward sie
ter, die ihm die Größe seiner künstlerischen Beru-
entrückt/wie nun den meinen; Kraft und Lust zu leben/zieht fung in Aussicht stellt, macht Orpheus jedoch die
fürder einzig sie aus deiner Liebe :/von deiner Seele hängt ihr Worte geltend, mit denen das Epos endet:
Leben ab./ Vergäßest du und würdest lässig werden - / s i e
schwände unaufhaltsam vor dir hin,/als deiner Liebe treues Du nimmst das Licht nur, das dich blendet, wahr,/was ich
Spiegelbild. 24 verlor, erkennst du nicht und was/mir Eurydikes Wiederkehr
bedeutet./Du hast den Glanz der Zukunft mir enthüllt,/wie
In der antiken Sage, wie sie Ovid in den Metamor- ihn die andern sehen mögen; doch/in stillen Stunden werd'
phosen erzählt, darf Orpheus auf dem Weg zur ich's anders wissen,/und wie dies alles werden mußte, wie/es
Oberwelt nicht zurückblicken; er muß sein lieben- ward. - Ich liebte sie - sie liebte mich - / U n d dennoch klingt
die Weise traurig aus. 2 8
des Verlangen bezähmen, wenn er Eurydike erneut
besitzen will. An diesem Gebot, sein menschliches Nach Guthmanns Deutung der Orpheus-Sage
Fühlen und Wollen den Gesetzen der ewigen Götter vollzieht sich im Schicksal des Sängers das Schicksal
unterzuordnen, scheitert Orpheus und verliert des Künstlers, der in dem Maße, wie er sich seiner
Eurydike auf immer. 25 künstlerischen Aufgabe, »Sonnenbote« des Volkes
Hier hingegen lautet das Gebot des Hades genau zu sein, widmet, die Teilhabe und den Genuß am
umgekehrt. Einzig und allein die Kraft der Liebe wirklichen Leben einbüßt. Eurydike verkörpert in
vermag den Mächten der Vergänglichkeit Einhalt zu dem ganzen Liebreiz ihrer Gestalt die Verlockungen
gebieten. Deshalb sinkt Eurydike in Orpheus' Arme
und kehrt mit ihrem Gemahl auf die Erde zurück.
21 Ebd., S. 3 6
Doch die Überschrift des dritten Gesanges »Leier 22 Ebd., S . 4 2
des Leids« kündigt bereits an, daß Eurydikes Tage 23 Ebd., S. 5 4
auf der Erde auch dieses Mal gezählt sind. Bereits im 2 4 Ebd., S. 57
25 Z u den antiken Quellen und ihrer Deutung: Paulys
Genuß der Wiedervereinigung verbirgt sich der
Realencyclopädie, Bd. 18, 1, Sp. 1 2 6 8 ff.
Keim einer beginnenden Entfremdung zwischen 2 6 Ausgabe der Pan-Presse, S. 6 9
den Liebenden. Orpheus ist durch seinen Gang 27 Ebd., S. 6 9 f.
durch die Unterwelt und die unauslöschlichen 28 Ebd., S. 7 8
einer unmittelbar dem Leben hingegebenen Exi- Auch Tonio gehört zu jenen »Ungewöhnlichen«,
stenz. Das Paradoxon von Orpheus' Geschick die eine der übrigen Menschheit unbekannte U n -
besteht darin, daß er erst durch das Erlebnis der terwelt kennen:
Liebe zu Eurydike und des Schmerzes über ihren Ich schaue in eine ungeborene und schemenhafte Welt hinein,
Verlust zur wahren künstlerischen Produktivität die geordnet und gebildet sein will, ich sehe ein Gewimmel von
gefunden hat, um deretwillen er sich nun immer Schatten menschlicher Gestalten, die mir winken, daß ich sie
weiter vom Glück der Liebe entfernt. banne und erlöse: tragische und lächerliche und solche, die
beides zugleich sind, - und diesen bin ich sehr zugetan. 32
Die Menschen mögen den Künstler um die Tiefe
der dem Leben abgelauschten Geheimnisse benei- Der Künstler Tonio, der die Gabe besitzt, die
den und bewundern - nur er selbst weiß, daß seine Schatten seiner Einbildungskraft zum Leben zu
künstlerische Produktivität erkauft ist um den Preis erwecken und damit die geheimen Gesetze des
der Einsamkeit, des Unverstandenseins und der Lebens zur Anschauung zu bringen - so wie
Entsagung von menschlichem Glück. Orpheus in Guthmanns Epos den Schatten der
In dieser Auffassung der Künstlerexistenz spie- Unterwelt durch seine Musik zur Individuation
gelt sich das moderne Selbstverständis der Künst- verhilft - , befindet sich selbst in einem Zustand des
lergeneration um 1900. Die Vertreter der verschie- Unerlöstseins:
denen literarischen Gegenströmungen zum Natura- Noch einmal anfangen..., rechtschaffen, fröhlich und schlicht,
lismus waren sich einig in dem Bewußtsein von der regelgerecht, ordnungsgemäß und im Einverständnis mit Gott
Fragwürdigkeit aller Versuche einer unmittelbaren und der Welt, geliebt werden von den Harmlosen und
Indienstnahme des künstlerischen Schaffens für die Glücklichen... - frei vom Fluch der Erkenntnis und der
schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger
praktischen Bedürfnisse der bestehenden Gesell-
Gewöhnlichkeit! ... Noch einmal anfangen? Aber es hülfe
schaft. 29 Das für die Literaten der Jahrhundertwende nichts. Es würde wieder so werden, - alles würde wieder so
charakteristische Beharren auf dem Prinzip der kommen, wie es gekommen ist. Denn etliche gehen mit
Autonomie der Kunst Schloß jedoch ein Moment Notwendigkeit in die Irre, weil es einen rechten Weg für sie
tiefster Beunruhigung über die Legitimität der überhaupt nicht gibt. 3 3
ter, z.B. Hugo von Hofmannsthals und Stefan Auch wenn Cassirer Guthmanns Text viel positi-
Georges, die Guthmann beide sehr schätzte.35 Die ver beurteilte als Greiner, so könnte ihm dennoch
Neugestaltung des Orpheus-Themas verdankt sich die Tendenz zum Abgleiten ins Unverbindliche und
jedoch nicht nur der Zufälligkeit des individuellen Harmonisierende, die in der so geglättet und beru-
Geschmacks des Autors: higt erscheinenden Sprache von Guthmanns Epos
Mehr als zehn Jahre vor der Entstehung von liegt, als Schwäche des Werkes bewußt gewesen
Rilkes Gedicht-Zyklus Sonette an Orpheus macht sein. Vielleicht war es gerade diese Beobachtung, die
Guthmann bereits die mythische Gestalt des göttli- ihn dazu bewog, ausgerechnet einen jungen Künst-
chen Sängers zum »Projektionsschirm«36 für das ler, der in der zeitgenössischen Kunstkritik als
dichterische Subjekt. Während jedoch Rilke in »Schrecken harmloser Kunstgenießer«40 galt, zur
Orpheus »die Vollendung der künstlerischen Mög- Illustrierung des Textes heranzuziehen. Vielleicht
lichkeit, Leben und Tod in einer - räumlich gesehe- erschien dem Verleger die Unmittelbarkeit des
nen - Ganzheit zu verbinden und zu versöhnen,«37 Zugriffs - in den Kritiken häufig als »brutal«,
feiert, geht es Guthmann - darin eher mit Thomas »durchgängerisch« und »kraftgenialisch« charakteri-
Mann vergleichbar - um die mit wahrer künstleri- siert - von Beckmanns bildlicher Interpretation als
scher Produktivität einhergehende »menschliche heilsames Korrektiv.
Verarmung und Verödung«.38 In Thomas Manns Aus Beckmanns Kommentar zu Guthmanns
Novelle liegt die Begründung für Tonios Erkennt- Manuskript, daß es »nicht schlecht und etwas daraus
nis : »Alles würde wieder so kommen, wie es gekom- zu machen« sei, spricht anerkennendes Interesse bei
men ist«, in der Besonderheit seiner eigenen psychi- gleichzeitiger Distanz. Offenbar verstand Beck-
schen Disposition. Wenn Orpheus am Ende von mann seine Aufgabe als Illustrator durchaus nicht
Guthmanns Epos bedenkt, »wie dies alles werden darin, dem Text in der bildlichen Ausstattung
mußte, wie es ward«, so bedeutet dies bei ihm die möglichst genau zu folgen. Aus der recht selbstbe-
Einsicht in und die Unterordnung unter die höhere wußt klingenden Formulierung läßt sich die Absicht
Notwendigkeit eines mythischen Geschehens. entnehmen, in einer eher freien bildlichen Deutung
Die Mythisierung des in der Künstlergeneration den Qualitäten, die Beckmann zweifellos im Text
der Jahrhundertwende vorherrschenden Selbstver- entdeckte, zum Ausdruck zu verhelfen.
ständnisses, d.h. der Versuch, die historisch-gesell- Beckmann entwarf zu jedem Gesang drei Illustra-
schaftlich bedingte moderne Künstlerproblematik tionen:41
durch ihre Ansiedlung in der Welt der antiken Sage - Trauerzug; Der trauernde Orpheus in der
in den Rang einer überzeitlichen Geltung zu heben, Natur; Der Aufbruch zur Unterwelt
erklärt die klassisch strenge Formgesinnung, die - Orpheus inmitten der Schatten; Orpheus vor
sich in der Wahl des Metrums, in den geschmack- Hades und Persephone; Eurydike sinkt in Orpheus'
voll-erlesenen Bildkompositionen und in der Arme
bewußten Beherrschtheit des sprachlichen Aus- - Das wiedervereinigte Paar auf dem nächtlichen
drucks geltend macht. Lager; Orpheus am Meeresufer; Orpheus empfängt
Daß mit dem Eindruck des Endgültigen und den Segen seiner Mutter.
Abgeschlossenen, den die formale Gestaltung in
Guthmanns Epos hervorruft, die Tendenz zur har-
monisierenden Glätte und zur Entschärfung des
gestalteten Konflikts einhergeht, hat Leo Greiner in 3 5 Ebd., S. 3 1 3 , 4 0 3
seiner Rezension von Guthmanns Epos bemerkt 3 6 Schütz/Vogt: Einführung in die deutsche Literatur, Bd. 1,
S. 106. Zur Gestalt des Orpheus und ihrer Deutung in der
und zu einem - in seiner Schärfe sicherlich nicht
deutschen Dichtung seit 1 8 0 0 vgl. R e h m : Orpheus
gerechten - vernichtenden Urteil zusammenge- 37 Höhler: Niemandes Sohn, S. 1 8 9
faßt: 3 8 Mann: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 2 9 5 f. Die Gegenüber-
stellung von Rilke und Mann bedeutet nicht, daß sich beide
Johannes Guthmann versucht es, in einem kleinen Epos Positionen ausschließen würden. Betont werden soll lediglich die
>Eurydikes Wiederkehn den Orpheusstoff psychologisch- unterschiedliche Akzentsetzung: das eine Mal Lobgesang auf die
symbolisch zu beladen. Die Absicht ist klar, ihr Ziel verhüllt. das Vergängliche besiegende Gabe der Dichtkunst, das andere
Diese eisglatten Blankverse, die ihren Rhythmus aus d e m Mal Klage über den Verlust der Teilhabe am wirklichen Leben.
Metrum, nicht aus dem Gefühle nehmen, vermitteln nichts, 3 9 Greiner: Antikes und Antikisierendes, Sp. 9 3 4 - 9 3 8
erregen nichts: das melodische Gleiten rieselnder Zeilen, der 4 0 .Berliner Ausstellungen«. In: Kunstchronik, N . F . 19
mit klassischen Requisiten reinlich besorgte Aufbau von ( 1 9 0 7 / 1 9 0 8 ) , S p . 2 1 4 ; abgedruckt in: Gässler: Studien zum
Bildern und Landschaften ist zu schmeichlerisch, um nicht am Frühwerk, S . 3 2 2
Ende einen ehrlichen Liebhaber von Bitterkeiten zu verstim- 41 Alle Illustrationen sind abgebildet in: (Ausst. Kat. Karls-
m e n ... Von dieser Seite ist wohl nicht viel zu erwarten. 3 9 ruhe 1962) Max Beckmann, Kat. Nr. 3
drohenden Umgebung legt die Vermutung nahe, Unerbittlichkeit das Schicksal der ihnen als Gefan-
daß Beckmann hier ganz allgemein das Bild des gene ausgelieferten Menschen exekutieren.
Künstlers (und damit nicht zuletzt das seiner eige- Die zweite Illustration bezieht sich auf jene Stelle
nen Person) geben wollte, der gegenüber einer im Text, die den Zustand des sich des Verlustes
chaotischen, seiner Individualität feindlich gegen- seiner Geliebten bewußt werdenden Orpheus schil-
über stehenden und darin andererseits verlocken- dert. Der von Verzweiflung überwältigte Orpheus
den 4 8 Umwelt Kraft und Halt einzig und allein in flieht ins Freie. Jedoch vermag die Natur ihm keine
seiner eigenen schöpferischen Subjektivität fin- Linderung zu verschaffen, denn sie erscheint selbst
det. 49 als trübes Abbild seines seelischen Zustandes:
An den ersten beiden Lithographien läßt sich D o c h war's kein Sonnentag, kein Tag zum Wohlsein :/Mit
Beckmanns Verhältnis zum Text genau ablesen. grauen, flügellahmen W o l k e n hing/der H i m m e l schwer zur
Die erste Illustration 50 stellt einen Leichenzug trüben Erde nieder,/ein schwüler Südwind wiegte trag die
Luft,/als schwangre er sie mit verruchten Träumen/von
dar, der in einer Diagonalbewegung von links aus
Krankheit, Müdesein und frühem Ende./Ein wenig wider-
dem Mittelgrund nach rechts in den Vordergrund strebten Blatt und Baum/der matten Lust, und stumpf und
herannaht. Vier Gestalten, die sich in der Größe ausdruckslos/ertrug das weite Land die dumpfe Last. 5 1
deutlich von den folgenden Figuren absetzen, tra-
gen die Bahre mit der Toten. Hinter diesen Anfüh- Im Augenblick des völligen Zusammenbruchs
rern des Zuges wird die bildparallel verlaufende unter der Last seines Leidens wird Orpheus Zeuge
Mauer eines eingefriedeten Bezirks sichtbar, der eines Naturschauspiels: Das durch die Wolken-
durch die schwarzen Silhouetten emporragender decke brechende Sonnenlicht läßt - allmählich
Zypressen als Friedhof zu erkennen ist. Im Hinter- wandernd - die zuvor ausdruckslosen Elemente der
grund links erkennt man ein ansteigendes Gelände Landschaft nach und nach »in warmem Glänze
und darin in starker Verkleinerung den hinteren auferstehn«. Der Sänger empfindet dies als trö-
Teil des Zuges, der sich in einer parallel zum stende Verheißung, daß ihm Eurydike noch immer
vorderen Zug verlaufenden Linie auf den Friedhof nahe sei und er schöpft daraus neue Hoffnung.
zubewegt. Beckmann entwirft eine weite Meereslandschaft,
Der Bildaufbau wird einerseits bestimmt vom die sich in drei voneinander abgrenzenden Flächen
Tiefenzug aufeinander folgender Diagonalen; ande- untergliedert. 52 An den Uferstreifen im Vorder-
rerseits wird die Bildfläche gegliedert durch ein grund, der sich bildeinwärts diagonal nach rechts in
Gerüst von Horizontalen. Der Klarheit und Über- die Tiefe erstreckt, grenzt die helle Fläche des
schaubarkeit der Komposition entspricht allerdings Meeres, die in dem unterhalb der Bildmitte verlau-
keineswegs eine Beruhigtheit des Gesamteindrucks. fenden waagerechten Horizont ihren Abschluß fin-
Der Zug der eng gedrängten Trauernden schreitet det. Darüber wölbt sich ein von tiefdunklen Wol-
nicht in der gemessenen, ritualisierten Trauer um kenbahnen verhangener Himmel. Zu der die Land-
des »freundlichen Geschöpfes / Verlust«, von der der schaft dominierenden Finsternis kontrastiert nicht
Text berichtet, sondern bietet eher das Bild totaler nur die helle, glatte Fläche des Meeres, die das
Verzweiflung. Durch die halb angeschnittene Schwere, Lastende des Himmels noch unterstützt,
Gestalt, die links im Bild seitlich des Zuges wie ein sondern stärker noch ein hell beleuchteter, runder
Aufseher steht, fühlt man sich an den Zug von Fleck im Vordergrund. Innerhalb dieses angestrahl-
Gefangenen erinnert. Indem es Beckmann vermei- ten Kreises ist undeutlich die Gestalt eines am
det, einzelne Gestalten, die der Text beschreibt (die
liebliche Tote, den trauernden Sänger und seine
Mutter), individuell hervorzuheben, erscheint die 4 8 Bezeichnenderweise lassen sich in dem Formengewirr der
Lithographie eine Reihe weiblicher K ö r p e r erkennen, so ζ. B. in
dargestellte Szene als Gleichnis einer existenziellen
der rechten unteren E c k e und in der rechten Hälfte hinter
menschlichen Situation. Orpheus. B e c k m a n n verdeutlicht hiermit die Realität von
Der Eindruck von Bedrängnis und Bedrohung, Orpheus' Furcht, »... in der Schatten e i n e m / u n d flehender
Gebärde Eurydiken,/die Wundervolle, wiedersehn zu müssen:/
der geradezu im Gegensatz zur im Text geschilder-
Es näme ihm, er wußte es, die Kraft!« (Ausgabe der Pan-Presse,
ten Stimmung steht, wird wesentlich durch die S.43)
Darstellung der vier Gestalten, die die Bahre tragen 4 9 Vgl. B e c k m a n n : L e b e n in Berlin, S . 2 0 , Eintragung vom
und deren vorderste - in gleicher Höhe - frontal 7.1.1909
zum Betrachter stehen, hervorgerufen. 5 0 Ausgabe der Pan-Presse, S. 10, 2 0 χ 1 7 , 3 c m ; Abb. in:
(Ausst. Kat. Karlsruhe 1962) Max B e c k m a n n , A b b . 3 (1)
Durch die spitzen, die Gesichter verhüllenden
51 Ausgabe der Pan-Presse, S. 2 4 f.
Kapuzen erscheinen sie weniger als Menschen denn 52 Ausgabe der Pan-Presse, S . 2 4 ; 2 0 x 1 7 , 3 c m ; Abb. in
als anonyme Mächte des Todes, die mit eherner (Ausst. Kat. Karlsruhe 1962) Max B e c k m a n n , A b b . 3 (2)
die mythische Notwendigkeit des Künstlerschick- Heineschen Textes von Paul Cassirer stammt, dann
sals als hier und jetzt geltendes und authentisch muß man vor dem Hintergrund der zeitgenössi-
erfahrbares ehernes Gesetz der Gegenwart, das kein schen Heine-Rezeption diese Entscheidung als ein-
Entrinnen zuläßt, darstellt, hat dem Werk keine deutige Parteinahme des Verlegers für das literari-
größere Aufmerksamkeit verschafft. Vielmehr wur- sche Werk des Dichters deuten. Der Streit um
den Beckmanns Lithographien ebensowenig beach- Heine hatte gegen 1910 eine bereits Jahrzehnte alte
tet wie das literarische Werk.56 Tradition. 1887, als Paul Heyse im Düsseldorfer
Anzeiger dazu aufrief, Heine ein Denkmal zu errich-
ten, eröffneten konservativ-nationalistisch einge-
3.4 Jules Pascin, 36 lithographische stellte Literaturkritiker und Journalisten einen mas-
siven Kampf gegen Heine, der in den folgenden
Zeichnungen zu: Heinrich Heine,
Jahren innerhalb einer breiten Öffentlichkeit auf
»Aus den Memoiren des Herren von Resonanz stieß.9 Den Höhepunkt der antisemiti-
Schnabelewopski«. 1910 (4. Werk) schen Hetze stellte das Pamphlet von Adolf Bartels
In der Literatur über den Künstler Jules Pascin wird Heinrich Heine. Auch ein Denkmal dar, geschrieben
einhellig die Auffassung vertreten, daß Paul Cassirer 1906 als Reaktion auf eine von vielen Künstlern
mit dem Vorschlag, Illustrationen zu Heine zu unterstützte Initiative zur Errichtung eines Heine-
schaffen, an Pascin herangetreten sei.1 Auf welche Denkmals anläßlich des 50. Todestages des Dich-
Quelle sich diese Auffassung stützt, ist ebenso ters.10 Auch in den Kreisen der zeitgenössischen
ungewiß wie der Ort und das Jahr, zu dem der Literaten war Heines Rang als Dichter und Erzähler
Auftrag erfolgte und die Illustrationen entstan- nicht unumstritten. Zwar hatten die heftigen
den.2 Angriffe gegen Heine dazu geführt, daß sich viele
1908 erschien in der Zeitschrift Hyperion die Künstler überhaupt erst intensiv mit seinem Werk,
Reproduktion einer Zeichnung von Pascin mit dem d.h. nicht nur mit den populären Gedichten aus
Titel »Puppenfee«.3 Diese Zeichnung soll entstan- dem Buch der Lieder, auseinandersetzten und es
den sein aufgrund eines Auftrags von Paul Cassirer schätzen lernten.11 Gleichwohl lehnte eine Reihe
an den Künstler, Illustrationen zu der Ballettpanto- von Intellektuellen, z.B. der George-Kreis, den
mine Die Puppenfee zu schaffen, die seit ihrer Dichter sowohl aus politisch-ideologischen als auch
Uraufführung 1888 »für Jahrzehnte das meistge- aus ästhetischen Gründen ab. Der unmittelbare
spielte Ballett in Deutschland«4 war. Anstelle dieses Angriffspunkt für das negative Urteil über die
ursprünglichen Projekts, das aus unbekannten literarischen Qualitäten von Heines Werken waren
Gründen nicht zur Ausführung kam, soll Pascin
dann für Cassirer die Illustrationen zu Heines Werk
5 6 In den Rezensionen, die Gässler in seiner Dokumentation
geschaffen haben.5 Die konkrete Planung und Aus-
wiedergibt, findet sich keine Kritik, die sich ausdrücklich auf die
führung der Zeichnungen dürfte 1909 erfolgt sein. Illustrationen bezieht. Lediglich die kritische Bemerkung in
Über das Verhältnis zwischen Jules Pascin und einer Rezension von Johannes Sievers zur 23. Ausstellung der
Paul Cassirer gibt es keine genauen Informationen. Berliner Secession im Dezember 1911 könnte die Lithographien
zu »Eurydikes Wiederkehr, meinen; abgedruckt in: Gässler:
Es ist auch nicht bekannt, zu welchem Zeitpunkt
Studien zum Frühwerk, S. 3 4 9
sich die beiden kennengelernt haben. Pascin soll in 1 Hans Voss J u l i u s Pineas, S. 3 4 ; Diehl: Pascin, S. 2 1 ; Alfred
seiner Münchener Zeit (1902-1905), als er u.a. für W e r n e r : Pascin, S.VIII
den Simplicissimus zeichnete, bereits nach Berlin 2 Vermutlich stützen sich alle Autoren auf eine Angabe von
gereist sein.6 Gaston Diehl zufolge hat Pascin Andre Warnod, der Pascin gut gekannt haben soll. In seinem
Buch »Pascin« (S. 30) schreibt er, daß Pascin den Illustrationsauf-
Cassirer aber erst in Paris kennengelernt, wo er sich
trag angenommen habe, weil er 2 0 0 Mark benötigte, um auf einen
seit 1905 niedergelassen hatte.7 Auf den Graphik- Maskenball zu gehen.
Ausstellungen der Berliner Secession 1906 und 3 Hyperion 1 (1908), Bd. 1, nach S. 1 0 3 ;
1907 war der Künstler, der eigentlich Julius Pineas handkolorierter Lichtdruck nach einer farbigen Zeichnung.
hieß, seit 1905 mit dem Anagramm >Pascin< 4 Schneider: Reclams Ballettführer, S. 3 7 9
5 Hans Voss: Julius Pineas, S . 3 4 ; Voss stützt sich auf eine
signierte und in Deutschland unter dem Namen
Mitteilung von Frau Marianne Feilchenfeldt, Zürich.
Julius Pascin bekannt wurde, jeweils mit mehreren 6 W a r n o d : Pascin, S. 3 1 ; Riester: Julius Pascin, S . 3 6
Zeichnungen vertreten. Pascin besaß - zumindest 7 Diehl: Pascin, S.21
zeitweise - ein Atelier in Berlin und hielt sich 8 Gordon, Modern Art Exhibitions, Bd. 2, S. 182, 2 3 6 ; vgl.
demzufolge regelmäßig, allerdings nie länger als auch Herzog: Menschen, denen ich begegnete, S . 4 5 9 f f .
9 Galley: Heinrich Heine, S . 6 4
einige Wochen, in der Stadt auf.8
10 Vgl. Hotz: Heinrich Heine, S. llOff.
Folgt man der Auffassung, daß die Auswahl des 11 Vgl. Galley: Heinrich Heine, S . 6 4 f .
vielfach nicht so sehr diese selbst als vielmehr die Paul Cassirer gebührt das verlegerische Verdienst,
lyrischen und feuilletonistischen Produkte der zahl- die Aufmerksamkeit einer gebildeten Öffentlich-
reichen Epigonen, die - Heines dichterische Inten- keit ausdrücklich auf die Qualitäten des Erzählers
tionen mißverstehend bzw. mißachtend - viele Heine gelenkt zu haben. Nachdem Cassirer 1919
Eigentümlichkeiten seines Stils (ζ. B. die »subjektive das Werk mit verkleinerten Reproduktionen von
Assoziationstechnik, die plötzlichen Umschläge Pascins Illustrationen erneut herausgebracht hatte,
vom Konkreten ins Allgemeine, die Amalgamie- erschienen allein in den 20er Jahren weitere vier
rung von Empfindsamkeit, Ironie, Witz und Sati- Einzelveröffentlichungen der Memoiren des Herren
re«)12 übernahmen und »als literarische Reizmittel von Schnabelewopski.21
zur Erregung, Verblüffung, Unterhaltung des Publi- Mit dem gewählten Text schlug Cassirer Pascin
kums« verselbständigten. 13 Für die darin enthaltene eine keineswegs unproblematische Illustrationsvor-
Gefahr zur Gleichgültigkeit bzw. zur Unredlichkeit lage vor. Auch wenn es zutrifft, daß sich der
gegenüber den geäußerten Inhalten um des Effektes Schnabelewopski aufgrund einer Reihe von stoffli-
willen wurde nun Heine selbst verantwortlich chen Übereinstimmungen mit der Romangattung
erklärt, wie dies in Friedrich Gundolfs Urteil deut- des Schelmenromans in Verbindung bringen läßt, 22
lich wird, der Heine den »verhängnisvollen Erleich- die sich aufgrund der Fülle von wechselnden Hand-
terer« 14 nannte. Auch Karl Kraus machte in seinem lungsorten, Personen und Ereignissen durchaus zur
berühmt gewordenen Essay Heine und die Folgen Illustration eignet, stellt Heines Werk an den
aus dem Jahre 1910 Heine zum Urheber einer Illustrator schwierige Anforderungen. Die Mittei-
immer mehr um sich greifenden Sprachverwahrlo- lenswürdigkeit der erinnerten Erlebnisse, Personen,
sung, die sich durch eine unzulässige Vermischung Sehenswürdigkeiten, Situationen sowie der Träume
von sachlich-informativen mit fiktional-poetischen und Reflexionen des Ich-Erzählers basiert im Schna-
Elementen auszeichne. 15 belewopski weder auf ihrem Stellenwert innerhalb
Daß die Herausgabe der Memoiren des Herren von der Kontinuität einer Erzählfiktion noch auf einer
Schnabelewopski um 1910 als bewußte Parteinahme für sich selbst sprechenden Bedeutsamkeit oder
im Streit um Heine verstanden wurde (und wohl Seltsamkeit. 23
auch werden sollte), beweist die prompte Reaktion Auf den ersten Blick erscheinen die Erinnerun-
von Karl Kraus, der im Januar 1911 in dem Aufsatz gen und Betrachtungen des Herren von Schnabele-
Meine Bücher, der Fall Heine und die Vorlesung die wopski vielmehr als ein buntscheckiges Sammelsu-
Pascin'schen Illustrationen zum Schnabelewopski rium völlig disparater Eindrücke, Erlebnisse und
erwähnt und in einem wohl auf Paul Cassirer Gefühle, durch nichts zusammengehalten als durch
gemünzten Seitenhieb vom »Snobismus« spricht, die subjektive Willkür des Erzählers. Es liegt an
der glaube, »daß das Feinste für Heine gerade fein diesem unmittelbaren Leseeindruck, der sich aller-
genug sei.«16 dings - wie noch zu zeigen sein wird - bei einer
Mit der Auswahl des Schnabelewopski entschied genaueren Lektüre verändert, wenn Heines Erzäh-
sich Cassirer nun keineswegs für eines jener Werke, lung auch heute noch als »lockere, von Einfällen
mit denen Heine zu seiner Zeit berühmt geworden diktierte Skizze« charakterisiert wird. 24 Eine derar-
war, etwa das Buch der Lieder oder einen Teil aus den tige Texterfahrung setzt dem illustrativen Verfahren
Reisebildern. Die Veröffentlichung des Romanfrag- gewisse Schranken." W e n n es nämlich stimmt, daß
ments war vielmehr eine kleine verlegerische Pio- sich die Abfolge der geschilderten Erlebnisse,
nierleistung insofern, als es sich dabei um die erste Ideenassoziationen und Reflexionen einzig aus
Einzelveröffentlichung dieses Textes überhaupt
handelte. Seitdem Heine das Fragment, ursprüng-
12 Hans-Georg W e r n e r : Z u r Wirkung, S. 47
lich wohl als Roman konzipiert und - an diesem
13 Ebd., S . 4 7
Anspruch gemessen - vom Autor selbst als »miß- 14 Zitiert nach Marcuse: Heinrich Heine, S. 1 4 0
glückt« bezeichnet, 1834 im ersten Teil des Salon 15 Kraus: Heine und die Folgen
veröffentlicht hatte, 17 war der Schnabelewopski nur 16 Kraus: Meine Bücher, S. 52
17 Z u r Entstehungsgeschichte des Textes: Heine: Sämtliche
noch einmal - 1887 zusammen mit dem Rabbi von
Schriften, Bd. 1, S . 8 4 7 - 8 5 0
Bacherach - gesondert verlegt worden. 18 Dieses 18 Heine - Bibliographie, S. 37
Faktum weist darauf hin, daß Heines erzählerische 19 Hermand: Streitobjekt Heine, S . 9 6
Arbeiten von Anfang an und übrigens bis weit ins 20 Windfuhr: Heines Fragment, S. 21
20.Jahrhundert hinein 1 9 »in der Rangordnung von 21 Heine -Bibliographie, Bd. 1, S. 37
22 Windfuhr: Heines Fragment, S. 23 ff.
Heines W e r k e n . . . meist an untergeordneter Stelle
23 Vgl. Grubacic: Heines Erzählprosa, S . 8 0
placiert« wurden. 20 2 4 Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 1, Sp. 1 1 2 7 - 1 1 2 8
einem »Bedürfnis nach souveräner Entbindung und Deutlich wird dies bereits bei der Titelillustra-
Autonomie der subjektiven Phantasie«, einem tion:28 Sie gibt in ovaler Rahmung den Ausschnitt
»Spielverlangen«25 des Erzählers begründet, dann eines Zimmers wieder, von dessen Einrichtung man
bleibt es dem Illustrator zwar weitgehend überlas- ganz links den Teil einer Spiegelkommode, rechts -
sen, welche Textstellen er zur Illustration auswählt, ebenfalls angeschnitten - ein kleines Tischchen mit
doch ist ihm die Möglichkeit verschlossen, durch einer Blumenvase sowie einen groß gemusterten
die bildliche Gestaltung eine zentrale Thematik des Teppich erkennt.
Textes zu akzentuieren oder den grundlegenden Im Vordergrund erscheint in Frontalansicht eine
geistigen Gehalt zur Anschauung zu bringen, weil ja nachdenklich vor sich hinblickende Frau, die seit-
der Sinn des Dargestellten mit den subjektiven lich auf einem schräg in den Raum gestellten Stuhl
Launen des Erzählers zusammenfällt. sitzt. Mit der linken Hand berührt sie ein auf ihrem
»Nichts konnte ihm besser liegen als der Auftrag Schoß liegendes, aufgeschlagenes Buch. Den rech-
Heines Spottprosa zu illustrieren; denn er ist wie ein ten Ellenbogen auf die Stuhllehne gestützt, berüh-
dünnblütiges Enkelkind Heines«, schrieb Karl ren die Finger der rechten Hand in einer den
Scheffler anläßlich der 21. Secessionsausstellung träumerisch-melancholischen Gesichtsausdruck
1910/1911, auf der Pascins Illustrationen zu besich- unterstreichenden Gebärde leicht die Wange. Im
tigen waren, und präzisierte sein Urteil folgender- Hintergrund wird die perspektivisch verkleinerte
maßen : Rückenfigur einer zweiten Frau sichtbar, die in einer
geöffneten Balkontür an einem schmiedeeisernen
Ebenso v o r n e h m zynisch, ebenso elegant sentimental und naiv
lüstern. Ebenso verbittert geistreich und graziös frech. 2 6
Gitter steht. Zwischen den beiden Figuren öffnet
sich durch die geöffnete Balkontür und das Gitter
Hinter dieser angestrengt erscheinenden Anhäu- der Ausblick auf ein Stück Wolkenhimmel und auf
fung von Adjektiven, die genau besehen ziemlich Baumkronen in der Tiefe, die zusammen mit den in
unpräzise sind - man fragt sich, wie eine »verbittert der Ferne erkennbaren oberen Stockwerken zweier
geistreiche« Illustration überhaupt aussehen könn- Wohnhäuser die hohe Lage des Zimmers deutlich
te - , verbirgt sich eine gewisse Hilflosigkeit des machen.
Rezensenten, dem Geheimnis der konstatierten Bei der friedlichen häuslichen Szene handelt es
Kongenialität zwischen Heines Text und Pascins sich nicht um die Illustration einer Textpassage.
Illustrationen auf die Spur zu kommen. Soviel wird Daher bietet sich die Deutung an, daß das Buch auf
jedoch deutlich: Scheffler vermutete die charakteri- dem Schoß der sitzenden Frau selbst die Memoiren
stischen Gemeinsamkeiten auf der stilistischen des Herren von Schnabelewopskienthält. Pascin führt
Ebene, also in der jeweiligen Art und Weise, wie die den Leser mit einer Zeichnung in den Text ein, die
Inhalte der Erzählung das eine Mal sprachlich, das die Stimmung ankündigt, in die der Leser bei der
andere Mal bildlich dargestellt werden. Diese Auf- Lektüre des Buches geraten wird.
fassung unterstellt ein Verständnis von Heines Text, Das Arrangement der Szene: die sitzende Frau,
wie es weiter oben charakterisiert worden ist: Wenn das Mobiliar, die Blumenvase, die dekorative Wir-
man nämlich davon ausgeht, daß es sich bei der kung der Muster von Stuhlbezug und Teppich, die
erzählten Inhalten größtenteils um Belanglosigkei- geöffnete Balkontür und der Blick ins Freie - all dies
ten handelt, die aus der subjektiven Erzählerlaune beschwört eine Atmosphäre häuslicher Behaglich-
Heines entsprungen sind, dann ist es nur konse- keit, wie sie die von Edouard Vuillard und Pierre
quent, die eigentliche Leistung des Dichters in dem Bonnard in den ersten Jahren nach der Jahrhundert-
virtuosen Umgang mit der Sprache, der Treffsicher- wende gemalten Interieurs ausstrahlen.29 Auch an
heit seiner Formulierungen, seiner Pointierungs- die Gemälde von Henri Matisse, Pascins Lehrer in
kunst zu sehen und Illustrationen zum Text danach
zu beurteilen, ob in ihnen eine Art bildlicher
Entsprechung zu den Bravourstücken Heinescher
Sprachkunst zu entdecken ist.
25 Grubacic: Heines Erzählprosa, S. 7 9
Analysiert man Pascins Illustrationen27 genau, so 2 6 Scheffler: D i e zeichnenden K ü n s t e in Berlin, S. 171 f.
zeigt sich, daß das Verständnis des Künstlers für 27 Sämtliche Illustrationen sind in verkleinertem Format
Heines Text über die Erfassung des geistreich- abgebildet in: H e i n e : Aus den Memoiren (Insel-TB)
witzigen, zugleich eleganten und respektlosen 2 8 Titelblatt, Bildgröße 8 χ 10,5 c m ; A b b . in: H e i n e : Aus den
Memoiren (Insel-TB)
Sprachstils weit hinausgeht und auf einen Gehalt
2 9 Vgl. Preston: Edouard Vuillard, A b b . 4 0 , 42 und A b b .
von Heines Werk zielt, der Scheffler verborgen S. 111 ff.;
geblieben ist. Dauberville: Bonnard, Bd. 1, Kat. Nr. 3 3 8 , 3 3 9 , 3 4 0 , 3 4 2 , 3 5 8 .
Paris, 30 der in vielen Varianten Innenräume mit Der junge polnische Adlige von Schnabelewops-
einer sitzenden, mitunter lesenden Frau gemalt und ki, der sein Elternhaus verläßt, um sich in Leiden
dabei häufig Fensterausschnitte und -ausblicke in »dem Studium der Gottesgelahrtheit zu ergeben«, 36
die Komposition einbezogen hat, 31 fühlt man sich und der auf dem W e g dorthin zunächst ein halbes
erinnert. Anders aber als Matisse, der seine Inte- Jahr in Hamburg bleibt, tritt einen Weg an, der in
rieurs durch die kompositioneile und farbliche einer Kette von Desillusionen endet.
Einbindung aller Bildelemente in einen harmoni- In den menschlichen Verhaltensweisen, die in
schen Zusammenklang zu heiteren »Dokumenten Hamburg und Leiden vorherrschen, lernt er perver-
bürgerlich-irdischen Glücks« 32 macht, gibt Pascin tierte Formen von Materialismus und Idealismus
die beiden Figuren in ausdrucksvollen Posen wie- kennen. Die auf den ersten Blick so freien und allen
der, deren Bedeutung den vordergründigen Ein- sinnlichen Genüssen aufgeschlossenen Bürger der
druck einer unproblematischen und behaglichen Stadt Hamburg sind nicht selbstbewußte Nutznie-
Diesseitigkeit transzendiert. Die vordere Frau sitzt ßer eines materiellen Reichtums, sondern bewußt-
in einer ein wenig unschlüssigen und unkomfortab- lose Exekutoren der Gesetzmäßigkeiten, die ihnen
len Haltung auf dem unmotiviert schräg in den die Form des Reichtums, das Geld, aufzwingt. »Der
Raum gestellten Stuhl. Abgewandt von der durch Geist Bankos herrscht überall in diesem kleinen
das Fenster sichtbaren Außenwelt scheint sie einer Freistaate« 37 und sorgt für eine Entpersönlichung
poetischen Wirklichkeit, die ihr das Buch auf dem der menschlichen Beziehungen und für eine Abtö-
Schoß eröffnet hat, nachzusinnen, wobei ihr Gesicht tung aller Bestrebungen, deren Ertrag sich nicht
einen ruhigen, ernsten, fast ein wenig traurigen quantifizieren läßt.38
Ausdruck angenommen hat. In seiner Studienstadt Leiden lernt Schnabele-
Die Frau an der Balkontür ist dagegen der ak- wopski ein geistiges Leben kennen, das sich nicht
tuellen Realität ihrer Wohnumgebung zugewandt. durch das Walten menschlicher Vernunft, sondern
In der Haltung der zarten Gestalt, die eng am durch Phantasterei und Aberglauben auszeichnet.
Türrahmen steht, mit dem weich auf den Rücken Die Unterjochung sinnlicher Bedürfnisse durch die
gelegten Arm drückt sich allerdings weniger eine Religion äußert sich im absurd widersprüchlichen
aktiv-gespannte Anteilnahme an einem gegenwärti- Verhalten von Schnabelewopskis Bekannten: Ein
gen Geschehen als ein träumerisches In-die-Ferne- Professor der Theologie frönt in seiner Freizeit dem
Blicken aus. Hierdurch erinnert die Frauengestalt an Hang zu exotischem Luxus und treibt einen gro-
die Rückenfiguren in Fensterbildern der Romantik, tesk-albernen Kult mit einem dreijährigen Mäd-
in deren fast andächtig ruhiger Haltung sich ein chen. Schnabelewopskis frommer Hauswirt findet
Gefühl von Sehnsucht zu artikulieren scheint. 33 sinnliche Befriedigung nur in seinen nächtlichen
Im Entwurf des in helles Licht getauchten behag- Träumen, in denen er galante Abenteuer mit diver-
lichen Innenraums evoziert Pascin den Optimismus sen Frauen des Alten Testaments erlebt. Die Stu-
und die Lebensfreude, die die Interieurs von Matisse dienkollegen tragen theologische Streitfragen, die
vermitteln. 34 Zugleich deutet der Ausdruck verson-
nener Melancholie und sehnsüchtiger Träumerei, in
die die beiden Frauen versunken sind, an, daß der
3 0 Pascin nahm 1 9 0 8 zusammen mit einer Reihe deutscher
vorgestellte Zustand einer heiteren, erfüllten Exi-
Maler, die sich zu jener Zeit in Paris aufhielten und im >Cafe du
stenz (noch) nicht erreicht ist. D6me< regelmäßig zusammentrafen (u.a. Hans Purrmann,
Dieser Gehalt reflektiert den thematischen Rudolf Levy, Rudolf Grossmann), Malunterricht bei Matisse in
Grundgedanken, an dem sich Heines Erzählerphan- einem Atelier, das im ehemaligen Kloster Sacre Coeur am
Boulevard des Invalides eingerichtet worden war. Vgl. Hans Voss:
tasie abarbeitet.
Julius Pineas, S. 2 9
Die fragmentarische Lebensgeschichte des Herrn 31 Frühe Beispiele sind die beiden Gemälde von Matisse
von Schnabelewopski, für die Heine eine Reihe •Femme devant la fenetre« (Collioure 1 9 0 5 ) und »Interieur ä la
autobiographischer Erlebnisse und Erfahrungen fillette. (Paris 1 9 0 5 / 1 9 0 6 ) ; abgebildet in: (Ausst. Kat. Paris 1 9 7 0 )
verwertet hat, 35 ist geprägt von der den Ich-Erzähler Henri Matisse, Kat. Nr. 61 und 71
32 Schmoll gen. Eisenwerth: Fensterbilder, S. 1 3 - 1 6 5 ;
leitenden Idee irdischen Glücks und der Sehnsucht
S. 130
nach einer sowohl die materiell-sinnlichen als auch 33 Ebd., S. 4 5 , 6 8
die geistigen Bedürfnisse befriedigenden menschli- 34 Ebd., S. 1 3 0
chen Existenz; einem Lebensentwurf, der ange- 35 Vgl. Windfuhr: Heines Fragment, S . 3 2
sichts der herrschenden gesellschaftlichen Verhält- 3 6 Heine: Aus den Memoiren des Herren von Schnabele-
wopski. In: Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S . 5 0 8
nisse in den jeweiligen Aufenthaltsorten Hamburg
37 Ebd., S . 5 0 8
und Leiden zum Scheitern verurteilt ist. 38 Ebd., S. 5 1 5 f.
sich bezeichnenderweise infolge mangelnder Be- indem er das im Text aufgezählte Inventar aus
friedigung leiblicher Bedürfnisse entzünden, nicht eigener Phantasie durch zwei feiste Buddhafiguren
mit dem Verstand, sondern mit Gewalt aus. Und der sowie eine weitere Statue ergänzt, die - halb ver-
fanatischste Verfechter des Deismus, der kleine deckt von einem Palmenblatt - deutlich erkennbar
Simson, läßt - obwohl er bei einer derartigen weibliche Formen aufweist.
Auseinandersetzung einen Stich in die Lunge erhält Angesichts der eindeutigen Vorliebe Pascins für
- nicht ab von dem Irrglauben, sich für einen die Frauengestalten und -erlebnisse, die sich bereits
gotterwählten Streiter gegen den Unglauben zu in der Einbandzeichnung geltend macht, ist es
halten - ein realitätsblinder Wahn, an dessen Folgen naheliegend, auf ein eher selektives Interesse des
niemand anders zugrunde geht als er selbst. Illustrators am Text zu schließen, wie dies in
Unter Pascins Illustrationen befinden sich die folgender Charakterisierung von Horst Bunke
bildlichen Darstellungen zweier Szenen, die man als geschieht:
repräsentativ für die im Text geschilderte Atmo- Die erotischen Passagen fesselten Pascin auch an diesem
sphäre in Hamburg und Leiden betrachten kann: Werk. Er verbildlichte sie mit feiner sinnlicher Fröhlichkeit,
Hamburgs Klima wird anschaulich in einer Stra- mit großer Sensibilität und liebenswürdiger Leichtigkeit.
Hervorragend gelangen ihm dabei jene reizenden, graziösen
ßenszene, 39 deren beherrschender Mittelpunkt das
Mädchengestalten, die Heine zu besingen nicht müde wurde,
Dreiviertelportrait eines jener Hamburger Bürger sowie jene derberen Frauen und Dirnen. 4 5
darstellt, die Heine folgendermaßen beschreibt:
Pascins illustrative Phantasie entzündet sich in
W a s die Männer betrifft, so sah ich meistens untersetzte
Gestalten, verständige kalte Augen, kurze Stirn, nachlässig Wahrheit aber nicht am erotischen Gehalt als
herabhängende, rote Wangen, die Eßwerkzeuge besonders solchem. Sein Interesse richtet sich vielmehr auf
ausgebildet, der Hut wie festgenagelt auf dem Kopfe, und die jenes Moment der Desillusionierung des Ideals
Hände in beiden Hosentaschen, wie einer der eben fragen will: erfüllten Liebesglücks, von dem Schnabelewopskis
was hab ich zu bezahlen? 4 0
Schilderungen seiner diversen Amouren durchgän-
Der wohlbeleibte, in der Mode der Biedermeier- gig geprägt sind.
zeit mit langen Beinkleidern, Weste, Gehrock und Die besondere Aufmerksamkeit, die der Held in
Zylinder gekleidete Herr, den Pascin zeichnet, seinen Memoiren den Frauenerlebnissen schenkt,
entspricht nicht in allen Einzelheiten der vom steht keineswegs im Widerspruch zu jenen Textpas-
Erzähler gegebenen Schilderung. Gleichwohl ver- sagen mit deutlich sozial- und gesellschaftskriti-
deutlicht sich sowohl in der Formlosigkeit der schem Gehalt. Denn gerade in den Liebeserfahrun-
Gestalt wie in der eigentümlichen Konturlosigkeit gen zeigt sich, daß die Verkehrtheit der gesellschaft-
des Gesichtes mit der breiten Nase, den wulstigen lichen Verhältnisse auch den engsten Bereich per-
Lippen und den von einem Favoris geschmückten sönlichen Erlebens tangiert. Schnabelewopski
feisten Wangen, die in dem Vatermörder verschwin- macht in seinen Affären weniger die Erfahrung der
den, genau jenes Charakterbild, auf das die Beschrei- Unmittelbarkeit einer emotionalen Zuneigung und
bung im Text zielt. In der Arroganz und Ignoranz des Glücks ihrer Erwiderung als vielmehr die einer
des Habitus trägt sich hier das Verdienst einer jener weitgehenden Entpersönlichung der Geschlechts-
»Nullen«41 zur Schau, die sich nicht durch die beziehungen.
Individualität ihres Charakters, sondern durch »ei- Wie sensibel Pascin diesen Aussagegehalt erfaßt,
nige Millionen Mark Banko«42 auszeichnen. zeigt sich ζ. B. daran, daß er das im Text geschilderte
Die skurrilen Begleiterscheinungen des perver- Tanzvergnügen im Apollonsaal auf der Drehbahn in
tierten Leidener Geisteslebens veranschaulicht Pas- seiner Illustration als Maskenball46 vorstellt: Ein
cin in der Darstellung jenes »merkwürdigen Schau- Herr in Straßenkleidung, wohl der Held der Erzäh-
spiels«,43 bei dem der Erzähler den Theologieprofes-
sor Mynherr van der Pissen ertappt.44 In einer
Situation tiefster Entwürdigung kniet der hohe 3 9 Ausgabe der Pan-Presse, S. 19; 1 4 , 3 x 1 4 , 8 c m ; Abb. in:
Herrauf dem Boden und kämpft erbittert mit einem Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB), S . 2 3
4 0 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S . 5 1 0
strampelnden Affen, während ihn ein Pudel in den
41 Ebd., S. 5 1 6
Arm beißt und ein Mohrenknabe von hinten an 4 2 Ebd., S. 512
seinen Rockschößen zerrt. 4 3 Ebd., S. 5 4 0
In der Darstellung des Kabinetts betont Pascin 4 4 Ausgabe der Pan-Presse, S. 6 3 ; 1 3 , 6 x 1 4 , 7 c m ; A b b . H e i n e :
Aus den Memoiren (Insel-TB), S . 2 1
weniger die Kostbarkeit der Ausstattung als den -
4 5 Bunke: Illustrationen, S . 3 6
die Glaubwürdigkeit des christlichen Theologen in 4 6 Ausgabe der Pan-Presse, S . 2 1 ; 12 χ 1 8 c m ; A b b . i n : H e i n e :
Zweifel ziehenden - Hang zu fernöstlicher Exotik, Aus den Memoiren (Insel-TB), S. 27
lung, und ein Harlekin (jene Gestalt, als die sich der
Ich-Erzähler in einem Traum sieht 4 7 ) beobachten
zwei Paare, von denen das eine eng aneinander
geschmiegt tanzt, während sich das andere in einer
eigentümlichen Fremdheit gegenübersteht.
Gleichgültig, aus welcher sozialen Schicht die
Frauen stammen, die Schnabelewopski kennenlernt
- alle seine Liebesaffären enden mit einer Desillu-
sionierung. Ebensowenig wie in der »sogenannten
schlechten Gesellschaft«, 4 8 in der Liebe als W a r e
gehandelt wird, herrscht in der W e l t des wohlan-
ständigen Bürgertums ein freies Verhältnis unter
den Geschlechtern, in d e m ausschließlich die Spon-
taneität des Gefühls zählen würde. W o die morali-
schen Prinzipien des Verzichts: »Anstand, Ehrsam-
keit, Frömmigkeit und Tugend« 4 9 gelten, wird die
Erfüllung sinnlicher Bedürfnisse zum Laster, das
man heimlich pflegt und öffentlich anprangert.
In seinen Portraits der Freudenmädchen Heloise
und Minka und der »Anstandsdamen« 5 0 Madame
Pieper und Madame Schnieper legt Pascin wert auf
die im T e x t betonte Gleichheit des äußeren Erschei-
nungsbildes von Heloise und Madame Schnieper -
beide zarte Blondinen - einerseits und Minka und
Abb. 6: Lithographie (17,4 x 14,5 cm) von Jules Pascin zu:
Madame Pieper - beide schwarzhaarige, junonische Heinrich Heine,»Aus den Memoiren des Herren von
Schönheiten - andererseits; eine Parallelität, mit der Schnabelewopski«. Berlin 1910(4. Werk der Pan-Presse)
Heine auf die Zusammengehörigkeit der beiden
sozialen Sphären, aus denen die Frauen stammen,
aufmerksam macht. Gleichzeitig verheimlicht der schlafenden Pekinesenhündchens die bösartige
Illustrator in seiner bildlichen Gegenüberstellung Mißgunst, von der die Gesprächsatmosphäre
aber auch nicht, daß seine Sympathien wie die des geprägt ist, zum Ausdruck zu bringen.
Erzählers auf der Seite der sozial Deklassierten Das Mädchen Heloise portraitiert Pascin als
sind. seitlich auf einem Stuhl sitzende zierliche S c h ö n -
In der Darstellung der bürgerlichen D a m e n heit. 5 2 D i e Art und Weise, wie hier - abgesehen von
Pieper und Schnieper, die Pascin als beieinandersit- der Markierung der Bodenfläche - auf jegliche
zendes, in Konversation vertieftes Paar vorstellt, Raumdarstellung verzichtet wird, so daß sich alle
treten die karikierenden Züge des Portraits deutlich Aufmerksamkeit auf die groß ins Bild gerückte zarte
hervor. 51 D i e breite, ausufernde Figur der auf einem Gestalt und ihre niedliche Kleidung konzentriert,
Biedermeiersofa sitzenden Madame Pieper wird erinnert an Abbildungen in Modejournalen aus der
durch die dicke Sofarolle zu ihrer Seite ebenso ins ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. 5 3 Vielleicht
Lächerliche gezogen wie die spitzige Gespreiztheit wollte Pascin mit dieser sicherlich nicht unbeab-
in Mimik und Gestik der Madame Schnieper durch
die dünne, längliche F o r m der D e c k e in ihrem
47 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 533
Rücken. D i e negativen Charaktereigenschaften der
48 Ebd., S. 512
beiden D a m e n , deren Tugendhaftigkeit laut T e x t 49 Ebd., S. 512
hauptsächlich darin besteht, den Ruf anderer Leute 50 Ebd., S. 512
zugrundezurichten, wobei sich nur die Methoden 51 Ausgabe der Pan-Presse, S.27; 17,4x14,5cm, Abb. in:
des Vorgehens unterscheiden, lassen sich als solche Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB), S.22
52 Ausgabe der Pan-Presse, S.23; 18x13,5cm, Abb. in:
nicht bildlich darstellen. Gleichwohl gelingt es
Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB).
Pascin, durch die Haltung und Physiognomie der 53 Eine Anregung für Pascin, auch hinsichtlich der Kolorie-
beiden Frauen (man beachte die klauenförmigen rung, könnte der Aufsatz von Oscar Fischel: »Das künstlerische
Hände und das ausdruckslose Lächeln im flachen, Modenbild« gewesen sein, der mit mehreren Abbildungen,
konturlosen Gesicht der Madame Pieper), vor allem darunter einer Originallithographie von Paul Gavarni aus dem
Jahre 1834 für das .Journal des Gens du Monde«, in »Kunst und
aber durch die griesgrämige Miene des auf dem Sofa
Künstler« 6 (1908/1909), S. 72-83, veröffentlicht worden war.
sichtigten Ähnlichkeit lediglich ein spezifisches nackten Olympia ist Minka halb bekleidet und in
Zeitkolorit der Erzählung hervorheben. Angesichts einer mehr liegenden Haltung wiedergegeben - ,
des auffälligen Kontrasts zwischen der bewußten deuten Details wie der Vorhang im linken Bildhin-
Koketterie, mit der das Mädchen seinen Rock tergrund und die Pantöffelchen an Minkas Füßen
hochschiebt, so daß die Füße und ein Stück Unter- darauf hin, daß die Assoziation von Manets Bild
rock sichtbar werden, und dem eigentümlich durchaus in der Absicht des Illustrators lag. Pascin
melancholisch-ergebenen Ausdruck, mit dem sein paraphrasiert hier eine Bildkomposition, deren Tra-
Blick auf dem Betrachter ruht, könnte man die dition durch Tizians »Venus von Urbino« begründet
Ausgestaltung des Portraits als Modebild aber auch worden war. Manet, der Tizians Gemälde 1853 in
inhaltlich deuten als Veranschaulichung des Gefan- den Uffizien kopiert hatte, malte in der »Olympia«
genseins im Zwang einer durch die gesellschaftli- keine mythologische Figur, sondern eine bürgerli-
chen Verhältnisse fixierten Rolle. che Mätresse, die - unbeeindruckt von dem ihr
Im Portrait von Heloises Gefährtin Minka, die dargebotenen Blumenbouquet - den Betrachter im
auf einem Bett liegend dargestellt ist,54 knüpft deutlichen Wissen um die Schönheit ihres entblöß-
Pascin ganz betont an eine tradierte Bildkomposi- ten Körpers und seinen Wert mit kühl-distanzier-
tion an. Zur Zeit des Erscheinens der Buchillustra- tem Blick mustert.
tionen wird sich jeder gebildete Betrachter dieser Pascin greift Manets kritische Demaskierung
Zeichnung sicherlich unmittelbar an Manets eines für die Salonmalerei des 19 Jahrhunderts
»Olympia« aus dem Jahre 1863 erinnert gefühlt
haben. Auch wenn es Unterschiede in der Darstel- 54 Ausgabe der Pan-Presse, S.25; 14,3 x14,5 cm; Abb. in:
lung der beiden Frauen gibt - im Gegensatz zur Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB), S.30
durchaus noch verbindlichen Idealbildes auf und diesem Grunde sind Schnabelewopskis Schilderun-
treibt sie weiter. Die zwei Stufen vor dem Bett gen seiner Glücksvisionen auch voller Widersprü-
erwecken den Eindruck, daß es auf einer Art Podest che und ironischer Brechungen.
aufgestellt ist. Durch den im Vordergrund auf dem Gleich zu Beginn der Memoiren ironisiert der
Boden liegenden Blumenstrauß und das Briefchen Ich-Erzähler sein eigenes passiv-leidendes Verhält-
daneben, durch die aufsichtige Perspektive, in der nis zur Welt, die Kraft- und Konsequenzlosigkeit
der Körper wiedergegeben ist und durch die auf- seiner Träumereien, indem er seine - für den
dringliche Direktheit, mit der das Tischchen mit Fortgang seines Lebenslaufes übrigens völlig uner-
Nachttopf und Kerze als wichtiges Element in die heblichen - »Weltbeglückungsgedanken« und sei-
Komposition einbezogen ist, wird das Portrait der nen »Freiheits- und Gleichheitssinn« auf die Lek-
Minka zu einem irritierenden Bild bloßgestellter türe seiner Mutter zurückführt, die während der
Intimität; einer Situation, in die sich die dargestellte Schwangerschaft »fast ausschließlich den Plutarch«
Frau in matter Ergebenheit zu fügen scheint. gelesen und sich »wahrscheinlich an einem von den
Im Unterschied zur unbarmherzigen Schärfe, mit Gracchen« versehen habe. 61
der Pascin die Vertreter und Vertreterinnen des In der Illustration, zu der diese Bemerkung Pascin
Bürgertums karikiert, spricht aus den Portraits der animiert, 62 zeigt sich einmal mehr, wie kongenial der
Freudenmädchen Heloise und Minka eine gewisse Illustrator den Gehalt von Heines Text erfaßt:
Anteilnahme, die darauf hindeutet, daß Pascin Pascin zeichnet in Profilansicht eine schwangere
ebenso wie Heine die Angehörigen der verachteten junge Frau - die Mutter des Helden - , die lesend auf
unteren Schicht in erster Linie als die Leidtragenden einer Terrasse sitzt. Ein Fußpolster, ein Kissen im
der entfremdeten gesellschaftlichen Zustände be- Rücken und eine Decke über der Stuhllehne zeigen
trachtet. an, daß für ihre Bequemlichkeit gesorgt ist. Die
Während die »Blondine aus einem der besten lesende Frau und der Blick in ein parkähnliches
niederländischen Häuser«, die Schnabelewopski im Gartengelände mit einem geschwungenen Weg und
Amsterdamer Theater kennenlernt, zu ihrem Ver- einem luftigen Pavillon am Horizont vermitteln·
gnügen »in Matrosenherbergen die wüsten Nächte« einen Eindruck von jener Atmosphäre friedlicher
zubringt, 55 geht Heloise »in Matrosenlärm, Punsch, und lässiger Behaglichkeit, die aus Schnabelewops-
Tabaksrauch und schlechter Musik« 56 unter. Heines kis Kindheitserinnerungen spricht. Und doch ent-
Beschreibung von Heloise als dem sanften Wesen, hält die idyllische Szene einen Mißklang, denn die
»das geschaffen schien nur auf weichgeblümte indi- Frau ist so sehr in die Lektüre ihres Buches vertieft -
sche Teppiche zu wandeln und mit Pfauenfedern welches, wie man aus dem Text weiß, von den
gefächelt zu werden«, 57 konkretisiert sich in Pascins reformerischen Freiheits- und Gleichheitsideen der
illustrativer Phantasie zum Bild einer liegenden Gracchen handelt - , daß sie gar nicht die reinlich mit
Odalisque, die von einer Negerin mit Turban ge- Schürze und Häubchen gekleidete junge Magd zur
fächelt wird. 58 Diese Vision, die in ihrer ganzen Kenntnis nimmt, die eine Limonade gebracht hat.
Ausstattung auf die zahlreichen Odalisquenbilder Heine verdeutlicht an mehreren Stellen seiner
der vom Orient faszinierten französischen Maler des Erzählung den Zwangscharakter der gesellschaftli-
19 Jahrhunderts verweist, entlarvt sich in ihrer chen Verhältnisse, unter denen der Erzähler leidet,
Gegenüberstellung mit einer Wirtshausszene, in im Bild der unterjochten Natur; am eindringlich-
deren Mittelpunkt das zarte Mädchen in der sten vielleicht in der Beschreibung der in der zu-
zudringlichen Umarmung eines Matrosen unter gefrorenen Alster eingeschlossenen Schwäne, denen
neugieriger Begutachtung von vier weiteren Män- man die Flügel gebrochen hat.
nern zu erkennen ist, 59 als realitätsblinde Fiktion. In der Illustration des Rendevous'von Schnabele-
Angesichts des alle Bereiche des menschlichen
Lebens bestimmenden Zwangscharakters der ge-
sellschaftlichen Verhältnisse realisieren sich Schna- 55 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 513
56 Ebd., S. 515
belewopskis Sehnsüchte nach einer befreiten,
57 Ebd., S. 515
glücklichen irdischen Existenz nur in der geistigen 58 Ausgabe der Pan-Presse, S.33; 10,7 x 14,5 cm; Abb. in:
Vorstellung: in der Erinnerung an die Kindheit, in Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB), S.38
der Welt des schönen Scheins und im Traum. 59 Ausgabe der Pan-Presse, S. 35; 8 x 11 cm; Abb. in: Heine:
So süß aber die Träume auch sein mögen, sind sie Aus den Memoiren (Insel-TB)
60 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 545
doch nur Symptome einer »Krankheitsperiode der
61 Ebd., S. 505
Menschheit«, Ausdruck einer disharmonischen 62 Ausgabe der Pan-Presse, S. 11; 13,6 χ 14,8 cm, Abb. in
»Scheidung... zwischen Leib und Seele«. 60 Aus Heine: Aus den Memoiren (Insel-TB), S. 13
wopski und der Wirtin zur Roten Kuh inmitten der geschrittenen Stadium, denn am 2 5 . 5 . 1 9 1 0 heißt es
absurden Künstlichkeit ihres Gartens 6 3 und in den in einem Brief:
Portraits der Heloise und der Minka hat Pascin der Das >Hohelied< wird sich nun mit der geschriebenen Schrift
Betroffenheit des Ich-Erzählers von der unnatürli- sehr gut machen, und allmählich kriege ich auch wieder Lust
chen Erstarrung der Menschen und ihrer Beziehun- darauf.. 2
gen bildlichen Ausdruck zu geben versucht.
Drei W o c h e n später, am 12. 6. 1910, vermerkt
Als positives Gegenbild dazu erscheint die Zeich-
Corinth über einen Besuch von Paul Cassirer:
nung einer jener Nixen, nach denen Schnabele-
»Die Vignette für's >Hohelied< fand er sehr gut.«3
wopski auf seiner ersten Seereise - vergeblich -
Man darf die dreimalige Erwähnung des Hohen
Ausschau hält. 64
Liedes in kurzen Zeitabständen wohl dahingehend
Pascin verleiht dem verführerischen Fabelwesen
interpretieren, daß Corinth in jenen Monaten die
die schönen Formen eines nackten Frauenkörpers,
Arbeiten an den Lithographien entscheidend voran-
dessen Rückenkontur im Wasser verschwindet. Mit
trieb. O b er sie damals bereits zum Abschluß
unter den Kopf geschlungenen Arm läßt sich die
brachte, ist allerdings eher unwahrscheinlich ange-
Nixe in einer Haltung lässiger Entspannung von den
sichts der Tatsache, daß die Illustrationen erst in der
Wellen tragen, auf denen sie fast wie auf einem
23. Ausstellung der Berliner Secession im Winter
weichen Bett ruht.
1911 zu besichtigen waren. 4
Die selbstverständliche Leichtigkeit, mit der der
Im verblüffenden Unterschied zu seiner etwas
Frauenkörper unter nahezu völligem Verzicht auf
zwiespältigen Reaktion auf die Illustrationen zum
Binnenkonturen und -Schattierungen durch spar-
Buch Judith äußerte sich Karl Scheffler über die
same Umrißlinien erfaßt wird, scheint graphische
Lithographien zum Hohen Liedmit geradezu begei-
Lösungen der Darstellung der menschlichen Ge-
sterter Zustimmung:
stalt vorwegzunehmen, die vor allem Matisse in den
20er Jahren zur Meisterschaft entwickelt hat. 65 Im Lovis Corinth hat in seine farbig lithographierten Illustratio-
nen zum >Hohenlied< die ganze sinnliche Kraft seines Natu-
weich fließenden, ausdrucksvollen Rhythmus der
rells g e l e g t . . .
Körperkonturen, der in den Formen des lockigen Mit der Bibel sollten sich die Zeichner nur abgeben, wenn sie
langen Haares sanft in die Linien der Wellenkämme die alten, von den Spinnweben unzähliger Vorurteile und
übergeht, offenbart sich dem Betrachter die bezwin- Konventionalismen umsponnenen Stoffe so unbefangen, so
gende Vision eines harmonischen Ausgleichs, einer voller Fleischeslust und unmittelbarer Lebensderbheit ins
Heutige übersetzen können, wie Corinth es in diesen Lithogra-
versöhnten Beziehung zwischen menschlicher Ge-
phien zum Hohenlied gethan hat. Er hat sich nur eben
stalt und natürlicher Umgebung. umgesehen und ein Modell der >Braut von Libanon< in seiner
nächsten Nähe gefunden. 5
hen, du Fürstentocher!«, indem er eine Frau mit der atmosphäre zu entziehen. Besonders deutlich wird
typischen, hoch aus der Stirn gekämmten Haar- dies an zwei den Betrachter zunächst verblüffenden
tracht der Jahrhundertwende zeichnet, die ihre Beobachtungen: Während die Szenerie im Text fast
modischen Schuhe mit spitzem Absatz betrachtet, ausschließlich die freie Natur ist, bindet Corinth
als habe sie sie gerade gekauft und trage sie zum einen großen Teil seiner Darstellungen in architek-
ersten Mal (Schw 82, XX). Auch in anderen Illustra- tonische Zusammenhänge ein. Aber auch in jenen
tionen kann man dieselbe Haartracht entdecken Bildern, die ein Stück Landschaftsausschnitt zeigen,
(Schw82, XVIII). In der Darstellung eines Mäd- erinnert so gut wie nichts an die vom Text so
chens mit einem Kerzenleuchter, die die Initiale J eindringlich beschworene Lieblichkeit einer Hügel-
ausschmückt (Schw 82, VIII), trägt dieses unver- landschaft mit üppiger mediterraner Vegetation.
kennbar die Porträtzüge von Corinths Frau, der In der Darstellung einer Hirtenszene (Schw 82,
Malerin Charlotte Berend. Bei einer genaueren IV) fällt der Blick auf eine weite, landschaftlich
Betrachtung der Illustrationen fällt allerdings die reizlose Ebene. In anderen Illustrationen haftet an
Uneinheitlichkeit der Frauentypen auf, die sich der Darstellung der Landschaft etwas von der
unter anderem in der teilweise modisch zeitbezoge- Künstlichkeit einer Bühnendekoration: Wie ein
nen, teilweise archaisierenden Haar- und Kleider- Requisit scheint im Vordergrund ein Weinstock
tracht bemerkbar macht. Angesichts dieser Beob- (Schw 82, III) oder ein Baumstamm (Schw 82, XXIV)
achtung stellt sich die Frage, ob hier, im Gegensatz aufgestellt zu sein und die dahinter sichtbare Land-
zu Schefflers Beschreibung, die in den Illustrationen schaftsformation wirkt in ihrer Flächigkeit wie ein
die unbefangene Souveränität eines gegenwarts- aufgespannter Prospekt.
orientierten Textverständnisses entdeckt, nicht Die konsequente Vermeidung einer idyllisieren-
eher eine gewisse Unsicherheit und Unschlüssigkeit den Ausgestaltung der Landschaftsszenerie kann als
des Illustrators in der Interpretation des Textes zum Versuch Corinths verstanden werden, die Originali-
Ausdruck kommt, auf die Corinth mit der Bemer- tät seiner künstlerischen Auffassung dadurch unter
kung, daß er allmählich »wieder Lust« auf die Arbeit Beweis zu stellen, daß er aus der spezifischen
an den Illustrationen bekomme, selbst angespielt Textatmosphäre, die einen Zustand geradezu para-
haben könnte. diesisch anmutender Entrücktheit suggeriert, einen
Im Vergleich zum handlungs- und spannungsrei- inhaltlichen Kern von schlichter Profanität heraus-
chen Buch Judith ist die lyrische Dichtung des schält.
Hohen Liedes sicherlich die schwierigere Illustra- Die - in Corinths frühen Werken häufig zu
tionsvorlage. Ihr Inhalt wird bestimmt durch einen konstatierende - Tendenz zur Profanierung und
Wechselgesang, in dem zwei Liebende einander Trivialisierung7 kann als das den Illustrationen
beschwören und lobpreisen. Dabei werden in locke- gemeinsame Charakteristikum festgehalten wer-
rer, nicht unbedingt logisch aufeinander aufbauen- den. Trotz dieser Gemeinsamkeit erwecken die
der Abfolge verschiedene Situationen und Zu- Lithographien allerdings den Eindruck einer irritie-
stände der Liebenden genannt - das Warten, das renden Uneinheitlichkeit. Es scheint, als schwanke
Suchen, das Sich-Verfehlen und das Glück des der Illustrator ständig zwischen verschiedenen
Sich-Findens - , die durch die mehrfache Wiederho- Möglichkeiten der konkreten Auslegung, wobei die
lung bestimmter Verse in der Art eines Refrains Aktualisierung im Sinne einer unmittelbaren Iden-
strukturiert und miteinander verknüpft werden.6 tifikation des Textgehalts mit der eigenen Lebens-
Der poetische Sprachzauber des Hohen Liedes sphäre nur eine unter mehreren ist.8
wird in erster Linie hervorgerufen durch seinen So erwecken die miteinander korrespondieren-
außerordentlichen Reichtum an Bildern, die sich in den Lithograhien am Anfang und Ende (Schw 82,1
ihrem Zusammenklang zur Atmosphäre eines und 82, XXVI), die sich - dem Buch Judith
ungebundenen Lebens in einer arkadischen Land-
schaft verdichten. Diese Atmosphäre ist von so
6 Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 3, Sp. 2 0 8 0 f.
unverwechselbarer Plastizität, daß sie der bildneri-
7 Peter Hahn: Das literarische Figurenbild. In: (Ausst. Kat.
schen Phantasie eines Illustrators relativ wenig München 1975) Lovis Corinth, S . 8 7 f .
Möglichkeiten einer freien Entfaltung zu bieten 8 Daß Corinth von der Möglichkeit einer autobiographischen
scheint. Ausdeutung des Textes nur sehr vorsichtigen Gebrauch macht,
zeigt sich darin, daß er in der Darstellung des im T e x t besungenen
Corinths illustrative Entwürfe zum Hohen Lied
Geliebten alle selbstporträtistischen Züge v e r m e i d e t - im Unter-
scheinen durchgängig von dem Bemühen des schied zur Behandlung von bestimmten, mit dem »Hohen Lied«
Künstlers bestimmt zu sein, sich der Festlegung auf entfernt verwandten Themen in manchen seiner Gemälde. Vgl.
ein reines Nachempfinden der beschriebenen Text- hierzu Hahn: Das literarische Figurenbild, S. 122ff.
vergleichbar - zu einer Art Rahmen zusammen- Gesichtsausdruck die eigenen Brüste wie zwei
schließen, die Erwartung auf eine bestimmte Text- Früchte anbietet, wohl nur als bewußte Travestie
auffassung, die nur von dem geringeren Teil der einer ländlichen Idylle verstehen.
folgenden Illustrationen eingelöst wird. Die Dar- Andere Szenen, die in diesen Zusammenhang
stellungen eines jungen Liebespaares beziehen sich gehören (z.B. Schw82, VI und 82, XXIV), scheinen
auf die Verse: »Seine Linke liegt unter meinem eher ernsthaft aufgefaßt werden zu wollen, und doch
Haupt, und seine Rechte herzt mich« und »Ich wird der Betrachter in seiner Rezeptionshaltung
beschwöre euch, Töchter Jerusalems, daß ihr meine durch eine in diesen Illustrationen gleichfalls spür-
Liebe nicht aufweckt noch regt, bis es ihr selbst bare unterschwellige Tendenz zum Komischen
gefällt.« irritiert. Deutlich wird dies ζ. B. in der Darstellung
Die Wiedergabe der großen, fast groben Körper- des Liebespaares [Abb. 8], das in die andächtige
formen der Frau und des Mannes, die Corinth mit Betrachtung zweier balzender Vögel vertieft ist
harten, Verzeichnungen tolerierenden und jede (Schw82, VI). Während ίιή Text des Hohen Liedes
Delikatesse der Strichführung vermeidenen Kontu- durch die Einfachheit der Naturbeschreibungen
ren umfährt, und denen er mit schroffen Kontrasten und den unbekümmerten Wechsel der Sprache
zwischen blendend hellen Flächen und tief schwar- zwischen konkreter Gegenstandsbezogenheit und -
zen Schattenpartien Plastizität verleiht, scheint hauptsächlich aus dem vegetabilen Bereich schöp-
einer künstlerischen Konzeption zu entsprechen, fender - Metaphorik eine unmittelbare Verbunden-
die in naturalistischer Direktheit das Grundthema heit der Sprechenden mit ihrer natürlichen Umge-
des Hohen Liedes zu gestalten versucht, von dem es bung zum Ausdruck kommt, sind die Menschen in
an einer Stelle des Textes heißt: Corinths Darstellung in einem ausgesprochen senti-
mentalischen Verhältnis zur Natur befangen. Die
Denn Liebe ist stark, wie der Tod; und Eifer ist fest wie die
Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß
Disposition der Landschaft erinnert entfernt an die
auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Phantasielandschaften in den Gemälden Hans von
Ströme sie ersäufen. Marees' und Ludwig von Hoffmanns. Doch scheint
Von einer derartigen, idealistische Verklärungen Corinth zu sehr Naturalist zu sein, als daß er die von
vermeidenden, naturalistischen Ernsthaftigkeit in Marees gestaltete Utopie eines »schönen, vegetativ
der Auffassung und Darstellung leidenschaftlicher dahinlebenden Menschendaseins«, in dem »der
Liebe sind aber nur wenige der folgenden Illustratio- Mensch bereits objektiv wieder ganz zu Natur
nen geprägt. Hierzu gehört die Darstellung eines geworden« ist,9 bildlich glaubhaft vertreten könnte.
sich umarmenden Paares (Schw82, IX), das - vor In der empfindsamen Ergriffenheit ihrer Haltung
allem durch die hellblaue und orange-rote Farbig- entlarven sich Corinths Gestalten als Zeitgenossen
keit der Mäntel - als das identische Paar der einer modernen, von der Natur entfremdeten Zivili-
rahmenden Lithographien zu erkennen ist. In der sation. Ohne daß dies in Corinths Absicht gelegen
schwungvollen, s-förmigen Biegung des Frauenkör- haben muß, bringt seine Darstellung (ähnlich wie
pers drücken sich stürmische Leidenschaft und auch Schw 82, XXIV) weniger das naive Naturgefühl
Hingabe ebenso deutlich aus wie die behutsame der Textvorlage als die um die Jahrhundertwende
Zärtlichkeit in der herabgebeugten Haltung des weitverbreitete schwärmerische Sehnsucht nach
Mannes. Formal noch bezwingender ist die Varia- einer verlorengegangenen Einheit mit der Natur
tion dieser Darstellung in dem Brustbild eines sich zum Ausdruck,10 die in ihrer Verbildlichung ein
umarmenden Liebespaares, das die Initiale Ο har- wenig lächerlich wirkt und so beim Betrachter das
monisch ausschmückt (Schw82, XXIII). Bedürfnis nach Distanzierung erzeugt.
Von der Betonung des erotischen Charakters in Auch in den vielen Einzeldarstellungen nackter
den genannten Illustrationen wechselt Corinth in und bekleideter Frauen macht sich die beschriebene
anderen Darstellungen unvermittelt über zur Her- Ambivalenz des Illustrators in der Auslegung des
vorhebung des in gewissem Sinne gegensätzlichen Textes bemerkbar:
Aspekts einer kindlich-unschuldigen Naivität der In einer Aktdarstellung (Schw 82, XII), die den
Liebenden, wobei sich zum Teil schwer entscheiden Frauenkörper im klassischen Kontrapost wieder-
läßt, an welcher Stelle eine vom Illustrator inten- gibt, legt Corinth Wert auf das Erscheinungsbild
dierte Persiflage einsetzt: einer an die nackten Schönheiten der französischen
Die Darstellung des Liebespaares unter einem
Baum (Schw82, XXII) kann man aufgrund der Art 9 Beenken: Das 19.Jahrhundert, S. 231
und Weise, wie sich der Jüngling über das Mädchen 10 Z u m Naturgefühl der Generation um 1 9 0 0 :
beugt, das ihm mit einem bäuerlich-einfältigen H a m a n n / H e r m a n d : Stilkunst um 1900, S. 185 ff.
berichtet Willi Geiger in seiner Autobiographie seinem spanischen Freund und Kollegen Enrique
Lebenserinnerungen eines Malers.4 Nachdem Geiger Echevarria über die »verschiedenen Phasen des
im März 1909 auf nachdrückliche Fürsprache Max Kampfspieles, über die Techniken des Tötens, über
Klingers hin den Villa-Romana-Preis zuerkannt Zucht und Eigenheiten der Stiere« unterrichten.
bekommen hatte, verbrachte er das Jahr 1910 in Der Maler Juan Gris, der als einziger unter Geigers
Florenz, und ließ sich erst 1911 in Berlin nieder. spanischen Bekannten kein >Aficionado< (Liebhaber
Es war schon lange meine Absicht, München zu verlassen,
des Stierkampfes) war, arrangierte im selben Jahr
meinen W o h n s i t z nach Berlin zu verlegen. Dort hatte ich noch eine Ausstellung graphischer Arbeiten Willi
einflußreiche Bekannte, Dauthendey ließ es sich angelegen Geigers in Madrid. Unter diesen Arbeiten befanden
sein, mir den W e g zu dem ihm befreundeten Paul Cassirer zu sich auch eine Reihe radierter Stierkampfszenen,
ebnen und so zielte mein Vorhaben nicht ins B l a u e . . . Ich
die Geiger anhand seiner »zahlreichen Studien in
machte mich auf den W e g in die Victoriastraße zu Paul
Cassirer, den ich mit dem Vertrag verließ, zum T h e m a
der Arena ausgeführt« hatte und die der Künstler
Stierkampf zwanzig großformatige Kaltnadelarbeiten anzufer- nach seiner Rückkehr nach München 1907 in der
tigen, d i e l 9 1 1 u n d l 9 1 2 a l s Band l u n d 2 i n d e r Pan-Presse in bereits erwähnten ersten Stierkampf-Mappe veröf-
Druck kamen. fentlichte.7
Gleichzeitig hatte ich Beziehungen mit Wolfgang Gurlitt
a u f g e n o m m e n , der die Bände III, I V und V der Stierkämpfe in Willi Geiger hat sich in seinem Leben wiederholt
seinen Verlag aufnahm. 5 zum Thema >Stierkampf< geäußert; so ζ. B. in einem
in der Zeitschrift Kunst und Künstler veröffentlich-
Diese Angaben des Künstlers sind in einer Hin-
ten Essay (1912), 8 in seinem 1925 veröffentlichten
sicht nicht ganz zutreffend. In der Pan-Presse wurde
Spanienbuch? sowie zuletzt auch in seiner Autobio-
nur eine Mappe mit Arbeiten Willi Geigers zum
graphie. In diesen Äußerungen, zu denen sich der
Thema >Stierkampf< gedruckt. Die schwarze Titel-
Künstler wohl auch wegen der verbreiteten Ableh-
prägung dieser Mappe, die die charakteristischen
nung und dem Unverständnis vieler seiner Zeit-
Schriftzüge des Künstlers zeigt, weist hinter dem
genossen nicht-spanischer Nationalität heraus-
Titel Der Stierkampf in Klammern den Zusatz
gefordert fühlte,10 lassen sich die tieferen Motive
»2.Bd.« auf. Der l.Band Stierkampf-Radierungen,
seiner Begeisterung für den Stierkampf deutlich er-
auf den dieser Zusatz verweist, war bereits 1907 im
kennen.
Selbstverlag in München gedruckt worden; ein
Werk, das - wie der Künstler in seiner Autobio- In dem Essay Stierkampf, der vermutlich ein Jahr
graphie vermerkt - später als die in der Pan-Presse gedruckten Stier-
kampf-Radierungen entstand,11 beschreibt Geiger
Erfolg hatte, der mir mit der Auswertung dieses T h e m a s lange nicht nur die einzelnen Phasen des Stierkampfes,
Z e i t treu blieb. 6
die verschiedenen Vorkommnisse im Verlauf einer
Beim Abschluß des Vertrages für das 6. Werk der >corrida< und die Qualitäten einzelner Toreros,
Pan-Presse hatten sich Paul Cassirer und Willi sondern widmet seine Aufmerksamkeit besonders
Geiger somit auf ein Thema geeinigt, dessen der Darstellung der Atmosphäre, der Stimmung der
Erfolgschancen von vornherein recht günstig einge- Zuschauer, der leuchtenden Farbigkeit der Arena,
schätzt werden konnten. Welche Rolle diese Über- der Gerüche und der Licht- und Schattenspiele des
legung beim Zustandekommen des Auftrags aller- Sonnenlichts. Doch es ist nicht nur das optische
dings gespielt hat, läßt sich schwer entscheiden.
Immerhin läßt die gleichzeitige Planung von Veröf-
fentlichungen weiterer Stierkampf-Mappen auf ein 4 Geiger: Lebenserinnerungen eines Malers. (Fotokopie des
nachhaltiges Interesse des Künstlers an diesem Manuskripts, Nachlaß ebd.)
5 Ebd.
Thema schließen, das ihn zeit seines Lebens immer
6 Ebd.
wieder beschäftigt hat. 7 Alle Angaben ebd.
Die Faszination vom Stierkampf, die aus den 8 Geiger: Stierkampf, S. 4 0 7 - 4 1 4
Arbeiten des Künstlers spricht, geht zurück auf das 9 Geiger: Spanienbuch
10 Z u denjenigen Zeitgenossen, die Geigers künstlerischer
Jahr 1906, in dem sich Geiger - ermöglicht durch
Begeisterung für die Stierkampf-Thematik schroffe A b l e h n u n g
den Graf-Schack-Preis - in Spanien aufgehalten entgegenbrachten, gehörte auch Ernst Barlach, wie aus einem
hatte. In seiner Autobiographie berichtet der Brief des Künstlers an Adolf Schinnerer vom 1 7 . 1 1 . 1 9 1 1 hervor-
Künstler von den lebhaften Erörterungen zum geht (abgedruckt in: Barlach: Briefe I, S. 387): »Willy Geiger ist in
Thema >corrida< in seinem Madrider Freundeskreis. Berlin ansässig, hat natürlich wieder Arena-Szenen ausgestellt. Er
nannte das »Schule des Lebens·, nämlich zu sehen, zuzusehen, wie
Geiger las regelmäßig die Stierkämpferzeitung Soly
da gemördert und geschlachtet wird.«
Sombra, auf diese Weise seine spanischen Sprach- 11 Dieser Essay beginnt in der F o r m eines Briefes, der das
kenntnisse verbessernd, und ließ sich außerdem von Datum »Madrid, Mai 1912« trägt.
Genüsse bereitende Schauspiel, das »Erlebnis des rungen Coleccion de las principales suertes de una
Auges«, das Geiger am Stierkampf so faszinierend Corrida de Toros en Madrid (1790 in Madrid veröf-
erscheint. Vielmehr gewinnt das Kampfspiel in fentlicht) anknüpfen. 16 Auch das im Vergleich zu
seiner Auffassung eine prinzipiellere Bedeutung. jenen Zyklen durch die Einbeziehung des histori-
So wurde die Corrida de toros zum Nationalfest der Spanier,
schen Moments inhaltlich vielschichtigere Pro-
zu einem Ereignis, das in gleicher Weise elementar wirkt gramm von Goyas Radierfolge La Tauromaquia
wie Liebe oder Haß, wie eine Feuersbrunst oder wie ein Ge- (1816 veröffentlicht) kommt als unmittelbares Vor-
witter. 12 bild nicht in Betracht.
»Es verlohnt sich, mein Freund, Zeuge zu werden von einem
beinahe tänzerisch vollzogenen, auf Leben und Tod gestellten
In der künstlerischen Behandlung des Themas
Zweikampf zwischen Mensch und Bestie. Vieles ist Ihnen am bewahrt Geiger gleichfalls eine - bereits auf den
Spanier rätselhaft erschienen; beim Stierkampf fallen alle ersten Blick konstatierbare - große Eigenständig-
Hüllen, und Sie erleben Männer und Frauen im Naturzustand. keit gegenüber dem berühmten Vorgänger Goya,
Sie selbst fühlen sich plötzlich einbezogen in die ungeheure
dessen Werke er sehr bewunderte. 17
Erregung einer auf gleichen Ton gestimmten Menge,... 1 3
Die Quelle der künstlerischen Inspiration war für
In der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit der Geiger offenbar in erster Linie die durch eine Fülle
im Stierkampf zur Entfaltung kommenden von Skizzen aus der Madrider Zeit lebendig gehal-
menschlichen Verhaltensweisen entdeckt der tene Erinnerung an das unmittelbare Erlebnis des
Künstler das Paradigma einer grundlegenden Ein- Stierkampfs.
stellung zum Leben, deren positive Beurteilung sich Die insgesamt 20 Blätter der Mappe lassen sich in
aus der antithetischen Gegenüberstellung zu einer drei Gruppen aufteilen:
in gesellschaftlichen Konventionen erstarrten Α Neun großformatige Blätter mit bildfüllenden
Lebenshaltung ergibt: Darstellungen von Toreros;
Freuen Sie sich einmal herzlich Ihrer uneingeschränkten Β Fünf kleinformatige Studienblätter, auf denen
Freiheit, eines Verkehrs mit sympathischen, geweckten, allem - abgesehen von einer Ausnahme - mehrere Einzel-
Bureaukratischen und Drillhaften abholden Menschen... Hier studien von Figuren, Figurendetails und Bewe-
eine im Grunde erfreuliche Ergänzung des freien, individuel- gungsabläufen unverbunden nebeneinander gesetzt
len Lebens, eine glühende Bejahung desselben, dort bei uns,
dauernd umgeben von Maass, Ordnung und Vorschriften blieb
sind;
uns die Flucht in den Alkohol. Geht Ihnen nicht das Herz auf C Sechs Blätter mit sehr unterschiedlichen For-
über all das Neuartige, Schöne, Herzzusammenschnürende, maten, die Stierkampf-Szenen zum Thema haben,
Schreckhafte, über die Maassen Farbige? 14 wobei sich jeweils zwei Darstellungen auf einen der
In diesen Formulierungen wird deutlich, daß drei Akte des Stierkampfs beziehen: den >tercio de
Geigers leidenschaftliches Bekenntnis zum Stier- varas<, den »tercio de banderillas< und den >tercio de
kampf in der Ablehnung der gesellschaftlichen muerte<.
Reglementierungen und Einschränkungen gründet, Nur fünf der insgesamt vierzehn Blätter der
denen das Individuum im bürgerlichen Alltag Gruppen Α und Β lassen sich mit den ausgearbeite-
unterworfen ist; also in jenem Lebensgefühl, das für ten Kompositionen der Gruppe C in unmittelbare
die Werke der frühexpressionistischen Literatur Verbindung bringen.
und bildenden Kunst charakteristisch ist.15 Das deutliche quantitative Übergewicht der Blät-
Willi Geigers Stierkampf-Mappe ist innerhalb der ter, deren Charakter eher der einer Studie als der
Veröffentlichungen der Pan-Presse das erste Werk, einer abgeschlossenen Komposition ist, gegenüber
das keinen literarischen Text illustriert. Die 20 den ausgearbeiteten szenischen Darstellungen
Kaltnadel-Arbeiten, die als unnumerierte lose Folge könnte man dahingehend deuten, daß der Künstler
von Blättern ohne Untertitel und ohne Titelver-
zeichnis in der Mappe vereinigt sind, erscheinen bei
der ersten Durchsicht hinsichtlich der Formate, der 12 Geiger: Stierkampf, S. 407 f.
Art der Darstellungen und der Handhabung der 13 Zitiert nach Petzet: Willi Geiger, S. 16
graphischen Technik sehr heterogen. 14 Geiger: Stierkampf, S. 407
15 Vgl. hierzu Hamann/Hermand: Expressionismus, S. 90 ff.
Bereits die Tatsache, daß nur eine Minderzahl der 16 Vgl. (Ausst. Kat. Frankfurt 1981) Goya, S. 126
Blätter szenische Abläufe des Stierkampfes darstellt, 17 In seinen .Lebenserinnerungen« berichtet Geiger von sei-
macht deutlich, daß der Künstler keine belehrende nem intensiven Goya-Studium in Anschluß an seine Spanien-
bildiche Veranschaulichung der verschiedenen Pha- reise 1906: »Monatelang im Prado vor Velasquez ganz der Farbe
verhaftet, entzog sich mir diese nun hartnäckig und mächtig
sen der >corrida< geben will, im Unterschied zu
baute sich vor meinen Augen das Werk Goyas auf, die caprichos,
druckgraphischen Zyklen des 18. und ^ . J a h r h u n - desastres de la guerra, die Proverbios und die Tauromachie. Die
derts, die an Antonio Carniceros Folge von Radie- Zeichnung trat wieder einmal die Vorherrschaft an.«
diejenigen Produkte, die im Fordauf des künstleri- Linken kreuzt. Indem der Künstler neben die
schen Schaffensprozesses entstanden sind und seine vollständige Gestalt die Beinpartie in unterschiedli-
verschiedenen Phasen dokumentieren, als eigen- chen Stellungen mit feineren Strichen mehrfach
ständige, d. h. nicht nur im Verhältnis zum endgül- nebeneinandersetzt, erscheint die durch tief-
tigen künstlerischen Resultat beurteilbare Leistun- schwarze Umrißlinien hervorgehobene Figur wie
gen gewürdigt wissen wollte. die Momentaufnahme einer Phase innerhalb eines
Von den Blättern der Gruppe A, die alle die komplexeren Bewegungsablaufs.
jeweils groß ins Bild gesetzte Figur eines Toreros im Die Handhabung der Kaltnadel-Technik in zwei
Vollzug einer Bewegung zeigen, die für die Handha- Torero-Studien der Gruppe A 19 entspricht stärker
bung der diversen Instrumente und Waffen des dem auch in den übrigen Blättern der Mappe
Stierkampfs (der >banderillas<, der >muleta< und des angewandten graphischen Verfahren: Die zarten
Degens) typisch ist, fügen sich sieben Blätter auf- Umrißlinien, die bewegter und häufig unterbrochen
grund ihrer formalen Besonderheiten zu einer im sind, werden teils überlagert, teils ersetzt durch
Verhältnis zu den anderen Entwürfen innerhalb der parallel angelegte Schraffurenbündel, die dem
Mappe relativ selbständigen Serie zusammen: 18 Umriß der Gestalten den Eindruck flimmernder
Mit tiefschwarzen, markanten Umrißlinien, Beweglichkeit verleihen. Auch die Binnenflächen
deren seitliche Begrenzungen - bedingt durch die werden im wesentlichen durch diese Schraffuren-
Kaltnadel-Technik - weich verschwimmen, setzt bündel gestaltet, die mithilfe der Differenzierungs-
der Künstler die Figuren auf die helle Fläche, auf möglichkeiten in der Länge, der Dichte und der
deren Definition als dreidimensionaler Raum er Richtung der einzelnen Striche sowohl zur Erzeu-
nahezu vollständig verzichtet. Die Art und Weise, gung der Illusion von Plastizität als auch zur
wie der Außenkontur mit wenigen Unterbrechun- Bezeichnung der unterschiedlichen stofflichen
gen und unter weitgehend gleichbleibender Strich- Beschaffenheit der Oberflächen eingesetzt werden.
stärke die Gestalt umfährt, verleiht der Umrißlinie Von den kleinformatigen Studien der Gruppe Β
eine deutliche Autonomie gegenüber dem um- zeigen zwei Blätter Darstellungen von Toreros - in
schriebenen Körper, dessen Plastizität tendenziell verschiedenen Ansichten und Maßstäben nebenein-
entwertet wird. Auch die Gliederung der Binnenflä- andergesetzt - bei der Arbeit mit der >capa<, dem
che wirkt diesem Eindruck nicht entgegen, denn der großen roten Tuch, mit dem der Torero dem Stier zu
graphische Aufbau von Schattenzonen durch anein- Beginn des Kampfes entgegentritt, um ihn zum
andergereihte runde Häkchenbildungen oder über- Angriff zu reizen, und mit dem das Tier im Verlauf
einander gelegte Parallelschraffuren wirkt aufgrund des Kampfes - wenn Gefahr droht - vom Picador
der Regelmäßigkeit seiner Strukturierung eher wie oder Banderillero abgelenkt und weggelockt wird.
ein über die Fläche gelegtes abstraktes Netzwerk. Bei dem Studienblatt,20 auf dem drei etwa gleich-
Der auffällige Unterschied dieser Blätter zu den große Gestalten nebeneinandergereiht sind und in
übrigen Arbeiten der Mappe hinsichtlich der Hand- der Lücke zwischen der ersten, halb vom Rand
habung der graphischen Technik erschwert den abgeschnittenen und der mittleren Figur die Gestalt
Versuch anzugeben, in welchem Stadium der Arbeit eines heranlaufenden Toreros sichtbar wird, hat sich
an der Mappe die Torero-Studien entstanden sind. der Künstler ganz auf die Wiedergabe der Körper-
Eine Deutung dieser Reihe als funktionales Stadium bewegungen des Toreros, der mit seiner >capa< die
im Prozeß der Erarbeitung der Kompositionen der Figur der sogenannten >veronica< ausführt, konzen-
Gruppe C, etwa als skizzierende Erprobung einzel- triert.
ner Bewegungsmotive und graphischer Darstel- Bei der anderen Studie21 gilt die Aufmerksamkeit
lungsmöglichkeiten, erscheint wenig überzeugend.
Die Art und Weise, wie hier die verschiedenen 18 Torero nach rechts mit >muleta< und Degen; 49 x 33 cm.
tänzerisch-leichten Bewegungsfiguren der Toreros Torero nach rechts, stehend, mit >muleta<; 39,5 x 25,4 cm. Torero
in sicheren, festen Umrissen festgehalten sind, mit >muleta< und Degen; 49 x 33 cm. Torero nach links, mit
spricht eher für die Vermutung, daß die Darstellun- ausgestreckten Armen; 39,5 x 34,5 cm. Torero nach vorn, mit
Degen und >muleta<, 39,5 x 25 cm. Torero nach rechts, mit
gen selbst bereits Resultate eines vorausgegangenen
Degen; 39,5 x 25 cm. Torero nach rechts, mit >banderillas<;
Prozesses der bildlichen Analyse von Bewegungen 39,5 x 34,5 cm
darstellen, die hier in einer Art optischen Formel 19 Torero nach rechts, mit Degen; 3 9 , 5 x 2 4 , 7 cm. Torero
(end)gültig fixiert worden sind. Besonders deutlich nach rechts, mit >muleta< und Degen; 39,5 x 35 cm
wird dieser Ein3ruck in der Darstellung des schräg 20 Drei Toreros nebeneinander mit der >capa<, ein kleiner
von vorn wiedergegebenen Toreros, der über den vierter im Hintergrund; 6 x 9,5 cm
21 Torero mit >capa<, im Hintergrund drei weitere Toreros;
erhobenen Degen visiert und mit der >muleta< in der 7,2 X 9,2 cm
des Künstlers im besonderen Maße der Darstellung Emotionen, seinen Erwartungen und Reaktionen
der fächerförmig ausgebreiteten schwingenden die Atmosphäre prägt, und die erregende »Wechsel-
>capa<, die ein Drittel der Bildfläche ausfüllt. Bei wirkung zwischen Volk und dem Vorgang in der
genauerer Betrachtung erkennt man, daß sich die Arena«.25 Gleichwohl schenkt der Künstler in den
dargestellten Tuchbahnen aus zwei in gleicher dargestellten Szenen dem Treiben der Zuschauer
Richtung geschwungenen >capas< zusammenset- keinerlei Beachtung. Durch nichts wird der Blick
zen. des Betrachters vom eigentlichen Geschehen abge-
So reizvoll dieser Einfall als graphische Aufgabe lenkt; nicht einmal die Rückenfigur eines Zuschau-
ist, hat ihn Geiger dennoch in keinem anderen Blatt ers kommt ins Bild. Der Stierkampf erscheint hier
der Mappe wieder aufgenommen. Nur die kleine nicht als festliches, aus der Distanz genossenes
Gestalt des herbeieilenden Toreros mit der >capa< Schauspiel. Stattdessen präsentiert sich der lebens-
taucht in leicht abgewandelter Form in einer der gefährliche Kampf dem Betrachter in unmittelbarer
Kompositionen der Gruppe C wieder auf. Direktheit, wobei die gewählte Perspektive der
Die drei anderen Blätter der Gruppe Β zeigen Darstellung allerdings von Blatt zu Blatt variiert.
Studien jener Figuren, die zu den Akteuren jedes Mal blickt man aus einiger Entfernung und von
Stierkampfes gehören: des Picadors, der den Stier einem erhöhten Standpunkt, wie von der Zuschau-
vom Pferd aus mit einer Lanze bekämpft und des ertribüne aus, auf das Geschehen in der Arena, mal
Banderilleros, der dem Stier zu Fuß und ohne seinen spielt es sich direkt vor den Augen des Betrachters
Körper durch die >capa< zu schützen gegenübertritt. ab, so als befände sich dieser hinter der >barrera<,
Ohne daß darin eine explizit didaktische Absicht der hölzernen Einfriedung, oder gar in der Arena
spürbar wäre, bietet der Künstler hier eine Fülle von selbst.
Anschauungsmaterial zum Verständnis des Stier- Besonders intensiv ist der Eindruck, dem Ereignis
kampfes. Die Art und Weise, wie Geiger in der von der Zuschauertribüne aus beizuwohnen, in der
>Picador<-Studie22 dieselbe Gestalt in drei verschie- ersten Darstellung dieser Reihe. 26 Die Aktion spielt
denen Ansichten nebeneinandersetzt und in einer sich im linken oberen Drittel der Bildfläche ab, so
der beiden >Banderillero<-Studien23 neben die daß der Blick zunächst nur auf den leeren Boden der
Gestalt des ruhig stehenden Mannes, der die >bande- Arena fällt, auf dem sich lediglich einige Spuren
rillas< hochhält, zwei kleine springende Banderille- abzeichnen, und erst von hier aus gegen die
ros und im Vordergrund den schräg von hinten gewohnte Blickrichtung nach links oben wandert.
betrachteten Kopf eines Toreros zeichnet, vermit- Durch diese Blickführung scheint es, als habe das
telt dem Betrachter nicht nur die Kenntnis der Geschehen soeben noch in der Bildmitte stattgefun-
Tracht der Stierkämpfer bis zu den Einzelheiten der den, und als habe es sich mit solcher Schnelligkeit an
Frisur, sondern verschafft ihm darüber hinaus auch die Peripherie des Blickfeldes verlagert, daß das
Aufschluß über die erforderlichen charakterlichen Auge des Betrachters einen Augenblick lang nicht
Eigenschaften, die zur Ausführung der jeweiligen zu folgen vermochte. Der Stier hat soeben seine
Aufgaben notwendig sind. So verrät die bullige Hörner in die Flanke des vom Reiter gezügelten
Gestalt des Picadors und seine derbe Physiognomie Pferdes gebohrt, während ihn der Picador zur
etwas von der physischen und psychischen Unemp- gleichen Zeit mit der Lanze, auf die er sich mit
findlichkeit, die dieser Beruf notwendig macht, den seinem ganzen Körpergewicht stemmt, im Nacken
Hemingway in seinem Stierkampf-Buch Tod am verwundet hat. Aus der Ferne eilen bereits zwei
Nachmittag als den »härtesten« von »allen schlecht- Toreros mit der >capa< herbei, um den Stier mit einer
bezahlten Berufen im Zivilleben« bezeichnet. 24 Und >quite< von seinem Opfer abzulenken.
in der konzentrierten Ruhe der schlanken Banderil-
Im Unterschied zu dieser Darstellung, die durch
lero-Gestalten wird etwas von der Kaltblütigkeit
den gewählten Bildausschnitt und die Konstellation
sichtbar, die zu einer Tätigkeit gehört, bei der
der Figuren ganz den Charakter einer momentanen,
Schnelligkeit und Geschicklichkeit über Leben und
im nächsten Moment bereits veränderten Situation
Tod entscheiden.
aufweist, besticht die innerhalb der zyklischen Folge
Die sechs Blätter der Gruppe C differieren so
stark in ihren Formaten, daß sie erst bei genauer
Betrachtung als zeitlich aufeinanderfolgende Pha- 22 Drei Picadores; 7,5 χ 11 cm
sen eines Stierkampfes, in diesem Sinne also als 23 Banderilleros, mit Kopfstudie; 10,6 x 7,5 cm. Banderillero,
stehend; 9,5 χ 6,7 cm
kleiner graphischer Zyklus, zu erkennen sind. In
24 Hemingway: Tod am Nachmittag, S. 282
dem bereits erwähnten Essay schildert Geiger begei- 25 Geiger: Stierkampf, S. 407
stert das Publikum in der Arena, das mit seinen 26 Szene mit Picador, Stier und zwei Toreros; 24 x 29 cm
Abb. 10: Kaltnadel-Radierung (14 x 2.5 cm) von Willi Geiger ans der Mappe »Der Stierkampf'.
Berlin 1911 (6. Werk der Pan-Presse)
Die folgende Darstellung 29 zeigt einen Vorgang adäquat zu beurteilen. D e m in dieser Hinsicht
von äußerster Bewegtheit. Der Stier ist zum Angriff weniger gebildeten Betrachter wird mit Sicherheit
übergegangen und stürmt mit voller Wucht von der die Darstellung, in der der Matador von links mit
linken Seite her gegen den Banderillero, der ihn in gezücktem Degen auf den Stier zugeht, 30 als die
kerzengerader Haltung, auf der linken Zehenspitze zugleich gefährlichere und souveränere Lösung
balancierend und mit den hoch erhobenen »bande- erscheinen.
rillas< auf den Stiernacken zielend, erwartet. Die Während in der anderen Variante der Torero in
dargestellte Szene gibt den dramatischen Augen- großem Abstand vor dem stehenden Stier, der
blick wieder, in dem der Stier den Torero fast seinen Kopf zu Boden senkt, vorbeiläuft und aus
erreicht hat und entweder mit seinen Hörnern dicht sicherer Entfernung auf ihn einsticht, 31 beweist hier
an dem Körper vorbeigehen oder aber - wenn dieser der Matador seinen Mut und seine Überlegenheit,
ihn nicht rechtzeitig durch eine Bewegung in eine indem er das wilde Tier, das mit aller ihm verbliebe-
andere Richtung gelenkt hat - aufspießen wird. nen Kraft auf ihn zustürmt, dicht an sich herankom-
Bei aller Gegensätzlichkeit der Ausstattung der men läßt, die Stoßrichtung der bedrohlich langen
beiden Gegner scheinen sich die wuchtige Massivi- Hörner durch die geschickte Handhabung der
tät des dunklen Stierkörpers und die graziöse Leich- >muleta< mit der rechten Hand kontrolliert und mit
tigkeit der hellen menschlichen Gestalt doch als dem erhobenen Degen in der Linken ruhig jene
Äquivalente zu entsprechen, so daß sich hier Gei- Stelle im Nacken des Stieres anvisiert, wo er diesen
gers Auffassung vom Stierkampf als »einem beinahe tödlich zu treffen vermag.
tänzerisch vollzogenen, auf Leben und Tod gestell-
ten Zweikampf zwischen Mensch und Bestie« im
Bild zur Anschauung bringt.
Die letzten beiden Darstellungen der Gruppe C
sind nicht als zeitlich aufeinanderfolgende Phasen,
sondern eher als Varianten desselben Vorgangs, der
>estocada<, dem Höhe- und Schlußpunkt jedes Stier-
kampfes, zu verstehen. Vielleicht vermag nur ein
>Aficionado<, der die verschiedenen Möglichkeiten,
29 Banderillero und Stier; 24,5 X 25 cm
den Stier mit dem Degen zu töten, genau kennt, die 30 >estocada<, Stier nach links; 29,5 x 25 cm
Besonderheiten der beiden dargestellten Varianten 31 >estocada<, Stier nach rechts; 10 x 18,7 cm
3.7 und 3.8 Emil Pottner: »Eindrücke aus der Berliner Secession nicht genügend zur Geltung
dem Leben der Vögel«, 2 0 Lithographien bringen zu können (vgl. Kap. 3.3), stimmte Pottner -
mit Text. 1912 (7. Werk) soweit die Ausstellungskataloge der Secession eine
und Beurteilung seiner Werke zulassen - in der Wahl
seiner Themen (Landschaften, Interieurs, Bildnisse,
»Sommertage im Geflügelhof«,
Stilleben) und deren künstlerischer Behandlung mit
2 0 Lithographien mit Text. 1912 (8. Werk)
der in der Secession durchgesetzten impressionisti-
Mit diesen Veröffentlichungen stellte die Pan- schen Kunstauffassung völlig überein. Im wesentli-
Presse nach so anerkannten Künstlern wie Max chen speiste sich Pottners Unzufriedenheit wohl aus
Slevogt, Lovis Corinth und Jules Pascin sowie den der bleibenden Erfahrung, mit den eigenen künstle-
bereits überregional Aufmerksamkeit erregenden rischen Bestrebungen nicht aus dem Schatten der
Nachwuchstalenten Max Beckmann und Willi Gei- namhaften Vertreter des deutschen Impressionis-
ger zum ersten Mal einen Künstler vor, dessen mus innerhalb der Berliner Secession hervortreten
Name sicherlich nur für einen profunden Kenner zu können. Daß darüber hinaus auch persönliche
der Berliner Kunstszene ein Begriff war. Nach den Antipathien gegenüber führenden Mitgliedern der
schriftlichen Zeugnissen zu urteilen, ist Emil Pott- Vereinigung, namentlich Cassirer, in Pottners latent
ner, der in erster Linie Maler, daneben aber auch oppositioneller Gesinnung eine Rolle gespielt
Graphiker und Kleinplastiker war, zeit seines haben, wäre angesichts der Gegensätzlichkeit der
Lebens die Anerkennung eines größeren Publikums Temperamente - auf der einen Seite die scharfzün-
versagt geblieben. Curt Glaser fertigt in seinem gige Wortgewandtheit und die häufig undiplomati-
Buch Die Graphik der Neuzeit, erschienen 1922, das sche Impulsivität Cassirers, auf der anderen Seite die
graphische CEuvre dieses Künstlers mit der lapida- Empfindlichkeit und Verletzbarkeit, die als Pott-
ren Bemerkung ab: ners Charakterzüge vermutet werden können - gut
denkbar.
Emil Pottner zeichnete das Federvieh, das er liebt, in seinen
besten Jahren mit gutem Verständnis. 1 Auch die Veröffentlichung der beiden Arbeiten
Pottners in der Pan-Presse wirkte sich nicht zugun-
Die kunstgeschichtliche Literatur hat das Werk sten einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen
Emil Pottners nie einer ausführlicheren Würdigung Cassirer und dem Künstler aus. Bei der umstritte-
für wert befunden. Aus diesem Grunde sind die nen Wahl Paul Cassirers zum Präsidenten der
Daten, die sich heute über Leben und Werk dieses Berliner Secession im Dezember 1912 gehörte
Künstlers ermitteln lassen, so dürftig,2 daß die Pottner zu der Minderheit derjenigen Mitglieder,
Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des 7. die gegen den Kunsthändler stimmten.4 Bei der
und des 8.Werks der Pan-Presse weitgehend auf 26. Ausstellung der Berliner Secession im Sommer
Vermutungen angewiesen bleibt. 1913 zählte Pottner zu den 13 betroffenen Mitglie-
Obwohl Emil Pottner schon seit 1899 in der dern, deren Werke von der Jury zurückgewiesen
Berliner Secession ausgestellt hatte, bereits 1904 ihr wurden. Dieser Vorgang - von den Refusierten als
Mitglied wurde und in den folgenden Jahren auf den unzulässiger Disziplinierungsversuch gegenüber
Ausstellungen regelmäßig mit meist mehreren oppositionell gesonnenen Secessionsmitgliedern
Werken vertreten war, scheint der Künstler nie dem gedeutet, von der anderen Seite als eine für die
engeren Kreis dieser Künstlervereinigung, sondern künstlerische Regeneration der Vereinigung not-
immer eher den oppositionell gesonnenen Außen- wendige Entscheidung legitimiert - machte Pott-
seitern angehört zu haben. ner, wenn er es nicht bereits zuvor war, endgültig
Sowohl in Max Beckmanns Tagebuchnotizen aus zum erbitterten Gegner Cassirers. Er beteiligte sich
den Jahren 1908/1909 als auch in Emil Noldes nun aktiv an Maßnahmen, die noch im selben Jahr
Erinnerungen an die Berliner Secession wird bei der
Erwähnung unzufriedener Mitglieder auch Pottners
1 Glaser: Die Graphik der Neuzeit, S. 5 0 5
Name genannt.3 Fragt man nach dem Grund für
2 Vgl. den Kurzartikel über Emil Pottner in: Doede: Die
diese Unzufriedenheit, so spielen bei Emil Pottner Berliner Secession, S. 1 2 0
sicherlich andere Motive eine Rolle als bei Beck- 3 Beckmann: Leben in Berlin, S. 2 3 ; Nolde :Jahre der Kämpfe,
mann und Nolde. Im Unterschied nämlich zu den S. 152
beiden letztgenannten Künstlern, die sich jenseits 4 Vgl. den Brief von Thomas Theodor Heine an Lovis Corinth
v o m 2 5 . 1 1 . 1 9 1 2 , in dem er eine Anfrage von Emil Pottner er-
ihrer gegenseitigen persönlichen Ablehnung in dem
wähnt, »ob ich es für richtig halte, daß eine Künstlervereinigung
Gefühl einig waren, die Andersartigkeit und Neu- von einem Kunsthändler als Präsidenten geleitet wird,...«; abge-
heit ihrer künstlerischen Bestrebungen innerhalb druckt in: Thomas Corinth: Lovis Corinth, S. 163
zum Austritt Cassirers und aller bedeutenden handlichem Format, mit Titelblatt und einleiten-
Künstler mit Ausnahme Lovis Corinths aus der dem Text vor den Blättern, die jeweils Schrift und
Berliner Secession führten.5 Pottner blieb zusam- Bild vereinigen - auf den ersten Blick auch als
men mit Corinth in der Rumpf-Secession, die den illustrierte Bücher erscheinen, stellen sie doch
alten Namen weiterführte, und übernahm orga- strenggenommen innerhalb der Produktionen der
nisatorische Aufgaben innerhalb des neuen Vor- Pan-Presse eine Sonderform dar, die sich weder der
stands.6 Gattung des illustrierten Buches noch der Gattung
Die Frage, warum zu einem nicht genauer be- des graphischen Zyklus und Mappenwerks eindeu-
kannten Zeitpunkt die Verlagsrechte der beiden in tig zuordnen läßt. Über die Funktion des Textes
der Pan-Presse veröffentlichten Werke Pottners aus klärt das Vorwort des 7. Werks folgendermaßen
dem Paul Cassirer Verlag in einen anderen Verlag auf:
übergingen, ließ sich nicht eindeutig klären.7 Aller- Den begleitenden Text mögen meine Freunde sich gefallen
dings liegt die Vermutung nahe, daß die Hinter- lassen. - Da schriftstellerische Ambition mir fernliegt, rechne
gründe dieses Vorgangs im Zusammenhang mit den ich auf ihre Nachsicht. Im Interesse der Einheit schien es mir
Ereignissen des Jahres 1913 zu sehen sind. geboten, den Zeichnungen diese farbigen Notizen beizu-
geben.
Wie läßt sich vor dem Hintergrund der dargestell-
ten Fakten die Aufnahme der beiden graphischen Der Text ist also nicht als literarische Vorlage zu
Arbeiten Pottners als hintereinander erscheinende betrachten, auf die sich die Lithographien illustrie-
Werke der Pan-Presse erklären? Daß sich Paul rend beziehen würden, sondern stellt eine Art
Cassirer um Emil Pottner in einer ähnlichen Weise begleitenden Kommentar dar, den der Künstler
wie um Max Beckmann mit einem klar formulierten hinzugefügt hat, um die konzeptionelle Einheit der
Auftrag bemüht hatte, ist schwer vorstellbar. Ver- Darstellungen zu betonen.
mutlich hielt Cassirer Pottner trotz seiner eher Auch wenn der Titel des 7. Werks Eindrücke aus
desinteressierten Haltung gegenüber den Werken dem Leben der Vögel betont sachlich klingt, will
des Künstlers, wie sie aufgrund der geschilderten Pottner mit seinen Lithographien, die vermutlich
Kontroversen in der Secession vermutet werden nach vor der Natur entstandenen Zeichnungen
kann, für einen auf seinem Gebiet durchaus fähigen entworfen wurden, dem Betrachter nicht in der Art
Graphiker. Der Gedanke, graphische Arbeiten Pott- von Sachbuchillustrationen biologische Einsichten
ners als Werke der Pan-Presse herauszubringen, über die Lebensgewohnheiten verschiedener Vogel-
dürfte allerdings erst auf das aktive Betreiben des arten nahebringen. Es geht ihm vielmehr um die
Künstlers hin konkretere Gestalt angenommen Vermittlung ästhetischer Erlebnisse, die dem Groß-
haben. Pottner jedenfalls sah in diesen Werken stadtbewohner unzugänglich geworden sind. Im
durchaus kein auftragsgebundenes Nebenprodukt Katalog der Pan-Presse von 1912 schreibt Pottner
seines eigentlichen Schaffens. Im Gegenteil - im hierzu:
einleitenden Text zu seinem Werk Eindrücke aus Der warme Sommer des Jahres 1911 brachte vorerst dieses in
dem Leben der Vögel ist der Ausdruck persönlicher mir zur Reife.
Befriedigung über die Veröffentlichung nicht zu W i e schön, von Allem, was ich gesehen und erlebt, Allen denen
verkennen: etwas mitzuteilen, die ihr Genießen nicht (wie ich) in der Ruhe
ihres Lebens finden können. 9
Vorliegendes W e r k entspringt einem langgehegten W u n s c h
meiner Neigung für die mir liebgewordenen Vögel in einer
Reihe von Blättern Ausdruck zu geben.
5 Vgl. die Dokumente über die Auseinandersetzung in der
Und in dem Katalog der Pan-Presse von 1912 Berliner Secession, u.a. das von Emil Pottner unterzeichnete
Zirkular vom 2 8 . 5 . 1 9 1 3 ; abgedruckt ebd., S. 171 f.
wird der Künstler mit folgenden Worten zitiert:
6 Vgl. ebd., S . 2 0 4 . 1 9 1 6 wurde Pottner nicht wieder in den
Die Bücher sind plötzlich entstanden, und doch existieren sie Vorstand gewählt. Diesem Vorgang lag ein Zerwürfnis mit
schon lange. Meine Arbeit führt mit Notwendigkeit zu diesem anderen Vorstandsmitgliedern zugrunde, auf das Lovis Corinth
Punkt. 8 in einem Brief an Hermann Struck vom 9 . 2 . 1 9 1 7 anspielt; abge-
druckt ebd., S. 2 1 9
Aus den Angaben der Vorworte, die Pottner für
7 Im Katalog >Deutsche Graphik, Pan-Presse 1917· tauchen
die beiden Werke verfaßte, geht hervor, daß beide im Verzeichnis der »Bücher und Mappenwerke der Pan-Presse«
Arbeiten im Verlauf des Sommers 1911 entstanden, das 7. und 8. W e r k nicht mehr auf. Im Verlagsverzeichnis, das in
den der Künstler in seinem Sommerhaus an der »Unser W e g 1919, Ein Jahrbuch des Verlags Paul Cassirer«, Berlin
Havel, in Baumgartenbrück, verbrachte. 1918, abgedruckt ist, verhält es sich ebenso. In »Unser W e g 1920,
Ein Jahrbuch des Verlags Paul Cassirer«, Berlin 1919, heißt es zu
Mögen die beiden Werke, die Pottner selbst als den N u m m e r n 7 und 8 : »nicht m e h r unser Verlag«.
»Bücher« bezeichnet, aufgrund ihrer äußerlichen 8 Katalog der Pan-Presse 1912, S . 3 2
Merkmale - es handelt sich um gebundene Bände in 9 Ebd., S. 31
der dargestellten Hühner, Enten und Gänse als rung des künstlerischen Mißerfolgs und Scheiterns,
denkende, fühlende und handelnde Wesen mit vielleicht aber auch mit persönlichen Enttäuschun-
bestimmten Charakterzügen ergibt: gen verbunden waren.
Immer doch/müssen die Enten/allerlei Unnützes treiben -
denken die mächtigen Gänse-/Anders ist Denen nicht wohl.
Schmeckt doch das Futter so prächtig/Sonnenschein lacht 3.9 Rudolf Grossmann: »Um Berlin«,
und mit dem Wasser/läßt's sich so nützlich beschäftigen.
10 Lithographien in einer Mappe mit Text
Das in Zeilen wie den zitierten zum Ausdruck von Georg Hermann. 1912 (9. Werk)
kommende Moment von Naivität und Trivialität
Rudolf Grossmann ließ sich 1910 in Berlin nieder, 1
mag dem beabsichtigten humoristischen Effekt im
nachdem er zuvor fünf Jahre in Paris gelebt und
Wege stehen; die eigentliche Problematik des Tex-
gearbeitet hatte. Aus den zurückhaltenden Andeu-
tes ist jedoch anders gelagert. Diese wird besonders
tungen des Künstlers in seiner Autobiographie
deutlich im Vorwort:
Manege des Lebens1 läßt sich erschließen, daß eine -
Sonnenschein - Unter Obstbäumen, im Paradies bewegen sich vielleicht durch ein persönliches Erlebnis ausgelöste
>die Kinder der Sonne< vielgestaltiges Geflügel - Glücklicher - tiefgreifende künstlerische Krise Grossmann zu
Anblick reinsten Lebens für unsere Sehnsucht - Nie war Natur
dem Entschluß veranlaßte, seinen Pariser Wohnsitz
phantasievoller und einfacher als bei ihrer Schaffung; Sie sind
•die Natur, ohne Lüge und ewig die weltbewegenden Kräfte in und den Umgang mit Künstlerkollegen aus dem
Urform in ihnen ausgedrückt... Kreis des >Cafe du D6me< aufzugeben:
>Die Gänse<: Schön wie ihr Kleid ist ihr Leben. Immer freuen
sie sich und leiden nicht an Überhebung, weil Natur ihnen Eines Tages gelang mir wohl dieser Ausgleich zwischen Leben
mächtigere Flügel gab - Jede Regung spricht aus ihren und Reflex nicht ganz, der Spiegel zerbrach, und mit ihm ging
Bewegungen und ihre wundervollen Augen erzählen von ihrer meine Weltanschauung in Scherben. Ich wurde plötzlich
Seele so eindringlich, daß sogar wir diese Sprache verste- krank und mußte Paris verlassen. Allmählich fing ich an,
hen... meinen zerbrochenen Spiegel Stück für Stück wieder zusam-
menzusetzen und meine W e l t in ihm wieder aufzubauen.
Dabei reiste ich unstet herum nach Nizza, Cannes, Wien,
Die irritierende Ambivalenz zwischen humoristi-
Budapest, Stockholm und endlich Berlin. Dort lebte ich fünf
schem Plauderton und ernsthaftem Pathos verrät, Jahre in den gesunderen, aber auch derberen Energien dieser
daß der Prozeß der zunehmenden Spezialisierung werdenden Großstadt. 3
auf das Thema >Vögel in der Natur< innerhalb
Grossmanns Entschluß, in Berlin zu bleiben, war
Pottners Schaffen mit der Herausbildung eines
sicherlich in erster Linie motiviert durch die Hoff-
künstlerischen Selbstverständnisses einherging, das
nung, hier - nicht zuletzt durch die Vermittlung
an die eigenen Werke den Anspruch stellte, die
seines Freundes Jules Pascin, der allerdings in
belebte Natur als Offenbarung einer harmonischen
demselben J a h r seinen Wohnsitz endgültig nach
höheren Ordnung sichtbar zu machen.
Paris verlegte 4 - relativ günstige Ausstellungs- und
Die Ernsthaftigkeit von Pottners fast religiös Verkaufsmöglichkeiten vorzufinden. Er wurde Mit-
anmutender Naturverehrung beweist auch folgende
glied der Berliner Secession und stellte bereits im
Bekenntnis des Künstlers:
Dezember 1910 auf der 21. Ausstellung der Künst-
W e n n ich draußen in der Natur dem Leben der Vögel zu- lervereinigung 18 Arbeiten aus.5 In welchem Maße
schaue, arbeitend und sinnend, immer erfreuen sie mich.
sich Paul Cassirer, den Grossmann schon in Paris
Die Fülle der Eindrücke ist übergroß, und vieles hoffe ich noch
zu erleben und i m m e r mehr mich zu vertiefen in diese reizende
Welt, und wer weiß? - vielleicht gelingt es mir, alles Schwere
11 Katalog der Pan-Presse 1912, S . 3 2
abzustreifen und dann leichtbeschwingt und weise wie sie von
12 Diese Formulierung stammt nicht von Pottner selbst,
ihrem Leben zu erzählen. 1 1
sondern von J . B. de la Faille, dessen Büchlein »Emil Pottners
Radierungen« auf eine engere Bekanntschaft des Verfassers mit
Die Idyllisierung einer Künstlerexistenz, die in dem Künstler und demzufolge eine genaue Kenntnis seiner
der anschauenden Betrachtung der Natur und der Auffassungen hinzuweisen scheint.
ihren Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Lebewe- 1 Im »Katalog der zwanzigsten Ausstellung der Berliner
Secession« (1910), in dem Grossmann zum ersten Mal als Mit-
sen den Schlüssel zu höchster künstlerischer Weis-
glied verzeichnet wird, ist eine Berliner Adresse des Künstlers
heit und Befriedigung entdeckt, verlangt in ihrem genannt.
programmatischen Charakter nach einer Erklärung. 2 Grossmann: Manege des Lebens
Verständlich wird sie vielleicht als Ideal, als positiver 3 Ebd., zitiert nach :(Ausst.Kat. Mainz 1 9 6 3 ) B e r l i n e r G e i s t -
Gegenentwurf gegenüber einer als bedrückend Berliner Leben, S. 2 4
4 Im »Katalog der einundzwanzigsten Ausstellung der Berli-
empfundenen Existenz in der »grauen, eintönigen
ner Secession« ( 1 9 1 0 / 1 9 1 1 ) wird Jules Pascin zum ersten Mal mit
Weltstadt Berlin«, 12 deren Lebensumstände für einer Pariser Adresse verzeichnet.
Pottner möglicherweise mit der beständigen Erfah- 5 Ebd., Kat. N r . 3 5 9 - 3 7 7
kennengelernt haben soll,6 dafür eingesetzt hat, daß verglich und entschieden höher bewertete, so
der Künstler in Berlin Fuß fassen konnte, läßt sich reflektierte sich darin zunächst einmal die Tatsache,
mit Sicherheit nicht sagen. Grossmanns Charakteri- daß die künstlerische Auseinandersetzung mit den
sierung des Kunsthändlers aus den 20er Jahren Phänomenen der modernen Großstadt innerhalb
schillert zwischen Ernst und Ironie: der zeitgenössischen deutschen Malerei und Gra-
Ein Kunsthändler erklärt alle für größenwahnsinnig; er läßt
phik intensiv nur stattfand in den im Naturalismus
seine neusten Pariser Importen aufstellen und zeigt, daß ohne wurzelnden Arbeiten Balutscheks und Zilles, die
seine epochemachenden Ausstellungen die Kritik verhungert sich die Schilderung der Wohn- und Lebensbedin-
wäre, daß er durch verschwenderische Unterstützung junger gungen des städtischen Industrieproletariats zum
Talente, die dem Untergang nahe waren, deren Bilder gewisser-
maßen selbst gemalt habe.
Anliegen machten. 12 Gegenüber dem hier zum
Ausdruck kommenden sozialkritischen Impetus,
Heinz-Ludwig Hempel hält Paul Cassirers Ein- dessen Stachel wohl nie ganz abstumpfte, 13 empfand
fluß auf Grossmanns künstlerische Karriere für man die unaggressiv wirkende Schlichtheit von
bedeutend: Grossmanns ganz auf zuständliche Ansichten kon-
zentrierte Berliner Impressionen, in denen die
Es kann kaum bezweifelt werden, daß Paul Cassirer es war, der
dem knapp 30jährigen >Domier< Rudolf Grossmann ...
dargestellten Menschen nicht als Repräsentanten
1 9 1 0 / 1 1 in Berlin mit einer neuen Aufgabe die - entschei- einer sozialen Klasse, sondern als Angehörige einer
dende - Chance eines neuen Anfangs gegeben h a t . . . 8 anonymen Großstadtbevölkerung aufgefaßt wer-
den, als Resultate einer gänzlich anderen, neuen
Die Verbindung zwischen Cassirer und Gross- Einstellung zur städtischen Umwelt:
mann erwies sich als sehr beständig. So gehörte der
Künstler ζ. B. zu dem engeren Kreis der Mitarbeiter Er [Grossmann] bummelt mit malerisch genießendem Auge
durch die Vorstädte, entdeckt sich die Romantik der Rummel-
an den Zeitschriften Kriegszeit und Der Bilder- plätze, der öden Vorortstraßen, der Rennplätze oder bedenk-
mann. 1922 erschien sein Werk »Unold von Kalten- licher Kneipen. Er sieht im Proletarischen das Zauberische
quell« mit 50 Lithographien im Paul Cassirer Ver- feiner Formzusammenhänge, versteht mit den hässlichen
lag.' Dingen geistreich impressionistisch zu spielen - mit einem
Blick auf Walser - und in diesem Spiel die Stimmung der
Unmittelbar nach seiner Ankunft in Berlin Dinge zu geben. 1 4
scheint Grossmann damit begonnen zu haben, auf
Streifzügen durch die Stadt seine Eindrücke zeich- Karl Scheffler deutete Grossmanns zeichnerische
nerisch zu fixieren. Unter den auf der Ausstellung Ausbeute von seinen Entdeckungsreisen durch
der Berliner Secession im Winter 1910 gezeigten
Graphiken befand sich bereits eine Reihe von
6 Riester: Rudolf Grossmann, S. 12. Auch wenn Riester
Ansichten aus verschiedenen Berliner Stadtgebie- keine Quelle anführt, die diese Aussage belegt, ist doch mit
ten, wie sich aus den Titeln »Rummelplatz«, »Jung- Sicherheit anzunehmen, daß Cassirer Grossmann bei seinen
fernheide«, »Rennbahn« und »Zehlendorf« ablesen gelegentlichen Besuchen im >Cafe du Döme< kennenlernte.
läßt. 7 K o m m e n t a r zu einem Porträt (Tuschpinselzeichnung) von
Paul Cassirer, verwendet für »Magnus, Lebenslauf eines Expres-
»Nichts von großer Kunst, aber ein Illustrator Neu-Berlins, auf sionisten«, in: Kunst und Künstler 2 4 (1926), S . 2 1 0
den man achten soll und der schon jetzt eines Menzel-Preises 8 (Ausst. Kat. Mainz 1 9 6 3 ) Berliner Geist - Berliner Leben,
würdig ist,« S. 7
9 Ebd., S. 7 0 : Verzeichnis der Mappenwerke und Buchillu-
lautete das positive Resümee, das Karl Scheffler in strationen, Nr. 2 0 4
seiner relativ ausführlichen Besprechung der ausge- 10 Scheffler: Die zeichnenden Künste, S. 1 6 9 - 1 8 2 ; S. 171
stellten Graphiken Grossmanns zog. 10 Ab 1911 11 Kunst und Künstler 9 ( 1 9 1 0 / 1 9 1 1 ) , S . 2 5 7 , 4 1 4 , 6 5 1 ; 10
( 1 9 1 1 / 1 9 1 2 ) , S. 5 1 9 ; 11 ( 1 9 1 2 / 1 9 1 3 ) , S.80, 3 4 0 ; 12 ( 1 9 1 3 / 1 9 1 4 ) ,
veröffentlichte die Zeitschrift Kunst und Künstler
S.82
in vier aufeinanderfolgenden Jahrgängen insgesamt 12 Auch andere Künstler der Berliner Secession malten
sieben Lithographien des Künstlers unter dem Ansichten der Berliner Großstadt: u.a. Robert Beyer, Ulrich
verbindenen Titel Berliner Bilder,11 durch die Gross- Hübner, Waldemar Rosier, Franz Skarbina, Karl Walser - doch
bildete dieses T h e m a für keinen der hier Genannten einen
mann einem breiteren Kreis von Kunstinteressier-
Schwerpunkt seines Schaffens.
ten bekannt geworden sein dürfte. 13 Auch wenn die Rezeptionsgeschichte von Zilles W e r k
Daß nun 1912 diesen laufenden Veröffentlichun- zeigt, daß die Sozialkritik in seinen Blättern bereits in den 20er
gen die Mappe Um Berlin hinzugefügt wurde, läßt Jahren zunehmend zum Ausdruck humorvoller Menschlichkeit
darauf schließen, daß Grossmanns Berlin-Ansichten verharmlost wurde, gab es 1924, als Zille zum Mitglied der
Akademie der Künste berufen wurde, gleichwohl immer noch
von Anfang an viel Anklang fanden.
empörten Widerspruch; vgl. Pfefferkorn: Die Berliner Secession,
Wenn Karl Scheffler in seiner Rezension Gross- S.90
mann mit Heinrich Zille und Hans Balutschek 14 Scheffler: Die zeichnenden Künste in Berlin, S. 171
Berlin als Versuche einer positiven Identifikation Weges betrachten. Hinterfangen werden die Gestal-
des Künstlers mit den Erscheinungsformen der ten vom lichten Laubwerk der Bäume und Büsche,
werdenden Großstadt - auch und gerade dort, wo die den Weg säumen. Über ihnen erblickt man am
diese sich nicht zu einem historisch gewachsenen, Horizont großstädtische Wohnhäuser, deren er-
harmonischen Ensemble fügten. Er vermerkte aner- höhte Lage es zweifelhaft erscheinen läßt, daß es sich
kennend, daß Grossmann der Versuchung wider- um einen Ort in Berlin handelt.
stand, die Gestaltungsweise, durch die französische Durch einen Vergleich mit anderen graphischen
Künstler die spezifische Atmosphäre von Paris mit Arbeiten läßt sich die Zeichnung als eine Ansicht
ihren besonderen Reizen immer wieder einzufan- aus dem >Parc des Buttes Chaumont< in Paris
gen versucht hatten, in der Darstellung der Berliner identifizieren, den Grossmann in mehreren Radie-
Großstadt zu übernehmen, und stattdessen sein rungen festgehalten hat. Eine signierte und bezeich-
Interesse ganz auf die spezifische Ausstrahlung des nete Radierung18 zeigt das identische Motiv in einer
typisch Berliner Großstadtklimas richtete. etwas anderen Ansicht: Spaziergänger auf einem -
Daß Grossmann in einer Situation, in der die diesmal leicht diagonal verlaufenden - Weg, der
Avantgardestellung der französischen Metropole durch ein niedriges Gitter von der Baum- und
auf kulturellem Gebiet von den aufgeklärten deut- Buschbepflanzung abgegrenzt wird, herumstolzie-
schen Intellektuellen nicht bestritten werden konn- rende Pfaue, im Hintergrund die Skyline derselben
te, einem Bedürfnis nach Stärkung des Selbstbe- Wohnhäuser in spiegelverkehrter Wiedergabe.
wußtseins in bezug auf das eigene nationale künstle- Grossmanns graphisches Werk ist bislang zu
rische Schaffen und dessen heimischer Wirkungs- wenig erforscht, als daß sich über das entstehungsge-
stätte entgegenkam, spricht Georg Hermann in schichtliche Verhältnis von Radierung und Zeich-
seinem Text zur Mappe Um Berlin in aller Deutlich- nung mehr als Vermutungen anstellen ließen. Auf-
keit aus: grund stilistischer Differenzen muß man die Zeich-
Der Berliner schämt sich eigentlich seiner Stadt, und die
nung wohl als die spätere Arbeit ansehen.19
Kunst hier tut es erst recht, Wahrscheinlich basieren Radierung und Zeich-
nung auf derselben Skizze aus Pariser Jahren.
im Gegensatz zum Pariser, der - »er mag nach Tahiti Auch wenn sich nicht entscheiden läßt, ob Gross-
gehen oder in die Bretagne« - »immer Pariser« mann die Zeichnung eigens für die Mappe Um
bleibt, konstatiert der Verfasser mit Bedauern, um Berlin auf der Basis einer alten Skizze anfertigte
dann seinerseits die Poesie der Berliner Großstadt in oder ob er die bereits fertige Arbeit benutzte - die
begeisterten Worten zu schildern: Tatsache, daß er seinen Zyklus von Berliner Ansich-
Und dennoch - dennoch ist Berlin ein Gedicht in meinen ten ausgerechnet mit der Darstellung einer Pariser
Augen. Ein Gedicht ist es, dessen eigenartige Rhythmen ich Parkidylle einleitet, kann man in jedem Fall wohl
mit jedem Schritt empfinde, der mich über sein Pflaster trägt; nur als wehmütige Reminiszenz des Künstlers an
das zwar meine Nerven oft quält, meine Seele beunruhigt, und jene Stadt deuten, in der er sich heimisch gefühlt
dessen Singsang ich doch nicht entbehren k ö n n t e . . .
Berlin, das kann nur Berlin sein! Man spürt es in der Stadt der
hatte.
Reichen und in den Quartieren der Armen, in den Stätten der Auf der unter dem Text angeordneten Zeich-
Arbeit, in den Straßen des Verkehrs, und man spürt es in den nung20 erblickt man die Rückenfiguren eines Man-
Restaurants und Cafes und all den Orten, die man geschaffen
nes und einer Frau, die auf einer Anhöhe sitzen. Sie
hat, daß diese drei Millionen großer Kinder sich für ein paar
Tages- oder Nachtstunden vergessen können. 1 5
betrachten eine leicht hügelige Landschaft mit
einigen Häusern und Baumgruppen, die von einem
Grossmann rahmt diesen Hymnus, dessen Faszi-
nation von dem »ganz eigenen Rhythmus« und der 15 In Ausschnitten abgedruckt in: (Ausst. Kat. Mainz 1963)
Dynamik der sich ständig verändernden Großstadt Berliner Geist - Berliner Leben, S. 32 ff.
von futuristischen Ansichten inspiriert zu sein 16 Im April 1912 wurde in der .Sturm—Galerie von Herwarth
scheint,16 mit zwei als Strichätzung reproduzierten Waiden eine große, bereits zuvor in Paris und London gezeigte
Ausstellung futuristischer Malerei eröffnet, die bei einer Reihe
Zeichnungen, die sich zum Text wie kleine ironi-
von deutschen Malern, vor allem den Expressionisten, einen
sche Randnotizen verhalten: nachhaltigen Eindruck hinterließ. Vgl. hierzu Neuerburg: Der
Die über dem Text angeordnete Zeichnung17 graphische Zyklus, S.61
stellt eine Parkszene dar. Auf einem bildparallel 17 Strichätzung, 7,5 x 29,5 c m
verlaufenden Weg sind mehrere Spaziergänger zu 18 Abgebildet in: (Ausst. Kat. Esslingen 1974) Rudolf Gross-
mann, Kat. Nr. 6 5
sehen - eine Frau mit Kinderwagen und einem
19 Z u m expressiven Stil in Grossmanns frühen Pariser Arbei-
Kleinkind an der Hand, ein Arbeiter sowie zwei ten vgl. ebd., Einleitungstext von Ralph Jentsch.
weitere Spaziergänger, die die Pfaue seitlich des 2 0 Strichätzung, 10 χ 23 c m
im Mittelgrund rechts vor einer Staffelei stehenden einen Titel, der betont das scheinbar Absichtslose
Mann gemalt wird. Angesichts des irritierenden der Motivauswahl hervorhebt.
Kontrasts zwischen den - aus der romantischen Bonnard hält in diesen Lithographien, die in der
Malerei bekannten - Rückenfiguren, die hier aller- 21. Ausstellung der Berliner Secession im Winter
dings in recht lässiger Pose in die Betrachtung der 1 9 1 0 / 1 9 1 1 ausgestellt waren, seine Eindrücke von
Landschaft vertieft sind, dem Habitus des Malers, dem alltäglichen Leben und Treiben der Pariser
der dem abgebildeten (Freizeit)Maler in der Anzeige Bevölkerung auf den Plätzen, in den Straßen und in
eines »Spezial-Geschäfts für Kunstmaterialien« im den Parks der Stadt fest, wobei sich sein Interesse auf
Katalog der 20. Ausstellung der Berliner Secession das »schöne Bild der Stadt, . . . geprägt von einer
von 1910 ähnelt, 21 und der eigentlichen Nüchtern- harmonischen Heiterkeit« konzentriert. 24
heit des Fleckchens Erde, das hier Anschauungsob- Im Vergleich zu Bonnards Lithographien läßt
jekt ist, liegt die Vermutung nahe, daß Grossmann in sich die Besonderheit der künstlerischen Auffas-
dieser Zeichnung - nicht zuletzt in Hinsicht auf den sung in Grossmanns Arbeiten aus der Mappe Um
einführenden Text - das für Großstädter charakteri- Berlin näher bestimmen. Anders als Bonnard, des-
stische angestrengte Bemühen glossieren wollte, der sen Interesse sich ganz auf die »Darstellung des
eigenen prosaischen Umgebung einen Hauch von vorüberrauschenden Lebens, das von weitem beob-
Poesie abzugewinnen. achtet wird und das unversehens zu kleinen Szenen
Die genauen Umstände der Entstehung der ein- gerinnt«, 25 richtet, geht es Grossmann stärker um
zelnen Lithographien, die die Mappe Um Berlin das Erfassen objektiver Konstellationen zwischen
vereinigt, sind nicht bekannt. Es läßt sich weder den Menschen der Stadt und den von ihnen geschaf-
feststellen, in welchem Zeitraum die Lithographien fenen Einrichtungen - Fabriken, Wohnungen, Ver-
geschaffen wurden, noch die Frage beantworten, ob kehrswegen und Vergnügungsstätten - , die dem
einige von ihnen in einem engeren entstehungsge- Künstler an der Peripherie der Stadt besonders
schichtlichen Zusammenhang stehen. Für eine hervorzutreten scheinen.
Lithographie steht jedoch fest, daß sie bereits vor Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht, was Gross-
1911 entstanden ist, da sie auf der 21. Ausstellung mann in seiner Autobiographie Manege des Lebens
der Secession im Winter 1910/11 gezeigt worden zu seinen Berliner Eindrücken schreibt:
war.22
Später ließ ich das Berlin der Benachteiligten und Enterbten
Eine inhaltliche Gemeinsamkeit der Lithogra- [das Grossmann an der Seite Heinrich Zilles kennenlernte]
phien läßt sich auf den ersten Blick eher in negativer und streifte durch Groß-Berlin, zeichnete seine Cafes, die
Hinsicht feststellen: Keine der Darstellungen gibt öffentlichen Plätze und Straßen und seine schöne Umgebung,
in die der Berliner jeden Sonntag aus seinem Häusergrab flieht,
ein repräsentatives Bild der Stadt mit ihren bekann-
mit rührender Genügsamkeit jedes Flüßchen mit Paddel- und
ten Straßen, Plätzen und Baulichkeiten wieder. anderen Booten befahrend und freiluftelnd. Mehr wie die
Einzig und allein auf der Lithographie, die den K a s c h e m m e n reizte mich bald dieser groteske Rhythmus
Deckel der Mappe schmückt, läßt sich ein größeres Groß-Berlins, der nicht wie Paris einen idyllischen Charakter
Bauwerk - der Anhalterbahnhof - identifizieren. hatte, sondern wo die Großmannssucht der jungen Weltstadt
sich mit einem dem Rhythmus keineswegs gewachsenen
Grossmann interessieren weder die historischen
Publikum kreuzte. 2 6
Sehenswürdigkeiten noch die modernen Errungen-
schaften der Stadt. Er versucht, das Typische, das Der hier thematisierte Widerspruch zwischen
Unverwechselbare der Stadt und ihrer Atmosphäre den Phänomenen der sich ständig ausdehnenden
jenseits der berühmten Fixpunkte an anonymen, Großstadt und den Lebensbedürfnissen ihrer
sich durch keinerlei Besonderheiten auszeichnen- Bewohner dürfte der Schlüssel zum Verständnis von
den Stätten Berlins aufzuspüren. Aus diesem Grund
verzichtet der Künstler auch darauf, seinen Litho-
21 Katalog der zwanzigsten Ausstellung der Berliner Seces-
graphien einen Titel mit einer genaueren Ortsbe- sion. 1910, Anzeige für das »Spezial-Geschäft für Kunstmateria-
zeichnung beizufügen. Auch der Titel der Mappe lien Leopold Hess«.
selbst will einen Hinweis auf das Zufällige und 22 »Landstraße in Zehlendorf«, abgebildet im Zusammen-
Beliebige der gewählten Ansichten geben. hang mit der Ausstellungs-Rezension von K . Scheffler in »Kunst
und Künstler« 9 ( 1 9 1 0 / 1 9 1 1 ) , S. 1 7 0
Grossmann knüpft hiermit an eine künstlerische 23 Z u m T h e m a der graphischen Großstadt-Zyklen des 19.
Art der graphischen Stadtdarstellung an, die sich und 20.Jahrhunderts: Neuerburg: Der graphische Zyklus,
von den bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts tradier- S.58ff.;(Ausst. Kat. Bremen 1974) Die Stadt
2 4 (Ausst. Kat. Bremen 1 9 7 4 ) Die Stadt, S . 3 7
ten Prinzipien der Vedute abwendet. 23 1 89 5 schuf
25 Ebd., S . 3 7
Pierre Bonnard einen graphischen Zyklus, dem er 2 6 Zitiert nach: (Ausst. Kat. Mainz 1963) Berliner Geist -
den Titel Quelques Aspects de la Vie de Paris gab; Berliner Leben, S . 2 5
Grossmanns Lithographienfolge sein. Diese lassen bildliche Dokumente der progressiven Zerstörung
sich nämlich lesen als Darstellungen der aufeinan- des idyllischen Charakters, der die ländliche Umge-
der folgenden Stadien eines immer massiver wer- bung Berlins vormals geprägt hat:
denden Eingriffs der modernen Zivilisation in die In einer dieser Lithographien28 blickt der Be-
Natur, an dessen Resultate sich die Bevölkerung in trachter von einem erhöhten Standpunkt aus auf
der Ausgestaltung ihrer Privatsphäre und in der eine Gegend, die durch die Silhouette von höheren,
Entfaltung ihrer Freizeitbedürfnisse nolens-volens teilweise freistehenden Häusern und Fabrikschorn-
anpassen muß. steinen am fernen Horizont nun eindeutig als
Das Anfangsstadium dieses Prozesses hält jene Randzone der Großstadt zu erkennen ist. Am Fuße
Lithographie27 fest, die bereits auf der 21. Ausstel- des Hügels, der den Standpunkt des Betrachters
lung der Berliner Secession gezeigt und im Zusam- angibt, führt eine hell beleuchtete Straße entlang,
menhang mit Karl Schefflers Rezension in der auf der sich viele - im Verhältnis zu den hohen
Zeitschrift Kunst und Künstler unter dem Titel Elektrizitätsmasten winzig kleine - Menschen
Landstraße Zehlendorf abgebildet worden war. bewegen. An einem Bahnwärterhäuschen im Mit-
Man blickt auf eine diagonal nach links in den telgrund links trifft die Straße im spitzen Winkel auf
Hintergrund verlaufende Landstraße sowie auf eine eine Eisenbahnlinie, deren Gleise die Landschaft in
sich dahinter ausbreitende ländliche Gegend mit einem Bündel harter, schwarzer Linien bis zum
flachen, baumumstandenen Gebäudekomplexen. Horizont durchschneiden.
Die deutlichen Schlagschatten, die die teilweise Durch die stehende Rückenfigur einer Frau im
kahlen, teilweise belaubten Bäume zu beiden Seiten rechten Vordergrund, die auf die Landschaft blickt,
der Straße sowie die Stäbe des hölzernen Zaunes während sie ihren Hut auf dem Haar befestigt, und
entlang der Straße auf den Boden werfen, deuten auf die angedeutete Figur eines sitzenden kleinen Mäd-
einen sonnig-warmen Frühlingstag hin. Eine weib- chens neben ihr rückt Grossmann ins Bewußtsein
liche Gestalt mit einem Hut oder einem aufge- des Betrachters, daß es sich hier um ein Ausflugs-
spannten Schirm spaziert auf der Straße in Richtung und Erholungsgebiet der Großstädter handelt, das
des Bildhintergrundes, während sich eine andere durch die diversen Straßen, Gleise, Masten usw. in
Figur, einen Kinderwagen schiebend, in gegenläufi- einzelne Segmente zerstückelt wird. Gegenüber
ger Richtung bewegt. Alle Teile des Bildes bezeu- dieser gewaltsamen Strukturierung können sich die
gen, daß die dargestellte Gegend den Charakter natürlichen Gliederungselemente der Landschaft
einer ländlichen Idylle, in die der hastige Rhythmus nicht behaupten.
der Großstadt noch nicht eingegriffen hat, bis zu Je näher Grossmann den Stadtrand in das Blick-
diesem Zeitpunkt bewahrt hat. Zwar setzt der in der feld rückt, desto stärker betont er den tristen
Mittelachse der Komposition aufragende Telegra- Charakter der unmittelbaren Umgebung. Dies
phenmast ein deutliches Zeichen dafür, daß der demonstriert ein Blatt,29 das im Vordergrund das
Zugriff der modernen Zivilisation auch an diesem flache, kahle Gelände an einem Bahndamm zeigt,
Ort unaufhaltsam ist; aber seine Form bringt keinen der von links diagonal in die Tiefe führt. Links und
Mißklang in das Bild, sondern fügt sich quasi natür- rechts vom Bahndamm erheben sich in einiger
lich in das Gerüst der Baumreihen ein. Entfernung einzelne Gebäudekomplexe, die sich
Die Art und Weise, wie hier ein Element der aus Wohnhäusern und Fabriken zusammensetzen.
Technik in die natürliche Struktur der Landschaft Die vielen, teilweise rauchenden Schornsteine und
eingegliedert erscheint, läßt an die integrierende, auf die schwarzen Brandmauern, auf die der Blick fällt,
Harmonisierung des für sich oft Gegensätzlichen verstärken den Eindruck der Unwirtlichkeit und
konzentrierte Sichtweise denken, die die Impressio- Trostlosigkeit der Gegend. Angesichts dessen ver-
nisten bevorzugten, wenn sie in ihren Landschafts- mittelt die liegende Figur eines schlafenden Mannes
gemälden gelegentlich den Manifestationen einer im Vordergrund weniger die Vorstellung von Ruhe
zunehmenden Technisierung Rechnung trugen. und Entspannung als die einer gewissen Schutz-
Auch die Weichheit, mit der Grossmann in diesem losigkeit.
Blatt die lithographische Kreide handhabt, und die Auch bei seinen Streifzügen durch vornehmere
konsequente Vermeidung harter Begrenzungsli- Wohngegenden läßt sich Grossmann keineswegs
nien verrät eine ganz auf das Atmosphärische eines von der Atmosphäre ruhiger, wohlständischer
sonnigen Tages auf dem Land ausgerichtete Auffas-
sung.
27 28 x 36 cm
Im Vergleich zur soeben betrachteten Lithogra- 28 20 χ 36 cm
phie erscheinen drei weitere Blätter der Mappe als 29 23 x 37cm
Abb. 12: Lithographie (28 χ 35 cm) von Rudolf Grossmann ans der Mappe
»Um Berlin«. Sir/m 1912(9. Werk der Pan-Presse)
Behaglichkeit beeindrucken. Bei seiner Darstellung Ein weiteres Blatt des Zyklus, das eine Industrie-
einer Villenstraße am westlichen Stadtrand 30 wählt gegend am Landwehrkanal wiedergibt, 32 zeigt, daß
er einen erhöhten Standpunkt, von dem aus der sich mit dem Fortschritt der Zurückdrängung und
Blick schräg auf die Straße fällt, deren starrer, Eindämmung der Natur eine neue, aus technischen
gradliniger Verlauf durch die beidseitige dunkle Elementen konstruierte Ordnung herauskristalli-
Einfassung besonders betont wird. Auf der linken siert, in die sich Menschen und Dinge zu fügen
Straßenseite erblickt man zwei freistehende vor- haben.
nehme Villen mit gleichförmigen, zur Straße hin Das Endstadium dieses Prozesses markiert die
ausgerichteten Fassaden. Der rechte Teil der Straße Lithographie, die den Deckel der Mappe
besteht aus einem kahlen, offensichtlich frisch schmückt. 3 3 Durch eine Reihe schwarzer Baumske-
gerodeten Gelände, auf dem ein paar Arbeiter lette im Vordergrund hindurch fällt der Blick von
beschäftigt sind. Die Unterteilung der Fläche in oben auf das schwarze, leicht schräg verlaufende
einzelne Parzellen läßt erkennen, daß hier weitere Band des Landwehrkanals, der von zwei Kähnen
Villen entstehen werden, die die festgefügte, recht- befahren wird.
winklige Anordnung von Häusern und Straßen Jenseits davon türmt sich hinter der hellen Ufer-
vervollkommnen. Die hohen, schlanken Stämme straße ein Häusermeer auf, das beherrscht wird von
von drei Kiefern im Vordergrund mit ihren dunk- dem monumentalen Gebäude des Anhalterbahn-
len, zerzausten Kronen sind die letzten Zeugen der hofs. Die Ansicht, die sich dem Betrachter bietet,
vormaligen Existenz wildwüchsiger Natur, die der hat nichts Idyllisches oder Pittoreskes an sich. In
Ausdehnung des Stadtgebiets weichen mußte. deutlich zwischen hellen und schattigen Flächen
Nicht zu verkennen ist das kritische Moment in unterscheidender Beleuchtung wird ein räumliches
Grossmanns Darstellung, wenn man sich vor Augen Gefüge von steinernen Kuben, Quadern und Zylin-
hält, daß die seit dem letzten Jahrzehnt des ^ . J a h r -
hunderts fortschreitende Reduktion der diversen
Waldgebiete Berlins, nicht zuletzt des Grunewaldes, 30 28 χ 36cm; Abb. in: (Ausst. Kat. Mainz 1963) Berliner
dem beliebtesten Ausflugsgebiet der Berliner, vom Geist - Berliner Leben, Abb. 26
ständigen Protest der Bevölkerung begleitet wur- 31 Lange: Das Wilhelminische Berlin, S.473
32 28 x 35 cm
de. 31
33 Mappenumschlag, 54,5 x 71,5 cm
Abb. 13: Lithographie (27 χ 30 cm) von Rudolf Grossmann aus der Mappe
»Um Berlin». Berlin 1912(9. Werk der Pan-Presse)
d e m sichtbar, dessen konstruktive Festigkeit eigen- vereinzelte Gestalten an der Brüstung und auf dem
tümlich unbelebt und abweisend wirkt und die mittleren Rund der Bahn sowie zwei Radfahrer
winzig kleinen menschlichen Gestalten auf den lassen darauf schließen, daß hier kein spannendes
beiden Uferstraßen fast nichtig erscheinen läßt. R e n n e n , sondern die Routine des alltäglichen Trai-
Daß sich die Darstellung des auffälligen Mißver- nings abläuft. Indem Grossmann den Blick an den
hältnisses zwischen den ohnmächtig klein wirken- leeren Tribünen entlang über das weitgehend kahle
den Menschen und der festgefügten, leblosen Rund der R e n n b a h n zur zerklüfteten Skyline der
Monumentalität der steinernen Umwelt (dem grauen Mietskasernen am Horizont lenkt, macht er
»Häusergrab«, wie Grossmann in der zitierten Pas- in unauffälliger W e i s e auf den Zusammenhang
sage aus seiner Autobiographie sagt) einer sozialkri- zwischen dem Inhalt der Freizeitbeschäftigung der
tischen Intention verdankt, ist eine Vermutung, die Bevölkerung und der Beschaffenheit ihrer alltägli-
angesichts der Ansichten, die Grossmann von zwei chen Lebensverhältnisse aufmerksam.
populären Vergnügungsstätten der Berliner Bevöl- Auch die Darstellung eines Rummelplatzes 3 6
kerung - der Radrennbahn und dem Rummelplatz zeigt diesen in einer Ansicht, die seine Lage im
- gibt, an Wahrscheinlichkeit gewinnt: Verhältnis zu seiner Umgebung genau festhält. Auf
W e n n Grossmann die Radrennbahn 3 4 besucht, schmutzig-dunklem Grund stehen ein rundes Zelt
dann interessieren ihn - und dies unterscheidet und einige windschiefe Bretterbuden vor einem
seine künstlerische Auffassung wesentlich von der bildparallel verlaufenden Bahndeich, auf dem
französischer Maler aus der 2. Hälfte des ^ . J a h r - gerade ein Z u g entlangfährt. D e r weiße Rauch, den
hunderts wie Manet, Degas und Toulouse-Lautrec, die Lokomotive ausstößt, setzt sich von der großen,
die auf der Pferderennbahn ihre künstlerischen schwarzen Fläche einer Brandmauer ebenso deut-
Motive fanden - weder die Reize der durch die
sportlichen Aktivitäten gebotenen vielfältigen
34 22 X 31 cm
Bewegungsmotive noch die Atmosphäre einer fest-
35 Lange: Das Wilhelminische Berlin, S. 561
lich gestimmten, erregten Zuschauermenge. Er 36 27 x 3 0 c m ; Die in: (Ausst. Kat. Mainz 1963) -Berliner
zeichnet die sportliche Stätte, auf der die »einzigen Geist - Berliner Leben<, Abb. 27, abgebildete Lithographie weist
Unternehmen, die auf begeisterten Massenbesuch die Bleistiftbezeichnung »Berliner Rummelplatz 1908« auf; aus
rechnen konnten«, 3 5 stattfanden, an einem trüben den Katalogangaben zu Kat. Nr. 136 geht nicht hervor, ob diese
Bezeichnung von Grossmann selbst stammt; deshalb läßt sich
Tag bei mäßigem Betrieb. Ein paar K ö p f e und
auch über die Zuverlässigkeit des Datums nichts Genaueres
Rückenfiguren von Zuschauern im Vordergrund, sagen.
lieh ab wie die dunklen Waggons von den weißen Gebrauch. Seine Aufnahmen, die er häufig als
schmucklosen Fassaden einer Häuserzeile im Hin- Vorlagen für seine graphischen Arbeiten benutzte, 39
tergrund. Eine Frau und ein kleiner dicker Mann waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt - den-
streben aus dem Vordergrund auf das die übrigen noch könnte sie Grossmann natürlich zu Gesicht
Buden hoch überragende Zelt im Mittelpunkt des bekommen haben.40 Wie Winfried Ranke nachge-
Platzes zu, auf dem man eine Reihe von männlichen wiesen hat, zeichnen sich Zilles Photographien im
und weiblichen Gestalten teilweise in Gruppen Unterschied zur »appellativen Dokumentarphoto-
zusammenstehen, teilweise herumspazieren sieht. graphie«, die einige zeitgenössische Photographen
Die blendende Helligkeit der Stoffbahnen des Zel- pflegten, durch ihre »analytischen Qualitäten«, d.h.
tes kontrastiert dermaßen auffällig zur schmutzigen dadurch aus,
Tristesse der Umgebung, daß das Auge des Betrach-
daß sie sich jeder demonstrativen Geste enthalten. Nüchtern
ters immer wieder auf die leichte, luftige Konstruk- und klar, ohne Anspruch auf bildmäßige Schönheit und
tion gelenkt wird. In seiner geradezu magischen Ausgewogenheit legen sie dar, wie der Photograph Zille
Anziehungskraft erscheint es als letzte Zufluchts- seinerzeit die Menschen und ihre Daseinsverhältnisse in Berlin
stätte der menschlichen Phantasie, der die Atmo- vorgefunden hat. 4 1
Impressionen zum Ausdruck brachten. 43 Stattdes- den - ein Abkommen vor, demzufolge Barlach
sen läßt die realistische, unsentimentale Härte, mit gegen ein festes Jahresgehalt Cassirer alle plasti-
der Grossmann die Wunden bloßlegt, die der Fort- schen Arbeiten zum Verkauf überlassen sollte.
schritt der modernen Zivilisation der natürlichen Ich schlug zwar ein, und es war reichlich Grund vorhanden, um
Umwelt zufügt, und mit der er die Erstarrung der diese neue Gelegenheit zum Aufatmen in meinem Gemüt
neuen Ordnung charakterisiert, die sich anstelle des willkommen zu heißen, aber es blieb zwischen uns einstweilen
bei einem sehr gewissenhaften Beobachten unseres Ver-
Verdrängten etabliert, bereits Ansätze einer neuen
trages. 5
Sehweise erkennen, die für eine Reihe von deut-
schen Künstlern in den 20er Jahren charakteristisch Eine zweite Phase innerhalb des Verhältnisses
wird. 44 zwischen Barlach und Cassirer, die mit der Rück-
kehr des Künstlers aus Florenz (wo er das Jahr 1909
als Stipendiat der Villa Romana verbracht hatte)
3.10 Ernst Barlach, 27 Lithographien zu dem einsetzt, ist eng mit der Entstehungsgeschichte des
10. Werks der Pan-Presse verbunden.
Drama »Der tote Tag«. In einer Mappe
Einige Monate nach Barlachs Rückkehr trat
mit Textband. 1912 (10. Werk)
Bruno Cassirer an den Künstler mit dem Auftrag
Obwohl die umfangreiche Korrespondenz zwi- heran, Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohl-
schen Ernst Barlach und Paul Cassirer nicht erhalten haas mit Holzschnitten zu illustrieren. In einem
geblieben ist,1 dokumentieren die noch vorhande- Brief an Reinhard Piper vom 1 . 4 . 1 9 1 0 bekundete
nen schriftlichen Äußerungen des Künstlers - Barlach sein Interesse für die neue graphische
Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und autobio- Technik, äußerte sich jedoch zugleich vorsichtig bis
graphische Notizen - nicht nur die Entstehungsge- skeptisch über die Aussichten für das Gelingen
schichte seiner in der Reihe der Pan-Presse erschie- dieses Werkes:
nenen graphischen Arbeiten, sondern ganz allge-
Es ist aber viel Arbeit dabei, und wie mir scheint ist B.C. ein
mein die Beziehungen Barlachs zu Paul Cassirer so vorsichtiger Herr, der allerdings von mir etwas Gutes hofft,
umfassend, wie dies für die anderen Künstler der aber auch nichts von mir in den Kauf nehmen will. 6
Pan-Presse nur zu wünschen wäre. Da diese Quellen
für das Verständnis von Paul Cassirers Persönlich- Diesmal war es also Bruno Cassirer, der versuchte,
keit und für die Beurteilung seines Umgangs mit einen bereits bei Paul Cassirer unter Vertrag stehen-
Künstlern außerordentlich aufschlußreich sind, den Künstler abzuwerben, indem er seinem Vetter
erscheint es angebracht, an dieser Stelle ausführli- mit einem Illustrations-Auftrag zuvorkam. Paul
cher auf sie einzugehen: Cassirer reagierte prompt: A m 1 1 . 4 . 1 9 1 0 teilte
Barlach Reinhard Piper - zunächst ohne eine
Barlachs häufig zitierte, ebenso differenzierte wie
Angabe von Gründen - die Zerschlagung des
liebevolle Schilderung der Persönlichkeit Paul Cas-
Projektes mit. 7 Über die Hintergründe dieses Vor-
sirers in seinem Buch Ein selbsterzähltes Leben
gangs informierte er seinen Briefpartner am
(Berlin 1928), 2 für deren Authentizität die Tatsache
6.5.1910.
spricht, daß Tilla Durieux die eigene Darstellung
Paul Cassirers in ihren Memoiren mit Barlachs Demzufolge hatte Paul Cassirer gegenüber dem
Charakteristik einleitete, 3 basiert auf einer fast Illustrations-Projekt sein Veto eingelegt, dem sich
20jährigen Bekanntschaft des Künstlers mit Cassi-
rer, die sich von einem zunächst rein geschäftsmäßi-
gen Umgang im Laufe der Jahre zu einer wirklichen 4 3 Ein Manifest dieser Großstadtbegeisterung ist Ludwig
Freundschaft entwickelte. Meidners 1 9 1 3 in Berlin geschriebene «Anleitung zum Malen
von Großstadtbildern«; abgedruckt in: Grochowiak: Ludwig
Ernst Barlachs Bekanntschaft mit Paul Cassirer Meidner, S. 7 8 ff. Vgl. hierzu auch Neuerburg: Der graphische
begann im Jahre 1907. Auf der 13. Ausstellung der Zyklus, S . 6 1 ff.
Berliner Secession hatte Barlach zwei Terrakotten 4 4 Vgl. etwa Paul Westheim über Gustav Wunderwald; zitiert
in: (Ausst. Kat. Berlin 1977) Tendenzen der zwanziger Jahre,
ausgestellt, die die Aufmerksamkeit August Gauls
S. 4 / 2 6 9
erregten. 4 Im Hause des Bildhauers, der sich von
1 Z u r Quellenlage: Elmar Jansen, Einleitung: In: Ernst
diesem Zeitpunkt an um die Förderung seines noch Barlach, Werk und Wirkung, S. 36
unbekannten Kollegen bemühte, lernte Barlach im 2 Barlach: Prosa I, S. 57 f.
Herbst 1907 Paul Cassirer kennen. Dieser forderte 3 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 75 f.
4 Barlach: Prosa I, S. 5 5
ihn auf, ihm seine Arbeiten vorzulegen und schlug
5 E b d , S. 5 6 ; vgl. auch Barlach: Briefe I, S . 2 9 9 , 3 0 5
ihm im Laufe des Jahres 1908 - Barlach war 6 Barlach: Briefe I, S. 3 3 8
inzwischen Mitglied der Berliner Secession gewor- 7 Ebd., S. 3 3 9
der Künstler aus zwei Gründen bereitwillig Warum nach dem Abschluß der Arbeit an den
beugte: Lithographien zum Toten Tag'im Sommer 1911 bis
1. fühlte er sich durch den Verlauf der Auseinan- zum endgültigen Erscheinen des Werks im Herbst
dersetzungen in seiner Skepsis gegenüber Bruno 1 9 1 2 " über ein Jahr verging, ist unbekannt. Barlach
Cassirer als Auftraggeber bestätigt und 2. äußerte äußerte sich in Briefen mehrfach ohne die geringste
Paul Cassirer seine Bereitschaft, Barlach für den Ungeduld zum jeweiligen Stand der Vorbereitun-
entgangenen Auftrag durch einen eigenen zu ent- gen, wobei er auf die Angabe von Gründen für die
schädigen : wiederholte Verzögerung in der Herausgabe stets
Die Aufgabe der Kleist-Illustrationen hat mehrere Gründe. verzichtete. 12
Allerdings seh' ich an der Behandlung durch Bruno Cassirer, Barlachs Briefe aus demselben Zeitraum zeugen
daß es im großen Stil nicht hergeht bei ihm. Daß er meine von einer zunehmenden Wertschätzung der
Arbeiten kleinlich ansah und sogar kleinlich Kritik übte. Dabei
menschlichen Qualitäten Paul Cassirers. So schreibt
wird mir immer Angst, denn die Zwangsvorstellung bei der
Arbeit, ob es Bruno Cassirer auch gefällt, konnte mich nicht der Künstler am 9 . 1 . 1 9 1 1 :
locken. Aber dann: W e r mit Bruno zu tun hat und wie ich mit »Cassirer ist ein klügerer und tieferer Mensch, als
Paul ein A b k o m m e n , wenn auch hinsichtlich anderer Dinge, ich gedacht habe,...«. 13 Die wesentliche Grundlage
der steht, wenn er obendrein die Pan-Presse zu benutzen hat, für eine freundschaftliche Beziehung Barlachs zu
zwischen zwei feindlichen Vettern, wovon ich kaum die ersten
Paul Cassirer und Tilla Durieux wurde wohl in den
Symptome spürte, als ich beschloß, sofort ganz klare Verhält-
nisse herzustellen. Paul Cassirer hat mir etwas für ihn zu Sommermonaten des Jahres 1912 geschaffen, als der
machen in Aussicht gestellt, und er wird wohl sein W o r t Künstler eine Zeitlang im Sommerhaus Cassirers in
halten. Aber jedenfalls wäre mir das andre vollkommen Noordwijk in Holland zu Gast war, um Tilla Durieux
unerträglich geworden. Ich kenne solche Stimmungen und zu porträtieren. Auf diesen Aufenthalt nimmt Bar-
verzichte, wenn sie Beigabe sind, dankend auf Aufträge.
lach in einem Brief vom 5 . 1 1 . 1 9 1 2 Bezug, in dem er
Überdies glaube ich, ist B. C. ein ängstlicher Rechner. 8
nochmals auf den Beifall Paul Cassirers zu seinem
Zwei Monate später, am 5.7.1910, berichtet inzwischen erschienenen Werk Der tote Tag zu
Barlach, daß nach »neuerlicher Regulierung« und sprechen kommt:
beträchtlicher Erhöhung seines >Gehalts< der Ver-
Übrigens erlebte ich zu meiner Freude, daß mir Cassirer
trag mit Paul Cassirer nun auch für Porzellane und
spontan seine volle Überzeugtheit eben wegen dieses Werks
Zeichnungen gilt. In diesem Zusammenhang aussprach - und da ich den Mann in Noordwijk doch ein wenig
kommt auch der Plan, Zeichnungen zu seinem mehr habe würdigen lernen als einen Geschäftsmann, so muß
Drama Der tote Tag anzufertigen, zur Sprache: mir sein Urteil schon etwas bedeuten. 1 4
rend eines Besuchs Barlachs in Berlin zu einem nach seiner endgültigen Entlassung aus dem Mili-
Treffen mit Cassirer, das der Künstler als den tärdienst in der Aufforderung an Barlach bestand,
einzigen positiven Ertrag seines Berlin-Aufenthalts ihm das Manuskript seines Dramas Der arme Vetter
verbuchte. 17 zuzusenden - eine Tatsache, die Barlach in einem
Im Frühjahr 1919 - Paul Cassirer ist mittlerweile Brief vom 2 6 . 3 . 1 9 1 7 folgendermaßen kommen-
aus der Schweiz nach Berlin zurückgekehrt - äußert tierte :
Barlach die Hoffnung, »nach langer Zeit Cassirer Nebenbei gesagt: wie der >Tote Tag< geschäftlich ein Reinfall
einmal wiederzusehen, einen Mann, der mit uner- für den Verlag war, so wird es der >Arme Vetter« nicht weniger
schütterter Teilnahme zu mir steht.« 18 Spätestens ab sein. Es handelt sich also bei Cassirer um ein Martyrium aus
diesem Zeitpunkt nimmt das Verhältnis zwischen Überzeugung, und ich sollte ihm dafür dankbarer sein, als ich
vielleicht b i n . . . 2 6
den beiden Männern den Charakter einer wirkli-
chen Freundschaft an, in die auch Tilla Durieux In seinen Briefen aus den 20er Jahren bekundet
einbezogen wird. der Künstler regelmäßig sein uneingeschränktes
Die Briefe Barlachs an August Gaul und Leo Einverständnis mit der Art seiner Geschäftsbezie-
Kestenberg zeugen von der aufmerksamen Anteil- hungen. In dieser Einstellung läßt er sich auch nicht
nahme des Künstlers am Wohlergehen Cassirers. Er durch die Vorhaltungen seines langjährigen Brief-
bekundet mehrfach ernste Besorgnis über Cassirers freundes, des Verlegers Reinhard Piper, beirren,
Gesundheitszustand und große Erleichterung ange- dessen Versuch, Barlach dazu zu bewegen, für die
sichts von Nachrichten über eine Besserung. 19 Ausstattung eines Buches über den deutschen Holz-
Wenn sich Barlach in Berlin aufhalten muß - eine schnitt eine Arbeit beizusteuern, am Einspruch Paul
Notwendigkeit, die ihm zunehmend zur Last wird - Cassirers scheitert. Angesichts der ablehnenden
wohnt er bei seinem »Freund und Verleger«. 20 Zu Reaktion seines Verlegers schreibt Barlach am
diesem fühlt er sich um so stärker hingezogen, als er 9-5.1920:
andererseits eine wachsende »Entfremdung« zu vie-
Verstehen Sie, daß es mir schrecklich ist, mit Eifersucht und
len seiner alten Bekannten verspürt: »Merkwürdi- Widerstand, die nun mal elementare Gewalten sind, zu tun zu
gerweise habe ich an Cassirer eine wachsende h a b e n . . . Ich bin ganz einfach Cassirer für lange Jahre des
Anhänglichkeit,...«, konstatiert der Künstler Risikos für mich, für erstes Eintreten - ganz philisterhaft
1922.21 dankbar und scheue ebenso philisterhaft schon den Schein
des: >Nun ist's aber genug, jetzt brauch' ich Cassirer nicht
Barlachs Wertschätzung von Paul Cassirer und m e h r · . . . Daß das berechtigte Interesse ungebräuchliche For-
Tilla Durieux als Menschen, die »in ihren guten men zeigen kann, darf man wohl nicht zu sehr tadeln, wo so
zurückgezogenen Stunden« »zugleich einfach und diffizile Dinge zusammenstoßen wie Kunst - Freude - Handel,
tief« seien, 22 läßt erahnen, wie schmerzlich den da muß man aufhören, sich zu wundern. 2 7
Rücken unheimlich umgeht und, wie ich weiß, sich die Arbeit Diese Unsicherheit hinsichtlich der künstleri-
doch ein bißchen hier und viel dort anders denkt. 2 8 schen Aussagekraft seines dramatischen Versuchs,
die Barlach auch in späteren Jahren nie ganz ableg-
Barlachs Briefe aus den Jahren nach 1926 doku- te,35 wirkte sich auch auf die Einschätzung der
mentieren, daß Paul Cassirers Selbstmord für den Resonanz aus, die sein dramatisches Erstlingswerk
Künstler nicht nur den Verlust eines engen Freun- bei seinem Verleger fand. Für Barlach stand außer
des, sondern zugleich den Abschluß einer Schaf- Frage, daß Paul Cassirer einzig und allein durch die
fensperiode bedeutete, die sich angesichts der Lithographien zum Toten Tag bzw. die gezeichne-
zunehmenden Schwierigkeiten Ende der 20erJahre, ten Entwürfe zur Herausgabe des Dramas bewogen
seine Werke auszustellen und zu verkaufen, in wurde.
seiner Erinnerung immer stärker als eine glückliche
So überzeugt der Künstler einerseits von der
Zeit des freien und sorglosen Arbeitens darstellte:
Ernsthaftigkeit der Zustimmung war, die seine
plastischen und graphischen Arbeiten bei Paul
. . . die Zeiten sind andre geworden, auch im Verlag, ich habe an
Cassirer unerhört viel verloren, der bei allen seinen negativen Cassirer fanden, so skeptisch war er andererseits
Eigenschaften die eine der rücksichtslosen Passioniertheit für hinsichtlich des Verständnisses, das der Verleger
meine Arbeit hatte. Meine Arbeiten stehen und liegen herum, seinen dramatischen Arbeiten entgegenbrachte.
niemand sieht sie, man nimmt meine Interessen in anständiger
Als Paul Cassirer Anfang 1917 von Barlach die
Weise wahr, aber Cassirer war mein Parteigänger und setzte
seinen Ehrgeiz, der beträchtlich war, für mich in Unko- Zusendung des Manuskripts Der arme Vetter erbat,
sten, 2 9 vermutete der Künstler unwillkürlich, »daß bereits
an die Annahme des Stückes vom Verlag die
schreibt Barlach am 1.6.1928, und einige Jahre Bedingung der Anfertigung von Lithographien
später stellt er noch einmal mit Nachdruck fest, geknüpft werden wird (a la >Toter Tag<).«36 Und auch
dank Paul Cassirer habe er »von 1908 bis 1925 1927 noch würdigte Barlach in seinen Erinnerungen
sorglos leben können«.30 »Ein selbsterzähltes Leben« die »unmäßige Risiko-
Von den drei Werken Barlachs, die in der Pan- freudigkeit« des verstorbenen Paul Cassirer, in dem
Presse erschienen sind, hat die Arbeit an der ersten er die Entstehungsgeschichte des 10. Werks der
Veröffentlichung, dem Drama Der tote Tag mit 27 Pan-Presse folgendermaßen schilderte:
Lithographien, den Künstler am längsten und Als er mich aufforderte, ein lithographisches Werk für die
intensivsten beschäftigt: Panpresse beizusteuern, erwähnte ich ein >Drama<, das man
Als im Sommer 1910 der Plan einer illustrierten vielleicht als Gerüst zur Aufreihung von Motiven benutzen
Ausgabe des Toten Tages ins Gespräch kam, waren könne. Er zuckte weder mit der Wimper, noch zögerte er einen
Augenblick mit der Antwort: >Na ja, also zeichnen Sie.<
bereits drei Jahre vergangen, in denen sich Barlach
Ich lithographierte, und die Mappe wurde eine regelrecht
immer wieder mit seiner dramatischen Arbeit viereckige, normale und einstweilen unverkäufliche Mappe,
befaßt hatte. Mit der ersten Niederschrift hatte einschließlich eines Textbandes zum >Toten Tag<. Dieser Band
Barlach am 23.5.1907 begonnen; eine zweite Bear- sah aus, als wäre er gefunden und der Finder hätte ihm in der
beitung setzte am 27.7.1908 ein und gelangte zu geräumigen Mappe einen vorläufigen Unterschlupf angewie-
sen. Cassirer, sonder Mitschuld an dem Drama, das er nicht
Beginn von Barlachs einjährigem Aufenthalt in
gelesen, begann ein generöses Herumschenken in Stadt und
Florenz im Frühjahr 1909 zu einem vorläufigen Land, und der Textband, warmgeworden im Nest, gab sich
Abschluß. 31 Die schriftlichenAnfragen des Künst- drein. 3 7
lers bei seinem Freund Reinhard Piper, ob dieser das
Manuskript gelesen habe, beweisen, daß sich Barlach Diese Darstellung hat sowohl Tilla Durieux als
auch in Florenz in Gedanken immer wieder mit auch Albert Damm, zur damaligen Zeit Geschäfts-
seiner dramatischen Arbeit beschäftigte. Entgegen führer der Kunsthandlung Cassirer, dazu veranlaßt,
der Behauptung: »Es [das Drama] ist für mich ganz
tot, ich habe keinen Hang mehr dazu« (Oster- 28 Ebd., S. 7 0 0
Montag 1909 32 ), nimmt der Künstler - nach 2 9 Barlach: Briefe II, S. 1 1 6 f.
Deutschland zurückgekehrt - den »Toten Tag« 3 0 Ebd., S. 4 4 1
sofort wieder vor.33 Aus den erwähnten Briefstellen, 31 Nach den Angaben von Friedrich Schult in: Ernst Barlach,
Werkverzeichnis Bd. 2, S. 29. In den Briefen wird das Drama zum
in denen Barlach von seinen ersten Versuchen als
ersten Mal am 2 1 . 1 . 1 9 0 8 erwähnt.
Dramatiker berichtet, spricht eine eigentümliche 32 Barlach: Briefe I, S. 3 1 2
Skepsis, ob es gelungen sei, das, was für ihn selbst als 33 Ebd., S. 3 2 7
persönlich erfahrene Problematik 34 eine »Herzens- 3 4 Ebd., S. 4 8 0 , 562
angelegenheit höchsten Grades« bedeute, durch die 35 Ebd., S . 4 7 7 f . , 555, 5 6 1 ; Barlach: Briefe II, S . 3 5 6 f.
3 6 Barlach: Briefe I, S. 5 0 6 f.
Gestaltung künstlerisch zu verobjektivieren.
37 Barlach: Prosa I, S. 58 f.
nachdrücklich zu betonen, daß Paul Cassirer Bar- Bauerndrama«, über die sich Barlach lustig machte, 46
lachs Drama sehr wohl gelesen habe.38 ebenso deutlich wie in Karl Schefflers Kommentar
Dennoch ist die Vermutung nicht unbegründet, zu den Lithographien, die auf der 25.Ausstellung
daß Barlachs plastisches und graphisches Werk von der Berliner Secession zu besichtigen waren:
Cassirers Seite aus die spontanere und stärkere Barlach zeigt Lithographien, die eigentlich Entwürfe für
Zustimmung fand als seine dramatischen Arbeiten. Holzplastiken sind, während diese Holzplastiken dann wieder
Barlach selbst war sich sehr genau darüber im klaren, wie Ausgeburten einer mystisch erregten Dichterphantasie,
daß weite Bereiche seines eigenen inneren Erlebens, einer von der Bühne absehenden Dramatikerphantasie
erscheinen. 4 7
die sich im dichterischen Werk auf den ersten Blick
vielleicht deutlicher entfalteten als im plastischen, Schrieb Barlach 1916 noch: »Etwa zehn Leuten
in dem stärker rationalistisch geprägten Weltbild hat der >T. T.< Freude gemacht«,48 so konnte er Ende
Paul Cassirers keine Entsprechung fanden.39 Auch 1917 zu seinem Erstaunen ein wachsendes Interesse
Tilla Durieux spricht in den Erinnerungen an an seiner ersten dramatischen Arbeit feststellen.49
Barlach von ihrem Eindruck, daß die von der 1917 fand in den Räumen des Kunstsalons Cassirer
künstlerischen Phantasie Barlachs geschaffene nicht nur die erste Sonderausstellung von Wer-
geheimnisvolle Mythen- und Märchenwelt, die sie ken Barlachs, sondern auch eine Lesung aus dem
selbst stark faszinierte, Paul Cassirer unzugänglich Toten Tag statt, die in dem Kreis der geladenen
blieb.40 Gäste einen starken Eindruck hinterließ.50 Am
Auf alle Fälle steht fest, daß die Entscheidung zur 22.11.1919 wurde Der Tote Tagim Schauspielhaus
Herausgabe des Toten Tages aufgrund der 30 Ent- Leipzig - allerdings »unter allgemeiner Teilnahms-
wurfszeichnungen zu den Lithographien erfolgte, losigkeit«, wie Barlach berichtete 51 - uraufgeführt;
zu einem Zeitpunkt also, als Paul Cassirer die 1923 kam das Stück auch in Berlin zur Aufführung,
dramatische Fassung selbst noch gar nicht in Hän- nachdem zwei Jahre zuvor die Vorbereitungen dazu
den hatte. Nachdem Barlach am 12.12.1910 das abgebrochen worden waren.52 Diesmal erregte Bar-
getippte Manuskript nach Berlin gesandt hatte,41 lachs Werk größere Aufmerksamkeit und erhielt
vergingen für den Künstler mehrere Wochen ban- nun auch um positives Verständnis bemühte Re-
gen Wartens auf die Reaktion des Verlegers.42 zensionen.53
Bedenken Sie, daß das Buch besprochen worden ist von mir
Obwohl Der tote Tag wie auch andere Dramen
und Cassirer, ohne daß er Kenntnis vom Text gehabt hat, und Barlachs Anfang der 20er Jahre in mehreren Städten
daß also von dem T e x t nicht als für Publikation in Vorberei-
tung befindlich gesprochen werden kann. Ich kann mir
denken, daß ihn Entsetzen ergreift und er sich nur für die
38 Tilla Durieux: Gespräche mit einem liebenswerten Gast.
Zeichnungen gebunden erklärt,
In: Ernst Barlach, W e r k und Wirkung. S . 2 1 9 ; D a m m : Ernst
Barlach
... schreibt Barlach am 26.1.1911 ·43
3 9 Barlach: Prosa I, S. 5 7 : »Ich weiß, daß ein Dorn an meinem
W e s e n in Cassirers G e m ü t allzeit geeitert hat,...«; Barlach:
Es vergehen nun mehrere Monate, in denen der
Briefe II, S. 3 1 4 : »Meinem toten Freund, dem Juden Paul Cassirer,
Künstler den »Toten Tag« mit keinem Wort er- behagte an mir ein allzu >deutsches< Wesen, speziell das Nord-
wähnt. Am 4.6.1911 teilt er schließlich mit: und Niederdeutsche, sehr wenig.«
4 0 Tilla Durieux: Gespräche mit einem liebenswerten Gast.
Meine zeichnerisch-dramatische Arbeit soll nun wie der
In: Ernst Barlach, W e r k und Wirkung, S. 2 2 1
Krähwinkler Landsturm zum langsamen Vorrücken bereitet
41 Barlach: Briefe I, S. 3 5 4
werden. 4 4
42 Ebd., S. 361
Nachdem das 10. Werk der Pan-Presse 1912 er- 43 Ebd., S. 3 6 2 f.
4 4 Ebd., S. 3 7 0
schienen war, erwies es sich für lange Zeit als ein
45 Friedrich Schult in: Ernst Barlach, Werkverzeichnis Bd. 2,
»ständiger, wenig gefragter Gast« auf dem antiqua- S.7
rischen Markt. Dies lag sicherlich nicht - wie 4 6 Barlach: Briefe I, S. 4 0 6
Friedrich Schult vermutet - so sehr an dem »un- 47 Scheffler: Notizen über deutsche Zeichenkunst, S. 191
handlichen Format«, das »in keiner privaten Samm- 4 8 Barlach: Briefe I, S . 4 7 8
4 9 Ebd., S. 5 1 9
lung ohne Beschwer unterzubringen« war,43 als
50 Vgl. den Bericht von Dora Wentscher: Kayßlers Lesung
vielmehr daran, daß der künstlerische Gehalt des des »Toten Tags«, abgedruckt in: Ernst Barlach, Werk und
Dramas und der Lithographien der Kunstkritik Wirkung, S. 1 1 6 ff.
sowie dem kunstinteressierten Publikum weitge- 51 Barlach: Briefe I, S. 5 6 7
hend unverständlich erschien. Die ratlosen Reaktio- 52 Ebd., S. 6 5 4 f.
53 Vgl. die Rezensionen von Carl von Ossietzky, Emil Faktor,
nen der frühen Kritik werden in der Mißdeutung des
Julius Hart, Paul Wiegler und Max Osborn in: Ernst Barlach,
Toten Tages im Berliner Tageblatt als »russisches W e r k und Wirkung, S. 192 ff.
auf die Bühne kam 54 - was Alfred Döblin zu einer seiner Auffassung nach falschen Interpretationen
Polemik gegen die »Barlach-Hausse« provozierte 55 seines Werkes abzuwehren. 61
blieb Barlachs dichterischem Werk, im Gegensatz So unterschiedlich und widersprüchlich die Re-
zum plastischen, eine breitere Wirkung doch letzt- sultate, zu denen die literaturwissenschaftliche
lich versagt. 56 Barlach-Forschung gelangt ist, im einzelnen auch
A n diesem Tatbestand hat sich auch nach der ausfallen, 62 läßt sich gleichwohl nicht verkennen,
Wiederentdeckung von Barlachs Gesamtwerk nach daß in den Deutungsversuchen des zentralen The-
1945 im Grunde wenig geändert. Die immer wieder mas, das Barlach im Toten 7i?ggestaltet hat, ähnliche
unternommenen Versuche, Barlachs Stücke auf die bzw. synonyme Formulierungen häufig wiederkeh-
Bühne zu bringen, und die Fülle wissenschaftlicher ren: Der innere Konflikt des Sohnes zwischen
Publikationen zum dichterischen Werk des Künst- seinem Zugehörigkeitsgefühl zur physisch präsen-
lers beweisen jedoch, daß die in der Literatur häufig ten Mutter einerseits und seinem sehnsüchtigen
hervorgehobene Dunkelheit, die hermetische Meta- Streben nach dem fernen, göttlichen Vater anderer-
phorik und Symbolik seiner Dramensprache eine seits wird vielfach interpretiert als Ringen des
bleibende Herausforderung für das deutende Ver- Menschen um seine »Mittelstellung zwischen reiner
stehen darstellt. Stofflichkeit und reiner Geistigkeit« 6 3 In dieser
Merkwürdigerweise ist in den vielen literaturwis- Deutung steht der unbekannten Welt des Vaters als
senschaftlichen Arbeiten, die sich um eine interpre- Bereich des »Metaphysischen«, des »Transzenden-
tierende Deutung des Toten Tages bemühen, nie der ten« und »Geistigen« die Welt der Mutter als Sphäre
ernsthafte Versuch unternommen worden, die des »Irdischen«, »Trieb- und Erdhaften«, »Ungeisti-
Lithographien unter dem Gesichtspunkt für die gen« gegenüber. 64
Untersuchung heranzuziehen, daß hier eine Selbst- Die Betonung des antithetischen Verhältnisses
interpretation des Künstlers in einem anderen zwischen der Welt der Mutter und der Welt des
künstlerischen Medium vorliegen könnte. Diese Vaters mag zur Überwindung von Verständnis-
Tatsache läßt vermuten, daß viele Interpreten von schwierigkeiten beim Ablauf des dramatischen
der Einschätzung ausgehen, daß es sich bei den Geschehens im Toten Tag zunächst hilfreich
Lithographien um - vom Textgeschehen weitge- erscheinen. Dennoch fragt sich, ob die Interpreta-
hend unabhängige - bildliche Gestaltungen, also tion des Konflikts, in dem der Held steht und an
eigentlich nicht um Illustrationen handle. 57 dem er zugrunde geht, als Hin- und Hergerissensein
Barlach hat die Bezeichnung »Illustrations die er zwischen zwei sich wechselseitig ausschließenden
während der Arbeit an den Zeichnungen und Prinzipien, zwischen »Leibhaftigkeit« und »Geist-
Lithographien zum Toten Tag häufiger benutzte, 58
in einem Brief vom 2 7 . 8 . 1 9 1 2 selbst problemati-
siert:
54 1924 in den Münchener Kammerspielen und im Stadt-
Wir sind einig geworden, das Buch und die Lithographien theater Aachen
jedes für sich erscheinen zu lassen. Es sind doch keine 55 Döblin: Barlach-Hausse; abgedruckt in: Ernst Barlach,
Illustrationen«, nicht wahr? Und wenn das kleine Büchlein Werk und Wirkung, S. 290 ff.
dann so dabei herumliegt? 59 56 Jansen in: Ernst Barlach, Werk und Wirkung, S. 15 ff.
57 Explizit findet sich diese Auffassung bei Sello: Ernst
Wie aus dem Kontext hervorgeht, scheint Bar- Barlach, S. 206
lach die Bezeichnung >Illustration< weniger wegen 58 Barlach: B r i e f e I , S . 3 4 9
inhaltlicher als vielmehr wegen formaler Gesichts- 59 Ebd., S. 404
punkte, d. h. wegen des großen Formats der Litho- 60 Diese Auffassung wird auch vertreten von Isa Lohmann-
Siems in: Katalog des Ernst Barlach Hauses, S. 53
graphien, das ihre Zuordnung zu einem gedruckten
61 Mit besonderer Entschiedenheit wandte sich Barlach
Text erschwerte, als unangemessen empfunden zu gegen den Versuch einer psychoanalytischen Deutung des
haben. »Toten Tages«, Vgl. Barlach: Briefe I, S.480ff. Die meisten
Bei einer aufmerksamen vergleichenden Analyse Anfragen in bezug auf den »Toten Tag« beantwortete Barlach mit
dem Hinweis auf die Inkompetenz des Künstlers bei der
von Text und Lithographien zeigt sich, daß die
Deutung seines eigenen Werks; ζ. B. ebd., S. 562
Graphiken einen durchaus >erhellenden<, in diesem 62 Einen Uberblick über die Forschung geben: Kaiser: Der
Wortverständnis also illustrativen Charakter besit- Dramatiker Ernst Barlach, S. 7 ff.; Fleischhauer: Die Metaphern-
zen, 60 der sich für die Deutung des Textgehalts sprache, S. 9 ff.
vielleicht sogar als fruchtbarer erweist als die gele- 63 Kaiser: Der Dramatiker Ernst Barlach, S. 151
64 Diese Auffassung wird u.a. vertreten von: Dohle: Das
gentlichen schriftlichen Erläuterungsversuche zum
Problem Barlach, S . 2 1 ; Flemming: Ernst Barlach, S. 186; Grau-
Toten Tag, zu denen sich Barlach immer nur wider- cob: Ernst Barlachs Dramen, S.21; Kaiser: Der Dramatiker Ernst
willig und im Grund nur deshalb bereitfand, um die Barlach, S. 130
Flächen bereits wieder im Dunkeln zu versinken heit«77 in der häuslichen Gemeinschaft als vorder-
drohen, scheint es gleichsam gegen den Widerstand gründige Fassade erweist, verursacht im Subjekt ein
der aus den höhlenartigen Vertiefungen des Hinter- Gefühl der Verlorenheit und Isolation, das in seiner
grundes in den Vordergrund hineindringende Dun- Übermacht (ausgedrückt durch die Verdoppelung
kelheit anzukämpfen, gegen die es sich nur partiell »ganz allein als einziger«) und Undurchschaubarkeit
behaupten kann. Barlach behandelt die Dunkelheit so unentrinnbar erscheint wie ein mythisches Ge-
nicht als eine Funktion des Lichtes, sondern als ein schehen.
eigenständiges Phänomen, das physikalisch nicht Interessant sind in diesem Zusammenhang die
begründbaren Gesetzmäßigkeiten folgt. Die künst- zwei Entwurfszeichnungen zu der Lithographie
lerische Bearbeitung der dunklen Bildzonen durch »Die Mörderin« (Schll, 29). Diese Lithographie
vielfach übereinandergelegte Strichlagen, die in stellt die - in der Handlung des Dramas nicht
Richtung, Strichstärke und Duktus ständig vari- unmittelbar enthaltene - Verzweiflungstat der Mut-
ieren und so ein dichtes, die Bildfläche unregelmä- ter dar: die Tötung des Pferdes Herzhorn, das für
ßig rasterndes Geflecht bilden, 72 läßt die Dunkelheit den Sohn die leibhaftige Möglichkeit einer Befrei-
als eine sich bewegende und ihre Formen ständig ung aus seinem unglücklichen Zustand bedeutet,
verändernde Materie erscheinen, die sich wie Rauch auf die sich alle seine Hoffnungen richten. Einer der
oder Nebel an einer Stelle zu einem wolkenähnli- beiden Entwürfe (Sch III, 743) zeigt die Erstechung
chen Gebilde verdichtet, an anderer Stelle in dünne des Pferdes durch die Mutter vor dem Hintergrund
Schwaden auseinanderzieht und über den Boden einer weiten Fluß- und Hügellandschaft, die an
quillt, so daß dieser nicht mehr Stabilität als die Luft Landschaftszeichnungen aus Barlachs Russischen
über ihm zu besitzen scheint. In der Art, wie sie Taschenbüchern von 1906 erinnert. Auf der anderen
dabei auf die Figuren eindringt und ihre Konturen Entwurfszeichnung (Schill, 744) findet dieselbe
umgreift, indem sie sich deren Verlauf anpaßt, Szene in einem engen, niedrigen, finsteren Ver-
erschließt sich ihre Bedeutung als spezifische schlag statt, der dem Pferd jegliche Bewegungsfrei-
Grundbefindlichkeit, der die menschlichen Figuren heit zu beschneiden scheint.
unterworfen sind.
Daß Barlach diesen zweiten Entwurf als Vorlage
Diese Grundbefindlichkeit bezieht sich auf einen für die Lithographie benutzte, macht deutlich, wie
Zustand der Welt, der in dem Bild des Toten Tages konsequent er den Charakter des Hermetischen,
gefaßt ist: Unausweichlichen der Welt, in der die Gestalten
U n d wahrhaftig, der Tag hat den Sommer mit ins Grab
gefangen sind, und aus der heraus sich ihr Handeln
g e n o m m e n . Herbst! Da ist der Winter nicht weit, vielleicht begründet, herausarbeitet. Nur eine einzige Litho-
schon zum Abend, wer weiß!, 73 graphie (Sch II, 44) läßt die Möglichkeit eines Aus-
bruchs aus dieser Welt aufscheinen, indem das
sagt der Sohn an einer Stelle des Dramas. Auch durch die offene Tür auf den Boden des dunklen
die beiden anderen Akteure des Dramas, die Mutter Innenraumes fallende Licht die bildliche Verbin-
und der blinde Bettler Kule, erfahren die Welt als dung zu einem helleren >Jenseits< schafft.
eine, die sich verfinstert hat, die erkaltet und tödlich
In der Deutung des Inhalts jener wie eine mythi-
erstarrt ist. Die Mutter vergleicht die Welt mit einer
sche Gewalt erfahrenen Grundbefindlichkeit, unter
»Nebelhöhle«, einem stummen »Nichts«,74 und Kule
deren Einfluß die Menschen des Toten Tages stehen,
spricht vom »geschwärzten Glanz« und vom »Rauch
erschließt sich die historische Dimension von Bar-
vom glimmenden Grund des großen Leidens« als
Ursachen seiner Blindheit. 75 Ihren prägnantesten
Ausdruck findet diese Welterfahrung wohl in der 72 Im Vergleich zwischen Barlachs zeichnerischen Entwür-
Schilderung des Sohnes von seinem Irrgang im fen und den Lithographien wirken die Zeichnungen heller und
Nebel: zarter als die Drucke der Pan-Presse, die auch dunkler sind als die
klarer und durchsichtiger wirkenden Probedrucke. Vgl. Friedrich
... und mir schien, ich ginge ganz allein als einziger in aller Schult in: Ernst Barlach Werkverzeichnis Bd. 2, S. 13;
Welt. Da dachte ich, ein Nebelfall ist wie das Sterben eines Stubbe: Bemerkungen, S.87-96; Reutti: Bemerkungen zu Bar-
Gottes. Ein Todesgrauen. . . . d a schien mir: so m u ß es einem lachs Druckgraphik. In.(Ausst. Kat. Bremen 1968) Ernst Barlach,
Toten zu Mute sein, so im Ö d e n stand i c h . . . ich denke mir, so S. 12. Die Beschreibung der graphischen Behandlung der Bild-
müssen Blinde durch die Welt gehen, ewig umwallt von ihrem fläche trifft trotz der unterschiedlichen Wirkungen sowohl für
eigenen Nebel, der mit ihnen zieht wie ihr Leben selbst. So die Zeichnungen als auch für die Lithographien zu.
wenig wissen sie, woher er k o m m t und so wenig können sie von 73 Barlach: Dramen, S.69
ihm los. 76 74 Ebd, S.72
75 Ebd., S. 17
Die Verfinsterung der Welt, durch die sich die 76 Ebd., S.72
»anscheinende Verfassung von äußerlicher Sicher- 77 Barlach: Briefe I, S. 558
lachs Werk: Die fundamentale Einsamkeit des eine Rolle spielen - der Mutter, des Sohnes und des
Subjekts in einer stummen, öden Welt, die dem blinden Bettlers Kule - erweist sie sich als wichtig.
Streben des Menschen nach Verwirklichung seiner Im Sinne einer Korrektur der schematischen Eintei-
selbst in der positiven Auseinandersetzung mit der lung der Personen in »geistige« und »ungeistige«
Realität feindlich gegenübersteht und ihn in seiner Existenzen, wie sie in der Barlach-Literatur häufig
Suche nach Identität beständig auf sich selbst zu finden ist,83 zugunsten einer differenzierteren
zurückwirft, verweist auf eine geschichtliche Erfah- Betrachtung läßt sich das unterschiedliche Verhal-
rung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sich ten der drei Personen des Dramas, das ja nicht
diese als entfremdete und verdinglichte darstellt. individuell-psychologisch motiviert erscheint, als
Barlachs Werk erweist sich als frühe Verarbeitung Typisierung spezifischer menschlicher Lebenshal-
jener »Erfahrung der Verunsicherung, der Dissozia- tungen, d. h. unterschiedlicher Umgangsweisen mit
tion des Ich, der Zerrissenheit der Objektwelt, der jener Erfahrung deuten, die für alle drei Gestalten
Verdinglichung und Entfremdung von Subjekt und gleichermaßen Objektivität besitzt.
Objekt«, die laut Silvio Vietta »in dieser Radikalität So gesehen erscheint die auffällige Dominanz der
literaturgeschichtlich zum ersten Male im Expres- Gestalt der Mutter in den Lithographien, die bei
sionismus zur Darstellung« kommt. 78 einer interpretierenden Charakterisierung dieser
Vietta, der Barlach »zu den interessantesten Figur als »geistlos« im Grunde unverständlich blei-
Randerscheinungen des literarischen Expressionis- ben muß, erklärbar, nämlich als Resultat einer
mus« zählt, ohne allerdings näher auf ihn einzuge- intensiven Auseinandersetzung des Künstlers mit
hen, 79 hat in der Analyse von Werken bedeutender einer exemplarisch vorgeführten menschlichen
Expressionisten (u. a. Georg Heym, Gottfried Benn Verhaltensweise, die in ihrer Falschheit Ablehnung,
und Franz Kafka) nachgewiesen, wie sehr diese von in der Vergeblichkeit ihres Bemühens zugleich aber
der Erfahrung einer allumfassenden Entfremdungs- auch Anteilnahme auslöst:
situation geprägt sind, in der die Realität als eine Die erste Lithographie des Zyklus (Schll, 16)
verselbständigte, fremde Macht und das Indivi- zeigt im Mittelpunkt des Bildes die Gestalt der
duum als vereinzeltes, ohnmächtiges Objekt dersel- Mutter, die - auf den unsichtbaren Stufen einer in
ben erlebt wird. finstere Tiefe führenden Treppe stehend - nur mit
Die Ursachen dieser »spezifisch >modernen< Be- der oberen Körperhälfte über den Dielenboden
wußtseinsverfassung« liegen in einem komplizier- eines großen, kahlen Raumes aufragt. Dabei er-
ten historischen Zusammenhang ökonomischer, scheint der schwere, gedrungene Körper der Frau in
politischer, sozial-psychologischer und ideologi- der Vorderansicht, während der entschieden nach
scher Entwicklungsprozesse.80 Der kollektive Cha- rechts gerichtete Kopf die derben Gesichtszüge im
rakter der künstlerischen »Erfahrungs- und Verste- Profil sichtbar werden läßt. Durch die Art und
hensformen«, der sich in den literarischen Verarbei- Weise, wie sich die Frau mit der auffällig großen, fast
tungen bis in auffällige Übereinstimmungen der unförmig erscheinenden rechten Hand vom Boden
verwendeten Metaphern hinein nachweisen läßt,81 abstützt, teilt sich ihrer ruhigen Körperhaltung ein
ist sicherlich nur zu einem geringen Teil durch Moment innerer Anspannung mit.
wechselseitige literarische Beeinflussung zu erklä- Diese Darstellung bezieht sich auf die Eingangs-
ren. In vielen Fällen, speziell im Falle Barlachs, stellt szene des Dramas: Die aus dem Keller emporstei-
sich die Intersubjektivität der spezifischen Erfah-
rung von Wirklichkeit gerade durch die ausschließ-
liche Konzentration auf die eigene, vereinzelte 7 8 Vietta/Kemper: Expressionismus, S.21
Subjektivität, die allein Authentizität zu verbürgen 7 9 Ebd., S. 198
8 0 Ebd., S.21
vermag, her.82
81 Vgl. die bei Vietta/Kemper: Expressionismus, S. 58 f.
Die Deutung der eigenartigen Nacht- und Nebel- zitierten Beispiele und die im Text aufgeführten Zitate aus dem
atmosphäre des Toten Tages, die Barlach in den •Toten Tag«.
8 2 Barlach: Briefe I, S . 4 2 7 : »Daß Sie den .Toten Tag. so gut
Lithographien zu ebenso eindrucksvollen wie beun-
aufgenommen, hat mich sehr gefreut. Es macht mich immer ein
ruhigenden Bildern ausgestaltet, als eine quasi- wenig betroffen, wenn ich Ähnliches erlebe. Daß ich arbeite und
objektive Grundbefindlichkeit, der die Menschen zu meinem Ziel komme, ist ja eine Sache für sich, aber das andre,
gleichermaßen unterworfen sind, hat - wie gezeigt - deren Urteil man anerkennt, ihrerseits darin suchen und etwas
bereits Ansatzpunkte für eine historisch-problem- finden, ist höchst sonderbar. Man fühlt in Augenblicken solcher
Erfahrung, daß man doch nicht so ganz ein Ding für sich ist, fühlt
geschichtlich orientierte Fragestellung erkennen sich als Organ am größeren Leben und ist doch mit seinem
lassen. Auch als Ausgangspunkt für das Verständnis Egoismus und Bewußtsein so ganz für sich.«
der drei menschlichen Figuren, die im Toten Tag 83 Kaiser: Der Dramatiker Ernst Barlach, S. 187 f.
gende Mutter ruft nach dem Gnom Steißbart, in verhaltener Abwehr, die der von der Mutter abge-
dessen unsichtbarer und damit unkontrollierbarer wandte Blick oder die verschränkte Armhaltung
Anwesenheit sich für sie alles Unheimliche, Frem- ausdrückt. Selbst die Darstellung jener Szene, in der
de, Unfaßbare zusammenzufassen scheint, was die die Mutter dem Sohn seine alte Wiege vorweist, um
häusliche Atmosphäre des »Schmeichelnden, in ihm die Erinnerung an eine Zeit glücklicher
Wohlberatenen, Sich-aneinander-Genügenden« 84 Gemeinsamkeit wachzurufen (Sch II, 20), läßt keine
nach ihrem Gefühl bedroht. wirklich kommunikative Situation erkennen. Ob-
wohl sich die Gestalten von Mutter und Sohn hier
M u t t e r : Steißbart, sprich w e n i g s t e n s , daß d u nicht willst, s a g
nur, daß d u nichts s a g e n m a g s t . am ehesten zu einer homogenen Gruppe zusam-
Stille menschließen, gleiten ihre Blicke aneinander vor-
Mutter: D e i n e Blicke w a c h e n , das s p ü r ich in der E i n s a m k e i t . bei. Auch die Anwesenheit des aus dem dunklen
Ich m u ß dir eine Schelle a n h ä n g e n . D e i n e Z u n g e m u ß läuten. Hintergrund heraus die Szene lauernd beobachten-
E i n e n u n s i c h t b a r e n K n e c h t m u ß ich d u l d e n , aber ein s t u m m e r
den Hausgeistes Besenbein trägt dazu bei, der
ist mir z u w i d e r . 8 5
Begegnung zwischen Mutter und Sohn die Atmo-
So wie Barlach den G n o m Steißbart im Drama sphäre intimer Vertraulichkeit zu nehmen. 87
nur als Stimme auftreten läßt, bleibt die phanta- So abstoßend 88 die Gestalt der Mutter in der
stisch-groteske Gestalt auch für den Betrachter der Brutalität ihres Handelns gegenüber dem Sohn, den
Lithographien - abgesehen von einer Ausnahme sie sich als einzigen Garanten ihres eigenen Lebens-
(Schll, 17) - unsichtbar. Barlach gibt die Situation sinns und ihrer eigenen Daseinsberechtigung zu
also aus der Perspektive der Mutter heraus wieder, unterwerfen sucht, 89 von Barlach auch dargestellt ist,
wenn er auf zwei weiteren Lithographien (Sch II, 39 so besitzt sie gleichwohl eine gewisse tragische
und 40) ihre angestrengt und verzweifelt ins Leere Größe, die zu berühren vermag:
greifenden Gebärden festhält. Diese ausgreifenden
J a , als ich dich rufen hörte aus d e m N i c h t s heraus, schrie es in
und doch nichts greifenden Gebärden verbildlichen m i r : siehst du, eine S t i m m e hat die Welt, s o n s t ist sie wie eine
die Unangemessenheit der Verhaltensweise der N e b e l h ö h l e . D e i n e S t i m m e g i b t ihr K l a n g , d e i n e einzige
Mutter, die sich in der Dramenhandlung im bestän- S t i m m e . Alles, was die W e l t an Schall hat für m i c h , klingt so,
wie d u riefst, s o n s t ist sie mir s t u m m ! D e n k e a l s o , J u n g e , wie ich
digen Versuch geltend macht, den - unangenehme
m i c h über d e i n e S t i m m e freute, es schrie in m i r : die W e l t lebt
Wahrheiten aussprechenden und sie damit perma- n o c h , u n d ich s p ü r t e ihr L e b e n in mir, als wäre m e i n H e r z eine
nent verunsichernden - G n o m einzufangen, festzu- G l o c k e u n d b e g a n n v o n selbst zu zittern u n d zu k l i n g e n . 9 0
halten, einzusperren oder mundtot zu machen. Die
Mutter will - so ließe sich ihr Umgang mit Steißbart Diese Sätze der Mutter machen betroffen auf-
deuten - das Unfaßbare, Fremde, Beunruhigende grund des Ausdrucks einer verzweifelten Angst - an
und Verunsichernde, dessen Existenz sie ebenso wie anderer Stelle sagt die Mutter: »Siehst du nicht an
die beiden anderen Personen spürt, gewaltsam aus meinen Augen, daß eine blutsaugende Angst in
ihrem Lebenskreis eliminieren, indem sie es mich gekrochen ist?« 91 - vor dem Alleinsein in einer
be>greifbar< und damit manipulierbar zu machen leeren, leblosen Welt. Eine ähnlich starke Wirkung
versucht. geht von einigen der Lithographien aus: So beein-
drucken Darstellungen wie die der vor dem schla- darauf, durch die positive Erfahrung des Eingebun-
fenden Sohn knieenden Mutter in ihrer vom Licht denseins seiner Existenz in einen universellen Sinn-
hinterfangenen dunklen, blockhaften Monumenta- zusammenhang 9 5 aus der Not des entfremdeten
lität (Sch II, 27) oder wie die der schuldbewußt die Daseins befreit zu werden, als Illusion, und die
Spuren ihrer Tat beseitigenden Mörderin (Sch II, 33, darauf gegründete Lebenshaltung als nicht trag-
34) ebenso wie die letzte Darstellung des Zyklus, in fähig.
der die Frau inmitten eines leeren, sich verfinstern- Die aufeinanderfolgenden Selbstmorde von Mut-
den Raumes mit weit ausgebreiteten, nirgends Halt ter und Sohn am Ende des Dramas zeigen, daß die in
findenden Armen in das Nichts ihres eigenen dem Verhalten der beiden Personen exemplarisch
Schattens stürzt (Sch II, 46), als grandiose Bilder vorgeführten Lebensprinzipien zum Scheitern ver-
einer Situation der äußersten Verlassenheit. urteilt sind, weil in ihnen - allerdings auf sehr
Gegenüber der markanten, kraftvollen Erschei- verschiedene Art und Weise - versucht wird, die
nung der Mutter tritt die Gestalt des Sohnes, deren objektive Geltung der Erfahrung des sinnentleerten,
Darstellung von Blatt zu Blatt nur wenig variiert, in entfremdeten Daseins durch einen subjektiven
den Lithographien eher in den Hintergrund. So als Bewußtseinsakt für die eigene Person außer Kraft zu
schwanke der Boden unter ihm, steht der Sohn mit setzen.
leicht eingeknickten, breit auseinandergestellten Auch wenn in dieser Interpretation die Beant-
Beinen da; die Arme hängen am Körper herab und wortung der Frage, worin die Lebensfähigkeit der
das Gesicht ist wie suchend, fragend oder lauschend Haltung besteht, die die dritte Person des Stückes,
emporgerichtet (Sch II, 23, 4 0 , 4 1 , 4 2 , 4 4 ) . In dieser der blinde Bettler Kule, repräsentiert, bereits mit-
Körperhaltung, die die Empfindung einer tiefen, formuliert ist, soll das Verständnis dieser Gestalt
den Körper geradezu lähmenden Verunsicherung ebenso wie das der beiden anderen aus der Betrach-
und zugleich die einer verzweifelt-sehnsüchtigen tung der lithographischen Darstellungen heraus
Erwartung ausdrückt, manifestiert sich die geistige entwickelt werden, um auch in diesem Fall die
Lebenshaltung des Sohnes, die ebenso wie die der Funktion der Interpretationshilfe deutlich zu
Mutter zum Scheitern verurteilt ist: So sehr der machen, die die Bildentwürfe in bezug auf das
Sohn von der Gewißheit durchdrungen ist, daß »die Textverständnis besitzen:
anscheinende Verfassung von äußerlicher Sicher- Innerhalb der Lithographienfolge gibt es zwei
heit umwittert ist von Verborgenheiten, in sich Blätter, die den Bettler Kule in einer Gesprächssi-
Unsicherheit und fremde Wesentlichkeiten birgt«, 92 tuation darstellen, wobei das eine Mal die Mutter,
so sehr er die Notwendigkeit in sich verspürt, sich das andere Mal der Sohn als Gesprächspartner
aus der Lebenslüge der mütterlichen Existenz zu fungieren.
befreien, so wenig vermag er die mit der Emanzipa-
Auf dem dritten Blatt der Folge (Sch II, 18)
tion von dieser Sphäre verbundene Situation der
erscheinen die bildfüllenden Gestalten der Mutter
Vereinsamung und Bodenlosigkeit, die er bei sei-
und des Bettlers im unbestimmten Zwielicht eines
nem Spaziergang im Nebel erfährt, zu ertragen:
kahlen Raumes, der durch eine im linken oberen
Bildwinkel sichtbare Türöffnung mit einem helle-
Es hängt eine große Trauer überall, wer sich hineinverirrt,
dessen Mut geht es wie seinen Augen, seine Kraft schwindet
ren, wohnlicheren Raum verbunden ist. Die beiden
vor unvermeßlichem Verzagen. ... Nein, es ist eine Lust zu Gestalten sind in Vorderansicht, auf einer niedrigen
sehen — die liebe Hütte nickt mit allen W ä n d e n wie mit Bank vor einer dunklen Wand nebeneinander sit-
freundlichen Gesichtern und redet mit ihren leisen Lichtern zend, wiedergegeben.
zu den Augen, die im Schrecken der Blindheit gestarrt
haben.' 3 Die ruhig und undramatisch wirkende Situation
und die in der blockhaften Geschlossenheit ihres
In seiner Schwäche setzt der Sohn alles in die Umrisses zunächst sehr gleichförmig und gleichge-
trügerische Hoffnung auf die befreiende Botschaft wichtig erscheinenden Gestalten lenken die Auf-
seines göttlichen Vaters: merksamkeit des Betrachters auf die Differenzen
Abb. 14: Lithographie (26,3 x 33,5 cm) von Ernst Barlach aus der Mappe
»Der tote Tag«. Berlin 1912(10. Werk der Pan-Presse)
innerhalb der Körperhaltungen. Die Körperhaltung Innere Ausgeglichenheit und Gelassenheit als
der Mutter wird geprägt von dem inneren Wider- Merkmale der Haltung dieser Gestalt, die auch in
streit gegensätzlicher Bewegungsimpulse. Im Ge- der Darstellung des ins Gespräch mit dem Sohn
gensatz zur von der Gestalt des Bettlers wegführen- vertieften Bettlers (Schll, 22) zu beobachten sind,
den seitlichen Drehung der unteren Körperhälfte weisen auf die Lebenskraft hin, die Kule gerade in
wendet die Frau ihren tief zwischen den runden seiner Position des absoluten Außenseiters, des
Schultern sitzenden Kopf - wie wider Willen - halb jenseits aller sozialen Bindungen existierenden
zu dem neben ihr Sitzenden hin, so daß ihr Gesicht Fremden, Identitätslosen 96 besitzt. Kules Bettler-
mit dem starren, abweisenden, nach innen gekehr- existenz und Blindheit sind Zeichen einer spezifi-
ten Ausdruck im Dreiviertelprofil sichtbar wird. Die schen Lebenshaltung, deren Widerstand gegen den
steif nach unten gestreckten Arme und die ver- als verhängnisvolles Unglück empfundenen Zu-
krampft ineinandergelegten Hände, die eine innere stand der Welt darin besteht, sich jeder Form des
Anspannung der Frau artikulieren, kontrastieren in subjektiven Mitwirkens und der subjektiven Beteili-
ihrer Härte zu den weichen Rundungen und Vertie- gung daran zu verweigern.
fungen, die der bodenlange Rock über den breit
Ich habs nicht versäumt, mich umzusehen, alles Leere in mir,
auseinander gestellten Beinen formt. alle Scheunen drinnen haben meine Augen vollgerafft. Rauch,
Im Gegensatz zur Haltung der Mutter, die derje- Rauch Rauch macht alles schwarz, Rauch vom glimmenden
nigen der Holzskulptur »Sorgende Frau« (1910) Grunde des großen Leidens. Wie sollte ich mich am
geschwärzten Glanz ergötzen! Nein, am Ende mied ich ihn zu
ähnelt, bildet die des Bettlers ein Bild der entspann- schauen wie etwas Unheiliges. 97
ten, ausgeglichenen Ruhe. Die Stellung der neben-
einanderaufgestellten Beine und der angewinkelten
Arme ist völlig symmetrisch an der Mittelachse des
aufgestützten Stabes ausgerichtet, auf dessen Knauf 96 Barlach: Dramen, S. 16 : Kule:»Ich weiß nicht, wer ich bin.
die übereinandergelegten Hände des Mannes ruhen. Ich würde lügen, wenn ich dir meinen Namen sagte, daß hieße
eine Maske vornehmen und durch einen zweiten Mund spre-
Aus dieser ganz auf einen inneren Kern zentrierten,
chen.« Innerhalb des Dramas wird Kules Name an keiner Stelle
in sich ruhenden Haltung führt nur die Bewegung genannt.
des Kopfes heraus, der sich der Frau zuwendet. 97 Ebd., S. 16 f.
Mit diesen Worten erklärt der Bettler Kule seine 3.11 Marcus Behmer, 4 0 Radierungen zu:
Blindheit, und an anderer Stelle sagt er: Voltaire, »Zadig oder Das Geschick,
Sieh, meine Augen, das waren zwei Spinnen, die saßen im Netz Eine morgenländische Geschichte«.
ihrer Höhlen und fingen die Bilder der Welt, die hineinfielen, Übertragen von Ernst Hardt.
fingen sie und genossen ihre Süße und Lust. A b e r je mehr
kamen, um so mehr wurden ihrer, die waren saftig von
1 9 1 2 (11. Werk)
Bitterkeit und fett von Gräßlichkeit, und endlich ertrugen die
»Meine Bücher sind fast ausnahmslos aus meiner
Augen nicht mehr solche Bitterkeiten, da haben sie den
Eingang zugewoben saßen drinnen, hungerten lieber und
Initiative entstanden«, schrieb Marcus Behmer
starben. 98 1929·1 Diese Feststellung trifft auch auf die Illustra-
tionen zu Voltaires Erzählung Zadig ou La destinee
Kules Blindheit bedeutet kein Augenverschlie- zu. Die ersten Radierungen zum Zadig führte
ßen vorder »Bitterkeit« und »Gräßlichkeit« der Welt, Behmer 1908 aus; 2 sechs von diesen Arbeiten stellte
sondern im Gegenteil die Unterwerfung unter die er bereits in der 16. Ausstellung der Berliner Seces-
Erkenntnis: » . . . die Welt ist Leiden.« 99 Diese Er- sion im Winter 1908 dem Publikum vor.3
kenntnis als Lebensprinzip des eigenen Daseins zu Die Anregung zur Beschäftigung mit Voltaires
akzeptieren und zu ertragen, ist nur möglich um den philosophischer Erzählung ging möglicherweise
Preis des freiwilligen Verzichts auf die Befriedigung von dem Schriftsteller und Übersetzer Ernst Hardt
des eigenen Glücksverlangens, des Bedürfnisses aus, dessen Übersetzung von Voltaires Erzählungen
nach Genuß von »Süße« und »Lust« und nach 1908 im Berliner Verlag Wiegandt & Grieben
Verwirklichung der individuellen Wünsche und erschien. Ernst Hardt und Marcus Behmer hatten
Zwecke in der Welt: Kules Hand, die sich vom sich bereits vor der Jahrhundertwende in Berlin
Wanderstab in die Welt, die Leiden ist, führen läßt, kennengelernt und waren seitdem miteinander
»starb vom Verzichten.« 100 Im Gegensatz zur befreundet. 4 Behmer entwarf für die Ausgaben von
Lebenshaltung der Mutter, die in ihrem Aufbegeh- mehreren literarischen Arbeiten und Übersetzun-
ren ebenso gewaltsam wie ohnmächtig ist, und des - gen, die Hardt nach 1900 im Insel-Verlag veröffent-
nur in der Fiktion des Erlöstwerdens lebensfähigen lichte, ornamentalen Schmuck, Vignetten, Initialen,
- Sohnes liegt in Kules passiver Verweigerungshal- Einband- und Titelgestaltungen. 5 So schuf er ζ. B.
tung die einzige Chance, dem von der Welt ausge- die Illustrationen und den Buchschmuck zu Hardts
henden »Finsternisschrecken«, 101 d.h. der Not des Übersetzung von Balzacs Erzählung Das Mädchen
der Welt und damit sich selbst entfremdeten mit den Goldaugen, die der Insel-Verlag 1904 publi-
Daseins, nicht zu unterliegen. Kules Position zierte. 6
erschöpft sich nicht in resignativer Entsagung,
sondern birgt in sich die utopische Hoffnung auf
Veränderung, die sich nicht an die Illusion eines 9 8 Ebd., S. 23 f.
jenseits der eigenen Welterfahrung liegenden posi- 9 9 Ebd., S. 17
tiven Sinnzusammenhangs, sondern ausschließlich 1 0 0 Ebd., S. 63
an das transzendierende Moment knüpft, das in der 1 0 1 Ebd., S . 2 5
102 Ebd., S. 30
Erkenntnis der Falschheit des Bestehenden liegt:
1 Brief an Gotthard Laske vom 1 0 . 3 . 1 9 2 9 ; in: Behmer:
Grundsätzliches, nach S. 72
Ja, wenn man das Falsche falsch heißen kann, muß doch das
2 Im Klingspor-Museum in Offenbach a. M. befindet sich
Rechte in einem stecken. Irgendeine Wahrheit muß es ja
die Fotographie des »CEuvre Grave. MB« in der Handschrift
geben, oder sollte es gar keine Wahrheit geben? Das wäre, als
Behmers, in dem - nach einer schriftlichen Auskunft von Hans
sagte man, es gibt keinen Baum, weil das Ding auch anders Adolf Halbey - unter dem Jahr 1 9 0 8 folgende Radierungen
heißen könnte, aber der Stamm und die Wurzeln und die verzeichnet sind: Nr. 57 »Zadig-Titel (Französisch) (Voltaire)«,
Blätter, die sind doch d a ? 1 0 2 Nr. 58 - D e r Basilisc (Zadig)«, Nr. 59 »Der Papagei (Zadig)«, Nr. 6 0
»Der Becher (Zadig)«, Nr. 61 »Das Bild des Buckligen (Zadig)«,
In der Erkenntnis der allgemeinen Qualität, d.h. Nr. 65 »Die Nase (Zadig)«, Nr. 82 »Das Hündchen der Königin
der durch die Falschheit der Welt bedingten objek- (Zadig)«, Nr. 8 9 »Der Engel Jesra (Zadig)«. Unter dem Jahr 1 9 0 9 ist
tiven Zwangsläufigkeit der Erfahrung einer auf sich die Radierung Nr. 92 »Astarde am Bach (Zadig)« und unter dem
selbst zurückgeworfenen Subjektivität entwickelt Jahr 1 9 1 0 die Radierung Nr. 1 0 8 »Spielerei (Arztprobe. Der Arzt
F. Zadig)« verzeichnet.
Kule die Fähigkeit, die Einsamkeit und Verloren-
3 Katalog der sechzehnten Ausstellung der Berliner Seces-
heit der eigenen Existenz in der Zuwendung zum
sion, Nr. 8 1 - 9 6
Schicksal anderer Menschen, in der Anteilnahme 4 Vgl. die Angaben zur Biographie von Ernst Hardt in:
und im Mitleiden an ihrer Not zu überwinden. Ernst Hardt, Briefe an Ernst Hardt
5 Verzeichnis der Ausgaben in:
Der Insel-Verlag, Eine Bibliographie, Nr.662, 670, 672, 6 7 5
6 Ebd., Nr. 8 6
Als Marcus Behmer Anfang 1907 von Ernst Pan-Presse als Illustrator zu gewinnen, ist eine
Hardt das Manuskript des Dramas Tantris der Narr Frage, die gleichfalls offen bleiben muß.
zugesandt wurde, dankte er dem Verfasser in einem Für Paul Cassirers verlegerische Entscheidung
Brief, der neben einer ausführlichen Kritik auch die lassen sich mehrere Begründungen, die dabei mögli-
Bitte enthielt, die künstlerische Ausstattung der cherweise eine Rolle spielten, anführen:
geplanten Buchausgabe einschließlich der Textge- Z u m einen hatte sich der Künstler durch zahlrei-
staltung übernehmen zu dürfen, da er »so gerne mal che graphische Arbeiten, zu denen neben den
ein schönes Buch machen« wolle.7 Hardt willigte Zeichnungen zu Oscar Wildes Salome 1903 und zu
ein, und so erschien das Drama noch im selben Jahr Balzacs Erzählung Das Mädchen mit den Goldaugen
in einer von Marcus Behmer gestalteten Ausgabe 1904 auch die bereits vorliegende Radierungen zum
des Insel-Verlags.8 Zadig zählten, als geistreicher Graphiker und Buch-
Sicherlich ließ Ernst Hardt Marcus Behmer auch illustrator einen Namen gemacht. 13 Zum anderen
seine Voltaire-Übersetzung zukommen. 9 Da der war wegen Behmers Interesse an buchkünstleri-
Künstler ständig unter Geldsorgen litt und sich schen Gestaltungsproblemen und wegen seiner -
daher stets um neue Aufträge bemühen mußte, wäre durch zahlreiche Arbeiten für den Insel-Verlag
es denkbar, daß er die ersten Radierungen zu gewonnenen - Erfahrungen auf diesem Gebiet zu
Voltaires - offenbar in der Originalsprache gelese- erwarten, daß hier ein in der Abstimmung zwischen
nen 10 - Erzählung in der Hoffnung entwarf, auf- Text und Bild harmonisches und somit auch hohe
grund seiner persönlichen Beziehung zu Hardt bibliophile Ansprüche zufriedenstellendes illu-
einen Auftrag zur Illustration seiner Voltaire-Über- striertes Buch entstehen würde. Auch der Text, den
setzung zu erhalten. Für diese Vermutung lassen Marcus Behmer als Illustrationsvorlage gewählt
sich allerdings in den veröffentlichten Teilen des hatte, begünstigte möglicherweise Paul Cassirers
Briefwechsels zwischen Ernst Hardt und Marcus Entscheidung zur Veröffentlichung der Illustratio-
Behmer keine Anhaltspunkte finden. Auch durch nen, da sich dem Verleger so die Gelegenheit bot,
die 1908 im Insel-Verlag erschienene Publikation einen Beitrag zu der - auch von anderen deutschen
einer Ausgabe aus Voltaires Briefwechsel, für die Verlagen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg
Marcus Behmer den Einband gestaltete, 11 könnte unterstützten - Wiederentdeckung der literari-
der Künstler eine Anregung zur Beschäftigung mit schen Bedeutung des in Deutschland lange Zeit
dem literarischen Werk des französischen Aufklä-
rers erhalten haben. Wegen seiner bedrängten finan-
7 Brief an Ernst Hardt vom 9 . 2 . 1 9 0 7 ; abgedruckt in: Briefe
ziellen Lage zog Behmer im Frühjahr 1909 von an Ernst Hardt, S. 50
Florenz, wo er seit 1905 hauptsächlich gelebt hatte, 8 Vgl. ebd., S. 51 ff. die Briefe von Marcus Behmer an Ernst
nach Berlin um. Die Tatsache, daß in den Jahren Hardt vom 19.2.1907, vom 16.3.1907, vom 2 5 . 3 . 1 9 0 7 und vom
1909 und 1910 jeweils nur eine weitere Radierung 28.5.1907, in denen er sich detailliert zur Ausstattung der
Ausgabe des Dramas äußert.
zum Zadig entstand, 12 läßt vermuten, daß Behmer
9 In der Regel ließ Ernst Hardt seinen Freunden seine
den Plan zur Illustration von Voltaires Erzählung neuesten Arbeiten zukommen. In einem Brief vom 8 . 1 1 . 1 9 0 8
zwar weiterhin verfolgte, aber noch keinen Verleger (ebd., S.67f.) dankte Otto Brahm ihm für die Zusendung der
gefunden hatte, der an einer Veröffentlichung der Voltaire-Übersetzung.
Radierungen ernsthaft interessiert war. 10 Diese Vermutung stützt sich einerseits auf die Tatsache,
daß Behmer für seinen Titelblatt-Entwurf von 1908 (vgl. Anm. 2)
Die Frage, zu welchem Zeitpunkt und aufgrund den französischen Titel wählte, andererseits auf die Beobachtung,
von welchen Überlegungen Paul Cassirer die Ent- daß der in einer anderen Radierung von 1908 dargestellte Becher,
scheidung traf, Voltaires Zadig mit den Illustratio- den Zadig als Belohnung für seine Großmut erhält, die französi-
sche Inschrift »Au Genereux Zadig· trägt.
nen von Marcus Behmer in die Publikationsreihe
11 Vgl.: Der Insel-Verlag, Eine Bibliographie, Nr. 1849
der Pan-Presse aufzunehmen, läßt sich mangels 12 Vgl. A n m . 2
schriftlicher Unterlagen nicht genau beantworten. 13 Brief an Hermann Struck vom 27. 6. 1911 (Universitäts-
Aus einem Brief des Künstlers an Hermann Struck bibliothek Münster)
am 27.6.1911 geht lediglich hervor, daß zu diesem 14 Brief an Hermann Struck vom 12. 10. 1911 (Universitäts-
bibliothek Münster)
Zeitpunkt der Plan zur Veröffentlichung von Vol-
15 Vgl. Karl Schefflers Urteil über Behmers Arbeiten in:
taires Erzählung mit Behmers Radierungen als Kunst und Künstler 8 (1909/1910), S.571: .Ein feiner Ge-
Werk der Pan-Presse bereits feststand. 13 Ob Her- schmackskünstler, bei dem alles gespitzt und gewetzt erscheint;
mann Struck, der nach Behmers Worten »so freund- aber artistisch geschmackvoll nicht nur im Technischen und
lich« war, »die Patenstelle bei dem Buch zu überneh- Künstlerischen, sondern auch im Empfinden und Denken.«
Dieses Urteil zitierte Hermann Struck in dem Text, den er für den
men«,14 Paul Cassirer auf den Gedanken gebracht
Prospekt des Paul Cassirer Verlags zum 11. Werk der Pan-Presse
hatte, Marcus Behmer für die Publikationsreihe der verfaßte.
verkannten französischen Aufklärers zu leisten,16 zu Daß Marcus Behmer in dem bereits erwähnten
dem sich Paul Cassirer aus besonderen Gründen Brief vom Juni 1911 ebenso wie in zwei im Oktober
verpflichtet gesehen haben könnte: In dem 1910 1911 verfaßten Briefen Hermann Struck darum bat,
veröffentlichten Essay Der französische Geist17 hatte seine Interessen gegenüber dem Paul Cassirer Ver-
Heinrich Mann, der wohl der angesehenste Autor lag zu vertreten, legt die Vermutung nahe, daß die
des Paul Cassirer Verlags vor dem Ersten Weltkrieg Beziehung des sensiblen, verletzlichen und mitun-
war, den Vergleich zwischen Voltaire und Goethe, ter mißtrauisch reagierenden Künstlers22 zu Paul
der seit dem 19-Jahrhundert innerhalb der Voltaire- Cassirer, dessen dynamisches und impulsives Tem-
Rezeption in Deutschland immer wieder angestellt perament auf seine Zeitgenossen ebenso imponie-
und in der Regel zugunsten des deutschen Dichters rend wie einschüchternd wirken konnte, eher
entschieden worden war,18 aufgegriffen und für eine schwierig war. Behmers Brief an Hermann Struck
neue, Voltaire gegenüber Goethe ins Recht set- vom 27.6.1911 stellt für die Dokumentation der
zende Beurteilung plädiert. Im Widerspruch zu den Publikationstätigkeit der Pan-Presse eine wichtige
tradierten Vorurteilen des Voltaire-Bildes in der Quelle dar, weil der Künstler in ihm konkrete
deutschen Literaturkritik, die Voltaire poetische Vorschläge für die Berechnung der Verkaufspreise
Kraft, Geistes- und Gefühlstiefe sowie Charakterfe- des 11. Werks und für die Honorierung seiner
stigkeit absprachen,19 würdigte Heinrich Mann den Radierungen zur Sprache bringt. Interessant ist, daß
französischen Aufklärer als einen Literaten, der sich Behmer auf die Preiskalkulation Einfluß zu nehmen
von Goethe gerade durch die »Leidenschaft des versuchte, indem er den Wert seiner Arbeiten
Geistes« unterscheide, mit der er sich für die gemäß dem Grad seiner öffentlichen Anerkennung
praktische Verwirklichung der in seiner Dichtung
als Künstler im Vergleich zu Jules Pascin und Lovis
vertretenen Prinzipien der Gerechtigkeit und
Corinth bestimmte:
Wahrheit eingesetzt habe.
Lieber Herr Struck,
Im Vergleich zwischen Voltaire und Goethe Eben sehe ich, daß die Berechnung des >Zadig< doch wohl
begründete Heinrich Mann seine Parteinahme für insofern noch verändert werden müsste, als die Auflage auf
den sich seiner politischen Verantwortung bewuß- 60 Luxus von M. 100.-
(etwa!)
ten und sich zu ihr bekennenden Schriftsteller, die
und 250 Bütten von M. 60.-
er in dem Essay Geist und Tat - einem im Januar erhöht würde.
1911 in Paul Cassirers Zeitschrift Pan veröffent- Der Pascin kostet Luxus (60 Exempl.) M. 120
lichte Aufsatz,20 der von vielen expressionistischen und gew. Ausgab. (250 Exempl.) M. 80
Schriftstellern als wichtige Begründung ihres und dabei sind das noch nicht einmal >Original.-Lithogra-
Selbstverständnisses als Intellektuelle rezipiert
wurde - mit der Forderung verknüpfte, daß sich
16 Neben den beiden bereits im Text genannten Veröffentli-
die zeitgenössischen Schriftsteller als Vertreter des
chungen - Voltaires Erzählungen, Berlin: Verlag Wiegandt &
Geistes im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit Grieben 1908; Voltaires Briefwechsel, Leipzig: Insel-Verlag 1908
mit dem Volk gegen die »Herrenkaste« verbünden - sind drei illustrierte Ausgaben von Voltaires Erzählung »Can-
müßten. dide ou L'Optimisme«, die zwischen 1900 und 1914 in Deutsch-
land publiziert wurden, zu erwähnen: 1901 erschien eine zwei-
Die Veröffentlichung von Voltaires Erzählung bändige Ausgabe im Münchener Verlag Schupp mit Illustratio-
Zadig ou La destinee mit den Illustrationen von nen von Chr. Wild, 1912 brachte der Georg Müller Verlag,
Marcus Behmer in der Publikationsreihe der Pan- München, in der Reihe der »Bücher der Abtei Thelem« eine
Presse könnte von Paul Cassirer daher auch als Ausgabe mit Nachdrucken der Kupfer von Chodowiecki heraus,
Unterstützung der von Heinrich Mann geforderten und 1913 erschien im Insel-Verlag, Leipzig, eine Ausgabe mit
12 Holzschnitten von Max Unold.
Rehabilitierung des französischen Aufklärers inten- 17 Heinrich Mann: Der französische Geist. In: Der Sozialist 2,
diert gewesen sein, dessen Erzählungen wegen ihrer 11(1910). Dieser Essay wurde u. a. in der Zeitschrift »Die Aktion«
durchaus nicht larmoyant, sondern geistreich und 2 (1912), Sp. 1 6 0 7 - 1 6 1 1 , wieder abgedruckt und unter dem Titel
witzig vorgetragenen skeptischen und zugleich die »Voltaire-Goethe« in die Essay-Sammlung von Heinrich Mann
Hoffnung auf die Möglichkeit einer vernunftbe- »Macht und Mensch«, München 1919, aufgenommen.
18 Vgl. Brockmeier: Fürstendiener, S . 4 6 9 - 4 9 0 ; S.477 ff.
stimmten menschlichen Praxis bewahrenden Welt-
19 Ebd., S. 479 f.
sicht von vielen literarisch interessierten Zeitgenos- 20 Heinrich Mann: Geist und Tat, S. 1 3 7 - 1 4 3
sen, u.a. auch von den Künstlern Paul Klee und 21 Vgl. Wackermann: Die beste der Welten, S. 16-2 2; S. 20 ff.;
Alfred Kubin, in den Jahren vor und nach dem Lammers: Bild und Wort, S.62ff.; Zur Voltaire-Rezeption von
Ersten Weltkrieg als ihrem eigenen Weltverständ- Paul Klee vgl.: Tagebücher von Paul Klee, S. 205,250, 266; Klee:
Briefe, Bd. 1, S. 571, 582
nis nahestehende künstlerische Gestaltung ent-
22 Vgl. die Charakterisierung des Künstlers von Renate
deckt wurden.21 Müller Krumbach in: Marcus Behmer in seinen Briefen, S. 7 - 9
phien, sondern lithographische Reproductionen von Zeich- Erscheinungsdatums begründete, finden durch die
nungen.
Beobachtungen, die sich bei der Betrachtung der
Die Auflage der Pan-Presse ist immer 6 0 Luxus- und 2 5 0
andere Exemplare. Die gewöhnliche Ausgabe der Judith - mit
Radierungen26 ergeben, ihre Bestätigung:
22 Lithogr. - allerdings von Corinth - kostet M. 180., die In der Tat weisen die Z<2i/zg-Radierungen, vor
Luxusausgabe M. 300, - also wäre M. 6 0 resp. Μ. 100. vielleicht allem die bereits 1908 entstandenen Arbeiten,
nicht zu hoch? - Verzeihen Sie, daß ich Sie so nochmals
deren Zeichnung im Vergleich zur fast durchsichtig
bemühe, durch die Bitte, die Calculation daraufhin zu ändern,
aber es scheint mir doch so eher die Möglichkeit für Herrn
zarten Linienführung in den späteren Entwürfen
Cassirer, auf die Sache einzugehen. - Als Honorar also für die gröber und unruhiger wirkt, manche Details auf, in
Platten je M. 5 0 = Μ 1 2 0 0 - und M. 3 0 0 für die Besorgung des denen Unsicherheiten des Künstlers bei der zeich-
Druckes, an der mir ja, wie gesagt, gerade besonders viel nerischen Darstellung sichtbar werden.
gelegen ist! 2 3
Ein wohl noch größeres Problem innerhalb seines
Unstimmigkeiten zwischen Marcus Behmer und Schaffens war für Behmer der von ihm selbst
Paul Cassirer bzw. seinen Verlagsmitarbeitern erga- konstatierte Mangel an »innerer Vorstellung«, der
ben sich in mehreren Fragen: nicht nur seine langsame Arbeitsweise, sondern
Hans Adolf Halbey berichtet in seinem Buch auch die von vielen Kunstkritikern hervorgehobe-
Marcus Behmer als Illustrator, daß der Künstler für nen und von Behmer selbst freimütig zugegebenen
das 1908 entstandene Blatt mit der Darstellung des eklektischen Züge in seinen Graphiken verständ-
skurrilen Goldhündchens, »das zu seinem großen lich macht.27 Behmer war zur Aktivierung seiner
Ärger von einem Mitarbeiter des Verlags Paul visuellen Vorstellungskraft so sehr auf die Anregung
Cassirer seiner >perversen< Gestalt wegen abgelehnt durch Bilderfindungen anderer Künstler angewie-
worden war«, eine neue Radierung liefern mußte.24 sen, daß man zu Recht von einer gewissen Unselb-
Zu Differenzen zwischen dem Künstler und dem ständigkeit in der Produktivität seiner eigenen
Verlag kam es auch im Zusammenhang mit der bildlichen Phantasie sprechen kann. Gleichwohl
Planung des Erscheinungsdatums des 11. Werks war Behmer kein bloß epigonaler und eklektischer
der Pan-Presse. Paul Cassirer hatte zunächst die Künstler. Die Stärke seiner künstlerischen Bega-
Absicht, den Zadig noch rechtzeitig vor dem Weih- bung bestand nämlich darin, daß er - wie Hans Adolf
nachtsfest 1911 auf den Buchmarkt zu bringen. In Halbey in der Analyse der Zeichnungen zu Oscar
einem Brief vom 12.10.1911 bat Marcus Behmer Wildes Salome nachgewiesen hat28 - die Anregun-
Hermann Struck darum, sich beim Verleger für eine gen, die er aus den graphischen Arbeiten anderer
Verschiebung des geplanten Zeitpunkts der Veröf- Künstler gewann, zu eigenständigen Interpretatio-
fentlichung einzusetzen, wobei er sehr ehrlich über nen der jeweiligen Illustrationsvorlage verarbeitete,
seine künstlerische Arbeitsweise Auskunft gab: in denen er sich als ein Künstler mit ausgeprägter
Sensibilität für die Eigenart literarischer Texte
Dass übrigens der Zadig noch zu Weihnachten erscheint, halte erwies.
ich für völlig ausgeschlossen; ich sagte das auch Herrn D a m m
bereits am 8. September bei einer Unterredung. Sowohl für Bei seinen früheren Illustrationsentwürfen hatte
meine Arbeit wie für die Druckerei würde gehetztes Arbeiten sich Behmer in erster Linie an den Bilderfindungen
im höchsten Maasse verderblich sein, (ich bin unglücklicher-
und am Stil von Aubrey Beardsley orientiert. Bei der
weise nicht imstande wie Slevogt oder Corinth oder Gross-
mann oder Walser, gewissermaassen mit >leichter Hand« die
Illustration von Voltaires »Histoire Orientale« ließ er
Arbeiten .hinzuwerfen·, sondern muss bei dem fabelhaften sich vor allem von Miniaturen aus der islamischen
Mangel an zeichnerischem Können und an innerer Vorstel- Buchkunst inspirieren, mit der er sich bereits im
lung mir alles schrecklich mühsam zusammenstehlen und Zusammenhang mit der Ausstattung der 1910 im
-tüfteln; Die Druckarbeit aber muss gleichfalls mit der größten
Sorgfalt und Ruhe betrieben werden, da alles auf die äußerst
präcise Zusammenarbeit des Buch- und des Kupfer- druckers
23 Brief an Hermann Struck vom 27. 6. 1911 (Universitäts-
ankommt, für die leider diese Arbeit neu ist.) 25
bibliothek Münster)
2 4 Halbey: Marcus Behmer, S.(4); Die zurückgewiesene
Hermann Strucks Fürsprache hatte offenbar Er- Radierung wurde dann unter dem Titel »Das abgelehnte Gold-
hündchen (zum >Zadig< von Voltaire)« in der Mappe »Dreissig
folg: Wie die in die Platten gravierten, teilweise auf
Radierungen von Marcus Behmer«, Berlin: Otto von Holten
den Tag genauen Datierungen vieler Radierungen 1924, veröffentlicht.
beweisen, stellte Marcus Behmer die Zadig-\\\usXia- 25 Brief an Hermann Struck vom 1 2 . 1 0 . 1911 (Universitäts-
tionen erst im Verlauf des Jahres 1912, als er sich bibliothek Münster)
wieder in Florenz aufhielt, fertig. 2 6 Sämtliche Illustrationen sind in verkleinertem Format
abgebildet in: Voltaire: Zadig (Insel-TB)
Die Schwierigkeiten in der künstlerischen Arbeit,
27 Z u m Eklektizismus in Behmers Arbeiten vgl. Halbey:
mit denen Behmer die Notwendigkeit einer Ver- Ornate, S. 1 1 5 - 1 2 5 ; S. 1 1 7 f . ; Halbey: Marcus Behmer, S.(l)
schiebung des vom Verlag zunächst geplanten 2 8 Ebd., S.(l f.)
Insel-Verlag veröffentlichten Ausgabe von Goethes einem kostbar eingebundenen Buch vorliest. Die
West-östlichem Divan intensiv beschäftigt hatte. 29 Bild-Initiale macht den Leser also darauf aufmerk-
Viele Einzelheiten in Behmers zartlinigen Radie- sam, daß es sich bei dem Märchenerzähler, der die
rungen zum Zadig sind aus der islamischen Buch- Geschichte Zadigs mitteilt, um den in eine orienta-
malerei übernommen, so ζ. B. die Ornamentierung lische Verkleidung geschlüpften Aufklärer Voltaire
von Gegenständen, Stoffen und Gewändern, die handelt, für den »die exotische Märchenwelt nicht
Darstellung der Figuren und ihrer Körperhaltun- nur Spielraum der Einbildungskraft, sondern Mittel
gen, der Entwurf von landschaftlichen Formationen einer satirisch-didaktischen Verfremdung« ist, »die
und die liebevoll genaue Zeichnung exotischer von Babylon spricht und Paris meint und in orienta-
Bäume, Pflanzen und Blüten. Durch diese Form- lische Weisheit aufklärerische Vernünftigkeit ein-
Zitate vermitteln Behmers Illustrationen eine schmuggelt.« 35
orientalische Märchenstimmung, die allerdings - Ein zentrales Thema in Voltaires philosophischer
entsprechend der ironisierenden Verarbeitung von Erzählung stellt das Problem des Verhältnisses von
Themen und Strukturelementen des orientalischen Wissen, Glauben und Macht dar. In vielen Szenen
Märchens in der Erzählung 30 - durch die gleichzei- spielen gelehrte Männer - Wissenschaftler, Ärzte,
tige Anwendung von Stilmitteln, die der islami- Richter und Priester - eine Rolle, die die geistige
schen Buchmalerei völlig fremd sind (ζ. B. extreme Unmündigkeit der zeitgenössischen Herrscher und
perspektivische Verkürzungen) ironisch gebrochen Untertanen als Basis ihrer persönlichen Macht und
wirkt. 31 ihres materiellen Vorteils schätzen und daher das
Das Problem der Auswahl von Textstellen, die Privileg der eigenen Bildung mißbrauchen, um die
sich zur Illustration eignen, löst Behmer bei seinen Menschen in einem Zustand der Unwissenheit zu
ZiZi/ig-Radierungen fast immer so, daß er aus der halten sowie - unter Berufung auf eine der kriti-
Abfolge von rasch wechselnden Szenen, die Voltaire schen Überprüfung entzogene Überlieferung - in
mit knappen, treffenden und witzigen Formulierun- abergläubischen und inhumanen Sitten zu bestär-
gen skizziert, Gegenstände und Vorgänge, die im ken. Immer wieder gerät der Held Zadig im Verlauf
Text nur kurz erwähnt werden, herausgreift und in der Erzählung in Situationen, in denen ihm die
seinen Bildentwürfen ausgestaltet. Einige Illustra- Aufgabe zukommt, den Dogmatismus und Fanatis-
tionen, in denen der Künstler die Darstellung von mus, die Dummheit und scheinheilige Moral ein-
Gegenständen (wie ζ. B. dem kostbaren Becher, den flußreicher Gelehrter zu entlarven - eine Aufgabe,
Zadig als Belohnung für seinen Großmut erhält, die er erfolgreich bewältigt, indem er den Menschen
oder dem wertvollen Gefäß, das der Einsiedler die aus der Gewißheit der eigenen Erfahrung und
stiehlt) als willkommene Gelegenheit zum Entwurf Erkenntnis begründbaren Prinzipien der Vernunft
von kompliziertem ornamentalen Schmuck behan- und Toleranz nahebringt.
delt, haben einen rein dekorativen Charakter. Daß In mehreren Illustrationen führt Behmer dem
die meisten Radierungen zum Zadig jedoch nicht Betrachter die merkwürdigen Ausgeburten der
nur als »>eingestreute< schmückende »Bemerkun- Phantasie vor Augen, deren Bekämpfung für Zadig
gen«·, 32 sondern als ernsthafte Versuche des Illustra- häufig sehr gefährlich ist, weil ihre Existenz durch
tors zu verstehen sind, durch die bildliche Interpre- gelehrte Autoritäten beglaubigt wird, die sich nicht
tation der ausgewählten Textstellen die Erzählin- auf Wissen, sondern auf Macht stützen:
tention des Autors sichtbar zu machen, geht aus Zu diesen Illustrationen zählt z.B. die Darstel-
einer Bemerkung Behmers in seinem Brief an lung des Basilisken, 36 nach dem die Sklavinnen des
Gotthard Laske aus dem Jahre 1929 hervor:
I m Zadig, der ja selbst auch eine ganz einzigartige Mischung 29 Vgl. den Brief des Künstlers an den Insel-Verlag vom
von Scherz, Satire, Ironie und - wahrhaftig! - tieferer Bedeu- 1 1 . 4 . 1 9 1 0 ; zitiert in: Marcus B e h m e r in seinen Briefen, S . 3 3
tung ist, klingen auch in den z a h l r e i c h e n . . . Illustrationen die 3 0 Vgl. Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 7, S p 1349
verschiedensten T ö n e a n . 3 3 31 Vgl. Halbey: Marcus Behmer, S.(5)
32 In seinem Brief an Gotthard Laske vom 10. 3. 1 9 2 9 (ab-
In der bildlichen Gestaltung der Initiale F, die 34
gedruckt in: B e h m e r : Grundsätzliches, nach S . 7 2 ) beschrieb
den Anfang des Textes schmückt, gibt Behmer B e h m e r ausführlich die verschiedenen Möglichkeiten der T e x t -
einen deutlichen Hinweis auf das Textverständnis, illustration.
das in seinen Illustrationen zum Ausdruck kommt. 33 Ebd.
Die kleine Radierung stellt den Verfasser Voltaire, 34 Ausgabe der Pan-Presse, S. 5; 5 x 4 c m ; A b b . in: Voltaire:
Zadig (Insel-TB), S . 9
dessen Porträt dem Betrachter bereits im Titelblatt
35 Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 7, Sp. 1 3 4 9
vor Augen geführt wird, als orientalischen Weisen 36 Ausgabe der Pan-Presse, S . 5 7 ; 8,9 x 8 , 9 c m ; Abb. in: Vol-
dar, der unter blühenden Bäumen sitzt und aus taire: Zadig (Insel-TB), S. 102
erscheinen (können), weil dem als vollkommen ... er begab sich augenblicklich zu den Anführern der Stämme,
gedachten Wesen mitunter sehr endliche, unvoll- teilte ihnen mit, was geschehen war und riet ihnen, ein Gesetz
zu schaffen, welches keiner Witwe gestattete, sich zu verbren-
kommene menschliche Eigenschaften zugespro- nen, ehe sie sich nicht vorher eine ganze Stunde lang mit ei-
chen werden. nem jungen Manne unterhalten hätte. Seit dieser Zeit hat
Eine der inhumanen Sitten, gegen die Zadig die sich in Arabien keine einzige junge D a m e mehr verbrennen
Widerstandskraft der Vernunft mobilisiert, ist der lassen. 4 5
jahrhundertealte (Miß-)Brauch der Witwenverbren- Doch wieder einmal gerät Zadig durch sein
nung, den er in Arabien kennenlernt. Die Erzählung
Engagement für die Humanisierung der Sitten in
berichtet von der frommen Witwe Almona, die nach
Lebensgefahr: Die arabischen Priester der Gestirne,
dem Tode ihres Mannes den Tag und die Stunde
denen die Edelsteine und Schmuckstücke der jun-
verkünden läßt, da sie sich »beim Klange der
gen Witwen, die sie auf den Scheiterhaufen
Trommeln und Drommeten in die Flammen stür-
geschickt hatten, »stets von Rechts wegen zugefal-
zen« 41 werde. Zadig bittet die schöne Almona u m
len« waren, 46 beschließen, Zadig zur »Strafe für den
ein Gespräch, in dem er erfährt, daß sie sich weder
bösen Streich, den er ihnen gespielt« 47 habe, ver-
aus Frömmigkeit noch aus Trauer um ihren verstor-
brennen zu lassen. Z u m Glück setzt sich die schöne
benen Mann, der zu Lebzeiten ein »roher, ein
Almona auf eine geschickte Art und Weise für die
eifersüchtiger, ein völlig unerträglicher Mensch« 42
Rettung des Helden ein. Sie bittet den Oberpriester
war, sondern »nur um der anderen willen und aus
der Gestirne um eine geheime Audienz, lenkt die
Eitelkeit« 43 verbrennen lassen will.
Aufmerksamkeit des Greises auf die Schönheit ihres
Wie makaber die Koketterie der jungen Witwe
Körpers, weckt so seine zärtlichen Gefühle und
ist, die die Selbstopferung als ein ihren guten Ruf
bewegt ihn schließlich - indem sie ihm ein Rendez-
beförderndes gesellschaftliches Ereignis zu insze-
vous verspricht - zur Unterzeichnung der Gnaden-
nieren gedenkt, führt Behmer dem Leser in einer
bewilligung für Zadig.
Illustration 44 vor Augen, die ein in der Erzählung
selbst gar nicht erwähntes Dokument darstellt: Es Die Unterschrift in Händen, ging sie nun fort und ließ den
Greis voller Liebessehnsucht und voller Mißtrauen in seine
ist ein Kärtchen, dessen Ränder von blumenum- Kräfte zurück. Er verwandte den Rest des Tages darauf, sich zu
rankten Knochen verziert sind und auf das in baden, trank ein Gebräu aus Zeylon-Zimmet und kostbaren
zierlicher Schreibschrift die Worte geschrieben Gewürzen aus Tidor und Ternate und harrte mit Ungeduld
sind: dem Erscheinen des Sternes S c h e a t 4 8
Madame A l m o n a gibt sich die Ehre, zum Scheiterhaufen ihrer Die Illustration, die Behmer zu dieser Textstelle
Witwenschaft, Donnerstag, den 7. Mai, mittags praecis, erge- entwirft, 49 führt dem Betrachter vor Augen, wie sich
benst einzuladen. U.A. w.g. der Oberpriester in seinem Bad auf die ungeduldig
erwartete Liebesnacht vorbereitet: Der halbnackte,
Im oberen Teil der Karte flankieren zwei in zart hagere Greis sitzt am Rande eines gekachelten
gepunkteten Linien gezeichnete Arabesken, die aus Beckens, in das Wasser einläuft, und läßt sich von
Knochen, verschiedenen Blumen, einem Toten- einem vor ihm knieenden jungen Diener ein Aphro-
schädel und einem flammenden Herz gebildet sind, disiakum kredenzen. Die komfortable Ausstattung
ein ovales Medaillon, das eine bildliche Darstellung des Bades mit gemusterten Vorhängen, Polstern,
einrahmt. Sie zeigt einen ordentlich aufgeschichte- Fußschemeln und diversen Salbgefäßen beweist,
ten und bereits in Brand gesteckten Scheiterhaufen, daß der oberste Tugendwächter, der öffentlich die
auf dem eine hübsche, reich geschmückte junge Selbstopferung von jungen Frauen propagiert, ins-
Frau sitzt. In der rechten Hand hält sie einen geheim alles andere als ein Feind von irdischem
riesigen Lilienstengel, mit dem linken Arm stützt Luxus ist. Im Hintergrund ermöglichen eine nied-
sie den Leichnam ihres Mannes. Da sich die Mittei-
lung der schönen Almona, daß ihr Gemahl zu
Lebzeiten einen keineswegs liebenswerten Charak- 41 E b d , S.35
ter hatte, in der bildlichen Darstellung nicht zum 42 Ebd.
43 Ebd.
Ausdruck bringen läßt, stattet Behmer den Verstor-
44 Ausgabe der Pan-Presse,S.35; 12 χ 8 cm; Abb. in: Voltaire:
benen in seiner Radierung mit einem anderen, Zadig (Insel-TB), S . 6 4
äußerlich sichtbaren Defekt, nämlich dem einer 45 Ebd., S. 36
zwergenhaften Statur, aus. 46 Ebd., S. 40
47 Ebd.
In seiner Unterhaltung mit der jungen Witwe 48 Ebd., S. 42
gelingt es Zadig, Almonas Lebenslust zu wecken 49 Ausgabe der Pan-Presse, S . 4 2 ; 8,9 x 8 , 9 c m ; Abb. in: Vol-
und sie von ihrem Vorhaben abzubringen. taire: Zadig (Insel-TB), S.75
rige W a n d und ein zurückgezogener Vorhang den der sich soeben in die Lüfte schwingt, empor. Die
Ausblick ins Freie: In den Zweigen eines Baumes philosophischen Ausführungen des überirdischen
sitzt eine große, häßliche Raupe, die im Begriff ist, Wesens haben ihn offensichtlich nicht »erleuch-
von einer makellosen Birne zu naschen, und damit tet«. 53 Das »Aber...«, das Zadig nur deshalb nicht
zum Sinnbild für die schamlosen Absichten des ausführen kann, weil der göttliche Bote die Diskus-
verliebten Greises wird. sion unvermittelt abbricht, empfindet Behmer als so
Während die mit der Macht kooperierenden Ge- wichtig, daß er das Wort in kleinen zum Himmel
lehrten, die in verschiedenen Episoden der Erzäh- aufsteigenden Buchstaben in seine Radierung hin-
lung eine Rolle spielen, die Geltung ihrer Lehrmei- einzeichnet. Nach Behmers Interpretation führen
nungen durch den Einsatz gewalttätiger Mittel die Fügungen des Schicksals in Voltaires Erzählung
erzwingen, verläßt sich der Held Zadig bei seinen also nur deshalb zu einem versöhnenden Ende, weil
Versuchen, die Menschen zu einem vernunftorien- die Vorsehung hier einmal einem Menschen zum
tierten Denken und Handeln zu erziehen, einzig Glück verhilft, der bis zum Schluß unermüdlich auf
und allein auf die Uberzeugungskraft seiner Argu- dem Recht des Geistes zum Einspruch gegen alle
mente. Daß der von Zadig propagierte Geist der unvernünftigen, durch den Einsatz von Macht
Aufklärung einem Wissen zur Durchsetzung ver- etablierten Verhältnisse beharrt.
hilft, das nicht geglaubt werden muß, sondern das In seinen Briefen an Hermann Struck aus dem
jeder Mensch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen Jahre 1911, die weiter oben zitiert wurden, äußerte
rational überprüfen kann, macht Behmer in einer Behmer die Absicht, die Leitung des Druckes seiner
Illustration deutlich, die sich auf folgende Textstelle Radierungen in der Pan-Presse selbst zu überneh-
bezieht: men. Aus unbekannten Gründen wurden die
Zwei Tagesreisen vor Horeb verreckte eines der Kamele, und
Druckarbeiten dann aber doch ohne Beaufsichti-
seine Ladung wurde auf die Rücken der Diener verteilt, auch gung durch den Künstler ausgeführt. Uber die
Zadig bekam seinen Teil. Als nun Setock alle seine Sklaven mit endgültige Gestalt des Buches war Behmer zutiefst
gekrümmten Rücken dahinschreiten sah, mußte er lachen. enttäuscht:
Zadig nahm sich aber heraus, ihm den Grund hierfür zu
erklären und lehrte ihn die Gesetze des Gleichgewichts. 5 0 •Zadig·, auf ordinärem Papier gedruckt, in langweiligem,
banalem Satz mit banaler Type, ist ganz schlecht, schon durch
Die Illustration 51 zeigt eine didaktische Skizze, in die - hinter meinem Rücken! - wohl der technischen Einfach-
der drei verschiedene Körperhaltungen eines Skla- heit und Billigkeit [wegen] gewählte Manier, die Radierungen
in Dutzenden auf einmal auf große Bogen China?-Papier
ven, der einen großen Ballen auf dem Rücken
abzuziehen, dann auseinanderzuschneiden und - einzukle-
schleppt, übereinandergezeichnet sind. Feine, ben!! Das ist allerdings eine Todsünde wider den Geist des
gestrichelte Konstruktionslinien ermitteln die Buches!-54
jeweilige Lage des Schwerpunkts der Last und
demonstrieren, daß das Gewicht durch die mittlere, Viele zeichnerische Feinheiten von Behmers
stärker konturierte Körperhaltung am besten ausba- Radierungen, die in den eigenhändigen Abzügen
lanciert wird. des Künstlers zur Geltung kamen, gingen im Druck
der Illustrationen für die Buchausgabe verloren. 55
Eine Herausforderung zur illustrativen Interpre-
tation, die Behmer annimmt, stellt die zentrale Als ein weiterer Mangel der in der Pan-Presse
Szene der Erzählung dar, in der der Engel Jesra hergestellten Abzüge fällt der teilweise unsauber
Zadig darüber belehrt, daß alles, was dem menschli- wirkende graue Plattenton der Radierungen auf, der
chen Verstand im Wirken der Natur und im Han- von der gelblichen Farbe des Papiers der Buchseiten
deln der Menschen absurd und grausam erscheint, in störender Weise absticht.
seinen Sinn in einem das Gute befördernden göttli- Eine späte Erwähnung findet die mangelhafte
chen Schöpfungsplan habe. Arbeit der Pan-Presse bei der Herstellung des
In Behmers Darstellung 52 erscheint der Engel
Jesra, dessen Körper von einem prächtigen Gefieder
bedeckt ist, als ein ebenso phantastisches Geschöpf 50 Ausgabe der Pan-Presse, S. 32
51 Ausgabe der Pan-Presse, S.32, 8,9 x 8 , 9 c m ; Abb. in: Vol-
wie der Fisch Oannes. Die Illustration hält den taire: Zadig (Insel-TB), S. 58
Augenblick fest, in dem der göttliche Bote Zadig 52 Ausgabe der Pan-Presse, S. 7 3 ; 20,7 x 8,4 cm; Abb. in: Vol-
dazu auffordert, den Anspruch auf Erkenntnis der taire: Zadig (Insel-TB), S. 1 2 9
Fügungen des Schicksals aufzugeben und sich zu 53 Ausgabe der Pan-Presse, S. 73: »>Die Menschen., sprach der
unterwerfen. Der am Boden knieende Zadig hat Engel Jesra, .urteilen über alles und wissen nichts, du jedoch
verdienst von ihnen allen am ehesten erleuchtet zu werden.«.
zwar gehorsam die Hände gefaltet, aber er blickt mit 54 Behmer: Grundsätzliches, nach S. 72
einem Ausdruck ungläubigen Staunens zum Engel, 55 Halbey: Marcus Behmer, (S.4)
11. Werks ihrer Publikationsreihe in einer Tage- nehmen, daß er als junges, förderungswürdiges
buch-Notiz von Harry Graf Kessler aus dem Jahre Talent unersetzbar sei. Ob als eine solche Klarstel-
1930, in der es heißt: lung tatsächlich intendiert oder nicht, wurde Paul
In Berlin nachmittags Marcus Behmer in der Fraunhoferstraße
Cassirers Engagement für die Arbeiten Oppenhei-
25 (Charlottenburg) besucht. mers von Kokoschka zumindest in diesem Sinne
Er zeigte mir seine Radierungen zu >Zadig· in einem Buch, das interpretiert.
schon 1911 bei Paul Cassirer erschienen und skandalös So argwöhnte Kokoschka, der Paul Cassirer of-
schlecht gedruckt ist (die Radierungen sind hineingeklebt!).
fenbar sehr deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß
Die Radierungen aber sind bezaubernd schön;... 5 6
er nicht bereit sei, sich von der Beurteilung seines
künstlerischen Schaffens durch den Kunsthändler
und von den Bedingungen, die dieser an die Ent-
3.12 Max Oppenheimer, 10 Radierungen zu: scheidung zur Förderung des Künstlers knüpfte, 3
Heinrich Heine »Ideen, Das Buch abhängig zu machen, angesichts der Nachricht von
Le Grand«. 1914 (12. Werk) einer geplanten Ausstellung Oppenheimers bei
Paul Cassirer, bei diesem Plan handele es sich um
Bereits 1910 scheint sich Max Oppenheimer, ermu- einen gegen die eigene Person gerichteten Erpres-
tigt durch das Beispiel Oskar Kokoschkas, der in sungsversuch Cassirers 4 und reagierte entsprechend
Herwarth Waiden bereits einen überzeugten Berli- feindselig. Er forderte seine Wiener und Berliner
ner Propagandisten und Förderer seiner Malerei Anhänger dazu auf, öffentlich Stimmung gegen
gefunden hatte, darum bemüht zu haben, als Künst- Oppenheimers Ausstellung, die im Januar 1912 in
ler in Berlin Fuß zu fassen. Kokoschka, der sich seit Paul Cassirers Galerie eröffnet wurde, zu machen
dem Frühjahr 1910 in Berlin aufhielt und im und hatte mit dieser Initiative tatsächlich Erfolg:»...
Sommer desselben Jahres eine Reihe von Gemälden die Cassierer der Kunst können es nicht erwarten,
bei Paul Cassirer ausstellte (vgl. 1.2.3), begrüßte in dem Unrechten Mann die Quittung auszustellen«,
einem Brief vom 1 7 . 8 . 1 9 1 0 die Ankündigung sei- schrieb Karl Kraus in seiner im Dezember 1911 in
nes Wiener Künstlerkollegen, in die deutsche der Fackel veröffentlichten Polemik gegen MOPP.
Kunstmetropole zu kommen: Und Else Lasker-Schüler verfaßte einen im Sturm
Es wird mich außerordentlich freuen, Dich hier zu sehen. abgedruckten offenen Brief an Paul Cassirer, in dem
Wenn nur einmal alle meine Burschen hier sind, kann man in sie ihn »allerhöflichst« dazu aufforderte, »diese Aus-
Berlin wirklich viel machen.' stellung zu unterlassen«.5
Vielleicht lernte Oppenheimer Paul Cassirer be- Paul Cassirer ließ sich weder durch diese öffentli-
reits 1910 kennen. Kontakte, die zu verbindlichen chen Angriffe noch durch die vernichtenden Kriti-
Vereinbarungen zwischen dem Künstler und dem ken der Oppenheimer-Ausstellung in der Berliner
Kunsthändler führten, kamen allerdings erst im Presse in seinen Absichten zur Förderung des
Laufe des Jahres 1911 zustande. Zu diesem Zeit- Künstlers beirren. Sicherlich verdankte MOPP, der
punkt war Kokoschkas freundschaftliche Bezie- 1912 seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte und
hung zu Oppenheimer bereits in eine erbitterte Mitarbeiter an der links-expressionistischen Berli-
Feindschaft umgeschlagen, die sich aus dem Vor- ner Zeitschrift Die Aktion wurde, die Möglichkeit,
wurf begründete, daß MOPP (mit diesem Künst- durch ein Gemälde in der 24. Ausstellung der
lernamen signierte Oppenheimer seine Werke) Berliner Secession auf sich aufmerksam zu machen,
Kokoschkas individuellen malerischen Stil in einer dem Einfluß Paul Cassirers.6 Auch auf der 25. Aus-
künstlerisch unredlichen Manier kopiere. 2 Aus die-
sem Grunde kann nicht angenommen werden, daß
56 Kessler: Tagebücher, S.639; Eintragung vom 2 3 . 7 . 1 9 3 0
Kokoschka bei der Herstellung der Verbindung
1 Briefan Max Oppenheimer vom 17.8.1910;abgedrucktin:
zwischen Paul Cassirer und Max Oppenheimer eine Kokoschka: Briefe I, S. 14
vermittelnde und unterstützende Rolle gespielt hat. 2 Vgl. Schweiger: Der junge Kokoschka, S. 202 ff.
Gleichwohl könnte seine Person in einer anderen 3 Vgl. ebd., S. 157
Hinsicht für das Zustandekommen der Geschäfts- 4 In einem Brief vom 4 . 1 2 . 1 9 1 1 (abgedruckt in: Kokoschka:
Briefe I, S.26f.) schrieb Kokoschka an Herwarth Waiden: .Will
beziehung zwischen den beiden von Bedeutung
P. C. mich schädigen, weil ich ihn gef rozzelt hatte, und will er [aus]
gewesen sein: Möglicherweise wollte Paul Cassirer diesem Burschen einen Knittel gegen mich machen?«
die Bekundung seines kunsthändlerischen Interes- 5 Zitiert nach Schweiger: Der junge Kokoschka, S. 207 f.
ses für M O P P nämlich auch als Klarstellung an die 6 Kokoschka in einem Brief vom 21.(?)4.1912 an Herwarth
Adresse des eigenwilligen Kokoschka verstanden Waiden (abgedruckt in: Kokoschka; Briefe I, S.31): »Der Mopp
hat ein Bild in der Berliner Secession, hat der C. das gescho-
wissen, dieser möge von der Einbildung Abstand
ben ?.
Stellung der Secession im Winter 1912 war Oppen- ren. Heines »Ideen« haben den Charakter von
heimer vertreten: Er zeigte drei Arbeiten, ausge- brieflichen Mitteilungen, die in teils unterhaltsam-
führt in der Radiertechnik, mit der sich der Künstler plauderndem, teils ernsthaftem Ton Einblicke in die
in Berlin intensiv zu beschäftigen begonnen hatte. Lebensgeschichte und -einstellung des Verfassers
Mit dem Illustrationsauftrag an MOPP bewies vermitteln. Entsprechend diesem Strukturprinzip
Paul Cassirer einmal mehr sein sicheres Gespür für fließen in die Schilderung von Episoden aus dem
die besonderen Qualitäten einer von ihm geförder- Leben des Autors, für die Heine autobiographisches
ten künstlerischen Begabung. Angesichts der Material benutzte, und in die Darlegung seiner aus
Radierversuche des Künstlers hatte Cassirer offen- vergangenen Erlebnissen gewonnenen Einsichten
bar erkannt, daß Oppenheimer, der zum damaligen beständig Mitteilungen über Reflexionen, Gefühls-
Zeitpunkt unter dem Ruf, »eine parasitäre Erschei- zustände, Träume, Ängste und Hoffnungen ein, die
nung« zu sein, sehr zu leiden hatte, 7 seine eigenstän- die momentane innere Verfassung des Schreiben-
dige künstlerische Leistungsfähigkeit im Bereich den kennzeichnen. Der Verfasser präsentiert seiner
der Druckgraphik deutlicher zur Geltung zu brin- Adressatin und damit dem Leser keine fertige, auf
gen vermochte als in der Malerei. In der Tat waren es das Ziel seiner aktuellen Befindlichkeit hin ausge-
dann auch die - im Herbst 1913 zum ersten Mal richtete Geschichte seines Lebens, in der jede
ausgestellten - Heine-Illustrationen, die MOPP erzählte Begebenheit ihre feststehende Bedeutung
»nun auch die Anerkennung weiterer Kreise« brach- für den vorgestellten Entwicklungsgang der eigenen
ten. 8 Persönlichkeit hat. Stattdessen konfrontiert er sei-
nen fiktiven Dialogpartner mit verschiedenen The-
Ob die Auswahl von Heines Prosatext aus dem
men und Motiven aus dem Bereich des Autobiogra-
2. Teil der Reisebilder auf die Initiative Max Oppen-
phischen und Politischen, die sich durch den Gang
heimers oder Paul Cassirers zurückgeführt werden
seiner gedanklichen Assoziationen und Vorstellun-
muß, ist nicht bekannt. Die Vermutung, daß der
gen an- und ineinanderfügen und so eine durch die
Verleger eine aktive Rolle bei der Auswahl der
Subjektivität des sich Erinnernden vermittelte ei-
Illustrationsvorlage spielte, kann sich auf das Fak-
gentümliche Einheit von Vergangenem und Gegen-
tum stützen, daß mit dem 12. Werk bereits zum
wärtigem bilden.
zweiten Mal innerhalb des literarischen Programms
der Publikationen der Pan-Presse ein Prosastück Die Komplexität des sorgfältig ausbalancierten
Heines veröffentlicht wurde, das zudem aufgrund Motivgefüges in Heines Ideen macht den Versuch
seines autobiographisch-bekenntnishaften Charak- einer bildlichen Interpretation des Textes zu einer
ters mit den im 4. Werk veröffentlichten Memoiren schwierigen Aufgabe. In der Auseinandersetzung
des Herren von Schnabelewopski eng verwandt er- mit dieser Aufgabe entschied sich Max Oppenhei-
scheint. 9 mer bewußt gegen den Anspruch, in seinen Illustra-
Angesichts der Tatsache, daß die Bedeutung von tionen die Gesamtheit der Motive und die Viel-
Heines Person und Werk in der literarischen schichtigkeit der Motivbeziehungen, die die literari-
Öffentlichkeit der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sche Vorlage auszeichnen, zu erfassen. Stattdessen
nach wie vor heftig umstritten war (vgl. Kap. 3.4), konzentrierte er sich in seinen relativ kleinen,
mußte es Paul Cassirer bewußt sein und insofern sensibel ausgeführten Radierungen - abgesehen von
auch seiner Intention entsprechen, daß die Heraus- einer Ausnahme - auf die Gestaltung des wichtigen
gabe der ersten zehn Kapitel aus dem Buch Le Motivzusammenhangs, der in den Kapiteln 6 bis 10
Grand - es handelte sich hier ebenso wie beim entfaltet wird. Dieser bezieht sich auf den politi-
Schnabelewopski um die erste Einzelveröffentli- schen Aussagegehalt von Heines Prosastück oder -
chung des Textes 10 - nicht anders denn als nach- um es in Heines eigenen Worten zu formulieren -
drückliche Bestätigung seines verlegerischen Enga- auf »die großen Weltinteressen, die es ausspricht«:
gements für Heines »phantastische Prosa«11 verstan-
den werden konnte.
Uber die Schwierigkeiten, vor die sich ein Künst-
7 Vgl. Schweiger: Der junge Kokoschka, S. 204 f.
ler gestellt sieht, der einen Prosatext Heines bildlich 8 Stix: Das graphische Werk von Max Oppenheimer
zu interpretieren versucht, wurde bereits im Kapitel 9 Über den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang
zum 4. Werk der Pan-Presse gesprochen. Oppenhei- der »Memoiren des Herren von Schnabelewopski« und der
mer konnte sich bei der Illustration seiner literari- »Ideen« vgl. die Kommentare zu den beiden Texten in: Heine:
Sämtliche Schriften, Bd. 1, S.775
schen Vorlage nicht an einem zusammenhängen-
10 Heine-Bibliographie, Bd. 1, S.35
den, sich kontinuierlich entwickelnden Erzählver- 11 Diese Formulierung stammt aus dem Text des Verlags-
lauf mit seinen Wende- und Höhepunkten orientie- prospekts zum 12. Werk der Pan-Presse
»Napoleon und die französische Revolution stehen Revolution und zugleich als die von den Auswirkun-
darin in Lebensgröße«. 12 gen des revolutionären Geschehens Betroffenen
Ob die im Zusammenhang mit der thematischen begreift. Im Verständnis für und im Einverständnis
Ausrichtung der Illustrationen stehende verlegeri- mit der subjektiven Wahrheit der Hoffnungen, die
sche Entscheidung, im 12. Werk der Pan-Presse nur das französische Volk mit den Idealen der Revolu-
die ersten zehn Kapitel aus dem Buch Le Grand zu tion verband, sieht Heine die ideelle Grundlage
veröffentlichen, von Anfang an Bestandteil einer seines eigenen Geschichtsbildes und seiner Auf-
genaueren Vereinbarung zwischen Paul Cassirer fassung von den Aufgaben eines modernen Schrift-
und Max Oppenheimer über die Konditionen des stellers.
Illustrationsauftrags war oder erst zu einem späteren Im 7. Kapitel der »Ideen« führt der Ich-Erzähler
Zeitpunkt erfolgte, ist nicht bekannt. im Erzählzusammenhang seiner Jugenderinnerun-
Bereits in der einleitenden, als Widmungsblatt gen die Gestalt des französischen Tambours Le
gestalteten Radierung 13 macht Oppenheimer auf Grand ein, der »wie ein Teufel aussah und doch von
das Thema der folgenden Illustrationen aufmerk- Herzen so engelgut war«.14 Diesem einfachen Solda-
sam: ten aus den in Düsseldorf einmarschierten napole-
Inmitten einer fast kreisförmig geschlossenen onischen Truppen - so klärt der Erzähler seinen
Umrahmung, die durch zwei zarte Lorbeerzweige Leser auf - verdanke er nicht nur seine Kenntnis des
gebildet wird, sind in zarter Schrägschrift die Wid- Geistes der französischen Sprache, sondern auch ein
mungsworte wiedergegeben, mit denen das Buch Le lebendiges Wissen über »die neuere Geschichte«, 15
Grandbtgmnt: »Evelina empfange diese Blätter als das ihm der Geschichtsunterricht nicht zu vermit-
ein Zeichen der Freundschaft und Liebe des Verfas- teln vermocht habe:
sers«. Über den in vier Zeilen angeordneten Schrift-
Die Geschichte von der Bestürmung der Bastille, der Tuilerien
zügen, die die Anfangs- und Endbuchstaben jedes usw. begreift man erst recht, wenn man weiß, wie bei solchen
Wortes mit großzügigen Schnörkeln versehen, Gelegenheiten getrommelt wurde. In unseren Schulkompen-
erscheint unter einem halbkreisförmigen dichten dien liest man bloß: >Ihre Exz. die Baronen und Grafen und
Strahlenkranz das Namenszeichen Napoleons. hochdero Gemahlinnen wurden geköpft - Ihre Altessen die
Herzöge und Prinzen und höchstdero Gemahlinnen wurden
Unterhalb der Widmungsworte, am Fuße der
geköpft - Ihre Majestät der König und allerhöchstdero
Umrahmung hockt ein gekrönter Adler, dessen weit Gemahlin wurden geköpft -< aber wenn man den roten
ausgebreitete Schwingen den Lorbeerkranz über- Guillotinenmarsch trommeln hört, so begreift man dieses erst
schneiden. Dieser Adler, Symbol für die imperiale recht, und man erfährt das W a r u m und das W i e . 1 6
Größe des napoleonischen Kaiserreiches, thront auf
Die getrommelten Erlebnisberichte des Mon-
einer Trommel. Oppenheimer setzt so die Symbole
sieur Le Grand geben dem Ich-Erzähler eine er-
für den Ruhm des Generals und Kaisers Napoleon
schreckend intensive Vorstellung von den subjekti-
in enge Beziehung zu einem Zeichen, das auf den
ven Triebkräften der Revolution. Der Nachvollzug
Tambour Le Grand verweist, auf jene literarische
des erbitterten Hasses der französischen Volks-
Gestalt also, deren zentrale Bedeutung im Text
massen gegen die aristokratischen Nutznießer des
bereits durch den Titel hervorgehoben wird. Im
feudalistisch-absolutistischen Staates und das Ver-
Arrangement der verschiedenen Zeichen, die sich
ständnis für »das Warum und das Wie« erscheinen
zu einer klaren, wunderbar zart radierten Komposi-
dem Erzähler in der Rückerinnerung als Grunder-
tion zusammenfügen, gibt M O P P somit einen deut-
fahrungen mit prägender Kraft für seine eigene
lichen Hinweis auf die besondere Perspektive, aus
politische Einstellung, die sich durch eine kompro-
der die »großen Weltinteressen« im Buch Le Grand
mißlose Feindschaft gegen alle Formen der Unter-
betrachtet werden:
drückung materieller und geistiger Bedürfnisse
In den Textpassagen, die sich auf die französische durch die Obrigkeit und durch eine offene Partei-
Revolution sowie auf die Person und die Taten des nahme für die Idee der politischen und sozialen
»großen Kaisers« beziehen, will Heine weder eine Emanzipation des Volkes auszeichnet:
historisch genaue Darstellung noch eine umfas-
sende geschichtsphilosophische Würdigung der 12 Heinrich Heine in einem Brief an Friedrich Merckel vom
revolutionären und nachrevolutionären Ereignisse 1 0 . 1 . 1 8 2 7 ; zitiert nach dem K o m m e n t a r in: Heine: Sämtliche
in Frankreich geben. Sein literarisches Bemühen Schriften, Bd. 2, S. 7 7 8
richtet sich vielmehr darauf, die Bedeutung und 13 1 2 , 5 x 1 2 , 5 c m
14 Heinrich Heine: Ideen, Das Buch Le Grand (1826). In:
subjektive Wahrheit in Erinnerung zu bringen, die
Heine: Sämtliche Schriften, Bd.2, S . 2 7 1
diese Ereignisse in den Augen jener Menschen 15 Ebd., S. 2 7 0 f.
besaßen, die Heine als die eigentlichen Akteure der 16 Ebd., S . 2 7 1 f.
Aber denken Sie sich, Madame! unlängst sitze ich an der Tafel Heine in einem wenige Jahre später entstandenen
mit einer ganzen Menagerie von Grafen, Prinzen, Prinzessin-
Text bereits eindeutig negativ beurteilte: »Unbe-
nen, Kammerherren, Hofmarschallinnen, Hofschenken,
Oberhofmeisterinnen, Hofsilberbewahrern, Hofjägermeiste-
dingt liebe ich ihn [Napoleon] nur bis zum 18. Bru-
rinnen, und wie diese vornehmen Domestiken noch außerdem maire - da verriet er die Freiheit.«19 Daß MOPP das
heißen mögen, und ihre Unterdomestiken liefen hinter ihren Datum des 18.Brumaire im Zusammenhang mit
Stühlen und schoben ihnen die gefüllten Teller vors Maul - ich der Darstellung einer Szene zitiert, in der das Volk
aber, der übergangen und übersehen wurde, saß müßig, ohne
als revolutionäres Subjekt agiert, könnte - wenn
die mindeste Kinnbackenbeschäftigung, und ich knetete
Brotkügelchen, und trommelte vor Langeweile mit den Fin-
man nicht einfach eine historische Ungenauigkeit
gern, und zu meinem Entsetzen trommelte ich plötzlich den des Illustrators annimmt - dahingehend interpre-
roten, längstvergessenen Guillotinenmarsch. 1 7 tiert werden, daß MOPP den Staatsstreich Napole-
ons als eine politische Tat gewürdigt wissen will, die
Heines Anspielungen auf die bedrohlichen Kon- notwendig war, um »das vielköpfige Ungeheuer der
sequenzen einer durch die beständige Unterdrük- Anarchie«20 zu bändigen und gleichzeitig die Errun-
kung elementarer Lebensbedürfnisse hervorgerufe- genschaften der französischen Revolution zu
nen Volksempörung finden in einer der Illustratio- retten.
nen Oppenheimers ihre bildliche Verdeutlichung: Einige Besonderheiten, die für den graphischen
Die Radierung18 zeigt eine Versammlung von Stil von Oppenheimers Heine-Illustrationen cha-
Menschen, die sich im Zustand heftiger Erregung rakteristisch sind, lassen sich in dieser Radierung gut
befinden. Verschiedene Details - z.B. die Beklei- beobachten: Durch die konsequente Anwendung
dung der vorwiegend männlichen Gestalten, die der Technik, helle Flächen durch schwarze, an den
Jakobinermützen mit Nationalkokarde, die man auf Konturen ansetzende Strichlagen zu hinterfangen,
den Köpfen zweier Männer erkennt, und die mitge- und umgekehrt dunkle Partien vor eine helle Folie
führten Stangen und andere primitive Waffen, die zu setzen, gelingt es Oppenheimer, die gestalteri-
im Hintergrund aufragen - weisen darauf hin, daß in sche Aufgabe der Darstellung einer bewegten, viel-
dieser Illustration eine Straßenszene aus der franzö- köpfigen Menschenmenge überzeugend zu lösen.
sischen Revolution dargestellt ist. In der Menge Durch die betonte Parallelisierung verschiedener
sieht man eine Reihe von Gesichtern mit weit Gestaltungselemente (z.B. der Arme und Beine
geöffneten Mündern; die Menschen rufen anschei- einzelner Gestalten, der gestreiften Kleiderpartien,
nend Parolen, deren militanter Gehalt sich u. a. aus der Stangen im Hintergrund) entsteht ein System
den Gebärden des Soldaten im Vordergrund, der von sich kreuzenden Diagonalen. In Verbindung
seinen Säbel in der Luft schwingt, und aus der mit der graphischen Gestaltung von Boden und
Haltung eines Mannes in der linken Bildhälfte, der Hintergrund durch dichte, in verschiedenen Win-
beide Arme drohend emporstreckt, erschließen läßt. keln aneinandergelegte Linienbündel erreicht Op-
Über den Köpfen der ärmlich gekleideten, zum Teil penheimer so eine straffe Strukturierung und
halbnackten Gestalten erscheint im Hintergrund Rhythmisierung der gesamten Fläche, durch die
der Kopf und Oberkörper einer Frau, die durch die sich dem Betrachter die erregte Stimmung der
hochgetürmte Rokokofrisur und das tief ausge- Menge auf optisch eindringliche Weise mitteilt.
schnittene Kleid als Aristokratin charakterisiert ist.
Ebenso wie in seiner Haltung gegenüber der
Die hindeutende Geste des Mannes, der links neben
französischen Revolution begreift sich Heines Ich-
dem Soldaten steht, läßt vermuten, daß sich die
Erzähler auch in seiner Beurteilung des »großen
Empörung der Menge auf diese Frau bezieht, die
Kaisers« Napoleon als »Schüler Le Grands«.21 Die
vielleicht soeben festgenommen worden ist oder
Aneignung historischen Wissens über die Ereig-
gerade zur Hinrichtung transportiert wird. Entspre-
nisse der jüngsten französischen Geschichte erweist
chend dieser Interpretation wäre der besser geklei-
sich als eine für das Denken des Erzählers relevante
dete Mann, der in der rechten Bildhälfte zu erken-
Erfahrung erst in Verbindung mit der Kenntnis der
nen ist, als ein Bürger zu deuten, der sich darum
subjektiven Bedeutung, die diesen Ereignissen in
bemüht, beruhigend und mäßigend auf die Menge
der Erinnerung des Volkes beigemessen wird, das in
einzuwirken. Schwierig ist in diesem Interpreta-
tionszusammenhang allerdings die Deutung der aus
der Menge emporgehaltenen Tafel mit der Auf- 17 Ebd., S. 2 7 2
18 12 χ 9 c m
schrift »BRUMEI«, die vermutlich auf den Staats-
19 Heinrich Heine: Die Reise von München nach Genua. In:
streich Napoleons am 18.Brumaire (9. November) Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 3 7 4 f .
1799 hinweisen soll. Im Buch Le Grandwird dieses 2 0 Heine: Ideen; in: Heine: Sämtliche Schriften, Bd.2,
historische Ereignis nicht explizit erwähnt, das S. 2 7 5
21 Ebd., S. 2 7 3
Napoleon den Vertreter der Ideen der Französi- Ich spreche vom Hofgarten zu Düsseldorf, wo ich oft auf dem
Rasen lag und andächtig zuhörte, wenn mir Monsieur Le
schen Revolution und den unerschrockenen Vor-
Grand von den Kriegstaten des großen Kaisers erzählte, und
kämpfer für ein von Fürstengewalt und Feudalari- dabei die Märsche schlug, die während jener Taten getrommelt
stokratie befreites Europa sieht. Die enthusiasti- wurden, so daß ich alles lebendig sah und hörte. Ich sah den
schen Erzählungen des Monsieur Le Grand, die die Zug über den Simplon - der Kaiser voran und hintendrein
klimmend die braven Grenadiere, während aufgescheuchtes
Vorstellungskraft des Zuhörers dazu anregen, sich
Gevögel sein Krächzen erhebt und die Gletscher in der Ferne
die »Kriegstaten des großen Kaisers«22 in sinnlich- donnern - ich sah den Kaiser, die Fahne im Arm, auf der
anschaulicher Direktheit zu vergegenwärtigen, Brücke von Lodi - ich sah den Kaiser im grauen Mantel bei
bringen dem Erzähler die Lebendigkeit der mit der
Person Napoleons verbundenen Sehnsüchte des
französischen Volkes zu Bewußtsein: 22 Ebd., S. 274
Marengo - ich sah den Kaiser zu Roß in der Schlacht bei den dargestellte gefährliche Unternehmen bereits geko-
Pyramiden - nichts als Pulverdampf und Mamelucken - ich stet hat.
sah den Kaiser in der Schlacht bei Austerlitz - hui! wie pfiffen
Die Gestalt Napoleons wird durch ihre relative
die Kugeln über die glatte Eisbahn! - ich sah, ich hörte die
Schlacht bei J e n a - dum, dum, dum - ich sah, ich hörte die Größe und durch die zentrale Position innerhalb der
Schlacht bei Eylau, W a g r a m . . , 2 3 Komposition deutlich hervorgehoben; zugleich ist
sie aber integriert in die entschiedene Vorwärtsbe-
Aus dieser Textpassage, in der sich der Erzähler wegung der heranstürmenden Menschenmenge, die
die dichtgedrängte Folge der Visionen in Erinne- ihre Antriebskraft nicht in einem Führer, sondern in
rung ruft, die einst Monsieur Le Grands Berichte in sich selbst zu haben scheint. Die enge kompositori-
seiner Vorstellung wachriefen, greift Oppenheimer sche Verknüpfung zwischen Reiter und Fußvolk
drei der knapp angedeuteten Szenen heraus und weist auf eine spezifische Deutung jenes histori-
setzt sie kraft seiner eigenen Imagination in kon- schen Ereignisses hin, auf das Napoleon selbst die
krete Bildvorstellungen um. Seine Illustrationen Entstehung seines Glaubens an die außerordentli-
zeigen den »Zug über den Simplon«, den »Kaiser, die che Größe der eigenen Persönlichkeit zurückführ-
Fahne im Arm, auf der Brücke von Lodi« und die te :25 Napoleons Ruhm als ebenso kühner wie genia-
»Schlacht bei den Pyramiden«. ler Feldherr, symbolisiert durch die über dem Reiter
Man kann sicherlich davon ausgehen, daß Oppen- am Horizont aufgehende Sonne, wird bezogen auf
heimer einige der zahlreichen Gemälde und Graphi- seine Basis, die Begeisterungsfähigkeit und Auf-
ken aus der ersten Hälfte des 19-Jahrhunderts, die opferungsbereitschaft der revolutionären französi-
Szenen aus dem Leben Napoleons darstellen, schen Truppen, die Napoleons militärische und po-
gekannt hat, möglicherweise benutzte er die weit- litische Erfolge überhaupt erst möglich machten.
verbreiteten Illustrationen von Horace Vernet zu Oppenheimer hebt durch die besondere Art und
dem Werk Histoirede l'Empereur Napoleon\on P. M. Weise, in der er in dieser Illustration eine der
Laurent de l'Ardeche, um sich über historische ruhmreichen »Kriegstaten des großen Kaisers« dar-
Einzelheiten wie ζ. B. Uniform- und Waffenausstat- stellt, ein Bedeutungsmoment hervor, das sich in
tung der französischen Armee zu unterrichten. Heines Text an verschiedenen Stellen nachweisen
Im Vergleich mit diesen Darstellungen fällt aller- läßt. So bezeichnet der Erzähler ζ. B. die französi-
dings bereits auf den ersten Blick auf, daß Oppenhei- schen Truppen in der Beschreibung ihres Einmar-
mers Illustrationen das Geschehen nicht in der sches in Düsseldorf als »das freudige Volk des
gewohnten Art und Weise, d. h. aus einer Perspek- Ruhmes, das singend und klingend die Welt durch-
tive heraus wiedergeben, die die Person und die zog.«26
Aktionen Napoleons in den Vordergrund treten MOPP hat auch diese Textstelle illustriert:27
läßt. Im Bildmittelgrund erblickt man einen militäri-
In der Illustration, die sich auf das im Text er- schen Spielmannszug, der - angeführt von einem
wähnte Ereignis »auf der Brücke von Lodi« bezieht,24 Tambourmajor mit langem Stab - auf den Vorder-
blickt der Betrachter von einem erhöhten Stand- grund zumarschiert. Die auf Trommeln und Blasin-
punkt aus auf eine weite Ebene, die am Horizont
durch ein Bergmassiv abgeschlossen wird. Im Bild-
mittelgrund zeigt die Radierung den Sturmangriff 23 Ebd.
eines Batallions französischer Grenadiere. In dicht- 2 4 1 3 , 5 x 12 c m ; Abb. in: Stix: Das graphische W e r k von Max
gedrängten Reihen stürmen die von rechts kom- Oppenheimer. Die von Heine erwähnte Heldentat des Generals
menden Soldaten auf die linke Bildseite zu. Der Bonaparte soll sich der Uberlieferung zufolge nicht in der
Schlacht bei der Brücke bei Lodi ( 1 0 . 5 . 1 7 9 6 ) , sondern in der
Reiter an der Spitze, der sein sich aufbäumendes
Schlacht bei Arcoli ( 1 5 . - 1 7 . 1 1 . 1 7 9 6 ) ereignet haben: Napoleon
Pferd in die großen weißen, das Ziel der Attacke habe die Fahne ergriffen und sei seinen Truppen voraus über die
verhüllenden Pulverwolken hineintreibt, läßt sich - Brücke von Arcoli gestürmt. Antoine-Jean Baron Gros porträ-
in Verbindung mit Heines Text - durch die geschul- tierte in seinem Gemälde »Bonaparte auf der Brücke von Arcoli«
terte große Fahne als Darstellung des Generals ( 1 7 9 8 ) den jungen General in dieser Situation.
25 Maurois: Napoleon, S . 3 1 : »An jenem Tage wurde ihm
Napoleon Bonaparte identifizieren, der seine
erstmalig bewußt, daß das Schicksal ihn für Großes ausersehen
Truppe bei der Eroberung der Brücke von Lodi hatte. Später sagte er zu Las Cases, er wäre nach Toulon und
anführt. Einige im Vordergrund erkennbare gefal- Vendemiaire noch weit davon entfernt gewesen, sich für ein
lene oder verwundete Soldaten, die mit verrenkten höheres W e s e n zu halten, nach Lodi aber hätte er begriffen, daß
Gliedern am Boden liegen, sowie ein zusammenge- seinen Zielen keine Grenzen gesetzt waren.«
2 6 Heine: Ideen; in: Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 2,
brochenes Pferd, dessen Reiter herabstürzt, machen
S. 2 6 4
den Betrachter auf die Opfer aufmerksam, die das 27 1 2 x 1 1 , 5 c m
strumenten musizierenden Soldaten, die durch ihre Mannes, der den herannahenden Zug durch ein
Uniformen mit den charakteristischen Bärenfell- Lorgnon begutachtet. Auch auf der rechten Seite
mützen als Angehörige der napoleonischen Armee wird die Komposition durch einen Baum einge-
zu identifizieren sind, führen einen langen Truppen- rahmt, an dessen Stamm eine jugendliche Gestalt
aufmarsch an, den der Betrachter weit in die Bild- lehnt. Zwei als schwarze Silhouetten wahrnehmbare
tiefe hinein verfolgen kann. A m Horizont ragt eine Zuschauer sind auf den Baum hinaufgeklettert, um
Reihe alter und baufälliger Häuser, die man viel- eine besonders gute Aussicht zu genießen. Die
leicht als Zeichen für die Überlebtheit der alten Darstellung der Menschen, die dem Einmarsch der
Ordnung deuten könnte, schräg in den Himmel. französischen Truppen mit angstfreier Neugierde
Durch markante Schwarz-Weiß-Kontraste hebt entgegensehen, und die Bilderfindung des schwarz-
sich die Gruppe der Musikanten von ihrer Umge- weißen Hundepaares, das vor den heranmarschie-
bung ab. Die in den helleren seitlichen Zonen renden Soldaten noch eilig die Straße überquert,
erkennbaren Gesichts- und Körperformen deuten verleihen der Szene eine unbeschwert-fröhliche
dicht an den Zug herandrängende Zuschauermas- Atmosphäre, die mit den Vorstellungen und Emp-
sen an. Links im Vordergrund erkennt man die halb findungen harmoniert, die sich bei der Lektüre der
durch einen Baumstamm verdeckte Gestalt eines betreffenden Textstelle beim Leser einstellen.
Auch in der Illustration, die den Kaiser mit alten Freiheitskämpfe, die alten Schlachten, die
seinem Gefolge in der Allee des Hofgartens zu Taten des Kaisers« trommelte:
Düsseldorf zeigt, 28 gelingt es Oppenheimer, die Es schien, als sei die Trommel ein lebendiges Wesen, das sich
durch die literarische Beschreibung evozierte Stim- freute, seine innere Lust aussprechen zu können... aber
mung mit graphischen Mitteln präzise zu erfas- allmählich schlich sich ein trüber Ton in jene freudigsten
sen: Wirbel, aus der Trommel drangen Laute, worin das wildeste
Jauchzen und das entsetzlichste Trauern unheimlich gemischt
Unter dem sonnendurchfluteten Laubdach einer waren, es schien ein Siegesmarsch und zugleich ein Toten-
Allee erscheint eine Gruppe von Reitern, die sich marsch, die Augen Le Grands öffneten sich geisterhaft weit,
auf den Betrachter zubewegt. In der Mitte, vor den und ich sah darin nichts als ein weites, weißes Eisfeld bedeckt
übrigen Reitern, erkennt man auf dem Rücken eines mit Leichen - es war die Schlacht bei der Moskwa. 32
Otto Hettner, der 1911 seinen Wohnsitz von Otto Hettner, der als Sohn des berühmten Litera-
Florenz nach Berlin verlegte, war seit 1906 Mitglied turhistorikers Hermann Hettner sicherlich über
der Berliner Secession, an deren Ausstellungen er gründliche literarische Kenntnisse verfügte, oder ob
sich regelmäßig beteiligte. In seinem Erinnerungs- Paul Cassirer für die Auswahl des Textes verantwort-
buch Jahre der Kämpfe berichtet Emil Nolde im lich war, läßt sich nicht beantworten. Mit der
Zusammenhang mit der Darstellung der Ge- Entscheidung, eine Erzählung von Heinrich von
schichte seines Ausschlusses aus der Berliner Seces- Kleist mit den Lithographien von Hettner inner-
sion im Dezember 1910, daß Hettner zu den halb der Publikationsreihe der Pan-Presse zu veröf-
Secessionsmitgliedern gehörte, die über die Zu- fentlichen, entschloß sich Paul Cassirer dazu, als
stände innerhalb der Künstlervereinigung »in Un- Verleger einen eigenen Beitrag zur Ehrung jenes
zufriedenheit laut murrten«, Noldes Plänen zur Dichters zu leisten, der nach der Wiederentdeckung
Gründung einer neuen Organisation daher zunächst seines Werks um die Jahrhundertwende in Deutsch-
aufgeschlossen gegenüberstanden, sich schließlich land - zumindest in den literarisch gebildeten
aus finanziellen Gründen dann aber doch für den Kreisen - »der populärste und der als besonders
Verbleib in der Berliner Secession entschieden und aktuell empfundene Klassiker« geworden war.4
sich daher in der Abstimmung über den Ausschluß Zahlreiche Werkausgaben und Veröffentlichungen
Noldes gegen den Künstler aussprachen. 1 über Kleists Leben und Werk, die im ersten Jahr-
Abgesehen von Noldes Erinnerungen liegen zehnt des 20.Jahrhunderts erschienen, lenkten die
keine Hinweise vor, die ein besonders gespanntes Aufmerksamkeit der literarisch interessierten Öf-
Verhältnis zwischen Hettner und den führenden fentlichkeit auf den Dichter, dessen Ruhm im
Mitgliedern der Berliner Secession vermuten lassen. Gedenkjahr seines hundertsten Todestags 1911
1911 verfaßte Hettner einen längeren Beitrag für die einen Höhepunkt erreichte. 5
Schrift Im Kampf um die Kunst,2 die als Antwort auf Als Verleger, der verschiedene Künstler für die
das von dem Maler Carl Vinnen 1911 veröffentlichte Ausführung von Buchillustrationen zu Texten von
Manifest Ein Protest deutscher Künstler konzipiert Heinrich von Kleist zu interessieren versuchte, muß
war. In dieser Schrift widerlegten zahlreiche Künst- an dieser Stelle Bruno Cassirer erwähnt werden. 6
ler, darunter viele Mitglieder der Berliner Secession, Bereits 1906 versuchte er mit großem Nachdruck,
sowie einige fortschrittliche Museumsdirektoren, jedoch ohne Erfolg, Max Slevogt zur Wiederauf-
Kunsthändler, Sammler und Kunstschriftsteller die nahme des schon vor der Jahrhundertwende ent-
von Carl Vinnen und seinen Anhängern als Angriff standenen Plans zur Illustration von Kleists Penthe-
gegen Paul Cassirer und andere einflußreiche Per- silea zu überreden. 7 Und 1910 wandte er sich an
sönlichkeiten der zeitgenössischen Kunstszene Ernst Barlach mit dem Vorschlag, Kleists Erzählung
intendierte Behauptung, daß die von einigen verant- Michael Kohlhaas mit Holzschnitt-Illustrationen
wortungslosen Kunsthändlern und -kritikern be- des Künstlers auszustatten (vgl. Kap. 3.10.). Dieses
wirkte Überschwemmung des deutschen Kunst- Illustrationsprojekt scheiterte am Einspruch von
markts mit minderwertigen Bildern von zeitgenös- Paul Cassirer, der sich im Zusammenhang mit der
sischen französischen Künstlern das Schaffen und Auseinandersetzung um das Vorhaben seines Vet-
die Existenz vieler deutscher Künstler gefährde. ters möglicherweise zum ersten Mal in Gedanken
Als es im Zusammenhang mit der Sommer-Aus- mit dem Plan vertraut machte, innerhalb der Publi-
stellung 1913 unter den Künstlern der Berliner kationsreihe der Pan-Presse Buchillustrationen zu
Secession zu einer Spaltung kam, trat Hettner einem W e r k von Kleist zu veröffentlichen. Auch
zusammen mit der Mehrzahl der Mitglieder aus der Wilhelm Herzog, der bis 1911 Lektor des Paul
Vereinigung aus und wurde Mitglied der freien
Secession. 1 Nolde:Jahre der Kämpfe, S. 151 £.
Offenbar verlief die Zusammenarbeit zwischen 2 Im Kampf um die Kunst, S. 5 1 - 5 5
Hettner und dem Paul Cassirer Verlag für das 3 Verzeichnis der Arbeiten von Otto Hettner für die »Kriegs-
zeit« in: (Ausst. Kat. Bremen 1968), Ernst Barlach, S. 1 4 9 - 1 6 7
13. W e r k der Pan-Presse zur Zufriedenheit aller
4 Georg Lukacs: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts.
Beteiligten, denn 1914 wurde Hettner ein fester Berlin 1 9 5 2 ; zitiert nach Kanzog: Edition und Engagement,
Mitarbeiter der von Paul Cassirer kurz nach dem Bd. 1, S. 4 ; Vgl. auch Goldammer: Der Mythos um Heinrich von
Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegründeten Zeit- Kleist. In: Schriftsteller über Kleist, S . 7 - 2 6
schrift Kriegszeit, die zahlreiche Lithographien des 5 Vgl.: Heinrich von Kleists Nachruhm
6 Vgl. Wilk: Kleist in der Buchillustration, S . 9 - 1 5 , 5 1 - 5 7 ;
Künstlers veröffentlichte. 3
S.llf., S.53
Die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Plan zur 7 Vgl. Imiela: Max Slevogt, S. 154, 3 9 6 A n m . 2 und 3, 3 9 8
Illustration von Kleists Novelle entstand und ob A n m . 16
Cassirer Verlags war, könnte Paul Cassirer zu diesem Tod bringenden Reiter in der Offenbarung Johannis
Plan angeregt haben, denn Herzog leistete zu dem weckt und damit ankündigt, daß der an einem
»gewaltigen Berg von Drucksachen, der zu Kleists Berghang liegenden Stadt, die im Hintergrund
hundertstem Todestage aufgehäuft« wurde,8 mit sichtbar wird, eine Katastrophe von apokalypti-
seiner Kleist-Biographie einen vielbeachteten Bei- schen Ausmaßen bevorsteht.
trag. In diesem Buch heißt es über den als erste Auch in der als Kopfleiste oberhalb des Schrift-
Erzählung 1807 veröffentlichten Text Das Erdbeben blocks angeordneten Illustration auf der zweiten
von Chili: Seite 11 tauchen die unheimlichen Wesen, die die
M i t . . . dieser kurzen, knappen, auf noch nicht zwanzig Seiten zerstörerischen Gewalten des Erdbebens herbeiru-
zusammengedrängten Geschichte hat Kleist sogleich den fen, auf. In einer Art archaischem Knielauf-Schritt
Gipfel seiner novellistischen Kunst erstiegen. Denn dieses bewegen sich sechs tanzende, musizierende und
Erdbeben ist seine stärkste und elementarste Novelle. 9
wild gestikulierende Dämonen in einem bildparallel
Die typographische Ausstattung des 13.Werks geordneten Zug von links nach rechts. In der
der Pan-Presse wurde dem illustrierenden Künstler Gestaltung der Körper aus einfachen plastischen
selbst überlassen. Hettner lithographierte den Text Grundformen, die in einem harten Aufbau ohne
in einer der Druckschrift angenäherten dekorativen organische Übergänge zusammengefügt erschei-
Schreibschrift und ordnete ihn zu Schriftblöcken, in nen, greift Hettner formale Anregungen des >primi-
deren Konzeption er die Wirkung der lithographi- tiven< Figurenstils auf, den Künstler des Expressio-
schen Darstellungen einbezog. Durch eine sorgfäl- nismus, des Fauvismus und des Kubismus im ersten
tige Planung bei der Gestaltung des Schriftbildes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der Auseinander-
und der Illustration gelang es dem Künstler, Text setzung mit den künstlerischen Ausdrucksformen
und Bild auf den einseitig bedruckten Buchseiten zu von Skulpturen afrikanischer und ozeanischer Na-
abwechslungsreichen Kompositionen von beein- turvölker entwickelten.
druckender Geschlossenheit zu verbinden. Die mittlere, in einem länglichen Ovalformat
Die lithographische Darstellung auf der ersten komponierte Darstellung zeigt ein Liebespaar, das
Textseite des Buches 10 illustriert den Anfangssatz unter einem Baum in einer weiten, am Horizont
der Novelle, der den Bericht vom Ausbruch des durch Hügelketten begrenzten Landschaft liegt.
historisch überlieferten Erdbebens in der Haupt- Die dargestellte Szene illustriert das im Rahmen des
stadt des Königreichs Chile im Jahre 1647 mit dem Rückblicks erwähnte heimliche Treffen zwischen
Bericht vom Höhepunkt der individuellen Kata- Jeronimo und der in ein Kloster verbannten Josephe
strophe eines jungen Spaniers verknüpft, der sich in in einer »verschwiegenen Nacht«, in der Jeronimo
einem Gefängnis der Stadt das Leben nehmen »den Klostergarten zum Schauplatze seines vollen
will: Glückes gemacht« hatte.12 Im deutlichen Gegensatz
Links im Vordergrund steht auf den Stufen eines zum harten Aufbau der Dämonen-Körper aus einfa-
Pfeilers ein nackter Mann, der sich die Schlinge chen, groben Formen orientiert sich Hettner bei der
eines am Pfeiler befestigten Strickes um den Hals Darstellung der beiden nackten Gestalten bewußt
gelegt hat. Oberhalb des Mannes werden auf dem an dem in der Renaissance entwickelten und bis ins
querliegenden Steinblock, den der Pfeiler trägt, zwei 19-Jahrhundert hinein verbindlichen Kanon der
merkwürdige Gestalten sichtbar: Sie haben nackte, anatomisch >richtigen< Proportionen des menschli-
menschlich gebildete Körper und kantige Köpfe, chen Körpers, dessen Formen sich zu einer organi-
die mit ihren maskenhaft starren Gesichtszügen schen Einheit verbinden und so die Harmonie
Totenschädeln ähneln. Die linke Gestalt stemmt zwischen Seele und Leib im klassischen Menschen-
einen Felsbrocken hoch, den sie offenbar im näch- bild zum Ausdruck bringen. Indem Hettner die
sten Moment fallen lassen wird. Die rechte Gestalt innere Harmonie der entspannt ruhenden Gestal-
kniet auf der Kante des Steinblocks und ist im ten und den harmonischen Einklang zwischen den
Begriff, sich mit weit ausgebreiteten Armen in die
Tiefe zu stürzen. Durch diese Aktionen erschließt
8 Julius Bab in: Die Schaubühne, 3 0 . 9 . 1 9 1 1 ; zitiert nach:
sich die Bedeutung der beiden unheimlichen
Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 195
Wesen: Es sind Dämonen, die die Zerstörungskräfte 9 Herzog: Heinrich von Kleist, S. 3 5 0
des Erdbebens in Bewegung setzen. Im Mittelgrund 10 Ausgabe der Pan-Presse, S.(l), 33 x 23,4 c m ; Abb. in:
der Darstellung erkennt der Betrachter auf dem Loubier: Buchkunst, Abb. 127
Rücken eines wilden, in der Luft vorwärtsstürmen- 11 Ausgabe der Pan-Presse, S.(2), 33,4 χ 23,4 c m
12 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. Zitiert nach
den Pferdes einen weiteren Dämonen, der die
dem Abdruck der Erzählung in: Positionen der Literaturwissen-
Erinnerung an die Beschreibung der Verderben und schaft, S. 11
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Abb. 18: Lithographie (33,4 x 23,4 cm) von Otto Hettner zu:
Heinrich von Kleist, »Das Erdbeben in Chili". Berlin 1914 (13. Werk der Pan-Presse)
Figuren und den Formen der sie umgebenden Natur Prozession von Nonnen dar, die auf der linken Seite
betont, charakterisiert er die Verhaltensweise der in dem dunklen Eingang eines Gebäudes verschwin-
beiden Liebenden, die gemäß den Normen einer den. Lange, schwarze Gewänder und helle Schleier
feudal-klerikalen Gesellschaftsordnung ein Verbre- umschließen die weiblichen Gestalten in kantigen
chen begehen, als das selbstbestimmte Bekenntnis Blockformen und charakterisieren die Nonnen als
zur Wahrheit eines in seiner Natürlichkeit unschul- Repräsentanten einer starren Gesellschaftsordnung,
digen menschlichen Gefühls. die den Verzicht der Menschen auf irdisches Glück
Die untere Illustration auf derselben Seite stellt als Gebot einer metaphysischen Heilsordnung
eine von rechts nach links sich vorwärtsbewegende erzwingt. In der rechten Hälfte der Darstellung wird
hinter einer auf den Stufen liegenden Gestalt, in der wird bei aller Schrecklichkeit auch als befreiend
der textkundige Betrachter die in Geburtswehen empfunden, nicht nur, weil es die beiden Liebenden
niedergesunkene Josephe erkennt, eine knieende im letzten Moment vor dem Tod rettet, sondern
Nonne sichtbar, die mit dem Ausdruck des höch- auch, weil es die Institutionen einer Gesellschaft
sten Entsetzens die Arme hochreißt. Die rechts zerstört, die die Menschen zur Verrohung der
daneben stehende Nonne schlägt die Hände in Gefühle und zur Entfaltung barbarischer, destruk-
sprachloser Empörung über dem Kopf zusammen. tiver Leidenschaften erzieht.
Durch die bildparallele Reihung der Gestalten und Hettner leitet die Darstellung des Erdbebens, die
durch die aufgeregten Gebärden einiger Figuren auf der fünften Textseite beginnt, mit einer eigen-
ergibt sich eine deutliche Parallele zwischen dem in artigen Illustration ein: 16
der Kopfleiste dargestellten Tanz der Dämonen und Im Vordergrund ragen von beiden Seiten Mau-
der in der unteren Illustration dargestellten Prozes- ern, deren Blöcke jeden Moment einzustürzen
sion der Nonnen, die sich in Verbindung mit der drohen, schräg ins Bild. Auf diesen Mauern kauert,
mittleren Darstellung als Veranschaulichung des die obere Kante der sich aufeinander zuneigenden
zentralen Themas der Novelle interpretieren läßt: Steinblöcke jeweils mit einem Fuß berührend, eine
Erzählt wird die Geschichte zweier Menschen, die nackte Gestalt, die das Gesicht zum Himmel gewen-
durch ihr Beharren auf der autonomen Verwirkli- det hat und mit ausgestreckten Armen beschwö-
chung des eigenen Glücksverlangens die Gewalt der rend in die Tiefe weist. Zwischen den Mauern
Gesellschaft auf sich ziehen. Aufgrund der zufälli- hindurch fällt der Blick auf die oberen Stockwerke
gen Kollision von gesellschaftlicher Gewalt und von einigen Häusern, die an einer in die Bildtiefe
Naturgewalt können sie sich zunächst vor der führenden Straße stehen. Aus dem von schwarzen
drohenden Vernichtung retten, der sie schließlich Wolken verfinsterten Himmel stürzt eine riesige
aber doch als Opfer unterliegen. Gestalt in die Tiefe und stemmt sich mit den
Die Darstellung auf der dritten Textseite 13 zeigt Händen gegen die Häuserfassaden, um diese zum
einen Balkon, auf dem sich mehrere festlich geklei- Einstürzen zu bringen.
dete Frauen und Männer versammelt haben, um die Wie schon in der Illustration auf der ersten
Geschehnisse auf einem tief unter ihnen liegenden Textseite läßt Hettner auch in dieser Darstellung die
Platz zu beobachten. Im Hintergrund werden die Wirkungen des Erdbebens von zerstörerischen
blendend weißen Fassaden zweier Häuser sichtbar, Dämonen in Bewegung setzen. Auch Kleist verwen-
auf deren Baikonen und Dächern sich viele, aus der det bei der Beschreibung des Erdbebens, das der
Ferne nur als dunkle Masse erkennbare Zuschauer Leser zunächst aus der Perspektive Jeronimos,
drängen. Durch den impressionistisch lockeren später dann aus der Perspektive Josephes miterlebt,
Auftrag der lithographischen Kreide und durch die das sprachliche Mittel der Subjektivierung. Doch
Erzeugung von weichen Wischeffekten macht diese Subjektivierung dient lediglich zur Charakte-
Hettner die im Sonnenlicht flimmernde, von der risierung des Bewußtseins der Fliehenden, die sich
Unruhe vieler Zuschauer vibrierende Atmosphäre von den entfesselten Naturgewalten wie von an-
dieser Szene sichtbar. In der Lektüre des Textes griffslustigen Ungeheuern verfolgt fühlen und die
erfährt der Betrachter, daß es sich bei dem Ereignis, das Erdbeben als Einwirkung mythologisch-göttli-
das die Zuschauer mit freudiger Anteilnahme beob- cher Kräfte erfahren. Kleist vermeidet es nicht nur
achten, um den Hinrichtungszug der Josephe han- ausdrücklich, diesen Erfahrungen mit Hilfe einer
delt. So verwandelt sich vor dem Hintergrund des selbständigen Deutung des tatsächlichen Gesche-
Textes die dargestellte Szene, die auf den ersten hens durch den Erzähler objektive Gültigkeit zu
Blick eine festliche Heiterkeit auszustrahlen verleihen, sondern er zeigt auch, daß die aus den
scheint, in das beklemmende Bild einer unmensch- subjektiven Erfahrungen der Überlebenden abgelei-
lichen Gesellschaft, die ihren Mitgliedern Genuß teten unterschiedlichen teleologischen Interpreta-
nur in der pervertierten Form der Lust an einer tionen der Naturkatastrophe - einerseits aus der
Hinrichtung als einem »Schauspiele, das der gött- Perspektive der Liebenden als »Wunder des Him-
lichen Rache gegeben«14 wird, gestattet.
Angesichts der Grausamkeit, die sich in dieser
Szene offenbart, wird verständlich, warum die plötz-
lich ausbrechende »zerstörende Gewalt der Natur«,15 13 Ausgabe der Pan-Presse, S.(3); 32,5 x 23,8 c m
14 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der
die Kleist dem Leser in einer dichtgedrängten Folge Literaturwissenschaft, S. 12
von Bildern des Grauens vor Augen führt, zugleich 15 Ebd., S. 13
erschreckend und faszinierend wirkt. Das Erdbeben 16 Ausgabe der Pan-Presse, S.(5); 33,5 x 23,4 c m
mels«,17 andererseits aus der Perspektive der Chri- Zerstörung in der Phantasie als ästhetisches Schau-
stengemeinde als Strafe Gottes für die »Sittenver- spiel zu genießen vermag.
derbnis der Stadt«18 - die verhängnisvollen Ereig- Mit dem glücklichen Ausgang von Jeronimos
nisse des zweiten Tages einleiten, die den Tod vieler Flucht aus der Stadt beginnt ein neuer Abschnitt der
Menschen bewirken. Erzählung, deren Handlung sich vor den Toren der
In Hettners Interpretation der entfesselten Na- Stadt abspielt.
turgewalten als Eingriffe zerstörerischer Dämonen, Der Leser erfährt, daß der junge Spanier, der sich
die den Bewohnern Santiagos nach dem Leben noch Stunden zuvor das Leben nehmen wollte, nach
trachten, kommt ein Textverständnis zum Aus- dem Erwachen aus einer Ohnmacht zunächst ein
druck, das unter dem Eindruck von expressionisti- »unsägliches Wonnegefühl« und eine tiefe Dankbar-
schen Zerstörungs- und Untergangsvisionen steht, keit für seine »wunderbare Errettung« verspürt.24
wie sie Georg Heym in seinen mythologischen Erst allmählich setzt die Erinnerung an die Ereig-
Großstadtgedichten in monumentaler Wucht ge- nisse vor dem Ausbruch des Erdbebens wieder ein.
staltet hat.19 Angesichts der Befürchtung, daß Josephes Hinrich-
Entsprechend einem in der Kleist-Rezeption vor tung bereits vollzogen sein könnte, gibt sich Jero-
und nach dem Ersten Weltkrieg verbreiteten Ver- nimo erneut der Verzweiflung hin, doch dann
ständnis des Dichters als »Klassiker des Expressio- schöpft er neue Hoffnung, daß auch Josephe über-
nismus«20 interpretiert Hettner das Erdbeben in lebt haben könnte. Er begibt sich auf die Suche nach
Chili&Xs frühe literarische Formulierung eines in der seiner Geliebten und findet sie schließlich mit
Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aktuellen Krisenbe- ihrem Kind in einem abgelegenen Tal. An einen
wußtseins, das sich angesichts der vor allem in der zweiten Rückblick, in dem der Leser über Josephes
Großstadt spürbaren bedrohlichen Phänomene der Flucht aus der Stadt in Kenntnis gesetzt wird,
modernen Zivilisation, die dem Individuum wie schließt sich die Beschreibung der romantischen
eine mythische Naturgewalt gegenüberstehen, eine nächtlichen Szene an, in der die beiden Liebenden
zerstörerische Katastrophe als befreiendes Ereignis zum vormaligen Glück der »verschwiegenen Nacht«
herbeisehnt.21 im Klostergarten zurückfinden.
In den folgenden Illustrationen hält Hettner das Die ganzseitige Illustration,23 die Hettner zu
Inferno der vom Erdbeben erschütterten Stadt dieser Szene entwirft, zeigt in nächtlichem Däm-
zunächst in einer Gesamtansicht22 fest, die zerstörte merlicht ein hügeliges Gelände, das von Schirmpi-
Häuser, einstürzende Gebäudeteile, Flammensäu- nien überschattet wird. Unter dem vordersten Baum
len, die Fluten eines aus seinen Ufern getretenen erblickt man einen auf dem Boden sitzenden Mann,
Flusses, in dem ein Pferd zu versinken droht, und der sich mit dem Rücken an den Stamm lehnt, und
Menschen, die fliehen oder den unter den Trüm- eine in seinem Schoß ruhende Frau, die einen
mern Verschütteten zu helfen versuchen, darstellt. Säugling in ihren Armen hält. Seitlich einfallendes
Sodann lenkt er in einer weiteren, ganzseitigen sanftes Mondlicht beleuchtet einzelne Partien der
Illustration23 die Aufmerksamkeit des Betrachters friedlich ruhenden Gestalten, läßt die Baumstämme
auf ein Detail, das in der Erzählung nicht erwähnt glänzen und durchlichtet die über der Landschaft
wird:
Diese Illustration zeigt die Ruine eines Hauses, 17 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der
dessen vordere Fassade eingestürzt ist. Die zerbor- Literaturwissenschaft, S. 14
stenen Balken des Dachstuhls und die eingebroche- 18 Ebd., S. 20
nen Stockwerke lassen erkennen, daß auch das 19 Vgl. etwa die Gedichte von Georg Heym »Der Gott der
Stadt« und «Die Dämonen der Städte« in: Heym: Dichtungen;
Innere des Gebäudes von der Zerstörung nicht
zur Deutung dieser Gedichte vgl. Vietta/Kemper: Expressio-
verschont geblieben ist. Auf den Wänden entfaltet nismus, S. 54
sich ein reizvolles Spiel des Lichtes, das blendend 20 Julius Petersen: Kleists dramatische Kunst: Vortrag vom
helle Flächen und weiche Graupartien mit samtig 2 2 . 1 0 . 1 9 2 1 ; zitiert nach Kanzog: Edition und Engagement,
schwarzen Schatten in einem lebhaften Wechsel S.8.
Auch Georg Heym war ein großer Bewunderer der Werke von
verbindet. Da die Wahrnehmung der dargestellten
Kleist; vgl. die Tagebucheintragungen, abgedruckt in: Heinrich
Lichteffekte beim Betrachter Ruhe und Distanz von Kleists Nachruhm, S. 361
voraussetzt, erscheint diese Ruinen-Darstellung 21 Vgl. Vietta/Kemper: Expressionismus, S. 56
von vornherein als Produkt der Einbildungskraft 22 Ausgabe der Pan-Presse, S.(7), 33,3 x 24 cm
des Lesers, der sich im Nachvollzug der erzählten 23 Ausgabe der Pan-Presse, S.(8), 33 x 23,4 cm
24 Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der Literaturwissen-
Handlung des befreienden Charakters der Naturka-
schaft, S. 13
tastrophe bewußt ist und der daher den Vorgang der 25 Ausgabe der Pan-Presse, S.(16), 33 x 23,4 cm
liegenden nächtlichen Schatten. Der Aufbau der untergehenden Sonne leuchtenden Fensterrose des
Komposition wird durch weitgespannte, ineinan- Dominikanerdoms verstanden haben: 31
dergreifende und sich verschränkende Bogenlinien Durch eine große, maßwerkgefüllte Rose fällt
bestimmt, die die menschlichen Figuren, die gegen- helles Sonnenlicht in den dunklen Innenraum eines
ständlichen Formen und den landschaftlichen Kirchenschiffs. Indem die von der Mitte in alle
Raum in einen schwingenden Rhythmus einbinden. Richtungen strahlenden Lichtbahnen die vertikalen
Weich verschwimmende Konturen, die durch die Liniensysteme der seitlichen Säulenreihen, die sich
Überarbeitung sämtlicher Partien mit dem Schab- überschneidenden Bogenlinien des Gewölbes so-
eisen entstehen, erzeugen in Verbindung mit der wie die horizontalen und gebogenen Linien in der
Lichtführung und der Komposition eine zauberi- unteren Bildhälfte erfassen, lösen sie die gegen-
sche Stimmung, die die Szene in die Traumatmo- ständlich definierten Formen in eine Struktur von
sphäre eines paradisischen Glücks hüllt. sich durchdringenden Lichtebenen auf. Durch die
Angesichts des Verhaltens der Menschen, die Gliederung des Bildraums in eine Vielzahl von
ihnen am Morgen des folgenden Tages begegnen, Segmenten mit unterschiedlicher Helligkeit, die
können sich die beiden Liebenden des Eindrucks sich zu einer abstrakten, dynamisch bewegten Ord-
nicht erwehren, daß das Erdbeben einen glücklichen nung verbinden, beweist Hettner seine Aufge-
»Umsturz aller Verhältnisse« 26 herbeigeführt habe. schlossenheit für kubistische Experimente zur
Sie erleben, wie die Bewohner Santiagos, die sich vor abstrakten Strukturierung und Rhythmisierung der
die Tore der Stadt retten konnten, ohne Rücksicht Bildfläche.
auf Standesschranken und Standesvorurteile mit- Der Umschlag von der Utopie einer im Geiste
einander verkehren, »einander bemitleiden, sich der Brüderlichkeit versöhnten Menschheit, die
wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Jeronimo und Josephe angesichts der im Domini-
Erhaltung des Lebens gerettet haben mochten, kanerdom versammelten Christengemeinde vor
freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück sich zu sehen meinen, in die Schreckensvision
alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie einer wutentbrannten, zum Mord entschlossenen
gemacht hätte«. 27 Daß die familiäre Gemeinschaft Menschenmenge vollzieht sich in schockierender
Jeronimo und Josephe die Verwirklichung ihres Schnelligkeit.
zuvor nur im Gegensatz zur Gesellschaft realisierba- Voller Entsetzen vernehmen die beiden Lieben-
ren Glücksverlangens als selbstverständliches Recht den und ihre Begleiter die Worte des predigenden
zu gewähren scheint, versetzt das junge Paar in eine Chorherren, der das Erdbeben als Strafe Gottes für
Stimmung von »unaussprechlicher Heiterkeit«, 28 »Greuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen«,
die Hettner in mehreren Illustrationen einzufangen interpretiert, in diesem Zusammenhang den Frevel
versucht. im Klostergarten in Erinnerung ruft, die angebliche
Aufgrund der überwältigenden Erfahrung einer »Schonung, die er bei der Welt gefunden« habe,
Situation, in der »der menschliche Geist selbst, wie gottlos nennt und die »Seelen der Täter, genannt,
eine schöne Blume, aufzugehn« 29 scheint, verdrängt allen Fürsten der Hölle« überantwortet. 32 Unter
das Bewußtsein der beiden Liebenden die Erinne- dem Eindruck der Predigt verwandeln sich diesel-
rung an die schrecklichen Ereignisse des vergange- ben Menschen, die das Unglück des vergangenen
nen Tages in die unwirkliche Sphäre eines bösen Tages großmütig und tolerant gemacht zu haben
Traums. In der trügerischen Hoffnung, daß zu ihrer schien, in eine rasende Menge, die den Tod der
endgültigen Wiederaufnahme in die Gesellschaft »gottlosen Menschen« 33 fordert. Kleists Beschrei-
nur noch der formelle Akt der Sanktionierung ihres bung der »durch die aufgehetzte Menge verübten
individuellen Glücks durch die staatlichen und Greueltaten am Schluß der Erzählung, wo der Blick
kirchlichen Autoritäten zu erwirken sei, geben des Betrachters auf der mit barocker... Grausamkeit
Jeronimo und Josephe den Plan zur Flucht nach
Spanien auf und schließen sich am Nachmittag dem
Z u g der Bewohner zur Dominikanerkirche der 26 Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der Literaturwissen-
schaft, S. 18
Stadt an, weil sie den Wunsch verspüren, im
27 Ebd., S. 17
Rahmen eines feierlichen Dankgottesdienstes »ihr 28 Ebd., S. 18
Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen.« 30 29 Ebd., S. 17
Als Symbol dieses Wunsches nach Einbindung 30 Ebd., S. 19
31 Ausgabe der Pan-Presse, S.(25), 33 x 23,5 cm
des individuellen Glücks in die Harmonie einer von
32 Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der Literaturwissen-
allen Menschen anerkannten metaphysischen Ord- schaft, S. 20
nung könnte Hettner die Darstellung der in der 33 Ebd.,
ausgemalten Ermordung der Opfer der Lynchjustiz Moralität der Menschen zur Entfaltung gebracht
zu verweilen gezwungen ist«,34 beeindruckt den und damit die menschliche Fähigkeit zu einem
Leser durch die unerbittliche Härte, die Hettner in glücklichen Zusammenleben sichtbar gemacht
seinen Illustrationen bis an die Grenze des Erträg- hat.
lichen steigert.
Die Darstellung des freiwilligen Opfers der Jose-
phe, 35 die die Wut der Menge auf sich lenkt, um Don 3 . 1 4 August Gaul, 7 5 Steinzeichnungen zu:
Fernando und die beiden Kinder zu retten, erinnert »Alte Tierfabeln« (aus Karl W i l h e l m
in der Komposition an eine Szene aus der Leidens-
Ramlers Fabellese. Leipzig 1783).
geschichte Christi und bringt so die pervertierte
1 9 1 9 (14. Werk)
Form, in der die Gläubigen die christliche Lehre
befolgen, zur Anschauung: Zu keinem der vielen Künstler, mit denen er sich im
Denn bei den brutalen Angreifern, die sich mit Laufe seines Lebens anfreundete, hatte Paul Cassirer
verschiedenen Mordinstrumenten bewaffnet haben ein so dauerhaftes, intensives und herzliches Ver-
und die von allen Seiten auf die in der Mitte hältnis wie zu dem Bildhauer August Gaul. Cassirer
stehende wehrlose Gestalt in dem hellen Gewand lernte den Künstler, der bereits 1899 Mitglied der
eindringen, handelt es sich um fanatisierte Christen, Berliner Secession wurde und seit 1902 dem Vor-
die sich »in heiliger Ruchlosigkeit« 36 ein göttliches stand der Künstlervereinigung angehörte, zu einem
Richteramt anmaßen. In den groben, verzerrten Zeitpunkt kennen, als dieser vom Verkauf seiner
Formen ihrer Körper und in den zu teuflischen künstlerischen Arbeiten noch nicht leben konnte,
Masken entstellten Gesichtern gleichen diese Men- sondern - wie Tilla Durieux in ihren Erinnerungen
schen den unheimlichen Dämonen des Erdbebens, schreibt - »allerlei Gelegenheitsarbeiten überneh-
die Hettner in den Illustrationen zum ersten Teil der men mußte, während sein wundervolles Talent
Erzählung dargestellt hat. Durch die Betonung brachlag.«1
dieser Ähnlichkeit wird deutlich, daß nicht nur die Da Cassirer sehr schnell die entwicklungsge-
Natur, sondern auch der menschliche Geist unge- schichtlich bedeutsamen Ansätze zu neuen Gestal-
heure Zerstörungsenergien freizusetzen vermag, tungsmöglichkeiten in Gauls Tierplastiken erkann-
denen der Einzelne wie einer mythischen Naturge- te, bot er dem Künstler die Zahlung einer Art Rente
walt ausgeliefert ist. Herbeigeführt wird der Tod der an, um diesem so die Gelegenheit zu bieten, sich
beiden Liebenden jedoch nicht durch die Über- ohne äußeren Druck auf die ihn interessierenden
macht eines blinden Naturgeschehens, sondern Arbeiten zu konzentrieren. 2 Gaul akzeptierte den
durch die mit grausamer Konsequenz ausgeführte Vorschlag und räumte dem Kunsthändler dafür das
Tat von Menschen, die den Zwang zur Unterord- Recht des Alleinvertriebes der entstehenden Werke
nung ihrer subjektiven Bedürfnisse unter die ein. Obwohl der Bildhauer mit seinen Plastiken in
Gesetze einer inhumanen Gesellschaft als Gebote den Jahren nach der Jahrhundertwende rasch breite
einer metaphysischen Ordnung so sehr verinner- öffentliche Anerkennung fand, die nicht nur in
licht haben, daß sie allen Versuchen, sich diesem zahlreichen Ankäufen und Aufträgen, sondern auch
Zwang zu entziehen, mit unversöhnlichem Haß in seiner Aufnahme als ordentliches Mitglied in die
entgegentreten. Preußische Akademie der Künste im Jahre 1904, in
Statt die durch die Naturkatastrophe eröffnete seiner Ernennung zum Professor durch den Preußi-
Chance zum »Umsturz aller Verhältnisse«, die schen Kulturminister 1908 und anderen Ehrungen
menschliches Leiden verursachen, zu nutzen, setzen zum Ausdruck kam, 3 überließ er die Regelung seiner
diese Menschen das Zerstörungswerk des Erdbe- geschäftlichen Angelegenheiten auch weiterhin
bens fort und unterwerfen sich und ihre Mitmen- Paul Cassirer, der sein vertrauter Freund wurde.
schen auf diese Weise erneut den Prinzipien der
alten, erstarrten Ordnung.
Am Ende bleibt nur in der Figur des Don
3 4 Christa Bürger: Statt einer Interpretation, Anmerkungen
Fernando, der das junge Paar unter Einsatz seines zu Kleists Erzählen. In: Positionen der Literaturwissenschaft,
Lebens verteidigt und ihr Kind um den Preis des S. 107
Verlustes von seinem eigenen Sohn rettet, die 35 Ausgabe der Pan-Presse, S.(31), 33 x 23,4 c m
Erinnerung an die Erfahrung lebendig, daß die 3 6 Kleist: Das Erdbeben; in: Positionen der Literaturwissen-
schaft, S. 2 0
Gemeinschaft der Überlebenden vor den Toren der
1 Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S. 109
Stadt für wenige Stunden die natürliche, aber von 2 Ebd.
der Zivilisation verschüttete Wahrhaftigkeit und 3 Vgl. Walther: August Gaul, S. 14
Offenbar inspirierte gerade die Verschiedenheit Bedeutung beimaß. Nun bemerkte er die Zustimmung, die
seine Graphik fand, und schließlich führten die Bedingungen
der Charaktere von Cassirer und Gaul die aufrichtige
während des Krieges dazu, daß er sich auf diesem Gebiet weiter
Zuneigung zwischen ihnen. Aus den Erinnerungen
betätigte. 1 0
der Zeitgenossen geht hervor, daß August Gaul ein
ruhiger, freundlicher, kluger und bewundernswert Als Paul Cassirer zu Beginn des Ersten Weltkriegs
ausgeglichener Mensch war, der von den meisten die Zeitschrift Kriegszeit gründete (vgl. Kap. 1.2.4),
Künstlerkollegen nicht nur wegen des hohen hand- konnte er sich der Bereitschaft seines Freundes Gaul
werklichen und künstlerischen Niveaus seiner zur Mitarbeit sicher sein. Fast für jede Nummer
Arbeiten, sondern auch wegen seines toleranten, dieser »Künstlerflugblätter« schuf dieser eine oder
bescheidenen und integren Wesens sehr geschätzt mehrere Lithographien, 11 darunter viele politische
wurde. 4 So schrieb Ernst Barlach anläßlich des Todes Karikaturen, in denen er die patriotische Intention,
von Gaul im Jahre 1921: die der Konzeption der Kriegszeit zugrundelag,
umzusetzen versuchte. In diesen Karikaturen wer-
A n Gaul verlor ich viel und einen wahren Freund, der mir mehr den Tiere, die als Repräsentanten der kriegführen-
als ich lange ahnte, zugetan war, während er anscheinend mit
den Staaten auftreten - der Seelöwe verkörpert
jedermann und schließlich außer mit Cassirer mit niemand so
England, der Hahn Frankreich, der Bär Rußland und
recht vertraut war. 5
der Adler Deutschland - , dargestellt und ihre
Der gebildete und geistreiche, im gesellschaftli- Aktionen aus einer einseitig nationalistischen Per-
chen Umgang aber eher schüchterne und wortkarge spektive kommentiert.
Künstler bewunderte die Spontaneität und Phanta- In der kunstwissenschaftlichen Literatur ist der
sie, die intellektuelle Vielseitigkeit und die glänzen- Hinweis von Curt Glaser in seinem 1922 veröffent-
de, überaus witzige und unterhaltsame Redege- lichten Buch Die Graphik der Neuzeit, daß Gaul
wandtheit seines Freundes Cassirer. 6 Paul Cassirer auch in diesen Karikaturen die »strenge Haltung«
liebte den Künstler seinerseits wegen der Ausgegli- und »ernsthafte Sachlichkeit« seiner künstlerischen
chenheit und Gradlinigkeit seines Charakters und Auffassung vom Tier bewahrt habe, 12 wiederholt
schätzte die einfachen, klaren Lösungen von gestal- aufgenommen worden. So schreibt auch Angelo
terischen Problemen in seinen Tierplastiken, von Walther in seiner bereits erwähnten Monographie
denen er viele selbst erwarb, ebenso wie sein von 1973, daß Gaul seiner Aufgabe als politischer
sachliches, von persönlichen Eitelkeiten freies Karikaturist der »Kriegszeit«, den Betrachter in
Urteil in künstlerischen Fragen, durch das er z.B. seiner patriotischen Gesinnung zu bestärken, »ei-
bereits 1907 auf den damals noch unbekannten gentlich nicht gerecht geworden« sei und daß
Bildhauer Ernst Barlach aufmerksam gemacht »gerade dadurch die Lithographien ihren überzeit-
wurde (vgl. Kap. 3.10). lichen Wert ... als vollendete Tierdarstellungen«
Die enge Beziehung zwischen den beiden Freun- bewahrt hätten. 13 In der Tat zielen Gauls Lithogra-
den 7 wurde weder durch die zahlreichen Auseinan- phien für die »Kriegszeit« nicht darauf ab, im
dersetzungen innerhalb der Berliner Secession noch Betrachter ein haßerfülltes Feindbild zu erzeugen
durch die Ereignisse der Kriegsjahre und die hier- oder zu befördern. Gleichwohl macht sich nicht nur
durch bedingte lange Trennungszeit erschüttert. in den Unterschriften, die die Kriegshandlungen
Während seiner schweren Krankheit, an deren des Deutschen Reichs ausschließlich als gerechte
Folgen der Künstler 1921 starb, wurde er von dem Vergeltungsaktionen für die Provokationen und
Ehepaar Cassirer liebevoll unterstützt. 8 Der Tod
seines Freundes war für Cassirer ein schmerzhafter
Verlust, der in Verbindung mit anderen negativen 4 Vgl. ebd., S. 14ff.; Kollwitz: Ich sah die Welt, S. 166, 2 4 2 ,
Erfahrungen die schwere psychische Krise auslöste, 1 3 3 ; Leben und Meinungen des Malers Hans Purrmann, S. 118
5 Barlach: Briefe I, S. 6 7 7
unter der er in den 20er Jahren immer stärker litt. 9
6 Guthmann: Goldene Frucht, S. 2 1 5 f.
Zu den Anfängen der Beschäftigung Gauls mit 7 Über das Verhältnis der beiden Freunde vgl. Durieux:
druckgraphischen Arbeiten schreibt Angelo Wal- Meine ersten neunzig Jahre, S. 108ff.; Guthmann: Goldene
ther in seiner Monographie über den Bildhauer: Frucht, S. 2 1 6 ; Grzimek: Deutsche Bildhauer, S. 50ff.
8 Vgl., ebd., S. 57 f.
Der Druckgraphik hat Gaul sich erst verhältnismäßig spät 9 Vgl. Durieux: Meine ersten neunzig Jahre, S . 3 1 0
zugewandt; 1912 erschien bei Cassirer eine erste Folge von 15 10 Walther: August Gaul, S. 124
Kaltnadelradierungen. Daß der Künstler nicht früher solche 11 Verzeichnis der in der »Kriegszeit« veröffentlichten Litho-
Arbeiten geschaffen und veröffentlicht hat und daß er dazu erst graphien von August Gaul in: (Ausst. Kat. Bremen 1968) Ernst
von außen her, vermutlich durch Paul Cassirer selbst, den Barlach, S. 1 5 0 - 1 6 7
Anstoß erhalten mußte, ist ein Beweis dafür, wie wenig er als 12 Glaser: Die Graphik der Neuzeit, S. 5 0 4
der vom Handwerk herkommende Bildhauer der Zeichnung 13 Walther: August Gaul, S. 125
Angriffe des feindlichen Auslands legitimieren, Cassirer das große CEuvre August Gauls auch durch
sondern auch in den Bildentwürfen selbst Gauls eine Publikation seines Verlages - Emil Waldmanns
eingeengte Wahrnehmung des Kriegsgeschehens Buch über den Künstler 18 - und durch die Organisa-
geltend: Immer ist es der »britische Leu«, der tion einer Sonderausstellung von Werken Gauls in
gallische Hahn oder der russische Bär, nie aber der seiner Galerie im Herbst 1919 würdigte.
deutsche Adler, der verwundet, fliehend oder sich in Ob die Auswahl der literarischen Vorlage vom
einer anderen Bedrängnis befindend dargestellt Künstler selbst, der laut Tilla Durieux »in der
wird. Literatur sehr bewandert« war,19 oder von Paul
Auch wenn die kritiklose Übernahme des Stand- Cassirer vorgenommen wurde, ist nicht bekannt. Da
punkts der offiziellen Kriegspropaganda durch den sich Gaul in seiner Arbeit fast ausschließlich auf die
Künstler den heutigen Betrachter ärgerlich stim- künstlerische Darstellung von Tieren konzentrierte,
men mag, läßt sich die hohe künstlerische Qualität erschien die Tierfabel, die als Textvorlage in der
vieler Lithographien nicht bestreiten. Als Beispiel Geschichte der Buchillustration eine lange und
hierfür sei die Darstellung »Der britischen Leu in reichhaltige Tradition hat, als ein dem Künstler im
Verlegenheit« in der Ausgabe vom 27. 1. 1915 Motiv naheliegender Stoff. Daher heißt es auch in
genannt, die einen Seelöwen zeigt, der einen viel zu der Anzeige, die der Paul Cassirer Verlag zum
großen Fisch vergeblich zu verschlingen versucht. 14 Erscheinen der Volksausgabe von Gauls Fabelillu-
Während Gaul in seinen vor dem Ersten Weltkrieg strationen im Herbst 1919 veröffentlichte: »Keinem
entstandenen Kaltnadelradierungen das charakteri- andern war der Stoff so natürlich wie August
stische Erscheinungsbild der dargestellten Tiere in Gaul.«20 Diese Formulierung unterschlägt allerdings
erster Linie durch den klaren, zugleich zart und die wichtigen Unterschiede, die sich im Vergleich
entschieden gezeichneten Umriß erfaßte, nutzte er zwischen der erzählerischen Intention der Tierfabel
in den Arbeiten für die »Kriegszeit« auch die Mög- und der künstlerischen Auffassung vom Tier, wie sie
lichkeiten der lithographischen Technik zur sen- in Gauls plastischen Werken und Graphiken zur
siblen Modellierung der Binnenflächen gemäß der Geltung kommt, feststellen lassen: Während die
Beschaffenheit von Knochenbau, Muskulatur, Haut, Tierfabel von Tieren, die wie Menschen sprechen
Fell und Federkleid der verschiedenen Tiere. und agieren, erzählt, um menschliche Eigenschaf-
Unter den Lithographien von August Gaul, die in ten, Verhaltensweisen und Einstellungen, gesell-
der Kriegszeit veröffentlicht wurden, befinden sich schaftliche (Un-) Sitten und politische Zustände in
auch einige Blätter, die Illustrationen zu verschiede- einer sowohl unterhaltenden als auch moralisch
nen literarischen Texten, u. a. zu einer Tierfabel nach belehrenden Form vorzuführen, ist Gauls Auffas-
La Fontaine, 15 zeigen. Auch die Zeitschrift Der sung vom Tier - nach Emil Waldmanns treffender
Bildermann, die die Kriegszeit im April 1916 ablöste Charakterisierung -
und bis zum Ende des Jahres erschien, enthielt in unpathetisch in einem auch für den Laien auffallenden Grade.
fast jeder Nummer lithographische Karikaturen Da er im Tier nicht das eigentlich Psychologische, nicht das
und Illustrationen des Künstlers. 16 sogenannte >Interessante<, d.h. nicht das Menschenähnliche
sucht, sondern gerade und erst recht das Animalische, braucht
Angesichts seiner Fähigkeiten auf dem Gebiet
er sein von Haus aus ruhiges Temperament nicht zu irgendwel-
der Druckgraphik, die Gaul auch in der 1916 chen Gewaltakten anzustrengen, sondern er begnügt sich
entstandenen Folge von 12 Kaltnadelradierungen damit, seine Tiere im Stande der Ruhe anzuschauen; was er von
»Trinkende Tiere« und in der 1918 erschienenen ihnen will, Form und Rhythmus, Linie und Bewegung, geben
Folge von 24 Lithographien »Vom Fressen der sie auch so her... 2 1
Tiere« unter Beweis stellte,17 und angesichts der Die Fabelsammlung des zu seinen Lebzeiten als
Erfahrungen die er in seinen Beiträgen für die
Übersetzer antiker Autoren und als virtuoser Metri-
Kriegszeit und den Bildermann bei der Illustrierung
von Texten gewonnen hatte, erstaunt es nicht, daß
sich der Künstler seinem Freund Cassirer, als dieser 14 Abb. ebd., Nr. 177
die Fortführung der Publikationsreihe der Pan- 15 Kriegszeit, Künstlerflugblätter. Nr. 11 (4.11.1914)
16 Verzeichnis der im »Bildermann« veröffentlichten Litho-
Presse nach dem Kriegsende zu planen begann, als
graphien von August Gaul in: (Ausst. Kat. Bremen 1968) Ernst
Buchillustrator zur Verfügung stellte. Gauls Stein- Barlach, S. 1 6 8 - 1 7 4
zeichnungen zu Tierfabeln aus Karl Wilhelm Ram- 17 Einzelne Blätter aus diesen beiden Folgen sind abgebildet
lers Fabellese von 1783, mit denen die Reihe der in: Walther: August Gaul, Nr. 148-153, 1 8 1 - 1 9 1
nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Werke 18 Waldmann: August Gaul
19 Durieux: Meine ersten neunzigjahre, S. 108
der Pan-Presse eröffnet wurde, erschienen im
20 Verlagsanzeige in: Die weißen Blätter 6, 11 (1919)
50. Geburtstagsjahr des Künstlers, in dem Paul 21 Waldmann: August Gaul, S. 20
ker berühmten Dichters Karl Wilhelm Ramler tionen zu Wilhelm Heys Fabeln für Kinder, die in
( 1 7 2 5 - 1 7 9 8 ) , der heutzutage wohl nur noch unter Deutschland großen Erfolg hatten und zum Vorbild
Literaturexperten und auch unter diesen wohl nur für zahlreiche Fabelillustrationen in Kinderbüchern
wegen seiner Freundschaft und Zusammenarbeit des 19.Jahrhunderts wurden, idyllische Szenen aus
mit Lessing bekannt ist, war zu Beginn des 20. Jahr- einer wohlgeordnet und -behütet erscheinenden
hunderts vermutlich noch nicht vollständig in Ver- Welt. 2 3 Jean Isidore Ignace Gerard, gen. Grandville
gessenheit geraten, da Fabeldichtungen im ^ J a h r - deutete hingegen in seinen Tier-Mensch-Karikatu-
hundert zur Standardlektüre von Kindern und ren zu Fabeln von La Fontaine, die 1838 und - in
Jugendlichen gehörten. 2 2 Gleichwohl mag es auf den einer erweiterten Ausgabe - 1840 erschienen und
ersten Blick erstaunlich erscheinen, daß Gaul nicht schon bald sehr populär wurden, die Fabelmoral als
Texte aus einer der berühmten Sammlungen des 17. Kritik an den aktuellen politischen und sozialen
und 18.Jahrhunderts, z.B. aus den häufig illustrier- Zuständen in Frankreich. 26 Gustave Dore ließ in
ten Fabelbüchern von La Fontaine (erschienen seinen 1868 als Holzstichillustrationen publizierten
1 6 6 8 - 1 6 9 4 ) oder den beliebten deutschen Fabel- Zeichnungen zu Fabeln von La Fontaine vor allem
sammlungen von Hagedorn (erschienen 1738) und die Dramatik der Fabelhandlung und das Unheimli-
Geliert (erschienen 1748), als Illustrationsvorlagen che, Bedrohliche und Gewalttätige im Verhalten der
bevorzugte. Bezieht man allerdings die charakteri- Tiere und Menschen sowie im Wirken der Natur
stischen Besonderheiten von Gauls künstlerischer sichtbar werden. 27 Obwohl August Gaul diese und
Auffassung, die in der zitierten Beschreibung Emil andere beliebte Fabelillustrationen, die in den ver-
Waldmanns hervorgehoben werden, in die Überle- gangenen hundert Jahren entstanden waren, sicher-
gungen ein, so erweist sich die Auswahl von Texten lich kannte, orientierte er sich in seinen als Voll- und
aus Ramlers »Fabellese« als eine wohlüberlegte Teilbilder, Kopf- und Fußleisten entworfenen
Entscheidung. Während der berühmte französische Lithographien nicht an den im 19. Jahrhundert
Fabeldichter La Fontaine und die seinem Vorbild entwickelten Möglichkeiten der illustrativen Inter-
folgenden deutschsprachigen Dichter des 18.Jahr- pretation von Fabeltexten, 2 8 sondern blieb seinem
hunderts (Hagedorn, Geliert, Lichtwer u. a.) in ihren eigenen künstlerischen Anliegen - der Gestaltung
Fabeln einen leichten, heiteren, den Leser durch des charakteristischen Erscheinungsbildes der dar-
poetische Ausschmückungen unterhaltenden Er- gestellten Tiere in klaren, einfachen Linien und
zählstil entwickelten, orientierte sich Karl Wilhelm Formen - treu. Ein für diese Intention taugliches
Ramler in seiner Bearbeitung von Fabeln verschie- Vorbild im Bereich der Buchillustration könnten
dener Autoren des 18.Jahrhunderts an Lessing, der wohl am ehesten die 1899 veröffentlichten lithogra-
in seinen 1759 erschienenen Abhandlungen über die phischen Tierdarstellungen von Henri Toulouse-
Fabel die sinnliche Veranschaulichung einer allge-
meinen moralischen Lehre an einem einzelnen Fall
als Aufgabe der Fabel bestimmt und eine dieser
Bestimmung gemäße ernste, knappe und präzise 22 Vgl. Kaiser: Die Pädagogisierung der Fabel, S. 1 6 3 - 1 7 9
23 Vgl. ebd., S. 164 ff.
Darstellungsform gefordert hatte. 23
2 4 Auch Albert Pick k o m m t in seinen Untersuchungen
»Über Karl Wilhelm Ramlers Änderungen Hagedornscher
Obgleich Ramler Lessings praktischen und theo-
Fabeln« zu dem Ergebnis, daß in Ramlers Änderungen von
retischen Übergang zur Prosaform der Fabel nicht
Hagedorns Fabeln das Streben nach Verständlichkeit, Einfach-
nachvollzog, versuchte er den Forderungen des mit heit, Natürlichkeit und Kürze zu erkennen sei, ohne diese
ihm befreundeten Dichters durch die sprachliche Intention allerdings mit Lessings Fabeltheorie in Verbindung zu
Kürze und Schlichtheit seiner Versfabeln gerecht zu bringen.
werden. 24 Denkt man an die einfache, ernste Sach- 25 Vgl. (Ausst. Kat. Wolfenbüttel 1983) Fabula Docet, Kat.
Nr. 138
lichkeit der Formgesinnung in den Tierdarstellun-
2 6 Vgl. ebd., S. 56 f. und Kat. Nr. 56, 7 0
gen August Gauls, so wird verständlich, warum 27 Vgl. ebd., S. 57ff. und Kat. Nr. 57
Ramler gerade aufgrund dieser Eigenschaften als 2 8 W i e stark die Rezeption von Fabeln zur Entstehungszeit
Illustrationsvorlage für Gaul besser geeignet er- von Gauls Lithographien noch von den im 19. Jahrhundert
schien als die berühmteren und von vielen Buchillu- entstandenen illustrativen Interpretationen geprägt war, zeigt die
Bemerkung, die Marcus Behmer in einem Brief an Gotthard
stratoren bevorzugten Fabeldichtungen La Fontai-
Laske vom 10. 3. 1 9 2 9 zu Gauls Fabelillustrationen machte
nes und seiner deutschen Nachfolger. (abgedruckt in: Behmer: Grundsätzliches, nach S. 72): »Die
Die Geschichte der Fabelillustration im ^ . J a h r - Lithos von Gaul zu Fabeln sind an sich herrlich, sehen auch im
Buche, als >Bild< nicht schlecht aus, sind aber zum T e x t doch nicht
hundert umfaßt sehr unterschiedliche Möglichkei-
ganz passend, da - wenn auch nicht zu >naturalistisch<, so doch
ten der Rezeption von Fabeltexten: Otto Speckter nicht dem mehr verallgemeinernden Sinne der Fabel gemäß 0 a !
zeichnete in seinen 1833 veröffentlichten Illustra- Speckters Fabeln!!! das ist höchste Klassik!!).«
^riTdmaoljl -fcOd^dte
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mw.ew.oitiurtudaiip«^,!,!,««!
Lautrec zu Jules Renard's Histoires Naturelles ge- Auch in den Lithographien, die Paare oder Grup-
wesen sein.29 pen von Tieren zeigen, gilt Gauls künstlerisches
Aus Gauls Interesse an der künstlerischen Erfas- Interesse nicht so sehr der Darstellung von spannen-
sung des Typischen in der Körperhaltung und den Höhepunkten der Fabelhandlung, als vielmehr
-bewegung der verschiedenen Tiere erklärt sich die der überzeugenden formalen Gestaltung der ver-
Beobachtung, daß die bildlichen Darstellungen der schiedenen Tierkörper in ihrer unverwechselbaren
an einem Dialog beteiligten oder in einen Streit Erscheinung. So liegt bei der ganzseitigen Illustra-
verwickelten Akteure der Fabeln häufig nicht in tion zu der Fabel Der Pfau und der welscbe Hahnil
Gruppenkompositionen eingebunden, sondern der Reiz der Komposition im Kontrast zwischen
dem Text in mehreren voneinander getrennten der plumpen, durch das dichte Gefieder geradezu
Entwürfen zugeordnet sind. So stattet Gaul ζ. B. die lächerlich rund wirkenden Gestalt des Auerhahns
Fabel Der Rabe und die Eule mit zwei Lithographien im Vordergrund und der eleganten Haltung des im
aus, die jeweils einen der miteinander streitenden Hintergrund erkennbaren Pfaus, dessen prächtiges
Vögel darstellen.30 Aufgrund der Gegenüberstel- Rad als durchlichtetes Fächernetz mit Tupfen und
lung der Bilder auf der Doppelseite des Buches und Strichen in differenziert abgestuften Grautönen
aufgrund der einander zugewandten Haltung der gezeichnet ist.
beiden auf derselben Mauer hockenden Vögel Die inhaltliche Beziehung zwischen Gauls Illu-
könnte sich der Betrachter eine Dialogsituation strationen und Karl Wilhelm Ramlers Fabeltexten
vorstellen, wenn nicht die Illusion eines gleichzeiti- besteht - allgemein formuliert - darin, daß Gaul in
gen Auftritts von Rabe und Eule durch die Genau- seinen Lithographien die natürlichen Merkmale im
igkeit, mit der Gaul den Charakterisierungen der Erscheinungsbild der verschiedenen Tiere sichtbar
Tiere im Text Rechnung trägt, gestört würde: Die werden läßt, auf die sich die Zuschreibung bestimm-
Eule setzt sich in der Fabel gegen die Angriffe des
geschwätzigen Raben mit dem Hinweis zur Wehr,
daß sie »im Finstern sehn und schweigen« könne, 29 Vgl. Adriani: Toulouse-Lautrec, S. 226 f., Abb. 3 2 7 - 3 5 0
und so erscheint sie auch in der Illustration als ein in 30 Ausgabe der Pan-Presse, S. 76/77; 8 χ 10 cm, 9,5 x 10 cm