B. Kausalität
I. Äquivalenztheorie
Nach h.M. wird die Kausalität auf Grundlage der Äquivalenztheorie bestimmt,
die sich hierzu der sog. conditio sine qua non-Formel bedient: Kausal ist jede
Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in
seiner konkreten Gestalt entfiele. Man wendet also ein Eliminationsverfahren
an: Hinwegzudenken ist ausschließlich die unter dem Kausalitätsgesichtspunkt
untersuchte Bedingung (= das strafrechtlich relevante Verhalten), alles andere
bleibt unverändert. Auf dieser Basis ist dann zu fragen, ob der konkrete Erfolg
auch ohne diese Bedingung eingetreten wäre.
II. Einzelaspekte:
Folgende Punkte sind bei der Kausalitätsbeurteilung auf dem Boden der
Äquivalenztheorie von Bedeutung:
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
benden B das Kissen auf das Gesicht drückt, hat er kausal den Tod herbei-
geführt. Dass B kurze Zeit später ohnehin gestorben wäre, ist unerheblich.
3. Für die Ursächlichkeit ist es ohne Bedeutung, wenn der Erfolgseintritt durch
eine anormale Konstitution des Verletzten begünstigt wurde (Str. ist dann aber,
ob trotz der Kausalität nicht die objektive Zurechnung unter dem Gesichtspunkt
eines atypischen Geschehensablaufs entfällt). Hierzu folgender
Fall:
Bei einer Schulhofschlägerei wirft A mit einem Stein und trifft den B. An
sich wäre die dadurch herbeigeführte Wunde nicht weiter tragisch,
allerdings ist B Bluter und kommt deshalb zu Tode. Strafbarkeit des A?
(RGSt 54, 349 ff.)
Fall:
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Fall:
B ist ins Meer hinaus geschwommen und droht zu ertrinken. Als C ihm
mit einem Rettungsboot zu Hilfe eilen will, hält A den C fest. B ertrinkt.
Strafbarkeit des A nach § 212 ? - Wenn man sich das Festhalten
wegdenken würde, würde B immer noch in Lebensgefahr schweben.
Dennoch kann hier der (hypothetisch) rettende Kausalverlauf
ausnahmsweise hinzugedacht werden. Demnach ist Kausalität gegeben,
so dass sich A gem. § 212 I strafbar macht.
Fall:
Fall:
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
Denkt man sich die Giftmenge des A hinweg (oder umgekehrt: die des
B), wäre der Tod des C nicht eingetreten.
Anm.: Jedoch wäre der Erfolg nicht objektiv zurechenbar, da er sich als
Ergebnis eines atypischen und unvorhersehbaren Kausalverlaufs
darstellt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es völlig unwahr-
scheinlich, dass die Vergiftung des Opfers mit einer an sich
unzureichenden Dosis gerade deswegen gelingt, weil unabhängig davon
ein zweites Giftattentat durch eine andere Person erfolgt.
Fall 1:
Der BGH verurteilte auch den A wegen § 212 I, obwohl die unmittelbare
Todesursache nicht sein Schuss, sondern der des B war; denn:
Erst der Schuss des A hat den Gnadenschuss des B veranlasst; A hat
daher den Tod des X verursacht. Hierbei kommt es, wie der BGH noch
bemerkt, darauf an, ob X ohne den Gnadenschuss auch sofort gestorben
wäre, oder ob er noch zu retten gewesen wäre.
Fall 2:
A sticht auf X ein, die irrtümlich für tot gehalten wird. Als der zur
Spurenbeseitigung herbeigerufene Freund B bemerkt, dass X noch
röchelt, schlägt er mit einer Wasserflasche auf X ein (ex post lässt sich
nicht feststellen, dass diese Schläge mit der Wasserflasche den Todes-
eintritt beschleunigten). X starb entweder an den Messerstichen oder an
den Schlägen. (BGH, NStZ 2001, 29 ff.)
Auch hier war das spätere Handeln des B - der Schlag mit der
Wasserflasche - nach Auffassung des BGH irrelevant für die Frage der
Kausalität. Zur Begründung führte er aus:
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
10. Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein späteres Ereignis die
Fortwirkung der früheren Ursachenkette beseitigt und nunmehr allein unter
Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg herbeiführt (sog. überholende
Kausalität). Hierzu folgender
Fall:
A (der sich schon lange über B ärgerte) schlägt mit einem Eisenrohr auf
B ein, um ihn zu töten. Er wird noch drei Schläge benötigen, um die
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
C. Objektive Zurechnung
Herrschend ist mittlerweile aber die Lehre von der objektiven Zurechnung, die
in der Bejahung der Kausalität einen notwendigen, aber keinen hinreichenden
strafbarkeitsbegründenden Zusammenhang sieht. Dementsprechend verlangt sie
über den nach der Äquivalenztheorie zu bestimmenden Kausalzusammenhang
hinaus einen normativen Zusammenhang zwischen Tathandlung und Taterfolg.
Im Hintergrund steht dabei die Überlegung, dass es nicht Aufgabe des Straf-
rechts sein kann, jede im Hinblick auf Rechtsgüter kausale Risikoschaffung
oder Risikorealisierung in der Gesellschaft zu unterbinden, da diese auf die
Schaffung bestimmter Risiken angewiesen ist (Bsp.: Straßen- und Flugverkehr,
Betreiben von Elektrizitätswerken u.s.w.). Der Einsatz des Strafrechts ist nur
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
Bei der Frage, ob ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen wurde, geht es
um die Abschichtung rechtlich gebilligter von rechtlich missbilligten Risiken.
Die objektive Zurechnung scheidet aus, wenn die Realisierung des Risikos
außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens liegt. Bsp.: A schlägt
seinem Erbonkel B vor, trotz des aufziehenden Unwetters einen Spaziergang zu
unternehmen, bei dem B - wie von A erhofft - von einem Blitz erschlagen
wird. - § 212 I scheidet aus, da ungeachtet der Ursächlichkeit des Ratschlages
der Schadenseintritt außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens liegt
und deshalb nicht objektiv zurechenbar ist.
b) Sozialadäquates Verhalten
Ebenso wenig ist ein Erfolg objektiv zurechenbar, der auf ein Verhalten
zurückgeht, das sozialadäquat ist und im Bereich des erlaubten Risikos liegt.
Wann in derartigen Konstellationen ein erlaubtes in ein unerlaubtes Risiko um-
schlägt, ist jeweils konkret zu bestimmen. Bsp.: A besucht mit einer Grippe-
erkrankung die Vorlesung und steckt zahlreiche Kommilitonen an. - § 223 I
scheidet aus, da ein solches Verhalten zwar kausal zu Gesundheits-
beschädigungen geführt hat, aber gleichwohl noch im Bereich des erlaubten
Risikos liegt. Anders wäre die Situation möglicherweise dann zu beurteilen,
wenn A mit derselben Krankheit seine auf der Intensivstation eines Kranken-
hauses liegende Großmutter besucht, die sich ansteckt und verstirbt.
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
c) Risikoverringerung
Die objektive Zurechnung scheidet trotz Kausalität des Verhaltens aus, wenn
der Täter per saldo das Risiko für das Rechtsgut verringert. Bsp.: B will C mit
einer Axt auf den Schädel schlagen. A tritt hinzu und lenkt im letzten Moment
den Axthieb vom Kopf auf die Schulter des C, der dadurch einen Arm verliert.
Strafbarkeit des A gem. § 223 I? - Zwar setzt A eine Ursache für die mit dem
Verlust des Armes verbundene körperliche Misshandlung bzw.
Gesundheitsbeschädigung. Dennoch wird durch die Ablenkung des Schlages im
Ergebnis das Risiko für das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit
verringert; demnach scheidet eine Strafbarkeit nach § 223 I mangels objektiver
Zurechenbarkeit des Erfolges aus, da bereits der objektive Tatbestand nicht
verwirklicht ist. Beachte: Der Gedanke der Risikoverringerung bezieht sich
stets auf dieselbe Rechtsgutsverletzung. Hätte A, um weitere Axthiebe zu
verhindern, den C zusätzlich für ein paar Stunden in einen Keller gesperrt, so
hätte er den objektiven Tatbestand des § 239 I verwirklicht und damit eine
andersartige Rechtsgutsverletzung herbeigeführt (anstelle des Eingriffs in die
körperliche Unversehrtheit ein Eingriff in die körperliche
Fortbewegungsfreiheit) In einem solchen Fall wäre allenfalls an eine
Rechtfertigung des A zu denken.
Selbst wenn ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen wurde, so muss sich -
soll ein Erfolg objektiv zurechenbar sein - dieses Risiko auch im Erfolg
niederschlagen, da ohne einen solchen Risikozusammenhang die strafrechtliche
Haftung auf einen bloßen Kausalzusammenhang gestützt würde. Demnach geht
es um die Abschichtung rechtlich relevanter von rechtlich irrelevanten
Risikorealisierungen.
Obwohl der Täter ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, scheidet die
objektive Zurechnung aus, wenn eine völlig atypische Schadensfolge
herbeigeführt wird oder der zum Erfolg führende Geschehensablauf außerhalb
jeder Lebenserfahrung liegt. Bsp.: A schießt B vorsätzlich an und verletzt ihn.
Während des Transports ins Krankenhaus wird der Krankenwagen in einen
Unfall verwickelt, so dass B zu Tode kommt. - Auch wenn A hier eine kausale
Bedingung für den Tod setzt und überdies durch den Schuss ein rechtlich
missbilligtes Risiko setzt, handelt es sich um einen außerhalb jeder
Lebenserfahrung liegenden Geschehensablauf. Der konkrete Tod stellt sich
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
weniger als Ausdruck des von A gesetzten Risikos, sondern eines allgemeinen
Lebensrisikos dar, das jeden anderen Menschen oder Krankenwageninsassen
gleichermaßen hätte treffen können.
Anm.: Teilweise wird dieser Fall auch unter dem Gesichtspunkt des
Schutzzwecks der Norm diskutiert: Soll die Norm, nicht auf andere zu schießen,
verhindern, dass jemand auf der Fahrt ins Krankenhaus im Rahmen eines
Autounfalls verstirbt?
Fall:
A fährt bei Rot über eine Ampel und kollidiert drei Kilometer weiter mit
einem Fußgänger, der dabei zu Tode kommt. - A hat durch das
Ignorieren des Rotlichts eine Ursache für den Tod des Fußgängers
gesetzt, denn hätte er angehalten, wäre er später am Ort der Kollision
gewesen und es wäre gar nicht erst zu einem Zusammenstoß gekommen.
Dennoch scheidet eine Strafbarkeit nach § 222 aus, da die Tat nicht
zugerechnet werden kann: Die Verhaltensnorm, gegen die A verstoßen
hat (§§ 49, 37 StVO), zielt lediglich darauf ab, Unfälle im unmittelbaren
Ampelbereich - und nicht etwa drei Kilometer weiter - zu verhindern.
Fall:
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Strafrecht - Allgemeiner Teil: Kausalität und objektive Zurechnung
spazieren sah, bat er den Fahrer anzuhalten, damit er sich kurz mit dem
Bekannten unterhalten könne. Der Fahrer kam dieser Bitte nach, indem er
auf dem Seitenstreifen an einer Haltestelle anhielt und die Warnblink-
anlage anschaltete, so dass B die Straße überqueren konnte. Nach einigen
Minuten der Unterhaltung wollte B zum Schülerbus zurückkehren und
überquerte zu diesem Zweck abermals die Straße, wo er mit dem
Motorradfahrer A kollidierte und zu Tode kam. A, der kurz vor der
Kollision durch die Scheiben des Schulbusses keine Kinder gesehen
hatte, hatte seine Geschwindigkeit nicht reduziert und seine Fahrt
unverändert mit 70 km/h fortgesetzt. Bei Drosselung der Geschwin-
digkeit auf 50 km/h wäre der Unfall vermeidbar gewesen. Strafbarkeit
des A gem. § 222? (OLG Hamm, VRS 60, 38)
Das OLG lehnte eine Strafbarkeit nach § 222 ab, weil der Erfolg
außerhalb des persönlichen Schutzbereichs der verletzten Verhaltensnorm
des § 20 I StVO lag, und erklärte hierzu:
c) Freiverantwortliches Dazwischentreten
Die objektive Zurechnung scheidet aus, wenn der Erfolg ausschließlich auf das
freiverantwortliche Verhalten des Opfers zurückzuführen ist (Hintergrund:
Abschichtung von Verantwortungsbereichen). Str., ob sich die Freiverantwort-
lichkeit nach der Exkulpations- (Maßstab: §§ 19, 20, 35) oder Einwilligungs-
lösung (Maßstab: Einsicht in Wesen, Bedeutung, Tragweite der Gefahr)
bestimmt. Hierzu folgender
Fall:
Der BGH lehnte hier eine strafrechtliche Haftung unter Hinweis auf das
Autonomieprinzip ab, denn:
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Bsp.: Wenn sich B das Gift hätte spritzen lassen, so hätte die Tatherrschaft
ausschließlich bei A gelegen und der Erfolg wäre ihm objektiv zurechenbar
gewesen. Auch die Rechtswidrigkeit wäre zu bejahen, da man nach h.M. zwar
in die Gefährdung (nicht aber die Verletzung! Vgl. § 216 I) des eigenen Lebens
einwilligen kann, eine solche Einwilligung aber sittenwidrig gem. § 228 war.
Die objektive Zurechnung scheidet aus, wenn der Erfolg ausschließlich auf das
freiverantwortliche Verhalten eines Dritten zurückzuführen ist, sofern durch die
Zweithandlung eine völlig neue Gefahr geschaffen wird, die in keinem
Wertungszusammenhang mehr mit der Ersthandlung steht. Wäre im
Gnadenschuss- und Pflegemutterfall die objektive Zurechnung unterbrochen,
weil der Zweithandelnde eigenverantwortlich dazwischentritt? (BGH, MDR/D
1956, 526 ff.; BGH, NStZ 2001, 29 ff.)
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