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Die Studienbücher der Reihe Chemie sollen in Form einzelner Bausteine grundlegende und
weiterführende Themen aus allen Gebieten der Chemie umfassen. Sie streben nicht die Brei-
te eines Lehrbuchs oder einer umfangreichen Monographie an, sondern sollen den Studen-
ten der Chemie – aber auch den bereits im Berufsleben stehenden Chemiker – kompetent
in aktuelle und sich in rascher Entwicklung befindende Gebiete der Chemie einführen. Die
Bücher sind zum Gebrauch neben der Vorlesung, aber auch anstelle von Vorlesungen ge-
eignet. Es wird angestrebt, im Laufe der Zeit alle Bereiche der Chemie in derartigen Lehr-
büchern vorzustellen. Die Reihe richtet sich auch an Studenten anderer Naturwissenschaf-
ten, die an einer exemplarischen Darstellung der Chemie interessiert sind.
Günter Fred Fuhrmann
Toxikologie für
Naturwissenschaftler
Einführung in die Theoretische
und Spezielle Toxikologie
Der B. G. Teubner Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.
www.teubner.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-
lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun-
gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
ISBN 3-8351-0024-6
Vorwort
Dieses Buch ist hervorgegangen aus einer Vorlesung über Toxikologie, die am
Fachbereich Chemie der Philipps-Universität in Marburg seit 1980 gehalten
wird. Auf Anregung von Herrn Professor Christoph Elschenbroich wurde 1993
eine Einführung in die Theoretische Toxikologie (Allgemeine Toxikologie für
Chemiker) von Günter Fred Fuhrmann verfasst. Eine zweite Auflage erschien
im Jahre 1999 und zusätzlich ein weiterer Band über spezielle Toxikologie mit
einer Auswahl toxischer Substanzen (Spezielle Toxikologie für Chemiker). Au-
toren des zweiten Bandes waren die Dozenten in der Chemie-Vorlesung Rainer
Braun, Günter Fred Fuhrmann, Wolfgang Legrum und Christian Steffen.
In dem jetzt vorliegenden Buch Toxikologie für Naturwissenschaftler“ wer-
”
den die beiden vorhergehenden Bücher zu einem Band vereinigt, das Bewährte
wurde überarbeitet, auf den neuesten Stand gebracht und es wurden Erweite-
rungen angefügt.
Damit ist ein Buch entstanden, dass vor allem den Wirkungsmechanismus
von toxischen Substanzen auf molekularer Ebene darstellt. Es hat einen über-
schaubaren Umfang und ist gut geeignet für den Naturwissenschaftler, um
sich umfassend in die Materie einzulesen. Es wird Wert darauf gelegt, dem
Nichtmediziner die wichtigsten Prinzipien der Toxikologie auch ohne einge-
hende anatomische und physiologische Grundkenntnisse nahezubringen. Aus
all diesen Gründen füllt es eine bestehende Lücke in der Literatur.
Herr Professor Braun konnte leider aus Zeitgründen das Kapitel über Kan-
zerogenese nicht wieder übernehmen und hat sein bewährtes Konzept Herrn
Priv. Dozent Dr. Aigner überlassen, der jetzt hauptamtlich die Toxikologie-
Vorlesung für Naturwissenschaftler gestaltet. Herr Dr. Büch hat dabei die
Vorlesung über Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen gehalten.
Die Darstellung der Materie ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Ab-
schnitt befasst sich mit der Theoretischen oder Allgemeinen Toxikologie. Nach
einer Einführung werden dem Leser Vorstellungen zu den Wechselwirkungen
zwischen toxischen Substanzen und dem menschlichen Körper vermittelt (Ka-
pitel 2, Toxikokinetik und Kapitel 3, Toxikodynamik).
Der zweite Abschnitt ist der Speziellen Toxikologie gewidmet. Allein vom Um-
fang der Substanzen her ist es nicht möglich, die ganze Breite der Speziellen
Toxikologie darzustellen, so dass hier bewusst eine Auswahl von Substanzen
getroffen wurde. Im Kapitel 4 wird die Toxikologie der Schwermetalle behan-
delt. Eine Einteilung nach toxikologischen Gesichtspunkten in nicht reaktive,
stimulatorisch wirksame, essentielle und toxische Metalle setzt die Schwer-
punkte. Außerdem werden die toxischen Effekte für Blei, Cadmium, Chrom,
VI
Nickel, Quecksilber, Thallium und Vanadium sowie für das Metalloid Arsen
gesondert besprochen.
Weiter folgen in Kapitel 5 die organischen Lösungsmittel und in Kapitel 6
die Biozide, darunter Insektizide, Herbizide, Fungizide und Rodentizide. Ka-
pitel 7 gibt Aufschluss über den Verbleib von Bioziden, Arznei-, Duft- und
hormonaktiven Stoffen in der Umwelt.
Nach den Atemgiften (Kapitel 8) werden im Kapitel 9 die karzinogenen Wir-
kungen von organischen und anorganischen Verbindungen dargestellt. Dies
beinhaltet eine Einführung in die Entstehung von Tumoren und es werden
die wichtigsten genotoxischen Mechanismen anhand von Substanzgruppen er-
klärt. Der letzte Teil geht auf Testmethoden ein, die in der Praxis zur Prüfung
von Substanzen auf mutagene Eigenschaften angewandt werden.
Der dritte Abschnitt umfasst Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen
und informiert über Informationszentren für Vergiftungsfälle.
Der Dank der Autoren gilt dem Teubner-Verlag, speziell Frau Lektorin Ulrike
Klein und Herrn Ulrich Sandten für die Realisierung. Die Autoren danken
Herrn Professor Dr. Karl Joachim Netter für vielfältige Anregungen, Hinweise
und das Korrekturlesen.
I Theoretische Toxikologie 1
1 Einführung in die Theoretische Toxikologie 3
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie . . . . . . . 3
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie . . . . . 6
1.2.1 Wirkungscharakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.2 Aufgabengebiete der Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.3 Methoden der Toxizitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . 10
2 Toxikokinetik 17
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen . . . . . . . . . . . . 18
2.1.1 Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.1.2 Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.3 Verdauungstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.4 Respirationstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2 Organisation des menschlichen Körpers . . . . . . . . . . 32
2.2.1 Verteilungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2.2 Das zirkulatorische System . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2.3 Der kolloidosmotische“ Druck der Plasmaproteine . . . . 40
”
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen . . . . . . . . . . . . . . 41
2.3.1 Amphiphile Biomoleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3.2 Vom Erythrozyten zum Membranmodell . . . . . . . . . . 43
2.3.3 Kompartimentierung innerhalb von Zellen . . . . . . . . . 47
2.3.4 Permeabilität von Membranen für toxische Substanzen . . 48
2.3.5 Eintritt in die Zelle durch Pinozytose und Phagozytose . . 56
2.4 Bindung und Speicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.4.1 Plasmaproteine, Hämoglobin und Muskelproteine . . . . . 58
2.4.2 Fettgewebe, Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.4.3 Leber, Niere, Lunge und andere Organe . . . . . . . . . . 61
VIII Inhaltsverzeichnis
2.4.4 Knochengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoff-
wechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.5.1 Phase-I-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2.5.1.1 Das mikrosomale Monooxygenase-System . . . . . . . . . 66
2.5.1.2 Systematik und Nomenklatur von Cytochrom P-450 . . . 68
2.5.1.3 Enzymatische Eigenschaften von Cytochrom P-450, Induk-
tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.5.1.4 Grundtypen der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen 70
2.5.1.5 Flavin-abhängige Monooxygenasen . . . . . . . . . . . . . 73
2.5.1.6 Monoaminoxydase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.5.1.7 Cyclooxygenasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.5.1.8 Dehydrogenasen, Reduktasen . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.5.1.9 Hydrolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.5.2 Phase-II-Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
2.5.2.1 Einfluss des Alters auf die Biotransformation . . . . . . . 86
2.6 Elimination durch Exkretion . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.6.1 Ausscheidung durch die Nieren . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.6.2 Ausscheidung über die Galle . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2.6.3 Ausscheidung durch Sekrete, Schweiß und Milch . . . . . 93
2.6.4 Ausscheidung über die Lungen . . . . . . . . . . . . . . . 94
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . 94
2.7.1 Das Ein-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . . . 95
2.7.2 Das Zwei-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . . 100
3 Toxikodynamik 103
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.1 Der Begriff des Rezeptors . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
3.2 Bindungskräfte am Rezeptor . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3.2.1 Ionenbindung und Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . 108
3.2.2 Van-der-Waals-Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.2.3 Komplexität der Rezeptor-Substrat-Wechselwirkungen . . 110
3.2.4 Kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . 111
3.3.1 Indirekte Rezeptor-Charakterisierung (SAR) . . . . . . . 111
3.3.2 Direkte Rezeptor-Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3.3.3 Molekularbiologische Rezeptor-Charakterisierung . . . . . 116
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . 117
3.4.1 LDR-Kurven-Diskussion, allgemeine Begriffe . . . . . . . 123
Inhaltsverzeichnis IX
5 Lösungsmittel 259
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
5.2 Toxische Wirkung der Lösungsmittel . . . . . . . . . . . . 260
5.2.1 Lokale toxische Wirkung auf die Haut . . . . . . . . . . . 260
5.2.2 Reizung der Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
5.2.3 Narkotische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
5.3 Toxikologische Bewertung von Lösungsmitteln . . . . . . . 264
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen . . . . . . . . . . 268
5.4.1 Einwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
5.4.2 Mehrwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
5.4.3 Ester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
5.4.4 Ketone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
5.4.5 Alkane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
5.4.6 Halogenierte aliphatische Kohlenwasserstoffe . . . . . . . 279
5.4.7 Aromatische Kohlenwasserstoffe . . . . . . . . . . . . . . 288
8 Atemgifte 349
Christian Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
8.1 Toxische Effekte auf die äußere Atmung . . . . . . . . . . 349
8.1.1 Toxizität des Sauerstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut . . . . . . 353
XII Inhaltsverzeichnis
9 Karzinogenese 365
Achim Aigner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.1 Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.2 Tumorentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
9.3 Karzinogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
9.4 Genotoxizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität . . . . . . . . 372
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen . . . . . . . . . . . . 379
9.6.1 Direkt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . . . 379
9.6.2 Indirekt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . . 394
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung . . . . . . . . . . 407
9.7.1 Tests auf DNA-Adduktbildung . . . . . . . . . . . . . . . 408
9.7.2 Tests an Mikroorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
9.7.3 Test an Warmblüterzellen (Säugetierzellen) . . . . . . . . 412
9.7.4 Tests am Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
Glossar 449
Literaturverweise 461
Index 465
Teil I
Theoretische Toxikologie
1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
Günter Fred Fuhrmann
Toxikologie ist die Lehre von den Giften. Der Begriff Toxikon, toxiκon, stammt
aus dem Griechischen und bedeutet das Pfeilgift. Der Pfeil besteht als Wurf-
geschoss aus einem hölzernen, ganz gerade gestellten Pfeilschaft und einer am
vorderen Ende angebrachten, dreieckigen oder längsovalen Pfeilspitze aus har-
tem Holz, Horn- oder Knochenstücken, Steinsplittern oder Metall. Häufig wur-
den die Pfeilspitzen mit einer Reihe pflanzlicher oder tierischer Gifte versehen,
welche gewöhnlich schnell und sicher den Tod herbeiführten.
Gegenüber den pflanzlichen Pfeilgiften treten die tierischen an Bedeutung und
Zahl zurück. Von letzteren benutzten im Altertum die Skythen verfaultes Men-
schenblut oder einen Auszug aus halbverwesten Schlangen.
Die Pfeilgifte aus Pflanzen können nach ihren verschiedenartigen Wirkun-
gen folgendermaßen eingeteilt werden:
• Zweitens in Pfeilgifte, die die Atmung lähmen, z. B. der Saft einiger Aconitum-
Arten, wie Aconitum ferox, ein höchst wirksames indisches Pfeilgift.
• Drittens in Pfeilgifte mit hemmender Wirkung auf das Herz. Hierfür gelten
z. B. Antiaris toxicaria, Upasbaum auf Java und Borneo, mit dem Glycosid
Antiarin, die in Afrika heimische Acocanthera mit dem sehr giftigen Glyco-
sid Ouabain sowie Strophanthus kombé und Erythrophleum guinense der
Guineaküste mit dem Alkaloid Erythrophlein.
4 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
Die Molekularbiologie hat den Rezeptor für das Curare am Muskel aufge-
klärt. Der Rezeptor bildet in der Muskelzellmembran einen Kanal für Kalium-
und Natrium-Ionen, der erst bei der Besetzung mit dem körpereigenen Signal-
stoff Acetylcholin geöffnet wird und den Ionenfluß mit nachfolgender Mus-
kelkontraktion auslöst. Das Curare ist eine Substanz, die mit hoher Affinität
anstelle des Acetylcholins den Rezeptor besetzt und verhindert, dass eine Mus-
kelkontraktion ausgelöst wird. Die Folge ist, dass das vom Curare-Pfeil ge-
troffene Lebewesen zuerst bewegungsunfähig wird. Nachdem eine vermehrte
Speichelsekretion, Kopfschmerzen, Harndrang und Mattigkeit vorangegangen
sind, wird zuletzt die Atemmuskulatur vom Curare gehemmt. Das Lebewesen
erstickt bei vollem Bewusstsein.
Die Substanz, die hier einen grausamen Tod bewirkt, wird in der heutigen
Medizin als Medikament eingesetzt. Die modernen Indianer, die Narkoseärzte,
stehen im Operationsraum und verabreichen mit einer Spritze dem mecha-
nisch beatmeten Patienten Curare (Medikamente aus der Gruppe der Muskel-
relaxantien), um hiermit eine perfekte Muskelerschlaffung für den Operateur
zu erzeugen. Daneben werden noch andere Medikamente verabreicht, die eine
Bewusst- und Schmerzlosigkeit bewirken.
Dem für Jagd und für kriegerische Auseinandersetzungen benutzten Pfeilgift,
Toxikon, steht die Verwendung solcher und anderer Gifte zum Mord gegenüber.
Mord wurde und wird auch heute noch vielfältig durch Gifte praktiziert. In der
Zeit um Christi Geburt wurde Mord durch Vergiften nicht als ein kriminelles
Delikt angesehen. Gegen die Giftdarreichung bestanden oft wenig Bedenken,
weil der Tod dadurch mehr einem natürlichen ähnelte.
Einen tiefsitzenden Eindruck hat die Vergiftung des Sokrates durch das Gift
des Schierlings im Jahre 399 vor Christus auf uns gemacht. Der Giftbereiter un-
terrichtete Sokrates, dass er nach dem Trunk aus dem Schierlingsbecher nichts
weiter zu tun habe als herumzugehen, bis die Beine schwer werden, um sich
dann hinzulegen. Die heute bekannte toxische Wirkung des Schierlings verur-
sacht – durch seinen Gehalt an den Alkaloiden Coniin und Conydrin unter
anderen Giften – eine Lähmung der peripheren Nerven, des Rückenmarks und
des Gehirns. Das Stadium der Muskellähmungen gipfelt in dem Angstgefühl
1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie 5
Wenn ihr jedes Gift richtig erklären wollet, was ist dann kein Gift?
”
Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift,
nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding kein Gift ist.“
Für den menschlichen und tierischen Organismus bedeutet dies, dass die bloße
Anwesenheit einer potentiell giftigen Substanz nicht notwendigerweise auch
zu einer Vergiftung führen muss. Auf die Medizin angewandt gilt, dass jedes
Medikament, welches im Überschuss eingenommen wird, auch ein Gift ist. Ein
anderer wichtiger Beitrag war sein Buch mit dem Titel Bergsucht “ (1533 –
”
1534), das eine ausführliche medizinische Beschreibung von gewerbsmäßigen
Vergiftungen bei Bergleuten beinhaltet.
Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert entsteht die Toxikologie als eine
wissenschaftliche Disziplin in den Händen von Mattieu Joseph Bonaventura
Orfila (1787 – 1853), einem spanischen Arzt, der einen Lehrstuhl an der Uni-
versität von Paris innehatte. Seine chemischen und biologischen Erkenntnisse
über toxische Wirkungen verdankt er vielen Versuchen an Hunden. Orfila de-
finierte die Toxikologie als die Lehre von den Giften und erklärte sie zu
einer separaten Disziplin. Außerdem schrieb er ein erstes Lehrbuch der To-
xikologie und handelte darin die Gifte nach systematischen Gesichtspunkten
ab.
6 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
Die Toxikologie wird definiert als die Lehre von den schädlichen Wirkungen
chemischer Substanzen auf lebende Organismen.
Der Begriff Pharmakon, farmaκon, bedeutet von der griechischen etymologi-
schen Wurzel her soviel wie Spruch des Heils- oder aber auch des Schadenszau-
bers. Eine heidnische Zauberformel zum Heilen eines verrenkten Pferdefußes ist
uns in den Merseburger Zaubersprüchen aus dem 10. Jahrhundert überliefert
worden:
ben zi bena – bluot zi bluoda – lid zi geliden sosegelimida sin“.
”
Im Gegensatz zum Toxikon beinhaltet das Pharmakon beides, den Begriff des
Heilmittel und des Giftes. Wir gebrauchen jedoch heute vorzugsweise den Aus-
druck Pharmakon gleichbedeutend mit Heilmittel oder Medikament.
Pharmakologie ist also die Lehre von den Wirkungen der Heilmittel oder
Medikamente auf gesunde und kranke Organismen, oder allgemeiner abgefasst:
Pharmakologie ist die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen chemischen
Substanzen und lebenden Organismen.
Nach der letzten Definition ist auch die Toxikologie nur ein Teilgebiet der
Pharmakologie.
Als Wirkstoffe bezeichnet man chemische Substanzen, welche in einem le-
benden Organismus biologische Wirkungen hervorrufen, die sich als quantita-
tive und qualitative Veränderungen in diesem Organismus zu erkennen geben.
Neben den Begriffen Gift und Medikament kennen wir noch den wertfreien
Ausdruck Fremdstoff oder Xenobiotikum (Xenos, griechisch, der Fremde).
Zum Nachweis und zur Analyse von biologischen Wirkungen werden physika-
lische und chemische Methoden verwendet, die vorwiegend aus den der Phar-
makologie und Toxikologie benachbarten Disziplinen wie Biochemie, Physio-
logie, Mikrobiologie, Morphologie und Pathologie entnommen worden sind. In
der Wirkungsanalyse nimmt das Experiment an lebenden Organismen eine
Schlüsselstellung ein.
1.2.1 Wirkungscharakteristika
Pharmakologische, xenobiotische und toxische Wirkungen sind durch chemi-
sche Substanzen ausgelöste Veränderungen an Organismen. Sie können sich
direkt am Ort, der Applikationsstelle, auswirken, dann handelt es sich um ei-
ne lokale Wirkung, oder erst nach einer Aufnahme in den Organismus und
Verteilung in demselben manifest werden, dann spricht man von einer sys-
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 7
temischen Wirkung. Eine lokale Wirkung zeigt sich meist sofort an der
Stelle des Organismus, die mit dem Wirkstoff in Berührung gekommen ist, das
geschieht beispielsweise beim Hautkontakt mit Säuren oder Basen. Die mei-
sten Substanzen wirken jedoch systemisch. Da aber die systemische Wirkung
erst die Aufnahme oder Resorption eines Wirkstoffes in den Organismus zur
Voraussetzung hat, wird anstelle von systemischer Wirkung auch der Begriff
resorptive Wirkung verwendet.
Die Einwirkungen auf den Organismus können reversibel oder auch irrever-
sibel sein. Wirken sie sofort, so sind es akute Effekte (acute; engl. plötzlich
auftretend, schnell, heftig verlaufend). Treten sie erst nach längerer Zeit durch
Aufaddieren kleinerer Mengen von Substanzen im Organismus auf, so werden
sie als chronische Effekte (chronic; engl. langsam sich entwickelnde, langsam
verlaufende) bezeichnet.
Die Wirkungsgröße einer toxischen Substanz kann durch drei Parameter
charakterisiert werden:
• die Wirkungsqualität (Art der Wirkung),
• die Wirkungsstärke (Intensität der Wirkung),
• die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung).
Es besteht dabei ein direkter Zusammenhang von Wirkungsstärke und Wir-
kungszeit mit der Konzentration der toxischen Substanz im Organismus. Die
Konzentration der toxischen Substanz kann verhältnismäßig einfach im Blut
gemessen werden. Der Zusammenhang wird in dem folgenden Schema der Ab-
bildung 1.1 wiedergegeben.
• Umwelttoxikologie
Die Verschmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens ist hauptsächlich
durch die Aktivitäten der Menschen hervorgerufen. Die Rückwirkung auf den
Menschen zwingt uns zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Pro-
blem. Ein positives Beispiel stellen die von den USA ausgegangenen Anstren-
gungen dar, das Bleitetraethyl aus dem Fahrzeugkraftstoff zu entfernen. Dies
hat zu einem deutlichen Rückgang der Umweltbelastung durch Blei geführt.
8 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
4
Invasion Evasion
Konzentration im Blut
3
maximale Wirkung
Wirkung
2
Wirkungs-
stärke minimale Wirkung
1
Wirkungszeit
0
0 25 50
50
tmax Zeit
Abbildung 1.1 Zeitlicher Verlauf der Konzentration einer toxischen Substanz im Blut. Bis
zum Zeitpunkt maximaler Wirkung (tmax ) erfolgt die Invasion der Substanz in den Orga-
nismus, danach die Evasion (Ausscheidung). Die Wirkung tritt auf, wenn die minimale
Wirkkonzentration überschritten ist (Latenz), und endet beim Unterschreiten dieser Kon-
zentration. Der Zeitraum dazwischen ist die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung).
• Nahrungsmitteltoxikologie
Die Nahrungsmitteltoxikologie untersucht Schadwirkungen natürlicher und syn-
thetischer Nahrungsmittel. Eine besondere Rolle spielen auch Zusätze wie
Farbstoffe, Konservierungsmittel, Füllstoffe, Emulgatoren und Antibiotika. Au-
ßerdem wird das Trinkwasser auf schädliche Zusatzstoffe getestet.
• Arzneimitteltoxikologie
In der Arzneimitteltoxikologie wird vor der Einführung eines potentiellen Arz-
neimittels in der experimentell-pharmakologischen Phase (vorklinische Phase)
eine gründliche tierexperimentelle Prüfung durchgeführt (Arzneimittelgesetz).
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 9
• Klinische Toxikologie
Dieser Zweig der Toxikologie beschäftigt sich mit der Diagnose und Thera-
pie akuter Vergiftungen. Eigens eingerichtete Informationszentren für Vergif-
tungsfälle können Auskünfte und Vorschläge zur Behandlung bei Notfällen
geben. Im Kapitel 10.5 sind die bestehenden Informationszentren für Vergif-
tungsfälle in der Bundesrepublik Deutschland mit 24-Stunden-Dienst aufgeli-
stet. Der Klinischen Toxikologie kommt die Aufgabe zu, neue oder bereits im
Handel befindliche Medikamente am Menschen auf Toxizität zu testen.
• Gewerbetoxikologie
Dieses Teilgebiet umfasst alle Arten der gewerblichen Vergiftungen. Es be-
fasst sich mit akuten und chronischen Vergiftungen durch Arbeitsstoffe, dem
Risiko am Arbeitsplatz und dem Berufskrebs. Besondere Anstrengungen ge-
hen von der modernen chemischen Industrie aus, solche Vergiftungen durch
Vorsorge- und Verhütungsmaßnahmen sowie Toleranzgrenzen für Giftstoffe zu
vermeiden. In industriellen Großbetrieben ist fast immer eine betriebsärztliche
Abteilung vorhanden, die für die medizinische Überwachung der Betriebsan-
gehörigen verantwortlich ist.
• Wehrtoxikologie
Diese Disziplin beschäftigt sich mit atomaren, biologischen und chemischen
Kriegswaffen, den sogenannten ABC-Waffen.
100
% reagierender Individuen
toxische letale
Wirkung Wirkung
50
TD50 LD50
0
-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2
log mol/kg
TD50 - und LD50 -Werte von toxischen Substanzen sind beim Menschen nur für
relativ wenige Substanzen genau bekannt (siehe Kapitel 5.4.2). Es existieren
meist nur Einzelbeobachtungen infolge von Vergiftungsfällen oder aufgrund
von Suizidversuchen.
12 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
Eine toxische Substanz mit einer LD50 von 0,001 mol/kg besitzt dann eine T50
von 10−3 oder eine pT50 von 3. Durch diese Definition lassen sich toxische Sub-
stanzen übersichtlich in Klassen einteilen. Tabelle 1.1 gibt eine toxikologische
Interpretation dieser pT50 Klassen wieder.
Für die Beurteilung der akuten Toxizität spielen weiterhin die Prüfungen der
Substanz auf reizende und ätzende Eigenschaften und auf Allergisierung
(Sensibilisierung) der Haut eine wichtige Rolle. Unter diesen Prüfungen sind
Tests auf Haut- und Augenreizung sowie auf eine Sensibilisierung beim Einat-
men oder bei Hautkontakt zu verstehen. Die Allergisierung der Haut besitzt
einen hohen Stellenwert bei der Beurteilung der Toxizität, da eine einmal er-
folgte Sensibilisierung gegenüber einer bestimmten Substanz in der Regel zu
einer langdauernden oder sogar irreversiblen Allergisierung bei erneutem Kon-
takt führt.
Tabelle 1.2 zeigt eine Übersicht von unterschiedlichen toxischen Substanzen,
die Mäusen intraperitoneal injiziert wurden (aus Luckey und Venugopal, 1977).
An der Spitze steht das höchsttoxische Botulinus-Toxin und am Ende die prak-
tisch nicht-toxische Substanz Natriumchlorid
Das Deutsche Chemikaliengesetz sowie internationale Prüfungsempfehlungen
schreiben vor, dass nach Feststellung der akuten Toxizität mit Bestimmung
der LD50 auch die Wirkung der Substanz in Langzeitversuchen festgestellt
werden muss. Die Prüfung auf subakute Toxizität hat grundsätzlich an einer
Nagetierart über eine Dauer von mindestens 28 Tagen zu erfolgen. Diese Versu-
che dienen auch zur Festlegung des Konzentrationsbereiches für längerfristige
Versuche. Im einzelnen sollen folgende Ziele erreicht werden:
Die chronische Toxizität wird meist an zwei Tierarten mit ähnlichen biologi-
schen Eigenschaften wie der Mensch, in drei verschiedenen Konzentrationen in
einem Zeitraum von drei Monaten bis zu sieben Jahren, je nach Problemstel-
lung, getestet. Die Ermittlung von Wirkungsschwellen bezüglich der chro-
nischen Toxizität in Tierversuchen ist äußerst schwierig, da neben den noch
gerade wirksamen Konzentrationen (lowest observed effect level, LOEL) auch
die Konzentrationen bestimmt werden müssen, bei denen alle Effekte ausblei-
ben (no observed effect level, NOEL).
Das Ausbleiben toxischer Effekte kann nur durch Wahrscheinlichkeiten ausge-
drückt werden und erfordert eine sehr große Anzahl von Versuchstieren. Au-
ßerdem lässt sich wegen der unterschiedlichen Ansprechbarkeit verschiedener
Spezies eine absolute Sicherheit für eine Substanz nicht ableiten.
Der Gesetzgeber ist bestrebt, toxische Risiken durch Gesetze und Verordnun-
gen so gering wie möglich zu halten (acceptable daily intake, ADI-Werte).
Biozide sind in der Regel leichter als Ursache von Vergiftungen zu ermitteln
als der Zusatz toxischer Substanzen zu Nahrungsmitteln.
Die Festlegung von maximalen Arbeitsplatz-Konzentrationen, MAK-Werte,
bei deren Einhaltung in 8-Stunden-Schichten die Gesundheit auch bei langfris-
tiger Beschäftigung nicht beeinträchtigt werden soll, sind ebenso ein wichtiger
Beitrag zum GEsundheitaschutz wie die Festlegung von maximalen Immissions-
Konzentrationen, MIK-Werte, sowie von Biologischen Arbeitsstoff-Toleranz-
werten, BAT-Werte bestimmter Stoffe. Bei den letzten Werten handelt es sich
um Konzentrationen von Substanzen im Organismus selbst. Für Quecksilber
im Urin wurde z. B. die obere Grenze von 30 mg/Liter festgelegt.
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 15
Ein Problem bereiten Substanzen, die für den Menschen karzinogen (krebserre-
gend) wirken. Hier können überhaupt keine Unbedenklichkeitsgrenzen festge-
legt werden, da nach unseren derzeitigen Erkenntnissen keine Schwellenkonzen-
trationen für karzinogene Substanzen existieren, unterhalb derer eine Expositi-
on ungefährlich ist. Unter Berücksichtigung der technologischen Möglichkeiten
sowie sozioökonomischen Gegebenheiten wurden für solche Stoffe Technische
Richtkonzentrationen, TRK-Werte, eingeführt.
Karzinogene sind im engeren Sinne solche Substanzen, die eine Umwandlung
von normalen Zellen in Tumorzellen bewirken (siehe Kapitel 9). Die karzinoge-
ne Wirkung beruht auf einer chemischen Veränderung des genetischen Materi-
als. Aufgrund des genotoxischen Effektes kann man eine karzinogene Wirkung
auch als mutagen bezeichnen. Erfahrungsgemäß besteht zwischen der ersten
Exposition mit einer Chemikalie und der Manifestation der karzinogenen Wir-
kung beim Menschen eine lange Latenzzeit von etwa 8 bis 20 Jahren. Ein
typischer Fall hierfür war das bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschriebe-
ne Karzinom der Harnblase bei Anilin-Arbeitern. Eine im Anilin vorhandene
Verunreinigung, das b-Naphthylamin, reagierte dabei mit Zellen der Harnblase
und führte nach etwa 8 bis 17 Jahren zu bösartigen (malignen) Tumoren.
Um das Risiko einer karzinogenen Wirkung beim Menschen zu senken, ist be-
sonders eine frühe Erkennung des Gefährdungspotentials chemischer Substan-
zen erstrebenswert. Im Tierversuch ist die Erfassung einer karzinogenen Wir-
kung prinzipiell möglich, aber mit einem außerordentlich hohen Aufwand an
Zeit, Arbeit, Anzahl von Tieren und Kosten verbunden. Es hat daher nicht an
Anstrengungen gefehlt, zusätzlich neue Testmethoden zu entwickeln, um Aus-
sagen über eine mögliche mutagene und karzinogene Potenz einer Substanz zu
machen. Dies ist auch tatsächlich durch eine Reihe sogenannter Short-Term
”
Tests“, wie z. B. dem Mutagenitätstest nach Ames an Bakterien, gelungen
(siehe Kapitel 9.7). Keiner dieser Tests kann jedoch eine sichere Aussage über
eine potentielle gentoxische Wirkung beim Menschen machen, aber durch eine
Kombination mehrerer geeigneter Tests kann die Richtigkeit einer Früherken-
nung erheblich gesteigert werden. Es werden sowohl Genmutationen als auch
Chromosomenaberrationen bei diesen Short-Term-Tests“ erfasst.
”
Zur Prüfung einer möglichen Schädigung der Reproduktionsfähigkeit oder der
Fertilität durch chemische Substanzen werden Studien über mehrere Genera-
tionen durchgeführt und es wird die Anzahl der jeweiligen Nachkommenschaft
bestimmt. Die heranwachsenden Jungtiere werden ebenfalls überprüft, um ei-
ne mögliche Übertragung der toxischen Wirkung über den Mutterleib zu er-
kennen. Diese Versuchsanordnung erlaubt Aussagen über toxische Wirkungen
während der fötalen Organentstehung und damit über teratogene Wirkun-
gen (fruchtschädigende, von griechisch teras, Schreckbild, Ungeheuer).
2 Toxikokinetik
Günter Fred Fuhrmann
Die Wirkung einer toxischen Substanz ist meist die Folge zahlreicher physika-
lisch-chemischer Prozesse, die sich in einem lebenden Organismus abspielen. In
der Regel lässt sich dabei eine Reaktionskette beschreiben, in der sich drei
Anteile erkennen lassen:
• die Expositionsphase,
• die toxikokinetische Phase,
• die toxikodynamische Phase.
Über die Umwelt sind Organismen ständig dem direkten Kontakt mit potentiell
toxischen Xenobiotika ausgesetzt. Zusätzlich können toxische Stoffe mit der
Nahrung, dem Trinkwasser und der eingeatmeten Luft aufgenommen werden.
Ob es zu Vergiftungen oder Schädigungen kommt, hängt davon ab, wie leicht
die Schadstoffe aufgrund ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften
von der Haut, den Lungen oder dem Magen-Darm-Trakt in den Organismus
aufgenommen werden.
Die Expositionsphase bildet die Grundlage für die zweite Phase, die to-
xikokinetische Phase, und aller invasiver Teilprozesse in Richtung auf den
Wirkort.
Hier am Wirkort läuft die dritte, die toxikodynamische Phase ab. Es erfolgt
am Wirkort meist eine reversible Reaktion mit einem rezeptiven, funktionellen
Teil (Rezeptor) des Organismus.
Neben der Invasion stellt die Evasion einen zweiten Teilprozess der toxikoki-
netischen Phase dar. Bereits durch Bindung und Speicherung der toxischen
Substanz erfolgt ein Abtransport vom Wirkort. Hauptsächlich wird durch
den Stoffwechselumsatz (Biotransformation) und die Exkretion eine wirksa-
me Konzentrationsminderung der toxischen Substanz am Wirkort erreicht.
Ein lebender Organismus lässt sich auf die einfachste Weise als ein black-
”
box-System“ darstellen. Es handelt sich um ein offenes dynamisches System
mit einem Zufluss und einem Abfluss (Abbildung 2.1).
18 Kapitel 2 Toxikokinetik
Organismus
Bindung
Stoffwechsel
Zufluss Verteilung WIRK- Abfluss
Aufnahme ORT Aus-
scheidung
Exkretion
Speicher
INVASION EVASION
Abbildung 2.1 Schematische Darstellung von Bewegungsvorgängen in einem Organismus.
Die Expositionsphase wird umrissen mit der Hinbewegung einer toxischen Sub-
stanz zu den Resorptionsflächen eines lebenden Organismus. Neben den phy-
sikalischen Größen wie Zeit und Temperatur ist die biologische Beschaffenheit
der Resorptionsoberflächen von großer Bedeutung für die Aufnahme der Sub-
stanzen in den Organismus.
Die Größenverhältnisse der Aufnahmeflächen des Menschen gibt Abbildung
2.2 maßstabgerecht wieder.
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 19
Abbildung 2.2 Aufnahmeflächen des Menschen. In der Mitte ein erwachsener Mensch und
im gleichen Maßstab dazu die Oberflächen von Lungen, Haut und Magen-Darm-Trakt.
2.1.1 Haut
Die Haut, welche den Körper eines Erwachsenen bedeckt, hat eine Oberfläche
von rund 1,8 m2 . Sie trennt durch ihren Aufbau den Menschen von seiner Um-
gebung, da sie nur eine geringe Durchlässigkeit (Permeabilität) besitzt. Auf die
äußere Epidermis folgt das Korium oder die Lederhaut, und darunter liegt die
aus lockerem Bindegewebe und mehr oder minder reichlichem Fettgewebe auf-
gebaute Verschiebeschicht gegen die Unterlage, die Subcutis oder Unterhaut.
Abbildung 2.3 Aufbauschema der Haut mit Horn- und Keimschicht (Epidermis), Lederhaut
(Korium) und Unterhautgewebe (Subcutis). Haarfollikel und Schweißdrüsen durchbrechen
die Keim- und Hornschicht. In der Lederhaut und im Unterhautgewebe befinden sich die
Blutgefäße (Arterien, Venen) und Nerven mit Nervenendigungen Nervenpapille, Nerven-
endkolben etc.). Nach Brockhaus.
Das Haupthindernis für den Eintritt von Substanzen ist die dicke Hornschicht
(Stratum corneum) mit ihrem relativ geringen Wassergehalt von 5 bis 10 %
als oberste Schicht der Epidemis. Die unterste Schicht der Epidermis ist die
Keimschicht, sie zeigt die höchste metabolische Aktivität aller Hautschichten.
Sie kann sowohl körpereigene Substanzen als auch Fremdstoffe metabolisieren.
Im Korium und in der Subcutis befinden sich kapillare Blutgefäße, die für den
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 21
Bei Kindern kommt das im Vergleich zum Erwachsenen größere Verhältnis von
Oberfläche zu Körpergewicht zur Geltung. So resultieren beim Neugeborenen,
unter ähnlichen Aufnahmebedingungen wie beim Erwachsenen, etwa dreifach
höhere Konzentrationen im Organismus.
Eine Reihe von lipophilen Chemikalien können die Haut in ausreichender Men-
ge penetrieren und eine systemische toxische Wirkung verursachen. Hierzu
gehören neben vielen anderen Verbindungen z. B. organische Phosphate als
Nervengase, verschiedene nicotinische Insektizide, Phenole, Tetrachlorkohlen-
stoff, metallorganische Verbindungen wie Bleitetraethyl und Karzinogene.
Die Epidermis mit ihrer Hornschicht hat nicht nur eine Barrierefunktion für
viele Substanzen, sie übt auch wegen des niedrigen pH-Wertes, der zwischen
4,2 und 6,5 liegen kann, eine Schutzfunktion gegen Bakterien aus.
Wird die Hornschicht zerstört oder mechanisch abgetragen, können hydrophi-
le und lipophile Substanzen die Haut gleichermaßen penetrieren. Dies kann
z. B. durch scheuernde Reinigungsmittel bewirkt werden oder durch organi-
sche Lösungsmittel wie Benzin oder Terpentin, die die schützende Fettschicht
entfernen (siehe Kapitel 5). Auf der Haut führen Phenole zu einer Unempfind-
lichkeit, was die Gefahr der Vergiftung durch Resorption begünstigt. Selbst
schwere Schorfbildungen lösen dabei keine Schmerzen aus. Dringen die Pheno-
le in tiefere Schichten ein, so kommt es durch Gefäßschädigung zum Auftreten
einer typischen Phenolgangrän (Gangrän, gr. fressendes Geschwür). Mit Sali-
cylsäure kann die Hornschicht infolge ihrer keratolytischen Wirkung (Kerat,
gr. Horn) aufgelöst werden. Dies wird z. B. bei der Hühneraugenentfernung mit
Salicylsäure kosmetisch ausgenutzt.
Die beschädigte Haut ist schließlich auch die Eintrittspforte für Substanzen,
die als Allergene wirken und damit das Risiko einer Allergie erhöhen.
2.1.2 Schleimhäute
Im Vergleich zur Aufnahme von toxischen Substanzen durch die Haut ist
die Aufnahme durch die Schleimhäute wesentlich intensiver, da eine Barrie-
re ähnlich der Hornschicht nicht vorhanden ist. Wie bei der Haut werden aber
Chemikalien mit lipophilen Eigenschaften bevorzugt. Im allgemeinen haben
Schleimhäute den Charakter einer Lipidmembran mit Poren, so dass sie auch
für hydrophile Substanzen beschränkt durchlässig sind.
Verschiedene toxische Substanzen können über die Schleimhäute der Nase, des
Mund-Rachen-Raumes, der Bindehaut der Augen, der Harnleiter, der Blase
oder der Scheide in den Blutkreislauf gelangen und systemische toxische Wir-
kungen verursachen. So wurden z. B. bei Blasenspülungen mit Borsäurelösung
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 23
2.1.3 Verdauungstrakt
Eine Reihe von Umweltgiften gelangen mit der Nahrung in den Verdauungs-
trakt und können von dort her in den Organismus aufgenommen werden. Sche-
matisch kann der Verdauungstrakt als ein den Organismus durchziehender
Kanal angesehen werden. Die Aufgaben des Kanals bestehen in der Aufnah-
me, der Zerkleinerung, der Fortbewegung und der Verdauung der Nahrung.
Die Verdauung erfolgt mit Hilfe der Magensäure, der Verdauungsenzyme und
der bakteriellen Darmflora. Die dabei entstehenden Produkte werden entwe-
der von der Darmschleimhaut aufgenommen oder aber als Exkrete mit den
Faeces, den aus der Verdauung übrigbleibenden Massen, eliminiert. Toxische
Substanzen können ebenfalls in veränderter Form wie die Nahrungsprodukte
oder aber auch unverändert vom Verdauungstrakt aufgenommen oder ausge-
schieden werden.
Von der Größe der resorbierenden Fläche imponiert am meisten der Dünn-
darm. Mit 100 bis 200 m2 erreicht die Fläche die Größe eines Tennisplatzes.
Danach folgen ebenfalls aus Schätzwerten der Dickdarm mit 0,5 bis 1 m2 , der
Magen mit 0,1 bis 0,2 m2 , während der Mastdarm nur 0,04 bis 0,07 m2 und
die Mundhöhle etwa 0,02 m2 misst.
Wie die Größenverhältnisse bereits andeuten, ist die Dünndarmschleimhaut
von größter Bedeutung für die Aufnahme (Abbildung 2.4). Die große Ober-
fläche wird durch zwei Bauprinzipien erreicht. Erstens bilden die Schleimhaut
(Mucosa) und die darunter liegende Schicht der Submucosa ringförmige Quer-
falten (nicht gezeigt), die Plicae circulares, die an Zahl und Größe analwärts
abnehmen, und zweitens erheben sich auf diesen und in ihren Zwischenräum-
en etwa 1 mm hohe Zotten (Villi intestinales), die ebenfalls analwärts weniger
werden. Die Gesamtzahl der Zotten wird auf etwa 4 bis 5 Millionen geschätzt.
Die resorbierende Zellschicht der Dünndarmschleimhaut ist hauptsächlich das
einschichtige Zottenepithel, ein metabolisch äußerst aktives Zellgewebe. Wird
diese Zellschicht durch toxische Substanzen geschädigt, so werden die Zellen
in den Darm abgestoßen, und das Zellepithel kann sich innerhalb von 2 bis 3
Tagen regenerieren. Auf diese Weise können z. B. in das Zottenepithel aufge-
nommene und dort gespeicherte toxische Metalle mit den Faeces ausgeschie-
den werden. Ein anderer physiologischer Schutzeffekt, der durch eine Reizung
der Darmschleimhaut hervorgerufen wird, führt zu schneller Darmpassage und
zum Abführen der toxischen Substanz (Diarrhöe).
24 Kapitel 2 Toxikokinetik
Abbildung 2.4 Schnitt durch die menschliche Dünndarmwand mit Schleimhaut (Zotten) und
Muskelschichten. Die Zotten zeigen von links nach rechts jeweils das Nervengeflecht, die
Lymphgefäße, die arteriellen und venösen Blutgefäße. Die Muskelschichten enthalten die
zu- und ableitenden Blut- und Lymphgefäße sowie die Nervenversorgung (submucöser Ner-
venplexus, Plexus myentericus) und werden nach unten von der Bauchfellschicht (Serosa
mit Peritonaeum) begrenzt. Nach Bell et al. 1965, Textbook of Physiology and Biochemistry.
Der Mageninhalt ist stark sauer (pH-Wert zwischen 1,5 bis 3), so dass sehr
schwache Basen und schwache Säuren wegen ihrer Lipophilie bereits hier auf-
genommen werden können. Wegen der relativ kleinen Oberfläche des Magens
ist jedoch diese Aufnahme im Vergleich zum Dünndarm von untergeordneter
Bedeutung.
Die Diffusion von kleinen hydrophilen Molekülen durch die Darmwand erklärt
man durch Kanäle oder Poren, die von den Membranproteinen der Epithelzel-
len gebildet werden. Die Geschwindigkeit der Permeation hängt vom Konzen-
trationsgradienten ab und nimmt mit abnehmender Molekülgröße zu. Außer-
dem können Moleküle mit einem größeren Durchmesser als dem der Poren auch
noch über zwischenzelluläre Verbindungen permeieren, über die sogenannten
tight junctions“. Für die Epithelzellen des Dünndarmes hat man mit Hilfe
”
von Testmolekülen einen mittleren Porenradius von 0,3 bis 0,4 nm ermittelt.
Es gibt ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit der Membran des Dünndarmes
als eine effektive Barriere gegen bestimmte hydrophile toxische Substanzen:
Das hydrophile Pfeilgift Curare kann wegen seiner Molekülgröße und seiner
Ladung nicht durch den Darm aufgenommen und somit das damit kontami-
nierte Tierfleisch risikolos verzehrt werden.
2.1.4 Respirationstrakt
Für die Resorption durch die Lungen sind besonders gasförmige Substanzen
geeignet. Es können jedoch auch flüssige und feste Substanzen aufgenommen
werden, wenn sie in feinverteilter Form als Aerosol vorliegen. Viele toxische
Substanzen gelangen als Aerosole in den Organismus. Von seinen Funktionen
her kann der Respirationstrakt in drei Abschnitte eingeteilt werden (Abbildung
2.5):
1. der Nasen-Rachen-Raum,
2. das Verteilungssystem der Bronchien,
3. die Lungenbläschen oder Alveolen.
Der zweite Abschnitt stellt die Verbindung für den Luftstrom zu den Lun-
genbläschen her. Er beginnt mit dem Kehlkopf und der sich anschließenden
Luftröhre. Die Luftröhre teilt sich in den rechten und linken Bronchus, von
denen die Seitenbronchi abzweigen. Die feinere Verzweigung der Seitenbronchi
erfolgt unter Zweiteilung, und aus den Bronchi gehen die Bronchioli hervor.
Sie verästeln sich noch weiter und bilden feinste Bronchioli respiratorii, die am
Ende in zwei bis drei kleinste Röhrchen zu den Lungenbläschen auslaufen.
Die Notwendigkeit der Konstruktion eines stabilen Röhrensystems lässt es
nicht zu, die Röhren selbst für den Gasaustausch zu benutzen. Da hier kein
Gasaustausch stattfindet, bezeichnet man diesen Röhrenraum auch als Tot-
”
raum“. Trotzdem kommt auch diesem Raum eine bedeutende Funktion für die
Atmung zu. Wurde nämlich die Atemluft nicht schon im Nasen-Rachen-Raum
ausreichend temperiert und angefeuchtet, so erfolgt dies hier.
Außerdem ist das Röhrensystem vom vorderen Drittel der Nase bis zu Beginn
der Bronchioli respiratorii mit einem höchst aktiven Flimmerepithel ausgeklei-
det. Der Flimmerschlag arbeitet koordiniert und bewegt eine daraufliegende
Schleimschicht mit einer ansehnlichen Geschwindigkeit von etwa 1 bis 2 cm pro
Minute vorwärts. Der Flimmerschlag ist stets nach außen gerichtet und bewegt
nicht nur den Schleim, der von den schleimproduzierenden Zellen des Bron-
chialsystems gebildet wird, sondern er nimmt auch eingeatmete Staubpartikel
auf dieser Schleimstraße“ mit in die Mundhöhle, wo sie entweder verschluckt
”
oder ausgehustet werden können.
Ein wichtiger Reinigungsmechanismus der Bronchialröhren ist der Hustenre-
flex, der durch Reizung von Rezeptoren in der Schleimhaut ausgelöst wird.
Dabei verschließt sich zuerst der Kehlkopf, und die Brust- und Bauchmusku-
latur erzeugt dann im Brustraum einen Überdruck. Durch plötzliches Öffnen
des Kehlkopfes entsteht ein starker Luftausstoß. Mit einer Luftbewegung von
bis zu 280 m pro Sekunde (etwa 1000 km pro Stunde) werden feste Partikel
und Schleim aus dem Respirationstrakt herausgeschleudert.
Das Röhrensystem erlaubt die Passage von gasförmigen Substanzen und von
Aerosolen, die dann in die Lungenbläschen gelangen und resorbiert werden
können. Abbildung 2.6 gibt einen Eindruck über die Größe der Partikel, die
Lungenbläschen erreichen können.
Aus Abbildung 2.6 ist ersichtlich, dass besonders die feinsten Partikel mit ei-
nem Durchmesser < 2 mm die Lungenbläschen erreichen, während Partikel mit
einem Durchmesser von 20 mm in den oberen Luftwegen hängen bleiben. Die
größeren Partikel werden auf der Schleimstraße“ des Flimmerepithels nach
”
oben transportiert und meist reflexmäßig verschluckt. Dies führt zunächst zu
einer Reinigung der Lungen von Partikeln, die dann aber beim Verschlucken in
den Magen-Darm-Kanal gelangen und von dort aufgenommen werden können.
28 Kapitel 2 Toxikokinetik
Abbildung 2.6 Prozentsatz retinierter Partikel in den verschiedenen Regionen des Respira-
tionstraktes. Der Durchmesser der Partikel variiert von 0,2 bis 20 µm, und die Einatmungs-
tiefe betrug 1,5 Liter (experimentelle Daten von Hatch und Gross, 1964). Der Übersicht
halber wurde der Prozentsatz der Partikel in Mund- und Rachenraum, in den großen Bron-
chi (Bronchus 1+2), in den kleineren Bronchi (Bronchus 3+4) und in den terminalen und
respiratorischen Bronchioli (term. + Br. resp.) zusammengezogen.
berücksichtigen, dass der Sauerstoff- und CO2 -Gehalt in der Luft der Lun-
genbläschen selbst noch größere Unterschiede zu dem der Luft aufweist. Das
liegt an dem im Röhrensystem befindlichen toten Raum“. Die Mundhöhle,
”
Luftröhre und Verzweigungen umfassen 140 ml, während im ganzen bei ruhi-
ger Atmung insgesamt 500 ml ausgeatmet werden. Von den insgesamt 500 ml
Atemzugsvolumen werden also 140 ml Totraum“ nicht ventiliert:
”
Atemzugvolumen ·PCO2 Ausatmungsluft = (Atemzugvolumen – Totraum“) ·
”
PCO2 Lungenbläschen.
Bei der Analyse der Luft in den Lungenbläschen findet man darum etwa 15,5 %
Sauerstoff und 5 bis 6 % CO2 .
Ist der CO2 -Gradient umgekehrt, das kann im Weingärkeller oder in bestimm-
ten natürlichen Höhlen der Fall sein, in denen sich das spezifisch schwerere
Gas anreichert, so kann ein schneller Tod eintreten. Zugang über die Lungen-
bläschen finden auch verschiedene toxische Gase, wie Kohlenmonoxid, Cyan-
wasserstoff, Stickoxide, Schwefeldioxid, Schwefelwasserstoff, Ozon, Phosgen
und zahlreiche andere anorganische und organische Reizgase. Praktisch alle
flüchtigen Substanzen wie z. B. auch volatiles Quecksilber (siehe Kapitel 4.2.5)
können über diesen Weg in den Organismus eintreten. Auch der umgekehrte
Weg ist möglich, so können Spuren von Methan aus dem Magen-Darm-Kanal
über den Blutweg in der Ausatmungsluft erscheinen. Auch flüchtige Substan-
zen wie NH3 , niedermolekulare Ketone und Äther sowie Selenoxid können vom
Blut in die Luft der Lungenbläschen übertreten.
Die Gesamtoberfläche der Lungenbläschen ist von der Atemmechanik abhängig,
sie beträgt beim Ausatmen etwa 40 m2 und beim tiefen Einatmen bis zu 100 m2
(Abbildung 2.2). Die Anzahl der Lungenbläschen eines Menschen wird auf 300
bis 400 Millionen geschätzt. Die große Lungenbläschenoberfläche steht zu 90
bis zu 95 % in einem engen Kontakt mit den darunter befindlichen kapillaren
Blutgefäßen. Für die Diffusion der Gase gilt das Fick´sche Diffusionsgesetz.
Neben dem Diffusionskoeffizienten und dem Konzentrationsgradienten ist die
Gesamtmembranoberfläche und die Dicke der Diffusionsstrecke von entschei-
dender Wichtigkeit. Die Diffusionsstrecke wird auch als die Luft/Blut-Schranke
bezeichnet, sie beträgt nur 0,4 bis 2,5 mm. Die Diffusionsgeschwindigkeiten von
Gasen für solch kleine Abstände liegen unter einer Millisekunde.
Einzelne Reizgase wie Phosgen, Ozon oder nitrose Gase können die Epithelzel-
len der Lungenbläschen schädigen. Die Zellen schwellen dabei durch Flüssig-
keitseintritt an, und es entsteht ein Lungenödem. Physikalisch gesehen wird die
Diffusionsstrecke für Sauerstoff und CO2 stark verlängert, und die Austausch-
geschwindigkeit nimmt beträchtlich ab. Wegen der schlechten Wasserlöslichkeit
des Sauerstoffes tritt zuerst eine Sauerstoffuntersättigung des Organismus auf.
Haut und Schleimhäute verfärben sich dabei blau (cyanotisch).
30 Kapitel 2 Toxikokinetik
Bei normaler Atmung werden pro Minute etwa 6 bis 8 Liter Luft ventiliert
und dabei 250 ml Sauerstoff aufgenommen und 200 ml CO2 abgegeben. In der
gleichen Zeit passieren etwa 5 bis 6 Liter Blut die Lungenkapillaren. Der Gas-
austausch ist gesteigert, wenn sowohl die Ventilation als auch die Durchblutung
der Lungenkapillaren zunehmen. Eine wichtige Größe ist hierbei die Löslichkeit
des Gases im Blut, die durch den Blut/Gas-Löslichkeitskoeffizienten beschrie-
ben ist (ml Gas/ml Blut).
Betrachtet man die Zeit, bis sich ein Gleichgewicht zwischen Einatmungsluft
und Blut eingestellt hat, so gilt für ein Gas mit einem geringen Blut/Gas-
Löslichkeitskoeffizienten, dass die Zeit sehr kurz ist im Vergleich zu einem
Gas mit einem großen Löslichkeitskoeffizienten. Das Gas Ethylen mit einem
kleinen Löslichkeitskoeffizienten von 0,14 braucht etwa 20 Minuten bis zur
Gleichgewichtseinstellung im Blut des Menschen, während Chloroform mit ei-
nem Löslichkeitskoeffizienten von 9,4 mehr als 20 Stunden dafür benötigt. Man
kann diese physikalische Verteilung auch anders interpretieren: Um das gesam-
te Blut mit Ethylen zu sättigen, bedarf es wegen seiner geringen Löslichkeit
nur einer geringen Menge (bzw. eines geringen Volumens). Diese lässt sich in
einer kürzeren Zeit bereitstellen als bei Chloroform, von dem etwa 60-mal mehr
bis zur Erreichung der Gleichgewichtseinstellung benötigt wird.
Für die Verteilung eines Gases im Blut, das z. B. mit der Konzentration im
Gehirn im Gleichgewicht steht, sind drei Faktoren wichtig:
Ein Gas mit einer geringen Löslichkeit im Blut wie z. B. Ethylen wird nur
zu einem geringen Prozentsatz aus den Lungenbläschen in das Blut diffun-
dieren, aber wegen des meist großen Gradienten des Partialdruckes wird dies
sehr schnell erfolgen. Eine erhöhte Atemfrequenz ist also nur ganz am Anfang
wirksam, später nicht mehr. Für ein Gas mit einer großen Blutlöslichkeit wie
z. B. Chloroform gilt, dass bei jedem Atemzug ein großer Anteil des Gases aus
den Lungenbläschen in das Blut verschwindet. Wegen des meist geringen Gra-
dienten ist die Geschwindigkeit der Aufnahme jedoch nur gering. Hierbei führt
eine Zunahme der Atemfrequenz zu einer deutlich gesteigerten Aufnahme in
das Blut, und die Ventilation ist somit von großer Bedeutung.
Die Lungenbläschen sind verantwortlich für die Aufnahme von Aerosolen, de-
ren Partikelgröße die Passage des Röhrensystems erlaubt (Abbildung 2.6). Ae-
rosole schließen natürliche und synthetische organische und anorganische Ver-
bindungen ein. Stadtluft enthält potentiell toxische Salze verschiedener Me-
talle wie Cadmium, Blei, Antimon, Selen, Thallium, Vanadium, Nickel und
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 31
Oberer Respirationstrakt
Schadstoffe mit sehr hoher Wasserlöslichkeit reagieren besonders mit den feuch-
ten Schleimhäuten im Rachen und in der Luftröhre. So gelangen Acrolein, Am-
moniak, Chlorwasserstoff, Dischwefeldichlorid, Fluor und Formaldehyd wegen
ihrer hohen Wasserlöslichkeit nicht weit über den ersten Abschnitt hinaus und
üben dort ihre schädigenden Wirkungen wie Verätzungen, Entzündungen und
Narbenbildung aus.
32 Kapitel 2 Toxikokinetik
Mittlerer Respirationstrakt
Erreicht ein Gas oder auch ein Aerosol wegen geringer Wasserlöslichkeit und
lipophiler Eigenschaften die kleinsten Röhrenbereiche und die Lungenbläschen,
so werden besonders die empfindlichen Epithelzellen der Lungenbläschen ge-
schädigt. Dies gilt für Stoffe wie Cadmiumoxid, Ozon, Phosgen und Stickstoff-
dioxid, die ein toxisches Lungenödem im dritten Respirationsabschnitt auslösen
können.
In den Alveolen gibt es kein Flimmerepithel. Aerosole und Partikel, die bis in
die Lungenbläschen vorgedrungen sind, können dort von den Makrophagen,
einer bestimmten Art von Phagozyten (Phagozyten sind Fresszellen, die Par-
tikel, Gewebsreste und Bakterien in sich aufnehmen), aufgenommen werden.
Durch ihre amöboide Beweglichkeit können die Makrophagen die aufgenom-
menen Stoffe aus den Lungenbläschen heraus zu den Lymphknoten bringen.
Im Gegensatz zu Quarz- und Staubpartikeln werden Asbestfasern von den Ma-
krophagen nicht aus den Lungenbläschen heraustransportiert, sondern bleiben
dort als Asbestkörperchen liegen. Es kann dadurch zu einer Asbestose kom-
men, die sich durch Reizhusten, Atemnot und Auswurf äußert. Die Asbestose
führt häufig zu Lungenkrebs, seltener infolge Wanderung der Asbestfasern zu
anderen Krebsformen.
Zu Beginn dieses Kapitels wurde der Organismus als eine black-box“ mit ei-
”
nem Zu- und Abfluss dargestellt (Abbildung 2.1). Eine im Inneren bestehende
Organisation bestimmt das weitere Schicksal einer toxischen Substanz nach de-
ren Resorption. Jedoch reicht dieses Modell nicht aus, um toxische Vorgänge,
die sich im menschlichen Organismus abspielen können, zu verstehen. Wie be-
reits für die Oberflächen geschehen (Kapitel 2.1), bedarf es einer eingehenderen
Beschreibung der funktionellen Organisation.
Der erwachsene durchschnittliche Europäer hat ein Körpergewicht von 70 kg.
Die Gesamtzellzahl wird auf 1014 Zellen geschätzt. Sie lassen sich etwa 200
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 33
Epithelgewebe
Das Epithel- oder Deckgewebe kleidet äußere oder innere Oberflächen des
Körpers aus. Beispiele sind das Epithel der Lungenbläschen, der Blutgefäße,
der Darmzotten, das Flimmerepithel des Respirationstraktes oder die Horn-
schicht der Haut.
Die Binde- und Stützgewebe bestehen aus Zellen und der von ihnen gebildeten
zwischenzelligen Grundsubstanz. Ihre Bedeutung liegt, wie der Name verrät,
weniger in ihrer Eigenleistung als in Hilfsleistungen für andere Zellen.
Muskelgewebe
Das Muskelgewebe ist als einziges Gewebe zur Kontraktion befähigt und dient
zur Körperbewegung, zum Verschluss von Organen oder zu Transportleistun-
gen. Man unterscheidet die quergestreifte Skelettmuskulatur, die Herzmusku-
latur und die glatte Muskulatur der inneren Organe wie z. B. Bronchien, Darm,
Blase und Blutgefäße.
Nervengewebe
Tabelle 2.1 Mittlerer Nichtmetallgehalt eines Menschen von 70 kg Körpergewicht an. Die
zweite Spalte zeigt die absolute Menge, die dritte die Konzentration in mmol/kg (Sauerstoff
als O2 , Wasserstoff als H2 und Stickstoff als N2 ). Spalte 4 gibt die absolute Anzahl der im
Körper vorkommenden Atome an, während die letzte Spalte, bei angenommener Gleichver-
teilung, die in einer Zelle (1014 Zellen im Körper) vorkommenden Atome tabelliert (Zahlen
aus Merian 1987).
2.2.1 Verteilungsräume
Neben 40 % fester Bestandteile entfallen 60 % des Körpergewichtes eines jun-
gen Mannes auf Wasser. Grundsätzlich ist die Relation fester Körperbestand-
teile zum Gesamtkörperwasser von Alter und Geschlecht abhängig. Tabelle 2.3
gibt eine Übersicht über das Gesamt-Körperwasser in Abhängigkeit von Alter
und Geschlecht.
36 Kapitel 2 Toxikokinetik
Bei der schwangeren Frau kann zusätzlich das ungeborene Kind als ein weiteres
Kompartiment aufgefasst werden, das durch den Mutterkuchen (Plazenta) vom
mütterlichen Organismus abgetrennt wird.
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 37
R RX
+
X X X X
+
BINDUNG
P
SPEICHER
PX METABOLISMUS
4% 15% 41%
Abbildung 2.7 Schicksal einer toxischen Substanz im menschlichen Körper. Die gestrichel-
ten Linien repräsentieren die Gefäßwände bzw. die Zellmembranen. Die Zahlen geben den
Prozentsatz der drei Wasserräume am Körpergewicht eines erwachsenen Mannes wieder. X
ist die freie Konzentration einer toxischen Substanz, PX der Plasma-Protein-Komplex mit
der toxischen Substanz und RX der entsprechende Rezeptor-Komplex.
Wie in Abbildung 2.7 gezeigt, ist eine wichtige Funktion der Plasmaproteine,
toxische Substanzen zu binden. In der Regel gilt für eine toxische Substanz,
dass ihre freie, nichtgebundene Konzentration für die toxische Wirkung ver-
antwortlich ist und nicht die gebundene Fraktion. Dies gilt besonders für toxi-
sche Schwermetalle, die so durch Bindung oder Speicherung entgiftet werden
können.
Theoretisch ist die Größe jedes einzelnen Körperflüssigkeitsvolumens bestimm-
bar, indem man Substanzen, die sich nur in einem Kompartiment verteilen,
direkt einbringt und deren Verteilungsvolumen berechnet. Auf diesem Wege
ließ sich das Plasmavolumen mit dem Farbstoff Evansblau, der fest an die
Plasmaproteine gebunden wird, bestimmen. Wenn X die Menge des in das
Blut eingebrachten Farbstoffes ist und nach kurzer Zeit seine Konzentration c
im Blut bestimmt wird, dann ist das Verteilungsvolumen Vd definiert als
Vd = X/c,
und es gilt:
c = X/Vd .
Bei einer Injektion von 300 mg Evansblau in die Blutbahn ergab sich z. B. nach
der gleichmäßigen Verteilung des Farbstoffes im Blutraum eine Konzentration
von 100 mg/Liter. Daraus errechnete sich für das Verteilungsvolumen 3 Liter.
Das gesamte Körperwasser kann entweder mit D2 O oder mit tritiummarkier-
tem Wasser nach der obigen Methode bestimmt werden. Größere Schwierigkei-
ten bereitet dagegen die Bestimmung des Zwischenzell- und des Zellraumes.
Beim diskontinuierlichen Typ“ sind das innere Endothel und die äußere
”
Basalmembran lückenhaft und damit sehr durchlässig für hydrophile Moleküle.
Diese Kapillargefäße findet man in der Leber, der Milz und im Knochenmark.
Beim fenestrierten Typ“ sieht man, dass das Endothel fensterähnliche Öff-
”
nungen aufweist. Es resultiert eine gute Durchlässigkeit für wasserlösliche Mo-
40 Kapitel 2 Toxikokinetik
Organe ml/Minute
pro 100 g Gewebe
Niere 500,0
Gehirn, Herz, Leber 50,0
Haut, Muskulatur 5,0
Fett- und Bindegewebe 0,5
gelöst beträgt 22,4 Atmosphären und wird durch 6, 02 · 1023 osmotisch wirk-
same Teilchen hervorgerufen).
Aus der Kolloidchemie wurde der Begriff Kolloid“ auch auf die Proteine
”
übertragen und hat dabei früher zur Verwirrung über die Natur der Proteine
geführt. Mit kleinen Einschränkungen (nämlich einer möglichen Aggregation
der Proteine) liegen die Proteine in wässriger Lösung als einzelne Moleküle vor,
die entsprechend ihrer Teilchenzahl zum osmotischen Druck beitragen. Der
entsprechende osmotische Druck beträgt 1,5 mosmol pro Liter bzw. 25 mmHg
(1 mmHg = 1 Torr, Torr wurde nach Torricelli, dem Erfinder des Quecksil-
berbarometers benannt). Die Gefäßwände der Kapillaren verhindern eine we-
sentliche Penetration der großen Plasmaproteine in die Zwischenzellflüssigkeit
und verursachen dadurch eine Druckerhöhung in den Gefäßen, den sogenann-
ten kolloidosmotischen Druck“ (kolloidosmotischer Druck = osmotischer
”
Druck hervorgerufen durch Proteine).
Die Filtration von Flüssigkeit aus der Kapillare hängt vom Filtrationsdruck
(hydrostatischer Druck in der Kapillare minus dem der Zwischenzellflüssig-
keit) und dem kolloidosmotischen“ Druck ab. Am Anfang der Kapillare ist
”
der Filtrationsdruck größer als der kolloidosmotische Druck, und es resultiert
ein entsprechender Flüssigkeitsstrom aus dem Gefäß heraus in Richtung Zwi-
schenzellflüssigkeit. Am Ende der Kapillare ist der Filtrationsdruck geringer
als der kolloidosmotische Druck, und es erfolgt eine Flüssigkeitsbewegung in
die entgegengesetzte Richtung, zurück in die Kapillare (Abbildung 2.9).
Die Länge aller Kapillaren eines Menschen wird auf 95 000 km geschätzt und
deren Gesamtoberfläche auf ca. 6000 bis 8000 m2 .
Dieser physiologische Flüssigkeitskreislauf der Kapillar-Zirkulation dient der
Versorgung der Zellen mit Nährstoffen und dem Abtransport der Stoffwech-
selschlacken. Das bewegte Flüssigkeitsvolumen ist beträchtlich, es beträgt un-
gefähr 3 Liter pro Minute. Damit entspricht es also der Menge des gesamten
Blutplasmas in dieser kurzen Zeitspanne. Selbstverständlich wird auch durch
die Kapillar-Zirkulation eine toxische Substanz wirksam verteilt.
Verfolgt man den Weg einer toxischen Substanz weiter, so diffundiert sie aus
dem Blut in den Zwischenzellraum und gelangt von dort zu der nächsten Bar-
riere, der Zellmembran.
Eine gemeinsame biologische Funktion aller Membranen besteht darin, Abläufe
in der Zelle kontrollierbar zu gestalten. Dies geschieht erstens durch die räum-
42 Kapitel 2 Toxikokinetik
50
40 Zwischenzell-
Druck in mm Hg
30 Raum
20
10
Flüssigkeitsbewegung
0
entsprechend
-10 dem
-20 effektiven
Druck
-30
0.00 0.25 0.50 0.75 1.00 1.25 1.50 1.75 2.00 Kapillare
Länge der Kapillare in mm
hydrostatischer effektiver kolloidosmotischer
Druck Druck Druck
Abbildung 2.9 Optischer Eindruck des Druckverlaufs in einer Kapillare (geschätzte Ge-
samtlänge aller Kapillaren: 95 000 km). Die Oberfläche sämtlicher Kapillare beträgt ca.
6000–8000 m2 .
liche Abgrenzung der Zelle, der Kompartimentierung, und zweitens über eine
Regulation des Zu- und Abflusses. Die Zusammensetzung des intrazellulären
Milieus wird durch einen geregelten Membrantransport von Nahrungsstoffen,
Ionen und Abfallprodukten dynamisch und energetisch optimiert.
Protein-Auflage
Lipid-Doppelschicht (A)
gemischter Protein-Lipidfilm (B)
O
1 CH2 O C (CH2)14 CH3
O CH O C (CH2)14 CH3
R O P O CH2 O
2 O
-
3
Symbol
Flüssig-Mosaik-Modell (C)
Der Austausch der Lipide von einer Seite der Membran zur anderen (sog. flip-
”
flop“ oder transverse diffusion“) ist im Gegensatz zur lateralen Diffusion ein
”
sehr langsamer Prozess. Ein flip-flop“ der Proteine wird dagegen nicht beob-
”
achtet.
Folgende Merkmale einer Membran können herausgestellt werden:
Abbildung 2.11 Idealisiertes Bild einer Zelle. Der Zellkern steht über Poren mit dem Zyto-
plasma in Verbindung. Der zytoplasmatische Raum ist zum größten Teil ausgefüllt mit weite-
ren Organellen, dem glatten und rauhen endoplasmatischen Retikulum, Mitochondrien, dem
Golgi-Apparat und den Lysosomen. Der Zellkern wird von einer Doppelmembranhülle um-
schlossen, welche die Desoxyribonukleinsäure (DNA) einschließt. Die genetische Information
ist in den Basensequenzen der DNA-Moleküle codiert, die eine bestimmte, für alle Lebewe-
sen charakteristische Anzahl von Chromosomen bilden (Schema nach Wohlfahrt-Bottermann
und Loewy).
48 Kapitel 2 Toxikokinetik
Der Aufbau der Plasmamembran wurde im Kapitel 2.3.2 als eine kontinuier-
liche Lipiddoppelschicht beschrieben, in die hydrophobe Proteine eingebettet
sind. Ein Diffusionstransport von Substanzen kann sowohl durch die Lipiddop-
pelschicht als auch über die hydrophoben Proteine erfolgen. Dies soll exempla-
risch am Transport von Wasser am Membranmodell des Erythrozyten gezeigt
werden.
H H
O H
O O
H H
H H H
H O O
H H H
O O
H
H H H
H P C H H
H O O
N A O H
O
N O
H H A H O
H
H P H H
H
H
O O
O H
H H H
O O
H H H
O O H
O
H H
Membran H
H
Abbildung 2.12 Transportwege von H2 O durch die Plasmamembran. Aquaporin ist ein
durchgängiger Wasserkanal. Die engste Stelle des 28 kDa Proteins wird vermutlich durch
einen Ring von 6 Aminosäuren gebildet mit je zwei Asparagin (N), Prolin (P) und Alanin
(A) Aminosäuren. Quecksilber-Ionen können den Wasserdurchtritt durch Aquaporin hem-
men. Der Reaktionsort ist die Aminosäure Cystein (C189), die sich in der unmittelbaren
Nähe der Wasserpore befindet. Der Transport von Wasser durch die Lipiddoppelschicht der
Membran besitzt eine viel höhere Aktivierungsenergie, da wegen der dichten Packung der
Lipide bei niedriger Temperatur seine Diffusion erschwert ist (nach Peter Agre et al. 1995).
Die Lipiddoppelschicht und Aquaporin sind jedoch nicht die einzigen Kanal-
strukturen, die eine Wasserpermeabilität durch die Membran ermöglichen. Un-
tersuchungen am Glucosetransporter Glut1 in der Erythrozytenmembran ha-
ben 1989 gezeigt, dass über diesen carriervermittelten Glucosetransport auch
H2 O-Moleküle die Membran permeieren können. Außerdem wurden noch ande-
re carriervermittelte Transporter, wie der Anionentransporter, für wasserper-
meable Strukturen gehalten. Diese Beispiele sollen zeigen, dass die Diffusions-
wege von kleinen Molekülen wie Wasser durch die Membran überaus vielfältig
sein können.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 51
Für kleine Moleküle wie Glycin und Harnstoff werden außerdem spezielle
Membrantransporter in der Erythrozytenmembran diskutiert. Das Auffinden
von Transportproteinen für Acetat und Ethanol in der Hefeplasmamembran
hat zur Revision des früheren Standpunktes geführt, dass kleine Moleküle al-
lein durch Diffusion die Membran passieren können. Dagegen gilt dies im-
mer noch für die meisten toxischen Substanzen und gasförmigen Stoffe wie
O2 , CO2 , CO, NH3 und HCN.
Dieser Stofftransport findet grundsätzlich auch statt, wenn zwei Lösungen von
unterschiedlicher Molekülkonzentration durch eine permeable Membran ge-
trennt werden. Eine Membran ist insofern eine Transportbarriere für alle Sub-
stanzen, deren Löslichkeit und Beweglichkeit in der Membran viel geringer als
in der angrenzenden Körperflüssigkeit ist. Nach ihren physikalisch-chemischen
Eigenschaften, die für die Diffusion durch biologische Membranen bestimmend
sind, lassen sich Substanzen in vier Gruppen einteilen:
a. Elektrolyte
Im Vergleich zu ungeladenen Molekülen ist die Beschreibung von passiven Dif-
fusionsvorgängen von Ionen durch Membranen sehr kompliziert. Häufig besteht
an der Membran eine elektrische Potentialdifferenz zwischen den angrenzen-
den Körperflüssigkeiten. Dadurch bewegen sich die Ionen sowohl unter dem
Einfluss eines chemischen Konzentrationsgradienten als auch unter dem eines
elektrischen Potentialgradienten. Weiterhin sind im Vergleich zu ungeladenen
Nichtelektrolyten die Wechselwirkungskräfte zwischen Ionen und Wasser sehr
viel stärker. Man muss daher annehmen, dass Elektrolyte nicht in ausreichen-
der Konzentration in die Lipiddoppelschicht der Membran eindringen können
und keine messbaren Ionenflüsse hervorrufen. Lipiddoppelschichten besitzen
in der Tat einen sehr hohen elektrischen Widerstand, d. h. sie sind äußerst
schlecht diffusibel für Ionen.
Der um Größenordnungen niedrigere elektrische Widerstand von Zellmembra-
nen wird mit den spezifischen Transportstellen für bestimmte Ionen in Verbin-
dung gebracht. Aus diesen Gründen wird ein nennenswerter einfacher Diffusi-
onsbeitrag von Elektrolyten durch biologische Membranen stark angezweifelt.
52 Kapitel 2 Toxikokinetik
folgen, dass sich die Oberflächen in der Membranphase mit den angrenzenden
Flüssigkeiten stets im Verteilungsgleichgewicht befinden und die Diffusion in
der Lipiddoppelschicht ähnlich wie in freier Lösung abläuft. Die Fick´sche
Gleichung:
lässt sich folgendermaßen umformen, wenn die Oberfläche der Membran in cm2
mit A und die Dicke der Membran mit λ in cm angegeben wird:
Die linke Seite der Gleichung gibt die Zahl der Moleküle m an, die pro Zeitein-
heit (sec) und Oberflächeneinheit (cm2 ) die Membran passieren. Sie ist hiermit
identisch mit der Definition für den Membranfluss J:
J = (dm/dt)/A
Auf der rechten Seite der Fick´schen Gleichung wird anstelle des Diffusionsko-
effizienten Kd der Permeabilitätskoeffizient P eingeführt, welcher als Kd /λ
definiert ist. Da die Dimension für Kd [cm2 sec−1 ] ist, hat P die Dimension
[cm sec−1 ] und damit ist der Membranfluss J auch:
J = P · Vk · ∆c
Die Verteilung von schwachen Säuren oder Basen wird im wesentlichen durch
deren pK-Werte und den pH-Gradienten über die Membran bestimmt. Die Ab-
bildung 2.13 soll den Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen
Säure mit einem pKa -Wert von 4,4 zwischen dem Blutplasma mit einem pH-
Wert von 7,4 und dem Mageninhalt mit einem pH von 1,4 veranschaulichen.
Bei der Verteilung wird angenommen, dass die Barriere zwischen Mageninhalt
und Blut sich wie eine einfache Lipidschicht verhält. Mit Hilfe der Henderson-
Hasselbalch´schen Gleichung lässt sich für Säuren und Basen das Verhält-
nis der Konzentrationen des nicht-ionisierten zum ionisierten Anteil bei jedem
pH-Wert berechnen:
Bei dem Beispiel in Abbildung 2.13 ergibt sich für den Blutplasmaraum ein
Verhältnis von nicht-ionisiert zu ionisiert von 1 : 1000 und für den Magenin-
PLASMARAUM MAGENSAFT
pH 7.4 pH 1.4
nicht- nicht-
ionisiert [1] ionisiert [1]
Abbildung 2.13 Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen Säure mit dem
pKa -Wert von 4,4 zwischen Blutplasma und Mageninhalt nach Einstellung des Verteilungs-
Gleichgewichtes. Nur die nicht-ionisierte Form der schwachen Säure passiert die Membran-
doppelschicht der Magenwand. Die Zahlen in den eckigen Klammern bedeuten die Gleichge-
wichtskonzentrationen.
56 Kapitel 2 Toxikokinetik
dem Transferrin, sicher gebunden und transportiert. Das mit zwei Fe3+ -Ionen
beladene Ferrotransferrin dockt an der Membran an einem speziellen Rezeptor
an. Wenn an einer Stelle eine genügende Anzahl besetzter Rezeptoren vorhan-
den ist, stülpt sich die Membran ein und schnürt sich mit dem Inhalt ab. Das
Eisen gelangt zu dem Eisenspeicher Ferritin im Zytoplasma, und der Rezeptor
kehrt an die Zelloberfläche zurück, wo er das eisenlose Apotransferrin freisetzt.
Dieser Zyklus dauert etwa 16 Minuten, und eine Leberzelle tranportiert auf
diese Weise ungefähr 20 000 Eisen-Atome pro Minute.
Tabelle 2.5 Eine Auswahl der wichtigsten Proteine des menschlichen Plasmas. Albumin
nimmt den grössten Anteil von etwa 60 % ein, die α1 -Globuline folgen mit 4 %, die α2 -
Globuline mit 8 %, die β-Globuline mit 12 % und die γ-Globuline mit 16 %. Neben dem
Molekulargewicht in kD ist der Normalbereich im Serum (Plasma ohne Fibrin = Serum)
eines Erwachsenen in g/Liter angegeben, sowie die wichtigsten Funktionen der Proteine.
Die ersten drei Organe besitzen im allgemeinen eine höhere Kapazität, toxische
Substanzen zu binden, als andere Organe.
Leber, Nieren und Lungen gelten als die am meisten mit Schwermetallen, wie
Quecksilber und Cadmium, belasteten Organe, da sie diese mit hoher Affinität
binden. Die Leber übernimmt die Funktionen eines Kraftwerks, eines Energie-
speichers, einer chemische Fabrik und einer Entsorgungsanlage in einem und
ist dementsprechend auch als Bindungsort toxischer Substanzen prädestiniert.
Außerdem können durch die Biotransformation toxische Metaboliten entste-
hen, die wie beim Tetrachlorkohlenstoff am Ort des Entstehens das Organ
direkt schädigen.
2.4.4 Knochengewebe
Das relativ inerte Knochengewebe ist als guter Speicher für Fluorid, Blei und
Strontium sowie für diverse Salze bekannt. Blei und Strontium können Calcium
in der großen Oberfläche der Hydroxylapatitstruktur ersetzen. Das abgelagerte
Blei ist nicht toxisch, kann aber bei allen Prozessen mobilisert werden, die zum
Knochenabbau führen (z. B. bei Infektionskrankheiten oder in der Schwanger-
schaft).
62 Kapitel 2 Toxikokinetik
Cl
Cl Cl
C
Cl C Cl
H
Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT)
Diese Verbindung zeichnet sich durch ihre sehr langsame metabolische Abbau-
barkeit im menschlichen Organismus aus. Seit dem Verbot auf internationaler
Ebene konnte jedoch eine positive Entwicklung bezüglich der Kumulation in
der Umwelt sowie bei Mensch und Tier festgestellt werden. Die gemessenen
Konzentrationen von DDT und seiner Metabolite nahmen kontinuierlich ab.
Dagegen kam es in Entwicklungsländern wie Indien und Sri Lanka nach dem
Verbot von DDT zu einem dramatischen Anstieg der Zahl von Malariaerkran-
kungen und dadurch bedingter Todesfälle. Durch die starke Reduzierung des
DDT-Einsatzes und dem Fehlen preiswerter Alternativinsektizide wurde Ende
der 1990er Jahre in Indien ein Anstieg auf über 3 Millionen Malariaerkrankun-
gen registriert. Aufgrund des Mangels an preisgünstigen Alternativen wurde
darum DDT zur Malariabekämpfung in Gebäuden wieder zugelassen, da der
Wirkstoff noch immer eine relativ hohe Wirksamkeit gegenüber der Anopheles-
Mücke besitzt.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 63
Cl
Cl C Cl
H3CO C OCH3
H
Dimethoxydiphenyltrichlorethan
(Methoxychlor)
Diese Substanz besitzt eine 500 mal höhere Wasserlöslichkeit als DDT, und
die biologische Abbaubarkeit ist um den Faktor 60 gesteigert bei einer etwa
20fach geringeren akuten Toxizität. Der Vorteil wird leider durch den Nachteil
einer schwächeren Insektiziden Wirkung aufgehoben.
Die Verbindung wurde an dieser Stelle aus didaktischen Gründen ausgewählt
und soll uns zum Mechanismus der Biotransformation im menschlichen Or-
ganismus führen. Der Ersatz der beiden Chlor-Atome durch zwei Methoxy-
Gruppen führt dazu, dass Methoxychlor verhältnismäßig gut im Organismus
metabolisiert werden kann, und zwar:
3. Durch die Wasserlöslichkeit wird erst eine effektive Ausscheidung aus dem
Organismus ermöglicht.
Die erste und die zweite Reaktion sind wesentliche Bestandteile eines Stoff-
wechselsystems, das seinen Hauptsitz in der Leber hat. Die Leber, als Haupt-
organ für die Biotransformation, erhält über die Pfortader etwa 1,1 Liter Blut
pro Minute und weitere 0,35 Liter pro Minute über die Leberarterien, das ist
etwa ein Viertel des gesamten Blutes. In den Gefäßen der Leber selbst befindet
sich etwa ein halber Liter Blut.
64 Kapitel 2 Toxikokinetik
Lebervene
Leberkapillare
Leberzellen
Leberarterie
Pfortader Galle
(zur Gallenblase)
Abbildung 2.14 Schematische Zeichnung des Blutstromes vom Darm herkommend über die
Pfortader zu den Leberzellen, sowie der Weg der Gallenflüssigkeit von den Leberzellen in die
Gallekanälchen und zur Gallenblase. Die weiten Öffnungen in der Leberkapillare sind durch
eine gestrichelte Linie angedeutet (Zeichnung nach W. Legrum).
Phase-I-Reaktion Phase-II-Reaktion
Phase-I- Phase-II-
Fremdstoff
Metabolit Metabolit
Oxidation Konjugation
Reduktion mit Glucuronsäure
Hydrolyse mit Schwefelsäure
etc.
Abbildung 2.15 Vorgänge bei der Biotransformation von Fremdstoffen. Die Metabolisierung
lipophiler Fremdstoffe verläuft in sequentiellen Schritten. In der Phase I werden die Fremd-
stoffe durch Einführung oder Freisetzung nukleophiler oder elektrophiler funktioneller Grup-
pen für die Konjugation vorbereitet. Schließlich erlaubt die Einführung von funktionellen
Gruppen erst die Konjugation mit gut wasserlöslichen endogenen Substraten wie aktivierter
Glucuronsäure etc. in der Phase II.
2.5.1 Phase-I-Reaktion
2.5.1.1 Das mikrosomale Monooxygenase-System
Die weitaus größte Bedeutung für die oxidative Biotransformation besitzt das
mikrosomale Monooxygenase-System. Es besteht zu einem Teil aus einem
membrangebundenen Komplex verschiedener Monooxygenasen, die gemeinsam
als Cytochrom P-450 bezeichnet werden. Die Zahl 450 im Namen geht auf ein
Absorptionsmaximum bei 450 nm zurück, das beim Begasen der Mikrosomen
mit Kohlenmonoxid entsteht und den Nachweis spektroskopisch ermöglicht.
Die Monooxygenasen enthalten eine Häm-Gruppe, ähnlich dem Hämoglobin,
das in der reduzierten Form (Fe2+ ) molekularen Sauerstoff bindet (Abbildung
2.16).
Substrat
Produkt XOH Fe3+ XH
CH3 R3
6 C C 1 XH
XOH HC C
N
C CH Fe3+
Fe3+ CH3 C C C C CH3
N Fe3+ N
R4 C C C C R2
N
HC C C CH e-
H2 O C C NADPH-
5
R1 CH3
2 Cyt.-P450-
Reduktase
XH XH
Fe3+
2 H+ Fe2+
O2 -• O2 -•
Fe3+
3a Fe2+
XH
XH O2
2-
4 3
O2
NADPH-
Cyt.-P450- -
Reduktase
e Fe2+
O2
XH
Abbildung 2.16 Schematischer Ablauf der Oxidation eines Fremdstoffes XH durch Cyto-
chrom P-450 (im Kreis oben: Häm als prosthetische Gruppe, Porphyrinring mit F e3+ -Ion
im aktiven Zentrum).
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 67
Singulett-Sauerstoff
O2
hQ -e +e +e
+e –• + 2H+ • + H+
O2 O2 H2 O2 2 OH H2O
Als Schutz vor solchen Radikalen wirkt die Superoxid-Dismutase, die das Su-
peroxidanion O•−
2 in Sauerstoff und Wasserstoffperoxid zerlegt (dismutiert).
Das ebenfalls toxische Wasserstoffperoxid wird durch zwei weitere Enzyme,
die Katalase und die Glutathion-Peroxidase gespalten. Bei der letzteren Re-
aktion wird Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin) oxidiert, das in hoher
Konzentration zur Protektion in der Leber vorhanden ist.
Im Laufe der Evolution hat sich das Cytochrom P-450-System vielfältig ent-
wickelt. Beim Menschen sind bisher 56 CYP-Gene (Cytochrom P-450-Gene)
bekannt geworden, die ein funktionsfähiges Isoenzym einer Cytochrom P-450-
abhängigen Monooxygenase kodieren und etwa 26 Pseudogene aus denen kein
funktionsfähiges Genprodukt hervorgehen kann. Die Zahl der CYP-Gene beim
Menschen wird bei weitem übertroffen durch das ebenfalls vollständig ana-
lysierte Genom der Acker-Schmalwand Pflanze Arabidopsis thaliana mit der
großen Zahl von 273 Cytochrom P-450 Genen (die Abkürzung CYP“ wird
”
nach Übereinkunft nur beim Menschen verwendet, dagegen benutzt man Cyp“
”
für alle anderen Spezies).
Die Cytochrome P-450 bilden Superfamilien und unterscheiden sich nach Vor-
kommen und Substratspezifität. Die Kenntnis über die Superfamilie verdanken
wir verschiedenen Genomprojekten. In Abhängigkeit ihrer Sequenzverwand-
schaft werden die CYP in Familien und Unterfamilien eingeteilt. Zwei CYP-
Isoenzyme werden z. B. der gleichen Familie zugeordnet, wenn ihre Aminosäu-
rensequenz über 40 % identisch ist. Liegt dagegen die Identität über 55 %, so
werden beide der gleichen Unterfamilie zugerechnet. Die Bezeichnung für die
ganze Superfamilie ist CYP und die einzelnen Familien werden durch arabi-
sche Zahlen von 1 bis 724 (Nummerierung diskontinuierlich) kenntlich gemacht.
Dagegen werden die Unterfamilien mit Großbuchstaben von A bis Z bezeich-
net, gefolgt von einer weiteren arabischen Zahl für das jeweilige Isoenzym in
der Unterfamilie. So identifiziert z. B. CYP2E1 das menschliche Isoenzym aus
der Leber und dem Magen-Darm-Trakt, dass bevorzugt kleine Moleküle wie
Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin etc. metabolisiert.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 69
Tabelle 2.6 Die wichtigsten menschlichen Cytochrome P-450 sowie die chemischen Substrate,
die für die entsprechenden Isoenzyme typisch sind.
Cytochrome
P-450 Auswahl wichtiger Substrate
CYP1A1 polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)
CYP1A2 aromatische und heterocyclische Amine, PAK,
Coffein, Nicotin, Aflatoxin B1
CYP1B1 PAK, Fjordregion-Diole
CYP2A6 Cumarin, 6-Aminochrysen, Aflatoxin B1 , Nitrosamine
CYP2B6 Cyclophosphamid, Nicotin
CYP2C8 Retinoide, Taxol
CYP2C9 Arzneimittel wie Celecoxib, Lorsatan, Tolbutamid, Warfarin
CYP2C19 Arzneimittel wie Omeprazol, Diazepam, Proguanil
CYP2D6 Arzneimittel wie Spartein, Propranolol, Dextromethorphan
CYP2E1 Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin, Tetrachlorkohlenstoff,
Halogenkohlenwasserstoffe, Chlorzoxazon, Vinylchlorid,
CYP3A4 Acetaminophen, Nifedepin, Steroidhormone, Aflatoxin B1
Tabelle 2.6 gibt eine Übersicht über die wichtigsten menschlichen Cytochrome
P-450 und einige ihrer Substrate.
Die Leber ist das Organ mit dem höchsten Cytochrom P-450 Gehalt. Sie
enthällt 90 bis 95 % der Enzyme. Dabei entfallen 60 bis 65 % des Cytochrom P-
450 Gehalts auf die Enzyme, die den Arzneimittelstoffwechsel katalysieren. Mit
durchschnittlich 30 % Cytochrom P-450 Gehaltes ist die CYP3A-Subfamilie die
für die Klinik wichtigste Familie, die bereits 50 bis 60 % aller therapeutisch ein-
gesetzten Arzneimittel metabolisiert. Die Isoform CYP1A2 macht etwa 10 %,
die CYP2C-Familie 30 %, CYP2A6-, CYP2B6- und CYP2C-Familie 10 bis
15 % und CYP2E1 ungefähr 5 % des Cytochrom P-450 Gehaltes aus.
Im Allgemeinen wird Sauerstoff nur während der Katalyse an ein CYP ge-
bunden, auf das bereits ein Fremdstoffmolekül übertragen worden ist. Eine
Ausnahme hierbei bildet CYP2E1, das scheinbar ohne Substratbindung Sau-
erstoff binden und aktivieren kann.
Verschiedene Cytochrome P-450-Isoenzyme werden erst nach Gen-Induktion
durch bestimmte Induktoren exprimiert (Umsetzung der Geninformation in
Proteine). Zu den Induktoren gehören sowohl körpereigene Substanzen (Hor-
mone und Metabolite) als auch Fremdstoffe. Das Insektizid DDT bewirkt eine
starke Induktion, obwohl es selbst von diesem System nur äußerst langsam
umgesetzt werden kann.
70 Kapitel 2 Toxikokinetik
Die Hauptfunktion der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen ist es, re-
aktive OH-, NH2 - und SH-Gruppen zu schaffen, die in der Phase-II-Reaktion
der Biotransformation mit einer hydrophilen Verbindung konjugiert werden
können.
Einer speziellen Erwähnung bedarf die Epoxidierung, da diese Form der Bio-
transformation zu besonders reaktiven Metaboliten führt. Als ein Beispiel
hierfür soll das Benzol dienen. Benzol wird durch das Cytochrom P-450-System
hydroxyliert und bildet ein Epoxid (Lösungsmittel, Karzinogene). Das Epoxid
kann auf dreierlei Art umgesetzt werden. Erstens kann es sich spontan zu Phe-
nol umlagern, zweitens kann eine enzymatische Aufspaltung durch Epoxidhy-
drolasen zum Dihydrobrenzkatechin und drittens eine enzymatische Aufspal-
tung unter Anlagerung von Glutathion erfolgen. Die beiden letzten Reaktionen
werden als Entgiftungsreaktionen gewertet.
Die Ringspaltung des Dreierringes ist für die große Reaktionsfreudigkeit ver-
antwortlich. Aufgrund dieser Reaktivität der Epoxide ist ihre Toxizität be-
sonders groß. So können irritierende und allergieerzeugende Wirkungen her-
vorgerufen werden. Eine besondere Gefahr geht jedoch von den Epoxiden in-
sofern aus, als sie eine Alkylierung des genetischen Materials, der DNA, be-
wirken können und somit stark mutagen und krebserzeugend sind. Dies ist
z. B. für Benzol, Vinylchlorid, eine Reihe aromatischer Kohlenwasserstoffe wie
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 71
OH NH2 NHOH
(O)
O (O)
S-Oxidation
R (O) R (O) O R
S O S S
R' R' O R'
z.b. Phenothiazine
N-Desalkylierung
CH3 H
N C C CH3 N C C CH3 H2N C C CH3
CH3 CH3
C N C N C N
O N CH3 O N CH3 O N CH3
(O) (O)
+ 2 HCHO
O-Desalkylierung Desaminierung
O O
CH2CHNH2 Amphetamin
NH C CH3 NH C CH3
CH3
(O) (O)
+ CH3CHO
CH2C O Phenylaceton
OC2H5 OH CH3
Acetophenidin p-Hydroxyacetanilid + NH3
Entschwefelung
S O
OC2H5 (O) OC2H5
O 2N O P O 2N O P
OC2H5 OC2H5
Parathion Paraoxon
R R H
CH3 N N O CH3 N N O
1
N N
CH3 N H NADPH CH3 N H
O + H+ H O
5 NADP+ O2 2
R R
CH3 N N O CH3 N N O
N N
CH3 N H CH3 N H
O
O H O
HO
H2 O
4 +
R R2N-OH
CH3 N N O
R2N-H
N
CH3 N H 3
OH
H O
Abbildung 2.18 Schema der Biotransformation durch die FMO. Im Gegensatz zu vielen
CYP-Isoenzymen erfolgt bereits vor der Bindung eines Fremstoffes R2 N-H (z. B. sekundäres
Amin) eine Aktivierung des Sauerstoffs durch die FMO. (1) NADPH + H + bindet an das
Enzym und reduziert dessen prothetische Gruppe zum FADH2 . (2) Molekularer Sauerstoff
reagiert besonders leicht mit dem reduzierten Flavin (dieses reagiert auch schon ohne Enzym
sehr rasch mit Sauerstoff ) und es resultiert ein Hydroperoxid (FADH-4α-OOH). (3) In
diesem wichtigen Schritt wird die Übertragung des Sauerstoff-Atoms vom FADH-4α-OOH
zum Fremdstoff R2 N -H durch das Enzym katalysiert und aus der prosthetischen Gruppe
wird H2 O abgespalten (4). Schließlich dissoziert N ADP + von der Monooxgenase ab und
der Zyklus ist vollendet (5).
74 Kapitel 2 Toxikokinetik
2.5.1.6 Monoaminoxydase
2.5.1.7 Cyclooxygenasen
NH2 NH O
H2O
+ NH3
FAD FADH2
O2
H2O 2 + FAD FADH-4D-OOH FADH2
Abbildung 2.19 Biotransformation durch die Monoaminooxidase (MAO). Ein Amin wird
durch MAO (FAD) zum Imin oxidiert und zerfällt durch Hydrolyse. Um das enzymgebun-
dene FADH2 wieder als oxidierte Form zurückzugewinnen, wird Sauerstoff benötigt. Bei der
Reaktion mit Sauerstoff tritt dasselbe wie bei der FMO beschriebene und im Schema der Ab-
bildung 2.18 dargestellte Hydroperoxyd, FADH-4α-OOH, als Zwischenprodukt auf, aus dem
FAD und H2 O2 hervorgehen. Das Wasserstoffperoxid kann dabei durchaus toxikologisch re-
levante Konzentrationen erreichen.
O
C O CH2
C O CH O
O CH2 O P OR
O
Phospholipidmembran Phospholipase A2
COOH
Arachidonsäure (5,8,11,14-Eicosa-tetraen-säure)
Cyclooxygenase
+ 2 O2
COOH COOH
O O
Peroxidase
O O
O OH 2 H+ + 2 e- H2O OH
(Fremdstoff) (Oxidations-
Prostaglandin G2 produkt) Prostaglandin H2
Abbildung 2.20 Schematische Darstellung der Freisetzung von Arachidonsäure aus der Phos-
pholipidmembran durch Phospholipase A2 . Aus der ungesättigten Fettsäure entsteht durch
die Cyclooxygenase und 2 O2 ein Hydroperoxid, das Prostaglandin G2 . Dieses wird durch
Peroxidaseaktivität zu Prostaglandin H2 , der Vorstufe verschiedener Prostaglandine, redu-
ziert. Für die Toxikologie ist es wichtig, dass sowohl bei der ersten als auch bei der letzten
Reaktion zahlreiche Fremdstoffe als Sauerstoffakzeptoren fungieren können.
An den Oxidationen von Fremdstoffen beteiligen sich auch Oxidasen, die dem
Molekül Wasserstoff entziehen. Zu den hierbei wichtigen Enzymen gehören
z. B. die Alkohol-, die Aldehyd- und die Steroiddehydrogenasen. Grundsätzlich
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 77
Alkohol-
dehydrogenase
R CH2 OH + NAD + R CHO + H +
Bei der Dehydrogenierung wird ein Wasserstoffatom des Substrates direkt auf
NAD+ übertragen, während das andere als Proton in der Lösung erscheint.
Als cytosolische Enzyme mit Zink im aktiven Zentrum sind sie vor allem in
der Leber, den Nieren und in der Lunge lokalisiert.
Sie besitzen eine geringe Substratspezifität und dehydrogenieren z. B. Alkohole
von Methanol bis Hexanol, allerdings wird Methanol sehr viel langsamer da-
bei oxidiert. Die höhere Affinität zum Enzym und die geringere Giftigkeit des
Ethanol wird bei der Therapie von Vergiftungen mit Methanol oder Ethylen-
glycol ausgenutzt, um die Bildung toxischer Produkte wie Ameisensäure oder
Oxalsäure zu unterdrücken (siehe Kapitel 5). Die sekundären Alkohole sind bis
zu einem gewissen Grade gegenüber der Oxidation beständig, während tertiäre
Alkohole praktisch nicht oxidierbar sind. Die Reaktionen von Alkohol- und Al-
dehyddehydrogenasen sind wie bereits erwähnt reversibel, es können z. B. auch
Aldehyde und Ketone zu Alkoholen reduziert werden.
Aldehyddehydrogenasen (ALDH) besitzen gleichfalls eine breite Substrats-
pezifität und oxidieren aliphatische und aromatische Aldehyde in der Regel
zu den Carbonsäuren. Die enzymatische Funktion ist meist von dem Cofak-
tor NAD+ , seltener NADP+ (P für Phosphat) abhängig. Beim Menschen sind
9 Familien mit sechzehn ALDH-Isoenzymen beschrieben, die in der Zelle in
mikrosomaler, cytosolischer und mitochondrialer Form vorkommen. Die Le-
ber ist besonders reich an Isoenzym ALDH 2. In der asiatischen Bevölkerung
gibt es eine verbreitete analoge Form dieses Isoenzyms (> 50 %), die aufgrund
eines Aminoaustausches (Glutamin487 gegen Lysin) enzymatisch inaktiv ist.
Dadurch wird nach Alkoholgenuß eine Alkoholunverträglichkeit erzeugt. Es
78 Kapitel 2 Toxikokinetik
Zigarettenrauchen
Tabak-spezifische N-Nitrosamine
O Aldo-keto-Reduktasen OH
N O N O
Carbonylreduktasen
N N
CH3 11ß-HSD-1 CH3
N NNK N NNAL
DNA-Alkylierung Ausscheidung
2.5.1.9 Hydrolyse
Eine weitere Gruppe zur hydrolytischen Spaltung befähigter Enzyme sind die
Amidasen, die ebenfalls besonders in der Leber vorkommen:
O O
R CH2 C NH R´ + H2O R CH2 C O H + H2N R´
Bei dieser Reaktion, die im Allgemeinen langsamer als die Esterspaltung abläuft,
wird neben der Säure ein Amin gebildet.
Weitere wichtige Hydrolysen werden auch durch die bereits erwähnten Epoxid-
hydrolasen sowie von Phosphatasen und Glycosidasen ausgeführt.
2.5.2 Phase-II-Reaktionen
Die Hauptfunktion der Phase-II-Reaktionen ist es, Substanzen mit kopplungs-
fähigen funktionellen Gruppen wie OH-, NH2 - und SH-Gruppen, die wie be-
schrieben in der Phase-I geschaffen wurden, durch enzymatische Prozesse mit
körpereigenen Substanzen zu verbinden. Diese stammen aus dem Zwischen-
stoffwechsel und sind besonders gut wasserlöslich. Sie werden meist durch spe-
zifische Transferasen an die zur Ausscheidung bestimmten Moleküle angedockt,
um diese dann durch die Nieren oder mit der Gallenflüssigkeit zu eliminieren.
Die Kopplungs- oder Konjugationsreaktionen haben in der Regel den
Charakter von Entgiftungs- oder Inaktivierungsprozessen, da die konjugierten
Verbindungen fast immer biologisch inaktiv sind.
Bei der Ausscheidung mit der Galle in den Darm kommt es häufiger als in
der Niere vor, dass das Konjugat wieder gespalten wird. Besonders im Dick-
darm spalten Bakterien mit Hilfe ihrer b-Glucuronidase den an Glucuronsäure
gekoppelten Wirkstoff wieder ab. Der Wirkstoff kann damit erneut resorbiert
werden. Es resultiert ein sogenannter enterohepatischer Kreislauf, der un-
ter Umständen eine effektive Ausscheidung wirksam verhindern kann.
Die wichtigsten Konjugationsreaktionen erfolgen mit:
• aktivierter Glucuronsäure (Glucuronsäure entsteht aus Glucose),
• aktiviertem Sulfat,
• Aminosäuren, insbesondere Glycin (H2 N − CH2 − COOH),
• Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin),
• aktivierter Essigsäure,
• S-Adenosylmethionin,
• Bildung von Mercaptursäure-Verbindungen.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 81
UDP-Glucuronyltransferasen
Von den Konjugationsreaktionen ist die wichtigste die Kopplung eines Fremd-
stoffes oder seines Metaboliten an die Glucuronsäure. Die Glucuronsäure
muss dabei in einer vom Stoffwechsel aktivierten Form vorliegen und zwar in
einer energiereichen Bindung an Uridindiphosphat (UDP).
- -
O O
C O UDP-Glucuronyl- C O
HO O HO O
Transferase
+ HR O R
HO HO
HO HO
O UDP
"Uridindiphosphat-glucuronicacid" + UDP
UDPGA
Sulfotransferasen
-
OH OSO 3
Sulfotransferase
+ 3'-Phosphoadenosin-
3'-Phosphoadenosin- 5'-phosphat
5'-phosphosulfat
Abbildung 2.23 Sulfonylierung von 1-Naphthol durch Sulfotransferase und den Cofaktor 3´-
Phospoadenosin-5´-phosphosulfat (PAPS).
rung eine Entgiftung toxischer Substrate dar, sie kann aber auch bei einigen
Substraten zu einer Giftung führen. So werden z. B. aromatische und hetero-
zyklische Amine, sowie Arylkarbinole durch Sulfonylierung zu genotoxischen
Verbindungen. Ihre geringe Beständigkeit in wässrigen Lösungen führt nach
Abspaltung der Sulfatgruppe zu elektrophilen Substanzen (Nitrenium- oder
Carboniumion), die kovalent mit Proteinen oder DNA reagieren können.
Acyl-CoA-N-Acyltransferase
Glutathion-S-Tranferasen
ATP
Coenzym-A + PPi + AMP
C
O OH C CoA
O S
Acyl-CoA-Aminosäure-
N-Acyltransferase + Coenzym-A
Abbildung 2.24 Benzoesäure wird in der ersten Stufe mit Adenosintriphosphat (ATP) und
Coenzym-A (CoA überträgt Acylgruppen) aktiviert, um dann in der zweiten Stufe mit Glycin
und der Acetyl-CoA-Aminosäure-N-Acetyltransferase zu Hippursäure konjugiert zu werden.
CO NH CH2 COOH
HS CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2
Glutathion weist eine freie SH-Gruppe an der Aminosäure Cystein auf, an der
die Konjugation erfolgt. Im Stoffwechsel wechselt es zwischen einer reduzierten
Thiolform (GSH) und einer oxidierten Form (GSSG), in der zwei Tripeptide
über eine Disulfidbindung verknüpft sind.
Außer an der Konjugation ist Glutathion an der Inaktivierung von reaktivem
Sauerstoff beteiligt, es nimmt an Transport- und Stoffwechselprozessen Teil
und beeinflusst das Redoxgleichgewicht in der Zelle.
84 Kapitel 2 Toxikokinetik
Auch ohne GST kann Glutathion mit seiner freien SH-Gruppe bereits spontan
mit zahlreichen Elektrophilen reagieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit wird
jedoch in Anwesenheit von GST um einige Größenordnungen gesteigert.
Durch die Kopplung an Glutathion wird die Löslichkeit der Verbindung im
Wasserraum wesentlich gesteigert. Die Ausschleusung der wasserlöslichen Kon-
jugate aus der Zelle erfolgt über aktive Transporter in der Zellmembran. Vor
der Ausscheidung aus dem Organismus werden noch die Aminosäuren Gluta-
CO NH CH2 COOH
GG
C X + HS CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2
GSH-S-Transferase
HX
CO NH CH2 COOH
C S CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2
J-Glutamyltranspeptidase Glutaminsäure
CO NH CH2 COOH
C S CH2 CH
NH2
Cysteinglycinase
Glycin Mercaptursäure
COOH COOH
AcCoA
C S CH2 CH C S CH2 CH
N-Acetyl-
NH2 NH C CH3
Transferase
O
Abbildung 2.25 Das nucleophile Tripeptid Glutathion reagiert mit Verbindungen mit Elektro-
nendefizit, als Katalysator fungiert die Glutathion-S-Transferase (GSH-S-Transferase). Nach
dem Transport aus der Zelle wird das Glutathionkonjugat durch γ-Glutamyltranspeptidase
und Cysteinglycinase zu einem Cysteinkonjugat, das durch Acetylierung mit Acetyl-
Coenzym-A (AcCoA) in eine sogenannte Mercaptursäure überführt wird.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 85
minsäure und Glycin abgespalten und die Aminogruppe des Cysteinrestes ace-
tyliert, wodurch Mercaptursäure entsteht (siehe auch Kapitel 9).
Im allgemeinen führen die in der Abbildung 2.25 gezeigten Reaktionen ein-
schließlich der Überführung in die Mercaptursäure zu wasserlöslichen Verbin-
dungen, die in der Niere ausgeschieden werden und damit zu einer Entgiftung
des Organismus beitragen. Weitere Beispiele befinden sich in den Kapiteln 5
und 9.
In der Leber, Niere und in den Darmbakterien kommen Cystein-b-Lyasen
vor, welche enzymatisch die Bindung zwischen dem b-C-Atom des Cysteins und
dem Schwefel der Cysteinkonjugate spalten. Dabei entstehen neben
Pyruvat und Ammoniak instabile, reaktive Thiolverbindungen, welche nieren-
toxisch sein können. So werden z. B. in der Leber gebildete Mercaptursäuren
von polyhalogenierten Alkenen (Hexachlorbutadien, Tri- und Tetrachlorethen),
nach ihrer N-Deacetylierung in der Niere, durch die Cystein-b-Lyase zu elek-
trophilen Vinylthiolen umgesetzt, die mit DNA reagieren (siehe Kapitel 5).
Dieser Mechanismus erklärt möglicherweise auch das häufige Auftreten von
Nierenkarzinomen bei Arbeitern, die mit Trichlorethen in Berührung gekom-
men sind.
Acetyltransferasen
ferase (NAT2). Etwa die Hälfte der europäischen Bevölkerung und 90 % der
Japaner, Chinesen und Eskimos acetylieren schnell, während der andere Teil
langsam acetyliert. Dies hat Bedeutung sowohl für die Länge der Wirkung
von Medikamenten als auch bei der Kanzerogenese. Bei der Belastung des
Organismus mit aromatischen Aminen wird beim schnellen Acetylierer die Or-
ganselektivität beeinflusst. So wird hierbei seltener ein Blasenkarzinom dafür
aber häufiger ein Darmkarzinom im Vergleich zu langsamen Acetylieren be-
obachtet. Dies wird damit erklärt, dass schnelle Acetylierer das Krebsrisiko im
Darm fördern, dies gilt auch für heterocyclischer Amine aus der Nahrung, die
bei der thermischen Behandlung von Fleischprodukten entstehen können.
Methyltransferasen
Das Alter kann bei der Biotransformation eine ganz entscheidende Rolle spie-
len. So sind die Enzyme der Biotransformation beim Neugeborenen noch unzu-
reichend ausgebildet. Die Glucuronyltransferasen werden erst zum Zeitpunkt
der Geburt gebildet. Ganz im Gegensatz dazu ist bei Kindern im Alter von l bis
8 Jahren die Geschwindigkeit der Biotransformation im Vergleich zu Erwachse-
nen erhöht, woran das größere Verhältnis von Lebergewicht zu Körpergewicht
beteiligt sein kann.
Im höheren Alter läuft der Cytochrom P-450-abhängige Stoffwechsel langsamer
ab, während Phase-II-Reaktionen meist unverändert bleiben.
Neben dem Alter können auch das Geschlecht, der Ernährungszustand sowie
Krankheiten und körperlicher Stress von Bedeutung für die Biotransformati-
on sein. Bewirken ein oder mehrere Substanzen eine Enzyminduktion in der
Leber, so können andere Fremdstoffe vermehrt umgesetzt werden und ihre
Metaboliten unter Umständen wegen der erhöhten Konzentration toxisch wir-
ken. Anstatt der Giftung kann auch das Gegenteil der Fall sein, nämlich eine
Bioinaktivierung.
2.6 Elimination durch Exkretion 87
2. Seitens des Stoffwechsels erfüllt die Niere eine wichtige Funktion bei der
Ausscheidung der Endprodukte des Eiweißstoffwechsels. Diese Endprodukte
sind Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Ammoniak, Aminosäuren, Hippursäure
und Proteine.
3. Die Niere ist das wichtigste Ausscheidungsorgan für viele Fremdstoffe und
nimmt außerdem an der Biotransformation teil. Die funktionelle Einheit der
Niere ist das Nephron (Abbildung 2.26). Jede menschliche Niere enthält etwa
eine Million dieser Nephronen.
Im Glomerulus wird fortlaufend ein Teil des Blutes abfiltriert. Die Permea-
bilität der Kapillaren im Glomerulus ist etwa 50-mal so groß wie diejenige
der Muskel-Kapillaren. Das Ausschlussvolumen im Glomerulus liegt bei einem
Molekulargewicht um 60 000. Wichtiger als das Molekulargewicht ist jedoch
der Moleküldurchmesser. Moleküle unter 4 nm passieren die Glomerulusmem-
bran verhältnismäßig leicht, dagegen werden solche mit einem Durchmesser
über 10 nm fast vollständig im Blutplasma zurückbehalten. Plasma-Albumin
mit einem Molekulargewicht von 69 000 ist im Filtrat mit nur etwa 0,2 % der
Konzentration im Plasma enthalten. Man kann davon ausgehen, dass die Zu-
sammensetzung des Filtrates der des Plasmas ohne Proteine sehr ähnlich ist.
Bei einem Gewicht von nur 0,3 % des Körpergewichtes erhalten die beiden Nie-
ren in der Ruhe 1,2 bis 1,3 Liter Blut pro Minute, das sind 20 bis 25 % des
gesamten Blutvolumens. Die Glomeruläre-Filtrationsrate (GFR) eines durch-
schnittlichen Erwachsenen liegt bei 125 ml Flüssigkeit pro Minute oder 7,5
Litern pro Stunde bzw. 180 Litern pro Tag.
Die Ausscheidung dieses sogenannten Primärharns korreliert mit der Körper-
oberfläche. Sie liegt bei der Frau um durchschnittlich 10 % niedriger als beim
Mann. Obwohl pro Tag durchschnittlich 180 Liter Primärharn produziert
werden, wird nur etwa 1 Liter Endharn ausgeschieden.
Daraus folgt, dass über 99 % des Primärfiltrates von den Nieren rückresorbiert
werden müssen. Bei 180 Litern Primärharn pro Tag filtrieren die Nieren etwa
das Vierfache des gesamten Körperwassers oder 60-mal das gesamte Plasma-
volumen von 3 Litern. Allein diese Tatsache macht klar, dass die Ausscheidung
von Fremdstoffen hauptsächlich durch die Nieren erfolgt.
Während der vom Glomerulus abfiltrierte Primärharn etwa den gleichen os-
motischen Druck wie das Blut besitzt, hat der Endharn einen 3- bis 4fach
höheren osmotischen Druck. Die Niere leistet eine Konzentrierungsarbeit.
Diese geschieht im proximalen Tubulus, in der Henle´schen Schleife, im dista-
len Tubulus und im Sammelrohr des Nephrons (Abbildung 2.26). Dabei steigt
der osmotische Druck von 300 bis auf 1400 mosmol pro Liter an, und das Harn-
volumen nimmt, wie bereits erwähnt, bis auf 1 % des Ausgangswertes ab.
2.6 Elimination durch Exkretion 89
Im proximalen Tubulus wird das Filtrat bis auf 40 % eingeengt, und die im
Primärharn sich befindenden Nährstoffe wie Glucose, Aminosäuren und Hy-
drogencarbonat werden fast vollständig in das Blut zurücktransportiert. Dage-
gen reichern sich Ausscheidungsprodukte wie Säureäquivalente und Harnstoff
im tubulären Harn an. Auf dem restlichen Weg werden körperwichtige Elek-
trolyte zur Aufrechterhaltung der Isoionie, Isotonie, Isovolämie und Isohydrie
zurückgewonnen.
Die meisten Fremdstoffe und toxischen Substanzen sind kleine Moleküle, die ef-
fektiv durch die glomeruläre Filtration ausgeschieden werden können. Die glo-
meruläre Filtrationsrate (GFR -125 ml/min) bestimmt somit ganz wesentlich
die Ausscheidungsgeschwindigkeit. Da der größte Teil der Filtrationsflüssigkeit
(99 %) wieder resorbiert wird, bedeutet das gleichzeitig, dass 125 ml Plasma
pro Minute von der toxischen Substanz befreit werden. Deshalb wird dieser
Wert auch als Nieren-Clearance bezeichnet.
Weiterhin spielt die Größe des Volumens, in der die toxische Substanz sich ver-
teilt hat, eine Rolle. Es gilt, je größer das Verteilungsvolumen ist, desto länger
ist auch die Ausscheidungszeit. Liegt außerdem noch eine Bindung der Sub-
stanz an Gewebsproteine und/oder an die Plasmaproteine vor, so verlängert
sich die Ausscheidungszeit noch weiter, da jeweils nur der freie, ungebundene
Anteil filtriert werden kann.
90 Kapitel 2 Toxikokinetik
Neben der Filtration kann weiterhin eine passive Rückdiffusion in den ab-
leitenden Nierenkanälchen die Ausscheidungsgeschwindigkeit einer toxischen
Substanz beeinflussen. So gelangen lipophile Substanzen durch eine Rückdif-
fusion über die Tubuluszellen der Nierenkanälchen wieder in das Blut zurück.
Diese Rückdiffusion kann unter Umständen so groß sein, dass die Konzentra-
tion der toxischen Substanz im Harn und im Blutplasma etwa gleich hoch
gehalten wird. Besteht darüber hinaus noch eine starke Bindung der lipophi-
len Substanz an die Plasmaproteine, so wird die Ausscheidung durch die Niere
noch weiter verlangsamt. Erst wenn die toxische Substanz durch die Biotrans-
formation wasserlöslich gemacht worden ist, erfolgt auch eine wirksame Elimi-
nation.
Basische und saure toxische Substanzen werden im allgemeinen gut ausgeschie-
den, solange sie in der ionischen Form vorliegen. Damit gewinnen der pH-Wert
des Harns und die Dissoziationskonstante der Substanzen einen Einfluss auf
die Ausscheidung. Im allgemeinen ist der pH-Wert im Harn niedriger als der
des Blutes von 7,4. Dies hängt mit der nierenbedingten Isohydrie, der Erhal-
tung des Säure-Base-Gleichgewichtes, zusammen, die meist durch Protonen-
abgabe an den Harn erfolgt. Der physiologische Bereich des Harns schwankt
deswegen zwischen den pH-Werten 5 und 7.
Der Arzt kann durch bestimmte Substanzen den pH-Wert des Harns willkürlich
verstellen. Nach oraler Gabe von Hydrogencarbonat erreicht der Harn pH-
Werte von über 8, und durch die Zuführung von Protonen über die Verbin-
dung Ammoniumchlorid oder durch Ascorbinsäuregabe lässt sich der Harn
auf den unteren physiologischen pH-Bereich einstellen. Mit Hilfe dieser the-
rapeutischen Maßnahmen kann die Ausscheidung von toxischen Substanzen
ganz wesentlich beeinflusst werden. Schwache Basen werden so durch Absen-
ken des pH-Wertes und schwache Säuren durch Alkalisieren des Harns in die
ionischen Formen überführt und in diesem wasserlöslichen Ionenanteil ausge-
schieden. Als Beispiele hierfür erfolgen eine erhöhte Eliminierung von Nicotin
durch Acidifizierung und bei einer Intoxikation mit Salicylsäure eine vermehrte
Ausscheidung durch Alkalisierung des Harnes.
Neben den physikalischen Prozessen wie Filtration und Diffusion kann auch ein
aktiver Transportmechanismus für die Ausscheidung von toxischen Substan-
zen verantwortlich sein. Es handelt sich hierbei um die tubuläre Sekretion.
Durch ein Transportsystem, das in den proximalen Nierentubuli lokalisiert ist,
werden viele organische Säuren, wie z. B. Penicillin, Sulfonamide, Phenolrot,
Glucuronide, Sulfate und Harnsäure entgegen ihrem Konzentrationsgradienten
aktiv in den Harn sezerniert (lat. secernere, absondern). Einzelne Substanzen
konkurrieren beim Transport und vermögen sich hierdurch gegenseitig an der
Ausscheidung zu hindern.
2.6 Elimination durch Exkretion 91
Außer Säuren können auch organische Basen von den Tubuluszellen aktiv se-
zerniert werden. Der Transport von Basen erfolgt unabhängig von dem der
Säuren. Als Beispiele hierfür gelten Substanzen wie Dopamin (Transmitter)
und Tetraethylammoniumchlorid.
Nach der Geburt sind verschiedene Funktionen der Niere noch nicht vollständig
entwickelt. Substanzen, die hauptsächlich durch eine aktive Sekretion ausge-
schieden werden, sind beim Neugeborenen oft toxischer, da die Transportsy-
steme noch nicht vollständig vorhanden sind und somit eine Elimination nur
langsam verläuft.
Ein Maß für die über die Niere ausgeschiedene Substanzmenge ist die renale
Clearance Clren . Sie wird als Produkt aus dem Volumen Vu des ausgeschie-
denen Urins und der Konzentration der Substanz im Harn Cu geteilt durch
seine Konzentration im Plasma Cp , berechnet:
Mit der Gallenflüssigkeit werden vor allem solche toxischen Substanzen aus-
geschieden, die ein Molekulargewicht von über 500 besitzen oder durch Umset-
zung über die Biotransformation, hauptsächlich durch die Phase-II-Reaktionen,
dieses hohe Molekulargewicht erlangt haben. Dagegen werden Substanzen mit
einem Molekulargewicht unter 300 bevorzugt durch die Nieren ausgeschieden.
Für die biliäre (lat. bilis, Galle) Ausscheidung von Substanzen werden zwei
Transportmechanismen verantwortlich gemacht. Dies sind eine passive Diffusi-
on der Substanzen beim Durchgang von den Leberzellen in die Gallenkapillaren
und ein aktiver Transport. Letzterer ist für verschiedene saure Farbstoffe wie
z. B. Phenolrot und Bromsulphthalein nachgewiesen worden. Daneben gibt es
wahrscheinlich noch ein Transportsystem für organische Basen und ein weite-
res für Neutralstoffe mit polaren Gruppen. Für glucuronidierte Fremdstoffe ist
die biliäre Ausscheidung besonders bedeutsam.
Die Gallenflüssigkeit selbst ist kein Filtrationsprodukt, welches mit dem Harn-
filtrat verglichen werden könnte. Sie wird vielmehr aktiv in die Gallenkanälchen
sezerniert. Die Gallenflüssigkeit wird auf dem Wege durch die Gallenkanälchen
durch Stoffaustausch mit dem Blutplasma modifiziert.
Die Tagesproduktion der Galle wird auf 0,5 bis 1 Liter Gallenflüssigkeit ge-
schätzt.
92 Kapitel 2 Toxikokinetik
Bindung
X + Protein X-Protein
Oxidation
Phase- I- Reduktion Molekulargewicht
Reaktion Hydrolyse < 300
Phase-II-
Reaktion
Transferasen (wasserlöslich,
Phase-I-Metabolit Kopplungsproduktinaktiv, ungiftig)
Glucuronsäure,
Sulfat, Aminosäuren, Molekulargewicht
Kopplung an: Glutathion, Essigsäure, > 500
S-Adenosylmethionin.
Ausscheidung Galle
Abbildung 2.27 Übersichtsschema Biotransformation und Ausscheidung. X ist ein Fremd-
stoff, eine körpereigene Verbindung oder ein Medikament.
Die direkte Ausscheidung von toxischen Substanzen in den Darm ist für ver-
schiedene Schwermetalle, für quartäre Ammoniumverbindungen, schwache
Säuren sowie für Herzglycoside nachgewiesen worden. Weiterhin kann die pH-
Differenz zwischen dem sauren Mageninhalt und dem Blut zu einer Anreiche-
rung von basischen Substanzen im Magen führen (Abbildung 2.13).
Um toxische Substanzen aus dem Verdauungstrakt zu entfernen, können außer
dem Spülen der Brechreiz ausgelöst und Abführmittel zum Verhindern der
Resorption eingesetzt werden.
Die Ausscheidung von toxischen Substanzen mit der Milch ist von besonderer
Wichtigkeit für das Brustkind und für die Übertragung von der Kuh auf den
Menschen durch das Nahrungsmittel Kuhmilch. Da der pH-Wert der Milch bei
pH 6 liegt, reichern sich in der Milch besonders basische Verbindungen an, ähn-
lich wie beim Magen beschrieben (Ionenfalle). Außerdem ist der Lipidgehalt
der Milch, der zwischen 3 und 5 % liegt, für die Verteilung von lipophilen Sub-
stanzen wichtig. Über diese Nahrungskette können sich lipophile Substanzen
wie DDT anreichern.
Bei stillenden Frauen muss grundsätzlich die Möglichkeit der Übertragung von
Medikamenten durch die Milch in Betracht gezogen werden. Auch Alkohol und
Nicotin werden mit der Milch auf den Säugling übertragen.
Ein toxikokinetisches Modell soll in Abhängigkeit von der Zeit mit mathema-
tischen Funktionen den Weg einer toxischen Substanz im menschlichen Or-
ganismus annähernd genau wiedergeben können. Der Toxikologe wird durch
ein gutes mathematisches Modell in die Lage versetzt, nach einer Exposition
die wirksame Konzentration im Organismus zu ermitteln. Hierdurch kann un-
ter Umständen die Einwirkungsdauer und damit das toxische Risiko aus der
Expositionskonzentration und der Expositionszeit abgeschätzt werden.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 95
Zur Erstellung eines solchen Modells ist der im Experiment gemessene zeit-
liche Verlauf der Konzentration der toxischen Substanz im Blutplasma von
großer Wichtigkeit. Jeder einzelne Messwert kann als eine Resultante aller ab-
laufenden Einzelvorgänge wie Aufnahme in das Blut, Verteilung im gesamten
Organismus, Biotransformation und Ausscheidung aufgefasst werden. Verbin-
det man die einzelnen Messwerte miteinander, so erhält man eine sogenannte
Blutspiegel-Zeitkurve. Ihr Kurvenverlauf erfasst die oben genannten Ein-
zelvorgänge. Das einfachste Modell ist ein offenes System mit einem Zu- und
einem Abfluss. Ist die Bilanz von Zu- und Abfluss ausgeglichen, so spricht
man von einem Fließgleichgewicht oder steady state“. Überwiegt aber
”
der Zufluss, so kommt es im Organismus zu einer Akkumulation.
Wichtige Parameter in einem solchen Modell sind die Anzahl und Größe der
Verteilungsräume Kompartimente), sowie die einzelnen Geschwindigkeits-
konstanten für den Zufluss, den Transfer und den Abfluss.
-dC/dt = ke · C (1)
Ct = C0 · e−ke t , (2)
wobei C0 die Konzentration der Substanz zum Zeitpunkt 0 ist. Durch Log-
arithmieren erhält man:
96 Kapitel 2 Toxikokinetik
ln Ct = ln C0 − ke t (3)
bzw.
log Ct = log C0 − (ke /2, 303) · t. (4)
Die Gleichungen 3 und 4 sind einfache lineare Gleichungen mit dem y-Achsen-
Schnittpunkt ln C0 bzw. log C0 und einer Neigung, welche die Eliminations-
konstante ke (h−1 oder min−1 ) wiedergibt.
Trägt man in einer graphischen Darstellung die gemessenen Konzentrationen
im Plasma logarithmisch gegen die Zeit im linearen Maßstab auf, so müssen
die Messpunkte entsprechend den Gleichungen (3) und (4) auf einer geraden
Linie liegen. Der graphisch ermittelte Schnittpunkt mit der y-Achse ergibt die
Anfangskonzentration C0 und aus der Neigung des Konzentrationsverlaufes
geht die Eliminationskonstante ke hervor.
Die Abbildung 2.28 demonstriert an einem Beispiel (C0 = 10 mM, ke = 0,2 h−1 )
den zeitlichen Verlauf einer Blutspiegel-Zeitkurve in der linearen und in der
halblogarithmischen Darstellung.
Die halblogarithmische Darstellung hat den Vorteil, dass den exakten Schnitt-
punkt mit der y-Achse erhält, der aus der linearen Darstellung nur abgeschätzt
werden kann. Mit ihrem Schnittpunkt ist die Anfangskonzentration C0 be-
stimmt. Mit C0 lässt sich das Volumen des Kompartiments errechnen, da die
in die Blutbahn eingebrachte Menge (m) der Substanz bekannt ist. Beträgt
die eingebrachte Menge (m) in unserem Beispiel 30 mmol, so errechnet sich
das Plasmavolumen, V = m/C0 (30 mmol/10 mM), zu 3 Liter.
Multipliziert man das Plasmavolumen V (3 Liter) mit der Eliminationskon-
stante ke (0, 2 h−1 ) , so ergibt sich die Nieren-Clearance, nämlich das Volu-
men, das pro Minute von der Substanz befreit wird. In diesem Beispiel sind es
10 ml/min.
Abbildung 2.28, die den exponentiellen Abfall der Konzentration der Substanz
im Blutplasma wiedergibt, enthält eine tabellarische Darstellung für die Zeit-
spanne von 5 Halbwertzeiten. In dem Beispiel ist die Ausgangskonzentration
von 10 mM auf die Hälfte abgefallen, wenn 3,5 Stunden vergangen sind. Nach
dem Ablauf von fünf Halbwertzeiten ist die Substanz nur noch mit 1/32 (0,31
mM, ≈ 3.1 %) der Ausgangskonzentration im Plasma vorhanden. Im Allgemei-
nen signalisiert die niedrige Konzentration nach 5 Halbwertzeiten das Abklin-
gen einer akuten toxischen Wirkung. Bei der klinischen Beurteilung von Me-
dikamentenwirkungen gelten nach 5 Halbwertzeiten die meisten Medikamente
als ausgeschieden. Somit ist die Halbwertzeit eine praktische Bezugsgröße für
die Beurteilung einer Exposition.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 97
10 C mM Stunden
Konzentration (C) 1/1 10 0
1/2 5 3.5
1/4 2.5 7.0
1/8 1.25 10.5
5 1/16 0.62 14.0
1/32 0.31 17.5
0
0 5 10 15 20
Stunden
Co
1.0
log Konzentration (C)
0.0
-0.5
-1.0
0 5 10 15 20
Stunden
Abbildung 2.28 Konzentration im Plasma (lineare Auftragung) nach iv-Injektion einer Sub-
stanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells, unten halblogarithmische Auftragung.
98 Kapitel 2 Toxikokinetik
Wie aus Gleichung (6) ersichtlich, ist die Halbwertzeit für eine Substanz mit
einer Kinetik erster Ordnung“ unabhängig von der Konzentration der Sub-
”
stanz, sie ist umso kleiner, je größer ke ist.
Für die Abhängigkeit der Halbwertzeit t1/2 von Verteilungsvolumen V und
Clearance (CL) gilt die Beziehung:
Die Halbwertzeit einer Substanz ist also umso länger, je größer das Vertei-
lungsvolumen ist, und umso kürzer, je größer die Clearance ist.
Die Situation in einem offenen Ein-Kompartiment-Modell wird etwas kompli-
zierter, wenn wir anstelle der schnellen i.v. (intravenösen) Injektion durch eine
Spritze eine langsame Aufnahme durch den Magen-Darm-Trakt annehmen. Die
Zeichnung veranschaulicht hierbei die kinetischen Bewegungen der Substanz:
MAGEN- ki ke
DARM-TRAKT BLUTRAUM
Co
1
log Konzentration (C)
-1
0 5 10 15 20
Stunden
Abbildung 2.29 Konzentrationsverauf (log) im Plasma nach oraler Verabreichung einer Sub-
stanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells (Vierecke).
Die Invasion in das Blutplasma kann ebenfalls mit einer Kinetik erster Ord-
”
nung“ beschrieben werden, wie bereits aus dem linearen Verlauf bei der hal-
blogarithmischen Darstellung gefolgert werden kann. Für die Geschwindigkeit
der Konzentrationszunahme im Blutplasma gilt unter der Annahme, dass kei-
ne Elimination stattfindet:
Hierbei ist C wie in Gleichung (1) die Konzentration der Substanz im Blutplas-
ma zum Zeitpunkt t und C∞ die Konzentration, welche unter der Annahme,
dass keine Elimination stattfindet, zur Zeit t = ∞ erreicht wird. Integriert
man die Gleichung (8), so folgt:
Ct = C∞ [1 − e−ki t ]. (9)
Bei gleicher Konzentration von C∞ und C0 in den Gleichungen für die Invasion
(9) und Evasion (2) kann das Zusammenspiel der beiden Funktionen durch die
sogenannte Bateman-Funktion“ ausgedrückt werden:
”
ki
Ct = C0 · [e−ke t − e−ki t ]. (10)
ki − ke
MAGEN- ki ke
DARM-TRAKT BLUTRAUM
k12 k21
PERIPHERES
KOMPARTIMENT
in den Zwischenzellraum und zurück sehr schnell. Die Halbwertzeit des Blut-
spiegelabfalls ist hier bereits eine sehr komplexe Größe.
Da viele Substanzen sich nicht nur im Plasmaraum und im Extrazellulärraum
verteilen, sondern in den Intrazellulärraum eindringen bzw. in Fettzellen und
Membranen gebunden werden, kann deren Kinetik nur mit einem Multi-
Kompartiment-Modell angenähert werden. Hierzu sind leistungsfähige Com-
puter notwendig, und oft reichen die experimentellen Analysendaten aus dem
Blut allein nicht aus.
Bezüglich der Verteilungsräume erhält man besonders bei lipophilen Substan-
zen Werte, die viel größer als die entsprechenden Wasserräume sind. Das hängt
damit zusammen, dass diese Substanzen durch Bindung und Speicherung an
neutraler Stelle aus dem Spiel der kinetischen Kräfte herausfallen und damit
ihre Konzentration in den Verteilungsräumen viel geringer wird. Aus diesem
Grunde ist das Verteilungsvolumen nur eine fiktive Größe, und man spricht in
diesem Fall besser von einem scheinbaren Verteilungsvolumen“.
”
Der Realität entsprechend, sollte man die Räume des Körpers als vorgege-
bene Größen ansehen, denn diese sind definiert und können unabhängig be-
stimmt und vermessen werden. Dagegen sind die Konzentrationen der Sub-
stanzen in den verschiedenen Räumen veränderliche Parameter, besonders in
den Bindungs- und Speicherregionen.
3 Toxikodynamik
Günter Fred Fuhrmann
corpora non agunt nisi fixata“ (Stoffe reagieren nicht, wenn sie nicht ge-
”
bunden sind) wurde in der damaligen Zeit sehr kontrovers diskutiert und gilt
doch heute als selbstverständlich.
John Newport Langley kam aus der klassischen Schule von Claude Bernard, der
meinte, die Wirkung des Pfeilgiftes Curare an den feinen Nervenendigungen
zum Muskel lokalisiert zu haben, welches dort die Muskelkontraktion hemmen
sollte. Langley konnte jedoch zeigen, dass die Muskelzellen auch ohne die ge-
ringste Beteiligung von Nerven zur Kontraktion fähig waren, wenn er nämlich
Nicotin applizierte. Curare blockierte nun diese Wirkung des Nicotins am
nervenlosen Muskelpräparat. Da an der Muskelzelle trotz einer Curareblocka-
de noch eine Muskelkontraktion elektrisch ausgelöst werden konnte, bedeutete
dies für Langley, dass weder Nicotin noch Curare mit dem Nerv oder mit
dem Muskelkontraktionsmechanismus direkt reagieren konnten. Nach seiner
Vorstellung musste deshalb noch eine rezeptive Substanz“ vorhanden sein
”
zum Auslösen der Muskelkontraktion durch Nicotin und zum Blockieren mit
Curare. Die rezeptive Substanz von Langley ist der heute am besten in seiner
molekularen Struktur bekannte nicotinische Acetylcholinrezeptor.
Der klassische Begriff des Rezeptors geht davon aus, dass Rezeptoren Ma-
kromoleküle sind und biologische Effekte durch Wirkstoff-Rezeptor-Inter-
aktionen ausgelöst werden. Bis zu den sechziger Jahren des letzten Jahr-
hunderts war die Suche nach Rezeptoren erfolglos verlaufen, das Konzept des
Rezeptors hatte bis dahin nur durch kinetische Studien eine Stütze erhalten.
Endlich konnten in den letzten dreizig Jahren zahlreiche hochspezifische Struk-
turen identifiziert, charakterisiert und dargestellt werden. Somit wurde das
Konzept des Rezeptors, das von Ehrlich und Langley zur Erklärung spezifi-
scher Wirkungen vorgeschlagen worden ist, vollkommen bestätigt.
Die Zahl von Rezeptoren ist heute nicht mehr überschaubar und es werden
immer mehr neue Rezeptoren isoliert. Eine grobe Einteilung kann in intra-
zelluläre und membranöse Rezeptoren erfolgen. Tabelle 3.1 gibt einen kleinen
Überblick über eine Auswahl von Membranrezeptoren. Diese können wieder-
um in vier große Gruppen eingeteilt werden, die eigentlichen Rezeptoren,
Ionen-Kanäle, Transporter und Enzyme.
Neben den in der Tabelle 3.1 gezeigten spezifisch wirksamen Substanzen gibt es
eine große Gruppe von Chemikalien und toxischen Substanzen, die nur unspe-
zifisch wirksam sind. Charakteristisch ist hierbei, dass sie nicht mit bestimmten
Rezeptoren reagieren. Es werden oft vergleichsweise hohe Konzentrationen für
eine Wirkung benötigt, und die chemische Struktur hat wenig Einfluss auf die
106 Kapitel 3 Toxikodynamik
Wirkungen. In vielen Fällen ist die Wirkung mit den lipophilen Eigenschaften
der Substanzen verbunden. Eine sehr empfindliche Struktur ist die Membran-
barriere, die durch lipophile Substanzen zerstört werden kann.
Die ausgewählten Kanäle für Natrium, Kalium oder Calcium werden entweder
durch Ligandenbindung* oder durch elektrische Spannung zur Öffnung gebracht.
Im Gegensatz zu den eher langsamen biochemischen Rezeptor-Signalen sprechen
Kanäle im Millisekundenbereich an.
Von Paul Ehrlich wurde die Vorstellung entwickelt, eine Substanz müsse sich
zuerst mit dem Rezeptor“ verbinden, um eine Wirkung zu verursachen.
”
Es soll hier von der Vorstellung ausgegangen werden, dass es sich bei dem
Rezeptor um eine dreidimensionale Struktur eines Proteins handelt, und dass
das Protein wässrigen Lösungen ausgesetzt ist. An seiner Oberfläche befindet
sich eine Substratbindungsstelle, die wir uns als eine Einkerbung oder Spalte
vorstellen, deren Form geometrisch komplementär zum Substratmolekül ist.
Als Bindungsstellen am Rezeptor kommen unter anderem Seitenketten von
Aminosäuren mit funktionellen Gruppen in Frage (-NH2 , -COOH, -SH). Ihre
Verteilung an der Oberfläche stellt man sich so angeordnet vor, dass sie mit
dem Substratmolekül eine spezifische elektronische Komplementarität bilden
können. Damit bilden die geometrische und elektronische Komplementarität
eine wesentliche Voraussetzung für die Bindung des Substratmoleküls. Mo-
leküle, die sich in Form und Ladungsverteilung von diesen Substratmolekülen
unterscheiden, können nicht mit vergleichsweise guter Affinität am Rezeptor
gebunden werden.
Als ein Beispiel hierfür sollen als Rezeptormolekül das Hämoglobin und als
Substratmolekül das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG), ein Polyanion, dienen
(Abbildung 3.1). Hämoglobin besteht aus zwei a- und zwei b-Untereinheiten.
Die Abstände zwischen den anionischen Gruppen des BPG und den kationi-
schen Aminosäuren Lysin, Histidin sowie der N-terminalen Aminogruppe des
Valins liegen im Bereich von Ionen- und Wasserstoffbrückenbindungen. Durch
die BPG-Bindung wird die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins herabgesetzt
und Sauerstoff an die Zellen abgegeben. Bei der Sauerstoffbeladung in der
Lunge wird das BPG wieder freigesetzt, die Raumstruktur des Hämoglobins
verändert sich, so dass die Bindung von BPG nicht länger möglich ist.
E-Lysin (82)
Abbildung 3.1 Bindung von 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG, fett gedruckt) in der zentralen
Tasche des desoxygenierten Hämoglobins zwischen den beiden β-Untereinheiten β1 und β2 .
Die Zahlen an den Aminosäuren in Klammern geben die fortlaufende Numerierung der
Aminosäuresequenz der β-Untereinheiten des Hämoglobins wieder.
ionisiert sind. Daher ist der Stabilitätsbeitrag von Ionenpaaren zur nativen
Struktur eines Proteins im allgemeinen gering. Für die Rezeptorbindung ist
es jedoch wichtig, dass diese Kräfte im Vergleich zu anderen Bindungskräften
über relativ große Entfernungen wirken.
Die Wasserstoffbrückenbindung ist eine Spezialform der Ionenbindung. Es
handelt sich hierbei vorwiegend um elektrostatische Wechselwirkungen zwi-
schen einer schwach sauren Donorgruppe und einem Akzeptoratom mit ei-
nem einsamen Elektronenpaar. Die Bindungskraft beträgt nur etwa -12 bis
-30 kJ/mol, die Entfernung ist 0,27 bis 0,31 nm. Eine große Anzahl dieser Was-
serstoffbrückenbindungen sind in den Proteinen räumlich so angeordnet, dass
sie auf Grund der Anordnung und Zahl einen ganz wesentlichen Einfluss auf
die Quartärstruktur des Moleküls besitzen. Sie liefern somit die strukturelle
Voraussetzung für sein natives Faltungsmuster. Ein anderes Beispiel für die Be-
deutung von Wasserstoffbrückenbindungen ist die DNA-Doppelhelix, bei der
sie zwischen den spezifischen Basenpaaren auftreten. Am Rezeptor tragen sie
ebenfalls zur Stabilität des Rezeptor-Substrat-Komplexes bei, wie am Beispiel
des BPG-Hämoglobin-Komplexes gezeigt (Abbildung 3.1).
110 Kapitel 3 Toxikodynamik
3.2.2 Van-der-Waals-Bindungen
Die nichtkovalenten Anziehungskräfte zwischen elektrisch neutralen Molekülen,
zusammengefasst als Van-der-Waals-Kräfte, entstehen aus elektrostatischen
Wechselwirkungen zwischen permanenten und induzierten Dipolen. Die Bin-
dungskraft von Carbonylgruppen in Proteinen beträgt z.B. -9.3 kJ/mol. Als
Einzelkraft liegt sie nur etwa im Bereich der thermischen Energie eines Mo-
leküls bei Raumtemperatur. Für Proteine sind jedoch die Wechselwirkungen
zwischen permanenten Dipolen wichtige Strukturdeterminanten, welche die
Proteinfaltung im Inneren signifikant beeinflussen.
Viel schwächer als die Dipol-Dipol-Wechselwirkungen sind die sogenannten
London-Dispersionskräfte (Assoziationsenergie proportional zu r−6 ). Die-
se spielen nur bei kontaktierenden Gruppen eine Rolle. Aufgrund der großen
Anzahl an interatomaren Kontakten sind sie trotzdem bedeutend bei der Fest-
legung der Proteinkonformation. Die London-Kräfte stellen auch einen großen
Teil der Bindungskräfte bei sterisch komplementären Wechselwirkungen, z. B.
zwischen Rezeptoren und den spezifisch gebundenen Molekülen.
(enzymatischer) Vorgang die Bindung wieder löst. Daher bewirkt eine kova-
lente Bindung am Rezeptor im Gegensatz zu den meisten Rezeptor-Substrat-
Wechselwirkungen eine stabile Langzeitbindung. Intra- und intermolekulare
kovalente Verknüpfungen der DNA-Stränge werden bei der Tumortherapie mit
alkylierenden Agenzien erzeugt (Karzinogenese, Alkylantien). Eine Substanz,
der alkylierende Stickstofflost, wurde früher als hochtoxisches Kampfgas einge-
setzt. Ein Beispiel aus einem anderen Gebiet sind die Organophosphate wie Di-
isopropylfluorophosphat (DFP), die mit der Hydroxylgruppe der Aminosäure
Serin eine kovalente Bindung eingehen und dabei eine ganze Reihe serinhaltiger
Enzyme, darunter auch die Acetylcholin-Esterasen, blockieren.
Die sehr geringe Konzentration von Rezeptoren in Zellen und Geweben machte
lange Zeit die Gewinnung reiner Rezeptormoleküle unmöglich. Erst mit der
Entwicklung von aufwändigen Isolierungsmethoden sowie insbesondere in der
letzten Zeit durch Einsatz molekularbiologischer Verfahren konnten zahlreiche
Rezeptoren isoliert und ihre Aminosäuresequenzen aufgeklärt werden (Tabelle
3.1).
Lassen sich die Proteine kristallisieren, so gelingt es, mit Hilfe von Röntgen-
beugungsspektren sogar einen Einblick in die dreidimensionale Struktur der
Proteine zu erhalten. Oft liefern die bei der Kristallisation mit eingeschlosse-
nen Substratmoleküle, wie im Falle des desoxygenierten Hämoglobin und BPG
(Abbildung 3.1), strukturelle Vorstellungen über die Rezeptor-Bindungsstellen
mit dem entsprechenden Substrat. Die Kristallisation ist jedoch bei lipophilen
Membranproteinen immer noch sehr schwierig, erst bei etwa 20 dieser Proteine
konnte man mit genügend hoher Auflösung Details über ihre dreidimensionale
Struktur bekommen.
0.5 nm
CH3 O
Wirkung
+
1. CH3 N CH2 CH2 O C CH3 100%
CH3 Acetylcholin
CH3 O
+
2. CH3 N CH2 CH2 CH2 O C CH3 8.3%
CH3
CH3
+
3. CH3 N CH2 CH2 O CH2 CH3 1.5%
CH3
CH3 O
4. CH3 C CH2 CH2 O C CH3 0.0%
CH3
Dimethylbutylacetat
dung 4, Abbildung 3.2) des Substratmoleküls ließ auf eine negativ gelade-
ne Gruppe am Rezeptor schließen. Die Trimethylammoniumgruppe sollte ge-
genüber dem Kohlenstoffatom der Kohlenstoffkette frei drehbar sein. Aus den
von J. H. Welsh und R. Taub in den Jahren 1950–1951 durchgeführten Unter-
suchungen ging weiter hervor, dass von den drei Methylgruppen am Stickstoff-
Atom zwei nicht durch Ethylgruppen ersetzt werden können. Die beiden Me-
thylgruppen werden demnach durch Van-der-Waals-Kräfte in zwei Cavity“
”
am Rezeptor fixiert (Abbildung 3.3). Es ist weiter sehr wahrscheinlich, dass
die beiden Kohlenstoffatome der Kette ebenfalls durch solche Kräfte stabilisiert
werden. Für die Carbonyl-Gruppe kommt eine Wasserstoffbrückenbindung mit
dem Rezeptor in Frage. Der Ether-Sauerstoff trägt wie die Carbonylgruppe ei-
ne induzierte negative Teilladung (d− ) und ist (Verbindung 2, Abbildung 3.2)
ebenfalls für die Anheftung wichtig, denn eine Verlängerung des Moleküls um
eine CH2 -Gruppe (Verbindung 3, Abbildung 3.3) führt zu einem starken Wir-
kungsverlust.
Die Wirkung des Acetylcholins beruht in dem obigen Beispiel auf seiner star-
ken Affinität zum muskarinischen Acetylcholinrezeptor des Muschelherzens.
Das gleiche Molekül kann jedoch auch mit dem etwas anders strukturierten
nicotinischen Acetylcholinrezeptor an den Muskelzellen und an den Ganglien-
zellen reagieren. Die freie Drehbarkeit um seine Kohlenstoffbindungen erlaubt
anscheinend dem Acetylcholinmolekül mehrere Konfigurationen einzunehmen,
im Gegensatz zu den durch Ringstruktur stabilisierten Muskarin- oder Nico-
tin-Molekülen.
114 Kapitel 3 Toxikodynamik
mode“ bricht hierbei ein kleines Membranareal aus der gesamten Zellmembran
heraus. Die Abdichtung zwischen der Glaskapillarelektrode und der Membran
muss so perfekt sein, dass der elektrische Widerstand größenordnungsmäßig
im Gigaohmbereich liegt. Jetzt kann durch eine zweite Außenelektrode eine
Spannung angelegt und gleichzeitig der Stromfluss durch das kleine Membran-
areal gemessen werden. Prinzipiell ist es hiermit möglich, den Stromfluss und
die Zeitdauer durch nur einen einzigen Kanal zu messen. So fließen bei einer
Klemmspannung von -100 mV durch einen Acetylcholinrezeptorkanal 3, 5 · 1012
Ampere. Daraus lässt sich errechnen, dass 2, 2 · 107 Kationen pro Sekunde oder
22 000 Kationen pro Millisekunde den Kanal passieren (bei einem Ampere pro
Sekunde resultiert ein Stromfluss von 6, 24 · 1018 elektrischen Ladungen).
116 Kapitel 3 Toxikodynamik
cium und Protonen, bekannt geworden (siehe auch Tabelle 3.1). Die genaue
dreidimensionale Struktur der Proteine in der Membran, die zum funktionellen
Mechanismus führt, ist aber bisher nur bei wenigen Proteinen bekannt.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen –
Massenwirkungsgesetz
k1
X + R RX
k2
[X][R] k2
= = Kx . (2)
[XR] k1
118 Kapitel 3 Toxikodynamik
Kx ist die Dissoziationskonstante des Komplexes. Wenn nun [RT ] die Gesamt-
konzentration der Rezeptoren ist, dann ergibt die sogenannte Konservie-
rungsgleichung, in der die Gesamtkonzentration [RT ] gleich der Konzentra-
tion an freiem Rezeptor [R] plus der Konzentration an gebundenem Rezeptor
[RX] ist:
[X]([RT ] − [RX])
= Kx ,
[RX]
[RX] [X]
= . (4)
[RT ] Kx + [X]
∆ [RX]
=
∆max [RT ]
∆max [X]
∆= . (5)
Kx + [X]
Gleichung (5) ist eine hyperbolische Gleichung, in der ∆ = 0 ist, wenn [X]
ebenfalls 0 beträgt. Wenn [X] einen sehr hohen Wert annimmt, wird ∆ gegen
∆max gehen. Ist die Konzentration [X] gleich Kx , dann erreicht ∆ den halb-
maximalen Wert. Gleichung (5) ist identisch mit der klassischen Michaelis-
Menten-Gleichung, in der die Geschwindigkeit v einer Enzymreaktion eine
Funktion der Substratkonzentration [S], der Michaelis-Menten-Konstanten KM
und der Geschwindigkeitskonstanten Vmax ist:
Vmax [S]
v= . (6)
KM + [S]
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 119
%
'max
' = biologische Wirkung 100
50
Kx
0
0 10 20 30
Wirkstoff in mM
Abbildung 3.5 Abhängigkeit der biologischen Wirkung ∆ von der Wirkstoffkonzentration [X]
in mM.
Beide Gleichungen geben auf jeder Seite die Fraktion f wieder, die eine bio-
logische Wirkung verursacht. Ist z. B. die biologische Wirkung ∆ gleich der
maximalen Wirkung ∆max , so ist f = 1, der Wert von f kann also nur zwi-
schen 0 und 1 liegen. Somit ist:
∆ [RX] [X]
f= = und f = . (7)
∆max [RT ] Kx + [X]
Von der reziproken Form der letzten Gleichung ausgehend, erhält man:
f
[X] = Kx , (8)
1−f
%
'max
100
' = biologische Wirkung
50
Kx
0
-1 0 1 2 3
Wirkstoff log mM
Abbildung 3.6 Halblogarithmische Auftragung der Konzentrations-Wirkungs-Beziehung. Wie
in Abbildung 3.5 sind dieselben Konzentrationen durch Kreise markiert.
f
log [X] = log Kx + log . (9)
1−f
Mit der letzten Gleichung (9) ist die umgeformte LDR-Kurve in vollständiger
Analogie zur Henderson-Hasselbalch´schen Gleichung mit a gleich der
nichtionisierte Anteil einer Säure (10):
α
log [H+ ] = log Ka + log . (10)
1−α
Durch Differenzieren der Gleichung (9) kann die Neigung der sigmoiden Kurve
an ihrem Wendepunkt f = 0,5 verhältnismäßig leicht bestimmt werden mit:
f df
d ln [X] = d ln = (11)
1−f f (1 − f )
und
df
= 2, 303 · f (1 − f ) (12)
d log [X]
122 Kapitel 3 Toxikodynamik
1.0
f = Fraktion der Wirkung
0.5
TD50 TD50
pKa pKa
Kx Kx
0.0
0 2 4 6 8 10 12 14
log (X) oder pH
Abbildung 3.7 Zwei LDR-Kurven (log dose response) für Wirkstoffe mit verschiedenen Kx -
Werten oder die Dissoziation von zwei schwachen Säuren mit unterschiedlichen pKa -Werten
(Konzentration X = pM).
df
= 0, 576. (13)
d log [X]
In der Besetzungstheorie von Clark wurde angenommen, dass stets ein Wirk-
stoffmolekül mit einem Rezeptor reagiert. Eine sehr große Anzahl von LDR-
Kurven bestätigen diese Theorie mit einer Neigung von 0,576 am Mittelpunkt.
In der Chemotherapie der Tumore werden manchmal alkylierende Substanzen
verwendet, die bifunktionell intra- und intermolekulare Verknüpfungen von
DNA-Strängen bewirken können (siehe Kapitel 9). Ein solches Agens ist z. B.
Busulfan [H3 C-SO2 -O-(CH2 )4 -O-SO2 -CH3 ], das man sich aus zwei Ethylme-
thansulfonaten zusammengesetzt vorstellt. Hier reagiert also ein Wirkstoff X
mit zwei Rezeptoren R:
X + 2R = XR2 . (14)
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 123
f
[X] = Kx (8)
1−f
als Ausgangsgleichung, substituiert für [X] = [XT ] − [RX] (XT ist die Gesamt-
konzentration an X) und setzt für [RX] = f · [RT ], so erhält man:
f
[XT ]= Kx + f · [RT ], (15)
1−f
3.4.2 Agonisten
Als Agonist wird eine Substanz bezeichnet, die sowohl eine Affinität (1/Kx )
als auch eine intrinsische Aktivität (∆max ) besitzt.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 125
Unter den Agonisten unterscheidet man noch zwischen vollen und partiellen
Agonisten. Partielle Agonisten wirken dualistisch, sie besitzen sowohl agonisti-
schen als auch antagonistischen Charakter. Ein partieller Agonist schwächt die
Wirkung eines vollen Agonisten auf Grund seiner ebenfalls vorhandenen par-
tiellen antagonistischen Eigenschaft ab. Dagegen wirkt ein partieller Agonist
bei Abwesenheit eines vollen Agonisten nur agonistisch.
3.4.3 Antagonisten
Antagonisten sind Substanzen, die eine agonistische Wirkung aufheben oder
zumindest verringern können. Folgende Haupt-Typen können dabei unterschie-
den werden:
Diese Substanzen besitzen wie die Agonisten eine oft hohe Affinität zum Re-
zeptor, ohne jedoch eine Wirkung auszulösen. Das untenstehende Modell gibt
das Reaktionsschema wieder:
k1 k3
X + R RX Wirkung
k2
+
keine
I RI + X
Wirkung
[R][I]
Ki = .
[RI]
∆max [X]
∆= . (16)
Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X]
126 Kapitel 3 Toxikodynamik
(1 + 15/Ki = 4
50
1 2 4
0
-1 0 1 2 3
log (X)
Abbildung 3.8 Kompetitive Hemmung. Ein kompetitiver Antagonist verschiebt die LDR-
Kurve parallel nach rechts. Der Grad der Parallelverschiebung der agonistischen LDR-Kurve
ist ein Maß für die Affinität des Antagonisten zum Rezeptor. Substanzen mit einer hohen
Affinität verursachen eine starke Parallelverschiebung, solche mit einer geringen Affinität
sind deutlich schwächer wirksam.
2
50
0
-1 0 1 2 3
log (X)
Eine einfache Gleichung kann im Nenner sowohl für Kx als auch für die Kon-
zentration [X] eine Erweiterung um den Faktor (1 + [I]/Ki ) tragen:
∆max [X]
∆= . (17)
Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X] · (1 + [I]/Ki )
Eine Möglichkeit der Hemmwirkung beim nichtkompetitiven Typ ist die Bin-
dung am Rezeptor selbst, jedoch nicht an der Agonisten-Bindungsstelle. Durch
diese Bindung verhindert der Antagonist z. B. eine Konformationsänderung des
Rezeptormoleküls, die für die Bindung oder für Folgereaktionen notwendig ist.
Neben den nichtkompetitiven Antagonisten kennt man auch solche, die sowohl
kompetitiv als auch nichtkompetitiv wirken können. In niedriger Konzentra-
tion können sie z. B. als kompetitiver Antagonist wirksam sein, während sie in
hoher Konzentration eine nichtkompetitive unspezifische Hemmung ausüben.
128 Kapitel 3 Toxikodynamik
Auf die LDR-Kurve projiziert sich ihre Wirkung bei niedriger Konzentration
in einer parallelen Rechtsverschiebung, bei hoher Konzentration wird mit einer
Verminderung der Kurvenneigung der Maximaleffekt vermindert.
Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über mögliche Effekte von Inhibitoren auf die
Parameter der Michaelis-Menten-Gleichung. Diese Effekte von Inhibitoren auf
Enzymreaktionen können ohne weiteres auf Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkun-
gen übertragen werden, wenn E = R und S = X gesetzt werden.
Tabelle 3.2 Charakterisierung von Hemmtypen enzymatischer Reaktionen. Die aus Expe-
rimenten gewonnene Vmax - und KM -Werte werden als apparente (scheinbare) Parame-
ter bezeichnet. [E] ist die Enzymkonzentration, [I] die Inhibitorkonzentration, [EI] der
Enzym-Inhibitor-Komplex und [ESI] der Enzym-Substrat-Inhibitor-Komplex. Es gilt: α =
(1 + [I]/Ki ) mit Ki = [E][I]/[EI] und α = (1 + [I]/Ki ) mit Ki = [ES][I]/[ESI].
Typ der Hemmung Faktor für apparente Vmax Faktor für apparente KM
keine 1 1
kompetitiv 1 α
nicht-kompetitiv 1/α α/α
unkompetiv 1/α 1/α
Ein funktioneller Antagonist ist eigentlich ein Agonist, der eine Wirkung in
der entgegengesetzten Richtung am gleichen Organsystem auslöst.
Ein Beispiel ist die Regulation der Weitstellung der Bronchien in der Lunge
durch glatte Muskelzellen. Sie wird durch zwei verschiedene Rezeptorsysteme
beeinflusst. Acetylcholin bewirkt an den Muskarin-Rezeptoren (parasympatho-
mimetischen Rezeptoren) der glatten Muskeln eine Verengung der Bronchien,
und Adrenalin verursacht als physiologischer Antagonist über b2 -Rezeptoren
des sympathischen Nervensystems das Gegenteil, es stellt die Bronchien weiter.
Schmerzen hervor. Der Verletzte muss sofort zum Arzt und diesem genau die
verletzte Hautstelle zeigen, damit eine spezifische Therapie eingeleitet werden
kann.
Laugenvergiftungen sind viel gefährlicher als Säurevergiftungen, da das Gewe-
be verflüssigt wird und keine feste koagulierte Proteinschicht entsteht. Die
Laugen dringen immer tiefer in das Gewebe ein, da sie von der Gewebs-
flüssigkeit kaum neutralisiert werden. Neben der sehr gefährlichen Natron-
lauge und Kalilauge kann auch Ammoniumhydroxid schwere Schäden verursa-
chen. Hautschädigungen können durch sofortiges Abspülen mit reichlich Was-
ser gewöhnlich vermieden werden.
Die Wirkung von Säuren und Laugen ist von komplexer Natur. Bei den Säu-
ren wurde die protektive proteinkoagulierende Eigenschaft in den Vordergrund
gestellt. Der Name Protein“ wurde von dem Chemiker Jöns Jacob Berzelius
”
geprägt und ist abgeleitet vom griechischen proteuo:
ich nehme den ersten Platz ein.“
”
Der Inhalt einer Zelle kann als eine konzentrierte Lösung von Proteinen (et-
wa 30 %), die meisten sind Enzyme, angesehen werden. Diese Proteine können
sowohl nach ihrer Funktion als auch nach ihrem Aufbau eingeteilt werden.
Bezüglich des strukturellen Aufbaus lassen sich die Proteine in einfache und
zusammengesetzte bzw. fibrilläre und globuläre Proteine einordnen. Eine mo-
derne Einteilung nimmt die Faltungstopologie zu Hilfe und ordnet die Proteine
danach in große Familien ein.
Jedes Protein besitzt eine spezifische Aminosäurenzusammensetzung, typisch
ist die Primärstruktur der Aminosäuresequenz. Dabei ist das durch die Pep-
tidbindung gebildete Rückgrat von Proteinen bei allen Proteinen identisch,
die Vielfalt der Eigenschaften ergeben sich erst aus den Aminosäureseitenket-
ten. Die Seitenketten tragen dissoziable Gruppen wie die basischen Gruppen
von Lysin und Arginin, die Carboxylgruppen von Aspartat und Glutamat, die
Imidazolgruppe des Histidins, die Hydroxylgruppen von Serin, Threonin und
Tyrosin sowie die Sulfhydrylgruppe des Cysteins.
Die Sekundärstruktur umfasst alle Strukturen, die sich durch Wasserstoff-
brückenbindung der CO- und NH-Gruppen des Rückgrats der Peptidkette bil-
den lassen. Dies sind die b-Faltblatt-, die a-Helix-, die Kollagen-Helix-Struktur,
sowie Schleifen, die sich mit den oben genannten Strukturen verbinden lassen.
Die Tertiärstruktur beschreibt die dreidimensionale Struktur der Proteine,
einschließlich der durch die Aminosäurenseitenketten bedingten Konformation.
Stabilisiert wird die Tertiärstruktur durch Ionen- und Wasserstoffbrückenbin-
dung, Van-der-Waals-Kräfte, London-Dispersionskräfte und Disulfidbrücken.
132 Kapitel 3 Toxikodynamik
Arginin-Glycin-
(AD)2(BE)2(J)2 Spaltung D2 E2 J2 + 2A + 2B
Durch die Abspaltung der Fibrinopeptide A und B ändern sich die physikalisch-
chemischen Eigenschaften der Fibrin-Monomere, die sich jetzt spontan über-
lappend zu langen Fäden aneinanderlegen und aus der Lösung ausfallen.
Die Antwort auf die Frage, warum das Fibrinogen im Plasma gelöst bleibt und
warum die Fibrin-Monomere aggregieren, die immerhin 96 % des Fibrinogens
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 133
+ -
NH3 COO
-
OOC CH CH2 CH
-
COO
J-Carboxyglutaminsäure
R1
C O
- - NH
OOC
2+
Ca CH CH2 CH
- -
OOC C O
Phosphatidylserin NH
R2
Blut-
gerinnungsfaktor
Phospholipidmembran
schluss bewirken. Gleichzeitig führen sie dabei einen Gestaltwechsel durch und
setzen Membrananteile und Gerinnungsfaktoren frei.
Der toxische Effekt des Dicumarols aus Süßklee führt dazu, dass keine funk-
tionstüchtigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X von der Leber mehr ge-
bildet werden. Erst nach Aufbrauchen der vorhandenen Faktoren trat dann
die Verblutung der Tiere ein (siehe Kapitel 6.4).
Dieses inhibitorische Prinzip der Cumarine wird heute in der Medizin als Medi-
kament bei verstärkter Blutgerinnungsneigung und bei der Ratten- und Mäuse-
bekämpfung als Gift eingesetzt. In der Medizin wird die Blutgerinnungsneigung
bei Patienten mit drohendem Herzinfarkt z. B. durch das Cumarin-Präparat
Phenprocoumon herabgesetzt. Bei Blutungsrisiken wirkt Vitamin K zwar als
spezifisches Antidot, aber es dauert in der Regel 36 bis 48 Stunden bis genügend
funktionstüchtige Gerinnungsfaktoren synthetisiert worden sind und die Ge-
rinnungsfähigkeit des Blutes wieder voll hergestellt ist.
Bei der Bekämpfung von Ratten- und Mäuseplagen wurden früher toxische
Präparate mit Thalliumsulfat, Natriumfluorid und Zinkphosphid eingesetzt
(siehe Kapitel 4.2.6). Anfang der fünfziger Jahre kam es zu einer beängsti-
genden Zunahme von Thalliumvergiftungen. Die tödliche Dosis beim Men-
schen schwankt außerordentlich, sie dürfte für das Thalliumsulfat im Mittel
etwa 1 g betragen. Heute werden als Ratten- und Mäusebekämpfungsmittel
fast ausschließlich Cumarin-Derivate eingesetzt. Der Vorteil liegt darin, dass
die ausgebrachten Dosen für Erwachsene, Kinder und Haustiere in der Regel
unbedenklich sind. Eine akute Toxizität ist wegen der langsam einsetzenden
Wirkung nicht vorhanden. Sollte es trotzdem bei chronischer Aufnahme zu
Vergiftungen kommen, so ist die Therapie mit Vitamin K-abhängigen Gerin-
nungsfaktoren sehr effektiv im Gegensatz zu der Therapie bei Thalliumvergif-
tungen mit kolloidalem Eisen(III)-hexacyanoferrat(II) (Berliner Blau).
Die Wirkung der Oxalsäure ist wie bei jeder Säure zuerst eine direkte Ätzwir-
kung auf die Schleimhäute. Nach Einnahme treten sofort heftige Magenschmer-
zen, Brechreiz und Erbrechen von schwärzlichen Massen auf. Nach der Resorp-
tion kommt es jedoch infolge der starken Calciumbindung der Oxalsäure zu
Blutungsneigung und schweren Krämpfen. In der Niere fällt das Calciumoxalat
in Form von Kristallen aus, die zu einer Verstopfung der Nierenkanälchen mit
fehlender Harnabsonderung (Anurie) führen.
136 Kapitel 3 Toxikodynamik
Eine weitere Möglichkeit, sich mit Oxalsäure zu vergiften, besteht bei der In-
toxikation mit Ethylenglycol (siehe Kapitel 5.4). Der Stoffwechselweg führt
zu dem Endprodukt Oxalsäure. Dabei ist hier nicht die Beeinflussung der
Gerinnung, sondern die sogenannte Oxalatniere mit vollständiger Harnsper-
re die vorrangige toxische Komponente. Schon 100 bis 200 ml Ethylenglycol
sind mitunter tödlich. Die rechtzeitige Therapie beruht unter anderem auf ei-
ner metabolischen Hemmung der Ethylenglycoloxidation durch Ethanol, das
die Umsetzung über die Dehydrogenasen blockiert.
Nicht nur Chelatbildner wie Oxalat können durch ihre Calciumbindung die
Blutgerinnung beeinträchtigen, sondern auch Metalle aus der Lanthanreihe wie
Lanthan, Cer, Praseodym und Neodym (siehe Kapitel 4.1.7). Der Mechanismus
ist hier in der Blockade der Calciumstelle bei der Anbindung der Gerinnungs-
faktoren an die Phospholipidmembranen zu suchen. Praseodym wurde früher
als Medikament benutzt, um die Blutgerinnung herabzusetzen.
Druck 300 mosmol/Liter ergeben). Die gelöste Substanz, hier das NaCl, pene-
triert nur sehr langsam in die Zelle, so dass über lange Zeit nur eine geringe
Wasserverschiebung in die Zelle hinein erfolgt.
Ersetzt man aber die isotonische NaCl-Lösung durch eine isotonische Harn-
stofflösung, so hämolysieren die Erythrozyten sofort, da das kleine Harnstoff-
molekül sehr schnell in die Zelle penetriert und das Volumen der Zelle aufgrund
des gleichzeitig erfolgenden Wassereintritts zunimmt. Erythrozyten können nur
bis zu dem 1,5-fachen ihres Volumens anschwellen; sie verändern dabei ihre bi-
konkave Scheibchenform zur Kugelform. Eine weitere Volumenzunahme führt
zum Zerreißen der Zellmembran.
nRT
P= . (Van´t-Hoffsche Gleichung)
V
Diese Gleichung stellt als ideale Zustandsgleichung der Gase ein Grenzgesetz
dar und sie lässt sich daher im strengsten Sinne auch nur für verdünnte Lösun-
gen anwenden. In der physikalischen Chemie wurden neben der semipermea-
blen Niederschlagsmembran auch Pflanzenzellen und Erythrozyten als Modell-
138 Kapitel 3 Toxikodynamik
Betrachtet man auf einer Langzeitskala das Verhalten der Erythrozyten in einer
isotonischen NaCl-Lösung, so registriert man eine langsame Volumenzunahme,
die schließlich auch zur Hämolyse führt. Diese Art der Hämolyse hat Wilbrandt
nach ihrem Mechanismus als kolloidosmotische Hämolyse“ bezeichnet. In
”
Kapitel 2.2.3 wurde der kolloidosmotische Druck der Plasmaproteine und die
daraus resultierenden Flüssigkeitsbewegungen in den Kapillaren besprochen.
Aus dem hohen Hämoglobingehalt der Erythrozyten, der etwa einer Konzen-
tration von 5 mM entspricht, ergibt sich ein kolloidosmotischer Druck von etwa
85 mm Hg. Das ist das 3,4-fache des osmotischen Drucks der Plasmaproteine.
Diese Berechnung zeigt, dass es eine entsprechende Flüssigkeitsbewegung in
die Erythrozyten geben muss, die eigentlich zum Schwellen der Zellen und
schließlich zur Hämolyse führt. Da dies im lebenden Organismus nicht ein-
tritt, kann man davon ausgehen, dass es einen Mechanismus gibt, der diesen
kolloidosmotischen Druck kompensiert.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 139
Der Mechanismus des osmotischen Druckausgleichs ist mit dem aktiven Trans-
port von Kalium- und Natriumionen verbunden. Im Jahre 1957 entdeckte
Jens Skou in Membranpräparationen von Krebsnerven ein Enzym, das ATP
(Adenosintriphosphat) in ADP (Adenosindiphosphat) und Pi (anorganisches
Phosphat) spaltet, wenn gleichzeitig Natrium-, Kalium- und Magnesium-Ionen
anwesend sind. Seither wird dieses in fast allen Zellmembranen und auch im
menschlichen Erythrozyten vorkommende Enzym Na+ -K+ -ATPase genannt:
ATPase
ATP + H2O ADP + Pi + H+
Na+, K+, Mg++
3Na+ +
Zelle + 2KPlasma + ATP
3Na+ +
Plasma + 2KZelle + ADP + Pi
wortlich und dient als Triebkraft für sekundäre Transportprozesse, die an einen
Na+ -Gradienten gekoppelt sind, wie z. B. der Aminosäurentransport und der
Glucosetransport im Darm. Für alle diese Zellen gilt, dass sie einen großen
Anteil des von ihnen produzierten ATP zur Aufrechterhaltung der Kalium-
und Natriumgradienten benötigen.
Die große Verbreitung bei fast allen Zellen und die funktionelle Bedeutung der
Na+ -K+ -ATPase machen deutlich, dass eine toxische Schädigung des Enzyms
weitreichende Folgen haben muss. Bei den Pfeilgiften wurden die sehr giftigen
Glycoside Ouabain und Strophanthus kombe erwähnt, die zu den Herzgiften
gehören. In Ostafrika wurde der eingedickte Extrakt dieser Gifte auf Pfeil- und
Speerspitzen aufgetragen und bewirkte, dass sogar bei größeren verwundeten
Tieren wie Flusspferden oder Elefanten die Herztätigkeit schnell abnahm und
der Herzmuskel in kontrahiertem Zustand (Kontraktur) stehen blieb.
Der Wirkungsmechanismus der Herzglycoside auf die Na+ -K+ -ATPase wur-
de 1957 von H. J. Schatzmann am Erythrozyten aufgeklärt. Die Herzglycoside
binden an der Außenseite der Erythrozytenmembran an die a-Untereinheit der
Na+ -K+ -ATPase und hemmen die Dephosphorylierung des Enzyms. Die Bin-
dung der Herzglycoside an der Membran kann durch Kalium verdrängt werden.
Die eigentliche Wirkung der sogenannten Herzglycoside ist jedoch durch zwei
Mechanismen zu erklären. Der erste beruht auf der oben erwähnten Hemmung
der Na+ -K+ -ATPase der Herzmuskelzellen. Durch diese Hemmung sinkt in der
Zelle die Kaliumkonzentration ab. Gleichzeitig steigt die Natriumkonzentrati-
on an. Der zweite Mechanismus bringt auf Grund des erhöhten Natriumgehalts
in der Zelle über einen Na+ -Ca2+ -Austauscher vermehrt Calcium in das Zell-
innere.
Infolge des ersten Mechanismus sinkt das auf der reduzierten Kaliumkonzen-
tration beruhende Membranpotential ab und ein unregelmäßiger Herzrhyth-
mus ist die Folge (Herzarrhythmie). Der zweite Mechanismus führt durch die
erhöhte Calciumkonzentration zum Tod, das Herz bleibt in Kontraktur stehen.
Die Herzglycoside werden in der Medizin als Medikamente eingesetzt, um die
Herzkraft bei Herzkranken zu steigern. Der Mechanismus ist der bei der Ver-
giftung beschriebene, nur wird die Dosis hier niedriger gewählt (Prinzip des
Paracelsus). Entscheidend ist beim Herzkranken die indirekte Steigerung der
Calciumkonzentration, welche die Herzkraft zunehmen lässt.
Eine andere Möglichkeit, die Na+ -K+ -ATPase zu hemmen, beruht auf der
blockierenden Wirkung von Schwermetallen wie Quecksilber- und Blei-
Ionen. Beim Quecksilber wie auch beim Blei steht die große Affinität der
Schwermetalle zu funktionellen SH-Gruppen im Vordergrund. In der Niere
ist die treibende Kraft für die aktive Natriumrückresorption im Nephron die
Na+ -K+ -ATPase. Die Kenntnis der harntreibenden Wirkung von Quecksilber
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 141
geht bereits auf Paracelsus zurück und wird unter anderen Wirkungen des
Quecksilbers mit einer Hemmung der Na+ -K+ -ATPase in der Niere in Verbin-
dung gebracht. 1924 wurden als harntreibende Medikamente organische Queck-
silberverbindungen eingesetzt, die heute wegen ihrer toxischen Wirkung nicht
mehr angewandt werden.
In neuerer Zeit stehen jedoch bei der Quecksilberdiurese die Aquaporine im
Vordergrund. Die Wasserkanäle im proximalen Anteil der Niere werden effektiv
durch Quecksilber blockiert (siehe Kapitel 4.2.5).
Ein weiteres Schwermetall-Ion, das den aktiven Natrium- und Kaliumtrans-
port mit hoher Affinität blockieren kann, ist das Vanadat-Ion. Die Chemie
dieses Ions in wässrigen Lösungen ist äußerst vielfältig durch Polymerisati-
on und Komplexbildung mit Hydroxyl-Ionen und anderen Verbindungen. Das
Vanadat-Ion ist ein Oxometallat des fünfwertigen Vanadiums. Es liegt im phy-
siologischen pH-Bereich unter 100 mM als VO− 3 -Anion (Metavanadat) vor, im
alkalischen Bereich vorwiegend als VO3− 4 -Anion (Orthovanadat). In der Bio-
chemie wird Vanadat als Hilfsmittel eingesetzt, um ATPasen zu klassifizieren.
Alle ATPasen, die phosphorylierte Zwischenverbindungen bilden, werden meist
schon durch Vanadat im mikromolaren Bereich gehemmt, z. B. Metallionen-
pumpen wie die Na+ -K+ -ATPase der Erythrozytenmembran.
Der Grund für diese Hemmung wird in der Ähnlichkeit der Anionen gese-
hen. Danach hat das Phosphatanion, PO3− 4 , chemische Ähnlichkeit mit dem
3−
Vanadat-Anion, VO4 . Mit diesem Modell wird die effektive Hemmwirkung
an der ATP-Phosphorylierungsstelle des Enzyms erklärt (Kapitel 4.1.7, Mi-
mikry). Im Gegensatz zu den Herzglycosiden, die an der Außenseite an der
a-Untereinheit des Enzyms anbinden, erfolgt die Reaktion mit Vanadat an der-
selben Untereinheit, jedoch an der Innenseite der Membran. Um beim intakten
Erythrozyten eine Wirkung auf die Transport-ATPasen zu erzielen, muss das
hydrophile Vanadat-Anion die Membran erst passieren können. Der Transport
des Vanadats in das Zellinnere führt uns zu einem anderen wichtigen Mem-
branprotein, dem Anionentransporter, der auch das Vanadat transportiert.
Diese großen Mengen an CO2 können wegen ihrer viel zu geringen Löslichkeit
im Blut nicht als CO2 zu den Lungen transportiert werden. Im Blut gelöst ge-
langen etwa 8 % als CO2 , der größte Anteil von etwa 81 % als Hydrogencarbo-
nat, HCO−3 , und der Rest an Hämoglobin gebunden als Carbaminoverbindung
zur Lunge.
Das im Zellstoffwechsel gebildete CO2 diffundiert zunächst als physikalisch
gelöstes CO2 aus der Zelle und muss in gleicher Form den Zwischenzellraum
und die Gefäßwände passieren, um schließlich den Erythrozyten zu erreichen.
Die gekoppelten Transportvorgänge von CO2 und O2 sind in der Abbildung
3.11 schematisch wiedergegeben.
Erst in den Erythrozyten wird aus CO2 und H2 O das H2 CO3 gebildet, das
sofort entsprechend dem Dissoziationsgleichgewicht in das Anion HCO− 3 und
ein Proton dissoziiert. Die Reaktion wird im Erythrozyten durch die in großer
Menge vorhandene Carboanhydrase, ein sehr wirksames zinkhaltiges Enzym,
katalysiert (siehe Kapitel 4). Das Proton, das bei dieser Reaktion entsteht, wird
hauptsächlich von Hämoglobin unter O2 -Abgabe gepuffert. An dieser Stelle ist,
wie auch beim umgekehrten Effekt in der Lunge, der O2 -Transport mit dem
CO2 -Transport gekoppelt.
Abbildung 3.11 Schema des CO2 - und des O2 -Transports durch die Erythrozyten. Die Ery-
throzyten sind entsprechend ihrer Form als bikonkave Scheibchen wiedergegeben, mit A ist
der Anionentransporter, mit CA die Carboanhydrase und mit Hb das Hämoglobin bezeichnet.
im allgemeinen 100 bis 1000 mal toxischer als die häufigeren Chrom(III)-
Verbindungen. Dies kann seine Ursache darin haben, dass Chrom(III)-Verbin-
dungen von intakten Zellen kaum aufgenommen werden können. Sind jedoch
die Chrom(VI)-Verbindungen in die Erythrozyten gelangt, so werden sie durch
den Stoffwechsel rasch zu Chrom(III)-Verbindungen reduziert und bleiben als
Kationen in der Zelle gefangen (siehe Kapitel 4.1.7, Mimikry). Ein gleicher
Mechanismus ist auch für Leberzellen beschrieben worden, hier scheint der
Cytochrom P-450-Stoffwechsel an der Umwandlung in das dreiwertige Chrom
beteiligt zu sein. Die Diskussion über die mögliche toxische und besonders
krebserregende Form ist noch nicht abgeschlossen, es erhärtet sich jedoch der
Verdacht, dass in die Zelle eingedrungenes Chrom(VI) bei seiner Reduktion
zu Chrom(III) reaktive Metabolite bildet, die DNA-Addukte erzeugen. Eine
besondere Vorsicht ist im Umgang mit Chromtrioxid, Bleichromat, Calcium-
chromat, Strontiumchromat, Chrom(III)-chromat und Alkalichromaten wegen
ihrer krebsauslösenden Wirkung geboten.
Als ein letztes Beispiel für die Bedeutung des Anionentransporters beim Trans-
port von toxischen Substanzen soll das Arsenat-Anion, AsO3− 4 , dienen. Dieses
Ion besitzt wie das Vanadat eine Ähnlichkeit mit dem Phosphat-Anion, PO3− 4 .
Das Arsenat-Anion benutzt ebenfalls den Anionentransporter als Weg, um in
das Innere der Zelle zu gelangen. Biochemiker haben dieses Molekül eingesetzt,
um den ATP-Gehalt der Zelle schrittweise abzusenken. Ein wichtiger Angriffs-
punkt in der Zelle ist das Enzym Glycerinaldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase
(GAPDH). Dieses Enzym nimmt beim Abbau von Kohlenhydraten (Glyco-
lyse) eine Schlüsselstellung ein, indem es Glycerinaldehyd-3-phosphat zu 1,3-
Bisphosphoglycerat oxidiert und dabei ein anorganisches Phosphatmolekül Pi
in eine energiereiche Bindung überführt, das dann zur ATP-Gewinnung ge-
nutzt wird:
H O O O P
C GAPDH C +
+ H
H C OH + NAD + Pi H C OH +
NADH
H C O P H C O P
H H
Glycerinaldehyd-3-phosphat 1,3-Bisphosphoglycerat
In dieser Reaktion kann das Phosphat-Anion Pi nun durch Arsenat ersetzt wer-
den. Die entstehende Verbindung ist ein sehr labiles Acylarsenat, das schnell
zerfällt und somit die Substratkettenphosporylierung unterbricht.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 145
O
-
O O As O
CO
-
H C OH
H C O P
H
1-Arseno-3-phosphoglycerat
Die Strukturformel für 1-Arseno-3-phosphoglycerat veranschaulicht, dass durch
die Reaktion mit Arsenat kein 1,3-Bisphosphoglycerat zur ATP-Gewinnung
zur Verfügung steht. Aus der Phosphatgruppe im 3-Phosphoglycerat lässt sich
lediglich die zuvor aus ATP stammende Energie wieder zurückgewinnen.
100
% Sauerstoffbindung ohne Lunge
BPG mit
BPG
Bohr-Effekt
50
P50 = 27 mm Hg
0
0 25 50 75 100
Kapillaren
pO2 in mm Hg
Abbildung 3.12 Sauerstoffdissoziationskurven von Hämoglobin in Abhängigkeit vom Sauer-
stoffpartialdruck (pO2 ). In der Lunge liegt der Sauerstoffpartialdruck bei 100 mm Hg und in
Kapillargefäßen von aktiven Muskelzellen bei etwa 20 mm Hg. Das bedeutet, dass hier etwa
70 % des gebundenen Sauerstoffs freigesetzt werden. Als P50 -Wert wird der pO2 -Wert be-
zeichnet, bei dem die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins 50 % beträgt. Normalerweise liegt
dieser Wert bei 27 mm Hg (Kurve mit Kreisen). Der Bohr-Effekt bewirkt, dass die Sauerstoff-
dissoziationskurve nach rechts verschoben wird (Kurve mit Quadraten). Für den arbeitenden
Muskel, der viel CO2 und H + -Ionen produziert, bedeutet dies eine bessere Sauerstoffversor-
gung. Eine besondere Rolle spielt das BPG bei der Sauerstoffbindung, es ist unter normalen
Bedingungen mit etwa 5 mM in der gleichen Konzentration wie Hämoglobin vorhanden. Oh-
ne BPG erfolgt eine starke Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve (Kurve mit
Dreiecken).
schen, die einen genetisch bedingten Mangel dieses Enzyms aufweisen, sind
sehr empfindlich gegenüber methämoglobinbildenden Giften.
Zu den sogenannten Methämoglobinbildnern gehören verschiedene Substanzen,
die man nach dem Mechanismus der Methämoglobinbildung in vier Gruppen,
nämlich in Oxidationsmittel, Substanzen mit gekoppelter Oxidation, autoka-
talytischer Oxidation und Wirkung durch Redoxfarbstoffe unterteilen kann
(siehe Kapitel 8.2.2, Methämoglobinbildner).
Als ein Beispiel für eine gekoppelte Oxidation sollen die Nitrite dienen. Wäh-
rend dieser Oxidation wird unter Bildung von Nitrat Sauerstoff auf Nitrit
148 Kapitel 3 Toxikodynamik
Der Stoffwechsel des Erythrozyten zeigt insofern eine Besonderheit, als ATP
ausschließlich durch Glycolyse gebildet werden kann. Durch den Abbau von
Glukose zu Lactat und Pyruvat gewinnt der Erythrozyt nicht nur Energie in
Form von ATP, sondern auch Reduktionsäquivalente in Form von NADH und
NADPH.
Ein großer Teil des ATP wird für die Na+ -K+ -ATPase-Reaktion zur Kompen-
sation des kolloidosmotischen Drucks verwendet. Die Spezialisierung auf den
Sauerstoff- und CO2 -Transport hat es mit sich gebracht, dass der Erythrozyt
auch besonders anfällig für toxische Prozesse ist. Dabei birgt schon die Kombi-
nation einer hohen Sauerstoffkonzentration mit Eisen als Reaktionspartner ein
hohes toxisches Potential. Deshalb gibt es im Erythrozyten vier verschiedene
Oxidationsschutzmechanismen:
• Die Glutathion-Peroxidase
Eine Selen-haltige Peroxidase, die mit Glutathion (GSH) als Cosubstrat arbei-
tet, entgiftet H2 O2 (Wasserstoffperoxid) im Erythrozyten (Abbildung 3.13).
Bei dieser Peroxidase-Reaktion reagiert H2 O2 mit GSH und wird in 2H2 O
und Glutathiondisulfid (GSSG) überführt. In den Erythrozyten existiert ein
Glutathion-Reductase-Enzym, das unter Verbrauch von NADPH das GSSG in
2 GSH zurückverwandelt.
In den Erythrozyten hat das Tripeptid GSH eine Halbwertszeit von 3 bis 4
Tagen. Es wird dort nicht abgebaut, sondern an das Plasma abgegeben. Im
Erythrozyten erfolgt seine Synthese durch zwei jeweils ATP-abhängige Reak-
tionen aus den Aminosäuren Glutamat, Cystein und Glycin. Der Glutathion-
gehalt des Erythrozyten ist, wie in der Leber, sehr hoch und liegt bei einer
Konzentration von 5 bis 7 mM.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 149
Glucose
Hexokinase
+
Glucose-6--P NADP 2 GSH H2O 2
• Die Methämoglobin-Reduktase
Im Erythrozyten entsteht Methämoglobin ständig durch die Anlagerung von
Sauerstoff an Hämoglobin. Dieser Vorgang wird als Autoxidation bezeich-
net und führt durch die Übernahme eines Elektrons von Eisen zur Bildung
von Methämoglobin und Superoxid-Anion. Die NADH-abhängige Methämo-
globinreductase bewirkt die Umwandlung von Methämoglobin in Hämoglobin,
während die folgende Superoxid-Dismutase das Superoxid-Anion entgiftet.
• Die Katalase
Die Katalase des Erythrozyten spaltet 2 H2 O2 in 2H2 O und O2 . Außer dieser
Entgiftungsreaktion oxidiert die Katalase auch metallisches Quecksilber (Hg◦ )
und giftet es hierdurch zu zweiwertigem Quecksilber (Hg2+ ).
Neben dem ausgeprägten Oxidationsschutz stellt die direkte Beeinflussung des
Sauerstofftransportes durch das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) eine weitere
Besonderheit des Erythrozytenstoffwechsels dar. Erythrozyten führen die Syn-
these des BPG und seinen Abbau auf einem Nebenweg des Glycolysestoffwech-
150 Kapitel 3 Toxikodynamik
Auf Grund der typischen EEG-Muster bei der Narkose wurden die an der
Gehirnoberfläche registrierten Potentiale zur Kontrolle der Narkosetiefe einge-
setzt.
Die Beobachtung, dass die Erregbarkeit von Nerven auf elektrischen Vorgängen
beruht, geht auf Luigi Galvanis berühmt gewordene Kontraktionsexperimente
an Froschmuskel-Nerven-Präparaten durch Elektrizität im Jahr 1789 zurück.
Inzwischen kann man Nervenzellen und andere Zellen mit Mikroelektroden
anstechen und Potentialdifferenzen zwischen Innen- und Außenraum messen.
Nervenzellen besitzen unter Ruhebedingungen eine Potentialdifferenz über die
152 Kapitel 3 Toxikodynamik
Zellmembran hinweg, wobei sich das Zellinnere negativ gegenüber der Zellau-
ßenseite verhält. Übereinkunftsgemäß wird das sogenannte Ruhe-Membran-
Potential mit negativem Vorzeichen geschrieben. Die gemessene Potentialdif-
ferenz entspricht in erster Näherung dem Diffusionspotential, welches durch
den vorliegenden Kaliumkonzentrationsgradienten an der Membran hervorge-
rufen wird (Nernst´sches Diffusionspotential):
RT C2
EmV = ln
zF C1
4mMKalium außen
EKalium = 61 · log = − 94mV
140mMKalium innen
145mMNatrium außen
EKalium = 61 · log = + 66mV
12mMNatrium innen
Der einmal ausgelöste Reiz läuft entlang des Nerven mit konstanter Geschwin-
digkeit bis zu dessen Ende ab. Nerven sind keine elektrischen Kabel, die wie ein
Kupferdraht die Elektrizität mit 300 · 106 m pro Sekunde leiten. Der Vergleich
mit einer Zündschnur ist eher zutreffend. Tabelle 3.4 gibt eine Übersicht über
die verschiedenen Nervenfasertypen, ihre Durchmesser, Leitungsgeschwindig-
keiten, Spitzenpotentialdauer und die absoluten Refraktärperioden (Nichter-
regbarkeitszeiten).
scher Blocker ist das Saxitoxin von marinen Dinoflagellaten (Flagellaten, Gei-
ßeltierchen). Dieses Gift wird von filtrierenden Muscheln so stark angereichert,
dass der Gehalt einer einzelnen Muschel an Saxitoxin etwa 50 Menschen töten
kann. Die spezifische Wechselwirkung dieser Substanzen mit den Proteinen des
Natriumkanals wurde zur Reinigung der Natriumkanalproteine benutzt.
Lange Zeit bevor diese spezifischen Gifte bekannt geworden sind, hat man
in der Medizin und in der Zahnmedizin die Blockade der Erregungsleitung
benutzt, um dem Patienten bei einem operativen Eingriff, wie z. B. beim
Vernähen einer Wunde oder beim Bohren in einem Zahn, Schmerzen zu er-
sparen. Dazu werden die Lokalanästhetika verwendet. Sie bewirken einen loka-
len, reversiblen toxischen Effekt an dem mit einer feinen Kanüle umspritzten
Nerven, nämlich am spannungsabhängigen Natriumkanal. Die Erfindung der
Lokalanästhesie geht auf das Jahr 1884 zurück, als man das Cocain, ein Alka-
loid aus Erythroxylon coca, zum erstenmal bei einer Augenoperation zu diesem
Zweck verwendete.
Im Jahre 1905 gelang es in vorbildlicher Weise, das wichtige Wirkungsprin-
zip der Lokalanästhesie von den unerwünschten suchtmachenden Effekten des
Cocains zu trennen und auf eine synthetische Verbindung zu übertragen. Die
erste Verbindung war das auch heute noch für die Lokalanästhesie benutzte
Procain.
Gegenüber der blockierenden Wirkung der Lokalanästhetika sind die verschie-
denen Nervenfasern unterschiedlich empfindlich. Dünne Nervenfasern werden
eher gehemmt als dicke. So wird verständlich, dass die dünnen, schmerzleiten-
den (sensiblen) C-Fasern mit einem Durchmesser von 0,4 bis 1,2 mm (Tabelle
3.4) vor den zu einem Erfolgsorgan, z. B. einem Muskel, ziehenden (motori-
schen) Aa-Fasern mit einem Durchmesser von 12 bis 20 mm ausfallen.
In Bezug auf das Gehirn kann man die Nervenbahnen in efferente (heraus-
fahrende) und afferente (zufahrende) Bahnen einteilen. Man spricht von mo-
torischen und sensorischen Nerven, je nachdem, ob diese Bahnen Bewegung
oder Empfindung vermitteln. Die zu den Drüsen ziehenden efferenten Bahnen
werden als sekretorisch bezeichnet. Eine weitere Gliederung ist die Untertei-
lung in das autonome oder vegetative, der Willkür nicht unterworfene, und das
somatische (willkürliche) Nervensystem.
Abbildung 3.14 Schema eines synaptischen Spalts. Acetylcholin (ACh) wird aus Cholin und
Acetyl-Coenzym A (AcCoA) synthetisiert und in Vesikeln gespeichert. Bei einem Nervenreiz
erfolgt eine Freisetzung in den synaptischen Spalt, wo Acetylcholin mit dem Rezeptor (R)
reagiert und durch die Acetylcholinesterase (AChE) in Acetat (Ac) und Cholin gespalten
wird.
Das Botulinustoxin, ein Gemisch von acht Proteinen von 135 bis 170 kD,
gilt als das stärkste bekannte Gift (vgl. Tabelle 1.2). Es wird von dem anae-
roben Clostridium botulinum (anaerobes Bakterium) gebildet. Seine Wirkung
beruht darauf, dass es den Freisetzungsmechanismus des Acetylcholins aus
den Vesikeln in den synaptischen Spalt blockiert. Die Folge sind Acetylcholin-
mangelsymptome, die denen einer Atropinvergiftung sehr ähnlich sind: star-
ke Pupillenerweiterung, Doppelsehen, Sprach- und Schluckstörungen, Muskel-
schwäche, Atemnot und Krämpfe. Im Gegensatz zum Botulinustoxin bewirkt
das Gift der Schwarzen Witwe, einer Giftspinne, eine vermehrte Acetylcholin-
ausschüttung in den synaptischen Spalt auf Grund einer Calciummobilisation
in die Nervenendigungen, die eine vermehrte Vesikelentleerung zur Folge hat.
Die Synapsen, die Acetylcholin als Transmitter benutzen, unterscheiden sich
bezüglich der jeweilig unterschiedlichen Rezeptoren (Abbildung 3.15).
H3C CH3
+
H3C O N
C CH2 CH CH3
2
O
Acetylcholin
N
Nicotin
Abbildung 3.15 Acetylcholinrezeptoren mit ihren Wirksubstraten, nach denen die Benen-
nung in muskarinisch und nicotinisch erfolgt. Die muskarinischen Rezeptoren werden in
Untertypen von M1 bis M5 eingeteilt.
158 Kapitel 3 Toxikodynamik
Die erste Gruppe der Acetylcholinrezeptoren in der Abbildung 3.15 sind die
muskarinischen, die wegen ihrer Erregbarkeit durch Muskarin m-Acetylcholin-
rezeptoren genannt werden. Es gibt verschiedene Untertypen dieser Rezepto-
ren, welche die Bezeichnung M1 bis M5 , tragen.
Das Herz besitzt vorwiegend M2 -Rezeptoren, über welche die Herzverlang-
samung und die Abnahme der Herzkraft gesteuert wird. Die nicotinischen
Rezeptoren umfassen zwei Gruppen von n-Acetylcholinrezeptoren. Die erste
Ganglien-Gruppe hat Transmitterfunktion innerhalb der Nervenverbindung,
und die zweite ist für die Transmission vom Nerv auf die Skelettmuskeln ver-
antwortlich.
Eine Unterteilung der Acetylcholinrezeptoren ist auch, wie in Abbildung 3.16
gezeigt, durch relativ selektive Inhibitoren möglich.
Dabei hat Atropin, ein Alkaloid der Tollkirsche (Atropa belladonna), in nied-
riger Konzentration bevorzugt kompetitive Hemmwirkung auf die m-Acetyl-
cholinrezeptoren. Bereits Loewi benutzte es in seinem berühmt gewordenen
Herzversuch, um die Wirkung seines Vagusstoffes“ zu antagonisieren. Der
”
Name Atropin stammt von dem botanischen Systematiker Carl von Linné, der
Atropa belladonna nach der dritten griechischen Schicksalsgöttin, Atropos, be-
nannte. Die erste Parze (Göttin) ist Klotho, die Spinnerin des Lebensfadens,
die zweite Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und die dritte Atropos, die
Todes-Göttin, die den Lebensfaden abschneidet. 15 bis 20 Beeren der Toll-
kirsche können für einen Erwachsenen tödlich sein, für Kinder schon wenige
Beeren.
Die beiden nicotinischen n-Acetylcholinrezeptoren können durch ihre Inhibi-
toren unterschieden werden. Dabei ist Hexamethonium
(CH3 )3 N+ -(CH2 )6 -N+ (CH3 )3
ein starker Inhibitor für den nicotinischen Rezeptor in den Ganglien. Die soge-
nannte Polymethylen-Bismethonium-Verbindungsreihe, zu der auch das Hexa-
methonium gehört, wurde bei SAR-(structure activity relationship)-Studien
zur Charakterisierung von nicotinischen Rezeptoren erfolgreich verwendet:
(CH3 )3 N+ -(CH2 )n -N+ (CH3 )3 .
Die Anzahl der CH2 -Gruppen zwischen den beiden kationischen Stickstoffato-
men bestimmt die spezifische Wirkung am Rezeptor. Eine Verlängerung der
Zwischenglieder auf n = 10 (Dekamethonium) bewirkt, dass die Ganglien-
blockade verschwindet, dafür aber die Blockade der Muskelkontraktion einen
maximalen Wert erreicht.
Mit zehn CH2 -Zwischengliedern wird der gleiche molekulare Abstand zwischen
den beiden kationischen Zentren erreicht, der auch im Curare-Molekül zwi-
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 159
Acetylcholin
O
CH3 H3C
N + CH3
H3C CH3 N
+ HO CH3
N
H CH3 O CH2
O
O C
C OH
H3C CH2
HOCH2 + O
N
H
H3C CH3 +
N
H3C
CH3
O
Atropin Hexamethonium Curare
(Inhibitor) (Inhibitor) (Inhibitor)
schen den beiden Stickstoffatomen vorhanden ist. Dieser Abstand ist also für
das Anbinden am Rezeptor von großer Bedeutung. Curare hemmt mit hoher
Affinität die Wirkung des Acetylcholins an dem nicotinischen Rezeptor, der
im synaptischen Spalt an der postsynaptischen Membran des Muskels lokali-
siert ist. Soll die Wirkung von Curare aufgehoben werden, so muss für einen
Überschuss an Acetylcholin im synaptischen Spalt gesorgt werden.
Acetylcholin den Rezeptor erregt hat, so muss es innerhalb kurzer Zeit abge-
baut werden, damit der Rezeptor wieder frei für die nächste Erregung wird
(Abbildung 3.14). Die Acetylcholin-Esterase, welche die Spaltung von Acetyl-
cholin in Acetat und Cholin bewirkt, wurde 1938 von David Nachmansohn
entdeckt.
Im synaptischen Spalt ist das Enzym von einem Netzwerk aus Kollagen und
Glycosaminoglycan an die postsynaptische Membran gebunden und kann ver-
hältnismäßig leicht vom benachbarten Acetylcholinrezeptor abgetrennt wer-
den. Eine hervorstechende Eigenschaft des Enzyms ist seine hohe Wechselzahl
von 25 000 s−1 , die bedeutet, dass ein Acetylcholinmolekül in 40 Mikrosekun-
den gespalten wird. Diese enorm hohe Wechselzahl ist notwendig, damit der
Acetylcholinrezeptor wieder erregt werden kann. Synapsen können bis etwa
1 000 Impulse pro Sekunde übermitteln, dies ist jedoch nur möglich, wenn die
Regenerationszeit einen Bruchteil einer Millisekunde beträgt.
Zur Aufrechterhaltung des normalen Tonus (Spannung) der glatten Muskula-
tur und der Skelettmuskulatur wird an den synaptischen Spalten der Muskeln,
vorwiegend durch zentral ausgelöste Erregungen, ständig Acetylcholin freige-
setzt und sofort von der Acetylcholin-Esterase gespalten.
Der katalytische Mechanismus der Acetylcholinesterase ist sehr ähnlich dem
der Peptidspaltung durch Chymotrypsin. Das Acetylcholin reagiert spezifisch
mit einem Serin-Rest am aktiven Zentrum des Enzyms (Abbildung 3.17).
Bei der Reaktion ensteht eine Acyl-Zwischenverbindung, die sehr schnell zu
Säure und Alkohol hydrolysiert wird. Das anionische Zentrum, welches das
positiv geladene Stickstoffatom des Acetylcholins bindet, ist die negativ gela-
dene Carboxyl-Gruppe der Aminosäure Asparagin oder Glutamin.
Hemmt man dieses Enzym und damit die Veresterung des Acetylcholins, so
steigt der Tonus der glatten Muskulatur und der Skelettmuskulatur an. Ei-
ne solche Hemmung bewirkt z. B. das Physostigmin, ein Alkaloid aus dem
Samen der Kalabarbohne.
Diese Früchte wurden auch als Gottesurteil-Bohnen bezeichnet, weil sie von
den Eingeborenen in Westafrika Schuldverdächtigen verabreicht wurden. Ein
tödlicher Ausgang nach der Einnahme bewies dann die Schuld.
Die größte Gefahr ist die Hemmung der Herzfunktion, wobei die Abnahme der
Frequenz und der Herzkraft im Vordergrund stehen. Es kommt weiter zu Pu-
pillenverengung, Ansteigen des Pulses und des Blutdrucks, Schweißausbruch,
Speichelsekretion, Tränensekretion, Muskelflattern, Erbrechen, Auftreten von
Koliken und Durchfällen sowie zu einer Kontraktion der Bronchien mit Atem-
not.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 161
CH3 O
+
Bindung H3C N CH2 CH2 O C CH3
CH3
H O Ser
-
O O
C esteratisches
N Zentrum
Asp
anionisches His
HN
Zentrum
Acetylcholinesterase CH3
CH3 OH
+
H3C N CH2 CH2 O C
Umesterung OH
CH3 CH3
OH CH3
+
H3C N CH2 CH2 Ablösung Hydrolyse
O C
CH3 -
H O Ser
O Ser -
O O O O
C esteratisches C esteratisches
N Zentrum N Zentrum
Asp Asp
His anionisches His
anionisches HN HN
Zentrum Zentrum
Acetylcholinesterase Acetylcholinesterase
Abbildung 3.17 Vereinfachtes Schema der Esterspaltung des Acetylcholins durch die serin-
haltige Acetylcholin-Esterase. Das esteratisches Zentrum ist mit Serin (Ser) und Histidin
(His) als funktionelle Aminosäuren und dem anionischen Zentrum mit Asparagin (Asp)
dargestellt. Der Vorgang der Esterspaltung besteht in: Bindung des quartären Stickstoff an
das anionische Zentrum, Umesterung der Acetyl-Gruppe vom Cholin auf die OH-Gruppe
eines Serin-Restes im esteratischen Zentrum und Ablösung des Cholins sowie Hydrolse
des Serin-Essigsäurerestes.
H5C2 O O CH3
P H3C CH O O
H3C N C N P
CH3 H3C F
Tabun Sarin
Diethyl-4-nitrophenylphosphat (Paraxon)
Cl
CH3O S
P
CH3O O Br 4
Cl
Dimethyl-2,5,-dichlor-4-bromphenylthiophosphat (Bromophos)
C2H5O S
P
C2H5O O NO 2 10
CH3O O
P
CH3O O CH CCl2 70
Dimethyl-2,2-dichlorvinylphosphat (Dichlorvos, DDVP)
H3CO S
P O H
H3CO S CH2 C N 300
CH3
Dimethyl-S-methyl-carbamoylmethyldithiophosphat (Dimethoat)
O
+
N C N + HO P OR1
CH3 OR2
O
+
N CH N O P OR1
CH3 OR2
Pralidoxim
H OR 1
+
N C
N O P OR 2
CH3 - O
- -
O O O Ser O O
- O Ser
C esteratisches C esteratisches
N Zentrum N Zentrum
Asp Asp
His anionisches His
anionisches HN HN
Zentrum Zentrum
Acetylcholinesterase Acetylcholinesterase
Abbildung 3.19 Mechanismus der Dephosphorylierung des aktiven Zentrums der Acetylcholi-
nesterase durch nukleophilen Angriff von Pralidoxim. Das Phosphoryloxim zerfällt zum Nitril
und zur ungiftigen Dialkylphosphorsäure.
Spezielle Toxikologie
4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
4.1.1 Einführung
Eine erste Information über die Toxikologie der Schwermetalle und Metalloide
soll das Periodische System der Elemente in Abbildung 4.1 vermitteln.
Abbildung 4.1 Periodisches System der Elemente mit etwa 80 Metallen. Die Schwermetalle
mit ausgesprochen toxischen Wirkungen auf den Organismus, wie Cadmium, Quecksilber,
Thallium und Blei, sowie das Metalloid Arsen sind durch ein Kreuz gekennzeichnet. Die
Metalloide sind hellgrau markiert und der Bereich der Nichtmetalle ist dunkelgrau gefärbt.
Alle radioaktiven Metalle sind kursiv geschrieben.
170 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Unter den über 80 Metallen sind mit einem schwarzen Kreuz die Schwerme-
talle markiert, die im Organismus besonders toxisch wirksam sind. Unter den
Metalloiden interessiert in dieser Hinsicht besonders das Gift Arsen. Die bio-
logischen und toxischen Eigenschaften der Schwermetalle einschließlich Arsen
werden ausführlich behandelt.
4.1.2 Geschichte
Durch das natürliche Vorkommen von Schwermetallen in der Erdkruste und
im Wasser sind Lebewesen diesen Metallen immer ausgesetzt gewesen. So
führten wahrscheinlich hohe lokale Konzentrationen in bestimmten geogra-
phischen Arealen mit der Wasser- und Nahrungsaufnahme zu den ersten Ver-
giftungsfällen. Die Freisetzung von Schwermetallen aus Küchengebrauchsge-
genständen und Zivilisationseinrichtungen wie Bleirohren für die Wasserleitung
erhöhten dabei das natürliche Risiko einer Vergiftung.
Historisch gesehen ist Blei eines der am weitesten verbreiteten und am mei-
sten persistierenden Metalle, das vom Menschen entdeckt und nutzbar gemacht
wurde. Wahrscheinlich dienten primitive Öfen dazu, das Metall aus seinen Er-
zen zu schmelzen. Abbildung 4.2 zeigt einen historischen Ablauf der Bleipro-
duktion von 3000 v. Chr. an bis zur heutigen Zeit. Die große Zeitachse lässt
nur angedeutet erkennen, dass die Bleiproduktion in den letzten Jahren nicht
mehr zugenommen hat. Dies ist besonders dem Umstand zu verdanken, dass
Tetraethylblei nicht mehr als Antiklopfmittel dem Kraftfahrzeugbenzin zuge-
setzt wird. Außerdem wird Blei rezyklisiert. Damit ist der letzte steile Anstieg
der Bleiproduktion zum Stillstand gekommen.
Die leichte Gewinnung und Verarbeitung sowie seine Korrosionsbeständigkeit
hat Blei zu einem unentbehrlichen Gebrauchsmetall werden lassen. Nachweis-
bar benutzten die Ägypter bereits 7000 bis 5000 v. Chr. Bleiglasuren für ihre
Töpferwaren und die erste Bleifigur aus der oberägyptischen Stadt Abydos
wird auf das Jahr 3800 v. Chr. datiert. Die Ägypter verwendeten Blei als Hau-
er, Anker und Wassertiefenlot. Mit dem Kuppelationsverfahren lief die Blei-
und Silbergewinnung parallel. Bei der Kupellation (Treibarbeit) wird erhitztes
Rohmetall mit Luft behandelt, um das unedlere Blei vom Silber zu trennen.
Der erste steile Anstieg der Bleiproduktion war mit der Entwicklung der Grie-
chischen Staaten und des Römischen Reiches verbunden. Zur Blütezeit des
Römischen Reiches wurden Bleirohre als Hauswasserleitungen benutzt. Aber
nicht nur das Trinkwasser, sondern auch Kochgeschirre waren bleihaltig.
Eine alte griechische Vorschrift sah das Eindicken von Weintrauben in bleiüber-
zogenen Töpfen oder Bronzekesseln mit Bleiauskleidung vor. Der so über Feuer
eingedickte Weintraubensirup hatte den Namen Sapa und war über einen lan-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 171
7
10 10
Weltbleiproduktion in kg 4
10 9
5
6
3
10 8
2
10 7
1
10 6
10 5
-3000 -2000 -1000 0 1000 2000
Jahre vor und nach Chr.
Abbildung 4.2 Weltbleiproduktion. 1: Beginn der Kupellation (Treibearbeit zur Trennung
von Blei und Silber). 2: Erste Periode der Bronzezeit. 3: Das Münzwesen wird eingeführt,
mit der Bleiproduktion kommt es zur Koproduktion von Schmuck- und Münzmetallen (Sil-
ber und Gold). 4: Blüte des Römischen Reiches. 5: Niedergang des Römischen Reiches. 6:
Silberbergbau in Europa, spanische Ausbeutung von Blei-Silber-Minen in der Neuen Welt. 7:
Einführung des Tetraethylbleis in den USA, (nach Patterson et al. 1975).
gen Zeitraum haltbar. Die Konservierung des Sapa war dem hohen Gehalt an
herausgelöstem Bleiacetat (Bleizucker) zu verdanken, welches einen Befall mit
Bakterien und Pilzen wirksam verhinderte.
Errechnete Konzentrationen an Bleiacetat im Sapa sind äußerst hoch, sie wur-
den mit 0,2 bis 1 g/Liter angegeben. Da Sapa besonders von den Aristokraten
zum Süßen des Weines und der Speisen verwendet wurde, schätzt man bei
ihnen eine hohe nahrungsbedingte Zufuhr von etwa 250 mg Pb/Tag. Wesent-
lich gesünder lebten dagegen die Sklaven und Plebejer, die nur 15 bzw. 35 mg
Pb/Tag zu sich nahmen, was in etwa der heutigen täglichen Bleizufuhr mit
Nahrungsmitteln entspricht (USA 1980: 30 – 50 mg/Tag, Deutschland heute
zwischen 0,5 – 30 mg/Tag).
Der Untergang des Römischen Reiches ist von einigen Autoren mit der hohen
täglichen Bleizufuhr in Verbindung gebracht worden. Ein Teelöffel Sapa täglich
würde unweigerlich zu einer chronischen Bleivergiftung führen. Sapa wurde
nicht nur zum Süßen von Speisen, wie es aus dem Kochbuch des Apicius (Mar-
172 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
cus Gavius Apicius, ein sprichwörtlicher Schlemmer, der zur Zeit des Augustus
und Tiberius lebte) hervorgeht, sondern auch als Zusatz zur Verbesserung des
Geschmack des Weines eingesetzt.
Der geschätzte Genuss von etwa 1 bis 5 Liter Wein pro Tag bei den römischen
Aristokraten hat hauptsächlich zur Vergiftung beigetragen. Als deren Folge
traten subjektive Symptome der Bleivergiftung wie Schwächegefühl, Ap-
petitlosigkeit, Magendruck, Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit und Müdig-
keit auf. Objektive Symptome sind Abmagerung, Darmkoliken, schmerz-
hafte Verstopfung, Schwäche der Streckermuskulatur am Arm, Tremor (Zit-
tern), Blutarmut (Anämie), Impotenz beim Mann und Ausbleiben der monat-
lichen Regelblutung bei der Frau sowie Fehlgeburten. Dazu kommt es zu einer
Encephalopathia saturnina (Encephalopathia = Schädigung des Gehirns;
saturnus, alchimistische Bezeichnung für Blei) mit Leistungs-, Verhaltens-,
Wahrnehmungs- und Gedächtnisstörungen, Intelligenzminderung, sowie de-
pressiver und feindlicher Verhaltensweise. Vielleicht erklären solche mentalen
Schädigungen die Unmenschlichkeiten des als wahnsinnig bezeichneten Nero
und des grausamen Caligula. Nicht nur Fehlverhalten mit Fehlentscheidun-
gen bei den Aristokraten, sondern auch die bleibedingten Fertilitätsstörungen
haben wahrscheinlich ganz wesentlich zum Untergang des Römischen Reiches
beigetragen.
Zwischen 1550 bis 1750 wurden von den spanischen Eroberern die Blei-Silber-
Minen in Mexiko und Peru ausgebeutet, so dass die Bleiproduktion fast den
Höchststand zur Zeit des Römischen Reichs erreichte. Mit der industriellen
Revolution erfolgte dann ein weiterer steiler Anstieg.
Ein trauriges Ende nahm eine der bestausgerüsteten Schiffsforschungsreisen,
die durch eine neue Erfindung tödlich getroffen wurde. Im Mai 1845 startete
von Greenwich unter der erfahrenen Führung von Sir John Franklin eine Po-
larexpedition mit zwei Schiffen und 129 Mann Besatzung, um die sogenannte
Nordwestpassage zu erkunden. Bereits im ersten Winter starben drei Expedi-
tionsmitglieder im jugendlichen Alter von 20, 32 und 25 Jahren. Im Frühjahr
1848 mussten die beiden eisenbewehrten Schiffe im Eis der Antarktis aufgege-
ben werden und die Besatzung, eine ausgesuchte Elite der Royal Navy, kam
letztlich auf dem Weg zur rettenden Zivilisation ums Leben.
Es stellte sich zunächst so dar, dass durch die Erfindung der Blechdose die
mit Nahrungskonserven reichlich ausgestattete Polarexpedition problemlos für
einen langen Zeitraum versorgt worden war. Die Dosen wurden aus verzinn-
tem Eisenblech hergestellt, das um eine zylindrische Form gebogen wurde.
Beiderseits über die gesamte Höhe des Zylinders bekam die Dose eine dicke
Lötschicht. Beim Zusammensetzen der Dose wurde zuerst der Dosendeckel mit
dem Einfüllloch angebracht und von innen verlötet, dann wurde der Boden
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 173
Der Kontakt des Bleis mit der eingeschlossenen Nahrung in den Dosen verur-
sachte bei der Besatzung eine Bleivergiftung. Beweise dafür waren die Haare
der drei jugendlichen Expeditionsmitglieder, die nach mehr als 140 Jahren aus
ihren Gräbern im Permafrost der Antarktis exhumiert worden waren. Die Tat-
sache, dass Blei in hoher Konzentration, um mehr als das Zwanzigfache über
dem Normalwert, in Scheitel- und Nackenhaaren gefunden worden war, bedeu-
tete, dass die Vergiftung erst auf der Reise eingetreten war und nicht schon
zu Hause erfolgt sein konnte. Man hat errechnet, dass jeder Expeditionsteil-
nehmer jeden zweiten Tag ein Pfund an konservierter Nahrung erhielt, was zu
einer ständigen erheblichen Aufnahme von Blei führte.
Die Bleivergiftung führte nicht nur zum Schwinden der Körperkräfte, son-
dern drückte sich auch in der zunehmenden Verzweiflung der Mannschaft
aus. Störungen des peripheren und zentralen Nervensystems, Appetitlosigkeit,
Müdigkeit, Schwäche und Koliken sind wie bereits erwähnt einige Symptome
der Bleivergiftung. Möglicherweise wirkte sich die Beeinträchtigung der Ge-
hirntätigkeit am verheerendsten aus. Erst 1890 wurde in England das Verlöten
von Konservendosen auf der Innenseite durch Gesetz verboten.
Eine weitere Erfindung in den USA verursachte sogar weltweite gesundheitliche
Folgen. Im Jahre 1921 erfand man in den Kettering Research Laboratories von
General Motors das Tetraethylblei als Antiklopfmittel bei Verbrennungsmo-
toren. Bereits 1923 wurde in Ohio das erste tetraethylbleihaltige Benzin ver-
kauft. Schon damals war bekannt, dass sowohl Tri- als auch Tetraethylbleiver-
bindungen außerordentlich toxisch sind. In den nächsten 17 Monaten erfolgten
174 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
bei der Produktion und beim Umgang mit diesem tetraethylbleihaltigen Ben-
zin 139 schwere Vergiftungen und 13 Todesfälle. Trotz der Giftigkeit nahm
die Produktion von 37 000 Tonnen im Jahre 1935 auf 279 000 Tonnen Tetra-
ethylblei im Jahre 1970 in den USA ständig zu. Der Gipfel in der gesamten
westlichen Welt von 377 000 Tonnen wurde im Jahre 1971 erreicht, das ent-
spricht etwa 10 % der Weltbleiproduktion pro Jahr (siehe auch Seite 208).
Das Tetraethylblei im Benzin zersetzt sich zwischen 100 und 200 °C. Durch
einen weiteren Zusatz von 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan im Benzin
wird das freigesetzte Blei in Bleihalide (PbBrCl) umgesetzt, um die Motoren
vom Blei zu reinigen. Aus dem Auspuff kommen dann kleinste Bleipartikel
heraus, die zu 60 % mit einem Durchmesser von weniger als 2 mm bis in die
kleinsten Lungenbläschen eindringen können. 1973 wurde in den USA festge-
stellt: 90 % des Bleis in der Luft stammt aus den Autoabgasen.
Tabelle 4.1 Anzeichen einer toxischen Bleibelastung anhand eines Blutbleispiegels von mehr
als 40 µg Blei/100 ml Blut bei Kindern (0 bis 5 Jahre), Frauen und Männern in verschie-
denen Gebieten der USA. Angaben in %, – = keine Angabe. Daten aus: Position on Health
Effects of Airborne Lead by the Environmental Protection Service USA 1972.
Tabelle 4.1 zeigt die dramatische Situation der Bleibelastung in den USA von
1972. Dies galt auch für andere Großstädte in der westlichen Welt. Bereits
bei 20 mg Blei/100 ml Blut ist die d-Aminolaevulinsäure-Dehydrase, ein Enzym
der Hämoglobinsynthese, zu etwa 50 % gehemmt. Die Bleibelastung gefährdet
Kinder in stärkerem Ausmaß als Erwachsene. Bei Kindern erfolgt neben der
Aufnahme von Blei durch die Lungen eine besonders hohe Aufnahme durch
den Darm. So nehmen Kinder zwischen 2 Monaten und 6 Jahren sogar bis 50 %
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 175
des Bleis aus dem Darm auf. Im Vergleich nimmt der Erwachsene nur 5 bis
10 % auf. Am stärksten betroffen vom Blei waren die Straßenkinder, die direkt
den Autoabgasen ausgesetzt waren. Die schwerwiegensten Folgen waren dabei
mentale Schäden, die zu Gedächtnis-, Konzentrations- und Leistungsschwäche
führten bis hin zur Enzephalopathie, welche bei Kindern eher auftritt als bei
Erwachsenen. Den ersten Berichten nach hatten bereits Blutbleikonzentratio-
nen zwischen 20 und 30 mg/100 ml einen negativen Einfluss auf den IQ, die
Lernfähigkeit und das Verhaltensmuster von Kindern.
Unter dem Druck amerikanischer Familien, ihre Kinder vor dem Blei zu schüt-
zen, wurde per Gesetz stufenweise das Tetraethylblei im Benzin von anfangs
2,65 g/Gallone (0,7 g/Liter) auf 0,58 g/Gallone (0,15 g/Liter) reduziert. Außer-
dem kam 1974 das erste Auto mit einem Platinkatalysator auf den Markt, das
kein Blei im Benzin mehr zuließ. 1976 mussten alle Neuwagen in den USA mit
einem Katalysator ausgerüstet werden. Diese Maßnahmen waren so effektiv,
dass mit der Absenkung des Bleis im Benzin eine signifikante Abnahme des
Durchschnittsbleigehaltes im Blut registriert wurde.
Abbildung 4.3 zeigt den parallelen Verlauf von Bleireduktion im Benzin und
dem durchschnittlichen Blutbleispiegel. Dies ist das bedeutende Ergebnis des
Second National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES II).
”
NHANES II ist representativ für die gesamte amerikanische Bevölkerung im
Alter zwischen 6 Monaten und 74 Jahren. In dem kurzen Zeitraum zwischen
1976 und 1980 wurde eine Absenkung des Blutbleispiegels von 15,8 auf 10 mg
Blei/100 ml Blut festgestellt.
Diese Untersuchungen lieferten den eindeutigen Beweis dafür, dass Tetraethyl-
blei im Benzin der Verbrennungsmotoren der wichtigste Verursacher der Blei-
vergiftung sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern ist.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1988 der Zusatz von Tetra-
ethylblei zum Benzin vollständig verboten. Von Mitte der siebziger Jahre bis
zum Jahre 2002 ist der durchschnittliche Blutbleispiegel von über 14 mg/100
ml auf unter 5 mg/100 ml gesunken. Bei Kindern, die nach dem Bleiverbot
geboren worden sind, liegt der Bleispiegel bei unter 3 mg/100 ml, so dass von
dieser Seite keine Defizite in der Intelligenzentwicklung im Kleinkindalter zu
erwarten sind.
Abbildung 4.3 Auswirkungen der Bleireduzierung im Benzin und der Einführung bleifreien
Benzins auf den durchschnittlichen Bleigehalt des Blutes in mg Blei/100 ml. Durch diese
Maßnahmen wurde in der kurzen Zeitspanne von Februar 1976 bis Februar 1980 bei der
amerikanischen Bevölkerung der Bleispiegel im Blut um 37 % gesenkt (NHANES II).
Abbildung 4.4 Profilausschnitt aus dem Stadtbereich Marburg. Die schwarzen Säulen ge-
ben die gemessenen Bleispiegel in ppm (0,1 – 0,2 m Bodentiefe) und die offenen Säulen
die Anzahl der Kraftfahrzeuge/24 Stunden wieder. Die Bleispiegel korrelieren nicht mit der
Verkehrsdichte, sondern das lokale Windfeld ist entscheidend für die Bleianreicherung in
straßennahen Böden. Aus: K. H. Müller, Der Bleigehalt innerstädtischer Böden als Maß für
die Entsorgung von Kraftfahrzeug-Abgasen, Naturwissenschaften 66, 108–109, 1979.
Ein langsamer Anstieg auf 0,011 mg/kg konnte bis 1753 zu Beginn der indu-
striellen Revolution registriert werden, er verdreifachte sich jedoch bis 1815
und verdoppelte sich weiter bis zum Jahr 1933. Von 1933 bis 1965 stieg er
dann steil auf über 0,20 mg/kg an. Jahreszeitliche Schwankungen zeigten im
Winter etwa die doppelte Konzentration an Blei im Schnee als im Sommer.
Die Einführung des Tetraethylbleis wie auch seine Verbannung aus dem Benzin
spiegelte sich ebenfalls anhand der Bleiablagerung im Eis der Polkappen wider.
Dies zeigt, dass die Bleibelastung der Umwelt nicht nur im Blut der Menschen,
sondern sogar an weit entfernten Orten bedingt durch den atmosphärischen
Transport nachzuweisen ist.
Metalle werden als atmophil bezeichnet, wenn ihr Massentransport zum Meer
in der Atmosphäre größer ist als in den Flüssen. Zu solchen gehören die
B-Metalle (weiche Säuren, Klassifikation nach dem Konzept der harten und
weichen Säuren, Peason 1963) und Zwischenstufen zwischen weich und hart wie
178 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Fische, Schalentiere
bakterielle
Sediment Aktivität
Hg++
Abbildung 4.6 Quecksilberkreislauf. Das Hg ++ im Sediment stammt aus der Natur und ist
auf anthropogenen Eintrag zurückzuführen. Durch bakterielle und abiotische Aktivitäten im
Sediment wird Hg ++ in organische Quecksilberverbindungen (Methyl- und Dimethylquecksil-
ber sowie Dimethylquecksilbersulfid) umgewandelt. Diese Verbindungen zeichnen sich durch
eine hohe Lipophilie, Flüchtigkeit und große Toxizität aus. Die Lipophilie ist für den Trans-
port in der Nahrungskette verantwortlich und die hohe Flüchtigkeit für den Eintritt in die
Atmosphäre.
• Nicht-Häm-Eisen-Proteine:
Transferrin (77 kDa, 2 Fe3+ ), Ferritin (440 kDa, ca. 4500 Fe3+ ), Hämosiderin,
Ferredoxin, Rubredoxin.
Norm
Mangel Toxizität
Homöostase
Über-
leben
Tod
• Metalloenzyme:
Zink enthaltende Proteine (mehr als 300 verschiedene Enzyme): Alkoholdehy-
drogenase, Kohlensäureanhydratase, Carboxypeptidase.
Kupferhaltige Proteine: Ascorbinsäureoxidase, Phenoloxidase, Coeruloplasmin
(Transportform für Kupfer im Blut), Cytochrom-c-Oxidase, Cu-Zn-Superoxid-
Dismutase, Hämocyanine.
Molybdoenzyme: Xanthin-Oxidase, Aldehyd-Oxidase, Sulfit-Oxidase, Nitrat-
Reduktase.
• Metallaktivierte Enzyme:
Alle biochemischen Phosphat-Transfer-Reaktionen, Phosphorylierungen und
Dephosphorylierungen erfordern divalente positiv geladene Metallionen zur
Katalyse. Neben Mg2+ können auch Mn2+ und andere zweiwertige Kationen
mehr oder minder katalytisch wirksam sein.
Viele der essentiellen Schwermetalle kommen im menschlichen und tierischen
Organismus nur in sehr geringer Konzentration vor. Daraus leitete sich auch
die Bezeichnung Spurenelemente“ ab. Auch heute ist der endgültige Beweis
”
ihrer Essentialität oft nicht ganz einfach, da eine schwermetallfreie Ernährung
zum Nachweis fast nicht herzustellen ist. Beim Molybdän hat man z. B. das
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 185
IB < IIB < IIIB < IIIA < IV < V < VIII.
Neben der Oxidationsstufe kann auch die molekulare Form entscheidend für die
Toxizität der Metalle sein. Dies ist beim Vanadium der Fall, das als Vanadat(V)-
Anion toxischer ist als das Vanadyl(IV)-Kation, da es über Anionentranspor-
ter in die Zelle gelangt. Oxoanionen wie das Vanadat-Anion unterscheiden sich
nicht in ihrer molekularen Form vom biochemisch wichtigen Phosphat-Anion.
Sie benutzen dieselben Eintrittspforten und nehmen sogar am Stoffwechsel teil.
Für diese speziellen molekularen Formen toxischer Metalle, die physiologische
Substrate nachahmen, wurde von Karen Wetterhahn-Jennette 1981 der tref-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 187
Die folgenden Metalle und Metalloide sowie ihre Verbindungen sind bei Mensch
und Tier als karzinogen anzusehen. Eine Einteilung in krebserzeugende Kate-
gorien ist in Klammern angegeben (DFG: MAK- und BAT-Werte-Liste 2005):
Aluminium: Aluminiumoxid, Faserstaub (2)
Arsen: metallisches Arsen, As2 O3 , As2 O5 , H3 AsO3 , NaAsO2 ,
Pb3 (AsO4 )2 , Ca(AsO4 )2 , Ca3 (AsO4 )2 (1)
Beryllium: Beryllium und seine anorganischen Verbindungen (1)
Blei: Blei und seine anorganischen Verbindungen (3B)
Cadmium: Cadmium und seine anorganischen Verbindungen (1)
Chrom: Chrom(VI)-Verbindungen (2)
Cobalt: Cobalt und Cobaltverbindungen (2)
Nickel: Nickel und seine Verbindungen (1)
Quecksilber: Quecksilber und seine anorganischen Verbindungen (3B)
Titan: K2 TiO3 , K2 TiO5 , K2 TiO9 , K2 TiO13 , K2 TiO17 , Faserstaub (2)
Zinkchromat: ZnCrO4 (1)
Nicht aufgeführt sind die essentiellen Metalle wie Eisen, Mangan und Zink, die
in sehr hohen Dosen ebenfalls karzinogen sein können. Außerdem gibt es expe-
rimentelle Hinweise, dass z. B. Eisen, Kupfer, Cobalt, Chrom, Nickel und Va-
nadium reaktive Sauerstoffspezies (verschiedene freie Radikale) erzeugen und
die DNA schädigen können (siehe Karzinogenese, Metalle). Der molekularbio-
logisch zugrunde liegende Mechanismus, der auf der DNA-Ebene liegen dürf-
te, ist bisher nur teilweise verstanden. Hinzu kommt, dass einzelne Metalle
in verschiedenen Zustandsformen (elementares Metall oder Ionenform) auch
unterschiedliche Mechanismen aufweisen können.
Nicht aufgeführt sind radioaktive Metalle wie Plutonium, Polonium, Radium
und Uran, die primär durch ihre energiereiche Strahlung genotoxisch und damit
karzinogen wirken (Abbildung 4.8, kursiv gekennzeichnete Metalle).
Transferrin
Abbildung 4.9 Transport von Eisen vom Darmlumen in die Mucosazellen und in das Blut-
plasma. Mit der Nahrung zugeführtes Eisen liegt großteils dreiwertig als unlösliches Eisen-
hydroxid oder Porphyrineisen vor. Im sauren Milieu des Magens werden die Verbindun-
gen gespalten und durch reduzierende Aminosäuren oder Ascorbinsäure sowie durch eine
Membran-assoziierte Ferrireduktase in lösliches F e++ verwandelt. Der Dimetalltransporter
(DMT1) transportiert F e++ in die Mucosazelle. Dort wird F e++ an ein Shuttle-Protein, Mo-
bilferrin (M), gebunden, zum Eisenspeicher Ferritin oder zum Ferroportin-Transporter auf
die gegenüberliegende Seite transloziert. Das Ferroportin im Komplex mit Hephaestin, einem
Caeruloplasmin-ähnlichem Protein, oxidiert F e++ zu F e+++ und transportiert F e+++ zum
Blutplasma, wo es an Transferrin gebunden wird.
3+ 3+
3+ 3+ Fe Fe
3+ 3+
Fe Fe Fe Fe
Tranferrin Apotransferrin 3+ 3+
Fe Fe 3+ 3+ 3+ 3+
Fe Fe Fe Fe
Membran
3+ 3+ 3+ 3+
Fe Fe Fe Fe
Protonen-
pumpe
Fe
++
++ c-ACONITASE
+
H Fe ++ DMT1
Ferri- ++
++
reduktase
Fe Fe
Fe Ferritin
++
Fe
++
Fe
Abbildung 4.10 Vereinfachtes Schema der Endozytose eines Transferrinrezeptors. Der Re-
zeptor ist durch zwei aneinander haftende Kreise mit Bindungsstellen für Transferrin darge-
stellt. Durch Einbuchten und Abschnüren von Membranarealen zu Membranvesikeln gelan-
gen die eisenbeladenen Transferrinrezeptoren in das Zellinnere. Eine Protonenpumpe säuert
das Innere der Vesikel an, so dass Eisen seine Affinität zum Transferrin verliert und ab-
dissoziiert. Eine Ferrireduktase verwandelt das dreiwertige Eisen in zweiwertiges, das jetzt
über den Dimetalltransporter (DMT1) in das Zellinnere gelangt. Der eisenleere Rezeptor mit
dem Apotransferrin rezyklisiert zur Membranoberfläche.
Das nicht für die Biosynthese verwendete Eisen kommt in den Ferritinspeicher,
der bis zu 4500 Eisenatome aufnehmen kann. Wenn dieser gefüllt ist, gelangen
sie in den Hämosiderinspeicher, der eine noch größere Kapazität besitzt.
Das besondere an den Eisenstoffwechselwegen ist, dass es keine speziellen
Exkretionswege für Eisen gibt. Der menschliche Organismus ist unfähig,
größere Eisenmengen auszuscheiden. Es wird etwa pro Tag 1 bis 2 mg Ei-
sen vom oberen Dünndarm aufgenommen und die gleiche Menge geht mit
der Abschilferung von Darmepithelzellen aus den Zottenspitzen verloren. Die
Homöostase des Eisens kann also nur über die Aufnahme reguliert werden.
Hierfür gibt es drei wichtige Regulationsmechanismen:
1. Die c-Aconitase als ein eisensensorisches Bindungsprotein (ES-BP): In
der Abbildung 4.10 ist im Zellinneren der Weg des Eisens zur c-Aconitase dar-
gestellt, dieses Enzym dient zusätzlich als ein eisensensorisches Bindungs-
protein. Die c-Aconitase enthält im aktiven Zentrum einen relativ instabilen
4Fe-4S-Cluster. Dieser Cluster dissoziert bei niedriger Eisenkonzentration
und löst eine Änderung der Proteinkonformation aus, so dass an Stelle des
Eisens geeignete mRNA-Moleküle binden können. Hier erfolgt eine Regulation
auf der Translations-Ebene der Proteinbiosynthese.
stoffwechsel ergab sich durch die Beobachtung, dass das HFE-Protein mit dem
Transferrinrezeptor einen Komplex bildet und offenbar die Affinität des Rezep-
tors zu Transferrin herabsetzt. Das mutierte HFE-Protein zeigt diese Bindung
und Wirkung nicht und verursacht eine exzessive Eisenaufnahme.
3. Das dritte Regulationsprinzip ist mit der Bildung der Erythrozyten im Kno-
chenmark verbunden. Es handelt sich dabei um ein lösliches Signalmolekül, das
vom Knochenmark über das Blutplasma zum Darm gelangt und dort die Ei-
senresorption nach den Erfordernissen der Blutbildung im Knochenmark mo-
duliert.
O O O
- - -
O P OH O V OH O As OH
O(H) O(H) O(H)
O O O O
- - - -
O S O O Cr O O Mo O O Se O
- - - -
O O O O
Abbildung 4.11 Struktureller Vergleich der physiologischen Oxoanionen Phosphat und Sulfat
mit Oxoanionen toxischer Metalle. Diese Anionen sind Substrate von Membrantransporter
und gelangen aufgrund ihrer Mimikry in das Zellinnere. Als Sulfatanalog wird auch Selenat
in die Zelle transportiert.
Dies alles erklärt möglicherweise die größere Toxizität von Chromat im Ver-
gleich zu Cr(III)-Kationen, die dazu noch schlecht löslich sind und nicht die
Membran durchdringen können. Aus Tierversuchen wurde abgeleitet, dass das
dreiwertige Chrom (CrIII) nicht kanzerogen ist.
Der Chromat- wie auch der Molybdat-Transport wird im Darm durch Sulfat
gehemmt, jedoch nicht durch Phosphat. Beide Schwermetallanionen können
als sulfatanaloge Verbindungen den Schwefelstoffwechsel in der Zelle blockie-
ren. Ein Beispiel ist die ATP-Sulfurylase, welche die Bildung von Adenosin-5-
phosphosulfat aus ATP und Sulfat katalysiert. Im Zellinneren reagiert Molyb-
dat mit dem Glucocorticoid- und dem Östrogenrezeptor.
Mimikry toxischer monovalenter Kationen
Wie die Anionen, so können auch Schwermetallkationen den Weg über Trans-
porter in das Zellinnere finden (Tabelle 4.2). Lithium-Ionen, die bereits bei
einer Blutspiegelkonzentration von 1,4 mM toxisch wirken, treten über Na+ -
Kanalproteine in das Zellinnere ein und werden mit etwa einem Zehntel der
Geschwindigkeit des Natriums durch die Na+ -K+ -ATPase aus der Zelle ausge-
schleust. Durch diese Interferenz mit der Ionenpumpe wird gleichzeitig weniger
Kalium in die Zelle hineintransportiert und als Folge sinkt die intrazelluläre
Kaliumkonzentration ab. Als kaliumanaloges Metall gelangt das toxische ein-
wertige Thallium-Ion, das in Größe und Ladung sich nicht vom Kalium-Ion
unterscheidet, über die Na+ -K+ -ATPase in das Zellinnere. Eine Anreicherung
findet besonders in den Erythrozyten statt. Thallium ist jedoch hauptsächlich
ein Epithel- und Nervengift. Neben der Na+ -K+ -ATPase sind andere Kali-
umtransporter wie das Na+ -K+ -Cl− -Cotransportsystem in der Niere an des-
sen Aufnahme beteiligt. Thallium wird nicht nur in der Niere rückgewonnen,
es existiert außerdem ein intensiver enterohepatischer Kreislauf, der für die
verhältnismäßig lange Halbwertszeit von etwa 30 Tagen verantwortlich ist. Ei-
ne Anreicherung von Thallium findet vermutlich über Porin in den Mitochon-
drien statt. Hier ist eine Oxidation von Tl+ zu Tl3+ möglich. Die letztere Form
ist ein starkes Oxidationsmittel, das für die Zerstörung der Mitochondrien ver-
antwortlich sein könnte.
Mimikry toxischer divalenter und trivalenter Kationen
Weit mehr Mimikry-Mechanismen als für monovalente existieren für divalen-
te Kationen (Tabelle 4.2). Calcium ist ein äußerst wichtiges Kation für die
biologische Regulation. Es wirkt als sekundärer Transmitter bei der Über-
tragung von Signalen, die von Transmittern und Hormonen ausgehen können.
Zu den vielen durch Calcium stimulierten Reaktionen in der Zelle gehören
auch die elektromechanische (Muskelkontraktion) und die elektrosekretorische
Kopplung (Sekretion aus exkretorischen und inkretorischen Drüsen). Calcium-
pumpen, Na+ -Ca2+ -Austauscher und Calcium-Kanäle bestimmen die effektive
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 195
Tabelle 4.2 Beispiele für Mimikry toxischer monovalenter und divalenter Kationen (100 pm
= 1Å).
ter-Freisetzung. Es gibt jedoch beim Blei auch eine Reihe von Calcium-unabhän-
gigen Effekten. So wird die empfindliche Proteinkinase C schon bei 10−10 M
gehemmt und diejenigen SH-Enzyme, die bei der Hämoglobinsynthese eine
wichtige Rolle spielen, werden blockiert.
Das zweiwertige Beryllium kann als leichteres Homologes des Magnesiums bis
in den Zellkern gelangen und dort eine mutagene Wirkung entfalten.
Die strukturelle Ähnlichkeit mit Zink führt dazu, daß bestimmte Zink-Enzyme
auch eine Substitution mit Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum
zulassen. Bei der Carboxypeptidase A ändert sich mit der Metallsubstitution
durch Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum der funktionelle Ab-
stand zum Histidin (His-196) und die enzymatische Aktivität nimmt ab.
Molekulare Mimikry
Schwermetalle bilden eine Reihe stabiler Komplexe mit einer Anzahl von Li-
ganden, die auch in lebenden Zellen vorkommen. Unter molekularer Mimikry
versteht man einen Komplex zwischen einem Schwermetall und einem endoge-
nen Substrat, der in idealer Weise einem bekannten Metabolit zum Verwechseln
ähnlich ist.
+ - -
CH3Hg + HS CH2 CH COO CH3 Hg S CH2 CH COO
+ +
NH3 NH3
Methylquecksilber-Cystein
Substrate des Aminosäurentransporters
-
CH3 S CH2 CH2 CH COO
+
NH3
Methionin
sage des Moleküls durch die Bluthirnschranke verantwortlich. Hier trägt er zur
schnellen Zunahme von Methylquecksilber im Gehirn bei.
Ein weiteres Substrat sowohl für monovalentes Methylquecksilber als auch für
zweiwertiges Quecksilber ist Glutathion. Methyl- und anorganische Quecksilber-
Komplexe ähneln den Verbindungen von konjugiertem und oxidiertem Gluta-
thion. Entsprechende Transporter schleppen dann die Quecksilber-Komplexe
durch die Membran. Auch Dipeptidtransporter der Niere, die Valeryl-Glycin
transportieren, akzeptieren das strukturell ähnliche Methylquecksilber-Cys-
teinyl-Glycin als Transportsubstrat. Weiter sind Glutathion-Komplexe mit an-
deren Metallen wie Arsen, Kupfer und Zink möglich.
Eine letzte Möglichkeit der molekularen Mimikry soll am Beispiel von Uranyl-
Komplexen gezeigt werden. Uranyl-Ionen sind seit langer Zeit dafür bekannt,
dass sie an Hefen den Glucosetransport inhibieren. Der Mechanismus kann
ebenso durch eine Mimikry erklärt werden, das mit der transportierten Glu-
cose in der b-D-Glucopyranose-Form zusammenhängt. Uranyl-Ionen liegen in
wässrigen Lösungen hauptsächlich als Dimere vor. In diesem Komplex sind
zwei Uranylatome durch zwei Hydroxo-Brücken verknüpft. Vergleicht man die
Größe und die Sauerstoffabstände mit b-D-Glucopyranose, so findet man ei-
ne große strukturelle Übereinstimmung beider Moleküle. Daraus wurde der
Schluss gezogen, dass die dimere Form des Uranyls möglicherweise mit den
Bindungsstellen der Glucose am Transporter reagiert und hierdurch deren
Transport hemmt.
Tabelle 4.3 Metallbelastung des menschlichen Körpers. In Spalte 2 ist die durchschnittli-
che Belastung eines 70 kg schweren Menschen in mg angegeben, in Spalte 3 die resultierende
Konzentration in µmol/kg Körpergewicht. Für die Berechnungen in Spalte 4 wird davon aus-
gegangen, dass der Mensch aus etwa 1014 Zellen besteht und eine homogene Verteilung der
Atome im Körper vorliegt. Diese Annahme ist idealisierend, vermittelt aber dem Betrachter
einen Eindruck über die mögliche Größenordnung der Belastung. In der letzten Spalte wird
angegeben, wieviel mg etwa täglich mit der Nahrung zugeführt werden. (Zahlen aus Merian
1987 und Schroeder 1965*).
Dies impliziert auch eine mögliche Toxizität der belastenden Metalle und Me-
talloide im Organismus (Tabelle 4.3). Als ein Beispiel kann Cadmium dienen,
es wird nur sehr wenig ausgeschieden und kumuliert mit dem Lebensalter in
der Niere, wo es fest an Metallothionein gebunden ist (siehe Kapitel 4.2.2).
Erst wenn eine kritische Konzentration erreicht wird, kommt die Toxizität
zum Tragen. Ähnlich verhält es sich mit dem Blei, das in dem Knochen im-
mobilisiert wird. Auch die anderen Metalle und Metalloide werden ebenfalls
gebunden oder ausgeschieden und führen so normalerweise zu keinen toxischen
Wirkungen.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 199
Die akute Toxizität einer Substanz kann durch den LD50 -Wert oder analog
dazu durch den T50 -Wert charakterisiert werden, das ist diejenige Dosis in
mg oder mol pro kg Körpergewicht, welche die Hälfte einer Tierpopulation
tötet (siehe Kapitel 1.2.3). Für den Vergleich von LD50 - bzw. T50 -Werten ver-
schiedener Schwermetalle muß unter anderem die chemische Form, in der das
Schwermetall vorliegt, die Art der Aufnahme, die Tierart, das Geschlecht so-
wie das Alter des Tieres, das Gewicht und das Zeitintervall der Beobachtung
in Betracht gezogen werden.
Da die LD50 -Werte über mehrere Zehnerpotenzen varieren können, wurde der
Begriff der potentiellen Toxizität, pT50 eingeführt, der entsprechend dem pH-
Konzept für pT50 = -log T50 setzt. Dadurch lassen sich übersichtliche Klassen
für die toxikologische Interpretation bilden (Tabelle 1.1). Als hoch toxisch wird
z B. eine Substanz mit einem pT50 -Wert von 4 festgesetzt. Das entspricht einer
Konzentration von 0,0001 mol/kg Körpergewicht.
Tabelle 4.4 zeigt eine Zusammenstellung von verschiedenen Metallen mit den
zugehörigen LD50 -Werten in mg/kg, den T50 -Werten in mmol/kg Körperge-
wicht und den pT50 -Werten nach oraler Verabreichung an Ratte und Maus.
Die Schwermetalle umfassen also bei der oralen Applikation den Bereich von
hoch-toxisch, Klasse 4 (pT50 -Wert 4,3 für Thalliumsulfat) bis gering-toxisch,
Klasse 2 (pT50 -Wert 2,0 für Eisensulfat). Dagegen erreicht das über alle Maße
toxische Botulinustoxin D einen pT50 -Wert von fast 16 (Tabelle 1.2). Dies gilt
Tabelle 4.4 Orale akute Toxizität verschiedener Metallsalze. Wie die Beispiele dieser Metalle
zeigen, liegt die Klassifizierung in der Größenordnung von praktisch nicht-toxisch für NaCl
bis hoch-toxisch für das Thalliumsulfat (siehe Tabelle 1.1). Die Daten entstammen dem
Merck Index“.
”
Induzierbares Metallothionein
Im Jahre 1957 isolierten Margoshes und Valles ein niedermolekulares Protein
mit dem Molekulargewicht von etwa 6500 Dalton aus der Pferde-Niere, wel-
ches einen hohen Gehalt an Zink (2,2 %) und Cadmium (5,9 %) enthielt. Da
außerdem in diesem Protein ein großer Gehalt an SH-Gruppen vorlag (8,5 %),
gaben sie ihm den Namen Metallothionein (Abbildung 4.13).
Cys
Cys
Metallothionein
Abbildung 4.13 Modell eines Säugetier-Metallothioneins (nach Kägi und Nordberg, 1979).
Aus den oben genannten Gründen ist im Organismus die Stabilitäts- oder
Komplexbildungskonstante K (K = [ML]/[M] · [L], L ist der Ligand und M ein
Metall) gegenüber der in wässriger Lösungen bestimmbaren meist um einige
Zehnerpotenzen niedriger. Für den EDTA-Blei-Komplex wird z. B. anstelle
eines log K von 18,2 in wässrigen Lösungen nur ein log K von ungefähr 6,3 im
Organismus zu erwarten sein.
Bei der Entgiftung von Schwermetallen gelten folgende therapeutischen Ziele:
• Loslösung der Schwermetalle aus funktionell wichtigen Bindungsorten durch
höhere Affinität zum Chelatbildner,
• Abfangen und Inaktivierung zirkulierender Schwermetalle,
• Mobilisierung von Metallen aus ihren Depots, in denen sie in nicht aktiver
Form vorliegen,
• rasche Ausscheidung der gebildeten Schwermetall-Chelate in Harn, Galle
und Kot.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 203
Klassifikation nach dem Konzept der harten und weichen Säuren (Pearson, 1963)
++ ++ ++
++
Pd , Ag ,
+ ++ ++
Pb , Sn , Cd , Cu
++ ++ VO , UO 2 , Sr
+++ ++ ++++
und andere Zwischenmetalle In , Ra , Pu
Abbildung 4.14 Metallkationen vom Typus A, die sogenannten harten Säuren“, befinden
”
sich auf der rechten Seite und Metallkationen vom Typus B, die den weichen Säuren“
”
angehören, sind auf der linken Seite angeordnet. Dazwischen befinden sich die Metalle mit
der Bezeichnung mittel“.
”
Chelator Metall
BAL ist eine übelriechende, leicht zersetzliche Substanz, die vor der Injektion
in Öl gelöst werden muss. Es bildet zwar stabile, relativ untoxische Komplexe
mit Metallen wie Arsen und Quecksilber, ist aber nur wenig wasserlöslich.
Wird BAL bei Vergiftungen mit Quecksilber eingesetzt, nimmt die Queck-
silberkonzentration im Hirn zu. Während Quecksilber-Ionen die sogenannte
Blut-Hirn-Schranke nur sehr schwer permeieren, überwindet der relativ lipo-
phile Dimercaptopropanol-Quecksilber-Komplex diese Barriere gut. Trotz der
dadurch erzeugten hohen Quecksilberkonzentration im Hirn kommt es nicht
zu toxischen Erscheinungen, da die Stabilität der Bindung von Quecksilber an
BAL gewährleistet ist, solange BAL im Überschuss vorliegt. Wegen der schnel-
len Ausscheidung von BAL zielt die Therapie darauf ab, stets einen Überschuss
im Organismus aufrechtzuerhalten (siehe Kapitel 4.2.5).
Vom Chelatbildner wird dabei folgendes verlangt:
• Eine hohe Bindungskonstante für das toxische Schwermetall,
• eine gute Löslichkeit und leichtes Vordringen bis zu den Bindungsorten,
• eine gute Harn- und Gallengängigkeit, sowie Stabilität bis pH 4 (Urin),
• eine geringe Toxizität für den Organismus.
Schließlich können als allgemeine Richtlinien bei der Therapie gelten:
• Die Dosierung des Chelators soll sich an der aufgenommenen Menge an
Schwermetall ausrichten, da sich Metall und Chelatbildner gegenseitig ent-
giften.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 205
4.2.1 Blei
Die Bezeichnung trägt der bläulichen Farbe des Metalls Rechnung. Sein natürli-
ches Vorkommen ist ausschließlich auf Verbindungen mit der Oxidationsstufe
+2 beschränkt. Am häufigsten und wichtigsten ist Bleiglanz (PbS), aus dem
Blei dargestellt wird. Er enthält etwa 1 % an Silber. Daneben gibt es eini-
ge farbige, schwerlösliche Salze, die früher als Pigmente Verwendung fanden.
Aufgrund der lateinischen Bezeichnung plumbum wurde durch den Schweden
Berzelius das Elementsymbol Pb eingeführt. Der englische Name lead ist mit
dem deutschen Lot und Löten verwandt, was auf die niedrige Schmelztempe-
ratur des Metalls hinweist.
Die Jahresproduktion an Blei liegt bei etwa 5,5 Millionen Tonnen. In der
Umgebung von Minen und Schmelzen und selbstverständlich auch von aufge-
lassenen Hüttenbetrieben finden sich erhöhte Bleikonzentrationen (> 200 bis
4000 mg/kg) im Erdboden. Da Blei im Boden schnell immobilisiert wird und
auf Dauer gebunden bleibt, können es Pflanzenwurzeln nur in sehr geringem
Maße aufnehmen. Bleikontaminationen von Pflanzen sind hauptsächlich durch
Immissionen verursacht. Bedingt durch die atmosphärische Verteilung stieg
nach Einsetzen der industriellen Revolution 1750 die Bleikonzentration im
Grönlandeis deutlich an.
Anwendungen
Anfang der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entdeckte man die Ei-
genschaft der Alkylderivate des Plumbans (Tetraethyl-und Tetramethyl-Blei,
TEL bzw. TML, die Klopffestigkeit von Treibstoffen für Ottomotoren zu stei-
gern (vgl. Seite 174). Konzentrationen von ursprünglich 640, später
150 mg Pb/L Benzin waren zur Erhöhung der Oktanzahl zugelassen. In Eu-
ropa gingen 6 % der Bleiförderung (in den USA 17 %) in die Produktion
dieser Zusatzstoffe. Um die Ablagerung des während der Verbrennung frei-
werdenden Bleis als hochschmelzendes PbO im Motor zu umgehen, sorgte
der Zusatz von 1,2-Dichlorethan (Ethylendichlorid) und 1,2-Dibromethan in
gefärbten Blei-Fluiden für die Bildung von flüchtigen Bleihalogeniden (PbCl2 ,
Smp. 373 °C und PbBr2 , Smp. 501 °C). Als Aerosol werden die Verbindungen
aus dem Brennraum ausgetragen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass
seit 1940 die Konzentrationen im Grönlandeis verstärkt zunahmen und die
in Wässern von Kläranlagen gefundene Bleifracht zu ca. 80 % aus Straßen-
und Dachabwässern stammte. Gegenwärtig vertriebene unverbleite Kraftstoffe
für Ottomotoren dürfen maximal 13 mg Pb/L enthalten. In Schmierölen finden
Bleiseifen als Stabilisatoren und Sikkative Verwendung.
Toxikokinetik
Blei und seine anorganischen Verbindungen werden von der intakten Haut
kaum resorbiert.
Akute Vergiftungsfälle mit anorganischen Bleiverbindungen sind selten, da
auch nach oraler Aufnahme große Mengen ohne Vergiftungszeichen toleriert
werden. Die geringe intestinale Resorptionsquote liegt zwischen 5 und 10 %
und bietet dem Erwachsenen ausreichenden Schutz, nicht dagegen dem Kind,
das bis zu 50 % aufnimmt. Wird allerdings das Darmepithel geschädigt (bis
50 g Bleiionen), treten nach massiver Resorption tödliche Vergiftungen auf.
Die chronische Bleivergiftung (Saturnismus, bereits seit 200 v. Chr. bekannt)
tritt als Folge einer beruflichen Exposition nach regelmäßiger Zufuhr von anor-
ganischen Bleiverbindungen in Milligramm-Mengen pro Tag auf (Berufskrank-
heiten-Verordnung, BKV 1997, Nr. 1101). Hierbei spielt in der Regel neben
der oralen die pulmonale Aufnahme die wichtigere Rolle. Da je nach Atemvo-
lumen, Löslichkeit und Partikelgröße zwischen 30 und 50 % des in der Atemluft
enthaltenen Bleis in der Lunge aufgenommen werden, reichen zur Ausbildung
einer chronischen Vergiftung noch geringere Mengen aus als bei ausschließ-
lich oraler Exposition. Die Aufnahme lässt sich als Funktion der pulmonalen
Retention und Resorption darstellen.
Nach der Resorption sind mindestens 90 % des im Blut befindlichen Bleis an
die Erythrozyten gebunden. Das freie Blei gelangt von hier aus in die weichen
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 209
Gewebe und in die Knochen, wobei es sich wie Calcium verhält. Die Plazentar-
schranke und die Blut-Hirn-Schranke werden in Form von lipophilen Komple-
xen ohne wesentliche Behinderung überwunden. Die weichen Gewebe stellen
flache Kompartimente dar, aus denen Blei mit einer Halbwertzeit von 20 Ta-
gen renal und biliär ausgeschieden wird. Zur mineralischen Knochenmatrix hat
Blei eine hohe Affinität, so dass ein großer Anteil im Knochen gespeichert wird.
Als schwer lösliches Bleiphosphat enthält dieses Kompartiment etwa 95 % des
gesamten Bleis im Organismus (body burden) und deponiert im Laufe des
Lebens ohne berufliche Exposition etwa 200 mg Blei. Eine Mobilisation des
Bleis kann sich durch Fieber, Schwangerschaft, Stress, Azidose oder Frakturen
auslösen lassen, Vorgänge, welche auch physiologisch Calcium mobilisieren. Die
normale Halbwertzeit der Elimination aus dem Knochen beträgt 20 Jahre. Die
Ausscheidung von Blei aus dem Organismus erfolgt zu 75 % renal, der Rest
biliär und in Spuren über Haare, Nägel, Schweiß und Milch.
Tetraalkyl-Blei (TML, TEL) wird im Gegensatz zu allen anderen Bleispezies
besonders leicht durch die intakte Haut und durch die Lunge resorbiert. Es folgt
eine rasche Aufnahme in das Gehirn, was im akuten Vergiftungsbild zentrale
Wirkungen in den Vordergrund treten lässt. Seine Eliminationshalbwertzeit
für das Gehirn beträgt etwa 500 Tage. Tetraethyl-Blei unterliegt einem Meta-
bolismus über Triethyl- und Diethyl-Bleiionen zu anorganischem Blei. Zu einer
Ausscheidung von organischem Blei aus dem Organismus kommt es kaum.
Toxikodynamik
Typisch für eine akute Bleivergiftung ist das Vorherrschen gastro-intestinaler
Symptome wie Erbrechen, Leibschmerzen, Darmkrämpfe, Obstipation und Pro-
teinurie. Sie werden durch Spasmen der glatten Muskulatur des Darmes ver-
ursacht (Bleikolik), weil Blei das physiologische Calcium verdrängt (Mimikry).
Spasmen der Gefäßmuskulatur und der Kapillaren sind Ursache für eine blass-
graue Färbung der Haut (Bleikolorit). Bei Kindern sind zentralnervöse Symp-
tome ausgeprägt, während sie bei Erwachsenen zum Bild der chronischen Ver-
giftung gehören. Ihnen liegen Interferenzen mit der calciumabhängigen Frei-
setzung von Neurotransmittern zugrunde.
Die chronische Vergiftung beginnt mit unspezifischen Symptomen wie Müdig-
keit, Schwäche, Blässe, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Leberschwellung,
Koliken und Obstipation. Sie wird deshalb oft nicht erkannt. Typisch, je-
doch nicht regelmäßig, ist das Auftreten eines Bleisaumes (PbS) am Zahn-
fleisch. Eindeutige Anzeichen für eine chronische Vergiftung sind, neben zen-
tralnervösen, periphermotorischen und glattmuskulären Funktionsstörungen,
vor allem die Störungen der Biosynthese des Hämoglobins und der Erythro-
poese. Hierbei handelt es sich um einen typischen Schwermetalleffekt, der ohne
eine Interaktion mit Calcium zustande kommt.
210 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Succinat Glycin
1
5-Aminolaevulinat (Mitochondrium) (Anstieg im Urin)
(Cytosol)
Pb 2
Porphobilinogen
3
4
(Cytosol)
5
Koproporphyrinogen III Koproporphyrin III (Anstieg im Urin)
Pb 6
Protoporphyrinogen III Protoporphyrin IX (Anstieg im Ery.)
7
Pb 8
(Mitochondrium) Haem
Abbildung 4.15 Vereinfachtes Schema der Hämbiosynthese und der drei Angriffspunkte
von Blei. Sie startet mit Succinyl-CoA im Mitochondrium, wechselt zum Cytosol, um wie-
der in das Mitochondrium zurückzukehren. 5-Aminolaevulinsäure = δ-Aminolaevulinsäure
(δ-ALA). Acht Enzyme sind für die Synthese erforderlich: 1: δ-Aminolaevulinat-Synthase
(Schlüsselenzym); 2: Porphobilinogen-Synthase = δ-Aminolaevulinsäure-Dehydratase;
3: Hydroxymethylbilan-Synthase; 4: Uroporphyrinogen III-Synthase; 5: Uroporphyrinogen III-
Decarboxylase; 6: Koproporphyrinogen III-Decarboxylase; 7: Protoporphyrinogen IX-
Dehydrogenase. Analoge Dehydrogenasen gibt es für die Substrate Uro- und Kopropor-
phyrinogen; 8: Ferrochelatase. Letztere ist in der Lage, auch andere Schwermetalle wie
Cobalt oder Zinn in das Protoporphyrin einzubauen. Die Anhäufung von Zwischenstufen,
die im Urin bzw. im Erythrozyten gefunden werden, ist beweisend für eine Exposition mit
Blei.
Blei blockiert die Biosynthese des Hämoglobins durch Hemmung von drei En-
zymen, der d-Aminolaevulinsäure-Dehydrase (Porphobilinogen-Synthase), der
Koproporphyrinogen III-Decarboxylase und der Ferrochelatase (Abbil-
dung 4.15). Die Folge ist der Anstieg von zwei in Blut und Urin ausgeschiedenen
Synthesezwischenstufen. So ist der Nachweis von d-Aminolaevulinsäure und
Koproporphyrin III diagnostisch von Bedeutung. Protoporphyrin IX ist in den
Mitochondrien und in den Erythrozyten erhöht. Die Hemmung einer Pyrimi-
din-5’-Nukleotidase lässt im Erythrozyten ein Ribonukleotid persistieren, das
für die basophile Tüpfelung verantwortlich scheint, die klinisch zur Früherken-
nung einer Intoxikation dienen kann.
Aber nicht nur über Enzymhemmungen wirkt Blei auf Erythrozyten. Seine
hämolytische Wirkung verkürzt ihre Lebensdauer. Das unmittelbar nach der
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 211
Resorption von den Erythrozyten gebundene Blei ist in der Lage, als lipophiler,
membrangängiger Komplex (mit Bicarbonat) in die Erythrozyten einzudrin-
gen. Hier aktivieren Bleiionen wie physiologischerweise Calcium die Kalium-
kanäle und führen damit zu einem vollständigen Kaliumverlust. Der zelluläre
Gehalt an ATP fällt gleichzeitig ab.
Zentrale degenerative Vorgänge im Gehirn sind Auslöser für Schwindel, Seh-
und Hörstörungen, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit, Depressionen und Er-
regungszustände (Encephalopathia saturnina). Ursache hierfür könnten Kon-
traktionen von Arteriolen und Kapillaren sein. Eine zentral ablaufende de-
generative Schädigung des motorischen Systems äußert sich peripher in Ner-
venlähmungen mit motorischen Ausfällen an Armen und Beinen. Besonders
die Arbeitshand ist davon betroffen, da die Streckermuskulatur infolge der
Lähmung des Nervus radialis nachlässt (sog. Fallhand).
Die spastische Wirkung auf Gefäßwände kann auch zu Nierenschädigung, Gan-
grän und Angina-pectoris-Anfällen führen.
Eine akute Vergiftung mit Tetraethyl-Blei, die bereits durch Schnüffeln von
verbleitem Benzin ausgelöst werden kann, äußert sich als toxische Psycho-
se. Beständige Erregung, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, zentral ausgelöste
Krämpfe, Halluzinationen, Temperatur- und Blutdruckabfall lassen sich be-
obachten. Erschöpfung kann zum Tod führen. Eine chronische Zufuhr von or-
ganisch gebundenem Blei führt zu dem Bild einer chronischen Vergiftung durch
anorganisches Blei.
Therapie
Zur schnellen Giftentfernung ist bei der akuten Vergiftung Erbrechen aus-
zulösen, danach wird lösliches Blei zweckmäßig in schwerlösliches Sulfat über-
führt.
Von den Chelatoren eignet sich zur Therapie chronischer Intoxikationen am
besten EDTA (Abbildung 4.25), das zur Schonung der Calciumbestände als
CaNa2 -EDTA einzusetzen ist. Penicillamin ist auch per os anwendbar, wirkt
aber schwächer. Zur Erkennung von Bleidepots kann ein sogenannter Mobi-
lisationstest durchgeführt werden. Hierzu misst man die nach kombinierter
Anwendung der beiden Chelatoren im 24-Stunden-Sammelurin ausgeschiede-
ne Menge an Blei und vergleicht sie mit der zuvor unter Kontrollbedingungen
eliminierten Menge. Anstiege auf das über 10fache sprechen für vorhandene
Bleidepots.
Dimercaprol (BAL) ist in der Regel ungeeignet, da sein Bleikomplex leicht
dissoziiert und deswegen Schäden an den Nierentubuli setzt. Es hat jedoch
den Vorzug, in das Gehirn eindringen zu können.
212 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Keine der genannten Maßnahmen ist zur Therapie einer akuten Vergiftung mit
Tetraethylblei geeignet. Dessen zentral ausgelöste Erregung kann mit Diaze-
pam gedämpft werden.
4.2.2 Cadmium
Cadmium, als Element 1817 dargestellt, ist ein typischer Begleiter der Schwer-
metalle Zink, Kupfer, Blei. Es fällt bei deren Herstellung automatisch als Ne-
benprodukt an und wird deshalb niemals eigens abgebaut. Sein antropogener
Eintrag in die Umwelt ist unabhängig von seiner Nutzung im wesentlichen
von der (Bunt-)Metallgewinnung abhängig. Die Vergesellschaftung mit ande-
ren Metallen drückt sich auch in der Namensgebung aus, da κadmeia (galmei)
im Laufe der Geschichte die vier Elemente Kupfer, Zink, Cobalt und Cadmium
bzw. deren Erze bezeichnete.
Anwendung
Toxikokinetik
Cluster B Cluster A
MDPNCSCATDGSCSCAGSCKCKQCKCTSCKKSCCSCCPVGCAKCSQGCJCKEASDKCSCCA
5 7 13 15 19 21 24 26 29 33/4 36/7 41 44 48 50 57 59 60
S
S S S44 S
S S S34
S S15 S S S60 S
S7 S24 S37 S50
S S
Abbildung 4.16 Aufbau von Metallothionein. über der Sequenz der 61 Aminosäuren des
Metallothioneins von Säugetieren (hier Ratte) ist durch die Höhe der Säulen die Aminosäure-
variabilität bei 30 Spezies dargestellt. Die 20 Cystein-Reste (gefüllte Säulen) unterliegen
keiner Variation. Die Aminosäuren 1–30 bilden das Cluster B, das mit 9 Cystein-Resten
drei divalente Kationen (gefüllte Kreise) in jeweils tetraedrischer Anordnung komplexiert
(Cd3 Cys9 ). Cluster A, dem die Aminosäuren 31–61 zugrunde liegen, bindet vier Kationen
unter Beteiligung von 11 Thiol-Gruppen (Cd4 Cys11 ). Die idealisierten Chelate in den bei-
den Clustern sind im unteren Teil abgebildet. Die Indizes an den Thiol-Schwefeln geben die
Position des entsprechenden Cystein-Restes an. Zwischen Metall und Schwefel ergibt sich
im voll beladenen Metallothionein ein molares Verhältnis von beinahe 1:3.
75
ug Cd/g Nierenrinde
Japan
50
USA
25
Schweden
Deutschland
0
0 20 40 60 80 100
Lebensjahre
Abbildung 4.17 Konzentration von Cadmium in der Nierenrinde des Menschen in Abhängig-
keit vom Lebensalter. Die Daten repräsentieren den Zustand in Bevölkerungsgruppen ver-
schieden großer, nicht repräsentativer Stichproben unter Einschluss von Rauchern. Die Kon-
zentrationen beziehen sich auf das Frischgewicht des Organs. Nach Friberg et al., 1974.
Toxikodynamik
Therapie
Die Gabe von Dimercaprol (BAL) als Chelatbildner ist nach akuter inhalati-
ver Vergiftung sinnvoll. In der Therapie chronischer Vergiftung ist sie umstrit-
ten, da mit der Mobilisierung des Metalls die Gefahr einer Nierenschädigung
entsteht.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 217
4.2.3 Chrom
Chrom, das härteste aller Gebrauchsmetalle, kommt in der Natur vorwiegend
als Chromeisenstein (Chromit, Cr2 O3 ·FeO = FeCr2 O4 ) vor. Die größten La-
gerstätten liegen in Südafrika. Vierzig Jahre zog sich die Entdeckungsgeschich-
te des Elementes hin, bis es 1798 von Louis Vauquelin unrein hergestellt und
wegen seiner vielfarbenen Verbindungen als Chrom (qrwma) bezeichnet wur-
de. Seine Darstellung ist schwierig, da sich das Metall nicht durch Reduktion
des Erzes mit Kohlenstoff gewinnen lässt. Zum Metall gelangt man nach ei-
nem oxidativen Aufschluss des Erzes über Chrom(VI) (Dichromat). Eine erste
Reduktion mit Kohlenstoff liefert Chrom(III) (Cr2 O3 ), welches im Thermit-
verfahren mit Aluminium zum Element reduziert wird. Das Metall wird we-
der an der Luft noch unter Wasser oxidiert, da es eine dünne, sehr dichte
Schutzschicht von Chrom(III)-oxid (Cr2 O3 ) ausbildet. Durch Behandlung mit
Salpetersäure oder Chromsäure lässt sich diese Passivierung verbessern. Unter
chemischer oder kathodischer Reduktion kann dieser Schutz jedoch zerstört
werden. Für galvanische Anwendungen oder die Gewinnung reineren Chroms
durch Elektrolyse erübrigt sich die Herstellung des Metalls, da der Prozess von
Chrom(III)-Lösungen ausgeht. Auch zur Legierung von Stahl dient nicht das
Metall sondern Ferrochrom (Fe2 Cr) als Zuschlag, das sich aus Chromit durch
Verschmelzung mit Koks im elektrischen Ofen erhalten lässt.
Chrom kommt hauptsächlich in Oxidationsstufen +2, +3 und +6 vor, jedoch
existieren alle Stufen von -2 bis +6. Verbindungen des Chrom(II) sind starke
Reduktionsmittel, die des Chrom(VI) starke Oxidationsmittel. Bevorzugt ist
die Oxidationsstufe +3. Farbintensive Chromate dienen als unlösliche Farbpig-
mente. So wurde Bleichromat früher zum Streichen der Postwägen verwendet
(Postgelb) und basisches Bleichromat dient als rotes Pigment in der Ölmalerei.
Glas lässt sich mit Chrom(III) smaragdgrün, mit Chrom(VI) gelb färben.
Anwendung
Elementares Chrom
Als Metall dient Chrom einerseits zur Hartverchromung, bei der es in einer
500 mm dicken Schicht galvanisch auf die metallischen Werkstücke aufgebracht
wird, andererseits zur Dekorverchromung, welche die Materialien darunter
auch Kunststoffteile mit einer höchstens 1 mm starken Schicht überzieht.
Große Mengen an Chrom werden zur Herstellung von Edelstahl benötigt. Dar-
unter versteht man Stähle mit einem Chromgehalt von über 12 %. Die kor-
rosionsschützende Wirkung geht auch hier von einer Schicht des Chrom(III)-
oxids aus. Verbreitet sind verschiedene Sorten von Chrom-Nickel-Stählen (sie-
he Kapitel 4.2.4). Das Legieren mit weiteren Metallen erhöht die Zugfestigkeit
218 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Dreiwertiges Chrom
In den Anfängen der Ledergerbung mit Chrom vor über 100 Jahren verwende-
te man meist Chromat. Heute kommt jedoch hierfür ausschließlich basisches
Chromsulfat zum Einsatz. Die vom Chrom verursachte Denaturierung von Ei-
weiß bildet die Grundlage der Gerbung. Pro Jahr werden nach diesem Verfah-
ren weltweit etwa 2000 km2 Leder hergestellt. Fertiges Rindsleder enthält etwa
16 g Chrom(III) pro m2 . Meist finden sich Verunreinigungen mit Chromat,
so dass die Gefahr einer Exposition gegenüber Chromat bei allen Lederwaren
besteht (Arbeitsschutzhandschuhe, Handschuhe, Schuhe, Kleidung). Das zur
Gerbung eingesetzte Chrom wird durch Abwasser, feste Arbeitsabfälle, dar-
unter Stäube, sowie nach einer Latenzperiode durch die Lederprodukte selbst
beinahe vollständig in die Umwelt zurückgegeben.
Pflanzen nehmen das im Boden fast ausnahmslos als Chrom(III) vorliegende
Elemet nur schlecht auf. Das lässt sich am Schwermetalltransfer (cPflanze /cBoden )
erkennen, der zwischen 0,01 und 0,1 liegt. Auch bei hohen Kontaminationen der
Böden tritt Chrom nicht in die Nahrungskette ein. Die meisten Nahrungsmit-
tel enthalten zwischen 0,2 und 0,8 mg Cr/kg Trockenmasse. Getreide, Früchte
und andere Samen enthalten besonders wenig Chrom.
In Hefe und Fleisch werden jedoch hohe Gehalte an komplex gebundenem
Chrom gefunden. Aus der Nahrung ist diese Form des Chrom(III) leicht resor-
bierbar. Die Komplexe enthalten in der Regel Nicotinsäure (Niacin) und Ami-
nosäuren oder Glutathion (GSH). Hierzu gehört auch der Glucose-Toleranz-
faktor (GTF), dem ein Einfluss auf die Insulinwirkung zugeschrieben wird.
Seine Zusammensetzung und Wirkungsweise ist noch nicht zweifelsfrei geklärt.
Chrom ist für Mensch und Tier ein essentielles Spurenelement, dessen Bedarf
sich durch etwa 40 mg organisch gebundenes oder 200 mg anorganisches Chrom
am Tag decken lässt.
Toxikokinetik
Chromat aus inhaliertem Material mit Partikeln unter 5 mm wird in der Lunge
leicht resorbiert. Chrom wird pulmonal deponiert, denn Chromatarbeiter zei-
gen hohe Konzentrationen an Chrom in der Lunge, auch wenn die berufliche
Exposition schon längere Zeit zurücklag. Chrom wird dann meist auch in Milz,
Leber, Nieren und Herzmuskel gefunden. Im Gewebe selbst liegt vorwiegend
Chrom(III) vor, obwohl Chrom(VI) aufgenommen wurde.
Im Detail betrachtet, ergibt sich folgendes Bild vom molekularen Geschehen.
Chromat wird über den Anionentransporter der Membran in die Zelle auf-
genommen, was mit der leichten Permeabilität des anionischen Chromat in
Einklang steht (vgl. Kapitel 3.5.3.3 und 4.1.7). Innerhalb der Zelle herrscht
220 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
0,5 Absorption 432 nm
0,4
0,3
0,2
0,1
0,0
min
0 1 2 3 4 5
Abbildung 4.18 Links: Reduktion von Chromat durch Glutathion (GSH) bei physiologischem
pH-Wert (pH 7,4). Für 1 Chromat werden zur Reduktion 3 Thiole benötigt wie die Sum-
mengleichung (1) zeigt. Dieser Reduktion ist die schnelle Bildung eines Thioesters vorgela-
gert (2). Das Intermediat entsteht durch eine Liganden-Substitution am Chromat, das sei-
ne Oxidationsstufe hierbei nicht ändert. Die Bildung des Chrom(VI)-Thioesters (Chromat-
Thioester) und seine Weiterreaktion lässt sich anhand seiner Absorption bei 432 nm spektral
verfolgen (rechtes Bild). Unter Verbrauch von zwei Molekülen Glutathion (GSH) wird das
Chrom(VI) des Chromat-Thioesters dann zunächst zum Chrom(IV) reduziert (3), wonach
ein drittes Glutathion die Reduktion zum Chrom(III) beendet (4). Die Oxidation des Gluta-
thions führt in allen Fällen zum Disulfid GSSG.
der Cr3+ -Ionen im Innern einer Zelle und deren Affinität zu Proteinen und
Nukleinsäuren führen zur einer ausgeprägten Komplexbildung. Etwa 50 % des
in der Zelle gefundenen Chroms befindet sich in der Kernfraktion. Aus Zel-
len ausgetretenes Chrom(III) wird im Blut teilweise an Transferrin gebunden
transportiert und renal ausgeschieden.
Eine cutane Resorption ist für Chromat belegt. In Konzentrationen bis 0,1 %
bleibt es auf dem Weg durch die Haut gebunden liegen, was die topische Sen-
sibilisierung durch Chromat erklärt. In höherer Konzentration dringt es weiter
in den Organismus vor und wirkt systemisch.
Nach oraler Aufnahme von Chromat werden etwa 2 % der Dosis resorbiert. Dies
ist nur unwesentlich mehr als nach einer Aufnahme von Chrom(III) (0,5 %),
denn bereits im Magen erfolgt eine Reduktion zu Chrom(III), das schlecht
resorbiert wird. Oxalate können die Chrom(III)-Resorption durch Chelatbil-
dung steigern, Phytin (meso-Inosithexaphosphat) aus Getreide sie hemmen.
Die Ausscheidung nicht resorbierten Materials erfolgt mit den Faeces. In der
Form des Glucose-Toleranzfaktors liegt die intestinale Resorptionsquote dage-
gen zwischen 10 und 25 %.
Vergleicht man die Toxizitäten wasserlöslicher Chromate in den verschiede-
nen Applikationsrouten, wirken sie nach einer parenteralen Applikation hoch-
toxisch, während sie nach cutaner Applikation eine mittlere Toxizität auslösen
und nach oraler Gabe wenig giftig sind. Im Vergleich dazu sind Verbindungen
aller anderen Wertigkeitsstufen des Chroms harmlos, sie haben beim Menschen
bisher nicht zu Schäden geführt.
Toxikodynamik
Therapie
einsetzen. Eine Behandlung mit CaNa2 -EDTA ist ohne Effekt, denn es er-
reicht die Chromlager nicht. Die Anwendung von BAL birgt die Gefahr einer
zusätzlichen Nierenschädigung und ist deshalb umstritten. Im Falle einer loka-
len Verätzung hilft die sofortige Entfernung des Chroms durch Wasser (Ent-
fernen der Kleidung, Augendusche, Körperdusche, Sprungbadewanne). Um-
schläge mit 10 %igem CaNa2 -EDTA sind hier nützlich. Eine chronische Ver-
giftung kann höchstens durch die Aufgabe der Arbeit gestoppt werden. Die
Behandlung erfolgt symptomatisch. Der Einsatz von Chelatbildnern ist wir-
kungslos.
4.2.4 Nickel
Das Schwermetall Nickel, das ersmals 1751 von Axel F. Cronstedt dargestellt
wurde, wird heute meist aus kanadischem Magnetkies gewonnen, welcher aus
Kupferkies (Chalkopyrit) CuFeS2 , Pentlandit (FeNi)9 S8 besteht. Untergeord-
nete Bedeutung haben Nickelverbindungen mit Arsen, Antimon und Schwefel
(NiS, NiAs, NiSb, NiSbS). Aus vielen Erzen konnten in früherer Zeit mit den
einfachen Röstverfahren keine Metalle gewonnen werden. Die Bergleute sahen
sich von den bösen Erdgeistern Kobold und Nickel in die Irre geführt. Später
dienten diese Namen zur Bezeichnung der Metalle. Nickel kommt mit Eisen in
Meteoren gediegen vor, ebenso in ozeanischen Manganknollen.
Die Nickelgewinnung verläuft über ein mehrstufiges Verfahren, in dem Magnet-
kies vorgeröstet und das Eisen durch Verschlackung als Eisensilikat entfernt
wird. Das entstehende Mischsulfid CuNiS2 lässt sich zum Oxid rösten und zu
Monelmetall reduzieren, das noch 30 % Kupfer enthält. Trennt man zuvor aus
dem Mischsulfid das Kupfersulfid ab, führt die Reduktion des Oxids zu reinem
Nickel, aus dem sich galvanisch noch einige Edelmetalle gewinnen lassen.
Eine elegante Reinigung von Nickel gelingt in der Gasphase nach dem Mond-
Verfahren von 1890. Nickeloxid wird hierzu mit Wassergas (CO, H2 ) zum Ele-
ment reduziert. In einem zweiten Schritt entsteht mit Kohlenmonoxid das bei
42 °C leicht verdampfende Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 . Das staubfreie reine
Gas lässt sich bei ca. 180 °C an Nickelkügelchen zersetzen und liefert ein Granu-
lat höchster Reinheit von 99,99 %. Nickeltetracarbonyl ist an der Luft sehr in-
stabil. Es zerfällt innerhalb von Minuten. In einer Kohlenmonoxidatmosphäre
ist die Stabilität allerdings größer.
Anwendung
Über die Hälfte der Gesamtproduktion an Nickel wird heute zur Legierung von
Stahl eingesetzt. Im Jahre 1912 begann mit der Versuchsschmelze 2 Austenit
224 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
(V2A) die Entwicklung korrosions- und säurebeständiger Stähle bei der Fried-
rich Krupp AG in Essen. Die Legierung wird heute als X5CrNi 18-8 bezeichnet.
Sie enthält 18 % Chrom, 8 % Nickel neben 0,05 % Kohlenstoff, ist also eine Ei-
senbasislegierung. Das führende X kennzeichnet hochlegierte Stähle. Erst die
Verfügbarkeit solcher Stähle hat den großtechnischen Betrieb der Haber-Bosch-
Synthese ermöglicht.
Im Alltag begegnet uns heute meist die Legierung X5CrNi 18-10 mit der Werk-
stoff-Nr. 1.4301. Dies ist ein relativ weicher nickelhaltiger, nicht magnetischer
Austenit-Stahl, der gegen Wasser, Wasserdampf, Luftfeuchtigkeit, Speisesäur-
en, sowie schwache organische und anorganische Säuren beständig ist. Seine
Einsatzgebiete umfassen Nahrungsmittelindustrie, Getränkeproduktion, Phar-
ma- und Kosmetikindustrie, chemischen Apparatebau, Fahrzeugbau, Haus-
haltsgeräte, chirurgische Instrumente, Schank- und Küchenbau, Sanitäranla-
gen, Architektur, Schmuck und Kunstgegenstände. Stähle mit einem Chroman-
teil von mehr als 13 % sind aufgrund einer Passivierung rostfrei. Der Nickel-
anteil steigert die Zugfestigkeit. Weitere nicht-rostende Stähle sind unter den
Namen Nirosta (Krupp), Remanit (Thyssen) oder Cromargan (WMF) be-
kannt. Es gibt derzeit über 800 verschiedene Stähle.
Große Bedeutung hat der 1899 von W. Jungner in Schweden entwickelte Nickel-
Cadmium-Akkumulator gewonnen, den es als offene und gasdichte Zelle gibt.
Vorteilhaft sind ihre geringen Innenwiderstände, weswegen sie hohe Ströme
liefern können. Wegen ihres Cadmiumgehaltes werden sie seit 1995 zunehmend
durch Nickel–Metallhydrid–Akkus (NiMH) ersetzt. In der EU erwartet man
ein partielles Anwendungsverbot.
Ein wichtiger Einsatz von Nickel als chemischem Werkzeug bei der Hydrierung
von Olefinen ist zu erwähnen. Hierzu wird feinverteiltes Nickel (z. B. Raney-
Nickel) als Katalysator verwendet, welcher Wasserstoff aktiviert. Auf dieser
Basis arbeitet die von Wilhelm Normann 1902 entwickelte Hydrierung von
Ölen und halbfesten Fetten (Fetthärtung), der weltweit jährlich über vier Mil-
lionen Tonnen ungesättigte Acyllipide unterworfen werden. Eine vollständige
Hydrierung strebt man für Koch-, Back- und Bratfette an, während partielle
Hydrierungen die Stabilität von ansonsten leicht autooxidablen Ölen verbes-
sern. Partiell gehärtete pflanzliche Fette und Öle bilden auch die Ausgangs-
stoffe für die Margarine.
Zum Zwecke der Fetthärtung wird Nickel fein verteilt meist auf einen Träger
(Kieselgur, Bimsstein oder Aluminiumoxid) gefällt. Da die Trägerkatalysatoren
(Kontakte) pyripher sind, werden sie in öliger Zubereitung angewendet. Zwi-
schen 200 bis 800 g Nickel sind pro Tonne Fett erforderlich. Die Hydrierung
erfolgt bei etwa 180 °C und einem Wasserstoff-Druck von bis zu 30 bar. Die
Trägerkatalysatoren lassen sich nach der Reaktion durch Filtration abtrennen.
Sehr günstig ist, dass Nickelkontakte im Gegensatz zu anderen bis zu 50-mal
wiederverwendbar sind. Zwischenzeitlich favorisierte man Ni3 S2 (Nickelsubsul-
fid), welches gegen Katalysatorgifte unempfindlicher ist.
Toxikokinetik
Toxikodynamik
bar zum Tod. Etwa 5 % aller Vergiftungen enden bedingt durch ein Lungen-
versagen tödlich.
Therapie
4.2.5 Quecksilber
Die Namensgebung (quick) zeigt, dass das Metall bereits früh bekannt, ge-
nutzt und vor allem als flüssiges Element eine besondere Aufmerksamkeit be-
anspruchte. Die Griechen nannten es ÍdrĹrguroc, wässriges Silber. Den Al-
chimisten verdanken wir die Bezeichnung Mercurius, die an die innere Ver-
wandschaft mit dem umlaufschnellsten Planeten und dem flinken Götterboten
anbindet. Hieraus entstand die englische Bezeichnung mercury. Quecksilber
kommt teilweise gediegen in der Natur vor, jedoch sind auch etwa 20 queck-
silberhaltige Mineralien beschrieben, von denen das rote Sulfid Zinnober (HgS,
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 229
Anwendungen
Mehr als die Hälfte der Weltproduktion an Quecksilber wird von der elektro-
technischen Industrie (Tageslichtlampen, Batterien) und zur Chlorkali-Elektro-
lyse verwendet. Die Farbenindustrie verbraucht etwa 15 %, für Mess- und
Kontrollinstrumente werden 10 % veranschlagt. Seine landwirtschaftliche Ver-
wendung (Saatbeizen) ist stark rückläufig und beträgt weniger als 5 %. In
der Papierindustrie und für katalytische Zwecke liegt der Anteil bei 3 %, für
Arzneistoffe bei 1 %. Die Zahnheilkunde verbraucht zwischen 3 und 5 %. Der
Rest von rund 10 % dient etwa 3000 verschiedenen Anwendungen.
230 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Luft CH 4 C2 H 4
(CH3)2Hg
Vulkane
Hg0
Hg0
Wasser Fisch
CH3Hg+
Hg2+
Plankton Produktion
Hg(CH3)2
Hg22 +
CH3Hg+ Hg(CH3)2
pH <7 CH3Hg-S-CH3
Hg0
Bakterien pH >7 HgS
Sediment
Hg2+
Eine Reihe von Anwendungen von Quecksilber und seinen Verbindungen sind
gleichermaßen von historischem und toxikologischem Interesse.
Metallisches Quecksilber diente aufgrund seiner hohen Dichte als Sperrflüssig-
keit in wissenschaftlichen Geräten (Scholander, van Slyke). Auch elektrotechni-
sche Geräte enthielten beachtliche Mengen (Gleichrichter, Schalter). Wurde es
verschüttet, sammelte es sich häufig unter den Holzböden der Laborräume und
verdampfte von dort. Hierbei kann ein Kubikmeter Luft von 20 °C ca. 15 mg Hgo
aufnehmen. Dasselbe Problem ergab sich früher in den Spiegelbelägen im
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 231
Raum Nürnberg und Fürth, in denen bis Ende des 19. Jahrhunderts Kris-
tallglastafeln mit amalgamierter (verquickter) Zinnfolie belegt wurden. Das
Amalgam härtete unter Abpressen des überschüssigen Quecksilbers. Zum Teil
sind die früheren Produktionsstätten, die heute als Wohnhäuser genutzt wer-
den, beachtlich kontaminiert. Noch gravierender sind die Freisetzungen von
gasförmigem Quecksilber, wenn bei der Goldgewinnung oder beim Vergolden
große Mengen an Quecksilber durch Hitze verdampft werden. Quacksalber,
Vergolder und Goldwäscher setzten sich hohen Konzentrationen an Quecksil-
ber aus. Eine heute obsolete Verreibung von Fett mit 30 % metallischem Queck-
silber diente als Graue Salbe“ zur Behandlung der Syphilis. Kupferamalgam,
”
das größere Mengen an Quecksilber abgibt als heute verwendete Silberamalga-
me, wurde u. a. wegen seiner desinfizierenden Wirkung zur Versorgung kariöser
Zähne verwendet.
Unter den anorganischen mono- und divalenten Quecksilberverbindungen fin-
den sich einige, die zu medizinischen und industriellen Zwecken früher häufig
angewandt wurden. Von Interesse waren vor allem die desinfizierenden Eigen-
schaften, die bei der Behandlung dermatologischer und ophthalmologischer
Infektionen und Erkrankungen und bei Befall mit Ektoparasiten in Salben ge-
nutzt wurden. Die starke Komplexbildung mit biologischem Material mit dar-
aus resultierender Proteindenaturierung ermöglicht diese Anwendungen. Un-
ter den erwähnenswerten Verbindungen finden sich Kalomel (Hg2 Cl2 ; LD100
ca. 2–3 g), weißes Präzipitat (HgNH2 Cl), gelbes Oxid (HgO) und rotes Iodid
(HgI2 ). Kalomel diente auch als Abführmittel. Dies war wegen seiner äuäßerst
geringen Löslichkeit und schlechten Resorption möglich. Zur Gerätedesinfekti-
on und zur Holzbehandlung wurde das stark ätzende Sublimat (HgCl2 ; LD100
ca. 200–400 mg) verwendet. Die beizende Wirkung auf Tierhaare machte man
sich in der Herstellung von Filz zu Nutze (HgNO3 ), so dass Filzhüte oft große
Konzentrationen an Quecksilber enthielten.
Organische Quecksilberverbindungen (Abbildung 4.21) sind seit 1913 in größe-
rem Maße als Fungizide zur Saatgutbeizung verwendet worden. Besonders ge-
eignet hierfür schienen wegen der hohen Flüchtigkeit kurzkettige Alkylverbin-
dungen des Quecksilbers wie Methyl- oder Ethylquecksilber-Chlorid. Jedoch
besteht auch die Gefahr einer Schädigung des Saatgutes und der Anwender,
weswegen Verbindungen dieses Typs in Deutschland schnell verboten wur-
den. Alkoxy- und Aryl-Quecksilberverbindungen wie Methoxyethylquecksilber-
Chlorid oder Phenylquecksilber-Acetat traten an deren Stelle. Die Saatgutbe-
handlung mit Quecksilberverbindungen war lange Zeit üblich, bis in Schweden
erstmals 1966 ein Verbot ausgesprochen wurde, da Vögel verendeten, welche
gebeiztes Getreide von den Äckern gefressen hatten. In Deutschland ist ihre
Anwendung seit 1982 untersagt. In manchen Ländern werden sie jedoch noch
angewendet. Zur Blattspritzung (Obst, Reis) sind sie nicht zugelassen.
232 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
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innen
B
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10
um/sec
3
10
2
10
durch Aquaporine durch ADH
10
permeabel impermeabel permeabel
Filtration
Henlesche-Schleife
prox. Tubulus dist. Tubulus
Glomerulum Sammelrohr
absteigend aufsteigend absteigend
Abbildung 4.22 A: Modell eines Aquaporins (AQP). Das Motiv NPA, das zwischen der 2.
und 3. sowie der 5. und 6. transmembranären Domäne auftritt, bildet die eigentliche Pore für
H2 O. Hg2+ blockiert den Wasserdurchtritt durch Bindung an ein Cystein im Kanalbereich. B:
Darstellung der Permeabilität für Wasser entlang eines Nephrons, das der Übersichtlichkeit
wegen gestreckt gezeichnet ist. Während Aquaporine im absteigenden Teil des Tubulus für die
H2 O-Permeabilität verantwortlich sind, ist diejenige des Sammelrohres hauptsächlich durch
das Antidiuretische Hormon ADH reguliert (nach Agre et al., 1995).
legenden Prozesse der Harnbereitung in der Niere kurz erläutert, wie sie im
unteren Teil der Abbildung 4.22 schematisch dargestellt sind. Nach einer Ultra-
filtration des Blutes im Glomerulum strömt das blutisotone Filtrat durch den
proximalen Nierentubulus und gelangt in den absteigenden Teil der Henleschen
Schleife. Auf dieser Strecke herrscht eine zunehmend höhere Osmolarität des
234 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Harns, die durch einen aktiven Co-Transport von Na- und Cl-Ionen im benach-
barten aufsteigenden Teil der Henleschen Schleife erzeugt wird (Haarnadel-
Gegenstromprinzip). Gleichzeitig ist dieser aufsteigende Bereich des Systems
für Wasser nicht permeabel. Das absteigende Tubulussystem weist dagegen
eine hohe Permeabilität für Wasser auf, was die Konzentrierung des Ultrafil-
trats erst ermöglicht. Die hohe Durchlässigkeit dieser Zellwände für Wasser
wird durch eine reichliche Ausstattung mit porenbildenden Proteinen, sog.
Aquaporinen erreicht, die sich mit immunologischen Methoden nur in diesem
Bereich des Tubulussystems nachweisen lassen. Die Aquaporine, die aus sechs
transmembranären Domänen gebildet werden, besitzen in einem Cystein-Rest
eine Bindungsstelle für Quecksilber-Ionen. Ist Quecksilber anwesend, wird die
Pore für einen Wasseraustausch außer Funktion gesetzt. Dies verhindert den
passiven Austritt von Wasser aus dem Filtrat und damit dessen Zunahme, was
eine diuretische Wirkung ausmacht.
Toxikokinetik
Die toxikologische Betrachtung des Quecksilbers muss sich mit drei verschie-
denen Verbindungstypen beschäftigen, mit elementarem, anorganischem und
organisch gebundenem Quecksilber.
Elementares Quecksilber
Elementares Quecksilber in metallischer Form hat nur ein geringes toxisches
Potential. Eine orale Aufnahme selbst größerer Mengen ist nicht gefährlich.
Eine dermale Resorption tritt im Normalfall nicht auf, sie ist aber vom Grad
der Dispersion abhängig. Intravenös injiziertes Quecksilber kann Embolien,
also einen Fremdkörperverschluss kleinster Gefäße, auslösen. Es ist nicht akut
toxisch, führt jedoch sicher zu einer chronischen Intoxikation.
Wesentlich gefährlicher ist die Exposition gegenüber gasförmigem Quecksil-
ber. Wo immer metallisches Quecksilber vorkommt, befindet sich aufgrund
seines hohen Dampfdruckes Quecksilber in der Luft. Nach Inhalation gelangt
gasförmiges Hgo wegen seiner hohen Lipophilie (Löslichkeit in Pentan 2,7 mg/L,
in Wasser nur 20 mg/L) und Beweglichkeit, ähnlich wie Narkosegase, über die
kurze alveolare Diffusionsstrecke ins Blut. Die Resorptionsquote liegt bei et-
wa 80 %, der Verteilungsgrad zwischen Luft und Körpergewebe wird auf 1:20
geschätzt.
Bedingt durch seine hohe Beweglichkeit kann das Hgo -Atom in Zellen verschie-
dener Organe diffundieren (Transportform). Es unterliegt gleichzeitig einer ra-
schen metabolischen Umwandlung, die bereits in roten Blutzellen beginnt, aber
auch in anderen metabolisch aktiven Zellen abläuft. In den Erythrozyten liefert
ein zweimaliger Elektronenentzug unter katalytischer Beteiligung der Katala-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 235
Lunge Gehirn
2-
H2O2 H2O + O
max 15 mg/m3 BB
MAK 100 ug/m3 B S
o normal 20 ng/m3 80% o Cat. 2+
Hg Hg Hg Hg
S
t1/2 > 1a
o Cat. 2+
Hg Hg
MeHgX 2: 1 MeHgX
90% MeHgX 20 : 1
Ery
MeHgX
2+ 2+
Hg 5-10% Hg
o
Hg 0,01% MT-Hg
Faeces Urin
Abbildung 4.23 Toxikokinetik der Quecksilberspezies Hgo , Hg2+ und MeHgX im Organis-
mus nach pulmonaler (li. oben) und enteraler (li. unten) Exposition. Verteilung und Re-
aktionen im Erythrozyten (zentral), Gehirn (re. oben) und Niere (re. unten). BBB: Blut-
Hirn-Schranke, Cat.: Katalase, t1/2 : Halbwertzeit, MT: Metallothionein, Resorptionsquoten
in Prozent.
Eine Einlagerung erfolgt auch in die Haare. Durch Demethylierung von Di-
methylquecksilber entsteht Hg2+ , welches weniger mobil ist. Ihm eröffnet sich
allerdings durch die Reaktion mit Glutathion und ähnlichen Verbindungen, die
weiche Lewis-Basen darstellen, ein Zugang zu deren Ausscheidungswegen über
Faeces und Urin. Die mittlere Halbwertzeit beträgt 70 Tage.
Das Methylquecksilberkation CH3 Hg+ hat die Möglichkeit mit weichen Lewis-
Basen, zu denen Halogenanionen, Cyanid, Rhodanid und Alkylthiolate zählen,
kovalente Bindungen des Typs MeHg-X einzugehen. Diese sind alle lipophil.
Mit harten Lewis-Basen wie Nitrat oder Sulfat bilden sich dagegen ionische
Bindungen, wodurch das CH3 Hg+ ein wasserlösliches hydratisiertes Kation des
Typs CH3 Hg(H2 O)+ bleibt. Die Umwandlung in die lipophile Spezies kann je-
derzeit erfolgen, sofern die geeigneten Anionen anwesend sind. Die Magensäure
oder das Meerwasser können für eine erste Stufe genügend Chlorid bereitstel-
len. Die Bildungskonstanten für die lipophilen Spezies nehmen in der Reihen-
folge MeHgF MeHgCl < MeHgBr < MeHgI MeHgSMe zu. Hieraus kann
man ableiten, dass im Organismus eine Umwandlung bis zu den stabileren
Komplexen mit Schwefel ablaufen wird.
Methylquecksilber-Kationen sind auch in der Lage, in den Purinbasen Adenin
und Guanin aciden Wasserstoff zu ersetzen und sich an Aza-Zentren des Mo-
leküls anzulagern. Dieses Verhalten könnte eine Erklärung sein für die unter
Methylquecksilber beobachteten Chromosomenschäden.
Toxikodynamik
Therapie
4.2.6 Thallium
Thallium wurde 1861 von W. Crookes aufgrund seiner smaragdgrünen Flam-
menfärbung in selenhaltigen Mineralien entdeckt und ein Jahr später von La-
my rein dargestellt. Die grüne Spektrallinie (535 nm) führte zur Wahl des Na-
mens jallìc, der grüner Zweig bedeutet. Thallium ist mit Pyrit und Zink-
blenden vergesellschaftet und gelangt über den Röstprozess bei der Schwefel-
säureherstellung in den Bleikammerschlamm, aus dem es gewonnen werden
kann.
Anwendungen
Toxikokinetik
Toxikodynamik
Die orale Aufnahme von etwa 1 g Thallium(I)-sulfat (ca. 15 mg/kg) führt nach
einer Latenzzeit von bis zu 3 Tagen zu einer akuten Vergiftung mit Störungen
des Gastrointestinaltraktes, des Nervensystems und der Haut nebst Anhangs-
gebilden (Haare und Nägel).
Nach Übelkeit und Erbrechen, gelegentlich begleitet von Durchfällen, folgt eine
typische Verstopfung mit kolikartigen Leibschmerzen. Die Wirkung am Ner-
vensystem äußert sich in Empfindungsstörungen an Fingern und Zehen, Über-
empfindlichkeit gegenüber Berührungen der Haut. Später kommen aufsteigen-
de motorische Lähmungen hinzu. Psychische Störungen, Depression, Psychose,
Schlaflosigkeit und Krämpfe sind Ausdruck eines zentralen Angriffs. Degene-
rative Schädigungen von Nerven oder Nekrosen von Neuronen sind beschrie-
ben worden. Das sympathische Nervensystem befindet sich in einem Zustand
erhöhter Reizbarkeit mit einem Anstieg von Katecholaminen, was eine Blut-
drucksteigerung und Tachykardie zur Folge hat. Haupt- und Körperhaare fallen
nach 2–3 Wochen teilweise oder völlig aus. Diese Störung ist reversibel. Sinnes-
haare sind vom Ausfallen, vielleicht wegen fehlender sympathischer Innervie-
rung, nicht betroffen. An den Nägeln sind in der Spätphase weiße Quersteifen
(Mees-Streifen) zu beobachten, die durch Wachstumsstörungen hervorgerufen
sind.
Ohne Therapie führt die genannte Dosis zum Tod. Die lange Latenzphase von
etwa zwei Tagen bis zum Auftreten toxischer Wirkungen verhindert meist so-
fortige Gegenmaßnahmen, so dass nach Überleben mit teilweise monatelangen
Erholungsphasen zu rechnen ist.
Thallium ist ein Beispiel für ein typisches Kumulationsgift, da seine Ausschei-
dung im Vergleich zu einer chronischen Exposition in den meisten Fällen gering
ist. Die verzögert und abgeschwächt auftretenden Symptome werden oft nicht
einer Vergiftung mit Thallium zugeordnet. Als Zeichen einer chronischen Ver-
giftung wird bei Industriearbeitern häufig eine entzündliche und degenerative
Nervenkrankheit beobachtet. Teilweise treten degenerative Schädigungen des
Sehnerven auf, die bis zur Erblindung führen. Eine starke Akkumulation von
Thallium durch Sehnerv und Linse kann hierfür eine Ursache sein.
Ultrastrukturell zeigt sich, dass Mitochondrien in Niere, Leber und anderen
Organen degenerativ verändert sind. Hierbei kommt es zu gesteigerter Bildung
der Cristae und zu einer Vakuolisierung. Eine Anreicherung von Thallium in
diesen Organellen ist beschrieben. Die Niere reagiert unter Entzündung mit
einer tubulären Degeneration. Für das Herz zeigt das Thallium eine relative
Organspezifität, weswegen es sich zur Szintigraphie dieses Organs eignet.
242 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Entgiftung
Die Beschleunigung der Ausscheidung von Thallium aus dem Organismus lässt
sich vor allem mit einer Eindämmung des enterohepatischen Kreislaufs er-
reichen. Hierzu dient Kalium-Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), das lösliche oder
kolloidale Berliner Blau. Die Verbindung nimmt das Thallium anstelle von Ka-
lium in den Komplex auf. Das Strukturgerüst des Berliner Blaus ist aufgrund
ähnlicher Ionenradien in der Lage, neben Thallium auch Rubidium (1,48 Å)
und Cäsium (1,69 Å) zu inkorporieren. Daneben eignet sich zur Unterbrechung
der Reabsorption die Überführung in schwerlösliches Thalliumiodid oder Sul-
fid. Die Anwendung von Dimercaprol oder Dithiocarb ist nicht sinnvoll, da sie
komplexiertes Thallium vermehrt in das Gehirn diffundieren lässt und so des-
sen Toxizität erhöht. Generell ist die Behebung der Obstipation durch Gabe
von Laxantien angebracht. Sofern noch keine Nierenschädigung eingetreten ist,
besteht die Möglichkeit der forcierten Diurese. Eine Dialyse ist zur beschleu-
nigten Ausscheidung und zum gleichzeitigen Schutz der Niere sinnvoll.
Anwendungen
Genutzt wird Vanadium in Form seines dunkelblauen Oxids (V2 O4 ) als Sau-
erstoff übertragender Katalysator beim Kontaktverfahren zur Herstellung von
Schwefelsäure. Eine gleichzeitige Reduktion von V2 O5 und Eisenoxid durch
Kohlenstoff liefert Ferrovanadin mit einem Gehalt von 50 % Vanadin. Es dient
zur Herstellung von Vanadium-Stählen mit geringeren Vanadiumanteilen. We-
gen der Farbenfreudigkeit der verschiedenen Vanadiumoxide (orangerot V2 O5 ,
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 243
Toxikokinetik
Toxikodynamik
O H
O
H2O 2+ OH 2
V VO
H2O OH 2
HO OH
H2O
Abbildung 4.24 Räumliche Struktur der Komplexe des Vanadiums in der Oxidationszahl
+4 (Oxovanadium(IV), Vanadyl, VO2+ ) und +5 (Orthovanadinsäure). In Konzentrationen
unter 10 µM liegen fast nur monomere Formen vor. Die Komplexe beider Oxidationsstufen
bilden abhängig vom pH-Wert Ionen unterschiedlicher Ladung. Von sauer bis alkalisch erge-
ben sich die beiden folgenden Reihen: Vanadium(IV): VO2+ 5aq, VO(OH)+ 4aq, VO(OH)2 ,
VO(OH)3− 2aq. Vanadium(V): VO2+ , H2 VO− 2− 3−
4 , HVO4 , VO4 . Bei physiologischem pH-
Wert von 7,4 stehen sich demnach Vanadium(IV) als Kation und Vanadium(V) als Anion
gegenüber. Im stark Sauren liefert die Metavanadinsäure nach Protonierung und Wasser-
abspaltung ein Dioxovanadium(V)-Kation (HVO3 + H+ – H2 O −→ VO+ 2 ), das nicht mit
dem Vanadyl-Kation (VO2+ ) zu verwechslen ist. Das Vanadyl-Hydroxid VO(OH)2 weist eine
ziemlich geringe Löslichkeit auf.
nadat anzutreffen ist. Ähnlich verhalten sich die Paare Chromat/Cr3+ und
Quecksilber/Hg2+ .
Eine Reihe von Wirkungen des Vanadats kommen durch dessen Redox-Reak-
tionen mit zellulären Bestandteilen zustande. Mit freien Thiolen der Zelle, wie
sie in Cystein und Glutathion vorliegen, Ascorbinsäure, NADH und Katecho-
laminen tritt eine rasche Reduktion zum Vanadyl-Kation (+4) (VO2+ ) ein.
Bei der Reduktion durch Thiole ist ein kurzlebiger Thioester als Intermediat
beteiligt (siehe Kapitel 4.2.3).
Die Analogie zu Phosphat ist Ursache für eine andere Wirkungsqualität von
Vanadat. Die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase wurde durch Zufall entdeckt, da
das in den Versuchen eingesetzte ATP tierischen Ursprungs in Chargen unter-
schiedlicher Vanadiumgehalte vorlag. Vanadat bindet an eine hoch- und eine
wenig-affine Bindungsstelle an der a-Untereinheit des Enzyms und verdrängt
hier ATP, das an diesen Stellen inverse Bindungsaffinitäten aufweist. Hier-
durch verzögert es die zum Ionentransport notwendige Konformationsände-
rung (E2 - E1 ). Auch Na+ -Ionen interferieren mit der Bindung des Vanadats.
Ähnliche Wirkungen werden für eine Reihe anderer ATPasen beschrieben.
Für die Adenylatcyclase ist dagegen eine Stimulation durch Vanadat gefunden
worden. Es ist bekannt, dass die positiv inotrope Wirkung der Herzglycoside
durch die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase des Herzmuskels zustande kommt.
Allerdings führt die Inhibition des Enzyms nur unter bestimmten Umständen
Therapie
Zur Behandlung von Vergiftungen wird CaNa2 -EDTA eingesetzt, ein Kom-
plexbildner, der Vanadium als Vanadyl-Kation cheliert (Abbildung 4.25). Vor-
teilhaft erwiesen sich zusätzlich auch hohe Dosen von Ascorbinsäure, welche
die Reduktion von Vanadat zu Vanadyl begünstigt. Da die körpereigene Syn-
these von Ascorbinsäure gestört ist, kann deren erhöhter Verbrauch nicht mehr
gedeckt werden.
ser aus privaten Brunnen gefährdeter Gegenden immer auf Arsen prüfen zu
lassen. Auch in Schlesien, Argentinien, Chile, Mexiko, Californien liegen Regio-
nen mit zum Teil hohen geogen bedingten Arsenkonzentrationen. Außerdem
kennt man Grundwasserströmungen, welche in tiefen Ablagerungen des Ter-
tiär fließen und hohe Konzentrationen von Arsen enthalten. Sie verfrachten
große Mengen des Elements über weite Entfernungen hinweg und lassen sie
andernorts an der Oberfläche zutage treten (Freisinger Moos). Auch manche
Thermalbrunnen im Oberrheingraben enthalten so viel Arsen (Maxquelle in
Bad Dürkheim 14 mg/L), dass das Trinken dieser Wässer verboten wurde, so-
fern keine vorherige Abreicherung stattgefunden hat.
Die Menschen litten aber nach einiger Zeit an Hauterkrankungen, die eindeutig
mit Arsen in Zusammenhang stehen. Nachträgliche Messungen von Arsen in
den Brunnenwässern, die leider zu Beginn versäumt worden waren, brachten
die traurige Gewissheit. Etwa ein Drittel aller zehn Millionen Brunnen führt
Wasser mit Arsenkonzentrationen von über 50 mg pro Liter und mindestens 30
Millionen Menschen sind allein in Bangladesch sind auf dieses Wasser angewie-
sen. Zur hohen Aufnahme von Arsen über das Brunnenwasser tritt noch die
Aufnahme aus dem Reis hinzu, denn in der trockenen Jahreszeit werden die
Felder mit Wasser aus den Brunnen bewässert, und die Pflanze nimmt Arsenit
leicht über die Wurzel auf und reichert es an. Hierbei spielen die Aquaporine
eine wesentliche Rolle.
Als Quelle dieses Arsens gelten Arsenmineralien, meist Fe[AsS], die in den
Gesteinen des Himalaya vorkommen. Die großen Ströme Ganges, Brahmaputra
und Meghna transportieren das verwitterte, arsenhaltige Gestein talwärts und
lagern das Material als schlammiges, toniges Sediment in einem Delta in den
Golf von Bengalen ab.
Anwendungen
Zur Legierung mit Kupfer und Blei werden nur 3 % der Arsenproduktion ver-
wendet. Bleischrot enthält 1 % Arsen. Arsenik nutzt man bei der Glasherstel-
lung als Klärungs- und Entfärbungsmittel. Einer Reihe von Metall-Arsenaten,
wie dem Blei-, Calcium und Kupferarsenit (Schweinfurter Grün, 3 Cu(AsO2 )2 ·
Cu(CH3 COO)2 ) kam früher bei der Schädlingsbekämpfung im Weinbau und in
der Forst- und Landwirtschaft größere Bedeutung zu. Seit 1942 ist der Einsatz
verboten, da Vergiftungen und Krebserkrankungen sowohl durch das Ausbrin-
gen als auch durch Rückstände auf Früchten ausgelöst worden waren.
In Baumwollplantagen benutzte man früher arsenige Säure H3 AsO3 (HAsO2 )
vor der Ernte zur künstlichen synchronen Entlaubung der Pflanzen, die durch
eine Austrocknung der Pflanzen hervorgerufen wird. Heute wendet man hierfür
und für die Pflege von Golfplätzen das Herbizid Dimethylarsinsäure (DMA,
Kakodylsäure bzw. deren Na-Salze) in großem Maßstab an. Bereits im Viet-
namkrieg wurde dieses arsenhaltige Herbizid, enthalten im agent blue, vom
US-Militär innerhalb einer Dekade in einer Menge von mindestens acht Mil-
lionen Liter über Felder und Dörfer versprüht. Diese rice-killing operations
hatten die Vernichtung der Reiskulturen und der Ernte des Landes zum Ziel.
Arsenoxide wurden früher als Rodentizide eingesetzt, weil sie völlig geruchs-
und geschmacklos sind. Diese Eigenschaften verführten die Menschen seit der
Renaissance dazu, Arsenoxide als Mordgifte zu verwenden. Erst der 1836 von
James Marsh entwickelte forensische Nachweis schreckte allmählich vor dem
Missbrauch als Giftmehl ab (vgl. Abbildung 4.26). Kleine Mengen Arsenik
waren in der Fowlerschen Lösung, dem Liquor Kalii arsenicosi enthalten, die
als Roborans medizinische Verwendung fand. In verschiedenen Alpengegenden
war Arsenikessen verbreitet.
Als erste organische Arsenverbindungen wurden bereits 1760 das Tetrame-
thyldiarsin und dessen Oxid dargestellt, widerlich riechende Stoffe, die durch
Bunsen 1842 die Namen Kakodyl und Kakodyloxid erhielten. Von ihnen leitet
sich auch die Kakodylsäure Dimethylarsin ab.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 249
Abbildung 4.26 Marsh’scher Apparat einfacher Construction. Aus Die Prüfung chemi-
”
scher Gifte“, A. Duflos, Verlags- und Königliche Universitäts-Buchhandlung, Ferdinand
Hirt, Breslau 1867.
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Abbildung 4.27 Auswahl organischer Arsenverbindungen von zum Teil historischer Bedeu-
tung. Arsen liegt in der Verbindungen in den Oxidationsstufen +3 oder +5 vor. Arsphenamin
bildet ein Trimeres zyklisches Assoziat mit sechs Ringgliedern.
Die Wirkung auf Trypanosomen beruht auf der Blockade einer essentiellen
Reduktion des in den Erregern enthaltenen Trypanothions, welche durch eine
Adduktbildung mit Arsenit unterbunden wird.
Toxikokinetik
Arsenverbindungen gelangen nach der Resorption aus dem Blut rasch in alle
Gewebe. Eine Umverteilung führt zu vorübergehender Anreicherung in Le-
ber und Niere. Verbindungen des dreiwertigen Arsen interagieren im Orga-
nismus generell mit Proteinen, die Sulfhydrylgruppen tragen. Besonders mit
benachbarten Thiolgruppen ist die Bindung effektiv, wie man an der Hem-
mung des Citratzyklus durch die Blockade liponamidhaltiger Transacylasen
in den Dehydrogenase-Komplexen für Pyruvat und 2-Oxoglutarat erkennen
kann. Es bildet sich mit Arsenit ein inaktives zyklisches Arsen-Derivat der
Dihydroliponsäure. Andererseits ermöglicht die Bildung von Thiolkomplexen
unter Beteiligung von Glutathion eine besonders starke Einlagerung von Ar-
sen in sogenannte Depotkompartimente, wie Haut, Nägel und Haare, in de-
nen nach Exposition an Keratin gebunden beachtliche Konzentrationen bis
100 mg As/kg gefunden werden. Diese Immobilisierung stellt gleichzeitig eine
Detoxifizierung dar.
Dreiwertiges Arsen besitzt in allen biologischen Systemen eine höhere Toxi-
zität. Unabhängig davon, welche Wertigkeitsstufe zur Aufnahme kam, findet
man im Organismus sowohl dreiwertiges (Arsenit) als auch fünfwertiges Arsen.
Die Oxidation zum Arsenat stellt eine relative Entgiftung dar.
252 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Beim Arsenat steht die chemische uns strukturelle Analogie zum Phosphat-
Anion im Vordergrund. So kommt es durch die Verwendung von Arsenat, un-
ter der Katalyse der Glycerinaldehydphosphat-Dehydrogenase zur Synthese
des labilen Acylarsenats 1-Arseno-3-phosphoglycerat, das die Substratketten-
phosphorylierung der Glycolyse unterbricht (vgl. Seite 144).
Das aufgenommene anorganische Arsen unterliegt in allen Säugetierspezies
einem beinahe ähnlichen Metabolismus, der in einer stufenweisen Methylierung
besteht (Abbildung 4.28).
Von einer applizierten Testmenge lassen sich im Urin zunächst die anorgani-
schen Spezies finden. 17 % der Dosis werden als Arsenat und 8 % als Arse-
nit ausgeschieden. Daneben treten ein- oder zweifach methylierte Arsenver-
bindungen auf. Vom gesamten ausgeschiedenen Arsen entfallen 10–20 % auf
MMA(V) (CH3 As=O(OH)2 , Monomethylarsonsäure) und 60–80 % auf Dime-
thylarsinsäure (DMA(V), (CH3 )2 As=OOH). Insgesamt überwiegt der Anteil
des fünfwertigen und des organischen Arsen. Bei chronisch exponierten Per-
sonen in Indien und Bangladesch konnte man auch einen kleinen Anteil von
2–5 % an MMA(III) und von 4–21 % an DMA(III) nachweisen.
Anorganisches Arsen unterliegt im Organismus einer mehrfachen Methylie-
rung. Diese findet in Anwesenheit hoher Konzentrationen von Glutathion statt,
das initial ein Arsenit-Triglutathion (ATG) bildet. Jeder oxidativen Methylie-
rung muss eine Reduktion vorausgehen. S-Adenosylmethionin dient der Me-
thyltransferase (Cyt19) als Methylgruppendonator. Beginnend beim Arse-
nit(III) entstehen mono-, di- und trimethylierte fünfwertige und entsprechende
dreiwertige Arsenverbindungen. Der Mechanismus der Reduktion und nachfol-
genden oxidativen Methylierung ist in Abbildung 4.28 erläutert.
In niederen Organismen unterliegen Arsenverbindungen durch Oxidation, Re-
duktion und Methylierung ebenfalls einem regen Stoffwechsel. Bakterien und
Pilze methylieren zu Dimethyl- neben Trimethylarsin. Wachsen Schimmelpilze
auf arsenhaltigen Materialien (Tapeten), so bildet sich flüchtiges Tetraethyl-
diarsinoxid (Ethylkakodyloxid) neben Trimethylarsin (Gosio-Gas), eine Reak-
tion, die sich als biologischer Arsennachweis nutzen lässt. Das Trimethylarsin
unterliegt an der Luft einer Oxidation zu Trimethylarsinoxid.
Im Meer lebende Mikroorganismen, Plankton, Muscheln, Garnelen, Fische und
Algen enthalten von allen Lebensmitteln mit Abstand die höchsten Konzen-
trationen an Arsen. In Garnelen sind 175 ppm gemessen worden, Algen können
bis zu 4 g Arsen im kg Trockenmasse enthalten. Das Arsen liegt überwie-
gend in organischer Form vor, darunter Arsenocholin und Arsenobetain, in
denen der quartäre Stickstoff durch Arsen ersetzt ist. Arsenobetain (Fischar-
sen) und Arsenocholin steuern den größten Teil des über die Fischnahrung und
Meeresfrüchte aufgenommenen Arsen bei (Abbildung 4.29). Die methylierten
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 253
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Abbildung 4.28 Die Methylierung von Arsenat. Sie beginnt mit der Reduktion des fünfwerti-
gen Arsen durch Zufuhr von zwei aus dem Glutathion (2 GSH −→ GSSG + H2 ) stammenden
Reduktionsäquivalenten. Wasser verlässt nach der Reaktion das reduzierte Molekül und Ar-
sen(III) trägt ein freies Elektronenpaar, in Analogie zu NH3 . R1 und R2 stehen für Hydroxyl-
oder Methylgruppen, je nach Fortschritt der Methylierung. Es folgt nach rechts die oxida-
tive Methylierung des Arsen(III). Als Methylgruppendonator fungiert S-Adenosylmethionin
(SAM), das abgekürzt dargestellt ist. Eine selenhemmbare Methyltransferase überträgt eine
CH+ 3 -Gruppe auf das freie Elektronenpaar des Arsen(III). Ein Proton verlässt das Molekül;
damit ist das Arsen oxidiert. Anmerkung: Die Elektronegativitäten (EN) der beteiligten Ele-
mente sind für Arsen 2,18, Wasserstoff 2,2, Kohlenstoff 2,5 und für Sauerstoff 3,5. Die
Ausbildung einer As-C-Bindung stellt für Arsen eine Oxidation dar. Im unteren Teil sind
vom Arsenat ausgehend die Namen aller möglichen methylierten Arsenverbindungen in den
beiden Oxidationszuständen tabelliert. Häufig wird die Angabe der Oxidationszahl (V) in den
Akronymen weggelassen. Will man mit dem Akronym die freie Säure bezeichnen, wird ein
weiteres A (für acid) angefügt: DMA(V) = Dimethylarsinat, DMAA(V) = Dimethylarsinic
acid = Kakodylsäure = Dimethylarsinsäure. TMA = Gosio-Gas.
Toxikodynamik
Arsenwasserstoff wird über die Lungen gut resorbiert. Er ist etwa 20-mal
giftiger als Kohlenmonoxid. Tödlich ist eine halbstündige Respiration von
254 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
CH3
H3C As CH2 COOH Arsenozucker Substitutionsrest Mr .
CH3 OH 328
Arsenocholin O O
H3C As CH2 O R O S OH 408
CH3 O OH O
O
CH3 S OH 392
HO OH O
H3C As CH2 CH2 OH
O
CH3 O P O OH 482
Arsenobetain OH OH
250 mg AsH3 /m3 Luft. Eine akute Exposition führt nach einer Latenzzeit von
einigen Stunden zu ersten Symptomem. In dieser Phase wird der Arsenwasser-
stoff wahrscheinlich zu Diarsin aktiviert (HAs=AsH). Als auffälligstes Zeichen
der Vergiftung stellt sich eine Ausscheidung von zunächst rotem, später brau-
nem Urin ein. Ursache hierfür ist die intravasale Hämolyse, welche Hämoglobin
freisetzt, das später in Hämatin und Hämosiderin übergeht. Der in die Ery-
throzyten eindringende Arsenwasserstoff wird durch oxygeniertes Hämoglobin
oxidiert und bewirkt eine irreversible Ausfällung von Hämoglobin (Denaturie-
rung), begleitet von einer Zerstörung der Erythrozytenmembran. Als Folge der
Belastung der Niere mit Protein kommt es zu Nierenversagen mit Anurie.
Elementares Arsen ist ungiftig. Jedoch lässt es sich durch Sauerstoff leicht zu
seiner dreiwertigen Form oxidieren, wobei es in Arsenik bzw. in arsenige Säure
nebst Arseniten übergeht. Da sich metallisches Arsen immer oberflächlich mit
diesen Oxiden überzieht, ist Vorsicht geboten. Gleiches gilt für Galliumarse-
nid und Indiumarsenid. Verbindungen dieser Oxidationsstufe sind toxischer als
jene des fünfwertigen Arsens (Arsensäure H3 AsO4 nebst Arsenate). Letztere
werden allerdings im Organismus partiell zu dreiwertigen reduziert. Eine kova-
lente Bindung von Arsen an organische Moleküle mindert in der Regel dessen
Toxizität.
Sofern Arsenik (As2 O3 ) gelöst verabreicht wird, erfolgt seine Resorption aus
dem Magen-Darm-Trakt so rasch und vollständig (zu ca. 80 %), dass in schock-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 255
artigem Verlauf nach schwerem Kreislaufkollaps der Tod innerhalb von weni-
gen Stunden eintritt. Werden dagegen ungelöste Arsenverbindungen aufge-
nommen, beobachtet man die sog. gastrointestinale Vergiftungsform. Sie ist
geprägt durch das Auftreten von choleraähnlichen Brechdurchfällen mit Ex-
siccose und Tod durch Herzlähmung. Ohne Analyse der Exkremente ist diese
Vergiftungsform leicht mit einer infektiösen Darmerkrankung zu verwechseln.
Die Wirkung von Arsenik als Kapillargift zeigt sich in der Erweiterung der
Gefäße infolge einer Lähmung ihrer Muskulatur. Sie ist begleitet von einer Per-
meabilitätserhöhung, welche zu einem Plasmaaustritt führt. Hierdurch ist das
Frühsymptom eines Lid- und Knöchelödems bedingt. In betrügerischer Weise
diente Arsenik als Roborans früher im Pferdehandel, da die Ödembildung der
Haut das Fell straffte und einen gesunden Eindruck entstehen ließ.
Unter einer subakuten Vergiftung mit Arsenik treten Entzündungen der
Schleimhäute an Augen, Nasen und Rachen auf, welche die Nahrungsaufnahme
erschweren. Einer chronischen Vergiftung (Arsenismus) geht meist eine Tole-
ranzentwicklung voraus, wobei das Mehrfache der tödlichen Dosis vertragen
wird. In diesem Zustand lassen sich Erkrankungen der Haut und der Nerven
erkennen. An der Haut zeigen sich eine Arsenmelanose und eine Hyperkerato-
se symmetrisch an Händen und Füßen und anderen Stellen, die zu Hautkrebs
führen können. Zusammen mit der Schädigung der Gefäße entsteht ein Krank-
heitsbild, das black-foot-disease genannt wird. Häufig lassen sich Störungen im
Nagelwachstum beobachten (Mees-Streifen), zuweilen auch Haarausfall. Die
Nerven reagieren mit einer Polyneuritis, die sich von distal nach zentral fort-
schreitend in Empfindungsstörungen, Schmerzen, symmetrischen Lähmungen
und Muskelatrophien ausdrückt. Als Spätschäden sind Arsenkrebs an der Le-
ber und Lunge sowie Leberzirrhose beschrieben.
Die Ursache der karzinogenen Eigenschaft von Arsen ist bisher nicht genau
bekannt. Früher war man der Ansicht, nur dem Arsenit wäre diese Potenz
eigen und seine schrittweise Methylierung sei eine Art Entgiftungsreaktion,
da die Metaboliten gegenüber zellulären Makromolekülen weniger reaktiv sind
und einer schnelleren Elimination unterliegen. Für Arsenit ist gesichert, dass
es DNA-Strangbrüche, oxidative Änderungen von DNA-Basen und DNA-
Protein-crosslinks herbeiführt. Es lässt sich ein Anstieg reaktiver Sauerstoffspe-
zies beobachten. Mittlerweile mehren sich jedoch experimentelle Indizien, wo-
nach die methylierten dreiwertigen Arsenspezies MMA(III) und DMA(III)
eine höhere Zytotoxizität und Genotoxizität aufweisen und starke Enzyminhi-
bitoren sind. An DMA(V) wurde gezeigt, dass es durch Bildung von Dimethyl-
arsenperoxyl-Radikalen (CH3 )2 AsO-O• DNA-Strangbrüche auslösen kann.
Arsenik kann die Differenzierung leukämischer Zellen einer nach Chemothera-
pie rezidivierenden Leukämie verhindern.
256 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide
Therapie
Abbildung 4.30 Zur Komplexierung von Arsen geeignete Chelatoren, die sich vom BAL
(Dimercaprol, 2,3-Dimercaptopropanol) ableiten. Vicinale Dithiole bilden besonders stabi-
le Komplexe mit Arsen. Die Säureanionen von DMSA = meso-2,3-Dimercaptosuccinat
und DMPS = 2,3-Dimercapto-1-propansulfonat verleihen den Komplexen eine gute Was-
serlöslichkeit.
5.1 Einleitung
Organische Lösungsmittel sind von der Chemie her eine sehr heterogene Grup-
pe von Substanzen. Meist steht ihre technische Anwendung im Vordergrund.
Ihre Verwendung ist an ihr hohes Fettlösungsvermögen und an das schnelle
Abdampfen gebunden. So werden sie u. a. zum Reinigen von Metallen, Tex-
tilien und Oberflächen eingesetzt. Parallel zum exzessiven Umgang mit den
Lösungsmitteln treten entsprechende Vergiftungen in den Vordergrund.
In der Farb- und Druckindustrie spielen Lösungsmittel und Lösungsmittelge-
mische eine besondere Rolle. Bei der Lackherstellung allein werden etwa vierzig
verschiedene Lösungsmittel verwendet. Die Lösungsmittel werden weiter dazu
benutzt, um Fette, Wachse, Harze, Gummi und Klebstoffe zu lösen und zu
extrahieren. Zum Auflösen von Acetylcellulose finden sie Anwendung in der
Kunstseide-, Film-, Schuh- und Hutindustrie. Weiterhin werden Lösungsmit-
tel in der Erdölraffinerie, der Polymerchemie, bei der Holzverarbeitung und in
der Pharmaindustrie intensiv eingesetzt. Diese Aufzählungen sind keineswegs
vollständig, sie sollen nur dem Leser die umfangreiche industrielle Nutzung
zeigen.
Schließlich kann in der chemischen Synthese ein Lösungsmittel auch die Rol-
le eines aktiven Reaktionspartners besitzen. Diese Eigenschaft eines aktiven
Reaktionspartners spielen Lösungsmittel nach ihrer Aufnahme in lebende Or-
ganismen. Durch Biotransformation können sie in Metabolite verwandelt und
so erst zum Gift werden, welches das toxisches Potential für den Organismus
bestimmt. Dies gilt besonders für die Gruppe der halogenierten Kohlenwas-
serstoffe, die chemisch als stabil gelten aber trotzdem durch den Stoffwechsel
in toxische oder sogar krebserzeugende Verbindungen umgewandelt werden
können.
Obwohl auf dem Gebiet des gewerblichen Arbeitsschutzes viele Fortschritte ge-
macht worden sind, gibt es noch immer das aktuelle Problem der Vergiftungen
260 Kapitel 5 Lösungsmittel
Films mit einem sauren pH-Wert zwischen 4,2 bis 6,5, der die Haut vor Bakte-
rienbefall schützt und darüber hinaus eine bakterizide Wirkung besitzt. Sind
diese Schutzschichten entfernt, so dringen die Lösungsmittel entsprechend ih-
rer Lipidlöslichkeit durch die lipophile Hornschicht der Haut hindurch und
gelangen schließlich zu den Blutgefäßen.
0
Mon-
minimale narkotische
Konzentration (S) für
acetin Äthyl-
-1 urethan
Kaulquappen
Chloralhydrat
log S
-2 Sulfonal
Diacetin
Triacetin Trional
-3 Bromal- Butyl-
hydrat chloral- Tetronal
hydrat
-4
-1 0 1
log Cf /Cw
Konzentration Fett(f)/Wasser(w)
Abbildung 5.1 Doppelt logarithmische Darstellung der minimal narkotischen Wirkung
(S) von Substanzen auf Kaulquappen in Abhängigkeit von ihrem Olivenöl/Wasser-
Verteilungskoeffizienten Cf /Cw (nach F. Baum, Naunyn-Schmiedebergs Arch. Exp. Phar-
makol. 42, 119-137, 1899). Trional = Sulfon- ethylmethan, Tetronal = Sulfondiethylmethan,
Sulfonal = Sulfonmethan.
• Toleranz
Neben dem Großhirn sind Mittelhirn und Rückenmark ausgeschaltet. Der Pa-
tient ist tolerant gegenüber dem chirurgischen Eingriff.
• Asphyxie (Atemlähmung)
Zusätzlich werden auch die vegetativen Zentren im verlängerten Rückenmark
gelähmt. Dabei bricht der Kreislauf zusammen und die Atmung hört auf. Oh-
ne künstliche Beatmung und geeignete Notmaßnahmen tritt innerhalb weniger
Minuten der Tod ein.
264 Kapitel 5 Lösungsmittel
In der Klinik wird das Stadium der Toleranz bei operativen Eingriffen in den
Organismus genutzt. Diese große Errungenschaft, die auf amerikanische Ärz-
te zurückgeht, breitete sich in der Zeit von 1844 bis 1846 vom Norden der
USA über die ganze Welt aus. Es war zuerst die Nutzung der Inhalationsstof-
fe Lachgas (Distickstoffoxid) und Äther (Diethylether), die eine schmerzlose
Zahnextraktion und eine chirurgische Operation unter Bewusst- und Schmerz-
losigkeit ermöglichte.
Bezüglich ihrer narkotischen Wirkung besitzen die Lösungsmittel eine gewisse
Systematik. So nimmt in folgender Reihe ihre Wirkstärke zu:
Häufig ist dabei das oxidativ angreifende, induzierbare Cytochrom P-450 Sys-
tem, besonders das Isoenzym CYP2E1, beteiligt. Dabei können reaktive Me-
taboliten entstehen, die außerordentlich toxisch und sogar karzinogen sind. Die-
se Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Verwendung von halogenierten Koh-
lenwasserstoffen als Lösungsmittel zunehmend durch regulatorische Schutz-
maßnahmen eingeschränkt wird. Dies äußert sich auch in niedrige MAK-Werte,
die eine toxische Wirkung, insbesondere eine karzinogene Wirkung beim Men-
schen ausschließen sollen.
Weitere unterschiedliche toxikologische Aspekte ergeben sich, wenn man die
Lösungsmittel nach chemischen Klassen ordnet. Eine übliche Einteilung ist
in Tabelle 5.2 wiedergegeben. Da die Flüchtigkeit der Lösungsmittel für die
Gesundheitsgefährdung eine bedeutsame Rolle spielt, ist in der Tabelle auch
der Dampfdruck mit aufgenommen. Die Kenntnis des Dampfdruckes und die
Beurteilung der am Ort freigesetzten Lösungsmittelmengen gibt Informationen
über das mögliche Risiko gesundheitsschädlicher Dampfkonzentrationen.
Tabelle 5.2 Chemische Klassen organischer Lösungsmittel mit ausgewählten Beispielen, ma-
ximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK in mg/m3 ), Kategorie der Kanzerogenität und
Dampfdrücken in hPa bei 20°C.
Methanol
Für die berufliche Exposition spielt die Inhalation von Methanol eine relevan-
te Rolle. Der Geruch kann bereits ab 5,3 mg/m3 wahrgenommen werden und
hat mit der Reizwirkung an Haut und Auge eine deutliche Warnwirkung vor
gefährlichen Konzentrationen. Da Methanol schwerer als Luft ist, besteht in
schlecht gelüfteten oder geschlossenen Räumen Erstickungsgefahr. Die Inhala-
tion von Methanol (ca. 60 %) bei einer Exposition über 1000 ppm sowie der
andauernde oder ausgedehnte Hautkontakt können zu einer signifikanten syste-
mischen Resorption führen. Bei Einhaltung des MAK-Wertes von 270 mg/m3
bzw. 200 ppm und eines BAT-Wertes von 30 mg/Liter Blut sind jedoch keine
chronischen Schäden zu erwarten.
Die orale Aufnahme von 0,1 g Methanol/kg Körpergewicht oder mehr sollte
als schwere, von mehr als 1 g Methanol/kg Körpergewicht als lebensbedroh-
liche Intoxikation betrachtet werden. 10 bis 15 ml Methanol können schwe-
re systemische toxische Wirkungen verursachen, wie irreversible Erblindung
und Hemmung des zentralen Nervensystems sowie metabolische Acidose. Die
Mortalität der Vergiftung ist hoch, 30 bis 100 ml können bereits tödlich sein.
Todesursache ist meist die allgemeine Stoffwechselstörung durch Acidose.
Die Vergiftungserscheinungen lassen sich in drei Phasen gliedern:
2. Latenzperiode: Von ca. 6 bis 36 Stunden nach Exposition sind die Vergifte-
ten oft symptomlos, auch bei sehr schweren Vergiftungen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 269
H O O
ADH ALDH FH4
H C OH H C H C + H+ CO2
H
H O-
Im Vergleich zum Ethanol erfolgt diese Umsetzung jedoch relativ langsam. Die
anschließende Oxidation des Formaldehyds zu Ameisensäure verläuft dagegen
schnell, so dass es zu keiner Anreicherung von Formaldehyd im Organismus
kommt. Der Abbau der Ameisensäure im Organismus zu CO2 ist wiederum
ein sehr langsamer Prozess, er wird im wesentlichen durch einen Tetrahydro-
folsäure-abhängigen Mechanismus vollzogen (Abbildung 5.2). Als Folge der
langsamen Umsetzungen wird erstens Methylalkohol bereits zu etwa 30–60 %
über die Lungen abgeatmet und zweitens akkumuliert Ameisensäure im
Blut. Die Akkumulation von Ameisensäure führt zur Acidose. Es kommt zu
einer sogenannten Anionenlücke (Verminderung der physiologischen Anionen-
konzentration Bicarbonat-Chlorid im Blut) und der pH-Wert kann bis unter 7
absinken.
270 Kapitel 5 Lösungsmittel
Ethanol
Die größte Anzahl akuter und chronischer Ethanolintoxikationen geht auf den
Genuss alkoholischer Getränke zurück. Nach Schätzwerten sind 2 bis 5 % der
europäischen Bevölkerung als alkoholkrank anzusehen, in Deutschland etwa
2,5 Millionen. Bei ungefähr 10 % der Arbeits- und mehr als 25 % der Verkehrs-
unfälle ist Missbrauch von Alkohol beteiligt.
Ethanol hat einen Öl/Wasser-Verteilungskoeffizienten von 0,04. Das bedeutet
eine hauptsächliche Verteilung im Wasserraum, der für Männer etwa bei 68 %
und für Frauen je nach Fettdepots bei 55 % liegt. Die Verteilung von Ethanol
im Wasserraum erfolgt sehr rasch, je nach aufgenommener Menge ist in 1 bis 2
Stunden das Maximum der Konzentration im Blut erreicht. Überschlagsmäßig
kann die Blutalkoholkonzentration in Promille ‰ nach der Widmarkschen For-
mel errechnet werden:
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 271
Die Alkoholwirkung hat bereits Shakespeare im zweiten Akt, dritte Szene des
Macbeth treffend beschrieben: Macduff: What three things does drink espe-
”
cially provoke? Porter: Marry, sir, nose-painting, sleep and urine. Lechery, sir,
it provokes, and unprovokes; it provokes the desire, but it takes away the per-
formance.“( Macduff: Was sind das für drei Dinge, die der Trunk vorzüglich
”
befördert? Pförtner: Ei, Herr, rote Nase, Schlaf und Urin. Buhlerei befördert
und dämpft er zugleich; er befördert das Verlangen und dämpft das Tun“).
Ethanol wird von der Alkoholdehydrogenase bis über 90 % zu Acetaldehyd
und weiter durch die Acetaldehyddehydrogenase zu Essigsäure metabolisiert.
Neben diesem Hauptweg werden 3–8 % über das mikrosomale Monooxygenase-
System (Cytochrom P-450-Isoenzym2E1) zu Essigsäure oxidiert und nur etwa
0,5 % direkt in einer Phase-II-Reaktion an Glucuronsäure gekoppelt. Die an-
fallende Essigsäure wird hauptsächlich in den Mitochondrien zu CO2 und H2 O
aufgespalten. 1 g Ethanol liefert somit 7,1 kcal (30 kJ).
Die Alkoholdehydrogenase ist also das für den Abbau entscheidende Enzym,
das bei normalem Metabolismus den Blutalkoholspiegel unter 0,1 ‰ absenkt.
Durch die Aufnahme alkoholischer Getränke arbeitet dieses Enzym praktisch
im Sättigungsbereich. Das bedeutet, dass der Blutalkoholspiegel sich mit ei-
ner Kinetik nullter Ordnung verringert (sogenannte Pseudokinetik). Beim
Erwachsenen erfolgt deswegen pro Stunde eine konstante Erniedrigung des
Alkoholspiegels um etwa 0,15 ‰. Durch diese besondere Eliminationskinetik
kann zum einen relativ leicht berechnet werden, nach welcher Zeit wieder Nor-
272 Kapitel 5 Lösungsmittel
malwerte erreicht werden, andererseits kann aber auch der ursprüngliche Al-
koholspiegel nach Alkoholzufuhr zurück berechnet werden.
Für die Gesundheit folgenschwer ist die chronische Alkoholaufnahme. Da
Alkohol als Lebensmittel gehandelt wird, sind die Diskussionen über den si-
cheren Umgang damit nicht abgerissen. Ob die frühere Regel bei Erwachsenen
noch gilt, dass die tägliche Zufuhr von Ethanol bei Frauen nicht mehr als
20 ml und bei Männern nicht mehr als 60 ml sein darf, um eine chronische
Alkoholvergiftung zu vermeiden, ist heute in Frage gestellt, da dies bei emp-
findlichen Personen bereits ein Zuviel sein kann. Zielorgane der chronischen
Alkoholvergiftung sind in erster Linie die Leber, das Nervensystem sowie das
Herzkreislauf-System. Chronischer Missbrauch führt z. B. zu einer toxischen
Leberwirkung mit Fettleber und Leberzirrhose. Unter einer Zirrhose (gr. harte
Schwellung) versteht man eine Umwandlung von Gewebe mit Verhärtung und
Aufhebung der normalen Struktur der Organe, die zur narbigen Schrumpfung
und zum Kleinerwerden eines Organs führt.
Für den Menschen ist Ethanol außerdem ein bedingt karzinogener Faktor.
Eine amerikanische Studie an 276 000 Männern, bekannt unter dem Namen
cohort follow up“, zeigte, dass ein täglicher Konsum von vier und mehr Ge-
”
tränken (ein Getränk gleich 20 ml Ethanol) mit einem erhöhten relativen Risiko
an Krebs zu erkranken verbunden ist (Abbildung 5.3).
Krebs in der Mund- und Rachenhöhle ist am deutlichsten mit dem Alkohol-
missbrauch verbunden. Kehlkopfkrebs wird auf den örtlich begrenzten Effekt
während des Trinkens zurückgeführt. Speiseröhrenkrebs, Krebserkrankung der
Leber, der Brust sowie des Dick- und Enddarmes werden ebenfalls mit dem
chronischen Alkoholkonsum in Zusammenhang gebracht. Bei der Biotransfor-
mation von Ethanol entsteht der im Tierversuch krebserzeugende Acetaldehyd.
Es ist davon auszugehen, dass der Metabolit Acetaldehyd wenigstens zum Teil
das alkoholbedingte erhöhte Krebsrisiko erklärt.
Therapie der Alkoholvergiftung: Ärztliches Eingreifen ist nur bei schwe-
ren Vergiftungen, insbesondere bei Mischintoxikationen in suizidaler Absicht,
erforderlich. In Abhängigkeit vom Zustand des Alkolholvergifteten, wenn z. B.
Lebensgefahr besteht, kann Ethanol durch Hämodialyse entfernt werden.
Abbildung 5.3 Relatives Risiko der Krebssterblichkeit in Abhängigkeit von der Zahl der al-
koholischen Getränke pro Tag. Die Risikoabschätzung ist auf Nicht-Trinker bezogen und
bereinigt vom Einfluss des Zigarettenrauchens. Ein Getränk ist mit 20 ml Ethanol gleichge-
setzt. Der positiv zu bewertende Effekt von 1 bis 2 Getränken pro Tag ist bemerkenswert,
kann aber bisher nicht erklärt werden. (cohort follow up, USA, Bofetta P. and Garfinkel L.
Epidemiology 1, 45-55, 1990).
kungen wie nach Ethanol vor. Im Organismus wird die weitgehend ungiftige
Substanz durch den Metabolismus gegiftet (Abbildung 5.4).
Wie Ethanol so wird auch Ethylenglycol oxidiert und schließlich über mehrere
Stufen zu Oxalsäure umgewandelt. Diese bindet Calcium mit hoher Affinität,
das schwerlösliche Salz fällt in der Niere aus und bewirkt eine Verstopfung
der Nierenkanäle mit vollständiger Harnsperre (Oxalatniere). Der eigentliche
toxische Metabolit scheint jedoch Glyoxylat zu sein, dem eine direkte toxische
Wirkung auf die Nierentubuli zugeschrieben wird. Die Folge ist eine Urämie
(Harnvergiftung), viele der tödlichen Vergiftungen enden im urämischen Koma.
Weitere toxische Metabolite sind Formiat und Malat.
Die tödliche Dosis wird beim Menschen auf 100 bis 200 ml geschätzt. Im
Frühstadium der Vergiftung erfolgt eine charakteristische hypnotische und nar-
kotische Wirkung, die jedoch schwächer als bei Ethanol ausgeprägt ist. Außer-
dem treten Reizerscheinungen im Magen-Darmtrakt auf. Bei sehr schweren
Vergiftungen kann eine zentrale Atemlähmung zum Tode führen. Der Haupt-
metabolit Glycolat führt zu einer Acidose. Für die zytotoxischen Wirkungen
von Ethylenglycol werden die Aldehydmetaboliten verantwortlich gemacht.
274 Kapitel 5 Lösungsmittel
Alkohol-
dehydrogenase
O
C CH2 OH Glykolaldehyd
H
Aldehyd-
dehydrogenase
O H
O C C
C CH2 OH Glykolat H O
-
O Glyoxal
Glykolat-
oxidase
Lactat- -
O H dehydrogenase O O Calcium-
C C Glyoxylat C C oxalat
- O -
O O O
Oxalat (Ausfallen in
Formiat, Malat, etc. der Niere)
Abbildung 5.4 Toxikologisch wichtigster Weg der Biotransformation von Ethylenglycol zum
Calciumoxalat. Weitere Wege sind durch gestrichelte Pfeile angedeutet.
Nach 12 bis 24 Stunden werden Schäden an Herz und Lunge beobachtet und
erst nach einem Tag bis mehreren Tagen treten die nierentoxischen Wirkungen
ein. Auch im Gehirn und in der Leber kann es zum Ausfall von Calciumoxalat
kommen. Nach 6 bis 14 Tagen stellen sich schließlich Degenerationserscheinun-
gen des zentralen Nervensystems ein.
Therapie: Wie beim Methanol muss beim Ethylenglycol sofort sein Umsatz
über die Alkoholdehydrogenase blockiert werden. Dies kann meist sehr schnell
durch Ethanolgaben erfolgen oder durch den synthetischen Inhibitor der
Alkoholdehydrogenase 4-Methylpyrazol bewirkt werden. Diese Maßnahmen
führen zur Ausscheidung von Diethylenglycol durch die Nieren. Auch bei die-
ser Vergiftung muss eine Korrektur der Acidose durch NaHCO3 - oder Trispuf-
ferlösungen herbei geführt werden. In schweren Fällen kann eine Hämodialyse
zur Elimination der toxischen Metaboliten zum Einsatz kommen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 275
Diethylenglycol
Die Therapie ist wie bei der Methanol- und Ethylenglycolvergiftung eine
Ethanolgabe, außerdem ist hier auch der Inhibitor der Alkoholdehydrogenase,
4-Methylpyrazol, angebracht. Der prophylaktische Effekt des Ethanols
im Wein ist jedoch kein mildernder Umstand für die Straftat des Weinpan-
schens.
276 Kapitel 5 Lösungsmittel
1,2-Propylenglycol
5.4.3 Ester
5.4.4 Ketone
Aceton
Obwohl Aceton in der Industrie oft als Lösungsmittel eingesetzt wird, kommt
es nur sehr selten zu akuten Vergiftungen. Es reizt die Schleimhäute und führt
zu brennendem Gefühl in Mund und Rachen. Chronische Expositionen äußern
sich in Entzündungen der Atemwege, des Magens und Dünndarmes, sowie in
Müdigkeit und Schwächegefühl.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 277
2-Hexanon (Methyl-n-butylketon)
5.4.5 Alkane
n-Hexan
n-Hexan
Cytochrom-
OH P450
OH
Alkohol Alkohol
(sek.) (prim.)
2-Hexanon CHO
(Methyl-n-
butylketon)
O
5-Hydroxy-2- COOH
hexanon
OH
2,5-Hexandion E-Oxidation
Das n-Hexan ist sehr leicht flüchtig und man bemerkt mit dem Geruchssinn lei-
der nicht die Konzentrationen in der Größenordnung des MAK-Werts. Aus die-
sem Grund sollte die Industrie diese Verbindung nach Möglichkeit nicht in der
Produktion verwenden, sondern durch weniger toxisches n-Heptan (MAK-Wert
2100 mg/m3 ) oder Cyclohexan (MAK-Wert 700 mg/m3 ) ersetzen. Im mensch-
lichen Organismus hydroxyliert Cytochrom P-450 die Alkane zu sekundären
oder primären Alkoholen (Abbildung 5.5).
Der primäre Alkohol 1-Hexanol wird nach Umwandlung in Hexansäure durch
b-Oxidation (Fettsäureabbau) verstoffwechselt. Das für die Neurotoxizität ver-
antwortliche Stoffwechselprodukt ist 2,5-Hexandion. Diese Verbindung ent-
steht aus dem sekundären Alkohol, 2-Hexanol, über 2-Hexanon (Methyl-n-
butylketon) und 5-Hydroxy-2-hexanon. Unter den Ketonen (Kapitel 5.4.4)
wurde bereits 2-Hexanon (Methyl-n-butylketon) aufgeführt, das ebenfalls zum
2,5-Hexandion biotransformiert wird und somit auch die gleiche toxische Wir-
kung besitzt.
2,5-Hexandion reagiert mit freien NH2 -Gruppen von Lysinresten in Neuro-
filamenten und leitet so eine Degeneration der peripheren Nerven ein. Eine
Exposition gegenüber etwa 8000 mg/m3 n-Hexan führt nach zwei Monaten
zu Neuropathien mit Kribbeln und Schwäche in den Beinen. Vorausgehend
können Kopfschmerzen und Schwächegefühl auftreten. An den sensorischen
und motorischen Nerven lässt sich eine verminderte Reizleitungsgeschwindig-
keit messen, basierend auf pathologischen Veränderungen. Diese Vergiftungs-
zeichen wurden nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei der Benzinsucht
(Schnüffeln) festgestellt.
Das Gas Chlormethan wird nicht als Lösungsmittel, sondern in der chemischen
Großindustrie als Zwischenprodukt und zu Methylierungen verwendet. In der
Medizin wurde um 1911 Chlormethan zusammen mit Chlorethyl als Spray
bei der Kälteanästhesierung der Haut verwendet. Das nicht reizende, süßlich
schmeckende Gas verursacht bei akuter Vergiftung eine narkotische Wirkung
bis zur Bewusstlosigkeit, ferner gastrointestinale Symptome wie Erbrechen,
Durchfall und abdomiale Schmerzen. Exponierte Arbeiter zeigten Störungen
des Zentralnervensystems sowie Schädigungen an Leber, Lungen und Nieren.
Die entstehende Ameisensäure kann besonders für die hirnorganischen Schädi-
gungen verantwortlich gemacht werden, daneben werden toxische Effekte durch
Formaldehyd diskutiert. Wie Chlormethan so ist Brommethan (krebserzeu-
gende Kategorie 3B) ein Gas, das akut toxisch ebenfalls das Nervensystem
schädigt. Die neurotoxische Wirkung beider Substanzen wird auch auf ei-
ne Glutathion-abhängige Metabolisierung zu Methylmercaptan zurückgeführt.
Therapeutisch wird bei der Vergiftung mit beiden Gasen die Gabe von Alkohol
und eine Korrektur der durch Ameisensäure erzeugten Acidose empfohlen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 281
H Cytochrom H H H
P-450 ALDH
Cl C H Cl C H C O C O
-HCl
H H H HO
Formaldehyd Ameisensäure
Diese Substanz hat einen niedrigen Siedepunkt von 40 °C. Sie wurde früher
sogar medizinisch zur Kurznarkose verwendet. Die vorläufige Einordnung von
Dichlormethan in die krebserzeugende Kategorie 3A erlaubt nicht mehr die
Ableitung eines MAK- oder BAT-Wertes. Früher wurde bei der industriel-
len Exposition ein BAT-Wert (biologischer Abeitstoleranzwert) von 5 % CO-
Hämoglobin festgelegt, der aus der im Stoffwechsel entstehenden Kohlenmon-
oxidkonzentration resultierte. CO entsteht auf dem oxidativen Abbauweg von
Dichlormethan über den Cytochrom P-450 Stoffwechsel. Der zweite Abbau-
weg ist Glutathion-abhängig über die Glutathion-S-Transferase und führt zu
genotoxischen Verbindungen (Abbildung 5.7).
1. Oxidation
H H
Cytochrom P-450
CH2Cl2 Cl C OH C O
-HCl Cl
2. Kon- Glutathion (GSH) Cl
jugation - HCl
-HCl
GS CH2Cl GSH CO
Abbildung 5.7 Metabolimus von Dichlormethan. 1. Oxidativer Abbauweg zum toxischen Koh-
lenmonoxid (CO) und 2. Glutathion-abhängiger Abbauweg über die Glutathion-S-Transferase
zu Formaldehyd.
282 Kapitel 5 Lösungsmittel
Cl Tetrachlormethan
Cl C Cl
Cl
R1 R1 R1
CYP2E1
HO O
Cl O2
Cl C H C H
Cl
RH R
Cl R2 R2 R2
Cl C H ungesättigte
Fettsäurekette
Cl
Chloroform Zerfall zu weiteren
Radikalen, Lipid-
CYP2E1
peroxidation
Cl O O
[C(OH)Cl3] C O
-HCl Malondialdehyd
Cl
Phosgen
Abbildung 5.8 Schema der Bildung freier Radikale durch Cytochrom P-450 (CYP2E1) in
den Leberzellen aus Tetrachlormethan sowie weiterer Stoffwechsel zu Chloroform, Phosgen
und Malondialdehyd.
Der Weg des aus Tetrachlormethan gebildeten Radikals führt zum Chloroform,
das durch eine weitere Cytochrom P-450 Reaktion in das toxische Phosgen
zerfällt.
Schädigungen der parenchymatösen Organe wie Leber und Niere kommen nicht
nur bei akuten Vergiftungen vor, sondern auch als Folge von langfristigen
Expositionen gegenüber geringen Konzentrationen halogenierter Kohlenwas-
serstoffe. So steigt die Lebertoxizität in der Reihe von Dichlormethan über
1,1,1-Trichlorethan < Trichlorethen < Tetrachlorethen < Trichlormethan <
Dichlorethan < 1,1,2-Trichlorethan zu Tetrachlormethan an. Ähnlich wie Te-
trachlormethan, jedoch stärker wirksam, ist Bromtrichlormethan, da die Ab-
spaltung des Broms leichter erfolgt als die des Chlors.
284 Kapitel 5 Lösungsmittel
Beim Trichlorethen steht die Aufnahme über die Lunge im Vordergrund. Wie
andere flüchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe löst es eine narkotische Wirkung
aus und sensibilisiert das Herz gegenüber Adrenalin und Noradrenalin, so dass
es zu Herzrhythmusstörungen kommt.
Cl3C CH2OH
O Trichlorethanol
Cl2C CHCl Cl3C CHO
Cytochrom-
P-450 Cl3C COOH
1.
Trichloressigsäure
Cl2C CHCl
2.
GSH ß-Lyase H Cl
HClC C(Cl)SG HClC C(Cl)Scys C C
Cl SH
Mercaptursäure Mutagenität
Nephrotoxizität
Abbildung 5.9 Metabolismus von Trichlorethen. Der Hauptweg der Metabolisierung führt
über Cytochrom P-450 (1. oxidativer Stoffwechselweg) zu einem sehr reaktiven Epoxid, das
über Trichloracetaldehyd in Trichlorethanol und in Trichloressigsäure umgesetzt werden
kann. Außerdem können aus dem Epoxid verschiedene toxische Metaboliten wie Dichlores-
sigsäure, Oxalsäure, Glyoxylsäure und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol hervorgehen. Ein
zweiter Transferaseweg mit Glutathion (2. GSH-abhängiger Nebenweg) führt zur b-Lyase
der Niere. Hier können toxische Metaboliten entstehen, die im langzeitigen Tierexperiment
Nierentumoren erzeugen. Die Abkürzung cys bedeutet Cystein.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 285
Der größte Anteil von Trichlorethen wird durch das Cytochrom P-450 Sys-
tem in verschiedene toxische Substanzen metabolisiert (Abbildung 5.9). Über
Trichloracetaldehyd (Chloral) entsteht Trichlorethanol, das eine ausgeprägte
depressorische Wirkung auf das Zentralnervensystem besitzt. Ein Teil des Tri-
chlorethanols wird an Glucuronsäure gekoppelt und im Urin ausgeschieden,
ein anderer Teil wird über die Alkoholdehydrogenase in den Aldehyd rückver-
wandelt und trägt zur Entstehung von Trichloressigsäure bei, deren Konzen-
tration mit der Lebertoxizität des Trichlorethens korreliert. Wegen ihrer hohen
Acidität bindet Trichloressigsäure besonders gut an Proteine, so dass sie nur
verzögert im Urin ausgeschieden wird.
Aus dem intermediären Epoxid des oxidativen Stoffwechselweges entstehen
weitere toxische Metaboliten wie Dichloressigsäure, Oxalsäure, Glyoxylsäure
und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol.
Ein zweiter Abbauweg des Trichlorethens erfolgt über einen Glutathion-ab-
hängigen Stoffwechselweg, der über die b-Lyase der Niere zu toxischen Meta-
boliten im Nierenparenchym führen kann. In hohen Konzentrationen erzeugt
Trichlorethen bei männlichen Ratten Nierenzelltumoren. Ihre Entstehung wur-
de durch hochreaktive Metaboliten wie Thioketene erklärt, die über die b-Lyase
gebildet werden. Beim Menschen wurde die Kanzerogenität von Trichlorethen
durch das Auftreten von Nierentumoren bei hoch belasteten Personen nach
beruflicher Exposition bestätigt, daher erfolgte seine Einordnung in die krebs-
erzeugende Kategorie 1.
In Gegenwart von Alkalien entsteht aus Trichlorethen unter Abspaltung von
HCl das hochreaktive Gas Dichloracetylen (Abbildung 5.10).
Cl Cl Alkalien neurotoxisch
C C Cl C C Cl kanzerogen
- HCl Dichloracetylen
Cl H
Abbildung 5.10 Trichlorethen wird unter alkalischen Bedingungen zu dem hochreaktiven Di-
chloracetylen zersetzt.
O
Cl2C CCl2 Cl3C COCl Cl3C COOH
Cytochrom- Trichloressigsäure
P-450
1.
Cl2C CCl2
Mercaptursäure
2.
GSH
Cl2C C(Cl)SG Cl2C C(Cl)Scys
ß-Lyase
Cl2C C(Cl)SH
toxische Metaboliten
Abbildung 5.11 Metabolismus von Tetrachlorethen (Perchlorethylen). Beim Tetrachlorethen
führt der Hauptweg des Metabolismus über den oxidativen Abbauweg (1. Cytochrom P-
450) zur Trichloressigsäure. Der zweite Glutathion-abhängige Nebenweg (2. Gluthathion-
S-Transferase) erzeugt in der Niere über die β-Lyase toxische Metaboliten. Tetrachlorethen
wird jedoch zum größten Teil aus der Lunge abgeatmet.
Die narkotische Wirkung des Tetrachlorethens ist stärker als beim Chloroform
und es sensibilisiert das Herz gegenüber Adrenalin und Noradrenalin. Bei be-
ruflicher Exposition mit hohen Konzentrationen sind Leberschädigungen be-
schrieben. Außerdem führt es zu Schleimhautreizungen des respiratorischen
Systems. Auf die Haut gebracht ruft flüssiges Tetrachlorethen Brennen und
Rötung hervor. Bei akuten Vergiftungen treten Übelkeit, Trunkenheit bis hin
zur Bewusstlosigkeit auf. Danach treten häufig Schädigungen der Leber und
zuweilen der Niere auf.
Nach langdauernder und hochgradiger Exposition mit Tetrachlorethen kann es
zu hirnorganischen Leistungsverminderungen und zu Persönlichkeitsverände-
rungen kommen. In Versuchen an Mäusen sind Karzinome und Adenome in der
Leber aufgetreten. An weiblichen Ratten bildeten sich tubuläre Nierentumore.
Möglicherweise erklärt hierbei der zweite Abbauweg über die Glutathion-S-
Transferase und b-Lyase in der Niere die karzinogene Wirkung.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 287
Cytochrom-
Cl H
P-450
Cl C C H Cl3C CH2OH Cl3C CHO Cl3C COOH
Cl H Trichloressigsäure
1,1,1-Trichlorethan
H2ClC COOH
H H Cytochrom- Chloressigsäure
P-450 -HCl
Cl C C H H2ClC C(OH)Cl2 H2ClC COCl2
Cl Cl
1,1,2-Trichlorethan
Beim 1,1,2-Trichlorethan werden die Leber- und die Nierentoxizität auf das
im Stoffwechsel entstehende reaktive Säurechlorid der Chloressigsäure zurück-
geführt. Bezüglich des Stoffwechsels besteht eine deutliche Parallelität zu
1,1,2,2-Tetrachlorethan, das unter den halogenierten Ethanen die größte Toxi-
zität besitzt (MAK-Wert 7 mg/m3 , 1 ppm, krebserzeugende Kategorie 3B).
Benzol hat eine starke narkotische Wirkung und ist dabei mit Chloroform
vergleichbar. Es wird sowohl über die Lungen als auch aus dem Darm und
über die Haut gut resorbiert. Akute Vergiftungen verursachen rauschartige
Erscheinungen mit euphorisierender Komponente, Kopfschmerzen, Schwindel
und später Übelkeit mit Erbrechen. Höhere Konzentrationen erzeugen Krämp-
fe, Bewusstlosigkeit und Herzrhythmusstörungen. Der Tod tritt schließlich
durch Atemlähmung oder Kreislaufversagen ein. Die letale Dosis liegt bei etwa
Säure-
OH
behandlung Phenylmercaptursäure
O H H
H
Gly C C C S H
N H O
Glu H
Glutathion-S-Transferase Oxepin
Cytochrom H
P-450 (2E1) Epoxidhydrase OH
O O
OH O
H trans-trans-Muconaldehyd
Benzol Epoxid
OH OH
OH
Phenol Catechol
O OH OH
O HO HO OH
p-Benzochinon Hydrochinon
Toluol
Trotz der chemischen Verwandtschaft mit Benzol weisen Toluol wie auch die
Xylole eine erheblich geringere Toxizität auf, und eine karzinogene Wirkung
beim Menschen wurde nicht festgestellt. Der Metabolismus erfolgt hauptsäch-
lich in der Leber durch das Cytochrom P-450 System mit nachfolgender Kon-
jugation an Glycin sowie Schwefel- und Glucuronsäure. Grundsätzlich werden
die Verbindungen anders metabolisiert: etwa 80 % des aufgenommenen Toluols
werden nach Oxidation der Methylgruppe mit Glycin konjugiert, 1 % am Ring
zu Kresol hydroxyliert und 19 % in unveränderter Form über die Lungen abge-
atmet. Wichtig ist, dass Toluol mit der Biotransformation anderer Fremdstoffe
in der Leber interferiert. So blockiert es z. B. die metabolische Umwandlung
von Benzol, Styrol, Xylol und Trichlorethan.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 291
Die akute Toxizität äußert sich in Reizung der Schleimhäute sowie in nar-
kotischen und neurotoxischen Wirkungen. Nach chronischer Exposition wer-
den unspezifische und depressorische Störungen des Zentralnervensystems wie
Schwindel, Kopfschmerzen und eine verlängerte Reaktionszeit beschrieben.
Xylole
Ortho-, meta- und para-Xylol finden Anwendung als Lösungsmittel in der Far-
benindustrie und in Druckereibetrieben. Die hauptsächliche Aufnahme erfolgt
über die Lunge. Der wichtigste Stoffwechselweg ist auch hier die Oxidation
der Methylgruppe und die anschließende Konjugation mit Glycin zu Methyl-
hippursäure. Nach mehrstündiger Exposition kommt es zu Schläfrigkeit, Be-
nommenheit und Kopfschmerzen. Weder im Ames-Test noch an Zellkulturen
ergaben sich Hinweise auf eine Genotoxizität.
Biozid ist eine Sammelbezeichnung für chemische Substanzen, die zur Bekämp-
fung schädlicher Pflanzen und Tiere eingesetzt werden. Früher war der Begriff
Pestizid gebräuchlich. Eine Einteilung erfolgt nach den Zielorganismen und
zusätzlich nach Art ihrer Aufnahme in Atem-, Fraß- oder Kontaktgifte. Die
Aufzählung drückt in der Reihenfolge die Bedeutung der Einsatzgebiete aus.
Häufig dient dasselbe Biozid zur Bekämpfung von Schädlingen verschiedener
Arten (siehe Tabelle 6.1).
Tabelle 6.1 Bevorzugte Anwendungsgebiete der nach chemischen Klassen geordneten Biozi-
de. Angegeben ist die Anzahl der als Insektizide I, Akarizide A, Nematizide N, Herbizide H,
Fungizide F und Rodentizide R genutzten Vertreter. Die Aufstellung enthält Mehrfachnen-
nungen und ist nicht erschöpfend. KW = Kohlenwasserstoffe, TCA = Trichloressigsäure,
ANTU = a-Naphthylthioharnstoff.
Klassen I A N H F R Seite
Antibiotika 13 11 1 1 19
Arsenverbindungen 6 9 3 250
Carbamate 45 13 8 7 6 298
Chlorierte cycl. KW 27 6 3 302
Dinitrophenole 4 11 8 10 306
HCN 2 359
Harnstoffderivate 2 10 3 1 308
Nikotinoide 11
Organophosphate 153 69 20 12 10 1 165, 296
Pyrethrum, Pyrethroide 54 13 299
Wachstumshormone/inhibitoren 35 293
Chinoxaline 2 3
Thiocarbamate 1 18 2
Thioharnstoffe (ANTU) 2 1 1 353
Zinnverbindungen 3 3 317
Anilinderivate 13
Bipyridylium-Derivate 6 308
Chlorat 1 309
Dicarboximide 6 9
Dithiocarbamate 2 21 318
Halog. Aliphaten (TCA) 10 313
Phenoxycarbonsäuren 47 310
Phenyl-/Sulfonylharnstoffe 60
Triazine, Amitrol 42 315
Benzimidazole 9 320
Conazole, Imidazole 44
Kupferverbindungen 17 316
Quecksilberverbindungen 24 229, 317
Schwefel, Polysulfide 5 316
Thiadiazine, Me-N=C=S 2 3 319
Cumarinderivate 9 321
Indan-1,3-dione 3 321
Scillirosid, Strychnin 2
Thallium 1 239, 321
Das Ziel bei der Entwicklung von Bioziden bestand darin, Wirkstoffe mit
möglichst hoher Selektivität zu synthetisieren. Dabei wurden die Unterschie-
6.1 Insektizide 295
6.1 Insektizide
Insektizide sind die wichtigste Gruppe der Biozide. Sie sind gegen Haus- und
Küchenschädlinge, wie Wanzen, Flöhe, Läuse, Küchenschaben, Mehlwürmer
und Motten, aber auch gegen Pflanzenschädlinge, wie Kartoffelkäfer, Obstma-
den und Blattläuse, sowie gegen Forstschädlinge wie den Borkenkäfer gerich-
tet. Weiterhin gelten sie im weitesten Sinne des Wortes als Desinfektionsmittel,
da sie gleichzeitig mit der Insektenvernichtung die von Insekten übertragenen
Infektionskrankheiten verhindern. So stehen z. B. noch immer die Erkrankun-
gen und Todesfälle der durch die Anophelesmücke übertragenen Malaria an
der Spitze aller Krankheitsursachen. Außerdem gilt es die Ernährung einer
ständig wachsenden Weltbevölkerung zu sichern. Aus all diesen Gründen wird
der Einsatz von Insektiziden als unentbehrlich angesehen.
Da die Insektizide in der Landwirtschaft in riesigen Mengen eingesetzt werden
und sie für den Menschen mehr oder weniger stark giftig sind, kommt ihnen in
der Toxikologie eine große Bedeutung zu. Zum Einsatz als Insektizide gelangen
insbesondere vier Gruppen:
• Organophosphate (Phosphorsäureester)
• Carbamate (Carbaminsäureester)
• Pyrethrine und Pyrethroide
• Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe
296 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
Ein besonderes technisches und toxikologisches Problem ergab sich bei der
letzten Gruppe. Aufgrund der zunächst fehlenden Reinheit der Produkte war
das toxische Potential durch Nebenprodukte wesentlich erhöht.
Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe wie DDT, Hexachlorcyclohexan, Al-
drin u. a. sind wegen der Akkumulation im Fett- und Nervengewebe weitge-
hend verboten (dirty dozen). Viele der heute handelsüblichen Insektizide sind
Hemmstoffe der Cholinesterase (Organophosphate), die immer noch zu aku-
ten Vergiftungen führen und deshalb durch die weniger toxischen Pyrethroide
ersetzt werden.
6.1.1 Organophosphate
Organophosphate sind Ester, Amide oder Thiolderivate der Phosphor-, Phos-
phon-, Thiophosphor- oder Thiophosphonsäure. Sie unterscheiden sich in zwei
Punkten ganz wesentlich von der Gruppe der cyclischen chlorierten Kohlenwas-
serstoffe, da sie biologisch abbaubar sind und weder außerhalb noch innerhalb
des Organismus gespeichert werden. Diesem Vorteil steht jedoch eine hohe
akute Toxizität gegenüber.
Näheres zu Geschichte, Strukurvoraussetzungen und Wirkungsmechanismus
findet sich in Kapitel 3.5.4.4. Kurz zusammengefasst reagieren Organophos-
phate mit der serinhaltigen Acetylcholinesterase wie ein normales Acetylcholin-
molekül und es entsteht ein Organosphosphat-Acetylcholinesterase-Komplex.
Dabei wird das Serin im aktiven Zentrum des Enzyms phosphoryliert (Abbil-
dung 3.19). Der Komplex ist zunächst instabil und reaktiviert sich spontan
oder ist medikamentös durch Verabreichung von Oximen reaktivierbar.
Kommt es vor Reaktivierung allerdings zur Abspaltung eines weiteren Sub-
stituenten (leaving group) vom Organophosphat, entsteht ein äußerst stabiler
Komplex mit der Acetylcholinesterase. Das Enzym ist dann biologisch irrever-
sibel gehemmt und kann weder spontan noch durch Oxime reaktiviert werden.
Diesen Vorgang nennt man Alterung des Enzymkomplexes. In Abhängigkeit
vom Organophosphat kann die Alterung des Komplexes über Stunden bis Tage
fortschreiten.
Die Hemmung der Acetycholinesterase bewirkt eine Anhäufung von Acetyl-
cholin im ZNS, in den cholinergen Synapsen des autonomen Nervensystems
und in den motorischen Synapsen an den Muskelzellen.
Die akute Toxizität resultiert aus Wirkungen an muskarinischen Rezeptoren
des Parasympathikus, an nikotinischen Rezeptoren in den sympathischen und
parasympathischen Ganglien und nikotinischen Rezeptoren an den Muskelzel-
len.
6.1 Insektizide 297
Abbildung 6.1 Parathion wird im Organismus zu dem stärker toxischen Paraoxon metaboli-
siert. Die dargestellten Metaboliten werden mit dem Harn ausgeschieden.
!
!
Abbildung 6.2 Strukturen von Carbamaten. Ihre Wirkungsrichtung wird durch die Sub-
stitution bestimmt. R1 Methylgruppe: Insektizid; R1 aromatischer Substituent: Herbizid;
R1 Benzimidazolderivat: Fungizid. R2 aliphatischer oder aromatischer Substituent. Für Car-
baryl besteht ein Anwendungsverbot.
!
!" !
!
!!
Abbildung 6.3 Struktur der im Pyrethrin I vorliegenden Einzelkomponenten (oben), die als
Ester vorliegen. Links die Strukturen von vier Pyrethroiden (Typ I und Typ II), rechts dieje-
nigen von drei als Synergisten verwendbaren Verbindungen.
Tabelle 6.2 Auswirkungen von Pyrethrum, dem Synergisten Piperonylbutoxid (PBO) und von
unterschiedlichen Kombinationen derselben auf die knock-down-Wirkung und die Sterblich-
keit (Letalität) gemessen an der Stubenfliege (nach Perkow, 1971).
der knock-down-Wirkung und der Sterblichkeit der Insekten (Tabelle 6.2). Ein
Mittel der Wahl ist das Piperonylbutoxid, eine allein verabreicht harmlose Sub-
stanz, die man wie Sesamex und Safroxane als Synergisten bezeichnet (Abbil-
dung 6.3). Zusätzlich fördern diese Hilfsstoffe auch die Penetration der Py-
rethroide. Sie werden bis zu einem Verhältnis von 10:1 mit dem Pyrethroid
gemischt. Die Kombination mit Organophosphaten ist möglich, aber weniger
effektiv.
Kommt es bei der Anwendung der Pyrethroide zu einem Hautkontakt, zeigen
sich lokale Wirkungen wie kaltes Hautbrennen, Jucken und Blasenbildung.
Am gefährlichsten ist die Inhalation, welche eine Sekretion und schmerzhafte
Schleimhautreizungen auslöst. Deshalb ist mit Verbindungen hohen Dampf-
drucks (Vaporthrin) vorsichtig umzugehen. Die enterale Aufnahme größerer
Mengen an Pyrethroiden bei Unfällen oder Suicidversuchen ruft Anästhesi-
en im oralen Bereich nebst Erbrechen und Durchfall hervor. Die Resorption
ist gering. Nur nach sehr hohen Dosen können auch Krämpfe auftreten. Für
Pyrethrum liegt die tödliche orale Dosierung zwischen 1 und 2 g/kg.
Ein Auftreten der im Einsatz befindlichen persistierenden Pyrethroide in lipo-
philen Geweben wurde unter experimentellen Bedingungen an Tieren nachge-
wiesen. Ob hieraus Zusammenhänge zu chronischen Nervenschädigungen ab-
leitbar sind, wird kontrovers diskutiert.
kette. Die Bedrohung der Umwelt durch den Gebrauch dieser Biozide wurde
durch das Buch Silent Spring“ von R. Carson 1962 allgemein bekannt.
”
Drei Untergruppen können bei den chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen
unterschieden werden: Erstens die Dichlordiphenylmethane Dichlordiphenyl-
trichlorethan (DDT) und Methoxychlor, zweitens die Cyclodiene wie Aldrin
und Dieldrin und drittens die chlorierten Benzole bzw. Cyclohexane wie He-
xachlorcyclohexan (HCH) und sein g-Isomer, das Lindan.
Dichlordiphenylmethane
Von 1942 bis 1972 gelangten etwa zwei Millionen Tonnen DDT in die Umwelt,
vor allem wurde es in der Landwirtschaft und zur Malariabekämpfung einge-
setzt. Seine geschätzte Halbwertszeit für den globalen Abbau liegt wahrschein-
lich höher als zehn Jahre. Aufgrund seines hohen Dampfdrucks und seiner
außerordentlichen Persistenz kam es durch Wind und Regen zu einer Vertei-
lung über die Welt. Seine globale Destillation führt zur Anreicherung in den
Polkappen der Arktis und Antarktis. Trotz des weitgehenden Verbotes seiner
Anwendung, in Deutschland seit 1972, können immer noch signifikante Kon-
zentrationen von DDT oder dessen Metabolite (Abbildung 6.4) in Lebewesen
und Umwelt festgestellt werden.
Unter der Bezeichnung DDT fasst man ein Gemisch von verschiedenen Sub-
stanzen zusammen, das bei der großtechnischen Herstellung durch Konden-
sation von Chloralhydrat mit zwei Molekülen Chlorbenzol anfällt. Zu etwa
65 % besteht es aus 4,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (4,4’-DDT), 8–21 % aus
2,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (2,4’-DDT) und 0,3–4 % aus 4,4’-Dichlorphe-
nyldichlorethan (4,4’-DDD) sowie geringere Anteile von weiteren Nebenpro-
dukten und Verunreinigungen.
4,4’-DDT und analoge Verbindungen werden, besonders in Anwesenheit von
Fett, vom Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Tendenz im Fettgewebe zu
akkumulieren sinkt in der folgenden Reihenfolge 4,4’-DDE, 4,4’-DDT, 2,4’-
DDT und 4,4’-DDD. Dieses unterschiedliche Verhalten hat über Jahre zu ei-
ner auffälligen Musterverschiebung der Verbindungen im Organismus geführt.
Während die 4,4’-DDT Konzentration im Fettgewebe durchschnittlich von 10
bis 15 mg/kg auf 0,5 bis 1 mg/kg von 1955 bis 1990 ständig abgenommen hat,
stieg der prozentuale Anteil des 4,4’-DDE in der gleichen Zeit von 60 auf 80 %
an.
4,4’-DDT besitzt für Insekten eine sehr hohe, für Warmblüter eine sehr nied-
rige akute Toxizität. Die orale Letaldosis wird beim Menschen auf 10 bis 30 g
geschätzt. Aufgrund dieser sehr geringen Toxizität sind berufliche Vergiftun-
gen praktisch ausgeschlossen. Seine Halbwertszeit ist mit etwa einem Jahr sehr
lang, sie kann durch Gabe von Paraffinöl wesentlich verkürzt werden. Hohe ora-
le Dosen führen nach etwa einer Stunde zu Zungentaubheit. Es folgen Sensi-
304 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
!
Abbildung 6.4 Schematische Darstellung der wichtigsten metabolischen Abbauwege von 4,4’-
Dichlorphenyl-trichlorethan (4,4’-DDT). Nach Resorption im Fettgewebe wird es nur lang-
sam mobilisiert. Links: Durch enzymatische Chloridabspaltung entsteht ein 4,4’-Dichlor-
phenyl-dichlorethylen (4,4’-DDE), das durch weitere Chloridabspaltung in ein Monochlor-
ethylen verwandelt und vom Cytochrom P450-System in ein reaktives Epoxid umgesetzt wird.
Dieses könnte im Prinzip mit NA eine Bindung eingehen, zum entsprechenden Ethanol
(DDOH), bzw. wie dargestellt, zum Acetaldehyd-Derivat weiterreagieren oder zur 4,4’-Di-
chlorphenylessigsäure (4,4’-DDA) umgesetzt werden. Rechts: Reduktiver Weg zum 4,4’-Di-
chlorphenyl-dichlorethan (4,4’- DDD) und zur 4,4’-DDA. Einige wenige Mikroorganismen
können DDT völlig abbauen.
Abbildung 6.5 Chlorierte Cyclodiene. Diese Substanzen induzieren besonders das Cytochrom
P450 System in der Leber, welches Aldrin und Heptachlor in Epoxide verwandelt. Wie die
Cyclodiene werden auch ihre Epoxide sehr stark im Fettgewebe gespeichert. Als neurotoxi-
scher Wirkungsmechanismus wird für den Cyclodientyp eine Hemmung des g-Aminobutter-
säure-stimulierten Chloridkanals (Cl− ↓) und der Ca2+ -Mg2+ -ATPase (Ca2+ ↑) im ZNS
diskutiert. Die Substanzen zählen zu dem dirty dozen“.
”
ist eine östrogene Wirkung nachgewiesen, die beim Mann eine Hodenatrophie
und verringerte Spermiogenese verursacht.
Hexochlorcyclohexan (HCH)
Von Hexachlorcyclohexan (HCH) gibt es acht isomere, monocyclische, chlo-
rierte Kohlenwasserstoffe. Die Synthese von HCH erfolgt durch Chlorierung
von Benzol unter UV-Licht und liefert ein Gemisch verschiedener Stellungs-
isomere. Die Zusammensetzung des Rohprodukts ist etwa folgende: 65–70 %
a-Hexachlorcyclohexan, 10 % b-Hexachlorcyclohexan, 15 % g-Hexachlorcyclo-
hexan, 7 % d-Hexachlorcyclohexan und weitere Isomere in geringeren Konzen-
trationen. Von diesen Isomeren besitzt nur das Lindan® (g-Hexachlorcyclo-
hexan) eine insektizide Wirkung. Es wird für medizinische Zwecke auf über
99 % gereinigt.
Die Fähigkeit zur Anreicherung in der Umwelt resultiert aus der unterschied-
lichen Lipophilie der Hexachlorcyclohexan-Isomeren. Sie nimmt in folgender
Reihenfolge ab: b- > a- > g- > d-Isomer. Die Exposition des Menschen er-
folgt vorwiegend mit Lebensmitteln. Die Konzentrationen an HCH haben von
50 ng/kg im Jahre 1970 auf derzeit unter 1 ng/kg abgenommen.
Wie DDT wirkt g-Hexachlorcyclohexan neurotoxisch. Es besitz eine geringe
akute Toxizität für den Menschen mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Übel-
keit, Erbrechen, Schwindel, Tremor und gesteigerter Atemtätigkeit. Darauf fol-
gen Krampfanfälle und Lähmung. Beim Menschen wird die krampfauslösende
Wirkung von Lindan auf 10 bis 20 mg/kg geschätzt. g-Hexachlorcyclohexan
wird noch heute als Medikament bei Kopf- und Filzläusen sowie bei Krätze-
milben verwendet.
g-Hexachlorcyclohexan hat keine teratogene und mutagene Wirkung. Dagegen
bewirken sehr hohe Dosen von a-Hexachlorcyclohexan bei Ratten und Mäusen
Lebertumoren, wobei die DNA-Synthese und Mitoserate erhöht sind.
6.2 Herbizide
6.2.1 Dinitrophenole
Als erstes synthetisches Herbizid gilt das 1892 von der Firma Bayer entwickel-
te Dinitrokresol, 2-Methyl-4,6-dinitrophenol. Es wurde zunächst als Insekti-
zid unter dem Namen Antinonnin gegen die Nonnenraupe (Fichtenspinner) in
den Handel gebracht. Später wurde die Substanz als Herbizid und Fungizid
benutzt. Für den Menschen ist Dinitrokresol besonders giftig, weil es wegen
seiner großen Lipophilie bei Kontakt leicht durch die Haut penetriert.
6.2 Herbizide 307
Abbildung 6.6 Dinitrokresole binden in der anionischen Form ein Proton und diffundieren
als ungeladene Moleküle durch Lipidmembranen. Trennt die Membran Bezirke unterschied-
licher Protonenkonzentrationen voneinander, führt ihre Anwesenheit zu einem Konzentrati-
onsausgleich. An Mitochondrien reduzieren sie den Protonengradienten und wirken dadurch
entkoppelnd. Dinitrokresol = 3,5-Dinitro-o-kresol = DNOC = 2-Methyl-4,6-dinitrophenol.
Unterer Teil: Dinobuton: Isopropyl-[2-(i-butyl)-4,6-dinitrophenyl]-carbonat; Dinoseb: 2-(i-
Butyl)-4,6-dinitrophenol; Dinoterb: 2-(tert.-Butyl)-4,6-dinitrophenol.
Die orale LD50 von Dinitrokresol bei der Ratte beträgt 20–30 mg/kg. Die Toxi-
zitäten verschiedener anderer Dinitrophenolderivate wie Dinobuton, Dinoseb
und Dinoterb (Abbildung 6.6) sind bei Warmblütern sehr ähnlich.
6.2.2 Harnstoffderivate
Herbizide Harnstoffderivate wie Diuron (3-(3,4-Dichlorphenyl)-1,1-dimethyl-
harnstoff, Abbildung 7.3) unterbinden in der Photosynthese die Produktion
von Sauerstoff in der Pflanze, indem sie den Elektronentransport vom Photo-
system II zum Cytochrom f blockieren. Stoffwechseluntersuchungen an Ratten
und Hunden, die zwischen 9 Monaten und bis zu 2 Jahren 25 bis 2500 ppm
Diuron im Futter erhielten, ergaben keine Speicherung im Gewebe. Als Haupt-
metabolit wird N-(3,4-Dichlorphenyl)-harnstoff im Urin ausgeschieden. Die all-
gemeine Toxizität für Warmblüter ist sehr gering. Für Diuron wurde bei der
Ratte eine orale LD50 von 3,4 g/kg gemessen.
6.2.3 Bipyridylium-Salze
Unter den auch Dipyridinium-Salze genannten Verbindungen sind Paraquat
und Diquat die Hauptvertreter (Abbildung 6.7). Sie sind sehr wirksame Kon-
taktherbizide. Paraquat, 1,1’-Dimethyl-4,4’-bipyridylium-dichlorid, ist eine star-
ke organische Base, das Dimethylanaloge der von Leonor Michaelis als Re-
doxindikatoren eingeführten Viologene. Reduziertes Paraquat ist dunkelblau
gefärbt. Es wird in Gegenwart von Sauerstoff rasch zum ungefärbten Dikation
oxidiert. Die Blaufärbung von Körperflüssigkeiten durch Zusatz von Dithionit
ermöglicht seinen schnellen Nachweis nach Vergiftung.
Durch Paraquat haben sich zahlreiche, oft tödliche Vergiftungen bei der land-
wirtschaftlichen Anwendung und nach Suizidversuchen ereignet. In vivo er-
folgt eine Reduktion von Paraquat durch NADPH-abhängige Enzymsysteme,
wodurch einerseits das Redoxgleichgewicht in der Zelle verschoben wird und
!
Abbildung 6.7 Die Herbizide Paraquat (Dimethylviologen) und Diquat. Der Begriff Violo-
”
gen“ wurde von L. Michaelis geprägt (Biochem. Z. 250: 564, 1932).
6.2 Herbizide 309
6.2.4 Natriumchlorat
Natriumchlorat z. B. in Unkraut-Ex® ist ein Totalherbizid, das sowohl zu
Unfällen durch Entzündung von kontaminierten Kleidungsstücken nach Ein-
trocknen der Lösung als auch zu oralen Vergiftungen beim Menschen führen
kann. Schon wenige Gramm Chlorat haben beim Erwachsenen zum Tode ge-
führt, während auf der anderen Seite aber auch sehr hohe Dosen überlebt
wurden. Es gibt also scheinbar eine individuelle Empfindlichkeit gegenüber
Chlorat. Diese beruht vermutlich auf jeweils unterschiedlichen Methämoglo-
binspiegeln im Blut, die normalerweise unter 1 % liegen. Chlorat wird gut
resorbiert und zum großen Teil unverändert im Urin ausgeschieden. Bei Kon-
takt mit dreiwertigem Hämoglobineisen (Methämoglobin) dismutiert Chlorat.
Das entstehende Hypochlorit gibt neben einer autokatalytischen Methämoglo-
binbildung auch Anlass zur Schädigung des Globins, dem Proteinanteil des
Hämoglobins. Zusätzlich werden Proteine der Erythrozytenmembran in Mit-
310 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
6.2.5 Phenoxycarbonsäuren
Chlorierte Phenoxycarbonsäuren besitzen bei der Unkrautbekämpfung eine
große Bedeutung. Sie wirken selektiv auf Pflanzen, da sie die Struktur des
Wachstumshormons Auxin (Indolyl-3-essigsäure) der Pflanzen imitieren (Ab-
bildung 6.8). Bekannteste Vertreter dieser Gruppe sind die 2,4-Dichlorphenoxy-
essigsäure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure. Letztere ist in Deutschland
nicht als Pflanzenschutzmittel zugelassen (siehe Abbildung 6.9) auch nicht in
Form ihrer Salze und Ester.
Unter den Pflanzen sind die zweikeimblättrigen besonders empfindlich ge-
genüber den chlorierten Phenoxycarbonsäuren. Mit einer oralen LD50 von
500–1000 mg/kg an der Ratte ist ihre Toxizität für Tiere relativ gering. Suizida-
le Einnahmen von Dosen im Grammbereich führten zu peripherer Neuritis und
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und Schock. Ein Teil dieser Symptome wird durch den Lösungsvermittler Po-
lyoxyethylenamin verursacht, welcher zu 15 % im Fertigprodukt enthalten ist
und eine etwa dreimal höhere orale Toxizität aufweist als Glyphosat selbst.
(LD50 von Polyoxyethylenamin an der Ratte 1–2 g/kg).
6.2.7 Triazine
Seit 1957 ist das Atrazin bekannt (siehe Abbildung 7.4), das als Vorlage für
alle weiteren symmetrischen Triazine diente. Daneben gibt es asymmetrische
Triazine und das Aminotriazol (3-Amino-1,2,4-triazol, AT, Amitrol) mit ei-
nem 5-gliedrigen Ring. Die Substanzen greifen entweder in die Chloroplasten-
synthese ein (Aminotriazol) oder sie hemmen die Photosynthese. Zusätzliche
Wirkungsmechanismen werden diskutiert.
Einige Triazine weisen ein sehr langsames Abbauverhalten auf. Die Halbwert-
zeit für den Abbau von Atrazin im Boden wird zwischen 60 und 135 Tagen
angegeben. Die Triazine persistieren lange im Boden, wo sie aufgrund star-
ker Sorption unerkannt akkumulieren, da sie sich einer analytischen Extrakti-
on entziehen. Durch Auswaschung gelangen sie mit ihren Metaboliten in das
Oberflächen- und Grundwasser. Atrazin stellt in der Analytik ein Leitherbi-
zid dar. Die Verbindungen sind für Wasserorganismen giftig. Seit März 1991
ist die Anwendung von Atrazin und sechs weiteren Analogen zum Schutz des
Grundwassers verboten. In 80 Ländern wird es weiterhin angewendet.
In der Regel werden die Triazine im Säugerorganismus nach oraler Gabe rasch
absorbiert. Der Abbau erfolgt über Hydrolyse, Desalkylierung, Desaminierung,
die Abspaltung von Chlor und letztlich durch Öffnung des Triazinrings. Tria-
zine verursachen eine Irritation der Haut und Schleimhäute; die Vergiftung
äußert sich durch Anorexie, Pansenatonie bei Wiederkäuern, Kolik, Erbrechen
und Durchfall. Innerhalb von 24 Stunden werden 50–90 % der aufgenomme-
nen Triazine zum Teil in unveränderter Form vorwiegend renal ausgeschieden.
Weniger als 5 % der Menge erscheinen in der Milch. Für Pflanzenfressser spielt
das vermehrte Vorkommen von Giftpflanzen in Futter und Silage eine wichtige
Rolle, da einige dieser Giftpflanzen gegen Triazine resistent sind.
Aminotriazol hemmt die Katalaseaktivität im Säugetier. In hoher Dosierung
stört es die Hämsynthese, indem es die Kondensation zweier Moleküle
5-Aminolävulinsäure zu Porphobilinogen und den Einbau von Eisen als Zen-
tralatom in das Protoporphyrin unterbindet. Die toxische Wirkung des Amino-
triazol gleicht im Hinblick auf die Zerstörung der mikrosomalen Monooxygen-
asen, bei gleichzeitiger Induktion bestimmter Isoenzyme des Cytochrom P450,
derjenigen verschiedener Schwermetalle.
316 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
6.3 Fungizide
Unter Fungiziden versteht man Verbindungen, die geeignet sind, Pilze und de-
ren Sporen abzutöten. Die Pilze können sich dabei in oder auf organischen Ma-
terialien wie Holz, Papier oder Textilien, Böden und Lebewesen wie Pflanzen,
Pflanzenteilen (Saatgut, Pflanzgut) oder Nutztieren befinden und dort Krank-
heiten auslösen. Eine kurative und protektive Anwendung kann unterschieden
werden. Fungizide sollen nach Möglichkeit weder gefährlich für Bienen noch
toxisch für Warmblüter sein. Die in der Behandlung von Pilzerkrankungen am
Menschen (Mykosen) verwendeten Substanzen nennt man Antimykotika.
Ende des 19. Jahrhunderts setzte man basische Kupferverbindungen vor al-
lem gegen den falschen Mehltau der Reben ein. Das Kupfer penetriert in die
Pilzspore und blockiert enzymatische Vorgänge durch Verdrängung physiolo-
gischer Ionen. Seine Wirkung ist nur protektiv. Kupfer-HDO ist ein Fungizid,
das zusammen mit dem Insektenwachstumsregulator Fenoxycarb in der Holz-
imprägnierung Anwendung findet (Abbildung 6.11). Es stellt zugleich ein Bei-
spiel eines lipophilen Kupferkomplexes dar und dient heute als Ersatz chrom-
haltiger Holzschutzmittel.
Die fungizide Wirkung des Schwefels wurde seit langer Zeit im Wein- und Obst-
bau (Apfelmehltau) genutzt. Wahrscheinlich beruht seine Wirkung darauf, als
elementarer Schwefel in die Spore einzudringen und dort anstelle des Sauer-
stoffs die Rolle des Wasserstoffakzeptors zu spielen. Der entstehende Schwefel-
wasserstoff wirkt als zusätzliches Zellgift. Da Schäden auch an den Wirtspflan-
zen auftreten, ist die Selektivität beider Fungizide nicht ausgeprägt (geringer
chemotherapeutischer Index).
Kupfer-HDO
Abbildung 6.12 Derivate abgeleitet von der Dithiocarbamidsäure. Ziram und Thiram (Po-
marsol) auf der linken Seite sind dialkyliert. Dem Ziram analog ist der Vulkanisationsbe-
schleuniger ZDEC (Zinkdiethyldithiocarbamat). Dem Thiram (Tetramethylthiuramdisulfid,
TMTD) analog ist das Disulfiram (Antabus, Tetraethylthiuramdisulfid). Fungizid wirksam
sind die Dialkyldithiocarbamat-Anionen. Die Biotransformation liefert Dialkylamine und
CS2 . Zineb und Maneb gehören zu den polymeren bzw. zyklischen Ethylenbisdithiocarbama-
ten. Wirksam sind entstehende Alkyl-Isothiocyanate (R-N=C=S). Die Biotransformation
lässt neben Oxalsäure, Glycin und Harnstoff auch Ethylenthioharnstoff, Ethylendiamin, CS2
und H2 S entstehen.
Die für den Menschen relativ wenig toxischen Derivate der Dithiocarbamidsäu-
re dienen in der Gummiherstellung als Vulkanisationsbeschleuniger. Neben der
Auslösung von Kontaktallergien und lokalen Irritationen an Haut und Schleim-
häuten, lässt sich nach Aufnahme dialkylierter Derivate eine Alkoholunver-
träglichkeit beobachten. Die Alkoholintoleranz wird unter anderem bedingt
durch die bereits erwähnte Enzymhemmung, hier derjenigen der Alkohol- und
Aldehyd-Dehydrogenase. Wegen der alkoholabhorrierenden Wirkung diente
früher Disulfiram (Antabus® ) zur Unterstützung des Alkoholentzuges.
6.3.4 Thiadiazine
Abbildung 6.13 Thiadiazine, Benzimidazole und Diphenyle als Fungizide und Fungistatika.
Thiadiazine zerfallen in wirksame Alkyl-Isothiocyanate. Als einziges Benzimidazol trägt Be-
nomyl an N-1 eine Substitution. Es muss metabolisch aktiviert werden. Eine Substitution
an C-5 blockiert die Hydroxylierung und hat eine Wirkungsverlängerung zur Folge. Diphenyl
besitzt einen hohen Dampfdruck. Es wirkt in der Gasphase. Im Warmblüter wird es durch
Cytochrom P450 hauptsächlich zu 4-Hydroxy-, 3,4-Dihydroxybiphenyl, weniger zu ortho- oder
meta-Phenylphenol hydroxyliert.
6.4 Rodentizide
Rodentizide werden zur Bekämpfung von Nagetieren wie Ratten und Mäuse
eingesetzt. Die Verwendung von Substanzen wie Thalliumsulfat und anderer
Schwermetalle, die außerordentlich toxisch für den Menschen sind, ist weitge-
hend zugunsten der Vitamin K-Antagonisten aus der Gruppe der 4-Hydroxy-
cumarinderivate und derjenigen der Indan-1,3-dione verlassen worden.
Vitamin K-Antagonisten verhindern die von Vitamin K-abhängige Synthese
der g-Carboxyglutaminsäure in der Leber. Diese spezielle Aminosäure ist für
die Funktion der Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X sowie Protein C
und Protein S unbedingt erforderlich (siehe Kapitel 3.5.2). In der Medizin wer-
den Vitamin K-Antagonisten, die Cumarinderivate, als indirekt gerinnungs-
hemmende Substanzen (Antikoagulantien) eingesetzt. Entsprechend der un-
terschiedlichen biologischen Halbwertzeit der betroffenen Gerinnungsfaktoren
tritt der therapeutische Effekt der Cumarinderivate in der Regel erst nach 24
bis 36 Stunden auf.
Therapeutischer und toxischer Effekt unterscheiden sich nur quantititativ hin-
sichtlich des Grades der Verminderung der Blutgerinnung. Die therapeutische
Dosis des Cumarinderivates Warfarin beträgt 5–10 mg täglich, die einmalige
Einnahme von 1 g führte aufgrund von Blutungen in allen inneren Organen
und in der Haut nach 14 Tagen zum Tode. Ratten und Mäuse sind gegenüber
Cumarinen empfindlicher als der Mensch.
Wegen der langsam einsetzenden Wirkung und der guten Therapiemöglich-
keit beim Menschen besitzen Cumarine als Rodentizide einen hohen Sicher-
heitsstandard. Nach unbeabsichtigter oder beabsichtigter Vergiftung können
schnell und wirksam therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Das ein-
malige Verschlucken von ausgelegten Tierködern mit Vitamin K-Antagonisten
bleibt beim Menschen oft symptomlos.
Die Therapie besteht in der Resorptionsverhinderung durch Verabreichung von
medizinischer Kohle und von Vitamin K1 (Abbildung 6.14). Bei oraler Gabe
ist ein Abstand von zwei bis vier Stunden zur Aktivkohle einzuhalten, da sonst
auch die Resorption des Vitamins verhindert wird.
Lebensbedrohende Blutungen, müssen mit der Substitution der fehlenden Ge-
rinnungfaktoren behandelt werden, da sich erst 1 bis 3 Tage nach Vitamin K-
Gaben die Gerinnungsfähigkeit des Blutes normalisiert.
322 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide
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Abbildung 6.14 Schema des Vitamin K Zyklus. Vitamin K (Koagulation) zieht in einer
O2 -verbrauchenden Reaktion der Glutaminsäure ein g-Proton ab, es entsteht ein g-Carb-
anion und Vitamin K-2,3-Epoxid. Das Glutamin-Carbanion reagiert mit CO2 zur g-Carb-
oxyglutaminsäure. Die das Vitamin K regenerierenden Reaktionen werden durch Cumarin-
derivate (hier Warfarin) kompetitiv gehemmt. Unterer Teil: Seitenketten von Menadion,
Menachinon und Phyllochinon = Phytomenadion.
7 Rückstände, technische Produkte und
Gefahrstoffe
Wolfgang Legrum
Hatte der Mensch in seiner chemisch schöpferischen Aktivität von 1778 an,
dem Jahr des Erscheinen des ersten chemischen Fachjournals, bis 1954 erst
600 000 chemische Verbindungen erschaffen, so war genau diese Anzahl im
Jahr 1992 bereits neu synthetisiert. Heute kommen pro Jahr etwa eine halbe
Million neuer Verbindungen hinzu. Mitterweile ist die Grenze von 20 Millio-
nen überschritten. Nur ein kleiner Teil dieser neuen Verbindungen gelangt zu
einer Produktreife, sei es als Arzneimittel, Biozid, Waschmittel oder sonstiges
Hilfsmittel. Hergestellt und angewendet gelangen die Stoffe unweigerlich in
die Materialkreisläufe der Welt. Während die Synthesen wohl durchdacht sein
müssen, verlässt man sich nach gezogenen Nutzen bei der Entsorgung meist
auf die Kapazität und die Toleranz der Natur. Generell ist davon auszugehen,
dass jegliche Produktion des Menschen zu Müll und danach desintegriert wird.
Beispiele von verschiedenen Substanzgruppen sollen hierzu Einblicke geben.
In chemischen Synthesen von Wirkstoffen können sich durch Nebenreaktionen
wirkungslose oder auch toxische Produkte bilden. Hierzu sind einige bekannte
Fälle zusammengestellt. Zum Abschluss des Kapitels soll der Blick auf den
Umgang mit Gefahrstoffen gelenkt werden. Da ihr Einsatz und ihre Entste-
hung nach Möglichkeit zu umgehen ist, werden die wichtigsten Richtlinien zur
Vermeidung kurz vorgestellt.
Im Boden
t
ε= .
t1/2
150
130 = Dmax = D R
100
D = 100
50
30 = Dmin = D (R-1)
0 1 2 3 4 5 a
Abbildung 7.1 Verlauf der präsenten Menge einer wiederholt auf einen Acker im Jahres-
rhythmus ausgebrachten Substanz. Dosierungsinterval t = 1 a, jährlich ausgebrachte Menge
(= Aufwandmenge · Fläche) der Substanz = 100, Halbwertzeit der Substanz t1/2 = 0,5 a. Die
direkt nach dem Ausbringen maximal vorhandene Menge (Dmax ) konvergiert gegen D · R,
wobei R der dimensionslose Kumulationsfaktor ist. Die aus dem betrachteten Bereich eli-
minierte Menge an Wirkstoff muss nicht zwangsläufig biologisch unwirksam geworden sein.
Die Ordinate trägt willkürliche Masseneinheiten.
τ
ετ = .
t1/2
Von der zum Zeitpunkt t0 ausgebrachten Menge ist nach einem Jahr, also
nach einem Vielfachen der Halbwertzeit, noch ein bestimmer Anteil vorhan-
den. Nach der nochmaligen Ausbringung nimmt der Rest plus die zusätzliche
Menge in der gleichen Zeit wieder auf den gleichen Anteil ab. Durch die wie-
derholte Multiplikation ergibt sich eine geometrische Reihe mit dem Faktor
q = 2−ετ , mit der sich die im Boden verbleibende Menge an Wirkstoff (unmit-
telbar vor oder nach der Ausbringung) berechnen lässt:
1 1
Dmax = D =D = D · R.
1−q 1 − 2−τ
Im Oberflächenwasser
Im Grundwasser
Eine Voraussetzung für die Zulassung von Wirkstoffen zur Anwendung als Bio-
zid ist der Nachweis, dass bei sachgerechter Anwendung im Grundwasser keine
Konzentration größer 0,1 mg/L auftritt. Lysimeteruntersuchungen geben über
das zu erwartende Verhalten der Verbindungen im Boden Auskunft. Wird die
Zulassungsgrenze von der Substanz oder einem seiner Metaboliten überschrit-
ten, können Einschränkungen oder Verbote der Anwendung ausgesprochen
werden. Derzeit bestehen in der Bundesrepublik für die Substanzen Atrazin,
Bromacil und 1,3-Dichlorpropen solche Regelungen. Werden Substanzen unter-
halb der Zulassungsgrenze nachgewiesen, wird deren Überwachung intensiviert.
In der Bundesrepublik gibt es etwa 13 000 Meßstellen, in deren Proben im Jahr
2004 folgende Substanzen mit der angegebenen relativen Häufigkeit in Kon-
zentrationen größer 0,1 mg/L nachgewiesen wurden: Desethylatrazin (4,7 %),
Ethidimuron (3,9 %), Atrazin (2,2 %), Bromacil (2,2 %), 2,6-Dichlorbenzamid
(2,1 %), Bentazon (0,8 %), Hexazinon (0,7 %), Diuron (0,7 %), Simazin (0,6 %),
Desisopropylatrazin (0,5 %), Mecoprop (0,5 %), Propazin (0,3 %), Isoproturon
(0,2 %), Dichlorprop (0,15 %) und Chlortoluron (0,1 %) (siehe Abbildung 7.2
und Abbildung 7.3). Die Rangfolge der Substanzen ist über die Jahre relativ
stabil.
Im Trinkwasser
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Summe aller einzelnen Biozide zusammengenommen darf dabei auch die Kon-
zentration von 0,5 mg/L nicht übersteigen.
In Lebensmitteln
Pflanzen, die der Erzeugung von Lebensmitteln dienen, wie Obst, Gemüse
und Getreide, werden zur Erzielung höherer Erträge und besserer Qualität
in großem Maße mit Bioziden behandelt, so dass sie und daraus zubereitete
Erzeugnisse diese Stoffe enthalten können. Wie aus einem Bericht der EU-
Kommission für das Jahr 2002 hervorgeht, waren von 46 000 Proben, die im
328 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe
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H Desisopropyl-Atrazin, DIA
H N
N
N N Cl N, H oder H, N
N
H N
isopropyl ethyl isopropyl
H N H N H2N
N N N
H N, N
N Cl N OH N OH
N N N
H N Atrazin H N H2N
Hydroxy-Atrazin
ethyl isopropyl ethyl
H N
N
N N Cl N, H oder H, N
N
H N
H Desethyl-Atrazin, DEA
Aus der Gruppe der Steroidhormone wird in Fließgewässern vor allem syntheti-
sches 17a-Ethinylöstradiol (EE2) gefunden, das als orales Kontrazeptivum Be-
deutung hat. Die ebenfalls vorkommenden Verbindungen 17b-Östradiol (E2),
Östron (E1) und Östriol (E3) stellen physiologische Ausscheidungen dar, die
nur teilweise aus der Hormonersatztherapie stammen.
Das in einer empfohlenen Tagesdosis von 6 g zur Resorptionshemmung des
Cholesterols aus der Nahrung als Lipidsenker angewendete b-Sitosterol wird
im Wasser in höheren Konzentrationen gemessen. Zusätzlich ist das Steroid als
Nahrungsbestandteil in allen pflanzlichen Ölen enthalten, besonders in Mais-
und Sonnenblumenöl, wo es in Mengen von 1 bis 9 g/kg vorkommt. Eine weitere
Quelle für das b-Sitosterol bilden die Abwässer der Papier- und Zellstoffindu-
strie, welche auch das Lignan Enterolacton und das Iso-Flavon Genistein als
östrogen wirksame Phytohormone abgeben (siehe S. 338). Die Darmbakterien
des Menschen metabolisieren aus den in Pflanzen und Getreide vorkommen-
den Lignanen, speziell deren Glycosiden Secoisolariciresinol und Matairesinol
im proximalen Colon ebenfalls die humanen Lignane Enterodiol und Entero-
lacton, die sowohl im Urin wie mit den Faeces ausgeschieden werden.
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Grund des hohen Dampfdrucks verteilen sich die Verbindungen nicht nur über
die aquatische Phase, sondern auch aerob.
Das natürliche Muscon aus Moschus moschiferus, dem in Mittel- und Ostasien
heimischen Moschushirsch, ist eines von mehreren makrozyklischen Ketonen
und Lactonen mit ungefähr 15 Ringgliedern. Moschus dient in der Parfümerie
als Fixativ.
Abbildung 7.6 Die Strukturen der Xeno-Östrogene Methoxychlor, Dicofol und als Vertreter
der polyhalogenierten Biphenyle (PCB und PBB) ein Isomer des Arochlor 1242. Die 12 im
Code steht für die Struktur Biphenyl, die 42 gibt den mittleren Chlorgehalt der Verbindung
in Gewichtsprozent an, was hier etwa 3 Chloratomen entspricht. Beispiel für ein PBB ist
das 2,2’,4,4’,5,5’-Hexabromobiphenyl = Firemaster BP-6.
likeln überzählige Eier. Eine Fortpflanzung war nicht möglich. Die auslösende
Ursache in diesem speziellen Fall war die Kontamination des Sees mit DDT
(Abbildung 6.4) und Dicofol (Abbildung 7.6) aus dem übergelaufenen Abfall-
teich einer nahegelegenen chemischen Fabrik. Der in Florida generell beobach-
tete Rückgang der Populationen des Alligators und des Florida-Panthers wird
mit ähnlichen hormonaktiven Auslösern in Zusammenhang gebracht.
In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe weiterer Substanzen identifiziert,
welche hormonelle Aktivität zeigen. Diese kann sich entweder in der Aktivie-
rung von Rezeptoren für Östrogene oder Androgene äußern oder durch eine
Hemmung der Bindung der natürlichen Hormone an diesen Stellen. Ebenfalls
möglich sind Interaktionen mit Hormonen bei deren Stoffwechsel, Transport
oder Ausscheidung. Allgemein bezeichnet man Xenobiotika, welche in einer
dieser drei Arten wirken, als environmental endocrine disruptors. Da sie die
normale Hormonwirkung im wesentlichen während der Entwicklung stören,
wird dieses Gebiet der Toxikologie auch als Entwicklungs-Toxikologie (deve-
lopmental toxicology) bezeichnet.
Die hormonartig wirkenden Substanzen können mit Östrogenen, Androgenen
oder Schilddrüsenhormonen interferieren. Sowohl diese Information als auch
die Herkunft der Verbindungen wird in ihrer näheren Bezeichnung ausgedrückt.
So unterscheidet man zwischen Xeno-Östrogenen, sofern es sich um Pestizide
oder Industriechemikalien handelt, Phyto-Östrogenen, sofern sie pflanzlichen
Ursprungs sind, und Myko-Östrogenen, wenn sie von Pilzen gebildet werden.
Allgemein kann auch von Xeno-, Phyto- oder Myko-Hormonen die Rede sein.
Fremdstoffe dieser Art können permanente Störungen von Entwicklungspro-
zessen in solchen peripheren Organen verursachen, deren Entwicklung von Ge-
schlechtshormonen abhängig ist. Hierzu zählen u. a. Ovarien, Hoden, Genital-
trakt und Brustdrüse, aber auch das Gehirn kann betroffen sein.
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 333
Cl Cl Cl Cl
Cl Cl
CH2 Cl CH2Cl
CH3 Cl Cl O
CHCl2
Cl S O
CH3 CH2Cl O
Camphen Toxaphen
Endosulfan
(Octachlorcamphan-Isomer)
Abbildung 7.7 Camphen und ein durch Chlorierung entstandenes Isomer aus Toxaphen.
Endosulfan = Thiodan: abgebildet ist das a-Isomer mit einen Schmelzpunkt von 109 °C, im
Gegensatz zum b-Isomer mit 209 °C.
ben sich vor allem in den aquatischen Organismen der Nordhalbkugel ange-
reichert. Die Anwendung von Toxaphen ist seit 1982 verboten. Es gibt unter
den Isomeren solche, die leicht mikrobiell und photolytisch abbaubar sind, an-
dere dagegen schwer. Der Abbau beginnt mit reduktiven Dechlorierungen und
Dehydrochlorierungen, denen oxidative Reaktionen folgen können. Toxaphen
ist östrogen wirksam, im Ames-Test mutagen und vor allem für Fische sehr
giftig. Über die unterschiedlichen Wirkungsqualitäten der einzelnen isomeren
Verbindungen ist sehr wenig bekannt.
Endosulfan ist ein schon seit 1956 benutztes Insektizid und Akarizid. Es wird
als Kontakt- und Fraßgift im Obst-, Gemüse-, Zierpflanzenanbau und Forst
zum Pflanzenschutz gegen beißende und saugende Insekten eingesetzt. Gegen
Bienen zeigt es eine geringe Toxizität. Das Mittel wird bis zu zwei Wochen vor
der Ernte angewendet bei Beeren, Baumfüchten, Nüssen, Gemüse, Getreide,
Feldfrüchten, Reis, Baumwolle, Tabak und Tee. Da die Sättigungskonzentra-
tion in Luft bei 130 mg/m3 liegt, ist eine Anwendung im Innenbereich nicht
ratsam. Endosulfan ist ein Nervenstimulans, das Krämpfe auslösen kann. Es
hat damit Ähnlichkeit zu anderen chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen.
Seine östrogene Wirkungskomponente ist dagegen relativ schwach ausgeprägt.
Wirkungssteigerungen durch Kombination mit anderen östrogen wirksamen
Substanzen ließen sich nicht bestätigen.
Abbildung 7.8 Vertreter von Industriechemikalien, die selbst oder als Abbauprodukte ei-
ne hormonartige Wirkung aufweisen. Das nicht-ionische Detergenz 4-Nonylphenolethoxylat
zeigt erst nach partiellem Abbau diese Wirkung (siehe Text). Sind neun Ethoxyreste ankon-
densiert (n = 9), handelt es sich um Nonoxynol-9. Andere bekannte Vertreter dieser Klasse
sind Triton X-100, Emulgen 911 und Renex 692.
Eine große Gruppe von etwa 60 verschiedenen Derivaten bilden die Phthalat-
ester. Etwa zwei Drittel der Produktion finden als äußere Weichmacher in
PVC-Materialien Verwendung. Hierbei gehen sie mit den Kunststoffen keine
Verbindung ein, sondern bleiben lediglich physikalisch darin gelöst. Entspre-
chend schnell können sie meist durch Ausgasung (DBP) oder Auswaschung
die Matrix verlassen, was in der Regel zur Alterung der Kunststoffe führt. Eine
östrogene Wirkung ist für Dibuthylphthalat (DBP) und Benzylbutylphthalat
(BBP) beschrieben, nicht dagegen für den mengenmäßig bedeutendsten Ester
das Diethylhexylphthalat (DEHP). BBP wird hauptsächlich als Weichmacher
in PVC-Fußbodenbelägen und in Polysulfid-Dichtmassen (Isolierglasscheiben)
eingesetzt
7.4.3 Xeno-Androgene
Bisher ist Tributylzinn (TBT, Abbildung 7.8) die einzige Substanz nichtste-
roidalen Aufbaus, an der eine androgene Wirkungsqualität beobachtet wurde.
Organozinnverbindungen werden seit 1950 industriell hergestellt. Sie enthalten
Zinn in der Oxidationsstufe +4 substituiert mit Butyl-, Heptyl- oder Phenyl-
resten und Halogenen.
Das problembehaftete Haupteinsatzgebiet liegt auf dem Sektor der Antifouling-
Anstriche von Schiffsrümpfen. Hier verhindert es den Bewuchs mit Seepocken,
Muscheln und Algen. Ein Anwendungsverbot besteht allerdings bei Schiffen
unter 25 m Länge. Unbehandelt würde ein Luxusliner in sechs Monaten von
etwa 1500 t Seepocken besiedelt. Das Auslaugen der Anstriche führt zur Frei-
setzung des ursprünglich enthaltenen Bis(tri-n-butylzinn)oxids (TBTO), das
sich in Meerwasser zu Tributylzinnchlorid (TBT) umwandelt. Bei Meeres-
schnecken führt die Substanz zu einer Vermännlichung der weiblichen Tiere
mit der Ausbildung von männlichen Geschlechtsorganen (sog. Imposex) und
Unfruchtbarkeit. Die Ursache hierfür ist in einer Hemmung der Aromatase zu
sehen, die bei der enzymatischen Umwandlung von Testosteron zu Östrogen
essentiell ist. Daneben werden eine Reihe toxischer Wirkungen beobachtet, die
nicht auf eine hormonartige Wirkung zurückgehen. Die Alkylzinnverbindungen
werden photolytisch und biotisch schrittweise bis zum anorganischen Stadium
desubstituiert.
7.4.4 Xeno-Thyroxine
Verschiedene Xenobiotika weisen eine schilddrüsenhormonartige Wirkung auf.
Eine solche Wirkungsqualität hat man bei einigen PCB gefunden, die nach
Hydroxylierung im Organismus hohe Affinitäten zum Transthyretrin, dem Se-
338 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe
7.4.5 Phyto-Östrogene
Wichtige Vertreter der Phyto-Östrogene sind in der Verbindungsklasse der Iso-
flavone zu finden. Die Substanzen sind vor allem in Pflanzen der Familie der
Fabaceen (früher Papilionaceen) weit verbreitet. Hier hat sich eine Fülle von
strukturell ähnlichen Verbindungen entwickelt, von denen in den Blättern des
Färberginsters (Genista tinctoria) das Genistein als erstes entdeckt wurde.
Weitere Vertreter dieser Familie, darunter viele Futterpflanzen und Pflanzen
zur Gründüngung, sind Kleearten (Trifolium), Luzerne (Medicago sativa), Lu-
pinen, Saubohne (Vicia faba), Kichererbse (Cicer ) und die ostasiatische So-
jabohne (Glycine soja). Isoflavonreiche Kleesorten (Trifolium subterraneum)
führten bei Schafen zu Schäden an den Eierstöcken und Fortpflanzungsstörun-
gen.
Ein wichtiger Vertreter der Isoflavone mit östrogener Wirkung ist das Genistein
(Abbildung 7.9). Es ist zusammen mit Daidzein in einer Konzentration von je
etwa 0,5 g/kg in Sojabohnen enthalten. Daidzein hat eine geringere östrogene
Wirkung als Genistein, beide Substanzen sind Radikalfänger und antioxida-
tiv wirksam. Die Anwendung der Isoflavone kann hilfreich sein Beschwerden
während der Postmenopause zu mindern.
Nach oraler Gabe und Resorption unterliegen beide Substanzen einer Elimina-
tion mit einer Halbwertzeit von ca. 8 Stunden. Neben konjugierten Metaboliten
wird nur bei 60 % der Bevölkerung auch eine Ausscheidung von Equol, einem
hydrierten Metaboliten des Daidzein, gefunden (Abbildung 7.9). Ein weiteres
Phyto-Östrogen ist das Biochanin-A, ein 4’-Methylether des Genistein.
Daidzein kommt in der Wurzel der Pflanze Pueraria labata (Kudzu) als
7 b-Glucosid Daidzin vor. Es wird seit 600 v. Chr. in der chinesischen Medi-
zin zur Behandlung des Alkoholismus angewendet. Die Wirkung beruht auf
einer Hemmung der Alkohol-Dehydrogenase.
Neben den Isoflavonen kommt in der Luzerne noch ein weiteres Phyto-Östro-
gen vor, das Coumestrol. Seine Grundstruktur enthält die des C(o)umarins
und wird Coumestan genannt. Luzerne ist in Ergänzung zu Mais eine nähr-
stoffreiche Futterpflanze. Sie wird im Englischen nach einem Namen arabischen
Ursprungs Alfalfa (al fasfasa, Futter) genannt. Coumestrol kommt in Sprossen
von Rotem Klee (red clover), Sojabohnen und in Blättern von Kudzu vor. Es
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 339
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7.4.6 Myko-Östrogene
Zearalenon (F2-Toxin) ist ein vom Schimmelpilz Fusarium graminearum ge-
bildetes Toxin mit einer deutlich östrogenen Wirkungskomponente. Es han-
340 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe
delt sich um einen Vertreter der Resorcylsäurelactone (RAL), ein aus neun
Acetat-Resten gebildetes Polyketid (Abbildung 7.9). Insgesamt sind 13 ver-
schiedene Vertreter isoliert. Vom Pilz befallen sind hauptsächlich Gräser und
damit können alle Getreidefrüchte und daraus erstelltes Tierfutter das Toxin
enthalten. In Weizen, Gerste, und Mais findet man Konzentrationen zwischen
900 und 9000 mg/kg. Dies ist verglichen mit der akuten Toxizität (LD50 Ratte,
i. p. 5 g/kg KG) unbedenklich, obwohl die Verbindungen hitzestabil sind und
den Backprozess überstehen.
Gravierender in den Folgen ist die östrogene Wirkung des Zearalenons. Die
Verfütterung übermäßig kontaminierten Futters kann bei weiblichen Tieren
zu einer Vergrößerung der Genitalien und der Zitzen, einer Uterushypertro-
phie und einer Verminderung der Fertilität durch eine Ovarienatrophie führen.
Männliche Tiere feminisieren. Für das sehr schwer wasserlösliche Zearalenon
besteht ein carry-over-Effekt bei Kühen, die es mit dem aktiven Metaboliten
a-Zearalenol, der eine zehnfach stärkere östrogene Wirkung hat, in die Milch
ausscheiden. Bei Mädchen führt der Verzehr solcher Milch zu einer frühzeitigen
Geschlechtsreife, bei Frauen zu Störungen des Zyklus und bei Männern zu einer
Abnahme der Fertilität. Von Zearalenon, das an den intrazellulären Östrogen-
rezeptor bindet, sind mutagene, karzinogene und bei Ratten und Schweinen
teratogene Effekte beschrieben. Derivate des Zearaleons werden wegen ihrer
anabolen Wirkung in der Veterinärmedizin eingesetzt.
7.5.2 E-Screen-Assay
Nach der Aussaat der Zellen wachsen diese innerhalb von 24 Stunden an. Durch
einen Mediumwechsel folgt danach die Inkubation mit den Testsubstanzen über
einen Zeitraum von sechs Tagen hinweg. Die östrogen wirkenden Verbindungen
werden in Konzentrationen von 1 nM to 10 mM, das Östradiol (E2) von 0,1 pM
bis 1 nM in Zehnerpotenzschritten eingesetzt. Die Zellen wachsen in dieser
Zeit in die späte logarithmische Phase hinein. Nach ihrer herbeigeführten Lyse
bestimmt man die Anzahl der Zellkerne in einem Coulter-Counter (Partikel-
zählgerät) und erhält eine Annäherung für die Verdopplungszeit (td, t2 ) der
Zellpopulationen. Deren genaue Bestimmung wäre aufwändiger, da dann meh-
rere Messungen der Zellzahl zu verschiedenen Zeitpunkten erforderlich sind.
100 100
Wirkungsstaerke (efficacy) %
75 75
n
h
Ph
stro
-NP
E2
T
’,4-B
S
D
&E
&E
&4
DE
50 50
’-D
’,6
E2
o,p
Zea
Cou
2’,4
25 25
Tx
0 0
0,1 1 10 100 1 10 100 1 10 100 1
pM nM uM mM
Wirksamkeit (potency)
TS TL
rtER cDNA rtER mRNA rtER
E E
YEprtER
E
(8,4 kb) E
beta-Galactosidase
CYC1-P E E TATA CYC1 lacZ
Abbildung 7.11 Schema des Recombinant Yeast Estrogen Assay. Die rekombinante Hefe Sac-
charomyces cerevisiae exprimiert aus YEprtER den Östrogen-Rezeptor der Forelle (rtER =
rainbow trout Estrogen Receptor). In Anwesenheit eines Östrogens E kommt es zur Expressi-
on der b-Galactosidase, die vom lacZ-Gen codiert wird. TS: Transkription, TL: Translation,
ERE: Estrogen responsive elements.
S S Substrat TMB
Streptavidin-Peroxidase Enzymkonjugat
Vitellogenin (biotinyliert oder nativ)
Beschichtungsantikoerper
Verwendung von Antikörpern, die gegen das Lipovitellin aus Eiern der Fo-
relle erzeugt wurden. Ausreichende Kreuzreaktionen erlauben die Quantifizie-
rung von Vitellogeninen auch anderer Fischarten. Der sog. Vitellogenin-Test
ist ein kompetitiver ELISA (enzyme linked immunosorbent assay). Das Vi-
tellogenin aus der Probe konkurriert mit einem vorgelegten, mit Biotin mar-
kierten Vitellogenin um eine begrenzte Anzahl von Bindungsstellen an spe-
zifischen Vitellogenin-Antikörpern, die ihrerseits auf einer Oberfläche haften.
Nach Einstellung des Gleichgewichts (2 Stunden) wird das ungebundene Mate-
rial weggewaschen. Das zugegebene Streptavidin-Peroxidase-Konjugat bindet
ausschließlich an das biotinylierte Vitellogenin und kann nach Entfernung des
Überschusses und Zugabe von Tetramethylbenzidin (TMB) über eine Farb-
reaktion quantifiziert werden (Abbildung 7.12).
Der Bestimmung von Vitellogenin kann auch als immunhistochemischer Nach-
weis geführt werden. Die Sichtbarmachung erfolgt dann über einen sekundären,
an Fluoresceinisothiocyanat (FITC) gekoppelten Antikörper nach Anregung
mit Licht im Fluoreszenzmikrosop. Versuche mit primären Leberhepatozyten
von Fischen können ebefalls genutzt werden, um eine Induktion von Vitello-
genin durch östrogen wirkende Substanzen auf zellulärer Ebene nachzuweisen.
CD-1. Die Auswahl des Stammes hat demnach große Auswirkungen auf die
Festlegung von Sicherheitsgrenzwerten.
Seit langem ist bekannt, dass der Umgang mit Anilin neben der akuten Erzeu-
gung einer Methämoglobinämie langfristig Blasenkrebs, den sog. Anilinkrebs,
hervorruft. Diese karzinogene Wirkung scheint, wie sich durch Untersuchung
des Materials ergeben hat, nicht vom Anilin selbst, sondern von verschiedenen
karzinogenen Verunreinigungen wie b-Naphthylamin oder Benzidin ausgelöst
worden zu sein (vgl. Seite 359).
Auch in der Gewinnung von Naturstoffen ergeben sich ähnliche Probleme, da
Konzentrate manchmal biologisch hochaktive toxische Bestandteile in geringer
Menge enthalten, die vor einer Verwendung erst entfernt werden müssen. Als
Beispiele hierfür sollen das sensibilisierende Pyrethrosin, die phototoxischen
Furanocumarine und das toxische Glycoprotein Ricin im nativen Rizinusöl
erwähnt werden.
Die Synthese von Verbindungen mit chiralen Zentren erweitert das Spektrum
der möglichen Begleitprodukte in die andere Richtung. Während es sich bis-
her um geringe Mengen toxischer Verbindungen handelte, besteht mit jedem
chiralen Zentrum die Möglichkeit der Verdünnung der biologisch aktiven Sub-
stanz durch eine wirkungsärmere oder gar wirkungslose. Als Beispiel hierfür sei
an die Gruppe der Pyrethroide erinnert, die teilweise bis zu drei Chiralitäts-
zentren aufweisen. Wirkungsminderung macht in der Regel eine Erhöhung der
Dosierung erforderlich. Folge ist, dass unnötige Mengen wenig wirksamer enan-
tiomerer Biozide oder Arzneimittel durch Biotransformation abzubauen sind.
Gefahrstoff Substitut
vermeidbare Gefahr bleibende Gefahr
Acrylamid Acrylamid 40%ig in Wasser
karzinogener Staub, Cat. 2, T karzinogener Stoff
Benzol Toluol
karzinogen, Cat. 1, F T schädlich
3-Chlorperbenzoesäure Mg-Monoperoxyphthalat
explosiv, E -
Diethylether tert.-Butylether
peroxidbildend, F+ -
Dimethylsulfat; Methyliodid Dimethylcarbonat
karzinogen, Cat. 2, T; Cat. 3, T+ schädlich
Fluor Xenondifluorid
korrosives Gas, T+ C Feststoff
Hexamethylphosphorsäuretriamid Dimethylethylenharnstoff
karzinogen, Cat. 2, T -
n-Hexan Cyclohexan, Heptan
toxischer Metabolit, F Xn -
Methanol Ethanol
toxisch, F T -
Perchlorsäure Trifluormethansulfonsäure
explosiv, brandfördernd, O C -
Phosgen, Carbonylchlorid Bis(trichlormethyl)-carbonat
(Triphosgen)
sehr toxisches Gas, T+ giftiger Feststoff
Schwefelwasserstoff Schwefel-Paraffin
sehr toxisches Gas, F+ T+ ungiftiger Feststoff
Tetrabutylammoniumperchlorat Tetrabutylammonium-
hexafluorphosphat
explosiv, E nicht explosiv
Xylole Neo-Clear®
hautresorptiv, Xn schädlich
348 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe
gesundheitlichen Risiko verfügbar sind, mit denen das angestrebte Ziel eben-
falls zu erreichen ist.
Ein allgemeines Konzept zur Reduktion des Risikos besteht darin, Gase, flüch-
tige oder leicht staubende Materialien möglichst durch Feststoffe oder Lösun-
gen zu ersetzen. Die Nutzung einiger Gefahrstoffe kann durch geschickte Wahl
von Verbindungen mit entweder geringerem toxischen Potential oder geringerer
physikalischer Gefährlichkeit vermieden werden, wie Tabelle 7.1 zeigt.
Die gesundheitsgefährdenden Eigenschaften verschiedener Lösungsmittel wur-
den ausführlich in Kapitel 5 besprochen. In den meisten Fällen lassen sich
solche Stoffe ohne Nachteile durch ein weniger gefährliches Substitut ersetzen.
8 Atemgifte
Christian Steffen
Die Atmung umfasst folgende drei Abschnitte: Die äußere Atmung, den Ga-
stransport im Blut und die innere Atmung. Zur äußeren Atmung gehört die
Aufnahme von O2 und Abgabe von CO2 durch die Lungen und damit einge-
schlossen die Gasdiffusion zwischen Lungenbläschen und Blut. Für den Ga-
stransport im Blut selbst ist besonders das Hämoglobin in den roten Blut-
zellen verantwortlich. Unter innerer Atmung versteht man den Gasaustausch
zwischen den peripheren Zellen und deren Flüssigkeit.
Atemgifte können sowohl den Mechanismus der äußeren Atmung blockieren,
mit dem Gastransport im Blut interferieren als auch die innere Atmung hem-
men.
Dieser untere Abschnitt ist auch der empfindlichste Bereich der Lunge, der
mit allen Zeichen einer florierenden Entzündung reagieren kann. Dabei erzeugt
der chemische Reizstoff eine Erhöhung der Permeabilität der Epithelzellen des
Lungenendabschnittes und der angrenzenden Kapillargefäße. Als Folge tritt
Flüssigkeit in den Zwischenzellraum ein und die Epithelzellen schwellen an
(Ödem). Dies bewirkt in den Lungenbläschen eine Verlängerung der effekti-
ven Diffusionsstrecke für O2 und CO2 zum Blut und dadurch bedingt einen
verminderten Gastransport. Wegen der schlechteren Wasserlöslichkeit des O2
wirkt sich dies besonders auf die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins aus.
Der Vergiftete zeigt auf Grund der Sauerstoffuntersättigung des Hämoglobins
eine grau-blaue Hautfarbe (graue Zyanose). Mit zunehmender Kapillar- und
Gefäßerweiterung wird auch die Abdiffusion von CO2 erschwert und ein ver-
mehrter Flüssigkeitseinstrom in die Lungenbläschen füllt diese vollständig mit
Ödemflüssigkeit aus. Damit ist der lebensbedrohende Zustand des toxischen
Lungenödems erreicht. Als Beispiele für Substanzen gelten Cadmiumoxid,
Chlor, Ozon, Isocyanate, Phosgen und Stickstoffdioxid.
Für eine Vergiftung mit Phosgen ist eine Latenzperiode von mehreren Stunden
typisch. Unter quälendem Husten mit bräunlich-schaumigem Auswurf und zu-
nehmender Atemnot entwickelt sich danach rasch eine schwere Zyanose (blau-
rote Färbung von Haut und Schleimhäuten infolge Sauerstoffuntersättigung
des Hämoglobins). In vielen Fällen tritt in diesem Stadium des toxischen Lun-
genödems der Tod durch Ersticken ein. Mengen über 50 ppm Phosgen können
schon innerhalb weniger Minuten zum Tode führen.
8.1 Toxische Effekte auf die äußere Atmung 351
Tabelle 8.1 Übersicht über Lungenreizstoffe, ihren Wirkort im Lungenabschnitt und Auftreten
einer Latenz* bis zum Ausbruch der Erkrankung.
½ O 2 + H 2O
Katalase
. SOD
2 O2 + 2 H + O2 + H 2O2 2 GSH
GSH-POD
2 H 2O GSSG GSH
Protein-SH Protein-SSG
NADP+ NADPH + H +
Abbildung 8.1 Schema der enzymatischen Entgiftung von Superoxidanion (O·− 2 ) mit
Folgeprodukten. Superoxiddismutase (SOD), Glutathion-Peroxidase (GSH-POD), Gluta-
thion (GSH), Glutathiondisulfid (GSSG) und Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid-Phosphat
(NADP+ ).
8.2.1 Kohlenmonoxid
Eine der häufigsten Vergiftungen vor der Einführung des Erdgases (Methan)
war die Vergiftung durch Kohlenmonoxid (MAK-Wert 35 mg/m3 , 30 ppm) des-
sen Anteil im Leuchtgas bei 15 % lag. Als ubiquitär vorkommendes Molekül
löst es auch heute nicht selten Vergiftungen aus. Ursache hierfür können offene
Heizungen bei schlechter Luftzufuhr oder Autoabgase sein.
354 Kapitel 8 Atemgifte
8.2.2 Methämoglobinbildner
Wird das zweiwertige Eisen des Hämoglobins (Hb) oxidiert, so entsteht Met-
hämoglobin (Met-Hb, früher Hämiglobin). Letzteres bindet keinen Sauerstoff,
da das Eisen mit Wasser als sechstem Liganden koordinativ besetzt ist (Hb
Fe3+ · H2 O). In den roten Blutzellen reduzieren verschiedene Enzyme, vor al-
lem die Methämoglobin-Reduktase, das anfallende Methämoglobin zu funk-
tionstüchtigem Hämoglobin, so dass im Blut der Anteil an Methämoglobin
normalerweise nicht über 1 % ansteigt. Die Energie für die Reduktion wird
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut 355
Diese wenigen Aufzählungen aus dem Stoffwechsel der roten Blutzellen sollen
darauf hinweisen, wie komplex die zentrale Funktion des Sauerstofftransports
geregelt ist. Im Prinzip ist jeder hemmende Eingriff in den Stoffwechsel und
jede Störung der Barrierefunktion der Membran mit einer vermehrten Bildung
von Methämoglobin verbunden. Unter diesem Aspekt ist die Zuordnung der
Substanzen zu den direkten und indirekten Methämoglobin-Bildnern
außerordentlich schwierig. Letztere sind erst nach einer Biotransformation hier-
zu in der Lage.
Eine Methämoglobinämie äußert sich in einer blaugrauen Färbung der Haut.
Ein Anteil von 10 % Methämoglobin ist bereits deutlich sichtbar, ab 30 bis
40 % treten Kopfschmerzen und Atemnot auf und mehr als 70 % sind tödlich.
Die physiologische Methämoglobin-Reduktase hat eine begrenzte Kapazität
und kann eine toxische Methämoglobinämie nur sehr langsam korrigieren.
Chlorate oxidieren das Eisen des Hämoglobins. Dabei beschleunigt das ent-
stehende Methämoglobin die Reaktion autokatalytisch. Parallel zur Bildung
des Methämoglobins erfolgt auch ein Absinken der Glutathion-Konzentration,
eine Vernetzung der Membranproteine, eine Abnahme der Verformbarkeit der
Zellen, die für einen Durchtritt durch die engen Kapillaren notwendig ist, und
eine Zunahme der Kationenpermeabilität der Membranen. Diese wenigen Ef-
fekte zeigen schon, wie schwierig es ist, die eigentliche Ursache für die Bildung
von Methämoglobin an roten Blutzellen herauszufinden.
In die gleiche Gruppe werden auch Perchlorate, Nitrit, H2 O2 , Kaliumhexacya-
noferrat(III), Chromat, Kupfer(II)-Salze, Hydroxylamin, NO, NO2 , Stickstoff-
trifluorid, Tetranitromethan, Chinone und chinoide Substanzen eingeordnet.
356 Kapitel 8 Atemgifte
NO−
2 + Hb Fe
2+
· O2 + H2 O → NO−
3 + Hb Fe
2+
+ H2 O2
Vor über 1000 Jahren wurde zur Konservierung des Fleisches das Prinzip des
Pökelns“ erfunden. Dabei wird Fleisch mit einem Gemisch aus NaCl, NaNO2
”
und NaNO3 behandelt. Seine Hauptwirkung besteht im Abtöten von Bakte-
rien, welche Fleischvergiftungen verursachen. Als Wirkungsmechanismus wur-
de die Freisetzung von NO aus NaNO2 erkannt. NO bindet an funktionelle
Proteine der Bakterien und tötet sie ab. Als Nebenwirkung resultiert die Bin-
dung von NO an Hämoproteine, die das gepökelte Fleisch rot und damit frisch
aussehen lassen.
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut 357
Nicht nur aus Nitrit entsteht NO, sondern auch aus den sog. organischen Nitra-
ten wie Glycerintrinitrat (Nitroglycerin), Isorbit-2,5-dinitrat, Isosorbitendo-5-
mononitrat, Pentaerythritoltetranitrat und aus Amylnitrit, einem organischen
Nitrit.
Durch metabolische Reaktionen kommt es zu einer Freisetzung von NO. In der
Medizin werden Nitrate“ wegen der schnellen gefäßerweiternden Wirkung des
”
entstehenden NO, besonders bei Verengung der Herzkranzgefäße therapeutisch
genutzt. Mit Hämoglobin erzeugt NO ein instabiles Nitroso-Hämoglobin, wel-
ches schnell in Methämoglobin übergeht. Nach therapeutischer Anwendung
werden jedoch keine toxikologisch relevanten Mengen an Methämoglobin ge-
bildet. Dagegen wurde bei exzessivem Inhalieren (Schnüffeln) von Amylnitrit,
NO 2
+++ -
HbFe OH + OH
Reduktion
NO ++
6-Phospho- NADPH HbFe + H2O 2
gluconat + H+
G6PDH Diaphorase
Glucose-
+ ++
6-phosphat NADP NHOH HbFe O2
Oxidation
NH2
Methylenblau H
N N
oxygeniertes ++ +++ -
Hämoglobin HbFe O 2 HbFe OH Methämoglobin
NADP
+ NADPH + H+
H
N N
Abbildung 8.3 Schema der zweifachen Wirkung von Methylenblau auf Hämoglobin. Erstens
wird die Bildung von Methämoglobin durch die Reduktion von Methylenblau zu Leukomethy-
lenblau bewirkt. Zweitens: Förderung der Rückbildung von Methämoglobin über eine Kopp-
lung an das NADPH-System.
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung 359
Carl Wilhelm Scheele isolierte erstmals die leicht flüchtige Blausäure aus Ber-
liner Blau (Preußischblau, Fe4 [Fe(CN)6 ]3 ). Er starb an einer inhalativen Blau-
säurevergiftung, als er eine Phiole mit HCN zerbrach.
Zahlreiche Pflanzen enthalten Inhaltsstoffe, aus denen Blausäure metabolisch
freigesetzt werden kann. Es sind meist cyanogene Glycoside, wie sie in Bit-
termandeln, Aprikosen und im Kirschlorbeer vorkommen. Im medizinischen
Bereich sind Natriumprussid und Amygdalin als Ursachen von Cyanidvergif-
tung beschrieben worden.
Todesfälle werden meist durch Inhalation von Blausäure in der chemischen
Industrie, bei der Schädlingsbekämpfung oder durch Verschlucken von Cya-
niden verursacht (MAK-Wert 2,1 mg/m3 , 1,9 ppm). Durch die Magensäure
(pH≈1) wird aus den Cyaniden sehr schnell die frei diffusible Blausäure ge-
bildet. Rauchgase können ebenfalls bei Verbrennung von Polyacrylnitril und
Polyurethanschaum erhebliche Mengen von Blausäure enthalten.
Die tödliche Dosis beträgt 1–2 mg/kg Körpergewicht, durch die Inhalation von
Konzentrationen von 300 bis 500 ppm tritt der Tod in wenigen Minuten ein.
Auch eine Vergiftung durch Aufnahme über die Haut ist möglich.
Der Körper entgiftet Cyanid langsam durch Bildung von Thiocyanat (Rho-
danid), das im Urin ausgeschieden wird. Seine Bildung durch das mitochon-
driale Enzym Rhodanese in Leber und Niere beträgt beim Erwachsenen etwa
2 mmol/min. Begrenzt wird die Reaktion durch die Verfügbarkeit von Schwefel,
so dass die Entgiftung von Cyanid durch die Zufuhr von Natriumthiosulfat,
dem bisher wirksamsten Schwefeldonator, erheblich gefördert werden kann.
Die Komplexierung von Cyanid an dreiwertiges Eisen wird durch Oxidation des
Eisens im Hämoglobin und Myoglobin therapeutisch ausgenutzt. Letztere lässt
sich durch Inhalation von Amylnitrit oder als Gabe von Natriumnitrit bzw.
4-Dimethylaminophenol auslösen. Eine Abdissoziation des Cyanids von der
Cytochrom-c-Oxidase erfolgt, wenn das dreiwertige Eisen im Methämoglobin
im Überschuss vorliegt. Das im Gleichgewicht entstehende Cyan-Methämoglo-
bin lässt jedoch Cyanid langsam wieder frei, welches enzymatisch über Tage
hinweg zu Rhodanid (Thiocyanat) umgewandelt und über die Niere ausgeschie-
den wird. Seine Toxizität beträgt nur etwa ein Zehntel der des Cyanids. Wird
eine Vergiftung überlebt, bleiben im Gegensatz zu der mit Kohlenmonoxid in
der Regel keine Schäden zurück.
Andere therapeutische Möglichkeiten der Komplexbildung von Cyanid haben
sich nicht bewährt wegen zu großer Nebenwirkungen oder Interferenzen mit der
therapeutischen Zufuhr von Natriumthiosulfat. Dazu gehört die Gabe von Di-
Kobalt-EDTA und Hydroxocobalamin (Vitamin B12a ). Das erste verursacht
eine drastische Senkung des Blutdruckes und der Hirndurchblutung und er-
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung 361
Cytochrom-c-Oxidase
+++
Cytochrom a3 Fe CN-
Rhodanese SO3--
-
CN + Thiosulfat +
-
Zelle SCN
Blutplasma
Erythrozyt
Plasmaproteine
4-DMAP binden ca. 60% CN-
++ +++
HbFe HbFe
- -
CN CN
+++ -
HbFe CN
Urin -
CN
- SCN
Abbildung 8.4 Reaktion mit der Ferriform des Cytochrom a3 und Blockade der Cytochrom-
c-Oxidase durch Cyanid. Die Blockade kann durch therapeutische Maßnahmen aufgehoben
werden. Im quantitativ wichtigsten Schritt wird aus Cyanid und verabreichtem Thiosul-
fat durch Rhodanese Thiocyanat gebildet und im Urin ausgeschieden. Ein weiterer wich-
tiger Schritt ist die Umwandlung von Hämoglobin durch z. B. 4-Dimethylaminophenol (4-
DMAP) in Methämoglobin, HbFe+++ (ca. 30 %). Das dreiwertige Eisen im Methämoglobin
bindet zwar Cyanid mit geringerer Bindungskonstante als die Cytochrom-c-Oxidase aber
das Methämoglobin ist in so hohem Überschuss vorhanden, dass dadurch eine entscheiden-
de Entlastung herbeigeführt wird. Die Bindung von Cyanid an Methämoglobin oder an die
Cytochrom-c-Oxidase ist reversibel.
zeugt außerdem wie die Cyanidvergiftung eine Lactazidose. Das zweite The-
rapiekonzept ist wegen des hohen Molekulargewichtes des Hydroxocobalamins
nur schlecht realisierbar, da mehrere Gramm davon in einem großen Infusions-
volumen schnell verabreicht werden müssten. Außerdem dürfen Hydroxocoba-
lamin und Natriumthiosulfat nicht zusammen appliziert werden, da sich ein
Hydroxocobalamin-Thiosulfat-Komplex bildet, der Cyanid nicht bindet.
Cyanidvergiftungen können innerhalb von Minuten tödlich sein. Wenn von der
Gegenwart cyanidhaltigen Materials auszugehen ist und Zeichen einer schwe-
362 Kapitel 8 Atemgifte
ren Atemnot vorliegen, sollte man, auch wenn keine Zyanose vorliegt, eine
Cyanidvergiftung annehmen.
Bei Verdacht ist die unverzügliche Gabe reinen Sauerstoffs entscheidend.
Tierversuche haben ergeben, dass eine Sauerstoffbeatmung die Toxizität von
Cyanid vermindert. Außerdem wird die Wirksamkeit der nachfolgenden The-
rapie mit Natriumthiosulfat verbessert.
Bei Vergiftungszeichen sollte der Arzt sofort mit Antidota wie folgt behandeln:
4-Dimethylaminophenol (4-DMAP) intravenös injizieren. Wenn 4-DMAP
nicht zur Verfügung steht, sollte sofort Natriumnitrit intravenös infundiert
werden. Eine Blutdrucküberwachung ist dabei unbedingt notwendig. Das ge-
legentlich empfohlene Amylnitrit ist wegen seiner hohen Flüchtigkeit schwer
zu dosieren, es bildet nur unsicher Methämoglobin und senkt ebenfalls den
Blutdruck.
Anschließend sollte – egal, ob 4-DMAP oder Natriumnitrit gegeben wurde –
eine Natriumthiosulfat-Lösung infundiert werden.
Die durch Cyanidvergiftung ausgelöste Lactacidose (pH-Wert unter 7,2) erfor-
dert eine möglichst frühzeitige Acidose-Korrektur mit Natriumhydrogen-
carbonat-Infusion.
Bei einer Mischintoxikation mit Cyanid und Kohlenmonoxid ist die therapeu-
tische Methämoglobinbildung nicht geeignet, weil die Sauerstofftransportka-
pazität des Blutes nur weiter vermindert würde. Hierbei könnte Hydroxo-
cobalamin das Mittel der Wahl sein, da im allgemeinen auch die eingeatmeten
Cyanidmengen klein sind.
gerät schützt. Bei spontaner Atmung des Vergifteten wird H2 S rasch aus dem
Körper eliminiert und es kommt zur schnellen Erholung. Die Beatmung mit
100 % Sauerstoff beschleunigt ganz wesentlich diesen Prozess. Ein Arzt soll-
te gegebenenfalls eine Azidosebehandlung sowie eine Lungenödemprophylaxe
durch Inhalation eines Glucocorticoids als Aerosol einleiten. Der Einsatz von
Methämoglobinbildnern zeigt keinen sichtbaren Erfolg bei dieser Vergiftung
(siehe Kapitel 8.3.1).
9 Karzinogenese
Achim Aigner
9.1 Krebserkrankungen
hingegen schon seit einigen Jahren rückläufig. Dennoch muss nach Extrapola-
tion der Entwicklungen der letzten Jahre damit gerechnet werden, dass Krebs
in 15 – 20 Jahren die häufigste Todesursache werden könnte.
Obwohl nahezu alle Organe von Krebs befallen werden können, konzentrieren
sich fast 75 % aller tödlich verlaufenden Erkrankungen auf nur wenige Orga-
ne. Dabei sind, über die Tumorerkrankungen der Geschlechtsorgane hinaus-
gehend, unterschiedliche Häufigkeiten bestimmter Organtumore bei Männern
und Frauen zu beobachten (Abbildung 9.1).
So ist bei Männern die häufigste zum Tod führende Krebskrankheit der Lun-
genkrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Die zweithäufigste Krebstodesursache
ist bei beiden Geschlechtern Darmkrebs. Da heute kein Zweifel mehr daran
besteht, dass das Rauchen den bedeutendsten Einzelrisikofaktor für Krebs
darstellt, kann die höhere Häufigkeit von Lungenkrebs bei Männern auf den
größeren Anteil an Rauchern zurückgeführt werden.
Vermutungen über mögliche Beziehungen zwischen Krebserkrankungen und
dem Kontakt bzw. der Aufnahme bestimmter Stoffe oder auch gewissen Lebens-
oder Ernährungsgewohnheiten sowie Arbeitsbedingungen gehen bis in die An-
tike zurück. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Beobachtungen syste-
matisch erfasst (Tabelle 9.3).
Das Wissen über die Ursachen von Krebserkrankungen hat sich seither ebenso
wie die Kenntnisse bzgl. bestimmter Risikofaktoren weiterentwickelt. Das
Rauchen stellt den bedeutendsten Einzelrisikofaktor für Krebs dar. Hierbei
sind nicht nur die Lunge, sondern auch Mund- und Speiseröhre, Kehlkopf,
Bauchspeicheldrüse, Harnblase und Gebärmutterhals betroffen. Aus Ergebnis-
sen der Krebsepidemiologie wird ferner klar, dass Ernährungsgewohnheiten
9.1 Krebserkrankungen 367
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Abbildung 9.1 Altersstandardisierte Mortalitätsrate pro 100 000 bei Tumorerkrankungen, auf-
geschlüsselt nach Organen und Geschlecht.
Tabelle 9.3 Krebsursachen nach dem Jahr der Entdeckung.
Tabelle 9.4 Ursachen für Todesfälle durch Krebs, nach Faktoren sortiert (nach: DKFZ-
Heidelberg).
Faktor Ursache in %
Ernährungsgewohnheiten 20 – 42
Tabak (Rauchen) 25 – 30
Alkohol 3
Berufliche Exposition 4–8
Genetische Faktoren 5 – 10
Schadstoffbelastung aus der Umwelt 2
Ionisierende Strahlung 1
Arzneimittel 1
Infektiöse Erreger 5 – 15
9.2 Tumorentwicklung
Mitosephase
Zellteilung (Mitose)
M G0 Ruhephase
Enddifferenzierte
Zellen bzw.
Zellen in Ruhephase
Wachstumsphase G2 G1
Vorbereitung
Wachstumsphase
der Mitose
Zellwachstum und
Vorbereitung der
Chromosomen
S
für die Replikation
Synthesephase
DNA Replikation
(Verdopplung des Genoms)
Eine Mutation ist zwar ein wichtiger Schritt bei der Entstehung von Krebs,
zur malignen Transformation einer Normalzelle in eine Tumorzelle reicht
eine Mutation allein jedoch nicht aus. Daher liegt zwischen der Auslösung
einer Mutation und der Ausbildung eines manifesten malignen Tumors in der
Regel ein Zeitraum von mehreren Jahren bis Jahrzehnten. In dieser Zeit sind
verschiedene Phasen der Tumorentwicklung zu unterscheiden:
Initiation
In der Initiationsphase kommt es zur Ausbildung eines irreversiblen Genscha-
dens, der auch nach einer Zellteilung erhalten bleibt (Mutation). Dies erfolgt
beispielsweise durch Reaktion eines Karzinogens (Initiator) mit der DNA (sie-
he Kapitel 9.5).
Promotion
Während der Promotionsphase, die im Gegensatz zur Initiationsphase ein
längerfristiger Prozess ist, entsteht aus initiierten Zellen durch eine erhöhte
Mitoserate bei gleichzeitiger Unterdrückung der Apoptose (aktive physiolo-
gische Form des Zelltodes) eine Zellpopulation mit identischen Mutationen,
die als Krebsvorstufe angesehen werden kann. Die Zellen eines solchen Klons
zeigen bereits die morphologischen oder biochemischen Folgen der Mutation,
wodurch sie mikroskopisch oder histochemisch in Form von Zellinseln (Foci)
von normalen Zellen zu unterscheiden sind.
Als Promotoren sind eine Fülle von chemischen Stoffen mit sehr unterschied-
lichen chemischen Strukturen bekannt geworden. Typische tierexperimentelle
Promotoren sind das von einem Naturstoff abgeleitete 12-O-Tetradecanoyl-
phorbol-13-acetat (TPA, Haut), Phenobarbital (Leber), Tetrachlordibenzo-
paradioxin (TCDD, Leber), Ethinyloestradiol (Leber und Niere) und Saccha-
rin (Blase).
Tumorpromotoren verfügen in der Regel nicht über eigene genotoxische Ei-
genschaften. Sie bewirken meist eine Stimulierung des Zellwachstums durch
Eingriffe in die Signaltransduktionsketten. Ihre Wirkungen sind daher rever-
sibel. Dabei hängt ihre promovierende Wirkung von der zeitlichen Abfolge
ihrer Applikation im Vergleich zum Initiator sowie von der in der Zeiteinheit
gegebenen Dosis ab (Tabelle 9.5).
Im Gegensatz zur wiederholten Applikation (A) eines Karzinogens führt we-
der eine einmalige Dosis (B) noch die alleinige Gabe eines Promotors (C) zur
Auslösung von Tumoren. Diese entwickeln sich jedoch auch nach einmaliger
Gabe des Karzinogens, wenn anschließend (D) – nicht aber vorher (E) – ein
Promotor mehrfach in kurzen Abständen appliziert wird. Dabei darf ein zeitli-
cher Höchstabstand zwischen der Gabe des Initiators und Promotors (F) bzw.
zwischen dessen einzelnen Gaben nicht überschritten werden (G).
9.3 Karzinogene 371
Tabelle 9.5 Die Wirkung und Wechselwirkung von Karzinogenen und Promotoren bei der
Entstehung von Tumoren (K= Karzinogen, P = Promotor).
Tumor
A K K K K K +
B K -
C P P P P P -
D K P P P P P +
E P P P P P K -
F K P P P P -
G K P P P P P +
C P P P P P -
D K P P P P P +
E P P P P P K -
F K P P P P -
G K P P P P P +
Zeit −→
Progression
In der Progressionsphase kommt es zu einer Zunahme der Wachstumsautonomie
der Zellen und zur Entwicklung eines Mikrotumors, der meist im Zeitraum von
Jahren zum Tumor heranwächst. In dieser Phase ereignen sich weitere geno-
toxische Reaktionen mit neuen Mutationen, die zur Aktivierung von weiteren
Proto-Onkogenen führen. Durch die verstärkte Proliferation in der Promotions-
phase können weitere Mutationen erfolgen, zusätzlich zu den aus der Initiati-
onsphase bereits vorhandenen genetischen Schäden. Entsprechend ist während
der Progressionsphase vermehrt das Auftreten von Chromosomenschäden und
eine Veränderung des Genoms (Entdifferenzierung) zu beobachten. Für diese
Schäden sind Mutagene verantwortlich, die zu Brüchen in den DNA-Strängen
(siehe Kapitel 9.5) führen, sogenannte Klastogene.
9.3 Karzinogene
9.4 Genotoxizität
Wie oben dargestellt, spielen Reaktionen von Fremdstoffen mit dem geneti-
schen Material (Erbgut) einer Zelle, in dem die Informationen über deren Auf-
bau und Funktion sowie für die Zellteilung und Zelldifferenzierung gespeichert
sind, für die Krebsentstehung eine wesentliche Rolle.
Ein genotoxischer Stoff ist in der Lage, das Ergbut einer Zelle bleibend zu
verändern, d. h. Mutationen auszulösen. Diese Eigenschaft genotoxischer Stof-
fe ist von besonderer Bedeutung, weil
• bei Körperzellen aufgrund somatischer Mutationen mit der Entstehung von
Tumoren zu rechnen ist,
• bei Keimzellen aufgrund von Keimbahnmutationen die Gefahr von Schäden
für die Nachkommen besteht,
• bei vielen Stoffen bereits nach kleinsten Dosen die Auslösung einer Muta-
tion zu erwarten ist und sich die Wirkungen wiederholter Stoffexpositionen
addieren,
• sich eine Tumorauslösung beim Menschen meist erst nach mehreren Jahren
oder Jahrzehnten zu erkennen gibt.
Auf die umfangreiche Biochemie des genetischen Apparates einer Zelle sowie
dessen Funktion soll hier nicht eingegangen werden. Es wird auf die einschlägi-
ge Lehrbuchliteratur verwiesen. Die folgenden Erläuterungen beschränken sich
auf die wesentlichen Mechanismen, die zum Verständnis der Wirkungen geno-
toxischer Stoffe erforderlich sind.
Die DNA ist aus Pyrimidin- und Purinbasen aufgebaut, welche jeweils mit dem
ringförmigen Zucker Desoxyribose verknüpft sind und so die sog. Nukleotide
bilden. Über die Desoxyribose, verbrückt über die Phosphorsäureester, sind
diese Nukleotide zu langen Ketten polymerisiert (Abbildung 9.3). Die Abfol-
ge der Pyrimidinbasen Thymin (T) und Cytosin (C) sowie der Purinbasen
Adenin (A) und Guanin (G) wird als sog. DNA-Sequenz bezeichnet und mit
den vier Buchstaben A, C, G, T abgekürzt. Jeweils zwei DNA-Ketten liegen
sich anti-parallel gegenüber und bilden einen Doppelstrang, der durch Wasser-
stoffbrückenbindungen zwischen den Basen zusammengehalten wird. Aufgrund
der unterschiedlichen Zahl von Wasserstoffbrückenbindungen können sich da-
bei nur die komplementären Basenpaare Adenin und Thymin (A/T bzw. T/A
mit zwei H-Brücken) oder Guanin und Cytosin (G/C bzw. C/G mit drei H-
Brücken) gegenüberstehen. Dadurch wird durch die Sequenz eines Stranges
auch die Sequenz des entsprechenden komplementären, sog. Gegenstranges,
festgelegt (Abbildung 9.3). Der Doppelstrang ist schließlich noch in sich ge-
wunden, so dass die bekannte Form der DNA-Doppelhelix entsteht.
Bei der Synthese eines Proteins wird die kodierte Information zunächst durch
den Vorgang der Transkription auf ein Überträgermolekül kopiert, die sog.
messenger-RNA (mRNA). Dies gelingt, indem ein Strang des entsprechen-
den DNA-Abschnitts als Vorlage (Matrize) verwendet und gemäß der Basen-
Sequenz die komplementäre RNA hergestellt wird.
Im DNA- wie auch im RNA-Molekül stellt eine Einheit von jeweils drei Basen
(Triplett) die kodierte Information für eine ganz bestimmte Aminosäure dar.
Bei der Proteinbiosynthese am Ribosom (Translation) werden entsprechend
der Abfolge der Tripletts Aminosäuren aneinandergehängt. Hierbei werden
die Tripletts von Aminosäure-tragenden sog. tRNA-Molekülen erkannt, wobei
jede tRNA nur an ein Triplett binden kann und immer eine ganz bestimmte
Aminosäure trägt. Damit wird durch die Abfolge der Tripletts, also letztendlich
durch die DNA bzw. RNA-Sequenz, die Aminosäuresequenz determiniert.
In Säugerzellen kommen 20 Aminosäuren vor, die als Bausteine aneinander-
gehängt werden können und damit eine Aminosäurekette, die sog. Primärstruk-
tur des jeweiligen Proteins ergeben. Durch intramolekulare Wechselwirkungen
bzw. Bindungen zwischen verschiedenen Aminosäuren in der Kette kommt es
dann zur Ausbildung einer definierten dreidimensionalen Struktur und erst
damit des fertigen Proteins. Es wird so deutlich, dass Abweichungen in der
374 Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.3 Aufbau eines DNA-Moleküls. Gezeigt ist ein aus vier Nukleotiden auf-
gebauter Einzelstrang (grau unterlegt) mit dem Code GCTA und dem Desoxyribose-
Phosphorsäureester-Rückgrat sowie für die beiden mittleren Basen C und T die jeweiligen
komplementären Basen, die über Wasserstoffbrücken binden und den Gegenstrang bilden.
Auf die nukleophilen Zentren des grau unterlegten Einzelstrangs zeigen Pfeile.
Enzym, die DNA-Polymerase, katalysiert. Auf diesem Wege erhält bei der
Zellteilung jede Tochterzelle die identischen Information von der Mutterzelle.
Die Konstanz des DNA-Strangaufbaues ist dabei außerordentlich hoch. Die
Fehlerraten liegen zwischen 1 : 109 bis 1 : 1010 , da eine Reihe von Enzymsyste-
men den Vorgang an folgenden Punkten kontrolliert:
• Wahl des richtigen Nukleotids durch die DNA-Polymerase,
• Erkennen falscher Basenpaare am 3’-Ende des entstehenden Stranges durch
eine 3’-5’-Exonuklease und Elimination dieser Basenpaare,
• Erkennen falscher Basenpaare in der fertigen, neu synthetisierten DNA so-
wie deren Elimination (Postreplikations-Reparatur).
Diese Prozesse können auf vielfältige Weise durch genotoxische Substanzen be-
einflusst werden, so z. B. durch chemische Veränderungen der Basen, Störun-
gen der Polymeraseaktivitäten, chemischen Angriff an den Phosphatgruppen
und/oder Beinträchtigung der Reparaturmechanismen.
Eine modifizierte Base kann die Ausbildung von Wasserstoffbrücken ändern.
Dies führt möglicherweise in der Replikationsphase zu einer anderen Basenpaa-
rung. Damit ist auch das kodierende Triplett modifiziert und es kann schließlich
ein Protein mit einer falschen Aminosäure entstehen.
Eine Methylierung des Guanins an O6 führt dazu, dass sich zum Cytosin kei-
ne Wasserstoffbrücken ausbilden. Stattdessen gelingt eine zweifache H-Brücke
zum Thymin (Abbildung 9.4). O6 -Methylguanin verhält sich also wie Adenin
komplementär zu Thymin.
Eine solche DNA-Alkylierung selbst stellt noch keine Mutation dar, sie kann
aber bei fehlender oder nicht korrekter Reparatur zu einer Mutation führen
(Abbildung 9.5). Im vorliegenden Beispiel ist nach zwei Replikationszyklen das
ursprüngliche Basenpaar G/C durch das Basenpaar A/T ersetzt worden. Die-
se Mutation hat zur Folge, dass im Protein, dessen Gen vom Basenaustausch
betroffen ist, an einer bestimmten Position die Aminosäure Serin durch Phe-
nylalanin ausgewechselt ist.
!
!
! !
!
!
! !
Außer der Mutation durch Basenpaarsubstitution ist ein weiterer durch Karzi-
nogene ausgelöster Mutationstyp bekannt. Eine Rasterschub- oder Frame-
shift-Mutation entsteht durch Einfügen (Insertion) oder Überspringen (De-
letion) einer Base bei der Transkription (Tabelle 9.6) Ein solcher Effekt wird
ausgelöst, wenn durch externe Einflüsse die Abstände zwischen den Basen
vergrößert werden. Dies gelingt z. B. durch Alkylierung einer Base mit einem
voluminösen Rest oder Einlagerung eines planaren, meist mehrkernigen Fremd-
stoffes in die DNA-Helix.
Tabelle 9.6 Beispiel für eine Rasterschub- (Frameshift-) Mutation. Ausgehend vom Normal-
zustand ist links eine Deletion, rechts eine Insertion dargestellt. Bei der Translation werden
die Basen immer in Tripletts abgelesen und sind daher in Dreiergruppen dargestellt.
Normal ABC ABC ABC ABC Normal ABC ABC ABC ABC
Deletion A—CA BCA BCA BCA Insertion AXB CAB CAB CAB
378 Kapitel 9 Karzinogenese
• Gen-Mutationen (Punktmutationen)
Basenpaarsubstitutionen
Rasterschubmutationen
• Chromosomen-Mutationen (Aberrationen)
Defizienz - Verlust eines Chromosomenabschnitts
Deletion - Verlust eines terminalen Chromosomenabschnitts
Insertion - Aufnahme eines fremden Chromosomenabschnitts
Interchange - Austausch von Chromosomenabschnitten zwischen
zwei verschiedenen Chromosomen
Inversion - Umkehr eines Chromosomenabschnitts um 180 Grad
• Genom-Mutationen
Verlust oder Zugewinn eines oder mehrerer Chromosomen.
Alkylhalogenide
Die Reaktivität und Genotoxizität hängt vom Halogen ab und nimmt von
Chlormethan über Brommethan zu Iodmethan zu (siehe Abbildung 9.7). Fluor-
methan gilt als nicht genotoxisch. Die Reaktivität nimmt mit steigender C-
Kettenlänge ab.
Bl
R–CH2 –X −→ R–CH2 –B + X
Haloether, Haloalkohole
γ$'"
$##!"!"
'
γ$'"
γ$#'#!" #" $
γ$'"
'
'"
&!#
!$# &(#)#
'
+!
#''" $$!
! #$!")$!%
##$$""$
Bei allen Zwischenstufen kann es jedoch, abhängig von der chemischen Struktur
der angehängten Verbindung X, evtl. auch wieder zu Toxizitäts-erhöhenden
Nebenreaktionen kommen. Hier ist die Cyclisierung zu Thiiranium-Ionen (s. u.)
sowie aus dem Cystein-Addukt die Bildung S-oxidierter Folgeprodukte oder
Thiole zu nennen (Abbildung 9.9).
GS
NH NH O SG
GS N N H N
N N N
N N N N H2N N N
SG
O
Br Br
H N
N
GS
Br GS H2N N N
SG
SG
O O O
H N N H N O
N N N
H N N H
N N H2N N H2N N NH
SG
Abbildung 9.13 Alkylierung von Nukleophilen durch S-Lost. BI = Nukleobase oder Phosphat-
gruppe.
Abbildung 9.15 Vernetzung von zwei in DNA-Strängen integrierten Guanin-Basen durch ein
Lost-Derivat.
Ethylenimine
Epoxide
Abbildung 9.18 Alkylierung von Nukleophilen durch Epoxide. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.
Die Reaktivität der Epoxide hängt ab von ihrer Struktursymmetrie sowie der
Elektronendichte in dem gespannten Dreiring. So nimmt die Reaktivität mit
zunehmend asymmetrischer Struktur zu, ebenso mit abnehmender Elektro-
nendichte, z. B. durch Substituenten mit negativ induktivem oder mesomeren
(-I oder -M) Effekt (Abbildung 9.20).
β) ↑↑
γ) ↑
δ) −
Abbildung 9.19 Alkylierung von Nukleophilen durch Lactone. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.
Auch die b- und g-Lactone besitzen gespannte Ringstrukturen, die wie die
Ethylenimine und Epoxide in der Lage sind, mit nukleophilen Zentren zu rea-
gieren (Abbildung 9.19). Dabei nimmt die Reaktivität mit zunehmender Ring-
größe rasch ab.
Lactone finden vielfach in der chemischen Synthese als Ausgangs- oder Zwi-
schenprodukte Verwendung.
386 Kapitel 9 Karzinogenese
↑↑
↑
↑↑
↓
↑
Abbildung 9.20 Beziehung zwischen chemischer Struktur und genotoxischer Wirkung (Akti-
vität).
Sultone
Ebenso wie die Lactone zeigen auch Sultone, zyklische Ester von Sulfonsäuren,
eine hohe Reaktivität und Genotoxizität, die jedoch ebenfalls mit zunehmen-
der Ringgröße, d. h. abnehmender Ringspannung, abnimmt (Abbildung 9.21).
Sultone finden vielfach in der Modifizierung von Polymeren Verwendung.
δ) ↑
Abbildung 9.21 Alkylierung von Nukleophilen durch Sultone. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 387
Alkylsulfonsäureester, Alkylsulfate
Diese stark genotoxischen Substanzklassen wirken zwar nicht als direkte Al-
kylanzien, bedürfen jedoch keiner enzymatischen Aktivierung. Dem Aktivie-
rungsmechanismus liegt vielmehr eine Hydrolyse zu hochreaktiven Produkten
zugrunde (Abbildung 9.23). Dabei kommt es bei einem pH-Wert < 8 zur Bil-
dung von Carbonium-Ionen. Bei höheren pH-Werten überwiegt die Diazome-
thanbildung.
Abbildung 9.23 Bildung von alkylierenden Carbenium-Ionen aus Nitrosoharnstoff, -amid und
-carbaminsäureester. Rechts: Reaktion des Hydrolyseproduktes mit Nukleophil BI.
388 Kapitel 9 Karzinogenese
Diese Nitrosoderivate können sich aus Nitrit-Ionen und den jeweiligen Alkyl-
harnstoffen, Amiden oder Carbaminsäureestern bei einem pH-Wert von 1–3
bilden, wie er im Magen vorliegt. Nitrit-Ionen können mit der Nahrung zu-
geführt oder durch Reduktion von Nitrat aus der Nahrung gebildet werden.
Bei entsprechender Konstellation kann es daher zu Nitrosierungen im Magen
kommen.
Fremdstoffe mit potentiell nitrosierbaren Strukturen, die zur oralen Aufnah-
me im menschlichen Organismus bestimmt sind, sollten daher aus Sicher-
heitsgründen auf ihre Nitrosierbarkeit im Sauren geprüft werden.
Alkylhydrazine
β
Reaktive Sauerstoffspezies
!
$!
"#
"!
!!
"#
$#$
Abbildung 9.27 Bildung reaktiver Sauerstoff-Spezies. Zur Erläuterung der Möglichkeiten ei-
ner enzymatischen Bildung von Radikalen und reaktiven Sauerstoffspezies sei auf Lehrbücher
der physiologischen Chemie verwiesen.
Abbildung 9.28 Reaktion von Hydroxyl-Radikalen mit Adenin. Analog verlaufen die Reaktio-
nen mit Guanin.
O N O N O N
H H +OH H +OH H OH
O -H2O O O
Basen-
P P P elimination
OH OH O
COOH COOH O
H H H
Ketten- O O
+ 5´- PO4 bruch
P P
Reaktive Allylstrukturen
Interkalierende Stoffe
Metalle
"%"$
#
#"&!
%"
"$ #$
" "
! "!"
"
Abbildung 9.33 Rolle von freien Radikalen und oxidativem Stress bei der Metall-induzierten
Karzinogenese (nach: Shi et al., Free Rad. Biol. & Med. (2004)).
394 Kapitel 9 Karzinogenese
Unter den karzinogenen Metallen sind u. a. Chrom und Arsen besonders in-
tensiv untersucht (siehe Kapitel 4.2.3 und 4.2.8). Epidemiologische Studien und
Tierversuche haben beispielsweise gezeigt, dass vor allem Cr(VI)-Verbindungen
toxisch und karzinogen sind. So können sie bei Inhalation Tumoren der Atem-
wege induzieren, in Tierversuchen wurde bei Injektion bzw. Implantation ei-
ne Tumorinduktion an der Injektions- bzw. Implantationsstelle nachgewiesen,
und sie induzieren Mutationen in Bakterien und Transformationen in Säuger-
zellen. Es wird vermutet, dass Cr(VI) intrazellulär zu niedrigeren Oxidati-
onsstufen wie Cr(V) und Cr(IV) reduziert wird, die als reaktive Intermediate
direkt DNA-Schäden verursachen können und darüber hinaus • OH-Radikale
aus H2 O2 bilden. Das H2 O2 entsteht wiederum während des Reduktionsprozes-
ses von Cr(VI), wobei O2 verbraucht und gleichzeitig auch noch O•− 2 -Radikale
gebildet werden. In der Zelle kann somit aus Cr(VI) ein ganzes Spektrum von
ROS gebildet werden.
Arsen kann u. a. in Leber, Lunge, Haut, Harnblase und Niere eine kanzerogene
Wirkung entfalten. Auch hier wurde in verschiedenen zellulären Systemen die
Bildung von O•− 2 -Radikalen und H2 O2 nachgewiesen, wobei die genauen Me-
chanismen der Bildung von ROS noch weitgehend unklar sind. Es werden die
Elektronentransportkette an den Mitochondrien, intermediäre Arsin-Spezies,
methylierte Arsen-Zwischenprodukte oder die Oxidation von Arsenit zu Arse-
nat als mögliche Quellen der ROS diskutiert.
Neben direkten genotoxischen Schädigungen und der Bildung von ROS grei-
fen verschiedene Metalle auch direkt in Signaltransduktionswege ein, die zur
Transformation einer Zelle führen können bzw. mit Tumorpromotion und/oder
Tumorprogression assoziiert sind. Schliesslich können Metalle auch noch nor-
male DNA-Reparaturmechanismen der Zelle inhibieren und somit die Weiter-
gabe einmal aufgetretener DNA-Mutationen begünstigen.
H
H
Cytochrom P-450 H
O
H
Ethen C
C
C
C
Ethenoxid
H
H
H
H
Abbildung 9.34 Metabolische Epoxidierung von Ethen (Ethylen).
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Das Krebsrisiko nach Exposition mit Ethen muss im Vergleich zu seinem Me-
taboliten Ethenoxid (Ethylenoxid), das ebenfalls vielfach technische Verwen-
dung findet, als sehr gering eingeschätzt werden. Dies steht im Gegensatz zu
anderen Ethenderivaten, die in der Polymerchemie Bedeutung erlangt haben
(Abbildung 9.36).
Abbildung 9.39 Genotoxizität von Tri- und Tetrachlorethylen durch Konjugation mit GSH.
Abbildung 9.40 Mutagenität verschiedener Nitrofuranderivate. Als Maß für die Mutagenität
dient die Zahl der Revertanten/µM“ im Ames-Test.
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Abbildung 9.41 Aflatoxin B1 und sein 8,9-Epoxid, von dem die Genotoxizität ausgeht.
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Abbildung 9.43 Metabolismus von Benzol ausgehend vom Arenoxid. GST = Glutathion-S-
Transferase, EH = Epoxidhydrolase, Iso = Isomerisierung. Als Sekundärreaktionen können
Hydrolysen auftreten.
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Nitrosamine
4 R R
N H + N2 O 3 N NO + HNO 2
relat. Nitrosierungsrate
R R
3
Abbildung 9.49 Relative Nitrosierung von sekundären Aminen in Abhängigkeit vom pH-
Wert.
Aromatische Amine
Aromatische Amine finden vielfältig Anwendung bei der Synthese von Farb-
stoffen, Bioziden oder Arzneimitteln.
Im Gegensatz zur enzymatischen Oxidation aliphatischer Amine entstehen bei
der Metabolisierung von aromatischen Aminen zur Alkylierung befähigte elek-
trophile Zwischenstufen wie das Nitrenium-Ion, das mit dem entsprechenden
Carbenium-Ion in mesomerer Wechselbeziehung steht (Abbildung 9.52).
Aufgrund dieser mesomeren Struktur besitzen die Elektrophile eine ausrei-
chende Stabilität. Zur Alkylierung ist das elektrophile Zentrum am Stickstoff
und am Ringkohlenstoff befähigt. Neben den in der Abbildung dargestellten
Reaktionen kann die Aminogruppe in einem ersten Schritt auch durch Cy-
tochrom P-450 zum Hydroxylamin oxidiert werden, das im weiteren einer
Acetylierung oder Sulfatierung unterliegt.
Die Mutagenität der Arylamine nimmt im Ames-Test proportional mit der
Zahl der Aminogruppen zu, wobei die Hammett-Regel bzgl. der Basizität of-
fensichtlich von Bedeutung ist (Abbildung 9.53).
Die Befunde an Nitroanilinen scheinen dieser Regel zu widersprechen. Aro-
matische Nitrogruppen können aber durch Testbakterien, nach oraler Gabe
auch durch Darmbakterien, zu Aminogruppen reduziert werden. Die am Bei-
spiel der Anilinderivate gezeigten metabolischen Reaktionswege und Struktur-
Wirkungs-Beziehungen können weitgehend auf mehrkernige Arylamine und
heterozyklische Arylamine übertragen werden, die sich zu einem hohen Pro-
zentsatz als karzinogen erwiesen haben.
406 Kapitel 9 Karzinogenese
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Abbildung 9.53 Beziehungen zwischen Struktur und mutagener Wirkung von Derivaten des
Anilins, Chloranilins und Nitroanilins. Als Maß für die Mutagenität ist rechts neben der
Struktur der Parameter Revertanten/µM“ angegeben (siehe Ames-Test, Abschnitt 9.7.2).
”
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 407
Während die akute toxische Wirkung chemischer Stoffe meist gut bekannt ist,
weiß man über deren mutagene oder karzinogene Eigenschaften oft nur wenig.
Dies liegt nicht zuletzt daran, dass genotoxische Effekte als manifeste Schäden
häufig erst nach vielen Jahren oder sogar Generationen nach Erwerb einer
Mutation zu beobachten sind. Diese lange Zeit erschwert es außerordentlich,
einen Zusammenhang zwischen Noxe und Wirkung zu erkennen. Um das Risiko
für den Menschen zu senken, ist die Erkennung eines Gefährdungspotentials
von großer Wichtigkeit.
Trotz der Effektivität mancher Testsysteme ist es nicht möglich, durch Anwen-
dung eines einzigen Tests alleine eine sichere Aussage über eine karzinogene
Wirkung einer Substanz am Menschen zu machen. Erst durch Kombination
verschiedener Testverfahren lässt sich die Sicherheit der Aussage steigern, ent-
sprechend sollte eine Bandbreite verschiedener Testmethoden eingesetzt wer-
den, die im Übrigen auch einer ständigen Weiterentwicklung unterliegen.
Die Interpretation der Tests wird dann schwierig, wenn (i) Effekte nur bei
sehr hohen, bereits toxischen/cytotoxischen Dosen bzw. Konzentrationen auf-
treten, (ii) verschiedene Tests divergierende Ergebnisse erbringen oder (iii)
negative Genotoxizitätsbefunde erhalten werden, obwohl aus den Stoffeigen-
schaften hinreichende Verdachtsmomente auf Genotoxizität vorliegen. Es muss
dann die jeweilige Relevanz verschiedener Testsysteme abgewogen werden. Die
zur Zeit bekannten Testmethoden lassen sich wie folgt gruppieren:
408 Kapitel 9 Karzinogenese
Abbildung 9.54 Reaktion von 4-Nitrobenzylpyridin (NBP) mit Alkylanzien. Maximale Ab-
sorption bei λ = 560 nm.
Postlabeling-Methode
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Die Testbakterien haben einen genetischen Defekt (Mutation) und sind nicht
mehr in der Lage, die Aminosäure Histidin (His) zu synthetisieren. Man be-
zeichnet sie darum als Histidin-Mangelmutanten; sie sind his− -auxotroph im
Gegensatz zum Wildtyp, der his+ -prototroph ist. In einer Minimalkultur auf
der Agarplatte, die nur Salze und Glucose enthält, können diese Testbakterien
nicht wachsen.
In Gegenwart von mutagenen Substanzen kann es an den Testbakterien zu
DNA-Veränderungen kommen. Prinzipiell können alle Bereiche der DNA be-
troffen sein, unter anderem auch das Gen, in dem der his− -Defekt lokalisiert ist.
Repairmechanismen führen häufig u. a. zu Rückmutationen. Die Auxotrophie
geht damit wieder in eine Prototrophie über und ein Wachstum der Bakterien
auf dem Minimalagar ohne Histidin wird wieder möglich.
Durch Inkubation der Testbakterien mit der zu prüfenden Substanz über einen
Zeitraum von 20 bis 30 Minuten und anschließender Kultivierung der Bakte-
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 411
rien über zwei Tage bei 37 °C lässt sich, sofern eine Rückmutation ausgelöst
wurde, ein Koloniewachstum beobachten. Jede Kolonie entsteht aus jeweils
einem mutierten Bakterium.
Auf diese Weise können allerdings nur direkt wirkende Mutagene erfasst wer-
den. Bakterien verfügen über kein mischfunktionelles Cytochrom P-450-Sys-
tem, mit dem sie indirekte Mutagene in deren reaktive Metabolite überführen
können.
Dieser Nachteil kann dadurch ausgeglichen werden, dass man dem Inkubations-
ansatz mit der zu testenden Substanz ein Cytochrom P-450-System in Form
von Lebermikrosomen mit einem NADPH-regenerierenden System zusetzt.
Dieser Zusatz wird als S9-Mix“ bezeichnet.
”
Durch Züchtung stehen für den Ames-Test verschiedene Salmonella-Bakterien
zur Verfügung. Sie zeichnen sich entweder durch gute Zellwanddurchlässigkeit
aus oder durch eine verminderte Kapazität der Repairmechanismen. Beide
Eigenschaften sind für die Empfindlichkeit des Tests wichtig. Durch Auswahl
eines geeigneten Stammes gelingt es, zwischen Basenpaarsubstitution oder Ra-
sterschubmutation zu unterscheiden. Auf die ausführlichen Testbedingungen,
die für ein validiertes, standardisiertes Versuchsprotokoll erforderlich sind, wird
an dieser Stelle nicht eingegangen.
Unter optimalen Bedingungen kann eine gute Konzentrations-Wirkungs-Bezie-
hung erhalten werden. Als Maß für die Mutagenität kann die Anzahl der Re-
vertanten auf die Konzentration der Teststubstanz bezogen werden (Rev./mM;
siehe Abbildungen 9.40 und 9.53).
Neben Salmonella-Bakterien haben auch andere Bakterien, darunter Escheri-
chia coli, mit anderen Aminosäureauxotrophien Eingang in die Mutagenitäts-
forschung gefunden. Generelle Vorteile lassen sich aber nicht erkennen.
Bewertung: Erfasst werden in diesem Test Punktmutationen. Die Korrelati-
on zwischen gefundener Mutagenität und experimenteller Tumorbildung im
Tierversuch hat sich mit über 80 % bei direkten Alkylantien, Arylaminen und
polycyclischen Kohlenwasserstoffen als sehr gut erwiesen.
Der Zusatz eines S9-Mix kann die volle Funktion einer Leber nicht ersetzen,
da neben den Giftungsreaktionen vor allem die Entgiftungsreaktionen nicht
gemäß ihrer physiologischen Bedeutung vertreten sind. Außerdem fehlen alle
kinetischen Einflüsse eines intakten Säugetierorganismus auf die Testsubstanz
und auf deren Metaboliten.
Der Ames-Test gilt als kostengünstiges, zeitsparendes und empfindliches Pre-
”
screening“, dem bei positivem Ergebnis weitere Tests folgen müssen.
412 Kapitel 9 Karzinogenese
Test an Eukaryonten
Antimetabolit so schnell metabolisiert, dass er für die Zelle keine letale Wir-
kung mehr besitzt.
Folgende Antimetaboliten finden häufig Verwendung: Trifluorthymidin hemmt
die Thymidinkinase, das 6-Thioguanin hemmt die Hypoxanthin-Phosphori-
bosyl-Transferase und greift in die DNA-Synthese ein, Ouabain (g-Strophan-
thin) blockiert die Na+ /K+ -ATPase in der Zellmembran.
Als Testzellen dienen etablierte Zellinien (Permanentkulturen) verschiedener
Tierspezies, z. B. Maus-Lymphoma-Zellen (L 51784), chinesische Hamster Lun-
genzellen (CHV79) und chinesische Hamster Ovarialzellen (CHO).
Der HG-PRT-Test (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferasegen-
Test) basiert auf Säugetierzellen, die durch eine genetische Veränderung ge-
gen Thioguanin (TG) resistent sind. Zur Verfügung stehen z. B. TG-resistente
V79-Hamsterfibroblasten. Werden solche Mutanten mit normalen V79-Fibro-
blasten (Wildtyp) in einer Mischkultur und in Gegenwart von TG gehalten,
kommt es zwischen beiden Zelltypen zur metabolischen Zell-Zell-Kommunika-
tion. Ein von den Wildtyp-Zellen gebildeter Metabolit des Thioguanin gelangt
zu den TG-resistenten Zellen und verursacht deren Absterben. Unter Testbe-
dingungen wird eine Testsubstanz zugesetzt; wenn diese (wie z. B. verschiedene
Tumorpromotoren) die Zell-Zell-Kommunikation unterdrückt, wird ein Wachs-
tum der überlebenden resistenten Zellen beobachtet (Abbildung 9.56).
Alle für diesen Test zur Verfügung stehenden Zellinien besitzen kein metabo-
lisierendes Enzymsystem. Zur Erfassung indirekt wirkender Mutagene muss
dieses daher dem Inkubationsansatz zugefügt werden.
Bewertung: Genmutationstests an Warmblüter- (Säugetier-) Zellen zählen eben-
falls zu den kostengünstigeren Testsystemen. Allerdings ist im Vergleich zum
Ames-Test hier aufgrund der erheblich höheren Populationsverdopplungszeit
von 10–20 Stunden, der bis zu drei Tage dauernden Inkubation mit der Test-
substanz sowie einer Kultivierungsdauer von 7–14 Tagen ist eine deutlich länge-
re Testzeit erforderlich. Wie beim Ames-Test werden metabolische und kine-
tische Einflüsse eines Säugetierorganismus auf die Testsubstanz oder deren
Metabolite nicht erfasst.
Genmutationstests, für die heute gut validierte Versuchsprotokolle vorliegen,
eignen sich als Bestandteile sogenannter Testbatterien. Die Korrelation zwi-
schen Mutagenität und Karzinogenität wird auf 80 bis 95 % geschätzt.
V79-Hamsterzellen V79-Hamsterzellen
(HG-PRT+) (HG-PRT-)
Mischkultur
+ Thioguanin
+ Thioguanin + Testsubstanz
Bestimmung der
Zahl überlebender
Zellen
ist ein direkter Angriff der Testsubstanz an der DNA nicht immer erforderlich,
da auch andere Störungen zu DNA-Doppelstrangbrüchen führen können, die
Voraussetzung für die Chromosomenveränderung sind.
Allerdings muss für die Messung der DNA-Reparatur eine exakte Unterschei-
dung von der DNA-Synthese in der Replikationsphase erfolgen. Dies lässt sich
durch Auftragen der inkubierten Zellen auf einen photographischen Film er-
reichen, dessen Emulsion für die b-Strahlung des Tritiums empfindlich ist (Au-
toradiographie). Im Autoradiogramm kann anhand unterschiedlicher Schwär-
zungsgrade zwischen Reparatur- bzw. Synthese-DNA differenziert werden.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 417
In diesen Tests wird die Transformation von normalen Zellen zu solchen mit
malignen Wachstumseigenschaften erfasst. Häufig dienen zu Testzwecken die
Zellen aus Embryonen des syrischen Hamsters (SHE). Nach deren Inkubation
mit der Testsubstanz für 2–4 Wochen können im Falle einer malignen Transfor-
mation Wachstumsanomalien beobachtet werden. Dieses tumorigene Potential
äußert sich durch Erwerb der Fähigkeit, in sog. Weichagarkulturen zu wachsen.
Dies kann dann auch zur Isolierung entsprechend transformierter Zellkoloni-
en ausgenützt werden. Weiterhin sind transformierte Zellen im Gegensatz zu
Normalzellen in der Lage, nach Injektion in Mäusen Tumore zu bilden.
Bewertung: Weisen die Tests auf eine Zelltransformation hin, besteht eine ho-
he Korrelation zur Karzinogenität in vivo. Zwar sind die Verfahren weniger
aufwändig als eine Prüfung auf Karzinogenität am Tier, sie benötigen aber
dennoch einen Zeitaufwand von 1 bis 2 Monaten. Deshalb findet diese Metho-
dik in der Routineprüfung auf Genotoxizität keine Anwendung.
418 Kapitel 9 Karzinogenese
In vivo-Tests haben den großen Vorteil, das metabolische und kinetische Ver-
halten der Testsubstanz sowie die Wirkung der entstehenden Metaboliten zu
erfassen. Zwischen Effekten am Versuchstier und Wirkungen, die beim Men-
schen erwartet werden, bestehen engere Korrelationen als zu Ergebnissen aus
in vitro-Untersuchungen.
Die Testmethoden lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: in Keimbahn-Tests
(germ line tests) und in Tests an Soma-Zellen (somatic tissue tests).
Die Keimbahn-Tests erfassen Mutationen in den Keimzellen. Sie sind so an-
gelegt, dass Mutationen in den Keimzellen zu phänotypischen Veränderungen
bei der Tochtergeneration (F1-Generation) führen. Dies ist von Vorteil, da bei
rezessivem Erbgang ansonsten evtl. erst in einer späteren Generation Verände-
rungen auftreten.
In Somazell-Tests werden die Testsubstanzen in der Regel beim Muttertier
während der Tragezeit appliziert. Durch Mutationen an den Körperzellen der
Embryonen kann es dann ebenfalls zu Auffälligkeiten am adulten Nachwuchs
kommen.
Keimbahntests an Fruchtfliegen
Specific-Locus-Test
Dominant-Letal-Test
Somazell-Tests
Mikrokerntest
Beim Mikrokerntest“ wird die Tatsache genutzt, dass bei der Reifung der Ery-
”
throblasten zu roten Blutzellen (Erythrozyten) der Zellkern bei seiner letzten
mitotischen Teilung aus der Zelle ausgestoßen wird. Hat während der Reifung
der Erythroblasten eine genotoxische Substanz mit klastogenen Eigenschaf-
ten (Aberrationen) oder mit Beeinflussung des Spindelapparates eingewirkt,
so können entstehende Chromosomenbruchstücke oder auch einzelne Chromo-
somen bei der Zellteilung statt im regulären Zellkern in einem sogenannten
Mikrokern separiert werden. Letzterer wird bei der Erythrozytenbildung nicht
wie der Normalkern ausgestoßen, sondern bleibt in der Zelle, wo er durch ei-
ne besondere Färbetechnik mikroskopisch sichtbar gemacht werden kann. Das
vermehrte Auftreten von Mikrokernen in Erythrozyten ist daher als Nachweis
der Einwirkung einer klastogenen Substanz zu werten. Durch Applikation der
Substanz bei der Maus und Entnahmen von Knochenmark nach 1, 2 oder
3 Tagen lassen sich Mikrokerne nachweisen.
Bewertung: Der Mikrokerntest zählt heute wegen seiner leichten Durchführbar-
keit sowie der Möglichkeit einer automatisierten Auswertung zu den Standard-
verfahren zur Erfassung von Genotoxizität.
Teil III
Behandlungsprinzipien
10 Behandlungsprinzipien bei akuter
Vergiftung
Thomas R. H. Büch
10.1 Einleitung
Akute Vergiftungen sind häufig. In den entwickelten Ländern machen sie et-
wa 5 bis 10 % aller Einweisungen in einer medizinischen Notfallabteilung aus.
Schwere Gesundheitsschäden treten jedoch nur in etwa 2 bis 5 % aller aku-
ten Vergiftungen auf, und die Sterblichkeit nach Krankenhauseinweisung liegt
bei unter 1 %. So gesehen ist die Prognose von Vergiftungen also in den mei-
sten Fällen recht gut. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der niedrige
Prozentanteil schwerer Verläufe mit bedingt ist durch die sehr engmaschige
Erfassung auch leichtester Fälle von Intoxikationen.
In der Todesursachen-Statistik nehmen Vergiftungen dennoch einen wichti-
gen Platz ein. Immerhin ergab sich in einer retrospektiven Analyse von 13 819
Autopsien, die von 1950 bis 2000 am Gerichtsmedizinischen Institut der Uni-
versität Greifswald durchgeführt wurden, für Vergiftungen ein Anteil von über
10 % aller Todesursachen. Bei einer Auswertung der Ursachen von vollendeten
Selbsttötungen in Deutschland im Jahre 2002 standen Vergiftungen an zwei-
ter Stelle, und in einer Auflistung von Todesursachen durch äußere Einwirkung
(Unfälle oder Verbrechen) in den Vereinigten Staaten fanden sich Vergiftun-
gen an dritter Stelle. Besonders groß ist der Anteil von Vergiftungen unter den
Todesursachen in der Gruppe der jüngeren Erwachsenen. So sind in Großbri-
tannien 20 % aller Todesfälle bei Personen zwischen 20 und 29 Jahren durch
Vergiftungen bedingt.
Betrachtet man alle Vergiftungen (leichte und schwere Fälle), so ist der Anteil
von Kindern etwas höher als der von Erwachsenen (Abbildung 10.1). Gerade in
der Entwicklungsphase, in der Kinder ihre Umwelt mit dem Mund erkunden“
”
sind sie besonders anfällig für die Aufnahme von Giftstoffen, so dass sich knapp
10 % aller Vergiftungsfälle in der Altersgruppe unter 1 Jahr finden.
424 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Säuglinge (0 – 1 J.)
9%
Das Maximum kindlicher Vergiftungen liegt jedoch zwischen dem 2. und 3. Le-
bensjahr, wenn die neu gewonnene Mobilität eine raumgreifendere Erforschung
der Umwelt erlaubt, die noch nicht durch die einsichtsvolle Unterscheidung von
Lebensmitteln und Fremdstoffen gebremst wird. Bestätigt wurde dies in einer
Übersicht der American Association of Poison Control Centers (AAPC) für
2003, bei der 2 395 582 Vergiftungen aller Altersklassen erfasst wurden, wobei
auf Kinder im 2. und 3. Lebensjahr 56,6 % aller kindlichen Vergiftungen (< 12
Jahre) entfielen.
Hinsichtlich der Ursachen sind weit über 90 % aller kindlichen Vergiftungen
akzidenteller Natur, erfolgen also unbeabsichtigt. Demgegenüber stehen bei
Erwachsenen an erster Stelle Vergiftungen in suizidaler Absicht, gefolgt von
Unfällen (Abbildung 10.2). Weitere wichtige Ursachen bei Erwachsenen sind
die Einnahme legaler oder illegaler Rauschmittel, Vergiftungen durch Stoffe am
Arbeitsplatz und iatrogene – d. h. aus ärztlicher Fehlbehandlung resultieren-
de – Vergiftungen.
Trotz des hohen Anteils von Kindern bei Vergiftungen ist der Ausgang in die-
ser Altersgruppe ganz überwiegend gutartig. Dies liegt zum einen daran, dass
kindliche Vergiftungen eben meist akzidentell, also ohne bösen Willen“ erfol-
”
gen, zum anderen reagieren gerade Kinder auf die Einnahme eines Giftstoffes
sehr häufig mit raschem Erbrechen, was meist die Aufnahme einer größeren
Menge verhindert.
10.1 Einleitung 425
An
za 30000 30000
hl
der
Anzahl der Fälle
Fäl
le
20000 20000
10000 10000
0 0
Akzidentell Suizidal Sonstiges Akzidentell Suizidal Sonstiges
Abbildung 10.2 Altersabhängige Ursachen von Vergiftungen. Kombinierte Daten aus den
Jahresberichten 2003 der Giftinformationszentrale Bonn sowie des Giftnotrufs Berlin.
Der im Allgemeinen recht günstige Verlauf bei Kindern wurde kürzlich in der
bereits angesprochenen Untersuchung der AAPC belegt (Abbildung 10.3): Für
das Jahr 2003 waren 496 003 kindliche Vergiftungsfälle (0 – 12 Jahre) hinsicht-
lich ihres Schweregrades auswertbar; der Anteil schwerer oder tödlicher Intoxi-
kationen bei allen kindlichen Vergiftungen lag hierbei unter 0,2 %, und der An-
teil von Kindern unter 12 Jahren bei tödlichen Vergiftungen aller Altersgrup-
pen lag bei 3,7 %. Ungünstiger war dementsprechend das Bild bei Erwachsenen
0 0 0
Kein Effekt Schwacher / mäßiger Effekt Schwere Intoxikation Tod
Abbildung 10.3 Altersabhängiger Schweregrad von Vergiftungen. Zu beachten ist die un-
terschiedliche Skalierung der Ordinaten. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC zu
Vergiftungen in den USA.
426 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Oral
77 %
Parenteral 0,5 %
Inhalativ 5,8 %
Okulär 5,2 %
Bisse u.
Stiche 3,5 %
Sonstige Dermal
0,7 % 7,5 %
Abbildung 10.4 Aufnahmewege bei akuten Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003
der AAPC zu Vergiftungen in den USA.
und Jugendlichen: zwar erwiesen sich auch hier über 95 % aller Vergiftungen
als leicht, doch war das Verhältnis von Betroffenen über 12 Jahren zu solchen
unter 12 Jahren bei schweren Vergiftungen 14:1 und bei tödlichen Vergiftungen
25:1.
Der Kontakt mit Giftstoffen erfolgt in den weitaus meisten Fällen durch Ver-
schlucken, d. h. orale Aufnahme (Abbildung 10.4). An zweiter Stelle steht mit
einigem Abstand die Einwirkung des Agens auf die Haut (dermal). An dritter
Stelle folgt die Vergiftung durch inhalative Noxen, an vierter Stelle steht die
Einwirkung von Giften auf die Augen (okulär). Eine Rarität ist die Injektion
toxischer Substanzen (parenterale Aufnahme). Die meisten dieser Fälle treten
in Zusammenhang mit dem Abusus von Opioiden (z. B. Heroin) als Rausch-
mittel auf.
Bei den Substanzen, die in der Allgemeinbevölkerung zu Vergiftungen führen,
stehen Medikamente an erster Stelle, wobei bei Erwachsenen meist eine Ein-
nahme in suizidaler Absicht erfolgt, während bei kindlichen Medikamentenver-
giftungen in der Regel eine akzidentelle Intoxikation vorliegt. Ingesamt kann
man sagen, dass das Spektrum möglicher Substanzgruppen bei Kindern breiter
gefächert ist als bei Erwachsenen. In einer Auflistung des Giftnotrufs München
aus dem Jahr 2000 waren Medikamente für über 50 % aller Vergiftungen bei
10.1 Einleitung 427
7000
6000
4000
3000
2000
1000
0
el
te
er
el
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Fa
Abbildung 10.5 Übersicht über Substanzgruppen bei akuten Vergiftungen. Vergleich von Kin-
dern und Jugendlichen (< 18 Jahre) mit Erwachsenen (> 18 Jahre). Daten aus dem Jah-
resbericht 2000 des Giftnotrufs München.
sten chemische Grundsubstanzen wie Säuren, Laugen sowie Grund- und Zwi-
schenprodukte bei der industriellen Produktion von Chemikalien. An zweiter
Stelle der Häufigkeit standen Reinigungsmittel, gefolgt von Desinfektionsmit-
teln.
Auch im beruflichen Umfeld verlaufen Vergiftungen meist leicht. Bei den oben
angesprochenen Analysen des Bundesinstituts für Risikobewertung waren in
kapp 90 % der Fälle nur leichte Vergiftungserscheinungen aufgetreten. Eine
Ausnahme stellten Baustoffe (wie zum Beispiel Kalk, Zement oder Mörtel) dar,
bei denen es in immerhin 18 % der Fälle zu mäßigen oder schweren Schädigun-
gen kam. Hierbei spielen vor allem Augenverätzungen eine Rolle (siehe Kapitel
10.3.2).
Bei der Lektüre des Buches von Louis Lewin Die Gifte in der Weltgeschichte“
”
bekommt man einen Eindruck über die Verbreitung der Giftkenntnisse vom
Altertum bis in unsere Zeit. In seinem Schlusswort auf Seite 579 stellt Levin
heraus: Die Zeit wird kommen, wo der Satz ganz erwiesen sein wird: Vergif-
”
tung ist eine örtliche oder allgemeine Krankheit, und eine natürliche Krankheit
ist eine örtliche oder allgemeine Vergiftung“. Folgt man dieser Argumentation,
so ist das Gift ein unausrottbarer Feind des Menschen. In der Vergangenheit
galt der Vergiftung aus kriminellen Motiven ein besonderes Augenmerk seitens
der Heilkundigen und Mächtigen. Dagegen tritt dieses Motiv in der heutigen
Zeit gegenüber akzidenziellen und suizidalen Vergiftungen deutlich in den Hin-
tergrund.
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen 429
Bei der Behandlung einer akuten Vergiftung ist der Zeitfaktor ein entscheiden-
des Kriterium. Rasches und zielbewusstes Handeln ist hier ausschlaggebend
für die Rettung des Vergifteten. Dennoch ist Ruhe bewahren!“– wie bei allen
”
Notfallsituationen – oberstes Prinzip.
Die allgemeine Rufnummer der Leitstellen von Rettungsdienst, Feuerwehr und
Katastrophenschutz ist die 112. Diese Nummer ist auch für Mobiltelefone ge-
nerell freigeschaltet, also unabhängig von dem eigenen Netzbetreiber wählbar.
Wenn die Nummer nach Einschalten des Handys aber vor der Eingabe des
PIN-Codes gewählt wird, so wird für den Notruf automatisch das stärkste
verfügbare Netz gewählt. In einigen Bundesländern existiert neben der all-
gemeinen Leitstellennummer 112 auch die 19 222 als direkte Verbindung zur
Rettungsleitstelle. Wenn man im Zweifel über die korrekte Nummer ist, sollte
man jedoch die 112 wählen, um Zeit mit Fehlversuchen zu sparen. Mittlerweile
ist die 112 auch als Euro-Notrufnummer in allen EU-Staaten und der Schweiz
und Liechtenstein eingeführt und dort ebenfalls per Handy (vor Eingabe des
PIN-Codes) frei wählbar.
Die wichtigsten Fragen der Leitstelle bei einem Notruf wegen einer Vergiftung
werden auf der nächsten Seite aufgeführt.
Oft können schon per Telefon Anweisungen gegeben werden, wodurch es ge-
lingt, kostbare Zeit zur Sicherung der Vitalfunktionen und zur Einschränkung
der Giftresorption (primäre Entgiftungsmaßnahmen) zu gewinnen.
Während bei einem noch ansprechbaren Patienten die primären Entgiftungs-
maßnahmen im Vordergrund stehen (siehe Kapitel 10.3), muss beim Bewusst-
losen auf die Sicherung der Vitalfunktionen geachtet werden, auch wenn der
Arzt noch nicht zur Stelle ist. Der oder die Laienhelfer leiten die entscheiden-
den Sofortmaßnahmen ein.
430 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
A = Atemwege freimachen
B = Beatmung C = Circulation
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen 431
A
Die Atemwege sind freizuhalten bzw. freizumachen. Dem Bewusstlosen sind
Zahnprothesen und Fremdkörper aus dem Mund zu nehmen. Bewusstlosen,
die erbrochen haben, wird der Mund mit dem Finger (mit einem Taschentuch
umwickelt) vom Erbrochenen freigemacht.
Bewusstlose, die noch selbständig atmen, werden in die stabile Seitenlage ge-
bracht, wobei der Kopf tiefer als der Oberkörper liegt, damit nicht der Zun-
gengrund die Atemwege verlegen kann.
Bei Bränden und giftigen Gasen ist der Eigenschutz für den Laienhelfer vor-
dringlich. Insbesondere bei der versuchten Bergung von Vergifteten aus Gärkel-
lern, Silos oder Brunnenschächten kommt es immer wieder zu tragischen Unfäl-
len, denen auch die Ersthelfer zum Opfer fallen. In derartigen Situationen ist
die Erste Hilfe nur möglich, wenn sichergestellt ist, das der Ersthelfer bei plötz-
lichem Bewusstseinsverlust durch ein Rettungsseil geborgen werden kann. In
Räumen, in denen es zum Austritt explosibler Gase gekommen ist, darf wegen
der Explosionsgefahr kein Licht eingeschaltet werden.
B
Nach dem Freimachen der Atemwege konzentriert sich der Ersthelfer auf die
Beatmung. Wenn keine ausreichende Spontanatmung besteht, muss die Mund-
zu-Nase- oder Mund-zu-Mund-Beatmung erfolgen. Bei Ersterer ist es für den
Helfer in der Regel einfacher, den Mund dicht aufzusetzen, so dass diese Vari-
ante im Allgemeinen bevorzugt wird. Hierbei legt der Helfer seine Hände flach
auf die Stirn und unter das Kinn des Patienten, wobei dessen Hals überstreckt
und der Unterkiefer vorgeschoben wird. Wichtig ist es, den Mund des Pati-
enten mit der Hand unter dem Kinn zu verschließen. Der Helfer bläst dann
seine Ausatemluft durch die Nasenöffnungen des Patienten ein. Zur Abdich-
tung sollen die Lippen des Helfers hierbei an der Nase des Patienten anliegen.
Bei der Mund-zu-Mund-Beatmung muss die Nase des Patienten mit Daumen
und Zeigefinger der auf der Stirn liegenden Hand verschlossen werden. Der
Helfer beatmet den Patienten und muss wiederum auf eine dichtes Anliegen
des Mundes achten.
Die Atemspende erfolgt bei beiden Methoden langsam über zwei Sekunden.
Wenn keine Hebung des Brustkorbs des Patienten erkennbar ist, muss von
einer unzureichenden Beatmung ausgegangen werden. In der Ausatemphase
des Patienten wendet der Helfer den Kopf zur Seite. Eine Senkung des Brust-
korbs des Patienten und ein hörbares Ausströmen der Atemluft zeigen in dieser
Phase eine ausreichende Beatmung an.
C
Um mit dem Alphabet fortzufahren, bedeutet Circulation, den Kreislauf des
Blutes aufrechtzuerhalten. Dies erfolgt durch die äußere Herzdruckmassage
432 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
(HDM). Die Indikation für die HDM ist der bewusstlose Patient ohne erkenn-
bare Spontanatmung, bei dem nach zwei initialen Atemspenden keine Zeichen
einer Wiederbelebung sichtbar sind (Bewegungen, Schlucken, Husten). Eine
Pulskontrolle (durch Tasten peripher oder an der Halsschlagader) wird vom
Laienhelfer nicht mehr vorgenommen, da die diagnostische Unsicherheit zu
groß ist.
Wichtig für eine erfolgreiche Wiederbelebung ist, dass der Patient auf einer
harten Unterlage liegt. Außerdem muss grundsätzlich der Brustkorb des Pati-
enten von Kleidern freigemacht werden. Man legt dann beide eigenen Handtel-
ler übereinander auf das untere Drittel des Brustbeins des Bewusstlosen und
drückt bei durchgestreckten Ellenbogen 5 cm in Richtung auf die Wirbelsäule,
indem das Gewicht des Oberkörpers auf die gestreckten Arme verlagert wird.
Der Brustkorb muss dann vollständig entlastet werden, ohne die Hände vom
Druckpunkt abzuheben. Es ist wichtig, dass der Oberkörper des Helfers stets
senkrecht über dem Druckpunkt verbleibt. Die HDM erfolgt in einer Frequenz
von 100 pro Minute. Unabhängig davon ob ein oder zwei Helfer die Reanima-
tion durchführen, erfolgen nach 15 Kompressionen zwei Atemspenden.
Schockbehandlung
Typische Zeichen eines Schocks sind aschgraue Haut, kalte Arme und Beine,
ein kaum tastbarer, sehr schneller Puls mit über 100 Schlägen pro Minute
und eine sehr oberflächliche, schnelle Atmung. Der Vergiftete kann im Schock
versterben, daher sollte man diesem Zustand stets entgegenwirken.
Maßnahmen sind Ruhe und Wärme (Unterlage, Zudecke) und eine flachen
Lagerung mit dem Kopf tief und den Beinen hoch, so dass Blut aus den Beinen
zu Herz und Gehirn fließt (körpereigene Bluttransfusion).
Krämpfe
Krämpfe sind vor allem bei Kindern ein häufiges Symptom von Vergiftungen.
Wichtig ist es hierbei, den Betroffenen vor Verletzungen zu bewahren, indem
gefährliche Gegenstände, gegen die er stoßen könnte, aus der Umgebung ent-
fernt werden. Auf keinen Fall dürfen Glieder des Krampfenden festgehalten
oder verkrampfte Hände gewaltsam geöffnete werden. Auch der Kiefer darf
nicht gewaltsam geöffnet werden, auch nicht, wenn ein Zungenbiss erfolgt ist,
und der Speichel des Krampfenden blutig verfärbt sein sollte. Auch darf nicht
versucht werden, den Anfall durch Schütteln, Anschreien oder Wiederbele-
bungsversuche zu unterbrechen.
10.2.2 Asservierung
Die Therapie in der Klinik hängt von der möglichst genauen Diagnose der
Vergiftung ab. Die entsprechenden spezifischen Maßnahmen werden von den
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 433
10.3.2 Augenverletzungen
Augenverätzungen machen etwa 10 % aller Augenunfälle aus. Betroffen sind
meist jüngere Patienten. Glücklicherweise sind die meisten dieser Unfälle nur
leicht, so dass keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Bei schweren Verätzun-
gen ist die Prognose leider nach wie vor ungünstig. Nach schweren Laugen-
verätzungen kommt es etwa in der Hälfte der Fälle zur Erblindung des betroffe-
nen Auges. Erschreckend ist hierbei, dass von Verätzungen in etwa einem Drit-
tel der Fälle beide Augen betroffen sind. Mit Abstand die meisten Verätzungen
434 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Aderhaut (Choroidea)
Netzhaut (Retina)
Sehnerv
Abbildung 10.6 Schematischer horizontaler Schnitt durch das Auge mit Bezeichnung der
wichtigsten Strukturen.
bus) umkleidet und sich in einer Umschlagsfalte auf die Innenseite der Lider
fortsetzt. Durch ihre Gleitfähigkeit ermöglicht sie es dem Augapfel Blickwen-
dungen reibungsarm durchzuführen. Schädigungen der Bindehaut können zu
Verwachsungen führen und so die Beweglichkeit des Auges oder der Lider ein-
schränken.
Bei schwersten Verätzungen kommt es zur Zerstörung noch tieferer Anteile
des Auges mit Schädigung von Iris, Linse und den Gefäßen der Lederhaut.
Aufgrund ihres Aspektes spricht der Augenarzt bei diesen Verletzungen vom
gekochten Fischauge“. Die Sehfähigkeit ist in diesen Fällen natürlich irrepa-
”
rabel zerstört.
In jedem Fall ist die Erste Hilfe mit rascher Spülung des betroffenen Auges ent-
scheidend. Dabei ist zu beachten, dass die schmerzhafte Hornhautreizung oft
zu einem krampfhaften Lidschluss führt, den der Betroffene nicht aus eigener
Kraft überwinden kann. Daher sind Personen mit stärkeren Augenverätzun-
gen immer auf Helfer angewiesen, welche die Lider passiv offen halten und die
Spülung durchführen. Nach den Richtlinien des American National Standards
Institute (ANSI) sollen starke Augenverätzungen mindestens 15 Minuten mit
500 bis 1000 ml Spülflüssigkeit gespült werden.
Da die Laienhelfer in der Regel nicht in der Lage sind, durch sogenanntes Ek-
tropionieren die Lider umzuklappen“ und so noch festsitzende Fremdkörper
”
436 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
unter den Lidern zu entfernen (v. a. bei Kalkverätzungen!) und da sie weder
über spezielle, gepufferte Spülflüssigkeiten noch über ein Lokalanästhetikum
und Schmerzmittel verfügen, die dem Lidkrampf entgegenwirken, darf über der
Erstversorgung des Auges keine Zeit verloren werden, einen Notruf abzusetzen,
der eine professionelle Behandlung sicherstellt.
6 60
10
Krankenhausauftenhalt (Monate)
Anzahl der Operationen
5 50
8
4 40
6
3 30
4
2 20
2 10
1
0 0 0
1 2 1 2 1 2
Abbildung 10.7 Einfluss einer sofort durchgeführten Augenspülung im Rahmen der Ersten
Hilfe auf den Verlauf von Augenverätzungen (Daten aus: Schrage et al. Dtsch. Ärztebl. 97:
A-104 (2000).
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 437
Entschäumer finden Verwendung bei der Aufnahme von Seifen- oder Tensid-
haltigen Reinigungs- und Körperpflegemitteln, z. B. Shampoo oder Spülmittel.
Üblicherweise sind Kleinkinder von derartigen Vergiftungen betroffen.
Eine Resorption von Tensiden findet selbst bei Aufnahme großer Mengen prak-
tisch nicht statt. Auch der schleimhautschädigende Effekt in Mund und Magen-
Darm-Trakt ist vernachlässigbar. Eine Gefahr bei derartigen Vergiftungen geht
allenfalls davon aus, dass es bei starker Schaumbildung zu Erbrechen und an-
schließender Aspiration in die Atemwege kommen kann. Aus diesem Grunde
ist das Auslösen von Erbrechen bei Vergiftung mit schaumbildenden Mitteln
kontraindiziert (siehe Kapitel 10.3.3.3). Auch sollte nach der Aufnahme nicht
zuviel Flüssigkeit nachgetrunken werden, da dies das Risiko von Erbrechen
ebenfalls erhöht. Bei sachgemäßer Behandlung (keine übertriebenen Maßnah-
men!) und Gabe eines Entschäumers, z. B. Dimeticon ist in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle keine Krankenhauseinweisung notwendig.
Einen Sonderfall bilden Vergiftungen mit älteren Spülmaschinenreinigern mit
Metasilikat-Zusätzen. Diese Mittel sind in Deutschland vom Markt genommen
worden, im Ausland aber noch teilweise erhältlich. Nach Verschlucken kommt
es bei diesen Reinigern in etwa 50 % der Fälle zu Verätzungen der Schleimhaut.
Als Erste-Hilfe-Maßnahme sollte der Mund gut ausgespült werden und Wasser
oder Tee nachgetrunken werden, was durch Verdünnung die Ätzwirkung re-
duziert. Kontraindiziert ist auch hier das Auslösen von Erbrechen, zum einen
438 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Tabelle 10.2 Vorgehen bei Vergiftungen mit Handspülmitteln auf Tensid-Basis, metasili-
kathaltigen Maschinenreinigern und neueren Maschinenreinigern mit Disilikat/Carbonat-
Zusatz.
10.3.3.2 Aktivkohle-Gabe
Aktivkohle ist das meist gebrauchte und das wirksamste Adsorbens. Auf-
schlämmungen bis zu 50 g in 0,5 bis 1 l Wasser werden gut vertragen. Bei
Kindern gibt man etwa 10 g Aktivkohle in 1 bis 2 Tassen Wasser. Aktivkohle
kann praktisch nicht überdosiert werden. Aktivkohle bindet durch Physisorp-
tion unspezifisch eine große Anzahl von Substanzen und ist damit ein Univer-
”
salantidot“. Nach ca. 24 Stunden Verweildauer im Magen-Darm-Trakt wird
jedoch die Wirkung von Aktivkohle durch die Verdauungssäfte aufgehoben;
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 439
daher wird die Gabe von Aktivkohle meist mit der eines Abführmittels kom-
biniert.
Verwendet werden kann als Abführmittel in Kombination mit Aktivkohle z. B.
Magnesiumoxid, welches die adsorbierenden Eigenschaften von Aktivkohle prak-
tisch nicht beeinflusst. Eine häufig verwendete Möglichkeit besteht auch in der
Gabe von Natriumsulfat (Glaubersalz), welches die Peristaltik (die wurmförmi-
ge fortschreitende Bewegung des Darmes) im gesamten Gastrointestinaltrakt
fördert. Hierbei gibt man ca. 10 g Natriumsulfat in 100 ml lauwarmem Wasser
gelöst. Bei Kindern 1 g Natriumsulfat pro Lebensjahr. Die abführende Wirkung
tritt in etwa 3 bis 5 Stunden ein.
Kontraindiziert ist Aktivkohle – wie bereits oben ausgeführt – bei Vergiftun-
gen mit ätzenden Substanzen, da hierbei die Diagnostik erschwert wird. Nutz-
los, aber auch nicht schädlich, ist die Gabe von Aktivkohle bei Vergiftungen
mit Ethanol und Methanol, Schwermetallen, organischen Lösungsmitteln und
Schaumbildnern. Die genannten Stoffe zeigen eine unzureichende Adsorption
bzw. zu rasche Desorption, so dass durch Aktivkohle-Gabe keine nutzbare In-
aktivierung der Substanzen erfolgt.
10.3.3.4 Magenspülung
Die Magenspülung wird nur noch bei Vergiftungen mit hochtoxischen Verbin-
dungen durchgeführt (z. B. Knollenblätterpilz-Vergiftung). Die Effektivität der
440 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
16
Angewendete Maßnahmen zur
14 primären Giftentfernung
Anwendung in % aller Fälle
12
10
4
Sirup ipecacuanhae
2
Aktivkohle
0
83
85
87
89
91
93
95
97
99
01
03
19
19
19
19
19
19
19
19
19
20
20
Abbildung 10.8 Verwendung von Sirup Ipecacuanha und/oder Aktivkohle-Gabe zur primären
Behandlung oraler Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC.
Methode ist im Allgemeinen nicht sehr hoch. So fanden sich in einer Untersu-
chung bei Patienten mit Tabletten-Vergiftung in Kontroll-Spiegelungen nach
einer Magenspülung in beinahe 90 % der Fälle noch Tablettenreste im Magen.
Darüberhinaus wird diskutiert, dass durch eine Magenspülung die Entleerung
des Magens sogar beschleunigt werden kann, so dass Giftstoffe u. U. sogar
schneller resorbiert werden.
Ist das Gift resorbiert, muss versucht werden, die Wirkung zu unterbinden
(Antidot-Gabe) oder das Gift zu Eliminieren (sekundäre Giftelimiation).
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption 441
Tabelle 10.3 Übersicht über einige Antidote und die Vergiftungen, bei denen sie Anwendung
finden.
Robert-Koch-Institut
http://www.rki.de
Bundesumweltamt
http://www.umweltbundesamt.de
Giftnotruf München
II. Medizinischen Klinik der Technischen Universität München
http://www.toxinfo.org
Österreichische Vergiftungs-Informations-Zentrale
http://www.akh-wien.ac.at/viz
448 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung
Antidotarium
http://www.giftinfo.uni-mainz.de/Deutsch/antidotarium/Antidotdepot-Mz.html
Englischsprachige Internetseiten:
antikoagulierende Wirkung
Blutgerinnungshemmung durch Heparine oder Cumarinderivate (in
vivo) bzw. durch Chelatoren (in vitro)
Antioxidanzien
Leicht oxidierbare Stoffe, die durch ihr niedriges Redoxpotential an-
dere Stoffe vor unerwünschten Oxidationen schützen
Apoptose (griech. wegfallen)
Programmierter, physiologischer Zelltod
Arteriolen
Letzter Gefäßabschnitt der Arterien, welchem die Kapillaren folgen
autonomes oder vegetatives Nervensystem
Das autonome (unwillkürliche) oder vegetative Nervensystem steuert
als Teil des zentralen und peripheren Nervensystems die vegetativen
Funktionen des Organismus, die nicht der Willkür unterstellt sind
auxotroph (griech. wachsen, ernähren)
Bezeichnung für Mikroorganismen, bei denen durch Genmutationen
bestimmte für die Synthese von Körperbausteinen notwendige Enzy-
me nicht mehr gebildet werden können, so dass diese Bausteine von
außen zugeführt werden müssen
bakterizide Wirkung
Fähigkeit einer Substanz Bakterien abzutöten
basophile Tüpfelung
Punktförmig angeordnete mit basischen Farbstoffen anfärbbare Sub-
stanz der roten Blutzellen, wahrscheinlich aus Ribosomen bestehend.
Vermehrtes Vorkommen u. a. bei toxisch bedingten Anämien und
Bleivergiftung
BAT-Wert
Biologischer Arbeitsstoff-Toleranz-Wert, die beim Menschen höchst-
zulässige Quantität eines Arbeitsstoffes bzw. Arbeitsstoffmetaboliten
oder die dadurch ausgelöste Abweichung eines biologischen Indikators
von seiner Norm, die nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaft-
lichen Kenntnis im Allgemeinen die Gesundheit der Beschäftigten
auch dann nicht beeinträchtigt, wenn sie durch Einflüsse des Arbeits-
platzes regelmäßig erzielt wird
Bay-Region
Bay region, eingebuchtete Region an einem gewinkelten polycycli-
schen aromatischen Kohlenwasserstoff, in deren Nachbarschaft durch
drei sequentielle enzymatische Reaktionen (Cyt. P-450, Epoxidhy-
drolase, Cyt. P-450) ein vicinales Dihydrodiol-Epoxid gebildet und
stabilisiert werden kann. Letzteres ist in der Lage, mit nukleophilen
Zentren der DNA zu reagieren
Glossar 451
ED50
Effektive Dosis. Diejenige Konzentration, bei der 50 % der Individuen
eines Kollektives eine pharmakologische Wirkung zeigen
Embolie (griech. hineinwerfen)
Verstopfung eines Gefäßes durch ein in die Blutbahn verschlepptes
Gebilde (Thrombus, Bakterien, Gas, Fett, Parasiten u. a.)
enteral (griech. Darm, Eingeweide)
Zum Darm gehörig, Aufnahme über den Darm im Gegensatz zu pa-
renteral, unter Umgehung des Darmes
epigenetisch wirksame Karzinogene
Karzinogene Wirkung ohne Wechselwirkungen mit der DNA
Epithel (griech. darauf wachsen)
Geschlossener, ein- oder mehrschichtiger Zellverband der inneren
oder äußeren Körperoberfläche
Epitheliom
Gutartiger oder bösartiger Tumor aus Epithelzellen (Papillom, Ade-
nom, Karzinom)
Erythroblasten
Vorstufen der Erythrozyten im Knochenmark
Erythropoese
Bildung der roten Blutkörperchen im Knochenmark. Beim Menschen
werden 2,5 Millionen Erythrozyten pro Sekunde gebildet
Erythrozyten (griech. rote Zelle)
Rote Blutkörperchen, rote Blutzellen
Exsiccose (lat. exsiccare austrocknen)
Abnahme des Gesamtkörperwassers
Fertilität
Fruchtbarkeit, geschlechtliche Vermehrungsfähigkeit
Fibroblasten
Vorstufen der Fibrozyten (spindelförmige Zellen des Bindegewebes)
Ganglien
Nervenknoten, Schaltstellen zwischen zwei Neuronen des sympathi-
schen und parasympathischen Nervensystems
Gangrän (griech. fressendes Geschwür)
Nekrose mit Autolyse des Gewebes und dessen Verfärbung
Gastrointestinaltrakt (griech. Magen, Eingeweide)
Magen-Darm-Trakt
Genotoxizität oder Gentoxizität
Sammelbegriff für Erbgutschädigung (z. B. DNA-Schäden und
Schäden des Mitoseapparates)
Glossar 453
MAK-Wert
Maximale Arbeitsplatz-Konzentration, die höchstzulässige Konzen-
tration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf, oder Schwebestoff in
der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenwärtigen Stand der
Kenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel täglich
achtstündiger Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittli-
chen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden im Allgemeinen die Gesund-
heit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt und diese nicht unange-
messen belästigt
MIK-Wert
Maximale Immissions-Konzentration. Immissionen sind auf Men-
schen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmo-
sphäre sowie Kultur- und Sachgüter einwirkende Luftverunreinigun-
gen, Geräusche, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen.
Die MIK-Werte sind Richtwerte und basieren auf einem mehr oder
weniger großen Wissens- und Erfahrungsstand, z. B. für Schadstoffe
in Nahrungsmitteln oder für den Gehalt an Schwermetallen im Bo-
den. Bei der Einhaltung dieser Werte ist der Schutz des Menschen
und seiner Umwelt nach derzeitigem Wissensstand gewährleistet
Metaphase
Phase der Mitose, in der sich die Chromosomen in der Äquatorial-
ebene anordnen
Mimikry (griech. Nachahmung)
Hier Nachahmen der perfekten molekularen Form physiologischer
Substrate
Mitose (griech. Faden)
Zellteilung, identische Reduplikation des genetischen Materials und
Verteilung je eines vollständigen Chromosomensatzes auf die Toch-
terzellen
motorische Endplatte (Muskelendplatte)
Endplattenregion an der Muskelzellmembran mit Acetylcholinrezep-
toren und Acetylcholinesterase
muskarinisch
Kennzeichnet aufgrund der spezifischen Muskarinwirkung den Ace-
tylcholinrezeptor des Parasympathikus am Erfolgsorgan (z. B. Herz,
Auge, Darm etc.)
mutagen (lat. mutare verändern)
Veränderung des genetischen Materials
Neurofilament, Neurofibrillen
Feinste Fäserchen im Zytoplasma der Nervenzellen und ihrer Fort-
sätze
456 Glossar
Neurotoxizität
Toxische Beeinträchtigung zentralnervöser und peripherer Nerven-
funktionen
nicotinisch
Kennzeichnet durch die spezifische Wirkung des Nicotins die Acetyl-
cholinrezeptoren in den Ganglien des Sympathikus und des Parasym-
pathikus
NOEL
No observed effect level. Konzentration, unterhalb derer keine Wir-
kung messbar ist. Die NOEL-Konzentration darf allerdings nicht
gleich dem NEL (No effect level) gesetzt werden, da möglicherwei-
se Schadstoffwirkungen aufgrund zu unempfindlicher Messmethoden
nicht entdeckt werden. Als NOAEL (No observed adverse effect level)
gilt die Konzentration, die gerade noch keine feststellbaren nachtei-
ligen Wirkungen verursachen
Nukleotid
Phosphorsäureester der Nukleoside (Nukleinbase, Pentose, Phosphat)
Nukleosid
Baustein aus Nukleinbase (Purin- oder Pyrimidin-Base) und einer
Pentose meist D-Ribose oder D-Desoxyribose
Obstipation (lat. obstipare verstopfen)
verzögerte Kotentleerung
Onkogene (griech. Geschwulst erzeugen)
Durch Mutation, Deletion oder Überexpression gewinnen die Proto-
Onkogene die Eigenschaft von Onkogenen, sie können Tumoren
auslösen, wenn gleichzeitig die Kontrolle durch Tumor-Suppressor-
gene gestört ist
Organotropie
auf ein bestimmtes Organ gerichtete Wirkung
Parasympathikus
Teil des vegetativen Nervensystems. Die von ihm geförderten Vor-
gänge dienen der Regeneration des Organismus
Persistenz (lat. persistere hartnäckig, verharren)
Beständigkeit eines Stoffes gegenüber dem Abbau in der Umwelt oder
im Organismus
Phänotypus
Merkmalbild, Erscheinung. Summe aller an einem Einzelwesen vor-
handenen Merkmale, sein äußeres Bild, seine äußere Erscheinungs-
form und seine funktionellen Eigenschaften, die durch den Genotypus
im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen verschiedener Art geprägt
werden
Glossar 457
Plazentaschranke
Biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blutkreis-
lauf
Polyneuritis
Enzündung des peripheren Nervensystems
Polyneuropathie
Erkrankung der peripheren Nerven aus nichttraumatischer Ursache
Polyurie
Erhöhung der Harnausscheidung
Proteinurie
Ausscheidung von Eiweiß im Urin (20 bis 150 mg Eiweiß in 24 h sind
physiologisch)
Proto-Onkogene
Als zelluläre Onkogene sind sie Homologe der viralen Onkogene. Ihre
Genprodukte sind an der Kontrolle normaler Wachstums- und Diffe-
renzierungsprozesse beteiligt, insbesondere steuern sie die Zellproli-
feration
prototroph
Mikroorganismen, bei denen alle Enzyme, die für die Synthese von
Körperbausteinen notwendig sind, in den Zellen vorhanden sind.
Psychose (griech. Seele)
Allgemeine Bezeichnung für psychische Störung mit strukturellem
Wandel des Erlebens
pT50
Potentielle Toxizität, negativer Logarithmus der toxischen Konzen-
tration in mol/kg Körpergewicht ausgedrückt, bei der 50 % des be-
handelten Tierkollektivs stirbt
renal (lat. ren)
Die Niere betreffend
Resistenz
Widerstandsfähigkeit von Mikroorganismen gegen Chemotherapeu-
tika und Biozide
Retikulum (lat. reticulum kleines Netz)
Endoplasmatisches Retikulum (ER), elektronenmikroskopisch sicht-
bares, im Grundplasma der Zelle gelegenes dreidimensionales Hohl-
raumsystem aus Bläschen, Kanälchen und Zisternen, deren Membra-
nen kontinuierlich mit der äußeren Kernmembran und zum Teil auch
mit der Plasmamembran zusammenhängen. Man unterscheidet ein
mit Ribosomen besetztes sog. rauhes oder granuläres ER (rER) und
ein Ribosomenfreies glattes ER (sER)
458 Glossar
Risiko
Risk-Assessment. Die Risiko-Abschätzung eines Stoffes lässt sich in
vier Abschnitte einteilen. Zuerst erfolgen eine Identifizierung und
Charakterisierung der toxischen Wirkung. Zweitens gibt die Dosis-
Wirkungsbeziehung Auskunft über Exposition und Ausmaß der Wir-
kung. Dies dient auch zur Festlegung der Messgröße NOEL (no
observed effect level). Drittens erfolgt eine Expositionsmessung und
Abschätzung der Stoffaufnahme am Menschen, und viertens geschieht
schließlich die Charakterisierung und Quantifizierung des Risikos.
Dabei wertet der letzte Abschnitt die Informationen und die Ana-
lysen der ersten drei Abschnitte aus
Roborans (lat. roborare stärken)
Stärkendes Mittel
Sarkom
Ein aus mesenchymalem Gewebe hervorgehender Tumor
Scavenger (engl. Aasfresser)
Abfänger toxischer Produkte, Radikalfänger
Short-Term-Test
Darunter versteht man Kurzzeittestmethoden zur Prüfung von Sub-
stanzen auf mutagene und krebserregende Eigenschaften. Diese
Short-Term-Tests können an Prokaryonten, Eukaryonten, kultivier-
ten Warmblüterzellen und in vivo an Nagern und Insekten durch-
geführt werden. Dabei werden durch die Substanz erzeugte Genmu-
tationen und Chromosomenaberrationen erfasst. Die größte Bedeu-
tung haben Tests an mutierten Bakterienkulturen erlangt. In Gegen-
wart von mutagenen Substanzen kann es zu Rückmutationen kom-
men (Ames Test)
Soma-Zellen (griech. Körper)
Körperzellen
Spasmus, spastisch
Unwillkürliche Muskelkontraktion, Krampf
Spermiogenese, Spermatogenese
Reifung und Ausdifferenzierung der Samenzellen (Spermien) im Kei-
mepithel des Hodens
Stickstoff-Lost
Nach den Herstellern Lommel und Steinkopf auch als Gelbkreuz und
Senfgas bezeichnetes Kampfgas, b,b’-Dichlordiethylsulfid
Sympathikus
Teil des vegetativen Nervensystems und Antagonist des Parasympa-
thikus; vereinfacht dargestellt führt seine Erregung zur Angriffsbe-
reitschaft des Organismus, aber auch zu Fluchtreaktionen
Glossar 459
Synapse
Umschaltstelle für die diskontinuierliche Erregungsübertragung von
einem Neuron auf ein anderes oder auf das Erfolgsorgan
TD50 -Wert
Toxische Dosis. Die Konzentration, bei der 50 % der reagierenden
Individuen eine toxische Wirkung zeigen
TD50 -Wert
Tumor Dosis, die Konzentration angegeben, die zum Auftreten von
Tumoren bei 50 % der behandelten Tiere führt. Die identische Be-
zeichnung für toxische und Tumor-Dosis kann zu Verwechslungen
beitragen
teratogen (griech. Ungeheuer)
Eigenschaft eines chemischen, physikalischen oder biologischen
Agens, vor der Geburt (pränatal) Fehlbildungen auszulösen
Tremor (lat. tremor Zittern)
Unwillkürlich auftretende, meist rhythmische Kontraktionen antago-
nistischer Muskeln
TRK-Wert
Technische Richtkonzentration. Da für krebserzeugende Arbeitsstof-
fe keine MAK-Werte ermittelt werden können, werden für diese und
für krebsverdächtige Stoffe sogenannte TRK-Werte aufgestellt. Der
TRK-Wert ist diejenige Konzentration eines gefährlichen Stoffes in
der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem Stand der Technik erreicht
werden kann. Auch dieser Luftgrenzwert kann sich auf den Stoff als
Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Atemluft beziehen. Das Ziel ist
auch bei diesen Grenzwerten, einen Anhalt für zu treffende Schutz-
maßnahmen am Arbeitsplatz zu geben, um das Risiko einer Beein-
trächtigung der Gesundheit des Arbeitsnehmers zu vermindern; dabei
lässt sich aber ein Restrisiko nicht ausschließen
Tubulus (Niere)
Nierenkanälchen, proximales (im Verlauf früher liegendes) und dista-
les (im Verlauf später folgendes)
Zirrhose (griech. harte Schwellung)
Aufhebung der normalen Struktur eines Organs unter Umwandlung
des Gewebes mit Verhärtungen
ZNS
Zentralnervensystem, Gehirn- und Rückenmarksnervensystem im
Gegensatz zu den peripheren Nerven
Literaturverweise
Dekant, W., Vamvakas, S.: Toxikologie für Chemiker, Biologen und Pharma-
zeuten. 2. Aufl., Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2005
Forth, W., Henschler, D., Rummel, W., Förstermann, U., Starke, K.,: Allge-
meine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 8. Aufl., Verlag Urban &
Fischer, München, Jena, 2001
Goldstein, A., Aronow, L., Kalman, S. M.: Principles of Drug Action. 2nd Edi-
tion, J. Wily & Sons, New York, London, Sidney, Toronto, 1974
Höber, R.: Physikalische Chemie der Zellen und der Gewebe. 6. Aufl., Verlag
von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1926
Klaassen, C. D. Amdur, M. O., Doull, J., (Eds): Casarett and Doull’s Toxico-
logy. The Basic Science of Poisons. 6th Edition, Mc Graw-Hill Inc. Lewis, M.,
Gash, M.D., Maidenhead, 2001
Klimmek, R., Szinicz, L., Weger, N.: Chemische Gifte und Kampfstoffe. Hip-
pokrates Verlag, Stuttgart, 1983
Lüllmann, H., Mohr, K.: Taschenatlas der Pharmakologie. 4. Aufl., Georg Thie-
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Luckey, T. D., Venugopal, B.: Metal Toxicity in Mammals. Vol. I & II. Plenum
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Moeschlin, S.: Klinik und Therapie der Vergiftungen. 7. Aufl., Georg Thieme
Verlag, Stuttgart, 1986
Stein, W. D.: Transport and Diffusion across Cell Membranes. Academic Press
Inc., San Diego, New York, 1986
F Furane, 397
F2-Toxin, 339 Furanocumarin, 346
Fabaceen, 338
Fallhand, 211 G
Faxpapier, 336 Galaxolid, 330
FCKW, 280, 287 Galle, 91
Feersche Erkrankung, 238 Gallenwege, 87
Fentin, 318 Galmei, 212
Ferritin, 183, 191 Ganglion, 297
Ferrochelatase, 210, 210 Gasaustausch, 28
Ferrochrom, 217 Gefahrstoff, 346
Ferrovanadin, 242 Gelzustand, 262
Festplatten, 218 Genistein, 330, 338
Fettgewebe, 60 Genmutationstests, 412
Fetthärtung, 225 Genotoxizität, 255
Fibrin, 133 direkte, 379
-Molekül, 132 indirekte, 394
Fick´sches Diffusionsgesetz, 21, 29, Genotoxizitätsprüfung, 407
54 Gerbung, 219
Filtration, 52 Gesamtzellzahl, 32
Filtrationsdruck, 41 Gesetz von Hagen-Poiseuille, 52
Filtrationsrate Gewerbetoxikologie, 9
glomeruläre, 89 Giftentfernung
Firemaster, 332 extrakorporale Methoden, 443
Fish-odor-Syndrom, 74 sekundäre, 442
Fjord-Region, 401 Giftung, 65, 86
Flavin-abhängige Monooxygenasen, ginger paralysis, 298
73 Glaubersalz, 439
Fließgleichgewicht, 95 Globulin, 59
Flimmerepithel, 27, 31 Glomeruläre-Filtrationsrate, 88
Fluor, 31, 347 Glomerulum, 233, 310
Fluorid, 61 Glucose, Toleranzfaktor, 219, 221
Fluorwasserstoff, 130, 349 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase,
Flüssig-Mosaik-Modell, 44 310
Forelle, 343 Glucuronsäure, 63, 80, 92
Formaldehyd, 31, 269, 282, 349 Glucuronyltransferasen, 86
Formiat, 273 Glufosinat, 314
freie Radikale, 188 Glutamin, 82
Fremdstoffe, 59 Glutaminsynthase, 313
Fruchtfliegen, 418 Glutathion, 68, 80, 82, 83, 92, 148,
Fungiplex, 319 193, 197, 200, 220, 251, 252,
Fungizide, 231, 294, 316 355, 363, 381, 382, 395, 397
474 Index
Kopplungsreaktion, 80 Lederhaut, 20
Koproporphyrin III, 210 Lewis-Basen, 237
Koproporphyrinogen III-Decarboxylase, Lewis-Säuren, 230
210 Lewisit, 203, 251
Korium, 20 Lidkrampf, 436
Kovalente Bindung, 110 Lignan, 330
Krämpfe, 432 Ligninabbau, 312
Krebs, 365 Lindan, 306
-sterblichkeit, 273, 365 Linuron, 328
-ursachen, 367 Lipid-Doppelschicht, 44, 45
Kreislauf Lipide, 46
enterohepatischer, 80, 92, 194, Lipidkörperchen, 200
242 Lipidmembran, 43
globaler, 178 Lipidperoxidation, 215, 284
kritisches Organ, 34, 182 Lipovitellin, 344
Kumulation, 31, 58, 62, 324 Lithium, 194
Kumulationsfaktor, 325 LOEL, 14
Kumulationsgift, 241 London-Dispersionskraft, 110
kumulieren, 10 Löslichkeitskoeffizient, 30
Kupfer, 35, 183, 184, 197, 200–202, Lösungsmittel, 259
205, 218, 245, 294, 316, 318, Lösungsmittelgemische, 267
392 Luftröhre, 27
-arsenit, 248 Lunge, 19, 87, 94
-HDO, 316, 316 Lungenbläschen, 27, 29, 30, 32
-kies, 223 Lungenödem, 29, 215, 227, 309
Kupfer(II)-Salze, 355 toxisches, 350
Luzerne, 338, 339
L Lysinrest, 279
L-Region, 400 Lysosom, 48, 200
Lachgas, 264
Lactone, 385, 385 M
lacZ-Gen, 342 Magen, 23
Langley, John Newport, 105 Magen-Darm-Kanal, 27
Lanthan, 136, 195 Magen-Darm-Trakt, 19, 98
Lanthanid, 195 Magenentleerung, 437
LD50 , 11, 12, 119, 199 Magenspülung, 439
LDR, 123 Magnesium, 202, 205
LDR-Kurve, 119, 128 MAK-Wert, 14, 187, 260, 264, 265
leaving group, 296 Makrophagen, 32
Leber, 63, 64, 69, 77, 81, 85 Malaria, 295
Leberzirrhose, 272 Malat, 273
Leder, 219 Malondialdehyd, 282, 352
Index 477