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Teubner Studienbücher Chemie

Günter Fred Fuhrmann

Toxikologie für Naturwissenschaftler


Teubner Studienbücher Chemie

Herausgegeben von

Prof. Dr. rer. nat Christoph Elschenbroich, Marburg


Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. Friedrich Hensel, Marburg
Prof. Dr. phil. Henning Hopf, Braunschweig

Die Studienbücher der Reihe Chemie sollen in Form einzelner Bausteine grundlegende und
weiterführende Themen aus allen Gebieten der Chemie umfassen. Sie streben nicht die Brei-
te eines Lehrbuchs oder einer umfangreichen Monographie an, sondern sollen den Studen-
ten der Chemie – aber auch den bereits im Berufsleben stehenden Chemiker – kompetent
in aktuelle und sich in rascher Entwicklung befindende Gebiete der Chemie einführen. Die
Bücher sind zum Gebrauch neben der Vorlesung, aber auch anstelle von Vorlesungen ge-
eignet. Es wird angestrebt, im Laufe der Zeit alle Bereiche der Chemie in derartigen Lehr-
büchern vorzustellen. Die Reihe richtet sich auch an Studenten anderer Naturwissenschaf-
ten, die an einer exemplarischen Darstellung der Chemie interessiert sind.
Günter Fred Fuhrmann

Toxikologie für
Naturwissenschaftler
Einführung in die Theoretische
und Spezielle Toxikologie

Unter Mitarbeit von


Achim Aigner, Thomas Büch, Wolfgang Legrum,
Christian Steffen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Prof. Dr. med. Günter Fred Fuhrmann


Geboren 1932 in Schackensleben. 1960 Promotion an der Ludwig-Maximilian-Universität München, 1972 Venia
Docendi für Pharmakologie Universität Bern. Von 1977 bis 1998 Professor für Molekulare Pharmakologie an der
Philipps-Universität Marburg. 1998 Ruhestand.
PD Dr. ing. Achim Aigner
Geboren 1965 in Offenbach am Main. 1995 Promotion (Chemie / Biochemie) an der Technischen Universität Darm-
stadt. 2003 Habilitation für Pharmakologie und Toxikologie. Hochschuldozent am Institut für Pharmakologie und
Toxikologie der Philipps-Universität Marburg.
Dr. med. Thomas Büch
Geboren 1974 in Saarbrücken. 2001 Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Philipps-Universität Marburg.
Prof. Dr. rer. physiol. Wolfgang Legrum
Geboren 1951 in Ludwigshafen/Rhein. 1976 Staatsexamen der Pharmazie in Kiel, Studium der Humanbiologie und
Promotion in Marburg 1979, Habilitation 1988, apl. Professor seit 1994 am Institut für Pharmakologie und Toxiko-
logie, Gastprofessor am Fachbereich Chemie der Philipps-Universität Marburg.
Prof. Dr. med. Christian Steffen
Geboren 1945 in Marburg. Nach Studium in Marburg und Paris Staatsexamen in Medizin 1970, Promotion 1973,
wiss. Mitarbeiter am Institut für Pharmakologie der Universität Marburg. Seit 1985 am Institut für Arzneimittel des
BGA in Berlin, jetzt Bonn (heute Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – BfArM), als Direktor und
Professor.

1. Auflage März 2006

Alle Rechte vorbehalten


© B. G. Teubner Verlag / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Ulrich Sandten / Kerstin Hoffmann

Der B. G. Teubner Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.
www.teubner.de

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jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: Ulrike Weigel, www.CorporateDesignGroup.de


Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Printed in Germany

ISBN 3-8351-0024-6
Vorwort

Dieses Buch ist hervorgegangen aus einer Vorlesung über Toxikologie, die am
Fachbereich Chemie der Philipps-Universität in Marburg seit 1980 gehalten
wird. Auf Anregung von Herrn Professor Christoph Elschenbroich wurde 1993
eine Einführung in die Theoretische Toxikologie (Allgemeine Toxikologie für
Chemiker) von Günter Fred Fuhrmann verfasst. Eine zweite Auflage erschien
im Jahre 1999 und zusätzlich ein weiterer Band über spezielle Toxikologie mit
einer Auswahl toxischer Substanzen (Spezielle Toxikologie für Chemiker). Au-
toren des zweiten Bandes waren die Dozenten in der Chemie-Vorlesung Rainer
Braun, Günter Fred Fuhrmann, Wolfgang Legrum und Christian Steffen.
In dem jetzt vorliegenden Buch Toxikologie für Naturwissenschaftler“ wer-

den die beiden vorhergehenden Bücher zu einem Band vereinigt, das Bewährte
wurde überarbeitet, auf den neuesten Stand gebracht und es wurden Erweite-
rungen angefügt.
Damit ist ein Buch entstanden, dass vor allem den Wirkungsmechanismus
von toxischen Substanzen auf molekularer Ebene darstellt. Es hat einen über-
schaubaren Umfang und ist gut geeignet für den Naturwissenschaftler, um
sich umfassend in die Materie einzulesen. Es wird Wert darauf gelegt, dem
Nichtmediziner die wichtigsten Prinzipien der Toxikologie auch ohne einge-
hende anatomische und physiologische Grundkenntnisse nahezubringen. Aus
all diesen Gründen füllt es eine bestehende Lücke in der Literatur.
Herr Professor Braun konnte leider aus Zeitgründen das Kapitel über Kan-
zerogenese nicht wieder übernehmen und hat sein bewährtes Konzept Herrn
Priv. Dozent Dr. Aigner überlassen, der jetzt hauptamtlich die Toxikologie-
Vorlesung für Naturwissenschaftler gestaltet. Herr Dr. Büch hat dabei die
Vorlesung über Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen gehalten.
Die Darstellung der Materie ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Ab-
schnitt befasst sich mit der Theoretischen oder Allgemeinen Toxikologie. Nach
einer Einführung werden dem Leser Vorstellungen zu den Wechselwirkungen
zwischen toxischen Substanzen und dem menschlichen Körper vermittelt (Ka-
pitel 2, Toxikokinetik und Kapitel 3, Toxikodynamik).
Der zweite Abschnitt ist der Speziellen Toxikologie gewidmet. Allein vom Um-
fang der Substanzen her ist es nicht möglich, die ganze Breite der Speziellen
Toxikologie darzustellen, so dass hier bewusst eine Auswahl von Substanzen
getroffen wurde. Im Kapitel 4 wird die Toxikologie der Schwermetalle behan-
delt. Eine Einteilung nach toxikologischen Gesichtspunkten in nicht reaktive,
stimulatorisch wirksame, essentielle und toxische Metalle setzt die Schwer-
punkte. Außerdem werden die toxischen Effekte für Blei, Cadmium, Chrom,
VI

Nickel, Quecksilber, Thallium und Vanadium sowie für das Metalloid Arsen
gesondert besprochen.
Weiter folgen in Kapitel 5 die organischen Lösungsmittel und in Kapitel 6
die Biozide, darunter Insektizide, Herbizide, Fungizide und Rodentizide. Ka-
pitel 7 gibt Aufschluss über den Verbleib von Bioziden, Arznei-, Duft- und
hormonaktiven Stoffen in der Umwelt.
Nach den Atemgiften (Kapitel 8) werden im Kapitel 9 die karzinogenen Wir-
kungen von organischen und anorganischen Verbindungen dargestellt. Dies
beinhaltet eine Einführung in die Entstehung von Tumoren und es werden
die wichtigsten genotoxischen Mechanismen anhand von Substanzgruppen er-
klärt. Der letzte Teil geht auf Testmethoden ein, die in der Praxis zur Prüfung
von Substanzen auf mutagene Eigenschaften angewandt werden.
Der dritte Abschnitt umfasst Behandlungsprinzipien bei akuten Vergiftungen
und informiert über Informationszentren für Vergiftungsfälle.
Der Dank der Autoren gilt dem Teubner-Verlag, speziell Frau Lektorin Ulrike
Klein und Herrn Ulrich Sandten für die Realisierung. Die Autoren danken
Herrn Professor Dr. Karl Joachim Netter für vielfältige Anregungen, Hinweise
und das Korrekturlesen.

Marburg, im Januar 2006 Die Autoren


Inhaltsverzeichnis

I Theoretische Toxikologie 1
1 Einführung in die Theoretische Toxikologie 3
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie . . . . . . . 3
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie . . . . . 6
1.2.1 Wirkungscharakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.2 Aufgabengebiete der Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.3 Methoden der Toxizitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . 10

2 Toxikokinetik 17
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen . . . . . . . . . . . . 18
2.1.1 Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.1.2 Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.3 Verdauungstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.4 Respirationstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2 Organisation des menschlichen Körpers . . . . . . . . . . 32
2.2.1 Verteilungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2.2 Das zirkulatorische System . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2.3 Der kolloidosmotische“ Druck der Plasmaproteine . . . . 40

2.3 Der Aufbau von Zellmembranen . . . . . . . . . . . . . . 41
2.3.1 Amphiphile Biomoleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.3.2 Vom Erythrozyten zum Membranmodell . . . . . . . . . . 43
2.3.3 Kompartimentierung innerhalb von Zellen . . . . . . . . . 47
2.3.4 Permeabilität von Membranen für toxische Substanzen . . 48
2.3.5 Eintritt in die Zelle durch Pinozytose und Phagozytose . . 56
2.4 Bindung und Speicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.4.1 Plasmaproteine, Hämoglobin und Muskelproteine . . . . . 58
2.4.2 Fettgewebe, Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.4.3 Leber, Niere, Lunge und andere Organe . . . . . . . . . . 61
VIII Inhaltsverzeichnis

2.4.4 Knochengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoff-
wechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.5.1 Phase-I-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2.5.1.1 Das mikrosomale Monooxygenase-System . . . . . . . . . 66
2.5.1.2 Systematik und Nomenklatur von Cytochrom P-450 . . . 68
2.5.1.3 Enzymatische Eigenschaften von Cytochrom P-450, Induk-
tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.5.1.4 Grundtypen der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen 70
2.5.1.5 Flavin-abhängige Monooxygenasen . . . . . . . . . . . . . 73
2.5.1.6 Monoaminoxydase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.5.1.7 Cyclooxygenasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.5.1.8 Dehydrogenasen, Reduktasen . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.5.1.9 Hydrolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.5.2 Phase-II-Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
2.5.2.1 Einfluss des Alters auf die Biotransformation . . . . . . . 86
2.6 Elimination durch Exkretion . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.6.1 Ausscheidung durch die Nieren . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.6.2 Ausscheidung über die Galle . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2.6.3 Ausscheidung durch Sekrete, Schweiß und Milch . . . . . 93
2.6.4 Ausscheidung über die Lungen . . . . . . . . . . . . . . . 94
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . 94
2.7.1 Das Ein-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . . . 95
2.7.2 Das Zwei-Kompartiment-Modell . . . . . . . . . . . . . . 100

3 Toxikodynamik 103
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.1 Der Begriff des Rezeptors . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
3.2 Bindungskräfte am Rezeptor . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3.2.1 Ionenbindung und Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . 108
3.2.2 Van-der-Waals-Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.2.3 Komplexität der Rezeptor-Substrat-Wechselwirkungen . . 110
3.2.4 Kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . 111
3.3.1 Indirekte Rezeptor-Charakterisierung (SAR) . . . . . . . 111
3.3.2 Direkte Rezeptor-Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3.3.3 Molekularbiologische Rezeptor-Charakterisierung . . . . . 116
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . 117
3.4.1 LDR-Kurven-Diskussion, allgemeine Begriffe . . . . . . . 123
Inhaltsverzeichnis IX

3.4.2 Agonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124


3.4.3 Antagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
3.4.3.1 Kompetitive Antagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
3.4.3.2 Nichtkompetitive Antagonisten . . . . . . . . . . . . . . . 126
3.4.3.3 Allosterische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
3.4.3.4 Funktionelle und physiologische Antagonisten . . . . . . . 129
3.4.3.5 Chemische Antagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen . . . . . . . 129
3.5.1 Unspezifische toxische Wirkungen, Zerstörungen von
Zellen und Geweben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
3.5.2 Toxische Einflüsse auf die Blutgerinnung . . . . . . . . . 132
3.5.3 Erythrozyten als Modell für toxische Mechanismen . . . . 136
3.5.3.1 Osmotische Resistenz der Erythrozyten . . . . . . . . . . 137
3.5.3.2 Die Na+ -K+ -ATPase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
3.5.3.3 Der Anionentransporter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
3.5.3.4 Das Hämoglobin als Sauerstofftransporter . . . . . . . . . 145
3.5.3.5 Der Erythrozytenstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3.5.4 Toxische Einflüsse auf das Nervensystem . . . . . . . . . 150
3.5.4.1 Effekte auf die Nervenfasern . . . . . . . . . . . . . . . . 151
3.5.4.2 Effekte am synaptischen Spalt . . . . . . . . . . . . . . . 154
3.5.4.3 Effekte auf die Acetylcholin-Esterase . . . . . . . . . . . . 159
3.5.4.4 Organische Phosphorsäureester (Alkylphosphate) . . . . . 161

II Spezielle Toxikologie 167


4 Toxikologie der Metalle und Metalloide 169
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle . . . . . . . . . 169
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
4.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
4.1.2 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
4.1.3 Kreislauf der Metalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
4.1.4 Ausnutzung der toxischen Wirkung von Schwermetallen und
Metalloiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
4.1.5 Einteilung der Metalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
4.1.6 Transport von Eisen im menschlichen Organismus . . . . 188
4.1.7 Molekulare und ionische Mimikry toxischer Metalle . . . . 192
4.1.8 Metalle im menschlichen Organismus . . . . . . . . . . . . 197
4.1.9 Maßsystem für die akute Toxizität der Metalle . . . . . . 199
4.1.10 Entgiftungsmechanismen für toxische Metalle im
Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
4.1.11 Chelatbildner, Therapie der Schwermetallvergiftung . . . 202
X Inhaltsverzeichnis

4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle . . . . . . . . . . . . . . 206


Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
4.2.1 Blei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
4.2.2 Cadmium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
4.2.3 Chrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
4.2.4 Nickel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
4.2.5 Quecksilber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
4.2.6 Thallium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
4.2.7 Vanadium (Vanadin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
4.2.8 Metalloid Arsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
4.2.9 Eintrag der Metalle in die Umwelt . . . . . . . . . . . . . 256

5 Lösungsmittel 259
Günter Fred Fuhrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
5.2 Toxische Wirkung der Lösungsmittel . . . . . . . . . . . . 260
5.2.1 Lokale toxische Wirkung auf die Haut . . . . . . . . . . . 260
5.2.2 Reizung der Schleimhäute . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
5.2.3 Narkotische Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
5.3 Toxikologische Bewertung von Lösungsmitteln . . . . . . . 264
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen . . . . . . . . . . 268
5.4.1 Einwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
5.4.2 Mehrwertige Alkohole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
5.4.3 Ester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
5.4.4 Ketone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
5.4.5 Alkane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
5.4.6 Halogenierte aliphatische Kohlenwasserstoffe . . . . . . . 279
5.4.7 Aromatische Kohlenwasserstoffe . . . . . . . . . . . . . . 288

6 Toxikologie der Biozide 293


Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
6.1 Insektizide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
6.1.1 Organophosphate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
6.1.2 Carbaminsäureester (Carbamate) . . . . . . . . . . . . . . 298
6.1.3 Pyrethrine und Pyrethroide . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
6.1.4 Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe . . . . . . . . . . . 302
6.2 Herbizide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
6.2.1 Dinitrophenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
6.2.2 Harnstoffderivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
6.2.3 Bipyridylium-Salze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
Inhaltsverzeichnis XI

6.2.4 Natriumchlorat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309


6.2.5 Phenoxycarbonsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
6.2.6 Chlorcarbonsäuren und aliphatische Säuren . . . . . . . . 313
6.2.7 Triazine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
6.3 Fungizide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
6.3.1 Organische Quecksilberverbindungen . . . . . . . . . . . . 317
6.3.2 Organische Zinnverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . 317
6.3.3 Dithiocarbamate, Thiurame . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
6.3.4 Thiadiazine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
6.3.5 Diphenyle, Benzimidazole . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
6.4 Rodentizide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe 323


Wolfgang Legrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
7.1 Rückstände von Bioziden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
7.2 Rückstände von Arzneistoffen . . . . . . . . . . . . . . . . 329
7.3 Rückstände von Duftstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen . . . . . . . . . . 331
7.4.1 Xeno-Östrogene aus Bioziden . . . . . . . . . . . . . . . . 333
7.4.2 Xeno-Östrogene aus Industriechemikalien . . . . . . . . . 334
7.4.3 Xeno-Androgene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
7.4.4 Xeno-Thyroxine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
7.4.5 Phyto-Östrogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
7.4.6 Myko-Östrogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
7.5 Biologische Nachweise von Substanzen östrogener Wirkung 340
7.5.1 Rezeptorbindung (in vitro) . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
7.5.2 E-Screen-Assay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
7.5.3 Reportergensysteme für Östrogene . . . . . . . . . . . . . 342
7.5.4 Vitellogenin-Test (ex vivo) . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
7.5.5 Nagetiere (in vivo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
7.6 Toxizität technischer Produkte . . . . . . . . . . . . . . . 345
7.7 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen . . . . . 346

8 Atemgifte 349
Christian Steffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
8.1 Toxische Effekte auf die äußere Atmung . . . . . . . . . . 349
8.1.1 Toxizität des Sauerstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut . . . . . . 353
XII Inhaltsverzeichnis

8.2.1 Kohlenmonoxid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353


8.2.2 Methämoglobinbildner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
8.2.2.1 Direkte Methämoglobinbildner . . . . . . . . . . . . . . . 355
8.2.2.2 Indirekte Methämoglobinbildner . . . . . . . . . . . . . . 357
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung . . . . . . . . . . 359
8.3.1 Vergiftung durch Cyanwasserstoff (Blausäure) . . . . . . . 359
8.3.2 Vergiftung durch Schwefelwasserstoff . . . . . . . . . . . . 362

9 Karzinogenese 365
Achim Aigner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.1 Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.2 Tumorentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
9.3 Karzinogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
9.4 Genotoxizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität . . . . . . . . 372
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen . . . . . . . . . . . . 379
9.6.1 Direkt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . . . 379
9.6.2 Indirekt genotoxisch wirkende Stoffe . . . . . . . . . . . . 394
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung . . . . . . . . . . 407
9.7.1 Tests auf DNA-Adduktbildung . . . . . . . . . . . . . . . 408
9.7.2 Tests an Mikroorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
9.7.3 Test an Warmblüterzellen (Säugetierzellen) . . . . . . . . 412
9.7.4 Tests am Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418

III Behandlungsprinzipien 421


10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung 423
Thomas R. H. Büch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen . . . . . . . . . 429
10.2.1 Erste Maßnahmen durch den Laien . . . . . . . . . . . . . 430
10.2.2 Asservierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption . . . . . 433
10.3.1 Dekontamination der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
10.3.2 Augenverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
10.3.3 Orale Vergiftung: Entschärfen“ vor der Resorption . . . . 437

10.3.3.1 Gabe von Entschäumern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Inhaltsverzeichnis XIII

10.3.3.2 Aktivkohle-Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438


10.3.3.3 Induziertes Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
10.3.3.4 Magenspülung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption . . . . . . . . . 440
10.4.1 Behandlung mit Antidoten (Gegengiften) . . . . . . . . . 441
10.4.2 Sekundäre Giftentfernung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
10.4.2.1 Forcierte Diurese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
10.4.2.2 Extrakorporale Methoden der Giftelimination . . . . . . . 443
10.5 Informationszentren für Vergiftungsfälle . . . . . . . . . . 444
10.6 Frei zugängliche Informationen im Internet . . . . . . . . 446

Glossar 449

Literaturverweise 461

Index 465
Teil I

Theoretische Toxikologie
1 Einführung in die Theoretische Toxikologie
Günter Fred Fuhrmann

1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie

Toxikologie ist die Lehre von den Giften. Der Begriff Toxikon, toxiκon, stammt
aus dem Griechischen und bedeutet das Pfeilgift. Der Pfeil besteht als Wurf-
geschoss aus einem hölzernen, ganz gerade gestellten Pfeilschaft und einer am
vorderen Ende angebrachten, dreieckigen oder längsovalen Pfeilspitze aus har-
tem Holz, Horn- oder Knochenstücken, Steinsplittern oder Metall. Häufig wur-
den die Pfeilspitzen mit einer Reihe pflanzlicher oder tierischer Gifte versehen,
welche gewöhnlich schnell und sicher den Tod herbeiführten.
Gegenüber den pflanzlichen Pfeilgiften treten die tierischen an Bedeutung und
Zahl zurück. Von letzteren benutzten im Altertum die Skythen verfaultes Men-
schenblut oder einen Auszug aus halbverwesten Schlangen.
Die Pfeilgifte aus Pflanzen können nach ihren verschiedenartigen Wirkun-
gen folgendermaßen eingeteilt werden:

• Erstens in Pfeilgifte, die örtliche Entzündungen hervorrufen, z. B. Ranun-


culus Thora, dessen Wurzelstock schon die Gallier als Pfeilgifte gebrauchten,
außerdem wurde dazu der ätzende Saft von tropischen Wolfsmilchgewächsen
und die in Guyana beheimatete Pflanze Arum venenatum benutzt.

• Zweitens in Pfeilgifte, die die Atmung lähmen, z. B. der Saft einiger Aconitum-
Arten, wie Aconitum ferox, ein höchst wirksames indisches Pfeilgift.

• Drittens in Pfeilgifte mit hemmender Wirkung auf das Herz. Hierfür gelten
z. B. Antiaris toxicaria, Upasbaum auf Java und Borneo, mit dem Glycosid
Antiarin, die in Afrika heimische Acocanthera mit dem sehr giftigen Glyco-
sid Ouabain sowie Strophanthus kombé und Erythrophleum guinense der
Guineaküste mit dem Alkaloid Erythrophlein.
4 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

• Weiterhin Pfeilgifte, die als ausgesprochene Krampfgifte gelten. Dazu gehö-


ren gewisse Strychnos-Arten und der von den Hottentotten benutzte Haeman-
thus toxicarius.

• Letztlich ist das Pfeilgift Curare zu nennen, welches die Muskelkontrak-


tion blockiert. Dieses ist wohl das bekannteste unter den Pfeilgiften, es wur-
de von den Indianern Südamerikas benutzt.

Die Molekularbiologie hat den Rezeptor für das Curare am Muskel aufge-
klärt. Der Rezeptor bildet in der Muskelzellmembran einen Kanal für Kalium-
und Natrium-Ionen, der erst bei der Besetzung mit dem körpereigenen Signal-
stoff Acetylcholin geöffnet wird und den Ionenfluß mit nachfolgender Mus-
kelkontraktion auslöst. Das Curare ist eine Substanz, die mit hoher Affinität
anstelle des Acetylcholins den Rezeptor besetzt und verhindert, dass eine Mus-
kelkontraktion ausgelöst wird. Die Folge ist, dass das vom Curare-Pfeil ge-
troffene Lebewesen zuerst bewegungsunfähig wird. Nachdem eine vermehrte
Speichelsekretion, Kopfschmerzen, Harndrang und Mattigkeit vorangegangen
sind, wird zuletzt die Atemmuskulatur vom Curare gehemmt. Das Lebewesen
erstickt bei vollem Bewusstsein.
Die Substanz, die hier einen grausamen Tod bewirkt, wird in der heutigen
Medizin als Medikament eingesetzt. Die modernen Indianer, die Narkoseärzte,
stehen im Operationsraum und verabreichen mit einer Spritze dem mecha-
nisch beatmeten Patienten Curare (Medikamente aus der Gruppe der Muskel-
relaxantien), um hiermit eine perfekte Muskelerschlaffung für den Operateur
zu erzeugen. Daneben werden noch andere Medikamente verabreicht, die eine
Bewusst- und Schmerzlosigkeit bewirken.
Dem für Jagd und für kriegerische Auseinandersetzungen benutzten Pfeilgift,
Toxikon, steht die Verwendung solcher und anderer Gifte zum Mord gegenüber.
Mord wurde und wird auch heute noch vielfältig durch Gifte praktiziert. In der
Zeit um Christi Geburt wurde Mord durch Vergiften nicht als ein kriminelles
Delikt angesehen. Gegen die Giftdarreichung bestanden oft wenig Bedenken,
weil der Tod dadurch mehr einem natürlichen ähnelte.
Einen tiefsitzenden Eindruck hat die Vergiftung des Sokrates durch das Gift
des Schierlings im Jahre 399 vor Christus auf uns gemacht. Der Giftbereiter un-
terrichtete Sokrates, dass er nach dem Trunk aus dem Schierlingsbecher nichts
weiter zu tun habe als herumzugehen, bis die Beine schwer werden, um sich
dann hinzulegen. Die heute bekannte toxische Wirkung des Schierlings verur-
sacht – durch seinen Gehalt an den Alkaloiden Coniin und Conydrin unter
anderen Giften – eine Lähmung der peripheren Nerven, des Rückenmarks und
des Gehirns. Das Stadium der Muskellähmungen gipfelt in dem Angstgefühl
1.1 Geschichte und Grundbegriffe der Toxikologie 5

der Erstickung, verbunden mit einem Kältegefühl in der Hautdecke. Im Gehirn


versagt zusätzlich das Atemzentrum, so dass der Vergiftete erstickt, während
das Bewusstsein wie bei Curare bis zuletzt erhalten bleibt.
Besonders gefährdet, vergiftet zu werden, waren die mächtigen Regenten und
Eheleute mit reicher Mitgift. Um sich vor einer möglichen Vergiftung mit Nah-
rungsmitteln zu schützen, wurde ein Vorkoster eingesetzt. Eine andere Vor-
sorge, sich gegen Gifte immun zu machen, wird von dem König von Pontos,
Mithridates Eupator, berichtet. Seine Erfindung bestand in der täglichen Ein-
nahme von 54 verschiedenen Giften in kleinen Mengen, um seinen Körper
allgemein unempfindlich gegen Gifte zu machen. Nach seiner Erfindung wird
ein universelles Antidot (Gegengift) auch als ein Mithridatium bezeichnet.
Der Sage nach konnte der in Gefangenschaft geratene König durch Gifte kei-
nen Selbstmord begehen, so dass ihm ein Leibwächter mit dem Schwert das
Leben nehmen musste.
Im Mittelalter erweitert besonders der Schweizer Arzt aus Einsiedeln, Theo-
phrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493 – 1541), un-
sere Vorstellungen über die Giftwirkung. Er verordnete chemisch definierte
Substanzen so erfolgreich als Arzneien, dass er aus Missgunst der Giftmische-
rei bezichtigt wurde. Seine eigene Verteidigung gegen diese Anklage bestand
aus dem heute noch gültigen Satz:

Wenn ihr jedes Gift richtig erklären wollet, was ist dann kein Gift?

Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift,
nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding kein Gift ist.“

Für den menschlichen und tierischen Organismus bedeutet dies, dass die bloße
Anwesenheit einer potentiell giftigen Substanz nicht notwendigerweise auch
zu einer Vergiftung führen muss. Auf die Medizin angewandt gilt, dass jedes
Medikament, welches im Überschuss eingenommen wird, auch ein Gift ist. Ein
anderer wichtiger Beitrag war sein Buch mit dem Titel Bergsucht “ (1533 –

1534), das eine ausführliche medizinische Beschreibung von gewerbsmäßigen
Vergiftungen bei Bergleuten beinhaltet.
Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert entsteht die Toxikologie als eine
wissenschaftliche Disziplin in den Händen von Mattieu Joseph Bonaventura
Orfila (1787 – 1853), einem spanischen Arzt, der einen Lehrstuhl an der Uni-
versität von Paris innehatte. Seine chemischen und biologischen Erkenntnisse
über toxische Wirkungen verdankt er vielen Versuchen an Hunden. Orfila de-
finierte die Toxikologie als die Lehre von den Giften und erklärte sie zu
einer separaten Disziplin. Außerdem schrieb er ein erstes Lehrbuch der To-
xikologie und handelte darin die Gifte nach systematischen Gesichtspunkten
ab.
6 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie

Die Toxikologie wird definiert als die Lehre von den schädlichen Wirkungen
chemischer Substanzen auf lebende Organismen.
Der Begriff Pharmakon, farmaκon, bedeutet von der griechischen etymologi-
schen Wurzel her soviel wie Spruch des Heils- oder aber auch des Schadenszau-
bers. Eine heidnische Zauberformel zum Heilen eines verrenkten Pferdefußes ist
uns in den Merseburger Zaubersprüchen aus dem 10. Jahrhundert überliefert
worden:
ben zi bena – bluot zi bluoda – lid zi geliden sosegelimida sin“.

Im Gegensatz zum Toxikon beinhaltet das Pharmakon beides, den Begriff des
Heilmittel und des Giftes. Wir gebrauchen jedoch heute vorzugsweise den Aus-
druck Pharmakon gleichbedeutend mit Heilmittel oder Medikament.
Pharmakologie ist also die Lehre von den Wirkungen der Heilmittel oder
Medikamente auf gesunde und kranke Organismen, oder allgemeiner abgefasst:
Pharmakologie ist die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen chemischen
Substanzen und lebenden Organismen.
Nach der letzten Definition ist auch die Toxikologie nur ein Teilgebiet der
Pharmakologie.
Als Wirkstoffe bezeichnet man chemische Substanzen, welche in einem le-
benden Organismus biologische Wirkungen hervorrufen, die sich als quantita-
tive und qualitative Veränderungen in diesem Organismus zu erkennen geben.
Neben den Begriffen Gift und Medikament kennen wir noch den wertfreien
Ausdruck Fremdstoff oder Xenobiotikum (Xenos, griechisch, der Fremde).
Zum Nachweis und zur Analyse von biologischen Wirkungen werden physika-
lische und chemische Methoden verwendet, die vorwiegend aus den der Phar-
makologie und Toxikologie benachbarten Disziplinen wie Biochemie, Physio-
logie, Mikrobiologie, Morphologie und Pathologie entnommen worden sind. In
der Wirkungsanalyse nimmt das Experiment an lebenden Organismen eine
Schlüsselstellung ein.

1.2.1 Wirkungscharakteristika
Pharmakologische, xenobiotische und toxische Wirkungen sind durch chemi-
sche Substanzen ausgelöste Veränderungen an Organismen. Sie können sich
direkt am Ort, der Applikationsstelle, auswirken, dann handelt es sich um ei-
ne lokale Wirkung, oder erst nach einer Aufnahme in den Organismus und
Verteilung in demselben manifest werden, dann spricht man von einer sys-
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 7

temischen Wirkung. Eine lokale Wirkung zeigt sich meist sofort an der
Stelle des Organismus, die mit dem Wirkstoff in Berührung gekommen ist, das
geschieht beispielsweise beim Hautkontakt mit Säuren oder Basen. Die mei-
sten Substanzen wirken jedoch systemisch. Da aber die systemische Wirkung
erst die Aufnahme oder Resorption eines Wirkstoffes in den Organismus zur
Voraussetzung hat, wird anstelle von systemischer Wirkung auch der Begriff
resorptive Wirkung verwendet.
Die Einwirkungen auf den Organismus können reversibel oder auch irrever-
sibel sein. Wirken sie sofort, so sind es akute Effekte (acute; engl. plötzlich
auftretend, schnell, heftig verlaufend). Treten sie erst nach längerer Zeit durch
Aufaddieren kleinerer Mengen von Substanzen im Organismus auf, so werden
sie als chronische Effekte (chronic; engl. langsam sich entwickelnde, langsam
verlaufende) bezeichnet.
Die Wirkungsgröße einer toxischen Substanz kann durch drei Parameter
charakterisiert werden:
• die Wirkungsqualität (Art der Wirkung),
• die Wirkungsstärke (Intensität der Wirkung),
• die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung).
Es besteht dabei ein direkter Zusammenhang von Wirkungsstärke und Wir-
kungszeit mit der Konzentration der toxischen Substanz im Organismus. Die
Konzentration der toxischen Substanz kann verhältnismäßig einfach im Blut
gemessen werden. Der Zusammenhang wird in dem folgenden Schema der Ab-
bildung 1.1 wiedergegeben.

1.2.2 Aufgabengebiete der Toxikologie


Das Aufgabengebiet der Toxikologie ist sehr umfangreich, so dass man zweck-
mäßigerweise Unterteilungen vornimmt, zum Beispiel nach der Art der Sub-
stanzen oder den Umständen, unter denen toxische Wirkungen eintreten kön-
nen. Die gewählte Aufzählung ist nicht vollständig und kann beliebig erweitert
werden.

• Umwelttoxikologie
Die Verschmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens ist hauptsächlich
durch die Aktivitäten der Menschen hervorgerufen. Die Rückwirkung auf den
Menschen zwingt uns zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Pro-
blem. Ein positives Beispiel stellen die von den USA ausgegangenen Anstren-
gungen dar, das Bleitetraethyl aus dem Fahrzeugkraftstoff zu entfernen. Dies
hat zu einem deutlichen Rückgang der Umweltbelastung durch Blei geführt.
8 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

4
Invasion Evasion
Konzentration im Blut

3
maximale Wirkung

Wirkung
2
Wirkungs-
stärke minimale Wirkung
1
Wirkungszeit
0
0 25 50
50
tmax Zeit
Abbildung 1.1 Zeitlicher Verlauf der Konzentration einer toxischen Substanz im Blut. Bis
zum Zeitpunkt maximaler Wirkung (tmax ) erfolgt die Invasion der Substanz in den Orga-
nismus, danach die Evasion (Ausscheidung). Die Wirkung tritt auf, wenn die minimale
Wirkkonzentration überschritten ist (Latenz), und endet beim Unterschreiten dieser Kon-
zentration. Der Zeitraum dazwischen ist die Wirkungszeit (Dauer der Wirkung).

Im Grönlandeis konnte in den letzten Jahren eine Abnahme des Bleigehaltes


auf 1/4 gemessen werden.
Ein negatives Beispiel ist unser ungebremstes Konsumverhalten, in dessen Fol-
ge die Bodenschätze aufgebraucht und gleichzeitig riesige Mengen von Abfällen
produziert werden. Diese müssen dann möglichst unschädlich und kostengünstig
entsorgt bzw. abgelagert werden.

• Nahrungsmitteltoxikologie
Die Nahrungsmitteltoxikologie untersucht Schadwirkungen natürlicher und syn-
thetischer Nahrungsmittel. Eine besondere Rolle spielen auch Zusätze wie
Farbstoffe, Konservierungsmittel, Füllstoffe, Emulgatoren und Antibiotika. Au-
ßerdem wird das Trinkwasser auf schädliche Zusatzstoffe getestet.

• Arzneimitteltoxikologie
In der Arzneimitteltoxikologie wird vor der Einführung eines potentiellen Arz-
neimittels in der experimentell-pharmakologischen Phase (vorklinische Phase)
eine gründliche tierexperimentelle Prüfung durchgeführt (Arzneimittelgesetz).
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 9

Diese Prüfung dient der Feststellung, welche möglichen unerwünschten toxi-


sche Wirkungen Nebenwirkungen) das neue Arzneimittel außer der gewünsch-
ten Wirkung besitzt. Auf diese Weise werden erste Hinweise auf die Sicherheit
des potentiellen Arzneimittels gewonnen. Die sogenannte therapeutische Brei-

te“ gibt dabei eine erste Auskunft über den Konzentrationsabstand zwischen
gewünschten und toxischen Wirkungen. Die Haupt- und Nebenwirkungen, die
bei der Anwendung aufgetreten sind, müssen durch exakte experimentelle Un-
tersuchungen möglichst bis hin zur Ebene der Molekularbiologie aufgeklärt
werden.
Beim Abschätzen des toxischen Risikos von Arzneimitteln nehmen neben den
Tierversuchen auch Untersuchungen am Menschen eine besondere Stellung
ein. So werden bereits im frühen Stadium der Entwicklung erste Verträglich-
keitsprüfungen an Gesunden durchgeführt. Neben der Reinheit des Stoffes
(Arzneimittels) sind schließlich die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit die
wichtigen Säulen der Zulassung zum Arzneimittel.

• Klinische Toxikologie
Dieser Zweig der Toxikologie beschäftigt sich mit der Diagnose und Thera-
pie akuter Vergiftungen. Eigens eingerichtete Informationszentren für Vergif-
tungsfälle können Auskünfte und Vorschläge zur Behandlung bei Notfällen
geben. Im Kapitel 10.5 sind die bestehenden Informationszentren für Vergif-
tungsfälle in der Bundesrepublik Deutschland mit 24-Stunden-Dienst aufgeli-
stet. Der Klinischen Toxikologie kommt die Aufgabe zu, neue oder bereits im
Handel befindliche Medikamente am Menschen auf Toxizität zu testen.

• Gewerbetoxikologie
Dieses Teilgebiet umfasst alle Arten der gewerblichen Vergiftungen. Es be-
fasst sich mit akuten und chronischen Vergiftungen durch Arbeitsstoffe, dem
Risiko am Arbeitsplatz und dem Berufskrebs. Besondere Anstrengungen ge-
hen von der modernen chemischen Industrie aus, solche Vergiftungen durch
Vorsorge- und Verhütungsmaßnahmen sowie Toleranzgrenzen für Giftstoffe zu
vermeiden. In industriellen Großbetrieben ist fast immer eine betriebsärztliche
Abteilung vorhanden, die für die medizinische Überwachung der Betriebsan-
gehörigen verantwortlich ist.

• Wehrtoxikologie
Diese Disziplin beschäftigt sich mit atomaren, biologischen und chemischen
Kriegswaffen, den sogenannten ABC-Waffen.

• Toxikologie der Biozide


Der große Bedarf an Nahrungsmitteln kann nur durch Einsatz von Schädlings-
bekämpfungsmaßnahmen erbracht werden. Hierfür werden die sogenannten
10 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

Biozide eingesetzt, zu denen Insektizide, Herbizide, Fungizide, Bakterizide,


Rodentizide, Vermizide etc. gerechnet werden. Der Einsatz solcher Substanzen
birgt nicht unerhebliche Gefahren für den Menschen und die Tiere in sich.

1.2.3 Methoden der Toxizitätsprüfung


Anhand des Eintritts der toxischen Manifestation unterscheidet man an Sub-
stanzen eine:
• akute Toxizität,
• subakute Toxizität,
• chronische Toxizität.
Bei der akuten Toxizität tritt die Wirkung nach einmaligem Kontakt mit
Giftstoffen innerhalb kurzer Zeit auf (maximal 24 Stunden). Intoxikationen,
die akut beginnen, aber weniger heftig und rasch verlaufen, werden vielfach
als subakute Vergiftungen bezeichnet.
Eine chronische Toxizität hingegen äußert sich oft erst nach wochen- oder
monatelanger Schadstoffeinwirkung. Für eine chronische Vergiftung ist charak-
teristisch, dass sie sich unter der Einwirkung von wiederholten kleinen Giftdo-
sen ausbildet, die jede für sich allein nur eine schwache oder gar nicht bemerk-
bare Giftwirkung hervorruft. Im Verlauf von chronischer Gifteinwirkung kann
das Gift im Körper kumulieren.
Eine toxische Wirkung kann man chemisch oder physikalisch messen. Bei einer
akuten Vergiftung mit z. B. Kohlenmonoxid verändert sich das Absorptions-
spektrum des Blutfarbstoffes Hämoglobin, und seine Sauerstoffbindungskapa-
zität nimmt durch die CO-Verdrängung ab. Erst bei einem Gehalt von 30 bis
40 % CO-Hämoglobin treten hierbei klinische Vergiftungssymptome auf. Es
kommt zu Kopfschmerzen, Ohrensausen, Schwindel, Benommenheit, Bewusst-
losigkeit und Pupillenerweiterung. Bei 60 bis 65 % ist eine tiefe Bewusstlosig-
keit erreicht, Krämpfe treten auf, und die Atemlähmung führt schließlich zum
Tod. Wegen der hellroten Farbe des CO-Hämoglobins zeigt der Vergiftete eine
frische, rosige Hautfarbe, die noch nach dem Tode erhalten bleibt.
Quantitativ bestimmen wir bei akuten toxischen Wirkungen die Konzentratio-
nen, die messbare biologische oder toxische Effekte hervorrufen. Diese können
wie beim Hämoglobin durch eine Änderung der Lichtabsorption gemessen wer-
den. Häufiger wird jedoch die Wirkung durch den Prozentsatz der reagie-
renden Individuen ausgedrückt, bei denen sich nach Verabreichung einer
toxischen Substanz ein eindeutiges biologisches Ereignis, wie z. B. Bewusstlo-
sigkeit oder sogar Tod, zeigt. Die toxische Konzentration wird analog zu mol
pro Liter in mol pro kg Körpergewicht angegeben.
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 11

Wenn man die Konzentration einer toxischen Substanz logarithmisch in mol/kg


gegen den Prozentsatz der reagierenden Individuen aufträgt, so erhält man
meist eine S-förmige Kurve. In der Abbildung 1.2 sind auf diese Weise zwei
toxische Ereignisse dargestellt. Die erste Kurve gibt z. B. das Eintreten von
Bewusstlosigkeit als toxische Wirkung und die zweite den Tod als letale Wir-
kung wieder. Aufgrund des Kurvenverlaufes kann aus der graphischen Darstel-
lung die Konzentration am Wendepunkt genau bestimmt werden. Diese gibt
die Halbsättigungskonzentration als TD50 (toxische Dosis = TD) und als
LD50 (letale Dosis = LD) bei einer toxischen und einer tödlichen Wirkung
wieder. TD50 und LD50 sind somit Maßzahlen für toxische Substanzen, die
eine Abschätzung des Risikos ermöglichen. Die Dosis bezieht sich immer auf
ein Volumen, hier auf ein kg Körpergewicht, sie ist daher vom Prinzip her eine
Konzentration und nicht, wie der Name Dosis (gr. Gabe) vermuten lässt, nur
eine Mengenangabe.

100
% reagierender Individuen

toxische letale
Wirkung Wirkung
50

TD50 LD50
0
-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2
log mol/kg

Abbildung 1.2 Dosis-Wirkungskurve

TD50 - und LD50 -Werte von toxischen Substanzen sind beim Menschen nur für
relativ wenige Substanzen genau bekannt (siehe Kapitel 5.4.2). Es existieren
meist nur Einzelbeobachtungen infolge von Vergiftungsfällen oder aufgrund
von Suizidversuchen.
12 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

Genauere Kenntnisse über letale Konzentrationen besitzen wir dagegen aus


Tierversuchen. Die am meisten verwendeten Tierarten sind weiße Mäuse und
Ratten, aber auch Meerschweinchen, Kaninchen oder andere Tiere. Das Ver-
suchsergebnis ist besser gesichert, wenn man mehrere Tierarten einsetzt, da
die toxische Wirkung von Tierart zu Tierart quantitativ variieren kann. Die
Übertragung der Ergebnisse von Tierversuchen auf den Menschen ist prinzipiell
möglich, aber schwierig. Höhere Säugetiere besitzen hinsichtlich der Anatomie,
Biochemie und Physiologie große Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit
dem Menschen. Daher stimmt auch grundsätzlich der Verlauf von Vergiftun-
gen bei Mensch und Tier überein. Ein Problem bei der Übertragung vom Ver-
suchstier auf den Menschen, wie auch schon zwischen verschiedenen Tierarten
beschrieben, liegt jedoch in der oft vorhandenen quantitativ unterschiedlichen
Empfindlichkeit. Diese Unterschiede betreffen meist die Geschwindigkeit der
Aufnahme, des metabolischen Abbaus und der Ausscheidung der toxischen
Substanz.
Für den Vergleich der Toxizität zweier verschiedener toxischer Substanzen an-
hand von z. B. LD50 -Werten müssen weiter die chemische Form der Substanz,
die Tierart, das Geschlecht sowie Alter des Tieres und die Art der Aufnah-
me in Betracht gezogen werden. Die zu prüfende Substanz kann den Tieren
auf verschiedene Weise verabreicht werden. Eine Aufnahme mit der Nahrung
oder durch die Schnauze nennt man oral (or : durch den Mund, per os, po),
eine Applikation mit einer Spritze in die Bauchhöhle injiziert heißt intraperi-
toneal (ip), eine Verabreichung auf die Haut dermal, unter die Haut gespritzt
subcutan (sc) und eine Injektion in die Vene intravenös (iv ). Es liegt auf der
Hand, dass eine direkt in die Vene und damit in die Blutbahn injizierte Sub-
stanz toxischer wirkt als eine oral applizierte Substanz, die erst vom Darm
aufgenommen und mit dem Blut verteilt wird.
Neben der Angabe LD50 für eine Substanz ist also der Verabreichungsweg sowie
die Tierart wichtig. Folgende Beispiele seien aufgeführt:
• LD50 (ip, Maus) = die Dosis (mol/kg), die 50 % der Mäuse nach intraperi-
tonealer Verabreichung tötet.
• LD50 (or, Ratte) = die Dosis (mol/kg), die 50 % der Ratten nach oraler
Verabreichung tötet.
Da die LD50 -Werte über mehrere Zehnerpotenzen variieren können, wurde der
Begriff der potentiellen Toxizität (pT50 ) eingeführt (T. D. Luckey und B.
Venugopal, 1977). Dabei ist (T) die molare Konzentration einer Substanz in
mol/kg Körpergewicht. Analog dem pH-Konzept gilt:
• pT = - log (T) und LD50 = T50 , somit ergibt sich
• pT50 = - log (LD50 ).
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 13

Eine toxische Substanz mit einer LD50 von 0,001 mol/kg besitzt dann eine T50
von 10−3 oder eine pT50 von 3. Durch diese Definition lassen sich toxische Sub-
stanzen übersichtlich in Klassen einteilen. Tabelle 1.1 gibt eine toxikologische
Interpretation dieser pT50 Klassen wieder.

Tabelle 1.1 Toxikologische Interpretation der pT50 Klassen

Klassen pT50 mol/kg Körpergewicht LD50 oral


super-toxisch 6 0,000 001
extrem-toxisch 5 0,000 01
hoch-toxisch 4 0,000 1
mäßig-toxisch 3 0,001
gering-toxisch 2 0,01
praktisch nicht toxisch 1 0,1
relativ harmlos 0 1
harmlos -1 10

Für die Beurteilung der akuten Toxizität spielen weiterhin die Prüfungen der
Substanz auf reizende und ätzende Eigenschaften und auf Allergisierung
(Sensibilisierung) der Haut eine wichtige Rolle. Unter diesen Prüfungen sind
Tests auf Haut- und Augenreizung sowie auf eine Sensibilisierung beim Einat-
men oder bei Hautkontakt zu verstehen. Die Allergisierung der Haut besitzt
einen hohen Stellenwert bei der Beurteilung der Toxizität, da eine einmal er-
folgte Sensibilisierung gegenüber einer bestimmten Substanz in der Regel zu
einer langdauernden oder sogar irreversiblen Allergisierung bei erneutem Kon-
takt führt.
Tabelle 1.2 zeigt eine Übersicht von unterschiedlichen toxischen Substanzen,
die Mäusen intraperitoneal injiziert wurden (aus Luckey und Venugopal, 1977).
An der Spitze steht das höchsttoxische Botulinus-Toxin und am Ende die prak-
tisch nicht-toxische Substanz Natriumchlorid
Das Deutsche Chemikaliengesetz sowie internationale Prüfungsempfehlungen
schreiben vor, dass nach Feststellung der akuten Toxizität mit Bestimmung
der LD50 auch die Wirkung der Substanz in Langzeitversuchen festgestellt
werden muss. Die Prüfung auf subakute Toxizität hat grundsätzlich an einer
Nagetierart über eine Dauer von mindestens 28 Tagen zu erfolgen. Diese Versu-
che dienen auch zur Festlegung des Konzentrationsbereiches für längerfristige
Versuche. Im einzelnen sollen folgende Ziele erreicht werden:

• Erkennung des toxikologischen Wirkprofiles,


• Bestimmung des Zielorganes der toxischen Substanz,
• Klärung der Reversibilität der aufgetretenen Effekte.
14 Kapitel 1 Einführung in die Theoretische Toxikologie

Tabelle 1.2 Übersicht unterschiedlicher toxischer Substanzen, die Mäusen intraperitoneal


injiziert wurden (aus Lucky und Venugopal, 1977). An der Spitze steht das höchsttoxische
Botulinus-Toxin und am Ende die praktisch nicht toxische Substanz Natrium-Chlorid.

Substanzen mg/kg mol/kg pT50


Botulinustoxin D 3, 20 · 10−7 3, 2 · 10−16 15,49
Tetanustoxin 1, 67 · 10−6 2, 53 · 10−14 13,60
Saxitoxin 3, 40 · 10−3 9, 14 · 10−9 8,04
Strychnin 0,98 2, 93 · 10−6 5,53
Hg (II)-Chlorid 5 1, 84 · 10−5 4,74
Natrium-Arsenat 9 5, 49 · 10−5 4,26
Thalliumchlorid 24 1, 00 · 10−4 4,00
Cyanwasserstoff 3 1, 11 · 10−4 3,95
Morphin 285 9, 99 · 10−4 3,00
Coffein 250 1, 29 · 10−3 2,95
Natriumfluorid 125 2, 98 · 10−3 2,53
Natriumchlorid 2, 60 · 103 4, 45 · 10−2 1,35

Die chronische Toxizität wird meist an zwei Tierarten mit ähnlichen biologi-
schen Eigenschaften wie der Mensch, in drei verschiedenen Konzentrationen in
einem Zeitraum von drei Monaten bis zu sieben Jahren, je nach Problemstel-
lung, getestet. Die Ermittlung von Wirkungsschwellen bezüglich der chro-
nischen Toxizität in Tierversuchen ist äußerst schwierig, da neben den noch
gerade wirksamen Konzentrationen (lowest observed effect level, LOEL) auch
die Konzentrationen bestimmt werden müssen, bei denen alle Effekte ausblei-
ben (no observed effect level, NOEL).
Das Ausbleiben toxischer Effekte kann nur durch Wahrscheinlichkeiten ausge-
drückt werden und erfordert eine sehr große Anzahl von Versuchstieren. Au-
ßerdem lässt sich wegen der unterschiedlichen Ansprechbarkeit verschiedener
Spezies eine absolute Sicherheit für eine Substanz nicht ableiten.
Der Gesetzgeber ist bestrebt, toxische Risiken durch Gesetze und Verordnun-
gen so gering wie möglich zu halten (acceptable daily intake, ADI-Werte).
Biozide sind in der Regel leichter als Ursache von Vergiftungen zu ermitteln
als der Zusatz toxischer Substanzen zu Nahrungsmitteln.
Die Festlegung von maximalen Arbeitsplatz-Konzentrationen, MAK-Werte,
bei deren Einhaltung in 8-Stunden-Schichten die Gesundheit auch bei langfris-
tiger Beschäftigung nicht beeinträchtigt werden soll, sind ebenso ein wichtiger
Beitrag zum GEsundheitaschutz wie die Festlegung von maximalen Immissions-
Konzentrationen, MIK-Werte, sowie von Biologischen Arbeitsstoff-Toleranz-
werten, BAT-Werte bestimmter Stoffe. Bei den letzten Werten handelt es sich
um Konzentrationen von Substanzen im Organismus selbst. Für Quecksilber
im Urin wurde z. B. die obere Grenze von 30 mg/Liter festgelegt.
1.2 Definitionen von Toxikologie und Pharmakologie 15

Ein Problem bereiten Substanzen, die für den Menschen karzinogen (krebserre-
gend) wirken. Hier können überhaupt keine Unbedenklichkeitsgrenzen festge-
legt werden, da nach unseren derzeitigen Erkenntnissen keine Schwellenkonzen-
trationen für karzinogene Substanzen existieren, unterhalb derer eine Expositi-
on ungefährlich ist. Unter Berücksichtigung der technologischen Möglichkeiten
sowie sozioökonomischen Gegebenheiten wurden für solche Stoffe Technische
Richtkonzentrationen, TRK-Werte, eingeführt.
Karzinogene sind im engeren Sinne solche Substanzen, die eine Umwandlung
von normalen Zellen in Tumorzellen bewirken (siehe Kapitel 9). Die karzinoge-
ne Wirkung beruht auf einer chemischen Veränderung des genetischen Materi-
als. Aufgrund des genotoxischen Effektes kann man eine karzinogene Wirkung
auch als mutagen bezeichnen. Erfahrungsgemäß besteht zwischen der ersten
Exposition mit einer Chemikalie und der Manifestation der karzinogenen Wir-
kung beim Menschen eine lange Latenzzeit von etwa 8 bis 20 Jahren. Ein
typischer Fall hierfür war das bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschriebe-
ne Karzinom der Harnblase bei Anilin-Arbeitern. Eine im Anilin vorhandene
Verunreinigung, das b-Naphthylamin, reagierte dabei mit Zellen der Harnblase
und führte nach etwa 8 bis 17 Jahren zu bösartigen (malignen) Tumoren.
Um das Risiko einer karzinogenen Wirkung beim Menschen zu senken, ist be-
sonders eine frühe Erkennung des Gefährdungspotentials chemischer Substan-
zen erstrebenswert. Im Tierversuch ist die Erfassung einer karzinogenen Wir-
kung prinzipiell möglich, aber mit einem außerordentlich hohen Aufwand an
Zeit, Arbeit, Anzahl von Tieren und Kosten verbunden. Es hat daher nicht an
Anstrengungen gefehlt, zusätzlich neue Testmethoden zu entwickeln, um Aus-
sagen über eine mögliche mutagene und karzinogene Potenz einer Substanz zu
machen. Dies ist auch tatsächlich durch eine Reihe sogenannter Short-Term

Tests“, wie z. B. dem Mutagenitätstest nach Ames an Bakterien, gelungen
(siehe Kapitel 9.7). Keiner dieser Tests kann jedoch eine sichere Aussage über
eine potentielle gentoxische Wirkung beim Menschen machen, aber durch eine
Kombination mehrerer geeigneter Tests kann die Richtigkeit einer Früherken-
nung erheblich gesteigert werden. Es werden sowohl Genmutationen als auch
Chromosomenaberrationen bei diesen Short-Term-Tests“ erfasst.

Zur Prüfung einer möglichen Schädigung der Reproduktionsfähigkeit oder der
Fertilität durch chemische Substanzen werden Studien über mehrere Genera-
tionen durchgeführt und es wird die Anzahl der jeweiligen Nachkommenschaft
bestimmt. Die heranwachsenden Jungtiere werden ebenfalls überprüft, um ei-
ne mögliche Übertragung der toxischen Wirkung über den Mutterleib zu er-
kennen. Diese Versuchsanordnung erlaubt Aussagen über toxische Wirkungen
während der fötalen Organentstehung und damit über teratogene Wirkun-
gen (fruchtschädigende, von griechisch teras, Schreckbild, Ungeheuer).
2 Toxikokinetik
Günter Fred Fuhrmann

Die Wirkung einer toxischen Substanz ist meist die Folge zahlreicher physika-
lisch-chemischer Prozesse, die sich in einem lebenden Organismus abspielen. In
der Regel lässt sich dabei eine Reaktionskette beschreiben, in der sich drei
Anteile erkennen lassen:

• die Expositionsphase,
• die toxikokinetische Phase,
• die toxikodynamische Phase.

Über die Umwelt sind Organismen ständig dem direkten Kontakt mit potentiell
toxischen Xenobiotika ausgesetzt. Zusätzlich können toxische Stoffe mit der
Nahrung, dem Trinkwasser und der eingeatmeten Luft aufgenommen werden.
Ob es zu Vergiftungen oder Schädigungen kommt, hängt davon ab, wie leicht
die Schadstoffe aufgrund ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften
von der Haut, den Lungen oder dem Magen-Darm-Trakt in den Organismus
aufgenommen werden.
Die Expositionsphase bildet die Grundlage für die zweite Phase, die to-
xikokinetische Phase, und aller invasiver Teilprozesse in Richtung auf den
Wirkort.
Hier am Wirkort läuft die dritte, die toxikodynamische Phase ab. Es erfolgt
am Wirkort meist eine reversible Reaktion mit einem rezeptiven, funktionellen
Teil (Rezeptor) des Organismus.
Neben der Invasion stellt die Evasion einen zweiten Teilprozess der toxikoki-
netischen Phase dar. Bereits durch Bindung und Speicherung der toxischen
Substanz erfolgt ein Abtransport vom Wirkort. Hauptsächlich wird durch
den Stoffwechselumsatz (Biotransformation) und die Exkretion eine wirksa-
me Konzentrationsminderung der toxischen Substanz am Wirkort erreicht.
Ein lebender Organismus lässt sich auf die einfachste Weise als ein black-

box-System“ darstellen. Es handelt sich um ein offenes dynamisches System
mit einem Zufluss und einem Abfluss (Abbildung 2.1).
18 Kapitel 2 Toxikokinetik

Organismus
Bindung

Stoffwechsel
Zufluss Verteilung WIRK- Abfluss
Aufnahme ORT Aus-
scheidung
Exkretion
Speicher

INVASION EVASION
Abbildung 2.1 Schematische Darstellung von Bewegungsvorgängen in einem Organismus.

Die Toxikokinetik, die in diesem Abschnitt behandelt wird, beschreibt also


Bewegungen toxischer Substanzen in Bezug auf ihren Wirkort. Diese einfache
Reaktionskette ist in der Realität erheblich komplizierter durch das Vorhan-
densein mehrerer Wirkorte von unterschiedlicher Qualität und Quantität. Um
das Verständnis der toxikokinetischen Mechanismen zu erleichtern, soll hier
nur eine vereinfachte Reaktionskette in Richtung auf den Wirkort und vom
Wirkort weg beschrieben werden.
Zum Abschluss dieses Kapitels werden mathematische Modelle behandelt, wel-
che das Zusammenspiel von Invasion und Evasion in einzelnen Körperabschnit-
ten und sogar im gesamten Organismus wiedergeben können.

2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen

Die Expositionsphase wird umrissen mit der Hinbewegung einer toxischen Sub-
stanz zu den Resorptionsflächen eines lebenden Organismus. Neben den phy-
sikalischen Größen wie Zeit und Temperatur ist die biologische Beschaffenheit
der Resorptionsoberflächen von großer Bedeutung für die Aufnahme der Sub-
stanzen in den Organismus.
Die Größenverhältnisse der Aufnahmeflächen des Menschen gibt Abbildung
2.2 maßstabgerecht wieder.
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 19

Abbildung 2.2 Aufnahmeflächen des Menschen. In der Mitte ein erwachsener Mensch und
im gleichen Maßstab dazu die Oberflächen von Lungen, Haut und Magen-Darm-Trakt.

Die im Verhältnis zur Körpergröße des Menschen großen inneren Oberflächen


sind notwendig, um den Stoffaustausch zu gewährleisten. Die Austauschfläche
der Lungen ist wichtig für die Sauerstoffaufnahme und die Kohlendioxidabga-
be. Es werden hierbei dieselben Wege für beide Vorgänge benutzt. Der Magen-
Darm-Trakt fungiert als Einwegkanal für die Aufnahme von fester und flüssiger
Nahrung sowie für die Ausscheidung von Stoffwechselschlacken und Exkremen-
ten. Im Gegensatz zu Lungen und Magen-Darm-Trakt hat die Haut nur eine
auffallend geringe Oberfläche. Sie steht in unmittelbarem Kontakt mit der
Umwelt und hat daher einen mehr protektiven Charakter. Sie ist außerdem
verantwortlich für den Wärmehaushalt und kann auch durch Schweißbildung
Wasser und Salze ausscheiden.
Ganz allgemein gilt, dass eine toxische Wirkung erst dann eintreten kann,
wenn eine Aufnahme stattgefunden hat, die zu einer toxischen Konzentration
der Substanz am Wirkort geführt hat. Dies gilt jedoch nicht für einen radioak-
tiven Emittenten mit einer ausreichenden Eindringtiefe, der bereits von außen
Gewebeschädigungen bewirken kann.
Wegen ihrer großen Bedeutung für die Aufnahme wird die Beschaffenheit
der wichtigsten Resorptionsflächen des Menschen im Zusammenhang mit den
physikalisch-chemischen Eigenschaften einiger toxischer Substanzen dargestellt.
20 Kapitel 2 Toxikokinetik

2.1.1 Haut
Die Haut, welche den Körper eines Erwachsenen bedeckt, hat eine Oberfläche
von rund 1,8 m2 . Sie trennt durch ihren Aufbau den Menschen von seiner Um-
gebung, da sie nur eine geringe Durchlässigkeit (Permeabilität) besitzt. Auf die
äußere Epidermis folgt das Korium oder die Lederhaut, und darunter liegt die
aus lockerem Bindegewebe und mehr oder minder reichlichem Fettgewebe auf-
gebaute Verschiebeschicht gegen die Unterlage, die Subcutis oder Unterhaut.

Abbildung 2.3 Aufbauschema der Haut mit Horn- und Keimschicht (Epidermis), Lederhaut
(Korium) und Unterhautgewebe (Subcutis). Haarfollikel und Schweißdrüsen durchbrechen
die Keim- und Hornschicht. In der Lederhaut und im Unterhautgewebe befinden sich die
Blutgefäße (Arterien, Venen) und Nerven mit Nervenendigungen Nervenpapille, Nerven-
endkolben etc.). Nach Brockhaus.

Das Haupthindernis für den Eintritt von Substanzen ist die dicke Hornschicht
(Stratum corneum) mit ihrem relativ geringen Wassergehalt von 5 bis 10 %
als oberste Schicht der Epidemis. Die unterste Schicht der Epidermis ist die
Keimschicht, sie zeigt die höchste metabolische Aktivität aller Hautschichten.
Sie kann sowohl körpereigene Substanzen als auch Fremdstoffe metabolisieren.
Im Korium und in der Subcutis befinden sich kapillare Blutgefäße, die für den
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 21

Abtransport von toxischen Substanzen in das Kreislaufsystem verantwortlich


sind.
Die Hornschicht wird von Haarfollikeln und den Ausführungsgängen der
Schweißdrüsen durchbrochen. Grundsätzlich kann die Aufnahme einer toxi-
schen Substanz durch die Follikelschächte, durch die Schweißdrüsengänge und
durch die Hornschicht erfolgen. Der Anteil der ersten beiden Eintrittspforten
wird jedoch nur auf 0,1 bis 1 % der Hautoberfläche geschätzt. Diese kleinen
Eintrittspforten können von Bedeutung sein für den schnellen Eintritt kleiner
Mengen hydrophiler, hochtoxischer Gifte.
Die Hornschicht besitzt den Charakter einer mehrschichtigen Lipidmembran.
Während für die Passage durch die unteren Schichten und für den Eintritt in
die Blutgefäße eine Hydrophilie benötigt wird, erfordert die Hornschicht eine
lipophile Löslichkeit der Substanzen. Die allermeisten Chemikalien müssen die
Hornschicht passieren, die zu erreichende Aufnahme-Konzentration wird also
durch die flächenmäßige Ausdehnung dieser Schicht bestimmt. Dabei penetrie-
ren kleine Moleküle schneller als größere, während hydrophile, hochmolekulare
Substanzen wenig oder nicht aufgenommen werden.
Die Permeabilität durch die Hornschicht, die Hauptbarriere in der Haut, lässt
sich in guter Näherung durch das Fick´sche Diffusionsgesetz beschreiben:

dm/dt = Kd · Vk · (Hautoberfläche/Dicke der Hornschicht) ·∆c

Wobei dm/dt die Aufnahmegeschwindigkeit der Menge der penetrierenden


Substanz (m) in der Zeit (t) ist. Kd ist die Diffusionskonstante der Substanz,
Vk deren Verteilungskoeffizient (Verhältnis der Konzentration in der Lipidpha-
se zur Konzentration in der Wasserphase) und ∆c die Konzentrationsdifferenz
der Substanz zwischen der Oberfläche und der Innenfläche der Hornschicht.
Das Diffusionsgesetz veranschaulicht sehr deutlich, dass die Aufnahmegeschwin-
digkeit einer lipophilen Substanz direkt proportional der Hautoberfläche und
umgekehrt proportional der Dicke der Hornschicht ist. Das heißt mit anderen
Worten, die Gefahr einer Vergiftung ist umso größer, je größer das kontami-
nierte Hautareal und je dünner die Hornschicht ist.
Die Hornschicht ist verschieden dick, am dicksten dort, wo sie am stärksten
beansprucht wird. An den Fußsohlen, Handtellern und den Innenseiten der
Finger kann sie eine Dicke von 400 bis 600 mm gegenüber von nur 8 bis 15 mm
an Armen, Beinen und am Körper besitzen. Beim Mann hat die Haut des
Skrotums und bei der Frau die der kleinen Labien die dünnste Hornschicht
und ist damit am besten permeabel.
22 Kapitel 2 Toxikokinetik

Bei Kindern kommt das im Vergleich zum Erwachsenen größere Verhältnis von
Oberfläche zu Körpergewicht zur Geltung. So resultieren beim Neugeborenen,
unter ähnlichen Aufnahmebedingungen wie beim Erwachsenen, etwa dreifach
höhere Konzentrationen im Organismus.
Eine Reihe von lipophilen Chemikalien können die Haut in ausreichender Men-
ge penetrieren und eine systemische toxische Wirkung verursachen. Hierzu
gehören neben vielen anderen Verbindungen z. B. organische Phosphate als
Nervengase, verschiedene nicotinische Insektizide, Phenole, Tetrachlorkohlen-
stoff, metallorganische Verbindungen wie Bleitetraethyl und Karzinogene.
Die Epidermis mit ihrer Hornschicht hat nicht nur eine Barrierefunktion für
viele Substanzen, sie übt auch wegen des niedrigen pH-Wertes, der zwischen
4,2 und 6,5 liegen kann, eine Schutzfunktion gegen Bakterien aus.
Wird die Hornschicht zerstört oder mechanisch abgetragen, können hydrophi-
le und lipophile Substanzen die Haut gleichermaßen penetrieren. Dies kann
z. B. durch scheuernde Reinigungsmittel bewirkt werden oder durch organi-
sche Lösungsmittel wie Benzin oder Terpentin, die die schützende Fettschicht
entfernen (siehe Kapitel 5). Auf der Haut führen Phenole zu einer Unempfind-
lichkeit, was die Gefahr der Vergiftung durch Resorption begünstigt. Selbst
schwere Schorfbildungen lösen dabei keine Schmerzen aus. Dringen die Pheno-
le in tiefere Schichten ein, so kommt es durch Gefäßschädigung zum Auftreten
einer typischen Phenolgangrän (Gangrän, gr. fressendes Geschwür). Mit Sali-
cylsäure kann die Hornschicht infolge ihrer keratolytischen Wirkung (Kerat,
gr. Horn) aufgelöst werden. Dies wird z. B. bei der Hühneraugenentfernung mit
Salicylsäure kosmetisch ausgenutzt.
Die beschädigte Haut ist schließlich auch die Eintrittspforte für Substanzen,
die als Allergene wirken und damit das Risiko einer Allergie erhöhen.

2.1.2 Schleimhäute
Im Vergleich zur Aufnahme von toxischen Substanzen durch die Haut ist
die Aufnahme durch die Schleimhäute wesentlich intensiver, da eine Barrie-
re ähnlich der Hornschicht nicht vorhanden ist. Wie bei der Haut werden aber
Chemikalien mit lipophilen Eigenschaften bevorzugt. Im allgemeinen haben
Schleimhäute den Charakter einer Lipidmembran mit Poren, so dass sie auch
für hydrophile Substanzen beschränkt durchlässig sind.
Verschiedene toxische Substanzen können über die Schleimhäute der Nase, des
Mund-Rachen-Raumes, der Bindehaut der Augen, der Harnleiter, der Blase
oder der Scheide in den Blutkreislauf gelangen und systemische toxische Wir-
kungen verursachen. So wurden z. B. bei Blasenspülungen mit Borsäurelösung
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 23

tödliche Vergiftungen beobachtet. Arsenik wurde früher zu Mordzwecken in


die Scheide eingebracht, Kokainsüchtige benutzen oft die Nasenschleimhaut
als Resorptionsfläche.

2.1.3 Verdauungstrakt
Eine Reihe von Umweltgiften gelangen mit der Nahrung in den Verdauungs-
trakt und können von dort her in den Organismus aufgenommen werden. Sche-
matisch kann der Verdauungstrakt als ein den Organismus durchziehender
Kanal angesehen werden. Die Aufgaben des Kanals bestehen in der Aufnah-
me, der Zerkleinerung, der Fortbewegung und der Verdauung der Nahrung.
Die Verdauung erfolgt mit Hilfe der Magensäure, der Verdauungsenzyme und
der bakteriellen Darmflora. Die dabei entstehenden Produkte werden entwe-
der von der Darmschleimhaut aufgenommen oder aber als Exkrete mit den
Faeces, den aus der Verdauung übrigbleibenden Massen, eliminiert. Toxische
Substanzen können ebenfalls in veränderter Form wie die Nahrungsprodukte
oder aber auch unverändert vom Verdauungstrakt aufgenommen oder ausge-
schieden werden.
Von der Größe der resorbierenden Fläche imponiert am meisten der Dünn-
darm. Mit 100 bis 200 m2 erreicht die Fläche die Größe eines Tennisplatzes.
Danach folgen ebenfalls aus Schätzwerten der Dickdarm mit 0,5 bis 1 m2 , der
Magen mit 0,1 bis 0,2 m2 , während der Mastdarm nur 0,04 bis 0,07 m2 und
die Mundhöhle etwa 0,02 m2 misst.
Wie die Größenverhältnisse bereits andeuten, ist die Dünndarmschleimhaut
von größter Bedeutung für die Aufnahme (Abbildung 2.4). Die große Ober-
fläche wird durch zwei Bauprinzipien erreicht. Erstens bilden die Schleimhaut
(Mucosa) und die darunter liegende Schicht der Submucosa ringförmige Quer-
falten (nicht gezeigt), die Plicae circulares, die an Zahl und Größe analwärts
abnehmen, und zweitens erheben sich auf diesen und in ihren Zwischenräum-
en etwa 1 mm hohe Zotten (Villi intestinales), die ebenfalls analwärts weniger
werden. Die Gesamtzahl der Zotten wird auf etwa 4 bis 5 Millionen geschätzt.
Die resorbierende Zellschicht der Dünndarmschleimhaut ist hauptsächlich das
einschichtige Zottenepithel, ein metabolisch äußerst aktives Zellgewebe. Wird
diese Zellschicht durch toxische Substanzen geschädigt, so werden die Zellen
in den Darm abgestoßen, und das Zellepithel kann sich innerhalb von 2 bis 3
Tagen regenerieren. Auf diese Weise können z. B. in das Zottenepithel aufge-
nommene und dort gespeicherte toxische Metalle mit den Faeces ausgeschie-
den werden. Ein anderer physiologischer Schutzeffekt, der durch eine Reizung
der Darmschleimhaut hervorgerufen wird, führt zu schneller Darmpassage und
zum Abführen der toxischen Substanz (Diarrhöe).
24 Kapitel 2 Toxikokinetik

Abbildung 2.4 Schnitt durch die menschliche Dünndarmwand mit Schleimhaut (Zotten) und
Muskelschichten. Die Zotten zeigen von links nach rechts jeweils das Nervengeflecht, die
Lymphgefäße, die arteriellen und venösen Blutgefäße. Die Muskelschichten enthalten die
zu- und ableitenden Blut- und Lymphgefäße sowie die Nervenversorgung (submucöser Ner-
venplexus, Plexus myentericus) und werden nach unten von der Bauchfellschicht (Serosa
mit Peritonaeum) begrenzt. Nach Bell et al. 1965, Textbook of Physiology and Biochemistry.

Im Zottenepithel eingelagert sind schleimbildende Zellen. Zwischen den Zot-


tenwurzeln befinden sich kleine Darmdrüsen, die mit ihrem Sekret ebenfalls
einen wesentlichen Beitrag zur Bildung des Darmsaftes liefern. Der Dünndarm-
saft enthält neben Elektrolyten zahlreiche Enzyme, die besonders den Abbau
der polymeren Kohlenhydrate und Proteine vollenden. Täglich werden vom
Verdauungstrakt etwa 1,5 Liter Speichel, 1 bis 1,5 Liter Magensaft, 1,2 Liter
Pankreassaft, 0,5 bis 1 Liter Gallenflüssigkeit und eine nicht genau bekann-
te Menge Dünndarmsaft gebildet. Insgesamt schätzt man, dass die Verdau-
ungssäfte 8 Liter pro Tag übersteigen können. Aus dieser Flüssigkeit werden
im Dünndarm gelöste niedermolekulare Substanzen mit dem Wasser und im
Dickdarm bevorzugt nur das Wasser resorbiert.
Die Resorption toxischer Substanzen vom Verdauungstrakt wird von einer
Vielzahl von Faktoren bestimmt. Von seiten der Substanz ist deren Lipo-
philie, Molekülgröße und ihr Dissoziationsgrad entscheidend. Auf der Seite
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 25

des Magen-Darm-Traktes spielen neben den Oberflächen die Durchblutung,


die Passagezeit, die Nahrungsaufnahme und die unterschiedlichen pH-Werte
in den verschiedenen Abschnitten eine Rolle. Den wesentlichsten Einfluss auf
die Aufnahme einer toxischen Substanz hat ihre Lipophilie. Verallgemeinernd
kann man die Auskleidung des Verdauungstraktes mit einer Lipidmembran
vergleichen, die lipophile Substanzen leicht passieren lässt.

Der Mageninhalt ist stark sauer (pH-Wert zwischen 1,5 bis 3), so dass sehr
schwache Basen und schwache Säuren wegen ihrer Lipophilie bereits hier auf-
genommen werden können. Wegen der relativ kleinen Oberfläche des Magens
ist jedoch diese Aufnahme im Vergleich zum Dünndarm von untergeordneter
Bedeutung.

Der pH-Wert im Dünndarm reicht vom Zwölffingerdarm ausgehend bis in die


tieferen Dünndarmabschnitte von schwach sauer bis schwach alkalisch. Daher
können sowohl schwache Säuren als auch schwache Basen eine ausreichende
Konzentration in der nichtionisierten und damit in der resorbierbaren, lipo-
philen Form erreichen.

Die Diffusion von kleinen hydrophilen Molekülen durch die Darmwand erklärt
man durch Kanäle oder Poren, die von den Membranproteinen der Epithelzel-
len gebildet werden. Die Geschwindigkeit der Permeation hängt vom Konzen-
trationsgradienten ab und nimmt mit abnehmender Molekülgröße zu. Außer-
dem können Moleküle mit einem größeren Durchmesser als dem der Poren auch
noch über zwischenzelluläre Verbindungen permeieren, über die sogenannten
tight junctions“. Für die Epithelzellen des Dünndarmes hat man mit Hilfe

von Testmolekülen einen mittleren Porenradius von 0,3 bis 0,4 nm ermittelt.

Es gibt ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit der Membran des Dünndarmes
als eine effektive Barriere gegen bestimmte hydrophile toxische Substanzen:
Das hydrophile Pfeilgift Curare kann wegen seiner Molekülgröße und seiner
Ladung nicht durch den Darm aufgenommen und somit das damit kontami-
nierte Tierfleisch risikolos verzehrt werden.

Die Resorptionsverhältnisse im Dickdarm entsprechen qualitativ denen des


Dünndarmes, jedoch ist die Resorptionsfläche wegen des Wegfalls der Zotten
kleiner und daher auch die Resorptionsleistung deutlich geringer.

Nach der Aufnahme gelangen die toxischen Substanzen in das zirkulatorische


System des Blutkreislaufes. Ein direkter Weg führt über die Pfortader zur
Leber. Dort können die Substanzen bei entsprechenden Eigenschaften meta-
bolisiert werden.
26 Kapitel 2 Toxikokinetik

2.1.4 Respirationstrakt
Für die Resorption durch die Lungen sind besonders gasförmige Substanzen
geeignet. Es können jedoch auch flüssige und feste Substanzen aufgenommen
werden, wenn sie in feinverteilter Form als Aerosol vorliegen. Viele toxische
Substanzen gelangen als Aerosole in den Organismus. Von seinen Funktionen
her kann der Respirationstrakt in drei Abschnitte eingeteilt werden (Abbildung
2.5):

1. der Nasen-Rachen-Raum,
2. das Verteilungssystem der Bronchien,
3. die Lungenbläschen oder Alveolen.

Der Nasen-Rachen-Raum temperiert die eingeatmete Luft und feuchtet sie


an. Die Haare in den Nasenhöhlen filtern grobe Staubpartikel ab, die einen
Durchmesser von mehr als 10 mm haben. Die meisten gefilterten Staubpartikel
setzen sich an den Schleimhäuten in der Nase und im Rachen ab.

Abbildung 2.5 Schema der drei Abschnitte des Respirationstraktes: Nasen-Rachenraum,


Luftröhre-Bronchialsystem und Lungenbläschen (nach Luckey und Venugopal, 1977).
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 27

Der zweite Abschnitt stellt die Verbindung für den Luftstrom zu den Lun-
genbläschen her. Er beginnt mit dem Kehlkopf und der sich anschließenden
Luftröhre. Die Luftröhre teilt sich in den rechten und linken Bronchus, von
denen die Seitenbronchi abzweigen. Die feinere Verzweigung der Seitenbronchi
erfolgt unter Zweiteilung, und aus den Bronchi gehen die Bronchioli hervor.
Sie verästeln sich noch weiter und bilden feinste Bronchioli respiratorii, die am
Ende in zwei bis drei kleinste Röhrchen zu den Lungenbläschen auslaufen.
Die Notwendigkeit der Konstruktion eines stabilen Röhrensystems lässt es
nicht zu, die Röhren selbst für den Gasaustausch zu benutzen. Da hier kein
Gasaustausch stattfindet, bezeichnet man diesen Röhrenraum auch als Tot-

raum“. Trotzdem kommt auch diesem Raum eine bedeutende Funktion für die
Atmung zu. Wurde nämlich die Atemluft nicht schon im Nasen-Rachen-Raum
ausreichend temperiert und angefeuchtet, so erfolgt dies hier.
Außerdem ist das Röhrensystem vom vorderen Drittel der Nase bis zu Beginn
der Bronchioli respiratorii mit einem höchst aktiven Flimmerepithel ausgeklei-
det. Der Flimmerschlag arbeitet koordiniert und bewegt eine daraufliegende
Schleimschicht mit einer ansehnlichen Geschwindigkeit von etwa 1 bis 2 cm pro
Minute vorwärts. Der Flimmerschlag ist stets nach außen gerichtet und bewegt
nicht nur den Schleim, der von den schleimproduzierenden Zellen des Bron-
chialsystems gebildet wird, sondern er nimmt auch eingeatmete Staubpartikel
auf dieser Schleimstraße“ mit in die Mundhöhle, wo sie entweder verschluckt

oder ausgehustet werden können.
Ein wichtiger Reinigungsmechanismus der Bronchialröhren ist der Hustenre-
flex, der durch Reizung von Rezeptoren in der Schleimhaut ausgelöst wird.
Dabei verschließt sich zuerst der Kehlkopf, und die Brust- und Bauchmusku-
latur erzeugt dann im Brustraum einen Überdruck. Durch plötzliches Öffnen
des Kehlkopfes entsteht ein starker Luftausstoß. Mit einer Luftbewegung von
bis zu 280 m pro Sekunde (etwa 1000 km pro Stunde) werden feste Partikel
und Schleim aus dem Respirationstrakt herausgeschleudert.
Das Röhrensystem erlaubt die Passage von gasförmigen Substanzen und von
Aerosolen, die dann in die Lungenbläschen gelangen und resorbiert werden
können. Abbildung 2.6 gibt einen Eindruck über die Größe der Partikel, die
Lungenbläschen erreichen können.
Aus Abbildung 2.6 ist ersichtlich, dass besonders die feinsten Partikel mit ei-
nem Durchmesser < 2 mm die Lungenbläschen erreichen, während Partikel mit
einem Durchmesser von 20 mm in den oberen Luftwegen hängen bleiben. Die
größeren Partikel werden auf der Schleimstraße“ des Flimmerepithels nach

oben transportiert und meist reflexmäßig verschluckt. Dies führt zunächst zu
einer Reinigung der Lungen von Partikeln, die dann aber beim Verschlucken in
den Magen-Darm-Kanal gelangen und von dort aufgenommen werden können.
28 Kapitel 2 Toxikokinetik

Abbildung 2.6 Prozentsatz retinierter Partikel in den verschiedenen Regionen des Respira-
tionstraktes. Der Durchmesser der Partikel variiert von 0,2 bis 20 µm, und die Einatmungs-
tiefe betrug 1,5 Liter (experimentelle Daten von Hatch und Gross, 1964). Der Übersicht
halber wurde der Prozentsatz der Partikel in Mund- und Rachenraum, in den großen Bron-
chi (Bronchus 1+2), in den kleineren Bronchi (Bronchus 3+4) und in den terminalen und
respiratorischen Bronchioli (term. + Br. resp.) zusammengezogen.

Eine weitere Schutzwirkung des Bronchialröhrensystems kann durch eine Kon-


traktion der glatten Bronchialmuskulatur verursacht werden, dabei verschlie-
ßen sich die kleinen Luftwege. Dies ist ein wichtiger Schutzreflex, der z. B. durch
Reizgase ausgelöst werden kann. Bei Asthmatikern ist dieser Reflex überstei-
gert.
Um mit dem Röhrensystem abzuschließen, sollen auch noch die Schutzfunktio-
nen durch die von den Schleimzellen abgesonderten Immunglobuline sowie die
im Schleim enthaltenen Proteinase-Hemmstoffe und die Polizeifunktion“ ein-

gewanderter weißer Blutzellen vermerkt werden. Durch die weißen Blutzellen
werden z. B. eingedrungene Bakterien unschädlich gemacht.
Die Lungenbläschen selbst bilden schließlich den dritten Abschnitt des Respi-
rationstraktes. Sie sind die Membranen, über die der Gasaustausch zwischen
der Einatmungsluft und dem Blut stattfindet. In der Hauptsache diffundiert
Sauerstoff dem Konzentrationsgefälle folgend in das Blut und CO2 ebenfalls
dem Konzentrationsgradienten entsprechend vom Blut in die Lungenbläschen.
Durch die Atemzüge werden die Lungenbläschen ventiliert. In der Ruhe at-
met der Mensch 12 bis 15-mal pro Minute und bewegt pro Atemzug 500 ml
ein und aus (6 bis 8 Liter pro Minute). Die atmosphärische Luft enthält 21 %
Sauerstoff und nur 0,03 % CO2 neben 79 % Stickstoff und den Edelgasen. Die
ausgeatmete Luft zeigt eine Abnahme des Sauerstoffgehaltes auf etwa 17 %
und eine Zunahme des CO2 -Gehaltes auf 3 bis 4 %. Allerdings ist dabei zu
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 29

berücksichtigen, dass der Sauerstoff- und CO2 -Gehalt in der Luft der Lun-
genbläschen selbst noch größere Unterschiede zu dem der Luft aufweist. Das
liegt an dem im Röhrensystem befindlichen toten Raum“. Die Mundhöhle,

Luftröhre und Verzweigungen umfassen 140 ml, während im ganzen bei ruhi-
ger Atmung insgesamt 500 ml ausgeatmet werden. Von den insgesamt 500 ml
Atemzugsvolumen werden also 140 ml Totraum“ nicht ventiliert:

Atemzugvolumen ·PCO2 Ausatmungsluft = (Atemzugvolumen – Totraum“) ·

PCO2 Lungenbläschen.
Bei der Analyse der Luft in den Lungenbläschen findet man darum etwa 15,5 %
Sauerstoff und 5 bis 6 % CO2 .
Ist der CO2 -Gradient umgekehrt, das kann im Weingärkeller oder in bestimm-
ten natürlichen Höhlen der Fall sein, in denen sich das spezifisch schwerere
Gas anreichert, so kann ein schneller Tod eintreten. Zugang über die Lungen-
bläschen finden auch verschiedene toxische Gase, wie Kohlenmonoxid, Cyan-
wasserstoff, Stickoxide, Schwefeldioxid, Schwefelwasserstoff, Ozon, Phosgen
und zahlreiche andere anorganische und organische Reizgase. Praktisch alle
flüchtigen Substanzen wie z. B. auch volatiles Quecksilber (siehe Kapitel 4.2.5)
können über diesen Weg in den Organismus eintreten. Auch der umgekehrte
Weg ist möglich, so können Spuren von Methan aus dem Magen-Darm-Kanal
über den Blutweg in der Ausatmungsluft erscheinen. Auch flüchtige Substan-
zen wie NH3 , niedermolekulare Ketone und Äther sowie Selenoxid können vom
Blut in die Luft der Lungenbläschen übertreten.
Die Gesamtoberfläche der Lungenbläschen ist von der Atemmechanik abhängig,
sie beträgt beim Ausatmen etwa 40 m2 und beim tiefen Einatmen bis zu 100 m2
(Abbildung 2.2). Die Anzahl der Lungenbläschen eines Menschen wird auf 300
bis 400 Millionen geschätzt. Die große Lungenbläschenoberfläche steht zu 90
bis zu 95 % in einem engen Kontakt mit den darunter befindlichen kapillaren
Blutgefäßen. Für die Diffusion der Gase gilt das Fick´sche Diffusionsgesetz.
Neben dem Diffusionskoeffizienten und dem Konzentrationsgradienten ist die
Gesamtmembranoberfläche und die Dicke der Diffusionsstrecke von entschei-
dender Wichtigkeit. Die Diffusionsstrecke wird auch als die Luft/Blut-Schranke
bezeichnet, sie beträgt nur 0,4 bis 2,5 mm. Die Diffusionsgeschwindigkeiten von
Gasen für solch kleine Abstände liegen unter einer Millisekunde.
Einzelne Reizgase wie Phosgen, Ozon oder nitrose Gase können die Epithelzel-
len der Lungenbläschen schädigen. Die Zellen schwellen dabei durch Flüssig-
keitseintritt an, und es entsteht ein Lungenödem. Physikalisch gesehen wird die
Diffusionsstrecke für Sauerstoff und CO2 stark verlängert, und die Austausch-
geschwindigkeit nimmt beträchtlich ab. Wegen der schlechten Wasserlöslichkeit
des Sauerstoffes tritt zuerst eine Sauerstoffuntersättigung des Organismus auf.
Haut und Schleimhäute verfärben sich dabei blau (cyanotisch).
30 Kapitel 2 Toxikokinetik

Bei normaler Atmung werden pro Minute etwa 6 bis 8 Liter Luft ventiliert
und dabei 250 ml Sauerstoff aufgenommen und 200 ml CO2 abgegeben. In der
gleichen Zeit passieren etwa 5 bis 6 Liter Blut die Lungenkapillaren. Der Gas-
austausch ist gesteigert, wenn sowohl die Ventilation als auch die Durchblutung
der Lungenkapillaren zunehmen. Eine wichtige Größe ist hierbei die Löslichkeit
des Gases im Blut, die durch den Blut/Gas-Löslichkeitskoeffizienten beschrie-
ben ist (ml Gas/ml Blut).
Betrachtet man die Zeit, bis sich ein Gleichgewicht zwischen Einatmungsluft
und Blut eingestellt hat, so gilt für ein Gas mit einem geringen Blut/Gas-
Löslichkeitskoeffizienten, dass die Zeit sehr kurz ist im Vergleich zu einem
Gas mit einem großen Löslichkeitskoeffizienten. Das Gas Ethylen mit einem
kleinen Löslichkeitskoeffizienten von 0,14 braucht etwa 20 Minuten bis zur
Gleichgewichtseinstellung im Blut des Menschen, während Chloroform mit ei-
nem Löslichkeitskoeffizienten von 9,4 mehr als 20 Stunden dafür benötigt. Man
kann diese physikalische Verteilung auch anders interpretieren: Um das gesam-
te Blut mit Ethylen zu sättigen, bedarf es wegen seiner geringen Löslichkeit
nur einer geringen Menge (bzw. eines geringen Volumens). Diese lässt sich in
einer kürzeren Zeit bereitstellen als bei Chloroform, von dem etwa 60-mal mehr
bis zur Erreichung der Gleichgewichtseinstellung benötigt wird.
Für die Verteilung eines Gases im Blut, das z. B. mit der Konzentration im
Gehirn im Gleichgewicht steht, sind drei Faktoren wichtig:

• der Partialdruck des Gases in der Einatmungsluft,


• die Größe und Geschwindigkeit der Lungenventilation,
• der Blut/Gas-Löslichkeitskoeffizient.

Ein Gas mit einer geringen Löslichkeit im Blut wie z. B. Ethylen wird nur
zu einem geringen Prozentsatz aus den Lungenbläschen in das Blut diffun-
dieren, aber wegen des meist großen Gradienten des Partialdruckes wird dies
sehr schnell erfolgen. Eine erhöhte Atemfrequenz ist also nur ganz am Anfang
wirksam, später nicht mehr. Für ein Gas mit einer großen Blutlöslichkeit wie
z. B. Chloroform gilt, dass bei jedem Atemzug ein großer Anteil des Gases aus
den Lungenbläschen in das Blut verschwindet. Wegen des meist geringen Gra-
dienten ist die Geschwindigkeit der Aufnahme jedoch nur gering. Hierbei führt
eine Zunahme der Atemfrequenz zu einer deutlich gesteigerten Aufnahme in
das Blut, und die Ventilation ist somit von großer Bedeutung.
Die Lungenbläschen sind verantwortlich für die Aufnahme von Aerosolen, de-
ren Partikelgröße die Passage des Röhrensystems erlaubt (Abbildung 2.6). Ae-
rosole schließen natürliche und synthetische organische und anorganische Ver-
bindungen ein. Stadtluft enthält potentiell toxische Salze verschiedener Me-
talle wie Cadmium, Blei, Antimon, Selen, Thallium, Vanadium, Nickel und
2.1 Aufnahme von toxischen Substanzen 31

Zink. Viele toxische Schadstoffe der Luftverschmutzung kommen vom Auto-


verkehr, aus der Müll- und Heizstoffverbrennung, aus der metallverarbeitenden
Industrie, den Ölraffinerien, aber auch von kosmetischen Aerosolen, Bioziden,
Farben und Lacken und Treibstoffen.
Die weitaus gefährlichere gesundheitsschädigende chemische Wirkung hat je-
doch das Zigarettenrauchen. Neben dem Hauptwirkstoff Nicotin werden to-
xische Gase wie Kohlenmonoxid, die Stickstoffoxide NO und NO2 und eine
Reihe anderer Reizgase aufgenommen. Eine große Anzahl sicherer oder zu-
mindest als sehr wahrscheinlich erachteter krebserzeugender Stoffe wird mit
dem Zigarettenrauch als Gase oder Partikel inhaliert: Dazu gehören verschie-
dene Nitrosamine, Benz[a]pyren und Benz[a]anthrazene, Hydrazin, Anilin, Vi-
nylchlorid und Formaldehyd, weiterhin Metalle wie Cadmium, Nickel, Chrom
und Blei.
Beim Cadmium spielt noch zusätzlich die Verweildauer eine Rolle (siehe Kapi-
tel 4.2.2). Die biologische Halbwertszeit von Cadmium im menschlichen Orga-
nismus wird auf die besonders lange Zeit von 19 Jahren geschätzt. Es kommt
also durch eine kontinuierliche Aufnahme geringster Mengen Cadmiums aus
dem Zigarettenrauch und der Nahrung zu einer Kumulation, besonders in der
Nierenrinde. Hier wird die obere Grenze der Verträglichkeit auf 200 mg pro g
Nierengewebe angesetzt, da größere Konzentrationen mit Störungen der Nie-
renfunktion verbunden sind. Wie Analysen zeigen, haben Raucher doppelt
soviel Cadmium in der Niere wie Nichtraucher.
Außerdem schädigen sich Raucher besonders dadurch, dass sie mit dem Ta-
bakinhaltsstoff Nicotin das Flimmerepithel der Lunge hemmen. So findet die
Selbstreinigung der Lunge durch den Flimmerstrom nicht mehr statt, und die
Schadstoffe können eine ständige chronische Reizung der Bronchien verursa-
chen. Nicotin selbst wird für das doppelt so hohe Vorkommen von Herzerkran-
kungen bei Rauchern verantwortlich gemacht.
Entsprechend der funktionellen Einteilung des Respirationstraktes in drei Ab-
schnitte gibt es eine Einteilung von Schadstoffen gemäß ihrer Wasserlöslichkeit,
welche die Eindringtiefe in das Respirationssystem bestimmt.

Oberer Respirationstrakt

Schadstoffe mit sehr hoher Wasserlöslichkeit reagieren besonders mit den feuch-
ten Schleimhäuten im Rachen und in der Luftröhre. So gelangen Acrolein, Am-
moniak, Chlorwasserstoff, Dischwefeldichlorid, Fluor und Formaldehyd wegen
ihrer hohen Wasserlöslichkeit nicht weit über den ersten Abschnitt hinaus und
üben dort ihre schädigenden Wirkungen wie Verätzungen, Entzündungen und
Narbenbildung aus.
32 Kapitel 2 Toxikokinetik

Mittlerer Respirationstrakt

Schadstoffe mit mittlerer Wasserlöslichkeit reagieren besonders mit den Bron-


chien und deren Abzweigungen. So bewirken im zweiten Respirationsbereich
z. B. Brom, Chlor und Schwefeldioxid eine vermehrte Schleimabsonderung, Hu-
stenreiz und Bronchokonstriktion mit schwerster Atemnot.

Kleinste Verzweigungen und Lungenbläschen im Respirationstrakt

Erreicht ein Gas oder auch ein Aerosol wegen geringer Wasserlöslichkeit und
lipophiler Eigenschaften die kleinsten Röhrenbereiche und die Lungenbläschen,
so werden besonders die empfindlichen Epithelzellen der Lungenbläschen ge-
schädigt. Dies gilt für Stoffe wie Cadmiumoxid, Ozon, Phosgen und Stickstoff-
dioxid, die ein toxisches Lungenödem im dritten Respirationsabschnitt auslösen
können.
In den Alveolen gibt es kein Flimmerepithel. Aerosole und Partikel, die bis in
die Lungenbläschen vorgedrungen sind, können dort von den Makrophagen,
einer bestimmten Art von Phagozyten (Phagozyten sind Fresszellen, die Par-
tikel, Gewebsreste und Bakterien in sich aufnehmen), aufgenommen werden.
Durch ihre amöboide Beweglichkeit können die Makrophagen die aufgenom-
menen Stoffe aus den Lungenbläschen heraus zu den Lymphknoten bringen.
Im Gegensatz zu Quarz- und Staubpartikeln werden Asbestfasern von den Ma-
krophagen nicht aus den Lungenbläschen heraustransportiert, sondern bleiben
dort als Asbestkörperchen liegen. Es kann dadurch zu einer Asbestose kom-
men, die sich durch Reizhusten, Atemnot und Auswurf äußert. Die Asbestose
führt häufig zu Lungenkrebs, seltener infolge Wanderung der Asbestfasern zu
anderen Krebsformen.

2.2 Organisation des menschlichen Körpers

Zu Beginn dieses Kapitels wurde der Organismus als eine black-box“ mit ei-

nem Zu- und Abfluss dargestellt (Abbildung 2.1). Eine im Inneren bestehende
Organisation bestimmt das weitere Schicksal einer toxischen Substanz nach de-
ren Resorption. Jedoch reicht dieses Modell nicht aus, um toxische Vorgänge,
die sich im menschlichen Organismus abspielen können, zu verstehen. Wie be-
reits für die Oberflächen geschehen (Kapitel 2.1), bedarf es einer eingehenderen
Beschreibung der funktionellen Organisation.
Der erwachsene durchschnittliche Europäer hat ein Körpergewicht von 70 kg.
Die Gesamtzellzahl wird auf 1014 Zellen geschätzt. Sie lassen sich etwa 200
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 33

verschiedenen Zelltypen zuordnen, die sich zu Verbänden aus gleichartig diffe-


renzierten Zellen organisieren. Die Zellverbände bilden vier Hauptformen von
Geweben:

Epithelgewebe

Das Epithel- oder Deckgewebe kleidet äußere oder innere Oberflächen des
Körpers aus. Beispiele sind das Epithel der Lungenbläschen, der Blutgefäße,
der Darmzotten, das Flimmerepithel des Respirationstraktes oder die Horn-
schicht der Haut.

Binde- und Stützgewebe

Die Binde- und Stützgewebe bestehen aus Zellen und der von ihnen gebildeten
zwischenzelligen Grundsubstanz. Ihre Bedeutung liegt, wie der Name verrät,
weniger in ihrer Eigenleistung als in Hilfsleistungen für andere Zellen.

Muskelgewebe

Das Muskelgewebe ist als einziges Gewebe zur Kontraktion befähigt und dient
zur Körperbewegung, zum Verschluss von Organen oder zu Transportleistun-
gen. Man unterscheidet die quergestreifte Skelettmuskulatur, die Herzmusku-
latur und die glatte Muskulatur der inneren Organe wie z. B. Bronchien, Darm,
Blase und Blutgefäße.

Nervengewebe

Das Nervengewebe besteht aus den erregbaren Nerven- oder Ganglienzellen


mit ihren Ausläufern, den Nervenfasern, und aus dem Gliagewebe (glia, grie-
chisch Leim), welches im Nervensystem etwa dem Bindegewebe entspricht. Die
Ganglienzelle mit ihren Fortsätzen wird Neuron genannt. Das Neuron ist das
Grundbauelement des Nervensystems. Das menschliche Nervensystem enthält
etwa 30 Milliarden Neuronen. Man unterscheidet bei den Neuronen die lan-
gen Fortsätze, die Neuriten (bis zu 90 cm lang), strukturell von den kurzen
Fortsätzen, den Dendriten.
Im allgemeinen kommen im menschlichen Körper Gewebeverbände einer Art
selten ganz allein für sich vor, sie vereinigen sich in der Regel mit anderen
Geweben zu Funktionsgemeinschaften, den Organsystemen. Die wichtigsten
Organsysteme sind:
34 Kapitel 2 Toxikokinetik

Tabelle 2.1 Mittlerer Nichtmetallgehalt eines Menschen von 70 kg Körpergewicht an. Die
zweite Spalte zeigt die absolute Menge, die dritte die Konzentration in mmol/kg (Sauerstoff
als O2 , Wasserstoff als H2 und Stickstoff als N2 ). Spalte 4 gibt die absolute Anzahl der im
Körper vorkommenden Atome an, während die letzte Spalte, bei angenommener Gleichver-
teilung, die in einer Zelle (1014 Zellen im Körper) vorkommenden Atome tabelliert (Zahlen
aus Merian 1987).

Gehalt Konzentration Anzahl Atome Anzahl Atome


in g in mmol/kg im Körper pro Zelle
Sauerstoff 45,5 · 103 20,3 · 103 1,70 · 1027 17 · 1012
Kohlenstoff 12,6 · 103 15,0 · 103 0,64 · 1027 6,4 · 1012
Wasserstoff 7,0 · 103 50,0 · 103 4,20 · 1027 42,0 · 1012
Stickstoff 2,1 · 103 10,7 · 103 91,00 · 1024 0.91 · 1012
Phosphor 700,0 322,0 14,00 · 1024 0,14 · 1012
Schwefel 175,0 78,1 3,30 · 1024 33,0 · 109
Chlor 105,0 42,3 1,80 · 1024 18,0 · 109
Fluor 0,80 0,6 26,00 · 1021 0,26 · 109
Iod 0,03 3,4 · 10−6 0,15 · 1021 1,5 · 106

• das Knochensystem einschließlich der Gelenke,


• das Muskelsystem für die Bewegung,
• das Herz-Kreislaufsystem,
• der Atmungsapparat,
• der Verdauungsapparat,
• der Harnapparat,
• das innersekretorische System (hormonale Steuerung),
• die Fortpflanzungsorgane,
• das zentrale (Gehirn und Rückenmark) und das periphere Nervensystem,
• das Sinnessystem (Auge, Gehör und Gleichgewichtsorgan, Geschmacks- und
Geruchssinn, Tastsinn).
Einzelorgane wie Herz, Leber, Nieren oder Milz sind für die Toxikologie von
besonderer Bedeutung, da eine toxische Wirkung sich oft nur an einem Organ
manifestiert. Die Toxikologen nennen dieses Organ dann das kritische Organ.
Dieser Begriff bedeutet soviel wie das empfindlichste Organ, d. h. es reagiert
bereits bei der niedrigsten toxischen Konzentration. Dabei wird keine Aussage
über den Schweregrad der toxischen Wirkung am Organ gemacht. Bei einer
toxischen Substanz spricht man von ihrer Organotropie (griechisch, auf die
Organe gerichtet) und meint damit, dass z. B. Cadmium bevorzugt die Nieren
schädigt.
Nach dieser allgemeinen Einführung in die zelluläre Organisation eines Men-
schen soll nun versucht werden, den Menschen nach seinen Bestandteilen zu
analysieren.
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 35

Tabelle 2.2 Mittlerer Metallgehalt eines Meschen von 70 kg Körpergewicht. Spaltendefinition


wie Tabelle 2.1.

Gehalt Konzentration Anzahl Atome Anzahl Atome


in g in mmol/kg im Körper pro Zelle
Calcium 1050 374 0,16 · 1024 0,16 · 1012
Kalium 140 51,2 2,20 · 1024 22,0 · 109
Natrium 105 65,2 2,80 · 1024 28,0 · 109
Magnesium 35 20,6 0,87 · 1024 8,70 · 109
Eisen 4,20 1,07 45,0 · 1021 0,45 · 109
Zink 2,33 509 · 10−3 22,0 · 1021 0,22 · 109
Kupfer 0,11 25 · 10−3 26,0 · 1021 10,0 · 106
Molybdän 5,0 · 10−3 0,74 · 10−6 32,00 · 1018 0,32 · 106
Cobalt 3,0 · 10−3 0,73 · 10−6 30,0 · 1018 0,3 · 106

Drückt man die elementare Zusammensetzung des Menschen prozentual aus,


so entfallen auf die 9 Nichtmetalle 98 % des Körpergewichts, für die Metalle
Natrium, Kalium, Calcium und Magnesium errechnen sich 1,89 %, und für die
essentiellen Schwermetalle, die man wegen ihres geringen Vorkommens auch als
Spurenelemente bezeichnet, bleiben nur 0,012 % des Körpergewichts übrig.
Obwohl der Mensch aus über 100 000 verschiedenen Arten von Molekülen be-
steht, gibt es nur wenige unterschiedliche Typen von Makromolekülen, wie
z. B. die Proteine, Nukleinsäuren, Kohlenhydrate und Lipide.
Beim durchschnittlichen jungen Mann sind 18 % des Körpergewichts Proteine,
Nukleinsäuren und Kohlenhydrate, 15 % Lipide und 7 % Mineralstoffe. Die
restlichen 60 % sind Wasser. Die Strukturen der Moleküle, auf denen das Leben
aufgebaut ist, wie Proteine, Nukleinsäuren, Lipide und Kohlenhydrate, werden
von den Wechselwirkungen mit ihrer wässrigen Umgebung bestimmt.
Biologische Vorgänge lassen sich nur unter Einbeziehung der physikalischen
und chemischen Eigenschaften des Wassers verstehen. Der Wasserraum des
Menschen ist nicht homogen, sondern wird funktionell in verschiedene Räume
unterteilt. Diese Tatsache ist wichtig für das Verständnis der Toxikokinetik
und führt uns zum nächsten Abschnitt, den Verteilungsräumen des Menschen.

2.2.1 Verteilungsräume
Neben 40 % fester Bestandteile entfallen 60 % des Körpergewichtes eines jun-
gen Mannes auf Wasser. Grundsätzlich ist die Relation fester Körperbestand-
teile zum Gesamtkörperwasser von Alter und Geschlecht abhängig. Tabelle 2.3
gibt eine Übersicht über das Gesamt-Körperwasser in Abhängigkeit von Alter
und Geschlecht.
36 Kapitel 2 Toxikokinetik

Tabelle 2.3 Der Gesamt-Körperwassergehalt ist beim Neugeborenen mit etwa 80 % am


größten und bei der älteren Frau mit ungefähr 46 % am kleinsten (nach Edelmann und
Liebmann, Amer. J. Med. 27, 256, 1959).

Neugeborenes 10–18 Jahre 18–40 Jahre 40–60 Jahre > 60 Jahre


männlich 80 % 59 % 61 % 55 % 52 %
weiblich 80 % 57 % 51 % 47 % 46 %

Toxische Substanzen können sich im Gesamt-Wasserraum verteilen, wenn sie


hydrophile Eigenschaften besitzen, sie können sich im Fettgewebe und in den
Membranen anreichern, wenn sie lipophil sind, oder in Knochen und Zähne
eingelagert werden, wenn sie eine hohe Affinität zu Mineralien haben, wie z. B.
Blei und Strontium.
Wegen ihrer unterschiedlichen funktionellen Beschaffenheit kann man als Was-
serräume drei verschiedene Räume oder Kompartimente voneinander
abgrenzen. Sie sind von prinzipieller Bedeutung für die Verteilung toxischer
Substanzen, da jedes Kompartiment eine vergleichbare chemische Zusammen-
setzung hat und durch Barrieren abgegrenzt wird, die ähnliche physikalisch-
chemische Eigenschaften besitzen:

1. Der intravasale Raum umfasst das Gesamt-Blut-Volumen. Er setzt sich


aus dem Blutflüssigkeits- oder Plasmavolumen und dem Zellraum zusammen,
wobei der prozentuelle Anteil der roten Blutzellen oder Erythrozyten am ge-
samten Blutvolumen etwa 45 % beträgt (Hämatokritwert). Der Blutflüssig-
keitsraum beträgt nur 4–5 % des Körpergewichts. Wenn man noch das Volu-
men der roten Blutzellen hinzurechnet, ergeben sich insgesamt etwa 8 % des
Körpergewichts für den gesamten intravasalen Raum. Die Abgrenzung zum
nächstfolgenden Raum geschieht durch die Wände der Blutgefäße.

2. Der Zwischenzell- oder interstitielle Raum umschließt den Raum, der


einerseits von den Blutgefäßwänden begrenzt wird, andererseits an die Mem-
branen der Körperzellen anschließt. Die Größe dieses Wasserraumes wird mit
15 % angegeben.

3. Der intrazelluläre Raum. Damit ist der Wasserraum aller einzelnen


Körperzellen gemeint, er stellt den größten Wasserraum mit ungefähr 41 %
des Körpers dar.

Bei der schwangeren Frau kann zusätzlich das ungeborene Kind als ein weiteres
Kompartiment aufgefasst werden, das durch den Mutterkuchen (Plazenta) vom
mütterlichen Organismus abgetrennt wird.
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 37

Aufnahme Verteilung Ausscheidung


BLUT- ZWISCHEN- INTRAZELLULÄRER
RAUM ZELLRAUM RAUM

R RX
+
X X X X
+
BINDUNG
P
SPEICHER

PX METABOLISMUS

4% 15% 41%

Abbildung 2.7 Schicksal einer toxischen Substanz im menschlichen Körper. Die gestrichel-
ten Linien repräsentieren die Gefäßwände bzw. die Zellmembranen. Die Zahlen geben den
Prozentsatz der drei Wasserräume am Körpergewicht eines erwachsenen Mannes wieder. X
ist die freie Konzentration einer toxischen Substanz, PX der Plasma-Protein-Komplex mit
der toxischen Substanz und RX der entsprechende Rezeptor-Komplex.

Die Summe aus Blutflüssigkeits- oder Plasmaraum, Zwischenzellflüssigkeit und


Zellwasser beträgt bei dem obigen Beispiel 60 % des Körpergewichts oder etwa
42 Liter Wasser bei einem durchschnittlichen Körpergewicht von 70 kg. Auf
den Plasmaraum entfallen dann ca. 3 Liter, auf den Zellzwischenraum etwas
mehr als 10 Liter und auf das Zellwasser fast 29 Liter.
Aus funktionellen Gründen kann man den Blut- und den Zwischenzellflüssig-
keitsraum als den extrazellulären Raum dem intrazellulären Raum gegenüber-
stellen. Aus dem extrazellulären Raum entnehmen die Zellen Sauerstoff und
Nahrungsstoffe und scheiden Stoffwechselendprodukte aus. Die Zusammenset-
zung der Elektrolyte im Blut- und Zwischenzellraum ist praktisch identisch.
Ein wichtiger Unterschied betrifft die Plasmaproteine, die sich nur im Blut-
raum (darum der Name Blutplasma) befinden. Nach einer alten Theorie ent-
spricht die Elektrolytzusammensetzung der extrazellulären Flüssigkeit der des
erdgeschichtlichen Urmeeres.
38 Kapitel 2 Toxikokinetik

Wie in Abbildung 2.7 gezeigt, ist eine wichtige Funktion der Plasmaproteine,
toxische Substanzen zu binden. In der Regel gilt für eine toxische Substanz,
dass ihre freie, nichtgebundene Konzentration für die toxische Wirkung ver-
antwortlich ist und nicht die gebundene Fraktion. Dies gilt besonders für toxi-
sche Schwermetalle, die so durch Bindung oder Speicherung entgiftet werden
können.
Theoretisch ist die Größe jedes einzelnen Körperflüssigkeitsvolumens bestimm-
bar, indem man Substanzen, die sich nur in einem Kompartiment verteilen,
direkt einbringt und deren Verteilungsvolumen berechnet. Auf diesem Wege
ließ sich das Plasmavolumen mit dem Farbstoff Evansblau, der fest an die
Plasmaproteine gebunden wird, bestimmen. Wenn X die Menge des in das
Blut eingebrachten Farbstoffes ist und nach kurzer Zeit seine Konzentration c
im Blut bestimmt wird, dann ist das Verteilungsvolumen Vd definiert als

Vd = X/c,

und es gilt:

c = X/Vd .

Bei einer Injektion von 300 mg Evansblau in die Blutbahn ergab sich z. B. nach
der gleichmäßigen Verteilung des Farbstoffes im Blutraum eine Konzentration
von 100 mg/Liter. Daraus errechnete sich für das Verteilungsvolumen 3 Liter.
Das gesamte Körperwasser kann entweder mit D2 O oder mit tritiummarkier-
tem Wasser nach der obigen Methode bestimmt werden. Größere Schwierigkei-
ten bereitet dagegen die Bestimmung des Zwischenzell- und des Zellraumes.

2.2.2 Das zirkulatorische System


Das Blut ist das wichtigste System der zirkulierenden Flüssigkeiten. Nach-
dem eine toxische Substanz von der Haut, aus dem Magen-Darm-Trakt oder
durch den Respirationstrakt aufgenommen worden ist, kann sie in die Blut-
bahn gelangen. Neben einem schnellen Abtransport erfolgt eine kräftige Durch-
mischung. Das Herz pumpt bereits im Ruhezustand das gesamte Blut eines
Erwachsenen, bestehend aus etwa 3 Litern Blutplasma und 2,6 Litern roten
Blutzellen, in einer Minute durch das Gefäßsystem.
Die Konzentration einer toxischen Substanz lässt sich schnell und genau nach
Entnahme einer Blutprobe chemisch bestimmen. Für den Arzt ist der Blut-
raum das Kompartiment, zu dem er durch eine in die Vene eingeführte Kanüle
2.2 Organisation des menschlichen Körpers 39

direkten Zugang gewinnen kann. Wegen der funktionellen Bedeutung nennt


man diesen Raum auch das zentrale Kompartiment. In der ärztlichen Um-
gangssprache wird die Konzentration der aus dem Blut bestimmten Substanz
als Blutspiegel bezeichnet. Der Arzt gewinnt aus dem zeitlichen Verlauf des
Blutspiegels einer toxischen Substanz wichtige Informationen über die Progno-
se einer toxischen Wirkung und entscheidet über ärztliche Notmaßnahmen.
Die Blutgefäße grenzen den Blutraum vom Zwischenzellraum ab, ihre Durch-
lässigkeit bestimmt die Diffusion einer toxischen Substanz in den Zwischen-
zellraum. Die Gefäßwände sind z. B. unüberwindliche Barrieren für die roten
Blutzellen. Auch die Plasmaproteine können nicht in den Zwischenzellraum
penetrieren. Dagegen können kleinere Moleküle durchaus diese Barriere über-
winden. Die Gefäßwände können vereinfacht als eine Lipidmembran mit was-
sergefüllten Poren angesehen werden. Bei den Blutgefäßen muss man verschie-
dene Größen unterscheiden. Für den Austausch von Sauerstoff, Kohlendioxid,
Wasser, Salzen, Nährstoffen, etc. haben nur die kleinsten Haargefäße oder Ka-
pillaren eine Bedeutung. Ihr Durchmesser beträgt ca. 5–25 mm und ihre Länge
etwa 2 mm. Ihre Gefäßwände bestehen aus zwei Schichten, die innere Schicht
bilden Epithelzellen oder Endothelien und die äußere Schicht die sogenannte
Basalmembran. Es lassen sich vier verschiedene Kapillartypen mit unterschied-
lichen Permeationseigenschaften für hydrophile und lipophile Substanzen un-
terscheiden:

Abbildung 2.8 Querschnitt durch die vier verschiedenen Kapillartypen.

Beim diskontinuierlichen Typ“ sind das innere Endothel und die äußere

Basalmembran lückenhaft und damit sehr durchlässig für hydrophile Moleküle.
Diese Kapillargefäße findet man in der Leber, der Milz und im Knochenmark.
Beim fenestrierten Typ“ sieht man, dass das Endothel fensterähnliche Öff-

nungen aufweist. Es resultiert eine gute Durchlässigkeit für wasserlösliche Mo-
40 Kapitel 2 Toxikokinetik

leküle. Diesen Typ findet man im Magen-Darm-Kanal, in den Nieren und in


Drüsen.
Der kontinuierliche Typ“ zeigt ein geschlossenes Endothel und eine ge-

schlossene Basalmembran und ist wenig permeabel für hydrophile Moleküle.
Wir finden diese Gefäße in glatten Muskeln sowie in Herz- und Skelettmuskeln.
Der letzte Typ ist eine Sonderform des kontinuierlichen“ Typs. Eine fast

vollständige Undurchlässigkeit für hydrophile Fremdstoff-Moleküle wird durch
eine von außen dicht anliegende Schicht von Gliazellen erreicht. Diese Barriere
finden wir im Gehirn und im Rückenmark, sie wird Blut-Hirn-Schranke“

genannt.
Tabelle 2.4 Größenordnungsmäßige Durchblutung einiger Organe und Gewebe in ml Blut pro
100 g Gewebe und Minute. In die gleiche Gruppe wie Gehirn, Herz und Leber fallen auch
Organe wie Magen, Darm und Milz.

Organe ml/Minute
pro 100 g Gewebe
Niere 500,0
Gehirn, Herz, Leber 50,0
Haut, Muskulatur 5,0
Fett- und Bindegewebe 0,5

Zusätzlich zu den Unterschieden in der Ausstattung mit verschiedenen Ka-


pillartypen bestehen auch Unterschiede in der Durchblutung der Organe und
Gewebe. Eine toxische Substanz wird zunächst mit dem Blutstrom bevorzugt
in diejenigen Organe und Gewebe gelangen, die am besten durchblutet sind.
Für die Blutversorgung eines Organs ist die Durchblutung pro 100 Gramm
Organgewicht aussagekräftiger als die reine Blutflussangabe in ml/Minute. Da
die Zahlenangaben in der Literatur beträchtlich schwanken, soll hier nur eine
grobe Klassifizierung vorgenommen werden.

2.2.3 Der kolloidosmotische“ Druck der Plasmaproteine



Unter den im Plasma gelösten Substanzen dominieren mengenmäßig die Plas-
maproteine mit etwa 72 g pro Liter beim Erwachsenen. Wegen ihres hohen
Molekulargewichtes von 66 kDa bis zu 1000 kDa (Da = Dalton, ein Dalton ist
definiert als 1/12 der Masse eines 12 C-Atoms und entspricht somit dem Mole-
kulargewicht, welches in analoger Weise als das Verhältnis der Partikelmasse
zur atomaren Masseneinheit angegeben wird) tragen sie jedoch nur relativ
wenig zum gesamten osmotischen Druck der Blutflüssigkeit bei, der bei etwa
300 milliosmol pro Liter liegt bzw. einem Druck von 6,72 Atmosphären ent-
spricht. (Der osmotische Druck von 1 osmol Teilchen in einem Liter Wasser
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 41

gelöst beträgt 22,4 Atmosphären und wird durch 6, 02 · 1023 osmotisch wirk-
same Teilchen hervorgerufen).
Aus der Kolloidchemie wurde der Begriff Kolloid“ auch auf die Proteine

übertragen und hat dabei früher zur Verwirrung über die Natur der Proteine
geführt. Mit kleinen Einschränkungen (nämlich einer möglichen Aggregation
der Proteine) liegen die Proteine in wässriger Lösung als einzelne Moleküle vor,
die entsprechend ihrer Teilchenzahl zum osmotischen Druck beitragen. Der
entsprechende osmotische Druck beträgt 1,5 mosmol pro Liter bzw. 25 mmHg
(1 mmHg = 1 Torr, Torr wurde nach Torricelli, dem Erfinder des Quecksil-
berbarometers benannt). Die Gefäßwände der Kapillaren verhindern eine we-
sentliche Penetration der großen Plasmaproteine in die Zwischenzellflüssigkeit
und verursachen dadurch eine Druckerhöhung in den Gefäßen, den sogenann-
ten kolloidosmotischen Druck“ (kolloidosmotischer Druck = osmotischer

Druck hervorgerufen durch Proteine).
Die Filtration von Flüssigkeit aus der Kapillare hängt vom Filtrationsdruck
(hydrostatischer Druck in der Kapillare minus dem der Zwischenzellflüssig-
keit) und dem kolloidosmotischen“ Druck ab. Am Anfang der Kapillare ist

der Filtrationsdruck größer als der kolloidosmotische Druck, und es resultiert
ein entsprechender Flüssigkeitsstrom aus dem Gefäß heraus in Richtung Zwi-
schenzellflüssigkeit. Am Ende der Kapillare ist der Filtrationsdruck geringer
als der kolloidosmotische Druck, und es erfolgt eine Flüssigkeitsbewegung in
die entgegengesetzte Richtung, zurück in die Kapillare (Abbildung 2.9).
Die Länge aller Kapillaren eines Menschen wird auf 95 000 km geschätzt und
deren Gesamtoberfläche auf ca. 6000 bis 8000 m2 .
Dieser physiologische Flüssigkeitskreislauf der Kapillar-Zirkulation dient der
Versorgung der Zellen mit Nährstoffen und dem Abtransport der Stoffwech-
selschlacken. Das bewegte Flüssigkeitsvolumen ist beträchtlich, es beträgt un-
gefähr 3 Liter pro Minute. Damit entspricht es also der Menge des gesamten
Blutplasmas in dieser kurzen Zeitspanne. Selbstverständlich wird auch durch
die Kapillar-Zirkulation eine toxische Substanz wirksam verteilt.

2.3 Der Aufbau von Zellmembranen

Verfolgt man den Weg einer toxischen Substanz weiter, so diffundiert sie aus
dem Blut in den Zwischenzellraum und gelangt von dort zu der nächsten Bar-
riere, der Zellmembran.
Eine gemeinsame biologische Funktion aller Membranen besteht darin, Abläufe
in der Zelle kontrollierbar zu gestalten. Dies geschieht erstens durch die räum-
42 Kapitel 2 Toxikokinetik

50
40 Zwischenzell-
Druck in mm Hg

30 Raum
20
10
Flüssigkeitsbewegung
0
entsprechend
-10 dem
-20 effektiven
Druck
-30
0.00 0.25 0.50 0.75 1.00 1.25 1.50 1.75 2.00 Kapillare
Länge der Kapillare in mm
hydrostatischer effektiver kolloidosmotischer
Druck Druck Druck

Abbildung 2.9 Optischer Eindruck des Druckverlaufs in einer Kapillare (geschätzte Ge-
samtlänge aller Kapillaren: 95 000 km). Die Oberfläche sämtlicher Kapillare beträgt ca.
6000–8000 m2 .

liche Abgrenzung der Zelle, der Kompartimentierung, und zweitens über eine
Regulation des Zu- und Abflusses. Die Zusammensetzung des intrazellulären
Milieus wird durch einen geregelten Membrantransport von Nahrungsstoffen,
Ionen und Abfallprodukten dynamisch und energetisch optimiert.

2.3.1 Amphiphile Biomoleküle


Vorstellungen über die Entstehung des Lebens gehen davon aus, dass das Leben
im Wasser, dem Urmeer, entstanden ist. Die meisten Biomoleküle sind amphi-
phil (griechisch: amphi = beides, philos = liebend), sie sind damit hydrophil
und hydrophob zugleich. Amphiphile Moleküle bilden in Wasser bevorzugt ge-
ordnete Aggregate aus, die sich zu kugelförmigen Gebilden, den Micellen,
zusammenlagern können. Die hydrophilen Gruppen der Amphiphile befinden
sich dabei auf der Außenfläche einer Kugel und gehen mit dem Wasser Wechsel-
wirkungen ein, während die hydrophoben Gruppen das Kugelinnere ausfüllen.
Eine weitere Möglichkeit der Anordnung der Amphiphilen besteht darin, dass
sie sich in Form von Doppelschichten anordnen. Die hydrophoben Anteile zei-
gen dabei in die Doppelschicht hinein und bilden für Wassermoleküle eine
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 43

wirksame Barriere (Lipidmembran). Die Doppelschichten weisen mit ihren hy-


drophilen Gruppen nach außen. Sie können bei Vesikelbildung innen einen
Wasserraum (Kompartiment) umschließen.
Die Vesikelbildung gilt als ein Modell für die Zellentstehung. Erst durch die
Kompartimentierung konnte ein biologisches System seinen Selektionsvorteil
ausnutzen. Dabei hat das Grenzgebiet der Membran selbst eine katalytische
Funktion, indem es bestimmte Ionen und biologische Moleküle anreichert und
damit günstigere Voraussetzungen für chemische Reaktionen schafft.

2.3.2 Vom Erythrozyten zum Membranmodell


Mit der doppelschichtigen Vesikelstruktur, die einen Wasserraum umschließt,
ist schon ein Teilaspekt der Membran erklärt, nämlich die Barrierefunktion.
Der geschichtliche Weg der Entwicklung von Vorstellungen über die Membran
nahm ihren Ausgang von einfachen Zellen, die man leicht in großer Anzahl
gewinnen konnte. Dies sind die roten Blutzellen, die Erythrozyten. Durch
Venenpunktion können sie in ausreichender Menge gewonnen werden. Das Blut
eines Erwachsenen enthält 45 % Erythrozyten oder 5 · 106 Erythrozyten pro
Mikroliter. Die Anzahl der weißen Blutzellen (Leukozyten) im gleichen Volu-
men ist dagegen gering mit nur 0,005 bis 0, 01 · 106 Zellen. Durch Waschen
des Blutes auf einer Zentrifuge gewinnt man ein fast reines Erythrozytenkon-
zentrat.
Die menschlichen Erythrozyten sind insofern Ausnahmezellen, als sie sich mit
ihrem hohen Hämoglobingehalt auf den Sauerstofftransport im Blut spezia-
lisiert haben. Diese Zellen sind zu über 90 % mit kugeligen Hämoglobinmo-
lekülen angefüllt, etwa 300 · 106 Moleküle pro Erythrozyt, und besitzen weder
einen Zellkern noch andere membranöse Organellen. In dieser Hinsicht sind sie
ideal zur chemisch-physikalischen Membrananalyse geeignet, wenn man vorher
das Hämoglobin und den Inhalt des Erythrozyten entfernt.
Im Jahre 1925 wurden auf diese Weise von zwei Niederländern, E. Gorter und
F. Grendel (Literaturzitat in der Legende der Abbildung 2.10), Erythrozyten-
membranen präpariert, nachdem sie vorher die Zellen unter dem Mikroskop
ausgezählt und die Zelloberfläche einer Einzelzelle berechnet hatten. Aus der
Anzahl der Erythrozyten multipliziert mit der Zelloberfläche einer Einzelzelle
ergab sich die Gesamtoberfläche der Membranprobe.
Aus der Membranprobe wurden nun mit Aceton die Membranlipide, haupt-
sächlich amphiphile Phospholipid-Moleküle, extrahiert und durch Verdampfen
des Acetons eingeengt. Nach der chemischen Extraktion bedienten sich die
Forscher einer physikalischen Methode, um die Fläche der Phospholipide zu
bestimmen. Dazu wurden die amphiphilen Phospholipid-Moleküle in einem so-
44 Kapitel 2 Toxikokinetik

genannten Langmuir´schen Trog“ an der Wasseroberfläche, der Grenzschicht



Luft-Wasser, ausgespreitet und die Fläche der Phospholipidschicht vermes-
sen, nachdem vorher mit Hilfe einer empfindlichen Waage die Phospholipid-
Moleküle zu einem monomolekularen Film zusammengeschoben worden waren.
Der Versuch führte zu dem Ergebnis, dass man die Oberfläche des Erythrozy-
ten genau mit der doppelten Phospholipidschicht bedecken kann. Als einfach-
stes Modell einer Zellmembran bot sich somit die Lipid-Doppelschicht“ an

(Abbildung 2.10).
In einer nachträglichen Überprüfung des Experiments wurden zwei Fehler ent-
deckt. Nur ein glücklicher Zufall, die Kompensation der beiden Fehler, hat
den beiden Forschern zu dem Modell verholfen. Auf der einen Seite war die
bikonkave Form des Erythrozyten, die eine große Oberfläche für den Sauerstoff-
austausch schafft, als zu klein berechnet worden, auf der anderen Seite war die
chemische Phospholipidextraktion mit Aceton unvollständig ausgefallen. Trotz
dieser beiden experimentellen Fehler wurde uns ein essentielles Membranmo-
dell beschert, das auch heute noch seine Gültigkeit besitzt.
Eine Modellvorstellung hat den großen Vorteil, dass sie gezielte Folgeexperi-
mente ermöglicht, welche die Richtigkeit des Modells beweisen oder verneinen
können. Im Jahre 1934 wiesen E. N. Harvey und H. Shapiro (E. N. Harvey and
H. Shapiro, J.Cell. and Comp. Physiol. 5, 255, 1934) darauf hin, dass die Ober-
flächenspannung eines Lipidtropfens etwa 60-mal größer als die einer Eizelle ist
(Eizelle 0,1 bis 0,2 Dyn/cm und Lipidtropfen 9,0 Dyn/cm). Somit konnte das
einfache Membranmodell der Lipiddoppelschicht nicht richtig sein. Durch Vor-
stellung eines aufgelagerten Proteinfilms wurden zunächst die Widersprüche
des Spannungsunterschiedes zwischen Zelle und Lipidtropfen beseitigt. Dies
führte 1935 zur gemischten Protein-Lipidfilm-Theorie“ der Membran

von Danielli und Davson (Literaturzitat in der Legende der Abbildung 2.10).
Auch das Modell der gemischten Protein-Lipiddoppelschicht“ wurde durch

gezielte Experimente zu Fall gebracht, da eine durchgehende Lipiddoppel-
schicht für Moleküle wie Glucose oder das Hydrogencarbonat-Anion zu wenig
durchlässig ist. Dies steht ganz im Gegensatz zur Erythrozytenmembran und
zu anderen tierischen Zellmembranen, die z. B. für das wasserlösliche Glucose-
Molekül 106 -mal besser permeabel sind als reine Lipidmembranen. Um die
lange Entdeckungsgeschichte abzukürzen, sei hier als Resultat festgehalten,
dass für den Transport von Substraten verschiedene Transportproteine ver-
antwortlich sind, die in die Lipiddoppelschicht eingelagert sind.
Schließlich wurde im Jahre 1972 von S. J. Singer und G. L. Nicolson das Flüs-

sig-Mosaik-Modell“ der Membran entwickelt (Abbildung 2.10). Das mole-
kulare Membranmodell geht davon aus, dass die Membranproteine, die Trans-
portproteine, Rezeptoren, Enzyme oder Strukturproteine sein können, in die
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 45

Protein-Auflage

Lipid-Doppelschicht (A)
gemischter Protein-Lipidfilm (B)

O
1 CH2 O C (CH2)14 CH3
O CH O C (CH2)14 CH3
R O P O CH2 O
2 O
-

3
Symbol

Flüssig-Mosaik-Modell (C)

Abbildung 2.10 Membranmodelle. Lipid-Doppelschicht ((A) E. Gorter and F. Grendel, J.


Exper. Med. 41, 439, 1925), gemischter Protein-Lipidfilm ((B) J. F. Danielli and H. Davson,
J. Cell. and Comp. Physiol. 5, 495, 1935) und Flüssig-Mosaik-Modell ((C) S. J. Singer and
G. L. Nicolson, Science 175, 720, 1972). 1, 2 und 3 sind verschiedene Membranproteintypen
im Flüssig-Mosaik-Modell. Das verwendete Symbol steht für ein Phospholipidmolekül, wel-
ches aus vier Komponenten zusammengesetzt ist. Erstens Fettsäuren, zweitens Glycerin oder
Sphingosin, drittens eine Phosphatgruppe und viertens einem Alkohol (R). Den hydrophoben
Anteil (Schwänze) bilden die beiden Fettsäuren (hier Palmitinsäure), die mit Glycerin an
C1 und C2 verestert sind. Die letzte Hydroxylgruppe des Glycerins, C3 , führt zum hydrophi-
len Anteil (runder Kopf ) und ist mit Phosphorsäure verestert, die andererseits mit Cholin,
Ethanolamin, Serin oder Inositol einen Diester bildet.

Lipiddoppelschicht eingetaucht sind. Die hydrophoben Bereiche sind in das In-


nere der Membran eingebettet, die hydrophilen Teile sind den wässrigen Innen-
und Außenlösungen zugewandt. Die Bestandteile der Membran, Lipide und
Proteine, werden ausschließlich durch nicht-kovalente Bindungen zusammen-
gehalten und können innerhalb der Membran lateral (seitlich) diffundieren.
46 Kapitel 2 Toxikokinetik

Der Austausch der Lipide von einer Seite der Membran zur anderen (sog. flip-

flop“ oder transverse diffusion“) ist im Gegensatz zur lateralen Diffusion ein

sehr langsamer Prozess. Ein flip-flop“ der Proteine wird dagegen nicht beob-

achtet.
Folgende Merkmale einer Membran können herausgestellt werden:

1. Membranen sind hauchdünne Filme, die kleine Kompartimente mit unter-


schiedlichem Zellinhalt allseitig umschließen und begrenzen. Sie bestehen aus
wenigen Molekülschichten, ihre Dicke liegt meist zwischen 6 und 10 nm.

2. Membranen sind hauptsächlich aus Lipiden und Proteinen aufgebaut. Der


Proteinanteil liegt meistens zwischen 40 und 60 %. Außerdem enthalten sie
wechselnde Anteile von Kohlenhydraten, die an Lipide und Proteine gebunden
sind.

3. Die Membranlipide sind relativ kleine Moleküle mit amphiphilen Eigen-


schaften. Die Hauptgruppe bilden die Phospholipide, danach kommen die eine
Kohlenhydratgruppe enthaltenden Glycolipide und schließlich neutrale Lipide
wie das Cholesterin.

4. Die Membranproteine haben spezifische Funktionen. Sie wirken als Trans-


porter für verschiedene Nährstoffe und Ionen, als Ionen-Kanäle, als Rezeptoren
mit Signalfunktion, als Energieübermittler und als Enzyme. Außerdem dienen
sie als Strukturelemente, welche z. B. das Zytoskelett der Zelle bilden.

5. Die Membranbestandteile werden ausschließlich durch viele nicht-kovalente


Bindungskräfte kooperativ zusammengehalten. Die Anordnung in der Mem-
branmatrix hat eine Maximierung der hydrophoben Wechselwirkungen zwi-
schen den Molekülen zur Folge und ist daher energiearm und thermodynamisch
stabil. Für hydrophile Substanzen wird hiermit eine effektive Barriere gebildet.

6. Proteine und Lipide sind asymmetrisch verteilt. Kohlenhydrate finden sich


ausschließlich auf der äußeren Oberfläche der Membran.

7. Membranen haben Fließ-Eigenschaften. Die Lipide besitzen eine schnelle la-


terale Diffusion. Dies gilt auch für die Proteine, die wie Eisberge in einem zwei-
dimensionalen Lipid-Meer herumschwimmen, wenn sie nicht mit oder durch
die Strukturproteine verankert sind. Eine langsame transverse Diffusion wie
bei den Lipiden wurde für Proteine nicht beobachtet.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 47

2.3.3 Kompartimentierung innerhalb von Zellen


Nachdem eine toxische Substanz die Barriere der Zellmembran überwunden
hat, tritt sie in das Zytoplasma ein. Im Zytoplasma befinden sich unter ande-
rem viele gelöste Enzyme, wie z. B. die Enzyme für den glycolytischen Abbau
der Glucose. Beim Erythrozyten als einer Ausnahmezelle besteht das Zellinne-
re aus einem einzigen Kompartiment, das zum größten Teil mit Hämoglobin
angefüllt ist. Alle anderen Zellen (auch die unreifen Vorstufen der Erythro-
zyten) besitzen im Zellinneren weitere Kompartimente, die ebenfalls durch
Membranen begrenzt werden. Die intrazellulären Kompartimente enthalten

Abbildung 2.11 Idealisiertes Bild einer Zelle. Der Zellkern steht über Poren mit dem Zyto-
plasma in Verbindung. Der zytoplasmatische Raum ist zum größten Teil ausgefüllt mit weite-
ren Organellen, dem glatten und rauhen endoplasmatischen Retikulum, Mitochondrien, dem
Golgi-Apparat und den Lysosomen. Der Zellkern wird von einer Doppelmembranhülle um-
schlossen, welche die Desoxyribonukleinsäure (DNA) einschließt. Die genetische Information
ist in den Basensequenzen der DNA-Moleküle codiert, die eine bestimmte, für alle Lebewe-
sen charakteristische Anzahl von Chromosomen bilden (Schema nach Wohlfahrt-Bottermann
und Loewy).
48 Kapitel 2 Toxikokinetik

unterschiedliche enzymatische Ausstattungen und erleichtern damit die Regu-


lation einer Vielzahl von Stoffwechselwegen. Abbildung 2.11 gibt eine Übersicht
über die intrazellulären Kompartimente (Organellen).
Das umfangreichste intrazelluläre Membransystem ist das endoplasmatische
Retikulum, welches ein schlauchartiges Röhrensystem darstellt. Es ist sowohl
mit der Zellkernmembran als auch mit der Zellmembran verbunden.
Ein großer Teil dieser Organelle, das sogenannte rauhe endoplasmatische Reti-
kulum, ist mit Ribosomen besetzt. In diesen läuft die Synthese von Proteinen
ab, die entweder zu den Membranen gebracht werden oder für die Ausschleu-
sung aus der Zelle bestimmt sind.
Im glatten endoplasmatischen Retikulum, das keine Ribosomen besitzt, wer-
den die Lipide synthetisiert. Außerdem enthält das glatte endoplasmatische
Retikulum die wichtigen Enzymsysteme, die im wesentlichen für den Abbau
von Fremdstoffen, für die Biotransformation, verantwortlich sind, wie z. B. die
Cytochrom P-450-Monooxygenasen und UDP-Glucuronyl-Transferasen. Viele
Substanzen, die im endoplasmatischen Retikulum entstehen, werden weiter in
den Golgikomplex transportiert und dort weiter verarbeitet.
In den Mitochondrien, die mit einer Doppelmembran umgeben sind, erfolgt
die eigentliche Zellatmung. Mit Hilfe des Sauerstoffs werden die Nährstoffe
zu den Stoffwechselendprodukten CO2 und Wasser abgebaut. Dabei entsteht
die energiereiche Verbindung Adenosintriphophat (ATP), die überall in der
Zelle als universaler Brennstoff“ und als Energielieferant eingesetzt werden

kann.
Die Lysosomen sind von einer Einzelmembran umhüllte Organellen, die in
Größe und Aussehen variieren können. Sie enthalten eine Vielzahl von hydro-
lytischen Enzymen für die Verdauung zellfremder Substanzen sowie für das Re-
cycling zelleigener Bestandteile. Zytologische Untersuchungen haben ergeben,
dass die Lysosomen durch Abschnürung aus dem Golgi-Apparat entstehen.

2.3.4 Permeabilität von Membranen für toxische Substanzen

Bei der Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung müssen toxische Substanzen


erst verschiedene Membranbarrieren passieren, bevor sie zum eigentlichen Wir-
kort gelangen. Der Membrantransport von Substanzen erfolgt grundsätzlich
auf drei verschiedenen Wegen: einfache Diffusion, carriervermittelter Trans-
port und vesikulärer Transport.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 49

Transport durch Diffusion

Der Aufbau der Plasmamembran wurde im Kapitel 2.3.2 als eine kontinuier-
liche Lipiddoppelschicht beschrieben, in die hydrophobe Proteine eingebettet
sind. Ein Diffusionstransport von Substanzen kann sowohl durch die Lipiddop-
pelschicht als auch über die hydrophoben Proteine erfolgen. Dies soll exempla-
risch am Transport von Wasser am Membranmodell des Erythrozyten gezeigt
werden.

• Permeation von Wasser durch die Lipidphase der Membran


Wasser kann am einfachsten durch die Lipidphase der Erythrozytenmembran
diffundieren. Dieser Diffusionsweg wird durch keine pharmakologischen Sub-
stanzen gehemmt. Charakteristisch für die Diffusion von H2 O durch die Lipid-
doppelschicht ist seine deutliche Temperaturabhängigkeit mit einer relativ ho-
hen Aktivierungsenergie von über > 10 kcal/mol. Eine Erklärung hierfür bietet
die dichtere Packung der Lipidmoleküle bei niedriger Temperatur im Vergleich
zur Packung bei höherer Temperatur (Abbildung 2.12).

• Permeation von Wasser durch Membrankanäle


Ein zweiter Diffusionsweg von H2 O durch die Erythrozytenmembran wurde
erst 1991 von G. M. Preston and P. Agre beschrieben. Sie fanden, dass ein
kleines Kanalprotein von 28 kDa in der Plasmamembran hauptsächlich für
den Wassertransport verantwortlich ist (Abbildung 2.12).

Dieser Wasserkanal wurde zunächst als CHIP28 bezeichnet (channel-forming


integral membrane protein) und in der Membran von Erythrozyten gefun-
den. Pro Erythrozyt gibt es etwa 150 000 solcher Kanäle. In der Genom-
Nomenklatur wurden dieser und ähnliche Wasserkanäle, die sich auch in an-
deren Zellen und ganz besonders in der Niere fanden (siehe Kapitel 4.2.5),
allgemein als Aquaporine bezeichnet.
Im Gegensatz zur Wasserdiffusion durch die Lipiddoppelschicht ist der Trans-
port von H2 O durch den Aquaporinkanal mit Quecksilber-Ionen hemmbar. Der
Wirkort des Quecksilbers ist die Aminosäure Cystein, C189, in der Aminosäur-
ensequenz des Aquaporins. Es besteht aus 6 hydrophoben transmembranösen
Domänen. Zwei Außenloops formen zusätzlich einen hydrophoben Ring, der
aus 6 Aminosäuren gebildet wird und wahrscheinlich die eigentliche Wasser-
pore darstellt. Aufgrund der permanenten Durchgängigkeit des Wasserkanals
ist seine Temperaturabhängigkeit für die Passage von H2 O nur sehr gering. Es
resultiert eine Aktivierungsenergie von weniger als 4 kcal/mol, die statistisch
nicht verschieden von einer Diffusion von Wasser in Wasser ist. Der Kanal-
querschnitt ist so klein, dass nur H2 O-Moleküle und keine H3 O+ -Ionen oder
andere kleine Moleküle wie Glycin, Harnstoff, Ethanol penetrieren können.
50 Kapitel 2 Toxikokinetik

H H
O H
O O
H H
H H H
H O O
H H H
O O
H
H H H
H P C H H
H O O
N A O H
O
N O
H H A H O
H
H P H H
H
H
O O
O H
H H H
O O
H H H
O O H
O
H H
Membran H
H

Abbildung 2.12 Transportwege von H2 O durch die Plasmamembran. Aquaporin ist ein
durchgängiger Wasserkanal. Die engste Stelle des 28 kDa Proteins wird vermutlich durch
einen Ring von 6 Aminosäuren gebildet mit je zwei Asparagin (N), Prolin (P) und Alanin
(A) Aminosäuren. Quecksilber-Ionen können den Wasserdurchtritt durch Aquaporin hem-
men. Der Reaktionsort ist die Aminosäure Cystein (C189), die sich in der unmittelbaren
Nähe der Wasserpore befindet. Der Transport von Wasser durch die Lipiddoppelschicht der
Membran besitzt eine viel höhere Aktivierungsenergie, da wegen der dichten Packung der
Lipide bei niedriger Temperatur seine Diffusion erschwert ist (nach Peter Agre et al. 1995).

Die Lipiddoppelschicht und Aquaporin sind jedoch nicht die einzigen Kanal-
strukturen, die eine Wasserpermeabilität durch die Membran ermöglichen. Un-
tersuchungen am Glucosetransporter Glut1 in der Erythrozytenmembran ha-
ben 1989 gezeigt, dass über diesen carriervermittelten Glucosetransport auch
H2 O-Moleküle die Membran permeieren können. Außerdem wurden noch ande-
re carriervermittelte Transporter, wie der Anionentransporter, für wasserper-
meable Strukturen gehalten. Diese Beispiele sollen zeigen, dass die Diffusions-
wege von kleinen Molekülen wie Wasser durch die Membran überaus vielfältig
sein können.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 51

Für kleine Moleküle wie Glycin und Harnstoff werden außerdem spezielle
Membrantransporter in der Erythrozytenmembran diskutiert. Das Auffinden
von Transportproteinen für Acetat und Ethanol in der Hefeplasmamembran
hat zur Revision des früheren Standpunktes geführt, dass kleine Moleküle al-
lein durch Diffusion die Membran passieren können. Dagegen gilt dies im-
mer noch für die meisten toxischen Substanzen und gasförmigen Stoffe wie
O2 , CO2 , CO, NH3 und HCN.

• Permeation toxischer Substanzen


In einer homogenen Lösung bewegen sich die Moleküle mit gleicher Wahr-
scheinlichkeit in alle Raumrichtungen, d. h. in einem abgeschlossenen Kom-
partiment bleibt die Gesamtkonzentration unabhängig von der Zeit konstant.
Bestehen aber Konzentrationsunterschiede zwischen zwei benachbarten Raum-
teilen eines Lösungsraums, so werden Moleküle von dem Raumteil höherer Mo-
lekülkonzentration zu demjenigen niedrigerer Konzentration transportiert, bis
ein Konzentrationsausgleich stattgefunden hat.

Dieser Stofftransport findet grundsätzlich auch statt, wenn zwei Lösungen von
unterschiedlicher Molekülkonzentration durch eine permeable Membran ge-
trennt werden. Eine Membran ist insofern eine Transportbarriere für alle Sub-
stanzen, deren Löslichkeit und Beweglichkeit in der Membran viel geringer als
in der angrenzenden Körperflüssigkeit ist. Nach ihren physikalisch-chemischen
Eigenschaften, die für die Diffusion durch biologische Membranen bestimmend
sind, lassen sich Substanzen in vier Gruppen einteilen:
a. Elektrolyte
Im Vergleich zu ungeladenen Molekülen ist die Beschreibung von passiven Dif-
fusionsvorgängen von Ionen durch Membranen sehr kompliziert. Häufig besteht
an der Membran eine elektrische Potentialdifferenz zwischen den angrenzen-
den Körperflüssigkeiten. Dadurch bewegen sich die Ionen sowohl unter dem
Einfluss eines chemischen Konzentrationsgradienten als auch unter dem eines
elektrischen Potentialgradienten. Weiterhin sind im Vergleich zu ungeladenen
Nichtelektrolyten die Wechselwirkungskräfte zwischen Ionen und Wasser sehr
viel stärker. Man muss daher annehmen, dass Elektrolyte nicht in ausreichen-
der Konzentration in die Lipiddoppelschicht der Membran eindringen können
und keine messbaren Ionenflüsse hervorrufen. Lipiddoppelschichten besitzen
in der Tat einen sehr hohen elektrischen Widerstand, d. h. sie sind äußerst
schlecht diffusibel für Ionen.
Der um Größenordnungen niedrigere elektrische Widerstand von Zellmembra-
nen wird mit den spezifischen Transportstellen für bestimmte Ionen in Verbin-
dung gebracht. Aus diesen Gründen wird ein nennenswerter einfacher Diffusi-
onsbeitrag von Elektrolyten durch biologische Membranen stark angezweifelt.
52 Kapitel 2 Toxikokinetik

Dagegen sind Lipiddoppelschichten für organische Ionen, die p-Elektronen ent-


halten, wie z. B. Rhodanid oder Tetraphenylborat, gut diffusibel.
Weiterhin findet eine einfache Diffusion von Ionen an Epithelmembranen in der
Niere, dem Dünndarm oder der Gallenblase statt. Hier sind es jedoch die zwi-
schenzellulären Verbindungen, die keine geschlossene Lipidbarriere darstellen,
sondern vielmehr durch ihr Proteinmaschenwerk mit einer Ionenaustauscher-
membran verglichen werden können.
b. Kleine hydrophile Moleküle
Kleine hydrophile Moleküle benutzen als Diffusionswege wassergefüllte Po-
ren oder Kanäle, die hauptsächlich im Inneren der Membranproteine zu finden
sind. Für Erythrozyten und viele andere Zellen wird ein hypothetischer Poren-
durchmesser von etwa 0,4 nm angenommen. Kleine wasserlösliche Moleküle wie
Harnstoff und Glycerin können leicht diffundieren, die Permeationsgeschwin-
digkeit nimmt mit zunehmender Molekülgröße ab. Das gleiche Prinzip gilt für
den Dünndarm, bei dem man einen mittleren hypothetischen Porendurchmes-
ser von etwa 0,6 bis 1,6 nm errechnet hat. Moleküle unter einem mittleren
Molekulargewicht von 400 können durch solche Poren penetrieren. Schwemmt
man z. B. Erythrozyten in einer konzentrierten Harnstofflösung auf, so erfolgt
ein schneller Wasseraustritt durch die Aquaporine, verbunden mit einem
Schrumpfen der Zellen. Erst später schwellen die Zellen durch die langsamere
Harnstoffdiffusion.
Als einen Spezialfall der Diffusion kann man auch die Osmose auffassen. Os-
mose ist definiert als ein Lösungsmitteltransport durch eine semipermeable
Membran, die zwei Lösungen mit unterschiedlichen Molekülkonzentrationen
trennt. Dabei dringen z. B. Wassermoleküle durch die für die gelösten Moleküle
undurchlässige Membran auf die Seite mit höherer Molekülkonzentration, bis
ein Konzentrationsausgleich erreicht ist.
An biologischen Membranen liegt im allgemeinen ein kombinierter Membran-
transport von Wasser und gelösten Molekülen vor. Die Analyse solcher sich
überlagernder Transporte ist außerordentlich schwierig.
Schließlich sollte an dieser Stelle noch die Filtration erwähnt werden. Fil-
tration erfolgt, wie in der Abbildung 2.9 gezeigt, unter der treibenden Kraft
einer hydrostatischen Druckdifferenz zwischen angrenzenden Flüssigkeiten zu
beiden Seiten der Membran (Gefäßwände).
Sind in einer Membran der Porenradius, die Länge der Poren und deren An-
zahl bekannt, so kann man zur Beschreibung des Flüssigkeitsstromes durch die
Filtermembran das Gesetz von Hagen-Poiseuille anwenden:
V = [(r4 · π · n)/(8L · η)] · ∆p
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 53

Wobei V der Filtrationsgeschwindigkeit (Volumen/Zeit), r dem Porenradius,


∆p der hydrostatischen Druckdifferenz, n der Anzahl der Poren, η der Visko-
sität und L der Länge der Poren entspricht.
Bei der Filtration wandert das Lösungsmittel zusammen mit den gelösten Teil-
chen durch die Membran. Die Filtration ist z. B. wichtig in den Blutkapillaren
(Abbildung 2.9) und bei der Filtration des Plasmas in der Niere (Abbildung
2.21), einem wesentlichen Ausscheidungsmechanismus von toxischen Substan-
zen.
c. Kleine nichtpolare Moleküle, Gase
Für kleine wasserlösliche Gase wie Sauerstoff, Kohlendioxid, Stickstoff, Koh-
lenmonoxid, Cyanwasserstoff und Ammoniak sind biologische Membranen sehr
gut permeabel. Die Diffusion wird durch die Membranen nicht wesentlich be-
hindert und zeigt kaum eine Selektivität.
d. Lipophile Moleküle
Die Diffusion von lipophilen Molekülen durch die Lipiddoppelschicht ist ein
Mechanismus, der sehr häufig von toxischen Substanzen genutzt wird. Um-
fangreiche Untersuchungen über die Permeabilität von Nichtelektrolyten ha-
ben ergeben, dass die Permeabilität und der VerteilungskoeffizientVk deutlich
korreliert sind. Der Verteilungskoeffizient ergibt sich aus dem Verhältnis
der Konzentration in der Lipidphase zur Konzentration in der Wasserphase.
Vk ist ein Maß für die hydrophoben Eigenschaften von Molekülen. Dieser Ko-
effizient müsste eigentlich aus der Verteilung zwischen den Membranlipiden
und dem angrenzenden Gewebewasser bestimmt werden. Da dies praktisch
nicht durchführbar ist, misst man Vk an Modellsystemen. Früher wurde nach
Einstellung des Gleichgewichtes die Konzentration der Substanz in Olivenöl
und in einer darunter befindlichen Wasserphase gemessen. Der resultierende
Quotient wurde als eine ausreichende Annäherung an die tatsächliche Vertei-
lung zwischen den Membranlipiden und der wässrigen Phase angenommen.
Heute benutzt man als Lipidphase chemisch reine Substanzen wie unpolare
Kohlenwasserstoffe, z. B. Heptan, oder höhere Alkohole wie Oktanol.
Die gute Korrelation von Permeabilität und Verteilungskoeffizient an verschie-
denen Membrantypen und die vergleichsweise geringe Abhängigkeit vom Mo-
lekulargewicht bestätigt die Vorstellungen, dass sich die Zellmembran wie eine
Lipidbarriere verhält und dass die Permeabilität im wesentlichen durch die
Kräfte beeinflusst wird, die auch die Verteilung zwischen Lipid und Wasser
bestimmen. Die Befunde lassen sich mit guter Annäherung durch das Fick’sche
Diffusionsgesetz, wie bereits bei der Permeabilität durch die Haut verwendet
(Kapitel 2.1.1), beschreiben. Für die Membranpermeabilität nimmt man an,
dass der Übergang von der Außenlösung in die hydrophobe Membranphase
nicht geschwindigkeitsbestimmend ist. Der Phasenübergang soll so schnell er-
54 Kapitel 2 Toxikokinetik

folgen, dass sich die Oberflächen in der Membranphase mit den angrenzenden
Flüssigkeiten stets im Verteilungsgleichgewicht befinden und die Diffusion in
der Lipiddoppelschicht ähnlich wie in freier Lösung abläuft. Die Fick´sche
Gleichung:

dm/dt = Kd · Vk · (Oberfläche/Schichtdicke) ·∆c

lässt sich folgendermaßen umformen, wenn die Oberfläche der Membran in cm2
mit A und die Dicke der Membran mit λ in cm angegeben wird:

(dm/dt)/A = (Kd · Vk /λ) · ∆c

Die linke Seite der Gleichung gibt die Zahl der Moleküle m an, die pro Zeitein-
heit (sec) und Oberflächeneinheit (cm2 ) die Membran passieren. Sie ist hiermit
identisch mit der Definition für den Membranfluss J:

J = (dm/dt)/A

Auf der rechten Seite der Fick´schen Gleichung wird anstelle des Diffusionsko-
effizienten Kd der Permeabilitätskoeffizient P eingeführt, welcher als Kd /λ
definiert ist. Da die Dimension für Kd [cm2 sec−1 ] ist, hat P die Dimension
[cm sec−1 ] und damit ist der Membranfluss J auch:

J = P · Vk · ∆c

Der Permeabilitätskoeffizient P ist insofern zweckmäßig, als für die meisten


Membranen die genaue Dicke nicht bestimmt werden kann. Wenn der Konzen-
trationsunterschied an beiden Seiten der Membran ein Mol beträgt, so gibt P
die Zahl der Moleküle an, die in einer Sekunde pro cm2 Oberfläche die Mem-
bran passieren. P hängt, wie der Diffusionskoeffizient Kd , von der Molekülgröße
und der Temperatur ab.
Die Permeabilität einer toxischen Substanz durch die Lipidbarriere einer Mem-
bran hängt außerdem stark von ihrer Ionisation ab. Eine Reihe von toxischen
Substanzen sind schwache Säuren oder Basen und liegen in wässrigen Lösun-
gen sowohl in der ionisierten als auch in der nicht-ionisierten Form vor. Wie
vorangehend ausgeführt, ist im allgemeinen die Membranpassage einer ioni-
sierten Substanz nur von geringer Bedeutung. Dagegen können auch größere
Moleküle im nicht-ionisierten Zustand aufgrund ihrer Lipophilie relativ leicht
durch die Membran diffundieren.
2.3 Der Aufbau von Zellmembranen 55

Die Verteilung von schwachen Säuren oder Basen wird im wesentlichen durch
deren pK-Werte und den pH-Gradienten über die Membran bestimmt. Die Ab-
bildung 2.13 soll den Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen
Säure mit einem pKa -Wert von 4,4 zwischen dem Blutplasma mit einem pH-
Wert von 7,4 und dem Mageninhalt mit einem pH von 1,4 veranschaulichen.
Bei der Verteilung wird angenommen, dass die Barriere zwischen Mageninhalt
und Blut sich wie eine einfache Lipidschicht verhält. Mit Hilfe der Henderson-
Hasselbalch´schen Gleichung lässt sich für Säuren und Basen das Verhält-
nis der Konzentrationen des nicht-ionisierten zum ionisierten Anteil bei jedem
pH-Wert berechnen:

pKa - pH = log [nicht-ionisiert/ionisiert], für Säuren,


pKb - pH = log [ionisiert/nicht-ionisiert], für Basen.

Bei dem Beispiel in Abbildung 2.13 ergibt sich für den Blutplasmaraum ein
Verhältnis von nicht-ionisiert zu ionisiert von 1 : 1000 und für den Magenin-

PLASMARAUM MAGENSAFT
pH 7.4 pH 1.4

nicht- nicht-
ionisiert [1] ionisiert [1]

ionisiert [1000] ionisiert [0.001]

insgesamt [1001] insgesamt [1.001]

Abbildung 2.13 Einfluss des pH-Wertes auf die Verteilung einer schwachen Säure mit dem
pKa -Wert von 4,4 zwischen Blutplasma und Mageninhalt nach Einstellung des Verteilungs-
Gleichgewichtes. Nur die nicht-ionisierte Form der schwachen Säure passiert die Membran-
doppelschicht der Magenwand. Die Zahlen in den eckigen Klammern bedeuten die Gleichge-
wichtskonzentrationen.
56 Kapitel 2 Toxikokinetik

halt 1 : 0,001. Nach Einstellung des Gleichgewichtszustands würde die Konzen-


tration der schwachen Säure insgesamt (ionisierte und nicht-ionisierte Form)
im Blutplasma 1001 und im Mageninhalt nur 1,001 betragen. Die ungleiche
Verteilung ist ein rein physikalisch-chemischer Prozess, der keine aktive Trans-
portleistung erfordert, abgesehen vom Aufbau des pH-Gradienten durch die
Protonenpumpe des Magens.
Für eine schwache Base mit einem pKb -Wert von 4,4 würde das sich einstellen-
de Verhältnis der Gesamtkonzentrationen zwischen Blutplasma und Magenin-
halt gerade umgekehrt sein, nämlich 1,001 zu 1001. Der Mageninhalt wirkt
hier wie eine Ionenfalle“ (Morphin).

Allgemein lässt sich formulieren, dass sich ein Gleichgewichtszustand nur für
den zur Membranpermeabilität fähigen nicht-ionisierten Anteil ausbilden kann.
Daher ist die Gesamtkonzentration an ionisierter und nicht-ionisierter Form
auf der Seite der stärkeren Ionisation größer als auf der Seite der schwäche-
ren Ionisation. Basische Substanzen häufen sich in dem Kompartiment mit
der höheren Protonen-Konzentration und saure Substanzen in dem mit der
niedrigen Protonen-Konzentration an.

2.3.5 Eintritt in die Zelle durch Pinozytose und Phagozytose


Es gibt auch Mechanismen, die es ermöglichen, dass eine toxische Substanz in
eine Zelle aufgenommen wird, ohne dass sie selbst die Membranbarriere zu pas-
sieren braucht. Man darf sich die Zellmembran nicht als ein statisches Häutchen
vorstellen, sondern sie ist ein äußerst dynamisches Gebilde. Bei der Pinozytose
und der Phagozytose bildet die Zellmembran zunächst Einbuchtungen, welche
extrazelluläre Flüssigkeit (Pinozytose) oder feste Partikel (Phagozytose)
aufnehmen. Durch weitere Einstülpung und Abschnürung eines kleinen Mem-
branabschnittes entstehen Membranvesikel, die in das Zellinnere gelangen und
dort ihren Inhalt freisetzen.
Diese Vorgänge bezeichnet man auch als Endozytose im Gegensatz zur Exo-
zytose, der Ausschleusung von Membranvesikeln aus der Zelle. Durch Endozy-
tose können sogar größere Moleküle (wie z. B. das Botulinus-Toxin) und selbst
fremde Zellen (z. B. Bakterien und Hefezellen) und Partikel in die Zelle gelan-
gen oder nur durch sie hindurch transportiert werden (Transzytose). Bei der
Endo- und Exozytose handelt es sich um energieverbrauchende Prozesse, an
denen kontraktile Proteine beteiligt zu sein scheinen.
Eine weitere besondere Form der Endozytose ist die Rezeptor-vermittelte En-
dozytose. Ein Beispiel hierfür ist der Eisentransport in die Zelle (siehe Kapitel
4.1.6). Eisen ist trotz seiner absoluten Notwendigkeit für den Organismus ein
hochtoxisches Metall und wird darum von einem speziellen Transportprotein,
2.4 Bindung und Speicherung 57

dem Transferrin, sicher gebunden und transportiert. Das mit zwei Fe3+ -Ionen
beladene Ferrotransferrin dockt an der Membran an einem speziellen Rezeptor
an. Wenn an einer Stelle eine genügende Anzahl besetzter Rezeptoren vorhan-
den ist, stülpt sich die Membran ein und schnürt sich mit dem Inhalt ab. Das
Eisen gelangt zu dem Eisenspeicher Ferritin im Zytoplasma, und der Rezeptor
kehrt an die Zelloberfläche zurück, wo er das eisenlose Apotransferrin freisetzt.
Dieser Zyklus dauert etwa 16 Minuten, und eine Leberzelle tranportiert auf
diese Weise ungefähr 20 000 Eisen-Atome pro Minute.

2.4 Bindung und Speicherung

Toxische Moleküle werden sehr oft an spezifischen Stellen im Organismus ein-


gelagert. Einige Moleküle reichern sich besonders dort an, wo auch ihre toxische
Wirkung erfolgt. Das gilt z. B. für das Cadmium in den Nieren, für Kohlenmon-
oxid am Hämoglobin, für Cyanwasserstoff an den elektronentransportierenden
Cytochromen oder für das Herbizid Paraquat in den Lungenepithelien.
Andere toxische Substanzen werden gebunden oder gespeichert und sind in die-
ser Form unschädlich für den Organismus. Dies wurde vorangehend für Eisen
gezeigt, das an die Proteine Transferrin und Ferritin in einer für den Orga-
nismus ungiftigen Form gebunden ist und gilt auch für Blei, das im Knochen-
gewebe gespeichert werden kann. Ein anderes Beispiel ist das Insektizid DDT
(Dichlordiphenyltrichlorethan), das im Fettgewebe in wirkungsloser Form ge-
lagert wird.
Als allgemeine Regel für gebundene oder gespeicherte Substanzen gilt:
1. Die immobilisierten Substanzen verursachen keine toxischen Wirkungen –
die toxisch wirksamen Konzentrationen sind im allgemeinen die freien Kon-
zentrationen.

2. Die immobilisierten Formen können nicht von Enzymen umgesetzt werden


und sind somit dem Stoffwechsel entzogen.

3. Die Bindung und Speicherung verursacht bei fortgesetzter Exposition eine


Kumulation im Organismus und verhindert damit eine wirksame Ausscheidung
aus dem Körper über die Nieren oder mit den Exkrementen.
Das Ausmaß der Bindung und Speicherung hängt von der Kapazität der Bin-
dungsorte oder Speicher ab. Es wird bestimmt von der Konzentration der
Reaktionspartner und der Affinität der toxischen Substanz zu den Immobili-
sationsstellen.
58 Kapitel 2 Toxikokinetik

Viele toxische Substanzen werden an Proteine gebunden. Über einen weiten


Konzentrationsbereich besteht ein festes Verhältnis von gebundener Substanz
zu freier Konzentration, jedenfalls solange die Bindungsstellen nicht vollständig
besetzt sind. Die Proteine wirken auf diese Weise als Puffersubstanzen. Sub-
stanzen, die eine hohe Affinität zu den Bindungsstellen haben, können andere
daraus verdrängen.
Lipophile Substanzen können entsprechend ihres Verteilungskoeffizienten im
Fettgewebe hohe Konzentrationen erreichen. Dies kann innerhalb der biolo-
gischen Nahrungskette zu einer Anreicherung um mehrere Zehnerpotenzen
führen.
Infolge seines lipophilen Charakters wird z. B. DDT von im Wasser leben-
den Mikroorganismen absorbiert. Diese Mikroorganismen werden wiederum
durch das Plankton aufgenommen, welches in großen Mengen vorkommt und
hauptsächlich aus einzelligen Tieren und mikroskopisch kleinen Krebsen (Crus-
taceen) besteht. Es resultiert dabei eine Anreicherung um den Faktor 10. Gar-
nelen, Muscheln und kleine Fischarten ernähren sich vom Plankton, und es
erfolgt eine erneute Anreicherung um den Faktor 10. Diese Tiere sind nun
die Beute für größere Fische, die ebenso etwa die l0fache Menge an Beute zum
Aufbau ihrer Gewebe benötigen. Daher ist die DDT-Konzentration in größeren
Fischen nochmals 10fach höher. Verschiedene Vogelarten leben von Fischen,
was wiederum eine Anreicherung um den Faktor 10 bedeutet. So wird veran-
schaulicht, dass die Kumulation einer lipophilen Substanz in der Nahrungs-
kette unter Umständen für eine am Ende der Kette stehende Spezies, wie den
Menschen, toxische Folgen haben kann.

2.4.1 Plasmaproteine, Hämoglobin und Muskelproteine


Mengenmäßig betragen die Plasmaproteine im Blut des Erwachsenen etwa
0,3 kg, das Hämoglobin in den Erythrozyten 0,9 kg und alle Muskelproteine zu-
sammen 9 kg. Entsprechend der chemischen Struktur der Proteine können toxi-
sche Substanzen über Ionen-, Wasserstoffbrücken- und Dipol-Dipol-Bindungen
sowie durch hydrophobe Wechselwirkungen gebunden werden. Die hydropho-
be Bindung ist vielseitiger und die quantitativ wichtigere Bindungsart. Die
verschiedenen Bindungsmöglichkeiten erklären auch, warum die unterschied-
lichsten Substanzen an Proteine gebunden werden können. Oft erfolgt eine
reversible Bindung an Orte mit hoher Affinität, deren Zahl verhältnismäßig
klein sein kann.
Die Unterteilung der Plasmaproteine erfolgt vorwiegend entsprechend ihrer
elektrophoretischen Beweglichkeit in die Gruppen Albumin, a1 -, a2 -, b1 -, b2 -
und g-Globuline. Zusätzlich können noch mit Hilfe einer Immunelektrophorese
2.4 Bindung und Speicherung 59

Tabelle 2.5 Eine Auswahl der wichtigsten Proteine des menschlichen Plasmas. Albumin
nimmt den grössten Anteil von etwa 60 % ein, die α1 -Globuline folgen mit 4 %, die α2 -
Globuline mit 8 %, die β-Globuline mit 12 % und die γ-Globuline mit 16 %. Neben dem
Molekulargewicht in kD ist der Normalbereich im Serum (Plasma ohne Fibrin = Serum)
eines Erwachsenen in g/Liter angegeben, sowie die wichtigsten Funktionen der Proteine.

Proteine kD g/Liter Funktion


Albumin 69 35 – 55 Bindung, Transport, kolloidosmot. Druck
α1 -Globulin 44 0,6 – 1,4 saures α1 -Glycoprotein, Akute Phase Protein
α1 -Globulin 54 2–4 α1 -Antitrypsin, Proteaseinhibitor
α1 -Globulin 200 2,9 – 7,7 α1 -Lipoprotein, Transport
α1 -Globulin 60 0,05 – 0,1 Prothrombin, Gerinnung
α1 -Globulin 68 0,3 – 0,6 α1 -Antichymotrypsin, Chymotrypsininhibitor
α2 -Globulin 160 0,2 – 0,6 α2 -Caeruloplasmin, Ferrooxidase, Cu-Transport
α2 -Globulin 65 0,2 – 0,3 α2 -Antithrombin III, Gerinnung
α2 -Globulin 100 0,8 – 3,0 α2 -Haptoglobin, Hämoglobinbindung
α2 -Globulin 143 0,06 – 0,3 Plasminogen, Fibrinolyse
β-Globulin 3200 2,5 – 8,0 β-Lipoprotein, Transport von Lipiden
β1 -Globulin 185 0,8 – 1,4 β1 C-Globulin, Komplementfaktor
β1 -Globulin 80 0,5 – 1,15 Hämopexin, Häminbindung
β1 -Globulin 90 2–4 Transferrin, Transport von Eisen
β1 -Globulin 340 2,0 – 4,5 Fibrinogen, Gerinnungsfaktor 1
γ-Globulin 150 8,0 – 18 IgG, Antikörper
γ-Globulin 160 0,9 – 4,5 IgA, Antikörper
γ-Globulin 900 0,6 – 2,5 IgM, Antikörper
γ-Globulin 170 < 0, 15 IgD, Antikörper
γ-Globulin 190 < 6 · 10−4 IgE, Antikörper
γ-Globulin 15 5 − 15 · 10−3 Lysozym, Bakterienauflösung

bis zu 40 Präzipitationsproteine nachgewiesen werden. Dabei werden die bei


der einfachen Elektrophorese homogen erscheinenden Proteinfraktionen durch
eine Antigen-Antikörperreaktion, z. B. mit einem Antiserum vom Kaninchen,
in diverse Einzelbestandteile zerlegt. Die Tabelle 2.5 soll ein Bild der Vielfältig-
keit von menschlichen Plasmaproteinen vermitteln und zeigt besonders die
Mannigfaltigkeit der Funktionen dieser Proteine auf.
Das Albumin bildet mit etwa 60 % den größten Anteil der Plasmaproteine.
Es ist deshalb hauptsächlich für den kolloidosmotischen Druck verantwortlich
und stellt gleichzeitig eine wichtige Proteinreserve des Organismus dar. Au-
ßerdem hat das Albumin die Fähigkeit, viele körpereigene und körperfremde
Substanzen (z. B. zweiwertige Kationen und eine Reihe lipophiler Substanzen
wie Fremdstoffe, Vitamine, Hormone, Medikamente etc.) reversibel zu binden
und übernimmt damit eine wichtige unspezifische Transport- und Vehikelfunk-
tion im Blut.
60 Kapitel 2 Toxikokinetik

Im Gegensatz dazu besitzen die Globuline speziellere Aufgaben. Dies dokumen-


tiert sich in spezifischer Bindung und in spezifischen Funktionen. Sie stellen
eine äußerst heterogene Gruppe von Proteinen dar, die sich außerdem unter-
scheiden durch ihre schlechtere Wasserlöslichkeit und ihr höheres Molekular-
gewicht.
Das saure a1 -Glycoprotein ist das kohlenhydradreichste Plasmaprotein (38 %),
es nimmt als Akute-Phase-Protein“ an der Immunmodulation bei akuten und

chronischen Infekten wie bei Karzinomen und in der Schwangerschaft teil.
Transferrin bindet zwei Fe3+ -Ionen und ist wegen seiner hohen Affinität zum
Eisen für dessen sicheren Transport zuständig. Caeruloplasmin ist eine Ei-
senoxidase und bindet Cu2+ -Ionen. Unter den Globulinen gibt es spezifische
Transportformen für Vitamine, Steroidhormone und Fette. Die a1 -Globuline
enthalten Inhibitoren für Proteasen. Das für die Blutgerinnung wichtige Fi-
brinogen gehört den b-Globulinen an. Die g-Globulin-Gruppe besteht aus den
Immunoglobulinen, die als Antikörper gegen fremde Proteine eine wichtige Ab-
wehrfunktion besitzen. Weitere Beispiele sind in der Tabelle 2.5 aufgezeichnet.
Die Bindung von toxischen Substanzen an intrazelluläre Proteine, wie beson-
ders an Hämoglobin und an die Muskelproteine, ist im Verhältnis zu der an
Plasmaproteine geringer einzuschätzen. Wegen deren größerer Masse fallen sie
jedoch quantitativ stärker ins Gewicht. Außer von den stofflichen Eigenschaf-
ten der toxischen Substanzen ist die Proteinbindung auch vom Lebensalter
abhängig. Beim Neugeborenen ist die Proteinbindung geringer als beim Er-
wachsenen, was seine erhöhte Empfindlichkeit erklärt.

2.4.2 Fettgewebe, Membranen


Lipophile toxische Substanzen verteilen sich hauptsächlich entsprechend ihres
Verteilungskoeffizienten in den Membranen und im Fettgewebe. Da das Fett-
gewebe als fester Zellbestandteil fast wasserfrei ist, schwankt die Relation des
Körperwassers zu den festen Bestandteilen entsprechend dem Fettgehalt des
Organismus. Darum ist auch im Vergleich zu einem jungen Mann das Körper-
wasser bei einer jungen Frau, wegen des höheren Fettgehaltes, im Durchschnitt
um 10 % geringer. Bei einem dicken Menschen beträgt der Fettgehalt etwa
50 % des Körpergewichts, während bei einem Athleten nur 20 % vorhanden
sein mögen. Daher kann sicherlich der Mensch mit mehr Fettgewebe auch eine
größere Menge lipophiler Substanzen speichern.
Werden die lipophilen toxischen Substanzen im Organismus nicht chemisch
umgesetzt und wasserlöslich gemacht und in dieser Form ausgeschieden, so be-
steht die Gefahr, dass sie unter bestimmten Bedingungen aus ihren Bindungs-
orten mobilisiert werden. Ein Abbau von Fettgewebe kann infolge von Ab-
2.4 Bindung und Speicherung 61

magerungskuren oder Hunger erfolgen. Dann können die zunächst unschädli-


chen, im Fettgewebe gespeicherten Substanzen über die lipophilen Membranen
praktisch in alle Gewebe des Organismus eindringen und toxische Wirkungen
verursachen. Um bei dem sehr langsam metabolisierten DDT zu bleiben, sei
als Beispiel angeführt, dass das Zusammentreffen der Kumulation von DDT
über die Nahrungskette und ein Abbau des Fettgewebes infolge Hungerns bei
Vögeln zu tödlichen Vergiftungen führen kann.
Eine toxische Wirkung tritt jedoch bei einigen vom Aussterben bedrohten Vo-
gelarten wahrscheinlich schon im Embryonalstadium ein, da sich im Eidotter
relativ hohe Konzentrationen lipophiler Schadstoffe befinden. Diese gelangen
während der Differenzierung und Entwicklung in das lipidreiche Nervensystem,
was fatale Folgen hat. Ähnliche Vergiftungsvorgänge wurden auch bei anderen
Tierarten, wie z. B. bei Robben, festgestellt, die vorübergehend große Fettde-
pots anlegen. Die toxischen Auswirkungen des DDT haben 1972 zum Verbot
sowohl seiner Herstellung als auch seines Inverkehrbringens in Deutschland
geführt.

2.4.3 Leber, Niere, Lunge und andere Organe

Die ersten drei Organe besitzen im allgemeinen eine höhere Kapazität, toxische
Substanzen zu binden, als andere Organe.
Leber, Nieren und Lungen gelten als die am meisten mit Schwermetallen, wie
Quecksilber und Cadmium, belasteten Organe, da sie diese mit hoher Affinität
binden. Die Leber übernimmt die Funktionen eines Kraftwerks, eines Energie-
speichers, einer chemische Fabrik und einer Entsorgungsanlage in einem und
ist dementsprechend auch als Bindungsort toxischer Substanzen prädestiniert.
Außerdem können durch die Biotransformation toxische Metaboliten entste-
hen, die wie beim Tetrachlorkohlenstoff am Ort des Entstehens das Organ
direkt schädigen.

2.4.4 Knochengewebe

Das relativ inerte Knochengewebe ist als guter Speicher für Fluorid, Blei und
Strontium sowie für diverse Salze bekannt. Blei und Strontium können Calcium
in der großen Oberfläche der Hydroxylapatitstruktur ersetzen. Das abgelagerte
Blei ist nicht toxisch, kann aber bei allen Prozessen mobilisert werden, die zum
Knochenabbau führen (z. B. bei Infektionskrankheiten oder in der Schwanger-
schaft).
62 Kapitel 2 Toxikokinetik

2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den


Stoffwechsel

Viele toxische Substanzen werden durch Biotransformation im menschlichen


Organismus chemisch verändert. Die leicht in den Organismus gelangenden
Substanzen sind lipophil und können in dieser Form nicht effektiv ausgeschie-
den werden, da sie sich bevorzugt in Fettzellen und in Membranen anreichern.
Die Zeitdauer, die toxische Substanzen im Organismus verbleiben, ist in zweier-
lei Hinsicht von Bedeutung. Erstens führt eine lange Verweildauer mit wieder-
holten effektiven Expositionen zur Kumulation mit einem erhöhten toxischen
Risiko, und zweitens können solche Substanzen unter bestimmten Bedingun-
gen aus den Speichern mobilisiert werden. Dies wurde bereits ausführlich am
Beispiel des Insektizids DDT bei der Bindung und Speicherung im Fettgewe-
be dargestellt. Unten aufgeführt ist die Strukturformel für das DDT (4,4´-
Dichlordiphenyltrichlorethan).

Cl
Cl Cl
C
Cl C Cl
H
Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT)

Diese Verbindung zeichnet sich durch ihre sehr langsame metabolische Abbau-
barkeit im menschlichen Organismus aus. Seit dem Verbot auf internationaler
Ebene konnte jedoch eine positive Entwicklung bezüglich der Kumulation in
der Umwelt sowie bei Mensch und Tier festgestellt werden. Die gemessenen
Konzentrationen von DDT und seiner Metabolite nahmen kontinuierlich ab.
Dagegen kam es in Entwicklungsländern wie Indien und Sri Lanka nach dem
Verbot von DDT zu einem dramatischen Anstieg der Zahl von Malariaerkran-
kungen und dadurch bedingter Todesfälle. Durch die starke Reduzierung des
DDT-Einsatzes und dem Fehlen preiswerter Alternativinsektizide wurde Ende
der 1990er Jahre in Indien ein Anstieg auf über 3 Millionen Malariaerkrankun-
gen registriert. Aufgrund des Mangels an preisgünstigen Alternativen wurde
darum DDT zur Malariabekämpfung in Gebäuden wieder zugelassen, da der
Wirkstoff noch immer eine relativ hohe Wirksamkeit gegenüber der Anopheles-
Mücke besitzt.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 63

Es hat in der Forschung viele Anstrengungen gegeben, die negativen Auswir-


kungen, die sich aus der Anwendung von Insektiziden des DDT-Types ergeben,
zu vermeiden. Ein solcher Weg führt zu 4,4´-Dimethoxydiphenyltrichlorethan
(Methoxychlor):

Cl
Cl C Cl
H3CO C OCH3
H
Dimethoxydiphenyltrichlorethan
(Methoxychlor)

Diese Substanz besitzt eine 500 mal höhere Wasserlöslichkeit als DDT, und
die biologische Abbaubarkeit ist um den Faktor 60 gesteigert bei einer etwa
20fach geringeren akuten Toxizität. Der Vorteil wird leider durch den Nachteil
einer schwächeren Insektiziden Wirkung aufgehoben.
Die Verbindung wurde an dieser Stelle aus didaktischen Gründen ausgewählt
und soll uns zum Mechanismus der Biotransformation im menschlichen Or-
ganismus führen. Der Ersatz der beiden Chlor-Atome durch zwei Methoxy-
Gruppen führt dazu, dass Methoxychlor verhältnismäßig gut im Organismus
metabolisiert werden kann, und zwar:

1. Durch eine enzymatische oxidative Desalkylierung können zwei phenoli-


sche Hydroxyl-Gruppen entstehen, welche die Wasserlöslichkeit der Verbin-
dung weiter verbessern.

2. Durch die beiden reaktiven funktionellen Hydroxyl-Gruppen wird die Mög-


lichkeit zur enzymatischen Kopplung mit Glucuronsäure geschaffen, welche die
Wasserlöslichkeit des neuen Moleküls noch entscheidender beeinflusst.

3. Durch die Wasserlöslichkeit wird erst eine effektive Ausscheidung aus dem
Organismus ermöglicht.

Die erste und die zweite Reaktion sind wesentliche Bestandteile eines Stoff-
wechselsystems, das seinen Hauptsitz in der Leber hat. Die Leber, als Haupt-
organ für die Biotransformation, erhält über die Pfortader etwa 1,1 Liter Blut
pro Minute und weitere 0,35 Liter pro Minute über die Leberarterien, das ist
etwa ein Viertel des gesamten Blutes. In den Gefäßen der Leber selbst befindet
sich etwa ein halber Liter Blut.
64 Kapitel 2 Toxikokinetik

Lebervene

Leberkapillare

Leberzellen
Leberarterie
Pfortader Galle
(zur Gallenblase)
Abbildung 2.14 Schematische Zeichnung des Blutstromes vom Darm herkommend über die
Pfortader zu den Leberzellen, sowie der Weg der Gallenflüssigkeit von den Leberzellen in die
Gallekanälchen und zur Gallenblase. Die weiten Öffnungen in der Leberkapillare sind durch
eine gestrichelte Linie angedeutet (Zeichnung nach W. Legrum).

Die weiten Pfortadergefäße verursachen eine Verlangsamung des Blutflusses.


Wie aus Abbildung 2.14 hervorgeht, ist das Gefäßendothel der Leberkapillaren
sehr durchgängig für alle möglichen Substanzen, sogar für Proteine. Das dis-

kontinuierliche“ Gefäßendothel und die lückenhafte Basalmembran erlauben
einen sehr guten Stoffaustausch zwischen Blut und den Leberparenchymzellen
(Parenchymzellen sind die spezifischen Zellen eines Organs, im Gegensatz zu
den Bindegewebszellen).
Die Leber ist von ihrer Konstruktion her die größte Drüse des menschlichen
Körpers. Die sekretorische Aktivität der Leberzellen führt zu einem gerichteten
Flüssigkeitsstrom in die angrenzenden Gallekanälchen, in die ständig Gallen-
flüssigkeit ausgeschieden wird.
Aufgrund der reichlichen und vielseitigen Enzymausstattung der Leberzellen
wird die Leber als das Zentralorgan des Stoffwechsels angesehen. Die Leber-
zellen tragen nicht nur zur Energieversorgung bei, sie sind wie bereits erwähnt
der Hauptsitz der Biotransformation von körperfremden Substanzen.
Die Biotransformation ist im glatten endoplasmatischen Retikulum lokalisiert
(Abbildung 2.11, idealisiertes Bild einer Zelle), und erfolgt trotz ihrer Vielsei-
tigkeit nur durch wenige chemische Reaktionstypen wie Oxidation, Reduktion,
Hydrolyse und Konjugation.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 65

Die Enzyme zur Metabolisierung der körperfremden Substanzen sind nicht in


der Lage zu unterscheiden, ob die entstehenden Abbauprodukte für den Orga-
nismus schädlich oder unschädlich sind. Ganz allgemein können die Reaktionen
zwar Gifte unwirksam machen, aber auch unwirksame Substanzen erst in toxi-
sche Metabolite verwandeln. Eine metabolische Aktivierung wird deshalb auch
als Giftung bezeichnet. Die Hauptaufgabe der Biotransformation besteht je-
doch darin, lipophile Fremdstoffe wasserlöslich zu machen, damit sie dann über
die Nieren oder mit der Gallenflüssigkeit ausgeschieden werden können.
Von der Funktion her lassen sich zwei Arten von Reaktionen unterscheiden, die
Phase-I- und Phase-II-Reaktionen genannt werden. Das Schema in Abbildung
2.15 gibt die Reaktionskette wieder.

Phase-I-Reaktion Phase-II-Reaktion

Phase-I- Phase-II-
Fremdstoff
Metabolit Metabolit

Oxidation Konjugation
Reduktion mit Glucuronsäure
Hydrolyse mit Schwefelsäure
etc.
Abbildung 2.15 Vorgänge bei der Biotransformation von Fremdstoffen. Die Metabolisierung
lipophiler Fremdstoffe verläuft in sequentiellen Schritten. In der Phase I werden die Fremd-
stoffe durch Einführung oder Freisetzung nukleophiler oder elektrophiler funktioneller Grup-
pen für die Konjugation vorbereitet. Schließlich erlaubt die Einführung von funktionellen
Gruppen erst die Konjugation mit gut wasserlöslichen endogenen Substraten wie aktivierter
Glucuronsäure etc. in der Phase II.

Einblicke in diesen Fremdstoffwechsel können praktisch nur durch Tierexperi-


mente gewonnen werden. Beim mechanischen Homogenisieren der Leberzellen
werden die Membranen des endoplasmatischen Retikulums auseinandergeris-
sen, und die Bruchstücke schließen sich dann wieder zu kleinen Vesikeln. Diese
Vesikel werden anschließend durch hochtouriges Zentrifugieren als Mikroso-
men sedimentiert. An diesen Mikrosomenfraktionen untersucht man dann die
einzelnen Schritte der Biotransformation. Der Metabolismus der Fremdstof-
fe ist, zumindest qualitativ, bei Menschen und bei Tieren sehr ähnlich. Diese
Tatsache dient als Voraussetzung für eine Übertragbarkeit der Tierexperimente
auf den Menschen. Von Tierart zu Tierart können sich jedoch die Konzentra-
tionen der gebildeten Metaboliten unterscheiden, die Ergebnisse sollten darum
möglichst durch Untersuchungen an mehreren Tierarten abgesichert werden.
66 Kapitel 2 Toxikokinetik

2.5.1 Phase-I-Reaktion
2.5.1.1 Das mikrosomale Monooxygenase-System

Die weitaus größte Bedeutung für die oxidative Biotransformation besitzt das
mikrosomale Monooxygenase-System. Es besteht zu einem Teil aus einem
membrangebundenen Komplex verschiedener Monooxygenasen, die gemeinsam
als Cytochrom P-450 bezeichnet werden. Die Zahl 450 im Namen geht auf ein
Absorptionsmaximum bei 450 nm zurück, das beim Begasen der Mikrosomen
mit Kohlenmonoxid entsteht und den Nachweis spektroskopisch ermöglicht.
Die Monooxygenasen enthalten eine Häm-Gruppe, ähnlich dem Hämoglobin,
das in der reduzierten Form (Fe2+ ) molekularen Sauerstoff bindet (Abbildung
2.16).

Substrat
Produkt XOH Fe3+ XH

CH3 R3
6 C C 1 XH
XOH HC C
N
C CH Fe3+
Fe3+ CH3 C C C C CH3
N Fe3+ N
R4 C C C C R2
N
HC C C CH e-
H2 O C C NADPH-

5
R1 CH3
2 Cyt.-P450-
Reduktase
XH XH
Fe3+
2 H+ Fe2+
O2 -• O2 -•

Fe3+
3a Fe2+
XH
XH O2
2-
4 3
O2
NADPH-
Cyt.-P450- -
Reduktase
e Fe2+

O2
XH

Abbildung 2.16 Schematischer Ablauf der Oxidation eines Fremdstoffes XH durch Cyto-
chrom P-450 (im Kreis oben: Häm als prosthetische Gruppe, Porphyrinring mit F e3+ -Ion
im aktiven Zentrum).
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 67

Neben dem Cytochrom P-450 ist eine NADPH-Cytochrom P-450-Reduktase,


ein Flavoprotein (lat. flavus, gelb), beteiligt, die zwei Moleküle NADPH (re-
duziertes Nicotinamid-adenin-dinucleotid-phosphat) oxidiert und zwei Elek-
tronen auf das Cytochrom überträgt.
Die Oxidation des Fremdstoffes erfolgt in einem zyklischen Prozess, aus dem
Cytochrom P-450 in der oxidierten Form (Fe3+ ) wieder hervorgeht. In deren
ersten Teilschritt (1) wird ein Fremdstoff (XH) an ein oxidiertes Cytochrom
P-450 (Fe3+ ) gebunden. Im zweiten Schritt (2) nimmt das Eisen ein Elektron
aus der Elektronentransferkette auf, wodurch das Cytochrom zweiwertig wird
und sich molekularer Sauerstoff anlagern kann (3). Im nächsten Schritt (4)
übernimmt der Komplex über eine zweite Transferkette ein weiteres Elektron.
Nach dieser Aktivierung wird ein Oxenbiradikal • O• in den Fremdstoff inse-
riert, während O2− mit Protonen Wasser bildet (5). Schließlich zerfällt der
Komplex aus Cytochrom P-450 und dem hydroxylierten Fremdstoff (XOH)
unter Freigabe von oxidiertem Cytochrom P-450 (6). Die Summenreaktion des
obigen Schema kann wie folgt formuliert werden:

XH + O2 + NADPH + H+ → XOH + H2 O + NADP+

Während der Katalyse wird ein Sauerstoff-Atom auf das Fremdstoffmolekül


übertragen und das andere zu Wasser reduziert. Aufgrund dieser zwei verschie-
denen Reaktionen am Sauerstoff wurde auch die Bezeichnung mischfunktio-
nelle Oxygenase geprägt.
Ein Nebenreaktionsweg besteht darin, dass nach der Anlagerung von moleku-
larem Sauerstoff durch Autoxidation das zweiwertige Eisen eines seiner Elek-
tronen an den angelagerten Sauerstoff abgibt und dadurch ein Komplex aus
dreiwertigem Eisen mit einem Superoxid-Anion entsteht (Fe3+ − O•− 2 ) (3a).
•−
Aus diesem Komplex kann anschließend das Superoxid-Anion O2 abgespal-
ten werden.
Für die Toxikologie ist von Bedeutung, dass das Cytochrom P-450-System in
den Membranen des endoplasmatischen Retikulums auch mit der Kernmem-
bran verbunden ist. Bei den Oxidationen wird, wie oben gezeigt, Sauerstoff
aktiviert und fällt in aktivierter Form als Nebenprodukt an. Das Schema auf
der folgenden Seite zeigt die vier reaktionsfähigsten Formen des Sauerstoffes,
die bei der Oxidation mit Cytochrom P-450 entstehen können.
Die entstehenden Radikale können wegen ihrer Reaktivität die Membranen
schädigen und im Zellkern am genetischen Material (DNA) Mutationen her-
vorrufen.
68 Kapitel 2 Toxikokinetik

Singulett-Sauerstoff
O2
hQ -e +e +e
+e –• + 2H+ • + H+
O2 O2 H2 O2 2 OH H2O

Als Schutz vor solchen Radikalen wirkt die Superoxid-Dismutase, die das Su-
peroxidanion O•−
2 in Sauerstoff und Wasserstoffperoxid zerlegt (dismutiert).
Das ebenfalls toxische Wasserstoffperoxid wird durch zwei weitere Enzyme,
die Katalase und die Glutathion-Peroxidase gespalten. Bei der letzteren Re-
aktion wird Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin) oxidiert, das in hoher
Konzentration zur Protektion in der Leber vorhanden ist.

2.5.1.2 Systematik und Nomenklatur von Cytochrom P-450

Im Laufe der Evolution hat sich das Cytochrom P-450-System vielfältig ent-
wickelt. Beim Menschen sind bisher 56 CYP-Gene (Cytochrom P-450-Gene)
bekannt geworden, die ein funktionsfähiges Isoenzym einer Cytochrom P-450-
abhängigen Monooxygenase kodieren und etwa 26 Pseudogene aus denen kein
funktionsfähiges Genprodukt hervorgehen kann. Die Zahl der CYP-Gene beim
Menschen wird bei weitem übertroffen durch das ebenfalls vollständig ana-
lysierte Genom der Acker-Schmalwand Pflanze Arabidopsis thaliana mit der
großen Zahl von 273 Cytochrom P-450 Genen (die Abkürzung CYP“ wird

nach Übereinkunft nur beim Menschen verwendet, dagegen benutzt man Cyp“

für alle anderen Spezies).
Die Cytochrome P-450 bilden Superfamilien und unterscheiden sich nach Vor-
kommen und Substratspezifität. Die Kenntnis über die Superfamilie verdanken
wir verschiedenen Genomprojekten. In Abhängigkeit ihrer Sequenzverwand-
schaft werden die CYP in Familien und Unterfamilien eingeteilt. Zwei CYP-
Isoenzyme werden z. B. der gleichen Familie zugeordnet, wenn ihre Aminosäu-
rensequenz über 40 % identisch ist. Liegt dagegen die Identität über 55 %, so
werden beide der gleichen Unterfamilie zugerechnet. Die Bezeichnung für die
ganze Superfamilie ist CYP und die einzelnen Familien werden durch arabi-
sche Zahlen von 1 bis 724 (Nummerierung diskontinuierlich) kenntlich gemacht.
Dagegen werden die Unterfamilien mit Großbuchstaben von A bis Z bezeich-
net, gefolgt von einer weiteren arabischen Zahl für das jeweilige Isoenzym in
der Unterfamilie. So identifiziert z. B. CYP2E1 das menschliche Isoenzym aus
der Leber und dem Magen-Darm-Trakt, dass bevorzugt kleine Moleküle wie
Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin etc. metabolisiert.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 69

Tabelle 2.6 Die wichtigsten menschlichen Cytochrome P-450 sowie die chemischen Substrate,
die für die entsprechenden Isoenzyme typisch sind.

Cytochrome
P-450 Auswahl wichtiger Substrate
CYP1A1 polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)
CYP1A2 aromatische und heterocyclische Amine, PAK,
Coffein, Nicotin, Aflatoxin B1
CYP1B1 PAK, Fjordregion-Diole
CYP2A6 Cumarin, 6-Aminochrysen, Aflatoxin B1 , Nitrosamine
CYP2B6 Cyclophosphamid, Nicotin
CYP2C8 Retinoide, Taxol
CYP2C9 Arzneimittel wie Celecoxib, Lorsatan, Tolbutamid, Warfarin
CYP2C19 Arzneimittel wie Omeprazol, Diazepam, Proguanil
CYP2D6 Arzneimittel wie Spartein, Propranolol, Dextromethorphan
CYP2E1 Ethanol, Benzol, Styrol, Dimethylnitrosamin, Tetrachlorkohlenstoff,
Halogenkohlenwasserstoffe, Chlorzoxazon, Vinylchlorid,
CYP3A4 Acetaminophen, Nifedepin, Steroidhormone, Aflatoxin B1

Tabelle 2.6 gibt eine Übersicht über die wichtigsten menschlichen Cytochrome
P-450 und einige ihrer Substrate.
Die Leber ist das Organ mit dem höchsten Cytochrom P-450 Gehalt. Sie
enthällt 90 bis 95 % der Enzyme. Dabei entfallen 60 bis 65 % des Cytochrom P-
450 Gehalts auf die Enzyme, die den Arzneimittelstoffwechsel katalysieren. Mit
durchschnittlich 30 % Cytochrom P-450 Gehaltes ist die CYP3A-Subfamilie die
für die Klinik wichtigste Familie, die bereits 50 bis 60 % aller therapeutisch ein-
gesetzten Arzneimittel metabolisiert. Die Isoform CYP1A2 macht etwa 10 %,
die CYP2C-Familie 30 %, CYP2A6-, CYP2B6- und CYP2C-Familie 10 bis
15 % und CYP2E1 ungefähr 5 % des Cytochrom P-450 Gehaltes aus.

2.5.1.3 Enzymatische Eigenschaften von Cytochrom P-450, Induktion

Im Allgemeinen wird Sauerstoff nur während der Katalyse an ein CYP ge-
bunden, auf das bereits ein Fremdstoffmolekül übertragen worden ist. Eine
Ausnahme hierbei bildet CYP2E1, das scheinbar ohne Substratbindung Sau-
erstoff binden und aktivieren kann.
Verschiedene Cytochrome P-450-Isoenzyme werden erst nach Gen-Induktion
durch bestimmte Induktoren exprimiert (Umsetzung der Geninformation in
Proteine). Zu den Induktoren gehören sowohl körpereigene Substanzen (Hor-
mone und Metabolite) als auch Fremdstoffe. Das Insektizid DDT bewirkt eine
starke Induktion, obwohl es selbst von diesem System nur äußerst langsam
umgesetzt werden kann.
70 Kapitel 2 Toxikokinetik

Insgesamt existiert ein an die Umweltbedingungen äußerst anpassungsfähiges


Enzymsystem mit unterschiedlich spezifischer und überlappender Substrat-
spezifität (demnach also relativ unspezifisch). Als Folge der Enzyminduktion
kann die Abbaukapazität und damit die Geschwindigkeit der Biotransforma-
tion um ein Vielfaches erhöht werden. Dies betrifft unter Umständen nicht
nur Fremdstoffe, sondern hat auch Auswirkungen auf körpereigene Wirkstoffe
wie Steroidhormone und essentielle Vitamine. Wird der Induktor abgesetzt, so
fällt die gesteigerte Abbaukapazität in einigen Tagen bis Wochen wieder auf
das ursprüngliche Niveau zurück.
Als eine weitere Beeinflussungsmöglichkeit muss auch eine Hemmung der Bio-
transformation durch toxische Substanzen in Betracht gezogen werden. Gelan-
gen z. B. Vanadat-Ionen, VO− 3 , in den Körper, so können sie bei ihrer Redukti-
on zu Vanadyl, VO2+ , den Elektronenfluß zum Cytochrom P-450 unterbrechen
und für kurze Zeit die Biotransformation blockieren. Kohlenmonoxid bewirkt
eine Hemmung an der O2 -Bindungsstelle des Cytochroms P-450. Eine andere
Möglichkeit der Hemmung besteht darin, dass die Substratbindungsstellen am
Cytochrom P-450 durch Fremdstoffe besetzt werden können.

2.5.1.4 Grundtypen der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen

Die Hauptfunktion der Cytochrom P-450 katalysierten Reaktionen ist es, re-
aktive OH-, NH2 - und SH-Gruppen zu schaffen, die in der Phase-II-Reaktion
der Biotransformation mit einer hydrophilen Verbindung konjugiert werden
können.
Einer speziellen Erwähnung bedarf die Epoxidierung, da diese Form der Bio-
transformation zu besonders reaktiven Metaboliten führt. Als ein Beispiel
hierfür soll das Benzol dienen. Benzol wird durch das Cytochrom P-450-System
hydroxyliert und bildet ein Epoxid (Lösungsmittel, Karzinogene). Das Epoxid
kann auf dreierlei Art umgesetzt werden. Erstens kann es sich spontan zu Phe-
nol umlagern, zweitens kann eine enzymatische Aufspaltung durch Epoxidhy-
drolasen zum Dihydrobrenzkatechin und drittens eine enzymatische Aufspal-
tung unter Anlagerung von Glutathion erfolgen. Die beiden letzten Reaktionen
werden als Entgiftungsreaktionen gewertet.
Die Ringspaltung des Dreierringes ist für die große Reaktionsfreudigkeit ver-
antwortlich. Aufgrund dieser Reaktivität der Epoxide ist ihre Toxizität be-
sonders groß. So können irritierende und allergieerzeugende Wirkungen her-
vorgerufen werden. Eine besondere Gefahr geht jedoch von den Epoxiden in-
sofern aus, als sie eine Alkylierung des genetischen Materials, der DNA, be-
wirken können und somit stark mutagen und krebserzeugend sind. Dies ist
z. B. für Benzol, Vinylchlorid, eine Reihe aromatischer Kohlenwasserstoffe wie
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 71

Benzo[a]pyren und für aromatische Amine wie Benzidin nachgewiesen worden.


Die Auflistung ist hier keineswegs vollständig (siehe Kapitel 9). Beispiele für
oxidative Biotransformationswege zeigt Abbildung 2.17.
Im Vergleich mit den Oxidationen spielen die Reduktionen bei der Biotrans-
formation nur eine untergeordnete Rolle. Zahlreiche Fremdstoffe, wie Nitro-,
Azo-Verbindungen und chlorierte Kohlenwasserstoffe können durch Cytochrom
P-450 auch reduziert werden. Dabei überträgt das reduzierte Cytochrom ein
Elektron direkt auf das Substrat wie bei dem folgenden Beispiel des Tetra-
chlorkohlenstoffes (siehe Kapitel 5):

Cytochrom P-450 [Fe2+ ] + CCl4 → Cytochrom P-450 [Fe3+ ] +• CCl3 + Cl−

Sauerstoff konkurriert dabei mit der Elektronenübertragung auf den Tetra-


chlorkohlenstoff, und die Reaktion läuft somit unter sauerstoffarmen Bedin-
gungen bevorzugt ab. Aus dem CCl4 wird durch Chloridabspaltung ein sehr
instabiles freies Radikal gebildet. Dieses freie Radikal entzieht mehrfach un-
gesättigten Fettsäuren aus Membran-Phospholipiden ein H-Atom und führt
dort zu Folgeradikalen, die schließlich zum Zerfall der Fettsäuren führen. Ne-
ben der Membranschädigung entsteht in der Leberzelle schließlich das stark
lebertoxische Chloroform.
Zu der Gruppe des Prototyps Tetrachlorkohlenstoff gehören weiter die starken
Lebergifte 1,1,2,2-Tetrachlorethan, 1,1,2-Trichlorethan und 1,2-Dichlorethan
(siehe Kapitel 5).

Aliphatische Hydroxylierung Epoxidierung

CH2 CH2 CH3


CH3 CH2 CH2 H H O
(O) H H
n-Hexan C C C C
(O) H
H H H H
CH2 CH2 C OH Ethenoxid
CH2 CH2 Ethen
CH3
H
1-Hexanol

Abbildung 2.17, 1. Teil


72 Kapitel 2 Toxikokinetik
Aromatische Hydroxylierung N-Oxidation

OH NH2 NHOH
(O)
O (O)

Benzol Benzolepoxid Phenol Anilin Phenylhydroxylamin

S-Oxidation

R (O) R (O) O R
S O S S
R' R' O R'
z.b. Phenothiazine
N-Desalkylierung

CH3 H
N C C CH3 N C C CH3 H2N C C CH3
CH3 CH3
C N C N C N
O N CH3 O N CH3 O N CH3

(O) (O)
+ 2 HCHO

Aminopyrin Monomethyl-4-aminoantipyrin 4-Aminoantipyrin

O-Desalkylierung Desaminierung
O O
CH2CHNH2 Amphetamin
NH C CH3 NH C CH3
CH3
(O) (O)
+ CH3CHO
CH2C O Phenylaceton
OC2H5 OH CH3
Acetophenidin p-Hydroxyacetanilid + NH3

Entschwefelung
S O
OC2H5 (O) OC2H5
O 2N O P O 2N O P
OC2H5 OC2H5

Parathion Paraoxon

Abbildung 2.17 Ausgewählte Beispiele der oxidativen Biotransformation


2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 73

2.5.1.5 Flavin-abhängige Monooxygenasen


Zu den membranständigen Monooxygenasen zählt wie die Cytochrom P-450-
auch die Flavin-abhängige Monooxygenase (FMO), die hauptsächlich Ami-
ne am Stickstoff oxidiert wie z. B. Nicotin zum N-Oxid (tertiäres Amin). Sie
besitzt ebenfalls eine äußerst breite Substratspezifität. Zahlreiche Fremdstoffe
und Arzneimittel werden von der FMO katalysiert.
Eine Auswahl von Substraten sind organische Stickstoffverbindungen wie se-
kundäre und tertiäre azyklische und zyklische Amine, N-Alkyl- und N,N-

R R H
CH3 N N O CH3 N N O
1
N N
CH3 N H NADPH CH3 N H
O + H+ H O

5 NADP+ O2 2

R R
CH3 N N O CH3 N N O

N N
CH3 N H CH3 N H
O
O H O
HO
H2 O
4 +
R R2N-OH
CH3 N N O
R2N-H
N
CH3 N H 3
OH
H O

Abbildung 2.18 Schema der Biotransformation durch die FMO. Im Gegensatz zu vielen
CYP-Isoenzymen erfolgt bereits vor der Bindung eines Fremstoffes R2 N-H (z. B. sekundäres
Amin) eine Aktivierung des Sauerstoffs durch die FMO. (1) NADPH + H + bindet an das
Enzym und reduziert dessen prothetische Gruppe zum FADH2 . (2) Molekularer Sauerstoff
reagiert besonders leicht mit dem reduzierten Flavin (dieses reagiert auch schon ohne Enzym
sehr rasch mit Sauerstoff ) und es resultiert ein Hydroperoxid (FADH-4α-OOH). (3) In
diesem wichtigen Schritt wird die Übertragung des Sauerstoff-Atoms vom FADH-4α-OOH
zum Fremdstoff R2 N -H durch das Enzym katalysiert und aus der prosthetischen Gruppe
wird H2 O abgespalten (4). Schließlich dissoziert N ADP + von der Monooxgenase ab und
der Zyklus ist vollendet (5).
74 Kapitel 2 Toxikokinetik

Dialkylarylamine, Hydrazine, organische Schwefelverbindungen wie Sulfide,


Disulfide, Thioamide und Thiocarbamide. Außerdem organische Substrate wie
Phosphine, Selenide und Selenocarbamide und anorganische Substrate wie
Schwefel, Sulfide Thiocyanate und Iodsalze.
Die FMO ist ein mikrosomales, polymerisiertes Enzym, das Flavin-Adenin-
Dinucleotid (FAD) als prosthetische Gruppe (Coenzym) enthält. Flavin-Nuc-
leotide sind gelbe, wasserlösliche Bestandteile vieler biologischer Redoxsyste-
me, deren Chromophor sich vom Isoalloxazin ableitet. Der höchste Gehalt von
FMO befindet sich in der Leber. Bisher sind beim Menschen 5 unterschiedliche
Gene beschrieben worden. FMO1 befindet sich in der Leber, der Niere und im
Darm, FMO2 hauptsächlich in der Niere und FMO3 dominierend in der Le-
ber. FMO4 und FMO5 werden in niedriger Konzentration in einigen Geweben
gefunden.
Das Fehlen des Gens FMO3 verursacht beim Menschen das sogenannte Fish-

odor-Syndrom“ (lat. odor: Geruch). Bei diesem seltenen und unangenehmen
Syndrom kann das nach Fisch riechende Trimethylamin nicht in das geruchlose
N-Oxid umgewandelt werden.
Trotz der funktionellen Ähnlichkeit zur Cytochrom P-450 Monooxygenase un-
terscheidet sich die FMO grundsätzlich bezüglich ihres enzymatischen Mecha-
nismus, wie aus Abbildung 2.18 hervorgeht.

2.5.1.6 Monoaminoxydase

Monoaminooxydasen (MAO) kommen als Flavoproteine in der äußeren mit-


ochondrialen Membran vor. Sie sind in nahezu allen Geweben anzutreffen und
es gibt zwei Isoenzyme, MAO-A und MAO-B, die in ihrer Aminosäurensequenz
etwa 70 % Übereinstimmung aufweisen.
Die MAO besitzt ebenfalls eine geringe Substratspezifität. Es werden bevor-
zugt primäre Alkyl- und Arylamine, aber auch sekundäre und tertiäre Amine
metabolisiert. Die physiologische Aufgabe der MAO im Metabolismus besteht
in der Oxidation und damit dem Abbau von verschiedenen Neurotransmittern
wie Adrenalin und Noradrenlin.

2.5.1.7 Cyclooxygenasen

Cyclooxygenasen sind membranständige Enzyme des endoplasmatischen Reti-


kulums, welche die Umwandlung von Arachidonsäure in ein Cycloendoperoxyd
bewirken. Durch Phospolipase A2 werden zunächst aus Membranphospholipi-
den ungesättigte Fettsäuren freigesetzt, darunter auch Arachidonsäure, das
Substrat der Cyclooxygenase.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 75

NH2 NH O
H2O
+ NH3
FAD FADH2

O2
H2O 2 + FAD FADH-4D-OOH FADH2

Abbildung 2.19 Biotransformation durch die Monoaminooxidase (MAO). Ein Amin wird
durch MAO (FAD) zum Imin oxidiert und zerfällt durch Hydrolyse. Um das enzymgebun-
dene FADH2 wieder als oxidierte Form zurückzugewinnen, wird Sauerstoff benötigt. Bei der
Reaktion mit Sauerstoff tritt dasselbe wie bei der FMO beschriebene und im Schema der Ab-
bildung 2.18 dargestellte Hydroperoxyd, FADH-4α-OOH, als Zwischenprodukt auf, aus dem
FAD und H2 O2 hervorgehen. Das Wasserstoffperoxid kann dabei durchaus toxikologisch re-
levante Konzentrationen erreichen.

Arachidonsäure ist die zentrale Vorstufe der Eicosanoidhormone, der Prostag-


landine (es gibt verschiedene Prostaglandine wie Prostaglandin A2 , Prostacy-
clin oder Thromboxan). Der Name Eicosanoide bezieht sich auf die Zahl zwan-
zig (griechisch: eikosi = zwanzig), da ein Prostaglandin aus einer Fettsäure mit
insgesamt 20 Kohlenstoffatomen besteht einschließlich eines fünfer C-Rings.
Prostaglandine besitzen Signalfunktion und wirken als lokale (kurzlebige) Hor-
mone, sie stimulieren z. B. Entzündungsreaktionen, regulieren den Blutfluss
zu bestimmten Organen, kontrollieren den Ionentransport durch Membranen
oder lösen Schmerz und Schlaf aus. Der Name Prostaglandine geht auf ihre
Entdeckung in der menschlichen Samenflüssigkeit zurück, da sie zunächst für
ein Sekret der Prostata gehalten wurden.
Die Synthese der Prostaglandine erfolgt in zwei enzymatischen Schritten, die
zusammen Prostaglandin-H-Synthase genannt werden, sie bestehen aus einer
Cyclooxygenase und Peroxidase Reaktion. Abbildung 2.20 veranschau-
licht die Freisetzung von Arachidonsäure aus der Phospholipidmembran durch
Phospolipase A2 sowie die zwei enzymatischen Funktionen, die aus Arachidon-
säure das Prostaglandin H2 entstehen lassen.
Eine Voraussetzung für die Sauerstoffübertragung auf Fremstoffmoleküle der
Prostaglandin-H-Synthetase (Cyclooxigenase- und Peroxidasereaktion) ist hier-
bei, dass die zu oxidierende Substanz lipophil ist und ein niedriges Redoxpo-
tential besitzt. Dies wird sowohl von aromatischen Aminen als auch von phe-
nolischen Verbindungen erfüllt. Heterocyclische Amine, Dihydrodiole, polycy-
clischer aromatischer Kohlenwasserstoffe sowie das bei der Herstellung von Po-
lyurethan verwendete 4,4´-Methylen-bis(2-chloranilin) werden dabei zu DNA-
reaktiven, kanzerogenen Verbindungen metabolisiert. Oft geht bei der enzyma-
76 Kapitel 2 Toxikokinetik

O
C O CH2
C O CH O
O CH2 O P OR
O
Phospholipidmembran Phospholipase A2

COOH

Arachidonsäure (5,8,11,14-Eicosa-tetraen-säure)
Cyclooxygenase
+ 2 O2

COOH COOH
O O
Peroxidase
O O

O OH 2 H+ + 2 e- H2O OH
(Fremdstoff) (Oxidations-
Prostaglandin G2 produkt) Prostaglandin H2

Abbildung 2.20 Schematische Darstellung der Freisetzung von Arachidonsäure aus der Phos-
pholipidmembran durch Phospholipase A2 . Aus der ungesättigten Fettsäure entsteht durch
die Cyclooxygenase und 2 O2 ein Hydroperoxid, das Prostaglandin G2 . Dieses wird durch
Peroxidaseaktivität zu Prostaglandin H2 , der Vorstufe verschiedener Prostaglandine, redu-
ziert. Für die Toxikologie ist es wichtig, dass sowohl bei der ersten als auch bei der letzten
Reaktion zahlreiche Fremdstoffe als Sauerstoffakzeptoren fungieren können.

tischen Prostaglandin-H-Synthetase-Reaktion ein organisches Radikal hervor,


das durch Erzeugung eines Sauerstoffradikals eine toxische Kettenreaktion wie
die Lipidperoxidation in Membranen auslösen kann (siehe Kapitel 5).
Fremdstoffe wie das Benzo[a]pyren-7,8-dihydriol können bereits während des
ersten Schrittes der Prostaglandin-H-Synthetase, der Cyclooxygenasereaktion,
zum reaktiven Epoxid mit karzinogener Potenz umgewandelt werden (siehe
Kapitel 9).

2.5.1.8 Dehydrogenasen, Reduktasen

An den Oxidationen von Fremdstoffen beteiligen sich auch Oxidasen, die dem
Molekül Wasserstoff entziehen. Zu den hierbei wichtigen Enzymen gehören
z. B. die Alkohol-, die Aldehyd- und die Steroiddehydrogenasen. Grundsätzlich
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 77

können diese Dehydrogenasen aber auch in umgekehrter Richtung Fremdstoffe


reduzieren und als Reduktasen wirksam sein. Von der Steroiddehydrogenase
ist bekannt, dass sie für eine Reihe von Fremdstoffen, die keine Steroide sind,
wie 4-Nitroactophenon, Nitrobenzaldehyd oder Nitrosamine als Carbonylre-
duktase wirksam sein kann. Neben dieser gibt es auch noch eine Reihe anderer
Reduktasen wie Aldo-keto-Reduktasen (AKR1, AKR2, AKR4), weitere Car-
bonylreduktasen sowie eine Chinon-Oxidoreduktase, die eine wichtige Rolle in
Phase-I-Reaktionen spielen.
Die Alkoholdehydrogenasen (ADH) gehören zur Familie der mittelkettigen
Dehydrogenasen. Im Menschen wird die Genfamilie der ADH in die Subfami-
lien I-VI eingeteilt. Sie dehydrieren primäre und sekundäre Alkohole mit dem
Cofaktor Nicotinamidadenindinucleotid (NAD+ ) zu Aldehyden und Ketonen:

Alkohol-
dehydrogenase
R CH2 OH + NAD + R CHO + H +

Bei der Dehydrogenierung wird ein Wasserstoffatom des Substrates direkt auf
NAD+ übertragen, während das andere als Proton in der Lösung erscheint.
Als cytosolische Enzyme mit Zink im aktiven Zentrum sind sie vor allem in
der Leber, den Nieren und in der Lunge lokalisiert.
Sie besitzen eine geringe Substratspezifität und dehydrogenieren z. B. Alkohole
von Methanol bis Hexanol, allerdings wird Methanol sehr viel langsamer da-
bei oxidiert. Die höhere Affinität zum Enzym und die geringere Giftigkeit des
Ethanol wird bei der Therapie von Vergiftungen mit Methanol oder Ethylen-
glycol ausgenutzt, um die Bildung toxischer Produkte wie Ameisensäure oder
Oxalsäure zu unterdrücken (siehe Kapitel 5). Die sekundären Alkohole sind bis
zu einem gewissen Grade gegenüber der Oxidation beständig, während tertiäre
Alkohole praktisch nicht oxidierbar sind. Die Reaktionen von Alkohol- und Al-
dehyddehydrogenasen sind wie bereits erwähnt reversibel, es können z. B. auch
Aldehyde und Ketone zu Alkoholen reduziert werden.
Aldehyddehydrogenasen (ALDH) besitzen gleichfalls eine breite Substrats-
pezifität und oxidieren aliphatische und aromatische Aldehyde in der Regel
zu den Carbonsäuren. Die enzymatische Funktion ist meist von dem Cofak-
tor NAD+ , seltener NADP+ (P für Phosphat) abhängig. Beim Menschen sind
9 Familien mit sechzehn ALDH-Isoenzymen beschrieben, die in der Zelle in
mikrosomaler, cytosolischer und mitochondrialer Form vorkommen. Die Le-
ber ist besonders reich an Isoenzym ALDH 2. In der asiatischen Bevölkerung
gibt es eine verbreitete analoge Form dieses Isoenzyms (> 50 %), die aufgrund
eines Aminoaustausches (Glutamin487 gegen Lysin) enzymatisch inaktiv ist.
Dadurch wird nach Alkoholgenuß eine Alkoholunverträglichkeit erzeugt. Es
78 Kapitel 2 Toxikokinetik

treten Symptome wie Herzrasen, Hautrötung, Schweißausbruch, Übelkeit und


Erbrechen auf.
Die 11b-Hydroxysteroid Dehydrogenase (11b-HSD) ist ein mikrosomales En-
zym, dass physiologischerweise das aktive Glucocorticoid Cortisol (Nebennie-
renrindenhormon) in inaktives Cortison (11-Ketocorticosteroid) verwandelt
oder umgekehrt Cortison zu Cortisol reduziert. Von diesem Enzym gibt es
zwei Formen, wobei die 11b-HSD-1 die metabolisch aktivere von beiden ist.
Dieses Enzym wirkt außerdem auch auf bestimmte Fremdstoffe als Carbonyl-
reduktase. Von besonderer toxikologischer Bedeutung ist die Tatsache, dass das
stärkste Karzinogen aus dem Tabak, das 4-(Methylnitrosamino)-1-(3-pyridyl)-
1-butanon (= nicotinic-derived nitrosamine ketone“, NNK), von der 11b-HSD

Zigarettenrauchen

Tabak-spezifische N-Nitrosamine

O Aldo-keto-Reduktasen OH
N O N O
Carbonylreduktasen
N N
CH3 11ß-HSD-1 CH3

N NNK N NNAL

CYPs Glycyrrhetinsäure UDPGT

reaktive Zwischenverbindung NNAL-Glucuronid

DNA-Alkylierung Ausscheidung

Abbildung 2.21 Vereinfachtes Schema des Metabolismus von im Tabakrauch enthaltenem


nicotine-derived nitrosamine ketone“(NNK). Auf der einen Seite kann das Keton durch

Cytochrome P-450 (CYPs) zu unbeständigen, reaktiven Zwischenverbindungen umgewan-
delt werden, die ein starkes kanzerogenes Potential aufgrund ihrer DNA (Desoxyribonu-
kleinsäure) alkylierenden Eigenschaften besitzen (siehe Kapitel 9). Auf der anderen Sei-
te wirkt die 11β-HSD-1, sowie verschiedene Aldo-Keto-Reduktasen und Carbonylreduktasen
entgiftend auf NNK, indem es durch Reduktion ein nicotinic-derived nitrosamine alcohol“

(NNAL) erzeugt. Dieser Alkohol kann jetzt in einer Phase-II-Reaktion (siehe übernächstes
Kapitel) durch Uridindiphosphatglucuronyl-Transferase (UDPGT) in ein wasserlösliches
NNAL-Glucuronid verwandelt und mit dem Urin ausgeschieden werden (E. Maser, Trends
in Pharmacological Sciences, 25, 235-237, 2004).
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 79

zum Alkohol reduziert wird (Phase-I-Reaktion), um dann durch Glucuronidie-


rung (Phase II) in wasserlöslicher, nicht karzinogener Form im Urin ausge-
schieden zu werden.
Insgesamt sind fünf verschiedene Enzyme beim Menschen bekannt, die ei-
ne Carbonylreduktion des NNK und damit eine Entgiftung einleiten. Dazu
gehören die mikrosomale 11b-HSD 1, die cytosolische Carbonylreduktase und
drei weitere Aldo-keto-Reduktasen. Von besonderer Bedeutung für den Rau-
cher ist ferner, dass endogene und exogene Substanzen die Carbonylreduktase-
Aktivität hemmen können. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Umsetzung
von NNK durch die Cytochrom P-450 Monooxygenasen und die karzinogene
Wirkung nimmt entsprechenderweise zu. In der Abbildung 2.21 ist als Hemm-
stoff Glycyrrhetinsäure angeführt. Dies ist z. B. ein Inhaltsstoff aus Lakritze,
der bereits in niedriger Konzentration (nMol bis mMol) die Carbonylredukasen
hemmt und die Entgiftung von NNK verhindert. Neben den natürlichen Sub-
straten der Enzyme gelten auch Flavonoide wie Naringinin und Medikamente
wie Furosemid (Diuretikum) als Hemmsubstanzen, außerdem hat auch Ethanol
eine hemmende Wirkung. Möglicherweise erklärt ein chronischer Alkoholgenuß
zusammen mit Tabakrauchen die erhöhte Inzidenz von Karzinomen.

2.5.1.9 Hydrolyse

Bei der hydrolytischen Spaltung werden lipophile Carbonsäureester durch re-


lativ unspezifische Esterasen unter Wasseraufnahme in Alkohol und Säure zer-
legt:
O O
R CH2 C O R´ + H2O R CH2 C O H + HO R´

Diese Reaktionen werden durch die Pseudocholinesterase oder Butyrylcholine-


sterase (spaltet Butyrylcholin schneller als Acetylcholin) im Blut und durch
intrazelluläre Esterasen, die besonders in den Leberzellen vorkommen, kata-
lysiert. Die Hydrolysegeschwindigkeit kann durch eine Substitution am a-C-
Atom zur Estergruppe verringert werden. Die Einführung einer Methylgruppe
an diesem C-Atom führte z. B. bei Acetylcholinderivaten zu einer Hemmung
der Spaltung. Beim Erhaltenbleiben der Affinität zu den Esterasen können auf
diese Weise auch wirksame Hemmstoffe der Esterasen entstehen.
Unter den Plastikweichmachem gibt es fettlösliche, stabilisierte Phthalsäure-
ester (z. B. Diethylhexylphthalat), die gegen Hydrolyse stabil sind. Werden
solche Stoffe für Lebensmittelverpackungen benutzt, können sie sich aus dem
Verpackungsmaterial herauslösen und im Fettgewebe anreichern. Um eine Ku-
mulation im Fettgewebe zu vermeiden, sollten heute nur noch biotransfor-

mierbare“, d. h. durch Esterasen spaltbare Verbindungen eingesetzt werden.
80 Kapitel 2 Toxikokinetik

Eine weitere Gruppe zur hydrolytischen Spaltung befähigter Enzyme sind die
Amidasen, die ebenfalls besonders in der Leber vorkommen:
O O
R CH2 C NH R´ + H2O R CH2 C O H + H2N R´

Bei dieser Reaktion, die im Allgemeinen langsamer als die Esterspaltung abläuft,
wird neben der Säure ein Amin gebildet.
Weitere wichtige Hydrolysen werden auch durch die bereits erwähnten Epoxid-
hydrolasen sowie von Phosphatasen und Glycosidasen ausgeführt.

2.5.2 Phase-II-Reaktionen
Die Hauptfunktion der Phase-II-Reaktionen ist es, Substanzen mit kopplungs-
fähigen funktionellen Gruppen wie OH-, NH2 - und SH-Gruppen, die wie be-
schrieben in der Phase-I geschaffen wurden, durch enzymatische Prozesse mit
körpereigenen Substanzen zu verbinden. Diese stammen aus dem Zwischen-
stoffwechsel und sind besonders gut wasserlöslich. Sie werden meist durch spe-
zifische Transferasen an die zur Ausscheidung bestimmten Moleküle angedockt,
um diese dann durch die Nieren oder mit der Gallenflüssigkeit zu eliminieren.
Die Kopplungs- oder Konjugationsreaktionen haben in der Regel den
Charakter von Entgiftungs- oder Inaktivierungsprozessen, da die konjugierten
Verbindungen fast immer biologisch inaktiv sind.
Bei der Ausscheidung mit der Galle in den Darm kommt es häufiger als in
der Niere vor, dass das Konjugat wieder gespalten wird. Besonders im Dick-
darm spalten Bakterien mit Hilfe ihrer b-Glucuronidase den an Glucuronsäure
gekoppelten Wirkstoff wieder ab. Der Wirkstoff kann damit erneut resorbiert
werden. Es resultiert ein sogenannter enterohepatischer Kreislauf, der un-
ter Umständen eine effektive Ausscheidung wirksam verhindern kann.
Die wichtigsten Konjugationsreaktionen erfolgen mit:
• aktivierter Glucuronsäure (Glucuronsäure entsteht aus Glucose),
• aktiviertem Sulfat,
• Aminosäuren, insbesondere Glycin (H2 N − CH2 − COOH),
• Glutathion (g-Glutamyl-cysteinyl-glycin),
• aktivierter Essigsäure,
• S-Adenosylmethionin,
• Bildung von Mercaptursäure-Verbindungen.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 81

UDP-Glucuronyltransferasen

Von den Konjugationsreaktionen ist die wichtigste die Kopplung eines Fremd-
stoffes oder seines Metaboliten an die Glucuronsäure. Die Glucuronsäure
muss dabei in einer vom Stoffwechsel aktivierten Form vorliegen und zwar in
einer energiereichen Bindung an Uridindiphosphat (UDP).
- -
O O
C O UDP-Glucuronyl- C O
HO O HO O
Transferase
+ HR O R
HO HO
HO HO
O UDP
"Uridindiphosphat-glucuronicacid" + UDP
UDPGA

Abbildung 2.22 Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferasen sind Enzyme, welche aktivierte


Glucuronsäure (UDPGA) auf Hydroxy- Carboxy, Amino- oder SH-Gruppen von Substraten
(HR) übertragen.

Die in den Mikrosomen lokalisierten UDP-Glucuronosyltransferasen (UGT)


übertragen von diesem aktivierten Komplex die Glucuronsäure auf das Ak-
zeptormolekül. Grundsätzlich kann Glucuronsäure mit Hydroxy-(Ether-Typ),
Amino-(N-Glucuronide), Carboxyl-(Ester-Typ) und SH-Gruppen (S-Glucuro-
nide) gekoppelt werden.
Die UGT sind eine Superfamilie von Enzymen. Der Mensch besitzt 17 UGT,
die in zwei Familien UGT1 und UGT2 eingeteilt werden. Die Enzyme werden
in einer Vielzahl von Organen exprimiert, wobei die Leber den höchsten Gehalt
aufweist. Neben der Erhöhung der Wasserlöslichkeit toxischer und auch phar-
makologischer aktiver Substanzen bewirkt die Glucuronidierung fast immer
eine Terminierung ihrer biologischen Wirkungen.

Sulfotransferasen

Im Zytoplasma gelöste Sulfotransferasen (SULT) verbinden aktiviertes Sulfat


mit Alkoholen, Phenolen, Hydroxylaminen oder Aminen.
Sulfat steht jedoch nicht in beliebiger Menge im Organismus zur Verfügung,
da es erst aus schwefelhaltigen Aminosäuren gebildet werden muss. Bisher sind
beim Menschen 3 SULT-Familien mit geringer Substratspezifität von insgesamt
5 nachgewiesen worden.
Die Isoenzyme befinden sich nicht nur in der Leber sondern auch im Darm, in
den Lungen, Nieren und Blutplättchen. Im allgemeinen stellt die Sulfonylie-
82 Kapitel 2 Toxikokinetik

-
OH OSO 3
Sulfotransferase
+ 3'-Phosphoadenosin-
3'-Phosphoadenosin- 5'-phosphat
5'-phosphosulfat

Abbildung 2.23 Sulfonylierung von 1-Naphthol durch Sulfotransferase und den Cofaktor 3´-
Phospoadenosin-5´-phosphosulfat (PAPS).

rung eine Entgiftung toxischer Substrate dar, sie kann aber auch bei einigen
Substraten zu einer Giftung führen. So werden z. B. aromatische und hetero-
zyklische Amine, sowie Arylkarbinole durch Sulfonylierung zu genotoxischen
Verbindungen. Ihre geringe Beständigkeit in wässrigen Lösungen führt nach
Abspaltung der Sulfatgruppe zu elektrophilen Substanzen (Nitrenium- oder
Carboniumion), die kovalent mit Proteinen oder DNA reagieren können.

Acyl-CoA-N-Acyltransferase

Andere Transferasen, wie die Acyl-CoA-N-Acyltransferase, sind an der Über-


tragung der Aminosäuren Glycin oder Glutamin auf Carbonsäuren beteiligt.
Die Konjugation erfolgt in zwei Stufen wie in Abbildung 2.24 am Beispiel der
Benzoesäure mit Glycin gezeigt wird.
Die Konjugation von Benzoesäure mit Glycin zur Hippursäure gilt als erste ent-
deckte Umsetzung im Fremdstoffwechsel (1842). Sie wurde von Wilhelm Keller,
einem Schüler von Friedrich Wöhler, in einem Selbstversuch nachgewiesen. Die
Hippursäure wurde bereits 1829 von Justus Liebig aus dem Pferdeharn isoliert
(hippos, griechisch Pferd).

Glutathion-S-Tranferasen

Glutathion-S-Tranferasen (GST) konjugieren viele reaktive elektrophile Ver-


bindungen mit Glutathion. Da solche elektrophilen Verbindungen mit nukleo-
philen Zentren der DNA reagieren und genotoxisch wirken können, sind die
GST ein sehr wichtiges Abwehrsystem gegen chemische Kanzerogene.
Die GST bilden Familien, die hauptsächlich im Cytosol als dimere Enzyme
vorliegen, aber auch als membranständige, mikrosomale Enzyme vorkommen.
Nach Übereinkunft besitzen innerhalb einer GST-Familie die Isoenzyme min-
destens eine 40 %ige Aminosäureidentität. Beim Menschen sind 6 Familien
mit überlappender Substratspezifität nachgewiesen worden (bei der Nomen-
klatur der GST-Isoenzyme werden zur Bezeichnung der Familien griechische
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 83

ATP
Coenzym-A + PPi + AMP
C
O OH C CoA
O S

Acyl-CoA-Aminosäure-
N-Acyltransferase + Coenzym-A

C CoA Glycin C CH2


O S O NH COOH
Hippursäure

Abbildung 2.24 Benzoesäure wird in der ersten Stufe mit Adenosintriphosphat (ATP) und
Coenzym-A (CoA überträgt Acylgruppen) aktiviert, um dann in der zweiten Stufe mit Glycin
und der Acetyl-CoA-Aminosäure-N-Acetyltransferase zu Hippursäure konjugiert zu werden.

Buchstaben verwendet: a, m, κ, p, d und z, dabei ist p die häufigste). Bei


der Konjugation spielt Glutathion eine wichtige Rolle. Es ist in allen Zelle
enthalten und liegt in Konzentrationen von etwa 5 mM vor. Die nachfolgen-
de Abbildung zeigt das endogene Tripeptid, das aus Glutamin, Cystein und
Glycin zusammengesetzt ist.

CO NH CH2 COOH
HS CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2

J-Glutamyl-cysteinyl-glycin (Glutathion, reduzierte Form)

Glutathion weist eine freie SH-Gruppe an der Aminosäure Cystein auf, an der
die Konjugation erfolgt. Im Stoffwechsel wechselt es zwischen einer reduzierten
Thiolform (GSH) und einer oxidierten Form (GSSG), in der zwei Tripeptide
über eine Disulfidbindung verknüpft sind.
Außer an der Konjugation ist Glutathion an der Inaktivierung von reaktivem
Sauerstoff beteiligt, es nimmt an Transport- und Stoffwechselprozessen Teil
und beeinflusst das Redoxgleichgewicht in der Zelle.
84 Kapitel 2 Toxikokinetik

Auch ohne GST kann Glutathion mit seiner freien SH-Gruppe bereits spontan
mit zahlreichen Elektrophilen reagieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit wird
jedoch in Anwesenheit von GST um einige Größenordnungen gesteigert.
Durch die Kopplung an Glutathion wird die Löslichkeit der Verbindung im
Wasserraum wesentlich gesteigert. Die Ausschleusung der wasserlöslichen Kon-
jugate aus der Zelle erfolgt über aktive Transporter in der Zellmembran. Vor
der Ausscheidung aus dem Organismus werden noch die Aminosäuren Gluta-

CO NH CH2 COOH
GG
C X + HS CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2
GSH-S-Transferase
HX

CO NH CH2 COOH
C S CH2 CH
NH CO CH2 CH2 CH COOH
NH2
J-Glutamyltranspeptidase Glutaminsäure

CO NH CH2 COOH
C S CH2 CH
NH2
Cysteinglycinase
Glycin Mercaptursäure

COOH COOH
AcCoA
C S CH2 CH C S CH2 CH
N-Acetyl-
NH2 NH C CH3
Transferase
O
Abbildung 2.25 Das nucleophile Tripeptid Glutathion reagiert mit Verbindungen mit Elektro-
nendefizit, als Katalysator fungiert die Glutathion-S-Transferase (GSH-S-Transferase). Nach
dem Transport aus der Zelle wird das Glutathionkonjugat durch γ-Glutamyltranspeptidase
und Cysteinglycinase zu einem Cysteinkonjugat, das durch Acetylierung mit Acetyl-
Coenzym-A (AcCoA) in eine sogenannte Mercaptursäure überführt wird.
2.5 Umwandlung von toxischen Substanzen durch den Stoffwechsel 85

minsäure und Glycin abgespalten und die Aminogruppe des Cysteinrestes ace-
tyliert, wodurch Mercaptursäure entsteht (siehe auch Kapitel 9).
Im allgemeinen führen die in der Abbildung 2.25 gezeigten Reaktionen ein-
schließlich der Überführung in die Mercaptursäure zu wasserlöslichen Verbin-
dungen, die in der Niere ausgeschieden werden und damit zu einer Entgiftung
des Organismus beitragen. Weitere Beispiele befinden sich in den Kapiteln 5
und 9.
In der Leber, Niere und in den Darmbakterien kommen Cystein-b-Lyasen
vor, welche enzymatisch die Bindung zwischen dem b-C-Atom des Cysteins und
dem Schwefel der Cysteinkonjugate spalten. Dabei entstehen neben
Pyruvat und Ammoniak instabile, reaktive Thiolverbindungen, welche nieren-
toxisch sein können. So werden z. B. in der Leber gebildete Mercaptursäuren
von polyhalogenierten Alkenen (Hexachlorbutadien, Tri- und Tetrachlorethen),
nach ihrer N-Deacetylierung in der Niere, durch die Cystein-b-Lyase zu elek-
trophilen Vinylthiolen umgesetzt, die mit DNA reagieren (siehe Kapitel 5).
Dieser Mechanismus erklärt möglicherweise auch das häufige Auftreten von
Nierenkarzinomen bei Arbeitern, die mit Trichlorethen in Berührung gekom-
men sind.

Acetyltransferasen

Fremdstoffe mit Amino- und Hydroxylamingruppen sind häufig Substrate von


Acetyltransferasen. Beispiele hierfür sind aromatische Amine, aliphatische pri-
märe Amine, Hydroxlamine, Hydrazine, Hydrazide und Sulfonamide. Als Co-
substrat fungiert hierbei Acetyl-Coenzym-A (AcCoA). Beim Menschen sind
zwei Enzyme, die N-Acetyltransferase 1 und 2 (NAT1 und NAT2) für den
Fremdstoffwechsel von Bedeutung, welche sich signifikant in ihrer Substrat-
spezifität unterscheiden. Für die NAT1 sind z. B. 4-Aminobenzoesäure und
4-Aminosalizylsäure und für NAT2 Hydralazin, Isoniazid, Sulfamethazin und
Procainamid typische Substrate.
Bei der Acetylierung steht die Beendigung der biologischen Wirkung im Vor-
dergrund, während die Wasserlöslichkeit der Substrate in den meisten Fällen
abnimmt. Der Wirkungsverlust und die Abnahme der Löslichkeit können Pro-
bleme für die medizinischen Behandlung bringen. So sind die Sulfonamide auch
heute noch ein wichtiger Bestandteil in der Therapie bei der Bekämpfung von
Bakterien. Die N-Acetylierung der Sulfonamide bedeutet einen vollständigen
Wirkungsverlust und das Auskristallisieren kann zu einem Funktionsverlust
der Nieren führen.
Seit 1950 kennt man beim Menschen das Phänomen der schnellen und langsa-
men Acetylierer. Dies beruht auf einem Polymorphismus einer N-Acelyltrans-
86 Kapitel 2 Toxikokinetik

ferase (NAT2). Etwa die Hälfte der europäischen Bevölkerung und 90 % der
Japaner, Chinesen und Eskimos acetylieren schnell, während der andere Teil
langsam acetyliert. Dies hat Bedeutung sowohl für die Länge der Wirkung
von Medikamenten als auch bei der Kanzerogenese. Bei der Belastung des
Organismus mit aromatischen Aminen wird beim schnellen Acetylierer die Or-
ganselektivität beeinflusst. So wird hierbei seltener ein Blasenkarzinom dafür
aber häufiger ein Darmkarzinom im Vergleich zu langsamen Acetylieren be-
obachtet. Dies wird damit erklärt, dass schnelle Acetylierer das Krebsrisiko im
Darm fördern, dies gilt auch für heterocyclischer Amine aus der Nahrung, die
bei der thermischen Behandlung von Fleischprodukten entstehen können.

Methyltransferasen

Schließlich heißen die Enzyme, die Methylierungen katalysieren, Methyltrans-


ferasen. Als Coenzym wirkt hier das S-Adenosylmethionin, dessen aktivierte
Methyl-Gruppe von der Aminosäure Methionin herstammt. Die Strukturfor-
mel für Methionin lautet H3 C-S-CH2 -CH2 -HCNH2 -COOH. Die Methylierung
phenolischer OH-Gruppen bei den körpereigenen Catecholaminen wie Adrena-
lin ist eher eine Ausnahmereaktion als die Regel und kommt im Rahmen der
Biotransformation selten vor.

2.5.2.1 Einfluss des Alters auf die Biotransformation

Das Alter kann bei der Biotransformation eine ganz entscheidende Rolle spie-
len. So sind die Enzyme der Biotransformation beim Neugeborenen noch unzu-
reichend ausgebildet. Die Glucuronyltransferasen werden erst zum Zeitpunkt
der Geburt gebildet. Ganz im Gegensatz dazu ist bei Kindern im Alter von l bis
8 Jahren die Geschwindigkeit der Biotransformation im Vergleich zu Erwachse-
nen erhöht, woran das größere Verhältnis von Lebergewicht zu Körpergewicht
beteiligt sein kann.
Im höheren Alter läuft der Cytochrom P-450-abhängige Stoffwechsel langsamer
ab, während Phase-II-Reaktionen meist unverändert bleiben.
Neben dem Alter können auch das Geschlecht, der Ernährungszustand sowie
Krankheiten und körperlicher Stress von Bedeutung für die Biotransformati-
on sein. Bewirken ein oder mehrere Substanzen eine Enzyminduktion in der
Leber, so können andere Fremdstoffe vermehrt umgesetzt werden und ihre
Metaboliten unter Umständen wegen der erhöhten Konzentration toxisch wir-
ken. Anstatt der Giftung kann auch das Gegenteil der Fall sein, nämlich eine
Bioinaktivierung.
2.6 Elimination durch Exkretion 87

2.6 Elimination von toxischen Substanzen durch


Exkretion

Für die Exkretion von toxischen Substanzen stehen grundsätzlich folgende


Wege zur Verfügung:
• Nieren und ableitende Harnwege,
• Leber, Gallenwege und Darm,
• Haut und Anhangsorgane sowie Sekretion,
• Lungen.
Dabei steht die Ausscheidung von Fremdsubstanzen mit dem Harn über die
Nieren im Vordergrund.
Dagegen sind die Ausscheidung über die Augenflüssigkeit (Tränen) und über
die Anhangsgebilde wie Nägel und Haare von untergeordneter Bedeutung. Die
Anhangsgebilde sind jedoch mitunter wichtig für den Nachweis einer erfolgten
Exposition, z. B. gegenüber Schwermetallen. Nägel und Haare besitzen eine ho-
he Konzentration an schwefelhaltigen Aminosäuren und reichern die Schwer-
metalle, die sich chemisch relativ gut nachweisen lassen, normalerweise um
etwa zwei Größenordnungen stärker an als die Körperflüssigkeiten. Aufgrund
der Kenntnis der Wachstumsgeschwindigkeit der Haare von etwa 1 mm pro
Tag und der der Nägel mit ungefähr 1 mm pro Woche lässt sich der Zeitpunkt
einer Exposition mit einer Genauigkeit von Tagen ermitteln.

2.6.1 Ausscheidung durch die Nieren


Die Nieren haben folgende physiologischen Aufgaben:
1. Sie regulieren den Wasser- und Elektrolythaushalt sowie das Säure-Base-
Gleichgewicht. Die Ionenkonzentrationen im Blutplasma werden über die Nie-
ren kontrolliert, auf konstanter Größe gehalten und somit eine Isoionie gewähr-
leistet. Aber nicht nur die Konzentration der einzelnen Ionen selbst, sondern
auch der durch alle beteiligten Teilchen erzeugte osmotische Druck wird auf
einen konstanten Betrag, den isotonischen Druck von etwa 300 mosmol pro
Liter, gleichbleibend eingestellt. Die Niere ist in diesem Falle für die Iso-
tonie verantwortlich. Darüber hinaus wird auch das Volumen des Plasmas
konstant gehalten, diese Leistung hat eine Isovolämie zur Folge. Kurzfris-
tige pH-Verschiebungen im Plasma können durch Veränderungen der CO2 -
Abgabe über die Lungen korrigiert werden, dagegen werden die langfristigen
pH-Einstellungen im wesentlichen von der Niere geregelt. Die Niere ist also
auch für die Einhaltung der Isohydrie zuständig.
88 Kapitel 2 Toxikokinetik

2. Seitens des Stoffwechsels erfüllt die Niere eine wichtige Funktion bei der
Ausscheidung der Endprodukte des Eiweißstoffwechsels. Diese Endprodukte
sind Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Ammoniak, Aminosäuren, Hippursäure
und Proteine.

3. Die Niere ist das wichtigste Ausscheidungsorgan für viele Fremdstoffe und
nimmt außerdem an der Biotransformation teil. Die funktionelle Einheit der
Niere ist das Nephron (Abbildung 2.26). Jede menschliche Niere enthält etwa
eine Million dieser Nephronen.
Im Glomerulus wird fortlaufend ein Teil des Blutes abfiltriert. Die Permea-
bilität der Kapillaren im Glomerulus ist etwa 50-mal so groß wie diejenige
der Muskel-Kapillaren. Das Ausschlussvolumen im Glomerulus liegt bei einem
Molekulargewicht um 60 000. Wichtiger als das Molekulargewicht ist jedoch
der Moleküldurchmesser. Moleküle unter 4 nm passieren die Glomerulusmem-
bran verhältnismäßig leicht, dagegen werden solche mit einem Durchmesser
über 10 nm fast vollständig im Blutplasma zurückbehalten. Plasma-Albumin
mit einem Molekulargewicht von 69 000 ist im Filtrat mit nur etwa 0,2 % der
Konzentration im Plasma enthalten. Man kann davon ausgehen, dass die Zu-
sammensetzung des Filtrates der des Plasmas ohne Proteine sehr ähnlich ist.
Bei einem Gewicht von nur 0,3 % des Körpergewichtes erhalten die beiden Nie-
ren in der Ruhe 1,2 bis 1,3 Liter Blut pro Minute, das sind 20 bis 25 % des
gesamten Blutvolumens. Die Glomeruläre-Filtrationsrate (GFR) eines durch-
schnittlichen Erwachsenen liegt bei 125 ml Flüssigkeit pro Minute oder 7,5
Litern pro Stunde bzw. 180 Litern pro Tag.
Die Ausscheidung dieses sogenannten Primärharns korreliert mit der Körper-
oberfläche. Sie liegt bei der Frau um durchschnittlich 10 % niedriger als beim
Mann. Obwohl pro Tag durchschnittlich 180 Liter Primärharn produziert
werden, wird nur etwa 1 Liter Endharn ausgeschieden.
Daraus folgt, dass über 99 % des Primärfiltrates von den Nieren rückresorbiert
werden müssen. Bei 180 Litern Primärharn pro Tag filtrieren die Nieren etwa
das Vierfache des gesamten Körperwassers oder 60-mal das gesamte Plasma-
volumen von 3 Litern. Allein diese Tatsache macht klar, dass die Ausscheidung
von Fremdstoffen hauptsächlich durch die Nieren erfolgt.
Während der vom Glomerulus abfiltrierte Primärharn etwa den gleichen os-
motischen Druck wie das Blut besitzt, hat der Endharn einen 3- bis 4fach
höheren osmotischen Druck. Die Niere leistet eine Konzentrierungsarbeit.
Diese geschieht im proximalen Tubulus, in der Henle´schen Schleife, im dista-
len Tubulus und im Sammelrohr des Nephrons (Abbildung 2.26). Dabei steigt
der osmotische Druck von 300 bis auf 1400 mosmol pro Liter an, und das Harn-
volumen nimmt, wie bereits erwähnt, bis auf 1 % des Ausgangswertes ab.
2.6 Elimination durch Exkretion 89

Abbildung 2.26 Schematische Darstellung eines Nephrons.

Im proximalen Tubulus wird das Filtrat bis auf 40 % eingeengt, und die im
Primärharn sich befindenden Nährstoffe wie Glucose, Aminosäuren und Hy-
drogencarbonat werden fast vollständig in das Blut zurücktransportiert. Dage-
gen reichern sich Ausscheidungsprodukte wie Säureäquivalente und Harnstoff
im tubulären Harn an. Auf dem restlichen Weg werden körperwichtige Elek-
trolyte zur Aufrechterhaltung der Isoionie, Isotonie, Isovolämie und Isohydrie
zurückgewonnen.
Die meisten Fremdstoffe und toxischen Substanzen sind kleine Moleküle, die ef-
fektiv durch die glomeruläre Filtration ausgeschieden werden können. Die glo-
meruläre Filtrationsrate (GFR -125 ml/min) bestimmt somit ganz wesentlich
die Ausscheidungsgeschwindigkeit. Da der größte Teil der Filtrationsflüssigkeit
(99 %) wieder resorbiert wird, bedeutet das gleichzeitig, dass 125 ml Plasma
pro Minute von der toxischen Substanz befreit werden. Deshalb wird dieser
Wert auch als Nieren-Clearance bezeichnet.
Weiterhin spielt die Größe des Volumens, in der die toxische Substanz sich ver-
teilt hat, eine Rolle. Es gilt, je größer das Verteilungsvolumen ist, desto länger
ist auch die Ausscheidungszeit. Liegt außerdem noch eine Bindung der Sub-
stanz an Gewebsproteine und/oder an die Plasmaproteine vor, so verlängert
sich die Ausscheidungszeit noch weiter, da jeweils nur der freie, ungebundene
Anteil filtriert werden kann.
90 Kapitel 2 Toxikokinetik

Neben der Filtration kann weiterhin eine passive Rückdiffusion in den ab-
leitenden Nierenkanälchen die Ausscheidungsgeschwindigkeit einer toxischen
Substanz beeinflussen. So gelangen lipophile Substanzen durch eine Rückdif-
fusion über die Tubuluszellen der Nierenkanälchen wieder in das Blut zurück.
Diese Rückdiffusion kann unter Umständen so groß sein, dass die Konzentra-
tion der toxischen Substanz im Harn und im Blutplasma etwa gleich hoch
gehalten wird. Besteht darüber hinaus noch eine starke Bindung der lipophi-
len Substanz an die Plasmaproteine, so wird die Ausscheidung durch die Niere
noch weiter verlangsamt. Erst wenn die toxische Substanz durch die Biotrans-
formation wasserlöslich gemacht worden ist, erfolgt auch eine wirksame Elimi-
nation.
Basische und saure toxische Substanzen werden im allgemeinen gut ausgeschie-
den, solange sie in der ionischen Form vorliegen. Damit gewinnen der pH-Wert
des Harns und die Dissoziationskonstante der Substanzen einen Einfluss auf
die Ausscheidung. Im allgemeinen ist der pH-Wert im Harn niedriger als der
des Blutes von 7,4. Dies hängt mit der nierenbedingten Isohydrie, der Erhal-
tung des Säure-Base-Gleichgewichtes, zusammen, die meist durch Protonen-
abgabe an den Harn erfolgt. Der physiologische Bereich des Harns schwankt
deswegen zwischen den pH-Werten 5 und 7.
Der Arzt kann durch bestimmte Substanzen den pH-Wert des Harns willkürlich
verstellen. Nach oraler Gabe von Hydrogencarbonat erreicht der Harn pH-
Werte von über 8, und durch die Zuführung von Protonen über die Verbin-
dung Ammoniumchlorid oder durch Ascorbinsäuregabe lässt sich der Harn
auf den unteren physiologischen pH-Bereich einstellen. Mit Hilfe dieser the-
rapeutischen Maßnahmen kann die Ausscheidung von toxischen Substanzen
ganz wesentlich beeinflusst werden. Schwache Basen werden so durch Absen-
ken des pH-Wertes und schwache Säuren durch Alkalisieren des Harns in die
ionischen Formen überführt und in diesem wasserlöslichen Ionenanteil ausge-
schieden. Als Beispiele hierfür erfolgen eine erhöhte Eliminierung von Nicotin
durch Acidifizierung und bei einer Intoxikation mit Salicylsäure eine vermehrte
Ausscheidung durch Alkalisierung des Harnes.
Neben den physikalischen Prozessen wie Filtration und Diffusion kann auch ein
aktiver Transportmechanismus für die Ausscheidung von toxischen Substan-
zen verantwortlich sein. Es handelt sich hierbei um die tubuläre Sekretion.
Durch ein Transportsystem, das in den proximalen Nierentubuli lokalisiert ist,
werden viele organische Säuren, wie z. B. Penicillin, Sulfonamide, Phenolrot,
Glucuronide, Sulfate und Harnsäure entgegen ihrem Konzentrationsgradienten
aktiv in den Harn sezerniert (lat. secernere, absondern). Einzelne Substanzen
konkurrieren beim Transport und vermögen sich hierdurch gegenseitig an der
Ausscheidung zu hindern.
2.6 Elimination durch Exkretion 91

Außer Säuren können auch organische Basen von den Tubuluszellen aktiv se-
zerniert werden. Der Transport von Basen erfolgt unabhängig von dem der
Säuren. Als Beispiele hierfür gelten Substanzen wie Dopamin (Transmitter)
und Tetraethylammoniumchlorid.
Nach der Geburt sind verschiedene Funktionen der Niere noch nicht vollständig
entwickelt. Substanzen, die hauptsächlich durch eine aktive Sekretion ausge-
schieden werden, sind beim Neugeborenen oft toxischer, da die Transportsy-
steme noch nicht vollständig vorhanden sind und somit eine Elimination nur
langsam verläuft.
Ein Maß für die über die Niere ausgeschiedene Substanzmenge ist die renale
Clearance Clren . Sie wird als Produkt aus dem Volumen Vu des ausgeschie-
denen Urins und der Konzentration der Substanz im Harn Cu geteilt durch
seine Konzentration im Plasma Cp , berechnet:

Clren = (Vu · Cu )/Cp (ml/min)

2.6.2 Ausscheidung über die Galle

Mit der Gallenflüssigkeit werden vor allem solche toxischen Substanzen aus-
geschieden, die ein Molekulargewicht von über 500 besitzen oder durch Umset-
zung über die Biotransformation, hauptsächlich durch die Phase-II-Reaktionen,
dieses hohe Molekulargewicht erlangt haben. Dagegen werden Substanzen mit
einem Molekulargewicht unter 300 bevorzugt durch die Nieren ausgeschieden.
Für die biliäre (lat. bilis, Galle) Ausscheidung von Substanzen werden zwei
Transportmechanismen verantwortlich gemacht. Dies sind eine passive Diffusi-
on der Substanzen beim Durchgang von den Leberzellen in die Gallenkapillaren
und ein aktiver Transport. Letzterer ist für verschiedene saure Farbstoffe wie
z. B. Phenolrot und Bromsulphthalein nachgewiesen worden. Daneben gibt es
wahrscheinlich noch ein Transportsystem für organische Basen und ein weite-
res für Neutralstoffe mit polaren Gruppen. Für glucuronidierte Fremdstoffe ist
die biliäre Ausscheidung besonders bedeutsam.
Die Gallenflüssigkeit selbst ist kein Filtrationsprodukt, welches mit dem Harn-
filtrat verglichen werden könnte. Sie wird vielmehr aktiv in die Gallenkanälchen
sezerniert. Die Gallenflüssigkeit wird auf dem Wege durch die Gallenkanälchen
durch Stoffaustausch mit dem Blutplasma modifiziert.
Die Tagesproduktion der Galle wird auf 0,5 bis 1 Liter Gallenflüssigkeit ge-
schätzt.
92 Kapitel 2 Toxikokinetik

Bindung
X + Protein X-Protein

Metabolismus Ausscheidung Niere

Oxidation
Phase- I- Reduktion Molekulargewicht
Reaktion Hydrolyse < 300
Phase-II-
Reaktion
Transferasen (wasserlöslich,
Phase-I-Metabolit Kopplungsproduktinaktiv, ungiftig)
Glucuronsäure,
Sulfat, Aminosäuren, Molekulargewicht
Kopplung an: Glutathion, Essigsäure, > 500
S-Adenosylmethionin.
Ausscheidung Galle
Abbildung 2.27 Übersichtsschema Biotransformation und Ausscheidung. X ist ein Fremd-
stoff, eine körpereigene Verbindung oder ein Medikament.

Einige Gallenbestandteile und mit der Galle sezernierte Fremdstoffe können,


nachdem sie in den Darm ausgeschieden worden sind, von dort wieder in das
Blut zurückgelangen. Dieser Aufnahmeweg wurde bereits an anderer Stelle als
enterohepatischer Kreislauf beschrieben.
Gallengängige Substanzen müssen eine polare Gruppe enthalten. Für toxische
Substanzen werden häufig erst die Voraussetzungen für die biliäre Ausschei-
dung durch die Konjugation in der Phase-II-Reaktion geschaffen. Dabei wird
das Molekulargewicht durch Kopplung mit z. B. Glucuronsäure um 177 erhöht
und dann eine anionische Gruppe in das Molekül eingeführt. Neben Glucu-
ronsäure spielen die Konjugationen mit Glutathion, Schwefelsäure und Glycin
eine Rolle. Quarternäre Ammoniumverbindungen werden als Kationen trans-
portiert.
Da die toxischen Substanzen hauptsächlich konjugiert als hydrophile Stoffe
in die Galle ausgeschieden werden, spielt eine Rückdiffusion aus den Gallen-
kanälchen praktisch keine Rolle. Wegen der aktiven Ausscheidung in die Gal-
lenflüssigkeit können aber sehr hohe Konzentrationen toxischer Substanzen
erreicht werden, die möglicherweise für die Entstehung bestimmter Lebertu-
moren verantwortlich sind.
2.6 Elimination durch Exkretion 93

Tabelle 2.7 Zusammensetzung der menschlichen Gallenflüssigkeit

Substanzen in der menschlichen Galle


Wasser 97 %
Gallensäuresalze 0,70 %
Gallenfarbstoffe 0,20 %
Cholesterin 0,06 %
Anorganische Salze 0,70 %
Fettsäuren 0,15 %
Lecithin 0,10 %
Enzyme Alkalische Phosphatase, γ-Glutamyltranspeptidase

Als Faktoren, welche die biliäre Ausscheidung beeinflussen und herabsetzen


können, kommen besonders eine verminderte Glucuronidierungsleistung oder
eine Hemmung der mikrosomalen Enzyme in Frage. Dagegen bewirkt eine mi-
krosomale Enzyminduktion durch Fremdstoffe eine deutliche Steigerung der
biliären Ausscheidung. Dieses Prinzip kann therapeutisch ausgenutzt werden,
um bestimmte toxische Substanzen schneller zu entgiften und über die Galle
auszuscheiden.
Bezüglich der Abhängigkeit der biliären Ausscheidung von der Molekülgröße
gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Tierarten. Bei der Ratte schwan-
ken die Molekulargewichte um 325 ± 50, beim Meerschweinchen um 400 ± 50
und beim Kaninchen um 475 ± 50. Demnach steht das Kaninchen bezüglich
der Größenabhängigkeit dem Menschen am nächsten. Beim Neugeborenen ist
das Sekretionssystem der Galle noch nicht ausgereift. Eine Ausreifung kann
jedoch beschleunigt werden durch Induktion der mikrosomalen Enzymsysteme
mit z. B. Phenobarbital.

2.6.3 Ausscheidung durch Sekrete, Schweiß und Milch


Quantitativ ist die Ausscheidung von toxischen Substanzen mit dem Sekret
von Speichel, den Verdauungssäften des Darmes und der Tränenflüssigkeit von
untergeordneter Bedeutung. Auch die Ausscheidungen durch den Schweiß und
durch die Muttermilch spielen mengenmäßig nur eine geringe Rolle.
Die Herkunft von Substanzen, die im Kot erscheinen, kann sehr unterschied-
lich sein. Die Substanzen können z. B. von der Nahrung herstammen, durch
die Tränenflüssigkeit auf dem Wege über den Tränenkanal in den Darm ge-
langt sein, mit dem Speichel sezerniert worden sein, auf dem Wege über das
Flimmerepithel der Bronchien aus den Lungen kommen. Weiterhin können
die Substanzen aus der Gallenflüssigkeit, dem Magensaft, Pankreassekret und
Darmsaft in den Kot gelangt sein.
94 Kapitel 2 Toxikokinetik

Die direkte Ausscheidung von toxischen Substanzen in den Darm ist für ver-
schiedene Schwermetalle, für quartäre Ammoniumverbindungen, schwache
Säuren sowie für Herzglycoside nachgewiesen worden. Weiterhin kann die pH-
Differenz zwischen dem sauren Mageninhalt und dem Blut zu einer Anreiche-
rung von basischen Substanzen im Magen führen (Abbildung 2.13).
Um toxische Substanzen aus dem Verdauungstrakt zu entfernen, können außer
dem Spülen der Brechreiz ausgelöst und Abführmittel zum Verhindern der
Resorption eingesetzt werden.
Die Ausscheidung von toxischen Substanzen mit der Milch ist von besonderer
Wichtigkeit für das Brustkind und für die Übertragung von der Kuh auf den
Menschen durch das Nahrungsmittel Kuhmilch. Da der pH-Wert der Milch bei
pH 6 liegt, reichern sich in der Milch besonders basische Verbindungen an, ähn-
lich wie beim Magen beschrieben (Ionenfalle). Außerdem ist der Lipidgehalt
der Milch, der zwischen 3 und 5 % liegt, für die Verteilung von lipophilen Sub-
stanzen wichtig. Über diese Nahrungskette können sich lipophile Substanzen
wie DDT anreichern.
Bei stillenden Frauen muss grundsätzlich die Möglichkeit der Übertragung von
Medikamenten durch die Milch in Betracht gezogen werden. Auch Alkohol und
Nicotin werden mit der Milch auf den Säugling übertragen.

2.6.4 Ausscheidung über die Lungen


Die pulmonale (lat. pulmo, Lunge) Ausscheidung von Gasen und flüchtigen
Substanzen ist proportional dem Konzentrations- bzw. dem Druckgradienten
zwischen Blut und eingeatmeter Luft. Grundsätzlich gelten für die Ausschei-
dung die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für die Aufnahme.
Die Dauer der pulmonalen Ausscheidung ist besonders von den physikalisch-
chemischen Eigenschaften der Gase oder flüchtigen Substanzen abhängig.

2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen

Ein toxikokinetisches Modell soll in Abhängigkeit von der Zeit mit mathema-
tischen Funktionen den Weg einer toxischen Substanz im menschlichen Or-
ganismus annähernd genau wiedergeben können. Der Toxikologe wird durch
ein gutes mathematisches Modell in die Lage versetzt, nach einer Exposition
die wirksame Konzentration im Organismus zu ermitteln. Hierdurch kann un-
ter Umständen die Einwirkungsdauer und damit das toxische Risiko aus der
Expositionskonzentration und der Expositionszeit abgeschätzt werden.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 95

Zur Erstellung eines solchen Modells ist der im Experiment gemessene zeit-
liche Verlauf der Konzentration der toxischen Substanz im Blutplasma von
großer Wichtigkeit. Jeder einzelne Messwert kann als eine Resultante aller ab-
laufenden Einzelvorgänge wie Aufnahme in das Blut, Verteilung im gesamten
Organismus, Biotransformation und Ausscheidung aufgefasst werden. Verbin-
det man die einzelnen Messwerte miteinander, so erhält man eine sogenannte
Blutspiegel-Zeitkurve. Ihr Kurvenverlauf erfasst die oben genannten Ein-
zelvorgänge. Das einfachste Modell ist ein offenes System mit einem Zu- und
einem Abfluss. Ist die Bilanz von Zu- und Abfluss ausgeglichen, so spricht
man von einem Fließgleichgewicht oder steady state“. Überwiegt aber

der Zufluss, so kommt es im Organismus zu einer Akkumulation.
Wichtige Parameter in einem solchen Modell sind die Anzahl und Größe der
Verteilungsräume Kompartimente), sowie die einzelnen Geschwindigkeits-
konstanten für den Zufluss, den Transfer und den Abfluss.

2.7.1 Das Ein-Kompartiment-Modell


Der einfachste denkbare Fall ergibt sich aus folgenden Bedingungen: Eine to-
xische Substanz, die im Organismus keiner metabolischen Veränderung unter-
liegt, wird mit einer Spritze in die Blutbahn injiziert und verteilt sich nach
kurzer Zeit im Blutplasma. Die Durchmischungszeit im Kreislauf beträgt etwa
3 Minuten, und nach dieser Zeit ist die Substanz gleichmäßig im Plasmavolu-
men von etwa 3 Litern verteilt. Die Substanz kann dieses eine Kompartiment,
das Plasmavolumen, nur über den Ausscheidungsweg der Niere verlassen.
Die Elimination der Substanz durch die Niere bewirkt einen Abfall der Blut-
spiegelkurve. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um eine Kinetik
erster Ordnung“, die sich durch folgende Differentialgleichung beschreiben

lässt:

-dC/dt = ke · C (1)

Dabei ist C die Konzentration der Substanz im Blutplasma (Plasma), t die


Zeit und ke die Eliminationskonstante. Nach Integration von (1) erhält man
die Konzentration der Substanz C zum Zeitpunkt t mit:

Ct = C0 · e−ke t , (2)

wobei C0 die Konzentration der Substanz zum Zeitpunkt 0 ist. Durch Log-
arithmieren erhält man:
96 Kapitel 2 Toxikokinetik

ln Ct = ln C0 − ke t (3)
bzw.
log Ct = log C0 − (ke /2, 303) · t. (4)

Die Gleichungen 3 und 4 sind einfache lineare Gleichungen mit dem y-Achsen-
Schnittpunkt ln C0 bzw. log C0 und einer Neigung, welche die Eliminations-
konstante ke (h−1 oder min−1 ) wiedergibt.
Trägt man in einer graphischen Darstellung die gemessenen Konzentrationen
im Plasma logarithmisch gegen die Zeit im linearen Maßstab auf, so müssen
die Messpunkte entsprechend den Gleichungen (3) und (4) auf einer geraden
Linie liegen. Der graphisch ermittelte Schnittpunkt mit der y-Achse ergibt die
Anfangskonzentration C0 und aus der Neigung des Konzentrationsverlaufes
geht die Eliminationskonstante ke hervor.
Die Abbildung 2.28 demonstriert an einem Beispiel (C0 = 10 mM, ke = 0,2 h−1 )
den zeitlichen Verlauf einer Blutspiegel-Zeitkurve in der linearen und in der
halblogarithmischen Darstellung.
Die halblogarithmische Darstellung hat den Vorteil, dass den exakten Schnitt-
punkt mit der y-Achse erhält, der aus der linearen Darstellung nur abgeschätzt
werden kann. Mit ihrem Schnittpunkt ist die Anfangskonzentration C0 be-
stimmt. Mit C0 lässt sich das Volumen des Kompartiments errechnen, da die
in die Blutbahn eingebrachte Menge (m) der Substanz bekannt ist. Beträgt
die eingebrachte Menge (m) in unserem Beispiel 30 mmol, so errechnet sich
das Plasmavolumen, V = m/C0 (30 mmol/10 mM), zu 3 Liter.
Multipliziert man das Plasmavolumen V (3 Liter) mit der Eliminationskon-
stante ke (0, 2 h−1 ) , so ergibt sich die Nieren-Clearance, nämlich das Volu-
men, das pro Minute von der Substanz befreit wird. In diesem Beispiel sind es
10 ml/min.
Abbildung 2.28, die den exponentiellen Abfall der Konzentration der Substanz
im Blutplasma wiedergibt, enthält eine tabellarische Darstellung für die Zeit-
spanne von 5 Halbwertzeiten. In dem Beispiel ist die Ausgangskonzentration
von 10 mM auf die Hälfte abgefallen, wenn 3,5 Stunden vergangen sind. Nach
dem Ablauf von fünf Halbwertzeiten ist die Substanz nur noch mit 1/32 (0,31
mM, ≈ 3.1 %) der Ausgangskonzentration im Plasma vorhanden. Im Allgemei-
nen signalisiert die niedrige Konzentration nach 5 Halbwertzeiten das Abklin-
gen einer akuten toxischen Wirkung. Bei der klinischen Beurteilung von Me-
dikamentenwirkungen gelten nach 5 Halbwertzeiten die meisten Medikamente
als ausgeschieden. Somit ist die Halbwertzeit eine praktische Bezugsgröße für
die Beurteilung einer Exposition.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 97

10 C mM Stunden
Konzentration (C) 1/1 10 0
1/2 5 3.5
1/4 2.5 7.0
1/8 1.25 10.5
5 1/16 0.62 14.0
1/32 0.31 17.5

0
0 5 10 15 20
Stunden

Co

1.0
log Konzentration (C)

Neigung = -Ke / 2.303


0.5

0.0

-0.5

-1.0
0 5 10 15 20
Stunden

Abbildung 2.28 Konzentration im Plasma (lineare Auftragung) nach iv-Injektion einer Sub-
stanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells, unten halblogarithmische Auftragung.
98 Kapitel 2 Toxikokinetik

Mit der Eliminationskonstanten ke lässt sich eine direkte Beziehung zu der


Halbwertzeit, die man oft als biologische Halbwertzeit bezeichnet, herstel-
len. Setzt man in die Gleichung (2) für Ct = C0 /2 und für t = t1/2 ein, so ergibt
sich:
C0 /2 = C0 · e−ke t1/2 . (5)

Dividieren durch C0 und Logarithmieren ergibt:

ln 1/2 = −ke t1/2 , oder t1/2 = 0, 693/ke . (6)

Wie aus Gleichung (6) ersichtlich, ist die Halbwertzeit für eine Substanz mit
einer Kinetik erster Ordnung“ unabhängig von der Konzentration der Sub-

stanz, sie ist umso kleiner, je größer ke ist.
Für die Abhängigkeit der Halbwertzeit t1/2 von Verteilungsvolumen V und
Clearance (CL) gilt die Beziehung:

t1/2 = 0, 693 · (V/CL), da CL = V · ke . (7)

Die Halbwertzeit einer Substanz ist also umso länger, je größer das Vertei-
lungsvolumen ist, und umso kürzer, je größer die Clearance ist.
Die Situation in einem offenen Ein-Kompartiment-Modell wird etwas kompli-
zierter, wenn wir anstelle der schnellen i.v. (intravenösen) Injektion durch eine
Spritze eine langsame Aufnahme durch den Magen-Darm-Trakt annehmen. Die
Zeichnung veranschaulicht hierbei die kinetischen Bewegungen der Substanz:

MAGEN- ki ke
DARM-TRAKT BLUTRAUM

Gelangt eine Substanz aus dem Magen-Darm-Trakt in den Blutraum, so steigt


die Konzentration im Blutplasma von Null ausgehend an. Die Zeit für die
Durchmischung und gleichmäßige Verteilung im Plasmavolumen ist im Ver-
gleich zur Aufnahme sehr schnell und kann aus diesem Grund vernachlässigt
werden. Während die Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt fortschreitet,
wird bereits ein Teil der sich im Blutplasma befindlichen Substanz durch die
Nieren wieder ausgeschieden.
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 99

Wählt man wie in Abbildung 2.28 unten eine halblogarithmische Auftragung


der experimentell bestimmten Substratkonzentrationen, so zeigt sich zuerst
ein aufsteigender Kurventeil in konvexer Form, der nach Durchlaufen eines
Maximums in eine gerade Kurve übergeht (Abbildung 2.29).

Co

1
log Konzentration (C)

-ke = 0.2 h-1

-ki = 0.5 h-1

-1
0 5 10 15 20
Stunden

Abbildung 2.29 Konzentrationsverauf (log) im Plasma nach oraler Verabreichung einer Sub-
stanz bei Vorliegen eines Ein-Kompartiment-Modells (Vierecke).

Am Scheitelpunkt der Kurve sind Aufnahme und Ausscheidung gleich. Nach


dem Scheitelpunkt findet noch so lange eine Aufnahme statt, bis die Kurve in
die Gerade der Elimination einmündet. Obwohl bereits während der Aufnahme
eine Elimination stattfindet, wird nur dieser letzte Abschnitt als Eliminations-
phase bezeichnet, da hieraus die Eliminationskinetik berechnet werden kann.
Wird die Gerade zum y-Schnittpunkt extrapoliert, so erhält man den Schnitt-
punkt C0 und aus der Neigung die Eliminationskonstante ke .
Mit Hilfe der Residualmethode kann auch die Invasionskonstante ki , be-
stimmt werden. Durch Differenzbildung von fiktiven Konzentrationen auf der
extrapolierten Eliminationsgeraden“ (z. B. eingekreiste Werte) und den zeit-

lich zugeordneten, experimentell bestimmten Plasmakonzentrationen (Viereck
und Kreis), erhält man die Residualpunkte (gefüllte Kreise). Verbindet man
diese sogenannten Residualpunkte“ miteinander, so resultiert eine zweite Ge-

rade (gestrichelt). Aus der Neigung der Residual-Geraden errechnet sich die
Invasionskonstante ki .
100 Kapitel 2 Toxikokinetik

Die Invasion in das Blutplasma kann ebenfalls mit einer Kinetik erster Ord-

nung“ beschrieben werden, wie bereits aus dem linearen Verlauf bei der hal-
blogarithmischen Darstellung gefolgert werden kann. Für die Geschwindigkeit
der Konzentrationszunahme im Blutplasma gilt unter der Annahme, dass kei-
ne Elimination stattfindet:

dC/dt = ki · (C∞ − C). (8)

Hierbei ist C wie in Gleichung (1) die Konzentration der Substanz im Blutplas-
ma zum Zeitpunkt t und C∞ die Konzentration, welche unter der Annahme,
dass keine Elimination stattfindet, zur Zeit t = ∞ erreicht wird. Integriert
man die Gleichung (8), so folgt:

Ct = C∞ [1 − e−ki t ]. (9)

Bei gleicher Konzentration von C∞ und C0 in den Gleichungen für die Invasion
(9) und Evasion (2) kann das Zusammenspiel der beiden Funktionen durch die
sogenannte Bateman-Funktion“ ausgedrückt werden:

ki
Ct = C0 · [e−ke t − e−ki t ]. (10)
ki − ke

Die Bateman-Funktion demonstriert den einfachsten Verlauf des Blutspiegels


einer Substanz nach Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt, wie er in der
Abbildung 2.29 dargestellt ist. Es sind bezüglich des Blutspiegels zwei ent-
gegengesetzte Exponentialfunktionen vorhanden. Die Bateman-Funktion gilt
nicht nur für die Resorption aus dem Darm, sondern kann auch angewendet
werden, wenn eine Applikation in die Haut oder in den Muskel vorliegt.

2.7.2 Das Zwei-Kompartiment-Modell


Das offene Zwei-Kompartiment-Modell soll nun in einem Blockdiagramm dar-
gestellt werden, um die kinetische Komplexizität darzustellen. Nachdem die
Substanz vom Magen-Darm-Trakt in das zentrale Kompartiment, den Blut-
raum, transportiert worden ist, erfolgt nicht nur eine Ausscheidung über die
Niere (ke ), sondern gleichzeitig eine Verteilung in ein peripheres Komparti-
ment mit den Transfer-Geschwindigkeitskonstanten k12 und k21 . Das Modell
beschreibt z. B. die Verhältnisse für eine Substanz, die aus dem zentralen Blut-
raum in ein zweites Kompartiment, den Zwischenzellraum gelangt, der sozusa-
gen im Nebenschluss liegt. Im allgemeinen erfolgt der Übertritt einer Substanz
2.7 Toxikokinetische Modellvorstellungen 101

MAGEN- ki ke
DARM-TRAKT BLUTRAUM

k12 k21

PERIPHERES
KOMPARTIMENT

in den Zwischenzellraum und zurück sehr schnell. Die Halbwertzeit des Blut-
spiegelabfalls ist hier bereits eine sehr komplexe Größe.
Da viele Substanzen sich nicht nur im Plasmaraum und im Extrazellulärraum
verteilen, sondern in den Intrazellulärraum eindringen bzw. in Fettzellen und
Membranen gebunden werden, kann deren Kinetik nur mit einem Multi-
Kompartiment-Modell angenähert werden. Hierzu sind leistungsfähige Com-
puter notwendig, und oft reichen die experimentellen Analysendaten aus dem
Blut allein nicht aus.
Bezüglich der Verteilungsräume erhält man besonders bei lipophilen Substan-
zen Werte, die viel größer als die entsprechenden Wasserräume sind. Das hängt
damit zusammen, dass diese Substanzen durch Bindung und Speicherung an
neutraler Stelle aus dem Spiel der kinetischen Kräfte herausfallen und damit
ihre Konzentration in den Verteilungsräumen viel geringer wird. Aus diesem
Grunde ist das Verteilungsvolumen nur eine fiktive Größe, und man spricht in
diesem Fall besser von einem scheinbaren Verteilungsvolumen“.

Der Realität entsprechend, sollte man die Räume des Körpers als vorgege-
bene Größen ansehen, denn diese sind definiert und können unabhängig be-
stimmt und vermessen werden. Dagegen sind die Konzentrationen der Sub-
stanzen in den verschiedenen Räumen veränderliche Parameter, besonders in
den Bindungs- und Speicherregionen.
3 Toxikodynamik
Günter Fred Fuhrmann

Im vorangegangenen Kapitel wurden die Einflüsse des menschlichen Körpers


auf Fremdstoffe, besonders auf toxische Substanzen, unter dem Oberbegriff
der Toxikokinetik behandelt. Dabei wurden die wichtigsten Bewegungen und
Umsetzungen der Stoffe von der Aufnahme bis hin zu ihrer Ausscheidung im
Organismus verfolgt.
Im Kapitel Toxikodynamik wird die umgekehrte Richtung der Wechselwir-
kung, nämlich die Wirkung des Xenobiotikums auf den Organismus selbst,
untersucht. Die Toxikodynamik befasst sich mit den Reaktionen des Organis-
mus, die von den Auswirkungen einer unspezifischen Bindung bis hin zu den
Angriffen an höchst spezifische Rezeptoren resultieren. Neben der Ansprech-
barkeit der rezeptiven Strukturen ist die Konzentration des Fremdstoffes, die
vor Ort erreicht wird, für das Ausmaß der Wirkung verantwortlich. Somit be-
stimmen Toxikokinetik und Toxikodynamik gemeinsam die toxische Wirkung.
Auf der Suche nach funktionellen Erklärungen für die Vorgänge im mensch-
lichen Organismus hat man sich schon früh toxischer Verbindungen als Hilfs-
mittel bedient. Dies führte u. a. zu der noch heute gültigen Grundeinteilung
der acetylcholinergen Rezeptoren mit Hilfe von Muskarin und Nicotin.
In der Natur gibt es Giftpilze, die eine reine Muskarinvergiftung verursachen.
Diese Pilze sind nicht zu verwechseln mit den Giftpilzen, die neben Muskarin
noch eine atropinartige Substanz enthalten, wie z. B. der Fliegenpilz (Amanita
muscaria). In hoher Konzentration kommt Muskarin in rübenstichigen und ke-
gelig geschweiften Risspilzen vor. In Mitteleuropa erfolgt eine Muskarinvergif-
tung am häufigsten durch den ziegelroten Risspilz (Inocybe Patouillardi). Die
Vergiftungserscheinungen sind typisch und können in wenigen Stunden zum
Tode führen. Die toxischen Symptome betreffen vor allem das nicht durch
unseren Willen gesteuerte autonome oder vegetative Nervensystem.
Das schlagende Froschherz kann ein einziger Tropfen eines muskarinhaltigen
Pilzextrakts zum Stillstand bringen, und nur ein Tropfen einer Atropinlösung
bewirkt, dass es wieder schlägt.
Beim Menschen äußert sich die Muskarinvergiftung in starkem Hitzegefühl,
Schweißausbrüchen, Speichelfluss, Tränensekretion, Pupillenverengung mit Seh-
104 Kapitel 3 Toxikodynamik

störungen, Herzschlagverlangsamung, Atemnot, Blutdruckabfall, Benommen-


heit und bald eintretender Bewusstlosigkeit.
Der Arzt benutzt zur Therapie der Muskarinvergiftung ein anderes Gift als
Antidot, und zwar das beim Froschherz bereits erwähnte Atropin. Ein bis zwei
Milligramm davon vermögen die Vergiftungssymptome schlagartig aufzuheben.
Der Begriff muskarinartig“ klassifiziert heute eine Gruppe von Acetylcholin-

rezeptoren, die sogenannten (muskarinischen) M-Typen. Das Muskarin wurde
schon 1914 von Sir Henry Dale zu diesem Zweck verwendet. Sir Henry Dale
und Otto Loewi wurden 1936 für ihre Entdeckungen bei der chemischen Über-
tragung der Nervenimpulse gemeinsam mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

3.1 Der Begriff des Rezeptors

Das Konzept des Rezeptors ist zu Beginn unseres Jahrhunderts entstanden,


wobei sein Ursprung aus ganz unterschiedlichen Forschungsgebieten und Ex-
perimenten hervorging. Im wesentlichen sind es zwei Forscherpersönlichkeiten,
Paul Ehrlich und John Newport Langley, die unabhängig voneinander zu dem
Begriff des Rezeptors vorgestoßen sind. Obgleich sie einen Rezeptor weder bio-
chemisch noch analytisch oder histologisch nachweisen konnten, hielten sie auf
Grund der Spezifität der chemisch-physikalischen Reaktionen die Rezeptoren
für makromolekulare Strukturen, am wahrscheinlichsten für Proteine.

Paul Ehrlich (1854–1915)

Als Grundgedanken seiner Arbeit standen die Beziehungen zwischen Konsti-


tution, Verteilung und Wirkung der Stoffe im Organismus im Vordergrund.
Ganz besonders beeindruckte Paul Ehrlich die hohe Spezifität der Antigen-
Antikörper-Reaktion, die in ihm Vorstellungen von Schlüssel und Schloss er-
weckten. Darauf aufbauend postulierte er Seitenketten mit spezifischen chemi-
schen und sterischen Eigenschaften, die nur mit einer bestimmten Art von An-
tikörpern chemisch reagieren könnten. Ein ähnliches Phänomen der Spezifität
entdeckte er als Begründer der Chemotherapie zwischen bestimmten organi-
schen Molekülen und Parasiten. Kleine Veränderungen am Molekül führten
bereits zu Wirkungseinbußen gegen die Parasiten oder änderten die Toxizität
gegenüber dem mit dem Parasiten befallenen Organismus. Zur Erklärung ver-
wendete Ehrlich hier spezifische Seitenketten an den Zellen. Funktionelle che-
mische Gruppen wie SH- oder NH2 -Gruppen an Makromolekülen waren nach
seiner Ansicht für die spezifischen Reaktionen verantwortlich, die ihn schließ-
lich zum Begriff des Rezeptors führten. Sein daraufhin postuliertes Dogma
3.1 Der Begriff des Rezeptors 105

corpora non agunt nisi fixata“ (Stoffe reagieren nicht, wenn sie nicht ge-

bunden sind) wurde in der damaligen Zeit sehr kontrovers diskutiert und gilt
doch heute als selbstverständlich.

John Newport Langley (1852–1926)

John Newport Langley kam aus der klassischen Schule von Claude Bernard, der
meinte, die Wirkung des Pfeilgiftes Curare an den feinen Nervenendigungen
zum Muskel lokalisiert zu haben, welches dort die Muskelkontraktion hemmen
sollte. Langley konnte jedoch zeigen, dass die Muskelzellen auch ohne die ge-
ringste Beteiligung von Nerven zur Kontraktion fähig waren, wenn er nämlich
Nicotin applizierte. Curare blockierte nun diese Wirkung des Nicotins am
nervenlosen Muskelpräparat. Da an der Muskelzelle trotz einer Curareblocka-
de noch eine Muskelkontraktion elektrisch ausgelöst werden konnte, bedeutete
dies für Langley, dass weder Nicotin noch Curare mit dem Nerv oder mit
dem Muskelkontraktionsmechanismus direkt reagieren konnten. Nach seiner
Vorstellung musste deshalb noch eine rezeptive Substanz“ vorhanden sein

zum Auslösen der Muskelkontraktion durch Nicotin und zum Blockieren mit
Curare. Die rezeptive Substanz von Langley ist der heute am besten in seiner
molekularen Struktur bekannte nicotinische Acetylcholinrezeptor.
Der klassische Begriff des Rezeptors geht davon aus, dass Rezeptoren Ma-
kromoleküle sind und biologische Effekte durch Wirkstoff-Rezeptor-Inter-
aktionen ausgelöst werden. Bis zu den sechziger Jahren des letzten Jahr-
hunderts war die Suche nach Rezeptoren erfolglos verlaufen, das Konzept des
Rezeptors hatte bis dahin nur durch kinetische Studien eine Stütze erhalten.
Endlich konnten in den letzten dreizig Jahren zahlreiche hochspezifische Struk-
turen identifiziert, charakterisiert und dargestellt werden. Somit wurde das
Konzept des Rezeptors, das von Ehrlich und Langley zur Erklärung spezifi-
scher Wirkungen vorgeschlagen worden ist, vollkommen bestätigt.
Die Zahl von Rezeptoren ist heute nicht mehr überschaubar und es werden
immer mehr neue Rezeptoren isoliert. Eine grobe Einteilung kann in intra-
zelluläre und membranöse Rezeptoren erfolgen. Tabelle 3.1 gibt einen kleinen
Überblick über eine Auswahl von Membranrezeptoren. Diese können wieder-
um in vier große Gruppen eingeteilt werden, die eigentlichen Rezeptoren,
Ionen-Kanäle, Transporter und Enzyme.
Neben den in der Tabelle 3.1 gezeigten spezifisch wirksamen Substanzen gibt es
eine große Gruppe von Chemikalien und toxischen Substanzen, die nur unspe-
zifisch wirksam sind. Charakteristisch ist hierbei, dass sie nicht mit bestimmten
Rezeptoren reagieren. Es werden oft vergleichsweise hohe Konzentrationen für
eine Wirkung benötigt, und die chemische Struktur hat wenig Einfluss auf die
106 Kapitel 3 Toxikodynamik

Wirkungen. In vielen Fällen ist die Wirkung mit den lipophilen Eigenschaften
der Substanzen verbunden. Eine sehr empfindliche Struktur ist die Membran-
barriere, die durch lipophile Substanzen zerstört werden kann.

Tabelle 3.1 Überblick über eine Auswahl von membranständigen Rezeptoren.

Die hier aufgeführten Rezeptoren (R) durchspannen* die Membran mit 7


Transmembran-Helices. Sie ändern nach der Bindung eines Liganden (Agonisten)
ihre Konformation und aktivieren G-Proteine (binden Guanylnucleotide). Die In-
formation in dem Komplex aus Rezeptor und Ligand wird durch sekundäre Boten-
stoffe weitergetragen. Dabei kommt es zu einer Signalverstärkung und zur Übermitt-
lung von Informationen. Bei den Rezeptor-Tyrosinkinasen (z.Ḃ. Insulin-Rezeptor)
führt die Bindung des Liganden zu einer veränderten Quartärstruktur, d. h. die Re-
zeptoren bilden Dimere. Die in das Zellinnere ragende Teilen werden so in Kontakt
gebracht, so dass sie sich gegenseitig phosphorylieren können.

Rezeptoren Agonist, Substrat Antagonist


Adenosin-R. (4 Typen)* Adenosin Methylxanthine
α1 ,β2 -Adreno-R.* Noradrenalin, Adrenalin Phentolamin
β1 ,β2 ,β3 -Adreno-R.* Noradrenalin, Adrenalin Propranolol
Dopamin-R. (5 Typen)* Dopamin Haloperidol
Histamin-R. (3 Typen)* Histamin Antihistaminika
Muskarin-R. (5 Typen)* Muskarin Atropin
Opioid-R. (3 Typen)* Morphin Naloxon
Insulin-Rezeptor Insulin

Die ausgewählten Kanäle für Natrium, Kalium oder Calcium werden entweder
durch Ligandenbindung* oder durch elektrische Spannung zur Öffnung gebracht.
Im Gegensatz zu den eher langsamen biochemischen Rezeptor-Signalen sprechen
Kanäle im Millisekundenbereich an.

Ionen-Kanäle Agonist, Substrat Antagonist


Nicotin-R. (Muskeltyp)* Acetylcholin, Nicotin Curare
ATP-Kalium-Kanal* Diazoxid, Minoxidil Sulfonylharnstoff
Glycin-Chlorid-Kanal* Glycin, Taurin Strychnin
GABAA -Chlorid-Kanal* γ-Aminobuttersäure Muscimol
L-Typ-Calcium-Kanal Ca++ Nifedipin
T-Typ-Calcium-Kanal Ca++ Antikonvulsiva
Kalium-Kanal K+ Chinidin
Natrium-Kanal Na+ Tetrodotoxin
3.1 Der Begriff des Rezeptors 107

Beispiele für typische Transporter, welche die Ionenzusammensetzung der Zelle


durch aktive Pumpleistung (ATPasen) oder durch Austauscher (Exchanger, Sym-
porter) ändern. Wichtige hydrophile Substrate wie Glucose oder neutrale, saure und
basische Aminosäuren (As.) werden durch spezielle Transporter schnell bis zum
Konzentrationsgleichgewicht (facilitated diffusion) in die Zelle transportiert.

Transporter Agonist, Substrat Antagonist


+ + + +
Na , K -ATPase 3 Na ↔ 2K Digitalisglycoside
Ca++ -ATPase Ca++ , Sr++ Lanthan
Glucose-Transporter verschiedene Zucker Phloretin
Aminosäuren-Transporter neutrale, basische, saure As. Threonin
HCO− −
3 , Cl -Anionentransp. Cl− , HCO− 2− 2−
3 , SO4 , CrO4 Stilbenderivate
Na , K , 2Cl− -Symporter
+ +
Na+ , K+ , Cl− Furosemid
Na+ , Cl− -Symporter Na+ , Cl− Hydrochlorothiazid

Hier sind schließlich einige Membranenzyme gelistet (Monoaminooxidase = MAO).

Enzyme Agonist, Substrat Antagonist


Acetycholinesterase Acetylcholin Neostigmin, Sarin
MAO-A, MAO-B Noradrenalin, Serotonin Moclobemid
Cyclooxygenase Arachidonsäure Acetylsalicylsäure
Phospholipase A2 Phospholipide Glucocorticoide
Cytochrom-P-450 siehe Tabelle 2.6 Kohlenmonoxid
Glucuronyltansferasen siehe Kapitel 2.5.2
Cytochromoxydase Elektronen HCN

Zellmembranen sind häufig die bevorzugten Reaktionsorte für toxische Sub-


stanzen. Folgende Interaktionen sind möglich:
• Eine erste Reaktion toxischer Substanzen erfolgt häufig mit Enzymen, Re-
zeptoren und Transportern an der Zelloberfläche, die dabei inaktiviert wer-
den,
• Zerstörung der Membranbarriere mit Austreten des Zellinhaltes in den Zwi-
schenzellraum,
• Blockieren oder Funktionsbeeinträchtigung von Transportmechanismen in
der Zellmembran,
• Hemmung der Sekretion oder der Vesikelbildung aus Membranbestandteilen,
• Reaktionen von toxischen Substanzen mit Enzymen, Rezeptoren und Trans-
portern an der inneren Membranoberfläche.
Wie auch immer eine toxische Wirkung zustande kommen mag, sie ist stets eine
Konsequenz von physikochemischen Wechselwirkungen zwischen der Substanz
und funktionell wichtigen Molekülen des Organismus.
108 Kapitel 3 Toxikodynamik

3.2 Bindungskräfte am Rezeptor

Von Paul Ehrlich wurde die Vorstellung entwickelt, eine Substanz müsse sich
zuerst mit dem Rezeptor“ verbinden, um eine Wirkung zu verursachen.

Es soll hier von der Vorstellung ausgegangen werden, dass es sich bei dem
Rezeptor um eine dreidimensionale Struktur eines Proteins handelt, und dass
das Protein wässrigen Lösungen ausgesetzt ist. An seiner Oberfläche befindet
sich eine Substratbindungsstelle, die wir uns als eine Einkerbung oder Spalte
vorstellen, deren Form geometrisch komplementär zum Substratmolekül ist.
Als Bindungsstellen am Rezeptor kommen unter anderem Seitenketten von
Aminosäuren mit funktionellen Gruppen in Frage (-NH2 , -COOH, -SH). Ihre
Verteilung an der Oberfläche stellt man sich so angeordnet vor, dass sie mit
dem Substratmolekül eine spezifische elektronische Komplementarität bilden
können. Damit bilden die geometrische und elektronische Komplementarität
eine wesentliche Voraussetzung für die Bindung des Substratmoleküls. Mo-
leküle, die sich in Form und Ladungsverteilung von diesen Substratmolekülen
unterscheiden, können nicht mit vergleichsweise guter Affinität am Rezeptor
gebunden werden.
Als ein Beispiel hierfür sollen als Rezeptormolekül das Hämoglobin und als
Substratmolekül das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG), ein Polyanion, dienen
(Abbildung 3.1). Hämoglobin besteht aus zwei a- und zwei b-Untereinheiten.
Die Abstände zwischen den anionischen Gruppen des BPG und den kationi-
schen Aminosäuren Lysin, Histidin sowie der N-terminalen Aminogruppe des
Valins liegen im Bereich von Ionen- und Wasserstoffbrückenbindungen. Durch
die BPG-Bindung wird die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins herabgesetzt
und Sauerstoff an die Zellen abgegeben. Bei der Sauerstoffbeladung in der
Lunge wird das BPG wieder freigesetzt, die Raumstruktur des Hämoglobins
verändert sich, so dass die Bindung von BPG nicht länger möglich ist.

3.2.1 Ionenbindung und Wasserstoffbrückenbindung


Für die Ionenbindung gelten die Gesetze der klassischen Elektrostatik. Die
Coulomb´sche Gleichung beschreibt die Anziehungskraft zwischen zwei ent-
gegengesetzt geladenen Molekülen. Die Bindungskraft in Proteinen zwischen
der g-Carboxylgruppe von Glutamin und der e-Aminogruppe von Lysin be-
trägt bei einem Abstand von 0,4 nm etwa -86 kJ/mol. Die Anziehungskraft
nimmt mit dem Quadrat des Abstandes zwischen den Molekülen ab. Proteine
und Nukleinsäuren besitzen viele potentielle anionische und kationische La-
dungsgruppen, die jedoch wegen des physiologischen pH-Wertes nur teilweise
3.2 Bindungskräfte am Rezeptor 109

E-Lysin (82)

E1-Histidin (143) E1-Valin (1)


CH2 +
+ NH3
H3N
HN -
O +
+ O C O
- HN N E1-Histidin (2)
NH
E1-Hämoglobin CH O P O CH2
- O CH -
O 2 O +
+ E-Hämoglobin
NH O P HN
-
HN O + NH
H3N
+ CH2
CH2 NH3
E2-Histidin (2) E2-Histidin (143)
E2-Valin (1)
E-Lysin (82)

Abbildung 3.1 Bindung von 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG, fett gedruckt) in der zentralen
Tasche des desoxygenierten Hämoglobins zwischen den beiden β-Untereinheiten β1 und β2 .
Die Zahlen an den Aminosäuren in Klammern geben die fortlaufende Numerierung der
Aminosäuresequenz der β-Untereinheiten des Hämoglobins wieder.

ionisiert sind. Daher ist der Stabilitätsbeitrag von Ionenpaaren zur nativen
Struktur eines Proteins im allgemeinen gering. Für die Rezeptorbindung ist
es jedoch wichtig, dass diese Kräfte im Vergleich zu anderen Bindungskräften
über relativ große Entfernungen wirken.
Die Wasserstoffbrückenbindung ist eine Spezialform der Ionenbindung. Es
handelt sich hierbei vorwiegend um elektrostatische Wechselwirkungen zwi-
schen einer schwach sauren Donorgruppe und einem Akzeptoratom mit ei-
nem einsamen Elektronenpaar. Die Bindungskraft beträgt nur etwa -12 bis
-30 kJ/mol, die Entfernung ist 0,27 bis 0,31 nm. Eine große Anzahl dieser Was-
serstoffbrückenbindungen sind in den Proteinen räumlich so angeordnet, dass
sie auf Grund der Anordnung und Zahl einen ganz wesentlichen Einfluss auf
die Quartärstruktur des Moleküls besitzen. Sie liefern somit die strukturelle
Voraussetzung für sein natives Faltungsmuster. Ein anderes Beispiel für die Be-
deutung von Wasserstoffbrückenbindungen ist die DNA-Doppelhelix, bei der
sie zwischen den spezifischen Basenpaaren auftreten. Am Rezeptor tragen sie
ebenfalls zur Stabilität des Rezeptor-Substrat-Komplexes bei, wie am Beispiel
des BPG-Hämoglobin-Komplexes gezeigt (Abbildung 3.1).
110 Kapitel 3 Toxikodynamik

3.2.2 Van-der-Waals-Bindungen
Die nichtkovalenten Anziehungskräfte zwischen elektrisch neutralen Molekülen,
zusammengefasst als Van-der-Waals-Kräfte, entstehen aus elektrostatischen
Wechselwirkungen zwischen permanenten und induzierten Dipolen. Die Bin-
dungskraft von Carbonylgruppen in Proteinen beträgt z.B. -9.3 kJ/mol. Als
Einzelkraft liegt sie nur etwa im Bereich der thermischen Energie eines Mo-
leküls bei Raumtemperatur. Für Proteine sind jedoch die Wechselwirkungen
zwischen permanenten Dipolen wichtige Strukturdeterminanten, welche die
Proteinfaltung im Inneren signifikant beeinflussen.
Viel schwächer als die Dipol-Dipol-Wechselwirkungen sind die sogenannten
London-Dispersionskräfte (Assoziationsenergie proportional zu r−6 ). Die-
se spielen nur bei kontaktierenden Gruppen eine Rolle. Aufgrund der großen
Anzahl an interatomaren Kontakten sind sie trotzdem bedeutend bei der Fest-
legung der Proteinkonformation. Die London-Kräfte stellen auch einen großen
Teil der Bindungskräfte bei sterisch komplementären Wechselwirkungen, z. B.
zwischen Rezeptoren und den spezifisch gebundenen Molekülen.

3.2.3 Komplexität der Rezeptor-Substrat-Wechselwirkungen


Für die Bindung von reaktiven Molekülen am Rezeptor kommen alle Bin-
dungstypen, wie Ionenbindungen, Wasserstoffbrückenbindungen und Van-der-
Waals-Kräfte in Betracht. Jede einzelne dieser Bindungskräfte ist in wässri-
gen Lösungen nicht ausreichend, um allein einen stabilen Substrat-Rezeptor-
Komplex zu bilden. Deshalb müssen mehrere Bindungstypen gleichzeitig den
Komplex stabilisieren. Die größte Reichweite hat die Ionenbindung, sie ist für
die primäre Attraktion des Substrat-Moleküls entscheidend. Für die sich dar-
an anschließende gegenseitige Anpassung von Substrat und Rezeptor sind vor
allem Dipol-Dipol-Wechselwirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen und Van-
der-Waals-Kräfte verantwortlich.
Die oben besprochenen Wechselwirkungen sind reversible, molekulare Vorgänge,
die sich alle zusammen sowohl an Rezeptoren, Kanälen, Enzymen und Trans-
portern ständig abspielen. Sie gehören damit zu den zentralen Prozessen, die
das Leben erst möglich machen.

3.2.4 Kovalente Bindung


Außer den reversiblen Reaktionen können sich aber auch kovalente und da-
mit irreversible Prozesse am Rezeptor abspielen, wenn nicht ein katalytischer
3.3 Charakterisierung von Rezeptoren 111

(enzymatischer) Vorgang die Bindung wieder löst. Daher bewirkt eine kova-
lente Bindung am Rezeptor im Gegensatz zu den meisten Rezeptor-Substrat-
Wechselwirkungen eine stabile Langzeitbindung. Intra- und intermolekulare
kovalente Verknüpfungen der DNA-Stränge werden bei der Tumortherapie mit
alkylierenden Agenzien erzeugt (Karzinogenese, Alkylantien). Eine Substanz,
der alkylierende Stickstofflost, wurde früher als hochtoxisches Kampfgas einge-
setzt. Ein Beispiel aus einem anderen Gebiet sind die Organophosphate wie Di-
isopropylfluorophosphat (DFP), die mit der Hydroxylgruppe der Aminosäure
Serin eine kovalente Bindung eingehen und dabei eine ganze Reihe serinhaltiger
Enzyme, darunter auch die Acetylcholin-Esterasen, blockieren.

3.3 Charakterisierung von Rezeptoren

Die sehr geringe Konzentration von Rezeptoren in Zellen und Geweben machte
lange Zeit die Gewinnung reiner Rezeptormoleküle unmöglich. Erst mit der
Entwicklung von aufwändigen Isolierungsmethoden sowie insbesondere in der
letzten Zeit durch Einsatz molekularbiologischer Verfahren konnten zahlreiche
Rezeptoren isoliert und ihre Aminosäuresequenzen aufgeklärt werden (Tabelle
3.1).
Lassen sich die Proteine kristallisieren, so gelingt es, mit Hilfe von Röntgen-
beugungsspektren sogar einen Einblick in die dreidimensionale Struktur der
Proteine zu erhalten. Oft liefern die bei der Kristallisation mit eingeschlosse-
nen Substratmoleküle, wie im Falle des desoxygenierten Hämoglobin und BPG
(Abbildung 3.1), strukturelle Vorstellungen über die Rezeptor-Bindungsstellen
mit dem entsprechenden Substrat. Die Kristallisation ist jedoch bei lipophilen
Membranproteinen immer noch sehr schwierig, erst bei etwa 20 dieser Proteine
konnte man mit genügend hoher Auflösung Details über ihre dreidimensionale
Struktur bekommen.

3.3.1 Indirekte Rezeptor-Charakterisierung (SAR)


Die älteste Methode der Rezeptorcharakterisierung benutzte den negativen Ab-
druck von Rezeptormolekülen, um eine Vorstellung über den Rezeptor selbst
zu bekommen. Anhand von Struktur-Aktivitäts-Wechselwirkungen fand
man die optimale Molekülform heraus, deren Komplementärstruktur dem Re-
zeptor entsprechen sollte. Dieses indirekte Verfahren wird im englischen als
structure activity relationship“ bezeichnet (SAR). Bevor es gelang, rei-

ne Rezeptoren zu isolieren, war dies eine pharmakologische Standardmethode.
112 Kapitel 3 Toxikodynamik

Ein schönes Beispiel hierfür sind Untersuchungen am intakten Muschelherzen.


Dieses Herz schlägt spontan, wenn es in einem Bad mit Seewasser gehalten
wird. Die Größe der Kontraktionsamplitude sowie die Frequenz des Herzschla-
ges können leicht registriert werden. Gibt man in das Bad steigende Kon-
zentrationen von Acetylcholin, so kann eine Wirkung anhand der Zunahme
der Kontraktionsamplitude gemessen werden. Durch Auswaschen des Herzens
mit Seewasser lässt sich Acetylcholin wieder entfernen. Die typische Wirkung
einer Reihe mit Acetylcholin verwandter Trimethylammonium-Verbindungen
war eine Reduktion der Kontraktionsamplitude des Muschelherzens. Die Test-
substanzen wurden anhand der Dosis-Wirkungskurve (Abbildung 1.2) durch
ihre Halbsättigungs-Konzentration (TD50 ) standardisiert.
Die Resultate über die Wechselwirkungen des Rezeptors am Muschelherzen
mit verwandten Molekülen führten zu Vorstellungen, die mit einem perfek-
ten negativen Abdruck des dreidimensionalen Acetylcholin-Moleküls auf der
Rezeptorseite übereinstimmten (Abbildung 3.3).
Die absolute Notwendigkeit der positiv geladenen Stickstoffgruppe (Verbin-

0.5 nm
CH3 O
Wirkung
+
1. CH3 N CH2 CH2 O C CH3 100%
CH3 Acetylcholin

CH3 O
+
2. CH3 N CH2 CH2 CH2 O C CH3 8.3%
CH3

CH3
+
3. CH3 N CH2 CH2 O CH2 CH3 1.5%
CH3

CH3 O
4. CH3 C CH2 CH2 O C CH3 0.0%
CH3
Dimethylbutylacetat

Abbildung 3.2 Struktur-Wirkungsbeziehung am Acetylcholinrezeptor.


3.3 Charakterisierung von Rezeptoren 113

dung 4, Abbildung 3.2) des Substratmoleküls ließ auf eine negativ gelade-
ne Gruppe am Rezeptor schließen. Die Trimethylammoniumgruppe sollte ge-
genüber dem Kohlenstoffatom der Kohlenstoffkette frei drehbar sein. Aus den
von J. H. Welsh und R. Taub in den Jahren 1950–1951 durchgeführten Unter-
suchungen ging weiter hervor, dass von den drei Methylgruppen am Stickstoff-
Atom zwei nicht durch Ethylgruppen ersetzt werden können. Die beiden Me-
thylgruppen werden demnach durch Van-der-Waals-Kräfte in zwei Cavity“

am Rezeptor fixiert (Abbildung 3.3). Es ist weiter sehr wahrscheinlich, dass
die beiden Kohlenstoffatome der Kette ebenfalls durch solche Kräfte stabilisiert
werden. Für die Carbonyl-Gruppe kommt eine Wasserstoffbrückenbindung mit
dem Rezeptor in Frage. Der Ether-Sauerstoff trägt wie die Carbonylgruppe ei-
ne induzierte negative Teilladung (d− ) und ist (Verbindung 2, Abbildung 3.2)
ebenfalls für die Anheftung wichtig, denn eine Verlängerung des Moleküls um
eine CH2 -Gruppe (Verbindung 3, Abbildung 3.3) führt zu einem starken Wir-
kungsverlust.

Abbildung 3.3 Postulierter Acetylcholinrezeptor aus SAR-Studien (nach A. Goldstein et al.,


Principles of Drug Action).

Die Wirkung des Acetylcholins beruht in dem obigen Beispiel auf seiner star-
ken Affinität zum muskarinischen Acetylcholinrezeptor des Muschelherzens.
Das gleiche Molekül kann jedoch auch mit dem etwas anders strukturierten
nicotinischen Acetylcholinrezeptor an den Muskelzellen und an den Ganglien-
zellen reagieren. Die freie Drehbarkeit um seine Kohlenstoffbindungen erlaubt
anscheinend dem Acetylcholinmolekül mehrere Konfigurationen einzunehmen,
im Gegensatz zu den durch Ringstruktur stabilisierten Muskarin- oder Nico-
tin-Molekülen.
114 Kapitel 3 Toxikodynamik

3.3.2 Direkte Rezeptor-Isolierung

Die reichhaltigsten Quellen für nicotinische Acetylcholinrezeptoren sind die


elektrischen Organe des im Süßwasser lebenden Zitteraals (Electrophorus elec-
tricus) und der im Meer vorkommenden Rochen (Gattung Torpedo). Diese
Fische können mit den elektrischen Organen ihre Beute lähmen oder sogar
töten.
Das Organ besteht aus bis zu 5000 Einzelzellen, den sogenannten Elektro-
plaques. Die Natur hat diese Zellen aus Muskelzellen entwickelt, deren kon-
traktiler Apparat jedoch bei der Entwicklung zum elektrischen Organ verloren
geht. Bei der Erregung entsteht in jeder Zelle eine Potentialdifferenz von ca.
0,13 V und bei 5000 Elektroplaques ergibt das 5000 · 0,13 V = 650 V. Für den
Biochemiker ist dieses rezeptorreiche Organ auf das Beste zur Isolierung des
nicotinischen Acetylcholinrezeptors geeignet.
Man fand bei der biochemischen Analyse des Acetycholinrezeptors ein glyco-
syliertes Membranprotein mit einem Molekulargewicht von ca. 280 kD. Das
Protein besteht aus 5 Untereinheiten, die in zwei a-Einheiten und je eine b-,
g- und d-Einheit eingeteilt werden können. Eine räumliche Vorstellung über
die Struktur des nicotinischen Acetylcholinrezeptors wurde durch das Elektro-
nenmikroskop ermöglicht. Sieht man von oben auf die Zelle, so erscheint der
Rezeptor als eine Rosette mit einem Durchmesser von 7 bis 8 nm und einer
zentralen Einbuchtung von etwa 2,5 nm. Die fünf Untereinheiten ordnen sich
pseudosymmetrisch um eine Achse an, welche die Mitte einer Pore oder ei-
nes Kanals für den Durchfluss von Kationen durch die Zellmembran bildet.
Abbildung 3.4 zeigt eine schematische Darstellung des nicotinischen Acetyl-
cholinrezeptors als Ionenkanal.
Aus kinetischen Untersuchungen geht hervor, dass erst bei der Interaktion des
Rezeptors mit zwei Acetylcholinmolekülen der Kanal (Abbildung 3.4) spezi-
fisch für Kationen geöffnet wird. Diese Öffnung erfolgt jedoch nur für einen sehr
kurzen Zeitraum, nach ca. einer Millisekunde schließt sich der Kanal wieder,
und das Acetylcholin dissoziiert spontan vom Rezeptor ab.
Mit dem Öffnen des Kanals kommt es zu einem entsprechenden Stromfluss, der
sich durch eine sehr empfindliche Technik, die patch-clamp-Methode“,

messen lässt. 1976 wurde diese Methode durch Erwin Neher und Bert Sak-
mann eingeführt, die 1991 dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden.
Mit patch“ wird ein kleines Membranareal der Zelle und mit clamp“ eine
” ”
Spannungsklemme bezeichnet. Hierzu wird mit einer sehr feinen Glaskapillare,
die gleichzeitig als Elektrode dient, eine Zelle durch Unterdruck in der Kapil-
lare angesaugt. Die Zellmembran und die Glaskapillare schließen dabei so eng
aneinander an, dass fast kein Leckstrom mehr fließen kann. Im excised patch

3.3 Charakterisierung von Rezeptoren 115

Abbildung 3.4 Schema des nicotinischen Acetylcholinrezeptors in der Muskelmembran in


Aufsicht A und in Seitenansicht B (nach H. R. Arias, 1998). In der Aufsicht A (oben)
sieht man einen Querschnitt etwa 4,6 nm über der Lipiddoppelschicht im synaptischen Spalt.
Durch den hydrophilen Anteil der 5 Untereinheiten wird in der Mitte ein Ionenkanal gebildet.
Die Bindungsstelle für 2 Acetylcholinmoleküle befindet sich zwischen den a- und d- sowie den
g- und den a-Untereinheiten. Im unteren Querschnitt (Höhe der Lipiddoppelschicht) sind
für jede Untereinheit (5 große Kreise) die transmembranen Domänen M1, M2, M3 und M4
(4 kleine gestrichelte Kreise) angedeutet. Die Aminosäurekette jeder der fünf Untereinheiten
durchkreuzt viermal die Lipiddoppelschicht. Der Ionenkanal ist hier so eng, dass im geöff-
neten Zustand nur die kleinen Natrium-Ionen passieren können. Die Untereinheiten werden
außen von jeder Lipidschicht mit einem Anulus aus 23 Phospholipiden umgeben (die äuße-
ren Kreise symbolisieren die Köpfe der Phospholipide). Außerdem sind Cholesterinmoleküle
am Anulus (schwarze Kreise) beteiligt. In der Seitenansicht B ist zun erkennen, dass der
Rezeptor etwa 60 Å (6 nm) in den synaptischen Spalt und ca. 15 Å (1,5 nm) weit in das
Zytoplasma der Zelle reicht.

mode“ bricht hierbei ein kleines Membranareal aus der gesamten Zellmembran
heraus. Die Abdichtung zwischen der Glaskapillarelektrode und der Membran
muss so perfekt sein, dass der elektrische Widerstand größenordnungsmäßig
im Gigaohmbereich liegt. Jetzt kann durch eine zweite Außenelektrode eine
Spannung angelegt und gleichzeitig der Stromfluss durch das kleine Membran-
areal gemessen werden. Prinzipiell ist es hiermit möglich, den Stromfluss und
die Zeitdauer durch nur einen einzigen Kanal zu messen. So fließen bei einer
Klemmspannung von -100 mV durch einen Acetylcholinrezeptorkanal 3, 5 · 1012
Ampere. Daraus lässt sich errechnen, dass 2, 2 · 107 Kationen pro Sekunde oder
22 000 Kationen pro Millisekunde den Kanal passieren (bei einem Ampere pro
Sekunde resultiert ein Stromfluss von 6, 24 · 1018 elektrischen Ladungen).
116 Kapitel 3 Toxikodynamik

Dieser Stromfluss erzeugt an der Muskelzellmembran eine Depolarisation, da


der Acetylcholinrezeptor eine etwas höhere Selektivität für Natrium-Ionen als
für Kalium-Ionen aufweist. Die Depolarisation der Membran ist nun der Aus-
löser für die nachfolgende Muskelkontraktion. Beim elektrischen Fisch ist die
Summation vieler Acetylcholinrezeptoren der Auslöser des elektrischen Schla-
ges. Damit waren die physikalisch-chemischen Grundvorgänge bei der Wirk-
stoff-Rezeptor-Interaktion aufgeklärt.
Der nicotinische Acetylcholinrezeptor ist ein durch einen Transmitter, dem
Acetylcholin, gesteuerter Kationenkanal. Unter Transmitter versteht man Mo-
leküle, die in den Nervenendigungen selbst gebildet werden. Ausnahmen sind
nur die Neuropeptide. Sie werden durch einen komplizierten Mechanismus in
den synaptischen Spalt freigesetzt und beeinflussen dort über Rezeptoren die
nachgeschaltete Zelle. Die Synapsen sind als Orte der Informationsübertragung
besonders wichtige Schaltstellen und haben dementsprechend eine besonders
große Bedeutung in der Pharmakologie und Toxikologie. Die Synapsen sind ca.
20 nm schmale Spalte an der Übergangsstelle zwischen Nerv und Muskel (Er-
folgsorgan) oder zwei Nerven. Sie besitzen durch Faltung der Membranen eine
grosse Oberfläche. Curare blockiert z. B. als ein Antagonist des Acetylcholins
den Kationenkanal im synaptischen Spalt.

3.3.3 Molekularbiologische Rezeptor-Charakterisierung


Eine Reihe von integralen Membranproteinen wirken als Rezeptoren, indem
sie als Kanalproteine oder Transporter funktionieren. Ihre hydrophoben Ami-
nosäuren sind für die Verankerung und Wechselwirkung mit den Membranlipi-
den wichtig. Dies verhindert jedoch, wegen einer fehlenden Separationstechnik,
die chemische Analyse der Aminosäuren.
Grundsätzlich kann die Aminosäuresequenz eines Proteins auch aus dem da-
zugehörenden Gen entnommen werden, da der genetische Code für die Ami-
nosäuren bekannt ist. Kennt man also die Sequenz der Basen in der DNA,
so lässt sich daraus die Aminosäuresequenz ableiten. Mitte der siebziger Jah-
re des letzten Jahrhunderts war die Entwicklung der Nukleinsäuresequenzie-
rung noch weit der Aminosäuresequenzierung unterlegen, dies hat sich jedoch
durch effektivere Techniken grundlegend geändert. Heute ist die Geschwindig-
keit der Nukleinsäuresequenzierung der direkten Bestimmung der Minosäure-
sequenz eines Proteins überlegen und wesentlich weniger aufwändig. Durch die
Nukleinsäuresequenzierung von Genen und Übersetzung der Basensequenz in
die Aminosäuresequenz ist die Proteinstruktur einer ganzen Reihe von Mem-
branproteinen, wie z.B. den Anionen-, Glucose- und Aminosäure-Transportern
sowie einer ganzen Anzahl von Transport-ATPasen für Natrium, Kalium, Cal-
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 117

cium und Protonen, bekannt geworden (siehe auch Tabelle 3.1). Die genaue
dreidimensionale Struktur der Proteine in der Membran, die zum funktionellen
Mechanismus führt, ist aber bisher nur bei wenigen Proteinen bekannt.

3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen –
Massenwirkungsgesetz

Biologische Wirkungen eines reaktiven Moleküls (Pharmakon oder Toxikon)


verlaufen im allgemeinen graduell. Sie können anhand einer fortlaufenden Ska-
la gemessen werden. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der
Größe oder der Intensität der biologischen Reaktion und der verwendeten
Wirkstoffkonzentration. Der Zusammenhang zwischen biologischer Wirkung
und Wirkstoffkonzentration wurde von Alfred Joseph Clark (1885–1951)
im Jahre 1920 durch das Massenwirkungsgesetz beschrieben. Clark deu-
tete die biologische Wirkung als eine reversible chemische Reaktion zwischen
einem Rezeptor und einem aktiven Wirkstoff. Die konsequente Anwendung des
Massenwirkungsgesetzes zeigte große Ähnlichkeiten mit der Enzymkinetik und
führte zu der sogenannten Besetzungstheorie des Rezeptors ( occupancy

assumption“).
Nach Clark´s Vorstellung reagiert ein Wirkstoff X (Pharmakon oder Toxi-
kon) mit einem hypothetischen Rezeptor R und bildet dabei reversibel einen
Wirkstoff-Rezeptor-Komplex RX:

k1
X + R RX
k2

k1 und k2 sind dabei die Geschwindigkeitskonstanten der Hin- und Rückreak-


tion. Die biologische Wirkung ∆ soll dabei der Konzentration des Wirkstoff-
Rezeptor-Komplexes [RX] direkt proportional sein:

Biologische Wirkung ∆ = k3 · [RX]. (1)

Entsprechend dem Massenwirkungsgesetz kann für das Gleichgewicht formu-


liert werden:

[X][R] k2
= = Kx . (2)
[XR] k1
118 Kapitel 3 Toxikodynamik

Kx ist die Dissoziationskonstante des Komplexes. Wenn nun [RT ] die Gesamt-
konzentration der Rezeptoren ist, dann ergibt die sogenannte Konservie-
rungsgleichung, in der die Gesamtkonzentration [RT ] gleich der Konzentra-
tion an freiem Rezeptor [R] plus der Konzentration an gebundenem Rezeptor
[RX] ist:

[RT ] = [R] + [RX], bzw. [R] = [RT ] - [RX] (3)

Durch Einsetzen der Gleichung (3) in (2) erhält man:

[X]([RT ] − [RX])
= Kx ,
[RX]

und durch Umformen:

[RX] [X]
= . (4)
[RT ] Kx + [X]

Entsprechend der Gleichung (1) für die biologische Wirkung ∆ = k3 · [RX]


beträgt die maximale biologische Wirkung ∆max = k3 · [RT ]. Damit ist:

∆ [RX]
=
∆max [RT ]

und mit Gleichung (4) gilt auch:

∆max [X]
∆= . (5)
Kx + [X]

Gleichung (5) ist eine hyperbolische Gleichung, in der ∆ = 0 ist, wenn [X]
ebenfalls 0 beträgt. Wenn [X] einen sehr hohen Wert annimmt, wird ∆ gegen
∆max gehen. Ist die Konzentration [X] gleich Kx , dann erreicht ∆ den halb-
maximalen Wert. Gleichung (5) ist identisch mit der klassischen Michaelis-
Menten-Gleichung, in der die Geschwindigkeit v einer Enzymreaktion eine
Funktion der Substratkonzentration [S], der Michaelis-Menten-Konstanten KM
und der Geschwindigkeitskonstanten Vmax ist:

Vmax [S]
v= . (6)
KM + [S]
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 119

Während jedoch bei dem enzymatischen Modell nach Michaelis-Menten mit


v = k3 · [ES] der Zerfall des Enzym-Substrat-Komplexes zum Produkt gemeint
ist, impliziert die analoge Gleichung von Clark, ∆ = k3 · [RX], keinen speziellen
Mechanismus.
Die Besetzungstheorie von Clark lässt sich in drei Punkte zusammenfas-
sen:
1. Der biologische Effekt ∆ ist proportional zur Rezeptorbesetzung [RX], oc-

cupancy assumption“.
2. Ein Wirkstoffmolekül reagiert mit einem Rezeptormolekül.
3. Eine vernachlässigbar kleine Konzentration des Wirkstoffs [X] ist am Re-
zeptor R gebunden, so dass die freie, ungebundene Wirkstoffkonzentration [X]
praktisch gleich der Gesamtwirkstoffkonzentration [XT ] ist.
Die hyperbolische Gleichung (5) ist charakterisiert durch zwei Parameter: er-
stens durch die maximale Wirkungsstärke ∆max und zweitens durch Kx ,
die Konzentration, bei der die halbmaximale Wirkung erreicht wird
(Abbildung 3.5).
Die halblogarithmische Auftragung (Abbildung 3.6) hat, wie schon bei der Dar-
stellung der Dosis-Wirkungs-Beziehung (Abbildung 1.2) gezeigt, verschiedene
praktische Vorteile. Zum einen resultiert im Bereich der Halbsättigungskonzen-
tration ein quasi-linearer Bereich, zweitens können auf diese Weise Wirkstof-
fe mit unterschiedlichen Konzentrations-Wirkungs-Profilen über einen weiten
Bereich verglichen werden.
Diese Form der Darstellung wird auch als logarithmische Dosis-Wirkungs-
Kurve bezeichnet, im Englischen entsprechend als log dose response curve“

(LDR-Kurve). Der quasi-lineare Bereich um Kx ist in der Abbildung 3.6 durch
die Regressionsgrade deutlich gemacht, und der Konzentrationsbereich reicht
hier von 0,1 bis 1000 mM.
Die Konstante Kx , bei der die halbmaximale biologische Wirkung erreicht ist,
ist uns in der Abbildung 1.2 als TD50 (Konzentration, bei der sich an 50 %
der Lebewesen eine toxische Wirkung zeigt) und als LD50 (Konzentration, bei
der 50 % der Lebewesen sterben) begegnet. Man kann noch der Vollständigkeit
halber aus der Pharmakologie den Begriff ED50 (effektive Dosis am Kollektiv
von Patienten) hinzufügen, das ist die Konzentration, durch die bei 50 % der
Patienten eine medikamentöse Wirkung eintritt.
Im folgenden soll die Analogie der LDR-Kurve mit der Henderson-Hassel-
balch´schen Gleichung gezeigt werden, welche die Beziehung zwischen pH
und der Dissoziation einer Substanz beschreibt. Dazu bedienen wir uns der
Gleichung (4):
120 Kapitel 3 Toxikodynamik

%
'max
' = biologische Wirkung 100

50

Kx
0
0 10 20 30
Wirkstoff in mM

Abbildung 3.5 Abhängigkeit der biologischen Wirkung ∆ von der Wirkstoffkonzentration [X]
in mM.

[RX] [X] ∆ [RX]


= und = .
[RT ] Kx + [X] ∆max [RT ]

Beide Gleichungen geben auf jeder Seite die Fraktion f wieder, die eine bio-
logische Wirkung verursacht. Ist z. B. die biologische Wirkung ∆ gleich der
maximalen Wirkung ∆max , so ist f = 1, der Wert von f kann also nur zwi-
schen 0 und 1 liegen. Somit ist:

∆ [RX] [X]
f= = und f = . (7)
∆max [RT ] Kx + [X]

Von der reziproken Form der letzten Gleichung ausgehend, erhält man:

f
[X] = Kx , (8)
1−f

und durch beiderseitiges Logarithmieren folgt:


3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 121

%
'max
100
' = biologische Wirkung

50

Kx
0
-1 0 1 2 3
Wirkstoff log mM
Abbildung 3.6 Halblogarithmische Auftragung der Konzentrations-Wirkungs-Beziehung. Wie
in Abbildung 3.5 sind dieselben Konzentrationen durch Kreise markiert.

f
log [X] = log Kx + log . (9)
1−f

Mit der letzten Gleichung (9) ist die umgeformte LDR-Kurve in vollständiger
Analogie zur Henderson-Hasselbalch´schen Gleichung mit a gleich der
nichtionisierte Anteil einer Säure (10):

α
log [H+ ] = log Ka + log . (10)
1−α

Durch Differenzieren der Gleichung (9) kann die Neigung der sigmoiden Kurve
an ihrem Wendepunkt f = 0,5 verhältnismäßig leicht bestimmt werden mit:

f df
d ln [X] = d ln = (11)
1−f f (1 − f )

und

df
= 2, 303 · f (1 − f ) (12)
d log [X]
122 Kapitel 3 Toxikodynamik

1.0
f = Fraktion der Wirkung

ionisierter Anteil (1- D )

0.5

TD50 TD50
pKa pKa
Kx Kx
0.0
0 2 4 6 8 10 12 14
log (X) oder pH

Abbildung 3.7 Zwei LDR-Kurven (log dose response) für Wirkstoffe mit verschiedenen Kx -
Werten oder die Dissoziation von zwei schwachen Säuren mit unterschiedlichen pKa -Werten
(Konzentration X = pM).

und für f = 0,5 am Wendepunkt:

df
= 0, 576. (13)
d log [X]

In der Besetzungstheorie von Clark wurde angenommen, dass stets ein Wirk-
stoffmolekül mit einem Rezeptor reagiert. Eine sehr große Anzahl von LDR-
Kurven bestätigen diese Theorie mit einer Neigung von 0,576 am Mittelpunkt.
In der Chemotherapie der Tumore werden manchmal alkylierende Substanzen
verwendet, die bifunktionell intra- und intermolekulare Verknüpfungen von
DNA-Strängen bewirken können (siehe Kapitel 9). Ein solches Agens ist z. B.
Busulfan [H3 C-SO2 -O-(CH2 )4 -O-SO2 -CH3 ], das man sich aus zwei Ethylme-
thansulfonaten zusammengesetzt vorstellt. Hier reagiert also ein Wirkstoff X
mit zwei Rezeptoren R:

X + 2R = XR2 . (14)
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 123

Theoretische Überlegungen führen bei dieser Reaktion zu einer Neigung von


0,288 am Wendepunkt und bei einer Reaktion von 2 Molekülen mit einem
Rezeptor (2X + R = X2 R) zu einer Neigung von 1,15. Somit sind experimen-
tell bestimmte Neigungen zwischen 0,228 und 1,15 am Wendepunkt der LDR-
Kurve durchaus mit dem Massenwirkungsgesetz und damit auch mit der Rezep-
tor-Besetzungstheorie vereinbar.

3.4.1 LDR-Kurven-Diskussion, allgemeine Begriffe


Die Abhängigkeit einer biologischen Wirkung von der Konzentration [X] einer
Substanz ist im allgemeinen für jede Substanz eine charakteristische Funktion.
Aus einer LDR-Kurve, welche die Wirkintensität auf ein biologisches System
beschreibt, können stets drei charakteristische Größen entnommen werden:
1. Die Affinität der Substanz X zum Rezeptor, die durch den rezipro-
ken Wert von Kx , also 1/Kx , wiedergegeben wird. Ist der Kx -Wert klein, so
ergibt sich eine hohe Affinität, bei einem großen Kx -Wert ist die Affinität
zum Rezeptor niedrig.
2. Die Größe des Maximaleffektes (∆max ). Ein anderer hierfür verwendeter
Ausdruck ist die intrinsische Aktivität (Wirkaktivität).
3. Die Steilheit der LDR-Kurve. Wie vorhergehend gezeigt, ist die Steilheit
der LDR-Kurve eine Funktion der Stöchiometrie zwischen Substanz X und
Rezeptor R.
Die Beurteilung einer LDR-Kurve wird jedoch durch einige grundsätzliche
quantitative Aspekte erschwert. Geht man von dem gesamten Organismus aus,
so ist die tatsächlich vorhandene Konzentration der Substanz [X] am Rezep-
tor nicht genau bestimmbar. In Untersuchungen am intakten Lebewesen ist
meist nur der Blutraum für eine Konzentrationsbestimmung zugänglich, und
man nimmt stillschweigend an, dass dieselbe Konzentration auch am Rezeptor
vorliegt.
In der Besetzungstheorie von Clark wurde unter 3.) eine Voraussetzung für die
Anwendbarkeit gemacht, die eigentlich nur für einen Spezialfall gilt, und zwar:
Nur eine vernachlässigbar kleine Konzentration des Wirkstoffes [X] ist an den

Rezeptor R gebunden, so dass die freie Wirkstoffkonzentration [X] praktisch
gleich der Gesamtwirkstoffkonzentration [XT ] ist.“
Die erste Komplikation ergibt sich aus der Situation, dass die Konzentration
der Rezeptoren mitunter beträchtlich sein kann, so dass [XT ] nicht mit der
freien, ungebundenen Konzentration [X] gleichzusetzen ist. Die zweite Kom-
plikation beruht auf der Tatsache, dass in einem Organismus ein ganz we-
sentlicher Anteil der Substanz [X] an Bindungsstellen gebunden ist und die
124 Kapitel 3 Toxikodynamik

freie Wirkstoffkonzentration oft nur einen Bruchteil der Gesamtkonzentration


ausmacht.
Die Komplikation einer Bindung von X kann mit in die allgemeine Gleichung
aufgenommen werden und verändert ganz wesentlich die sigmoide Form der
LDR-Kurve. Benutzt man die Gleichung (8)

f
[X] = Kx (8)
1−f

als Ausgangsgleichung, substituiert für [X] = [XT ] − [RX] (XT ist die Gesamt-
konzentration an X) und setzt für [RX] = f · [RT ], so erhält man:

f
[XT ]= Kx + f · [RT ], (15)
1−f

gesamtes X = freies X + gebundenes X.

Gleichung (15) ist eine allgemeine Gleichung der Besetzungstheorie für


Anteile an freier und gebundener Konzentration [X]:
Wenn die Größe f · [RT ], die den gebundenen Anteil darstellt, sehr viel kleiner
als die freie Konzentration [X] ist, so gilt Gleichung (8). Ist f · [RT ] sehr groß,
so kann in der Gleichung (15) eventuell das freie X vernachlässigt werden
(Kx · (f /(1 − f ))).
Nach der Besetzung des Rezeptors gibt es in der Regel weitere Folgereaktionen,
die das einfache Modell komplexer gestalten. Bei dem beschriebenen Beispiel
des Acetylcholinrezeptors erfolgt zunächst nach Besetzung des Rezeptors ei-
ne im Millisekundenbereich erfolgende Permeabilitätsänderung für Kationen,
insbesondere für Natrium-Ionen, an die sich eine Membrandepolarisation an-
schließt. Diese führt wiederum zu einer Zunahme der Calciumkonzentration
im Zytoplasma der Muskelzelle und löst nach Aktivierung des kontraktilen
Muskelproteinapparates eine Verkürzung des Muskels aus.
Aus alldem ergibt sich, dass die Wirkungskurve eine Resultante aller dieser
Einzelprozesse ist und dass sie keine quantitativen Rückschlüsse auf die Ebene
der molekularen Substrat-Rezeptor-Wechselwirkungen zulässt. Sie ist damit
vielmehr eine Form der Darstellung des Gesamtvorganges.

3.4.2 Agonisten
Als Agonist wird eine Substanz bezeichnet, die sowohl eine Affinität (1/Kx )
als auch eine intrinsische Aktivität (∆max ) besitzt.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 125

Unter den Agonisten unterscheidet man noch zwischen vollen und partiellen
Agonisten. Partielle Agonisten wirken dualistisch, sie besitzen sowohl agonisti-
schen als auch antagonistischen Charakter. Ein partieller Agonist schwächt die
Wirkung eines vollen Agonisten auf Grund seiner ebenfalls vorhandenen par-
tiellen antagonistischen Eigenschaft ab. Dagegen wirkt ein partieller Agonist
bei Abwesenheit eines vollen Agonisten nur agonistisch.

3.4.3 Antagonisten
Antagonisten sind Substanzen, die eine agonistische Wirkung aufheben oder
zumindest verringern können. Folgende Haupt-Typen können dabei unterschie-
den werden:

3.4.3.1 Kompetitive Antagonisten

Diese Substanzen besitzen wie die Agonisten eine oft hohe Affinität zum Re-
zeptor, ohne jedoch eine Wirkung auszulösen. Das untenstehende Modell gibt
das Reaktionsschema wieder:

k1 k3
X + R RX Wirkung
k2
+
keine
I RI + X
Wirkung

Hierbei wird angenommen, dass der kompetitive Antagonist oder Inhibitor I


an den Rezeptor bindet, wobei das folgende, sich schnell einstellende Gleich-
gewicht vorliegt:

[R][I]
Ki = .
[RI]

Der Rezeptor-Inhibitor-Komplex [RI] bewirkt keine Folgereaktion. Die Glei-


chung, die diese Reaktion mit einbezieht, ist ähnlich der Gleichung (5) mit der
Erweiterung des Parameters Kx um den Faktor (1 + [I]/Ki ):

∆max [X]
∆= . (16)
Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X]
126 Kapitel 3 Toxikodynamik

Dabei ist [I] die Inhibitorkonzentration und Ki die Dissoziationskonstante des


Inhibitor-Komplexes.
Das nachfolgende Beispiel gibt eine graphische Darstellung solcher LDR-Kur-
ven. Dabei wurden für Kx und Ki der gleiche Wert von 5 mM gewählt, die
Inhibitorkonzentration betrug 0, 5 und 15 mM und ∆max = 100 Reaktionsein-
heiten pro Minute.
Ein Beispiel für einen kompetitiven Antagonisten ist das Pfeilgift Curare, das
den nicotinischen Acetylcholinrezeptor am Muskel besetzt, Acetylcholin durch
seine hohe Affinität verdrängt und auf diese Weise die Folgereaktionen bis hin
zur Muskelkontraktion unterbindet.

(1 + 0/Ki) = 1 (kein Inhibitor)


100
(1 + 5/Ki) = 2
' = Wirkung

(1 + 15/Ki = 4

50

1 2 4
0
-1 0 1 2 3
log (X)
Abbildung 3.8 Kompetitive Hemmung. Ein kompetitiver Antagonist verschiebt die LDR-
Kurve parallel nach rechts. Der Grad der Parallelverschiebung der agonistischen LDR-Kurve
ist ein Maß für die Affinität des Antagonisten zum Rezeptor. Substanzen mit einer hohen
Affinität verursachen eine starke Parallelverschiebung, solche mit einer geringen Affinität
sind deutlich schwächer wirksam.

3.4.3.2 Nichtkompetitive Antagonisten

Im Gegensatz zum kompetitiven Antagonismus werden unter dem Begriff des


nichtkompetitiven Antagonisten recht unterschiedliche antagonistische Wir-
kungsmechanismen zusammengefasst.
3.4 Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkungen 127

' = Wirkung 100


1

2
50

0
-1 0 1 2 3
log (X)

Abbildung 3.9 Nichtkompetitive Hemmung in der LDR-Darstellung. Die Zahlen 1, 2 und 4


in der Abbildung (Werte wie in Abbildung 3.8) geben den Zahlenwert des Faktors (1+[I]/Ki )
der Gleichung (17) wieder. Dabei bedeutet der Faktor 1 keine Hemmung. Bei Anwesenheit
des nichtkompetitiven Antagonisten wird die LDR-Kurve abgeflacht, d. h. die Neigung der
Kurve nimmt in Abhängigkeit von der Konzentration des Antagonisten ab, und die Maxi-
malwirkung verringert sich.

Eine einfache Gleichung kann im Nenner sowohl für Kx als auch für die Kon-
zentration [X] eine Erweiterung um den Faktor (1 + [I]/Ki ) tragen:

∆max [X]
∆= . (17)
Kx · (1 + [I]/Ki ) + [X] · (1 + [I]/Ki )

Eine Möglichkeit der Hemmwirkung beim nichtkompetitiven Typ ist die Bin-
dung am Rezeptor selbst, jedoch nicht an der Agonisten-Bindungsstelle. Durch
diese Bindung verhindert der Antagonist z. B. eine Konformationsänderung des
Rezeptormoleküls, die für die Bindung oder für Folgereaktionen notwendig ist.
Neben den nichtkompetitiven Antagonisten kennt man auch solche, die sowohl
kompetitiv als auch nichtkompetitiv wirken können. In niedriger Konzentra-
tion können sie z. B. als kompetitiver Antagonist wirksam sein, während sie in
hoher Konzentration eine nichtkompetitive unspezifische Hemmung ausüben.
128 Kapitel 3 Toxikodynamik

Auf die LDR-Kurve projiziert sich ihre Wirkung bei niedriger Konzentration
in einer parallelen Rechtsverschiebung, bei hoher Konzentration wird mit einer
Verminderung der Kurvenneigung der Maximaleffekt vermindert.
Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über mögliche Effekte von Inhibitoren auf die
Parameter der Michaelis-Menten-Gleichung. Diese Effekte von Inhibitoren auf
Enzymreaktionen können ohne weiteres auf Wirkstoff-Rezeptor-Wechselwirkun-
gen übertragen werden, wenn E = R und S = X gesetzt werden.

Tabelle 3.2 Charakterisierung von Hemmtypen enzymatischer Reaktionen. Die aus Expe-
rimenten gewonnene Vmax - und KM -Werte werden als apparente (scheinbare) Parame-
ter bezeichnet. [E] ist die Enzymkonzentration, [I] die Inhibitorkonzentration, [EI] der
Enzym-Inhibitor-Komplex und [ESI] der Enzym-Substrat-Inhibitor-Komplex. Es gilt: α =
(1 + [I]/Ki ) mit Ki = [E][I]/[EI] und α = (1 + [I]/Ki ) mit Ki = [ES][I]/[ESI].

Typ der Hemmung Faktor für apparente Vmax Faktor für apparente KM
keine 1 1
kompetitiv 1 α
nicht-kompetitiv 1/α α/α
unkompetiv 1/α 1/α

3.4.3.3 Allosterische Effekte

Verbindungen, die mit dem Substrat nicht strukturverwandt sind, können


an einer anderen Effektorbindungsstelle (allosterisch, griechisch andere Stel-
le) angreifen und eine Konformationsänderung auslösen und somit die Affi-
nität verändern. Fast immer bestehen die Rezeptoren, die der allosterischen
Aktivierung und Hemmung unterliegen, aus mehreren Untereinheiten. Die Ef-
fektoren reagieren also hierbei nicht mit dem eigentlichen Zentrum des Re-
zeptors, sondern sie werden oft an einer anderen Untereinheit angelagert und
beeinflussen die Rezeptor-Affinität durch eine Veränderung der Raumstruktur.
Viele Membranrezeptoren werden allosterisch beeinflußt.
Allosterische Effektoren können sowohl Aktivatoren als auch Inhibitoren sein.
Ein allosterischer Aktivator verschiebt die gesamte Dosiswirkungskurve zu
niedrigeren Substratkonzentrationen, ein allosterischer Hemmstoff hat den ent-
gegengesetzten Effekt. Dabei wird die hyperbolische Form der Kurve in eine
sigmoidale verwandelt.
Ein Beispiel für eine komplizierte allosterische Regulation bietet das Hämo-
globinmolekül. Obwohl es keine chemische Reaktion katalysiert, bindet es Li-
ganden wie Enzyme. Die Bindung von O2 erfolgt positiv kooperativ an zwei-
wertige Eisenatome homotrop (homo-, griechisch gleich). Im Gegensatz dazu
bindet 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) an andere Stellen (Abbildung 3.1). Die
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 129

Bindung von BPG bewirkt negativ heterotrop (hetero-, griechisch andersge-


staltet) eine Verminderung der O2 -Affinität.

3.4.3.4 Funktionelle und physiologische Antagonisten

Ein funktioneller Antagonist ist eigentlich ein Agonist, der eine Wirkung in
der entgegengesetzten Richtung am gleichen Organsystem auslöst.
Ein Beispiel ist die Regulation der Weitstellung der Bronchien in der Lunge
durch glatte Muskelzellen. Sie wird durch zwei verschiedene Rezeptorsysteme
beeinflusst. Acetylcholin bewirkt an den Muskarin-Rezeptoren (parasympatho-
mimetischen Rezeptoren) der glatten Muskeln eine Verengung der Bronchien,
und Adrenalin verursacht als physiologischer Antagonist über b2 -Rezeptoren
des sympathischen Nervensystems das Gegenteil, es stellt die Bronchien weiter.

3.4.3.5 Chemische Antagonisten

Diese Substanzen reagieren mit potentiellen Wirkstoffen und verhindern auf


diese Art und Weise, dass eine Rezeptorwirkung ausgelöst werden kann. Es
handelt sich hierbei um eine indirekte Hemmwirkung. Dieser Gruppe gehören
z. B. die Chelatbildner an, die z. B. toxisch wirksame Schwermetalle mit hoher
Affinität zu binden vermögen. Chelatbildner werden effektiv bei Vergiftun-
gen mit Blei oder Quecksilber eingesetzt (siehe Kapitel 4). Sie haben eine
hohe Bindungskonstante für toxische Schwermetalle. Dadurch werden die im
Blut zirkulierenden Schwermetalle abgefangen und inaktiviert. Außerdem lösen
die Chelatbildner Schwermetalle aus ihren Speicherplätzen und bewirken ihre
schnelle, effektive Ausscheidung mit Harn, Galle und Kot.

3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen

Im Jahre 1937 schrieb A. J. Clark im Handbuch der Experimentellen Pharma-


kologie in seiner Einleitung zur Allgemeinen Pharmakologie:
Die Entwicklung der Organischen Chemie hat insofern wichtige Konsequen-

zen, als bis heute die Anzahl der chemischen Verbindungen mit möglichen
pharmakologischen Wirkungen praktisch unbegrenzt geworden ist. Diese Ent-
wicklung hat auf der einen Seite neue Aspekte für die Therapie von Erkran-
kungen eröffnet, aber auch auf der anderen Seite unbekannte, unangenehme
toxische Wirkungen mit sich gebracht, da alle diese neuen Verbindungen in
die Industrie und die Haushalte eingeführt worden sind. Daher sind genaue
130 Kapitel 3 Toxikodynamik

Kenntnisse über die Möglichkeiten kumulativer Vergiftungen und abartiger


medikamentöser Wirkungen von zunehmender Bedeutung“.
Diese von Clark vorausgesehene Zwiespältigkeit dokumentiert ein viel zitier-
tes Beispiel besonders gut. Die Entdeckung von Paul Hermann Müller, dass
DDT eine insektizide Wirksamkeit besitzt, wurde 1948 zu Recht mit dem No-
belpreis belohnt. Dies belegt auch eine Mitteilung der WHO (World Health
Organization) vom August 1969. Danach sind in den Malaria-Gebieten der
Welt, in denen insgesamt 550 Millionen Menschen leben, ungefähr 5 Millionen
vor dem Tode bewahrt und allein innerhalb der ersten 8 Jahre nach der DDT-
Anwendung 100 Millionen Erkrankungen verhütet worden. Die andere Seite
ist die kumulative Vergiftung mit DDT. Sie wurde bereits in Kapitel 2.5 über
Biotransformation erläutert.
Clark schreibt weiter: Die Einsicht in die Wirkungsweise von Substanzen auf

die Zellen hängt allein von unserem Wissen über die physikalische Chemie
der Zelle ab“. Ein wesentlicher Begründer dieser Disziplin war Rudolf Höber.
Eine erste Auflage seines Buches über die Physikalische Chemie der Zellen und
Gewebe erschien bereits 1902. Die komplexe Einsicht in die Zellfunktionen, die
wir heute besitzen, verdanken wir so genialen Vordenkern wie Ehrlich, Langley,
Höber, Michaelis, Clark und vielen anderen.
In diesem Kapitel soll nicht versucht werden, einen Überblick über eine Vielzahl
von toxischen Substanzen zu vermitteln, es sollen vielmehr einige Beispiele
toxischer Mechanismen aufgezeigt werden.

3.5.1 Unspezifische toxische Wirkungen, Zerstörungen von


Zellen und Geweben
Gewebs- und Zellschädigungen durch Einwirkungen von chemischen Noxen
(lat. noxa, Schaden) sind sehr häufig.
Bei den Säuren stehen Vergiftungen mit Eisessig, Salzsäure, Schwefelsäure und
Salpetersäure im Vordergrund. Auf der Haut bewirken konzentrierte Säuren
eine Zell- und Gewebszerstörung (Nekrosen), Narben und Keloidbildung (kelo-
id, griech. klauenähnlich“, bindegewebige Narbengeschwulst). Wegen der pro-

teinkoagulierenden Wirkung der Säuren bildet sich meist ein Schorf (Ätzschorf)
an der Oberfläche, der das Eindringen in tiefere, darunterliegende Gewebe er-
schwert.
Im Gegensatz zu den oben genannten Säuren diffundiert Fluorwasserstoff in
seiner undissoziierten Form sehr schnell in tiefer gelegene Hautschichten und
bewirkt sehr schwere, äußerst schmerzhafte Entzündungen. Die Verätzungen
sind oft tagelang auf der Haut unsichtbar und rufen trotzdem sehr starke
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 131

Schmerzen hervor. Der Verletzte muss sofort zum Arzt und diesem genau die
verletzte Hautstelle zeigen, damit eine spezifische Therapie eingeleitet werden
kann.
Laugenvergiftungen sind viel gefährlicher als Säurevergiftungen, da das Gewe-
be verflüssigt wird und keine feste koagulierte Proteinschicht entsteht. Die
Laugen dringen immer tiefer in das Gewebe ein, da sie von der Gewebs-
flüssigkeit kaum neutralisiert werden. Neben der sehr gefährlichen Natron-
lauge und Kalilauge kann auch Ammoniumhydroxid schwere Schäden verursa-
chen. Hautschädigungen können durch sofortiges Abspülen mit reichlich Was-
ser gewöhnlich vermieden werden.
Die Wirkung von Säuren und Laugen ist von komplexer Natur. Bei den Säu-
ren wurde die protektive proteinkoagulierende Eigenschaft in den Vordergrund
gestellt. Der Name Protein“ wurde von dem Chemiker Jöns Jacob Berzelius

geprägt und ist abgeleitet vom griechischen proteuo:
ich nehme den ersten Platz ein.“

Der Inhalt einer Zelle kann als eine konzentrierte Lösung von Proteinen (et-
wa 30 %), die meisten sind Enzyme, angesehen werden. Diese Proteine können
sowohl nach ihrer Funktion als auch nach ihrem Aufbau eingeteilt werden.
Bezüglich des strukturellen Aufbaus lassen sich die Proteine in einfache und
zusammengesetzte bzw. fibrilläre und globuläre Proteine einordnen. Eine mo-
derne Einteilung nimmt die Faltungstopologie zu Hilfe und ordnet die Proteine
danach in große Familien ein.
Jedes Protein besitzt eine spezifische Aminosäurenzusammensetzung, typisch
ist die Primärstruktur der Aminosäuresequenz. Dabei ist das durch die Pep-
tidbindung gebildete Rückgrat von Proteinen bei allen Proteinen identisch,
die Vielfalt der Eigenschaften ergeben sich erst aus den Aminosäureseitenket-
ten. Die Seitenketten tragen dissoziable Gruppen wie die basischen Gruppen
von Lysin und Arginin, die Carboxylgruppen von Aspartat und Glutamat, die
Imidazolgruppe des Histidins, die Hydroxylgruppen von Serin, Threonin und
Tyrosin sowie die Sulfhydrylgruppe des Cysteins.
Die Sekundärstruktur umfasst alle Strukturen, die sich durch Wasserstoff-
brückenbindung der CO- und NH-Gruppen des Rückgrats der Peptidkette bil-
den lassen. Dies sind die b-Faltblatt-, die a-Helix-, die Kollagen-Helix-Struktur,
sowie Schleifen, die sich mit den oben genannten Strukturen verbinden lassen.
Die Tertiärstruktur beschreibt die dreidimensionale Struktur der Proteine,
einschließlich der durch die Aminosäurenseitenketten bedingten Konformation.
Stabilisiert wird die Tertiärstruktur durch Ionen- und Wasserstoffbrückenbin-
dung, Van-der-Waals-Kräfte, London-Dispersionskräfte und Disulfidbrücken.
132 Kapitel 3 Toxikodynamik

Schließlich gibt die Quartärstruktur von Proteinen die Assoziation mehre-


rer Untereinheiten von Proteinen wieder. So erfüllt z. B. Hämoglobin erst seine
Sauerstofftransportfunktion als Tetramer, das aus 2 a- und 2 b-Untereinheiten
besteht. Die Tetramerstruktur erlaubt die Ausbildung kooperativer Wechsel-
wirkungen.
Für jedes Protein gibt es einen charakteristischen pH-Wert, bei dem sich die
positiven und die negativen Ladungen des Moleküls ausgleichen. Diesen pH-
Wert bezeichnet man als den isoelektrischen Punkt pI. Die meisten Proteine
besitzen einen pI-Wert im sauren pH-Bereich und neigen an ihrem isoelekti-
schen Punkt zum Ausfallen und zur Koagulation. Die Schutzschicht, die sich
bei der Säureeinwirkung auf die Haut ausbildet und ein Eindringen in tiefere
Hautschichten verhindert, ist zu einem großen Teil auf diesen physikalisch-
chemischen Vorgang zurückzuführen.

3.5.2 Toxische Einflüsse auf die Blutgerinnung


Anstelle einer unspezifischen Koagulation von Proteinen benutzt der Organis-
mus einen hochspezifischen Apparat, um den Blutkreislauf bei einer Verletzung
der Gefäße sicher zu verschließen. Der eigentliche Träger der Blutgerinnung ist
ein spezialisiertes Protein, das fadenförmige Fibrinmolekül mit einer impo-
nierenden Länge von 45 nm.
Der Hauptvorgang der Gerinnung beruht darauf, dass die Vorstufe des Fibrins,
das lösliche Fibrinogen mit einem Molekulargewicht von 340 kD, in das unlösli-
che Fibrin überführt wird. Das Fibrinogen macht 2 bis 3 % der Plasmaproteine
aus und besteht aus drei Paaren nicht genau gleicher, aber homologer Peptid-
ketten. Das erste Paar wird als (Aa)2 bezeichnet, das zweite als (Bb)2 und das
dritte als (g)2 . Die Buchstaben A und B bezeichnen die kleinen Fibrinopeptide
mit nur 14 und 16 Aminosäuren, die bei der Aktivierung zum Fibrin-Monomer
durch das peptidspaltende Enzym Thrombin abgespalten werden, nach der
Reaktion:

Arginin-Glycin-
(AD)2(BE)2(J)2 Spaltung D2 E2 J2 + 2A + 2B

Durch die Abspaltung der Fibrinopeptide A und B ändern sich die physikalisch-
chemischen Eigenschaften der Fibrin-Monomere, die sich jetzt spontan über-
lappend zu langen Fäden aneinanderlegen und aus der Lösung ausfallen.
Die Antwort auf die Frage, warum das Fibrinogen im Plasma gelöst bleibt und
warum die Fibrin-Monomere aggregieren, die immerhin 96 % des Fibrinogens
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 133

ausmachen, liegt in dem Ladungsmuster der Proteine begründet. Die abge-


spaltenen Fibrinopeptide A und B besitzen durch ihre negativ geladenen Ami-
nosäuren Asparaginsäure, Glutaminsäure und durch eine ungewöhnlich stark
negativ geladene Aminosäure, Tyrosin-O-Sulfat, eine hohe negative Ladung.
Sie sind so stark negativ geladen, dass die Ladung des mittleren Bereichs des
Fibrinogens, dort wo die Fibrinopeptide liegen, −8 beträgt. Nach ihrer Abspal-
tung resultiert an dieser Stelle im Fibrin die Ladung +5. Die Endabschnitte des
Fibrinogens und des Fibrins behalten dagegen mit −4 ihre negative Ladung
bei. Während dies beim Fibrinogen zur Abstoßung zwischen gleichgeladenen
Abschnitten und zur Löslichkeit beiträgt, fördert diese Ladung beim Fibrin
dagegen die Anziehung zwischen den mittleren positiven und endständigen
negativen Abschnitten und trägt somit zur Aggregation bei.
Das frisch gebildete Fibrin ist instabil, da die einzelnen Faktoren noch nicht
kovalent miteinander verbunden sind. Erst durch den Blutgerinnungsfaktor
XIII, eine Transamidase, wird das Fibrin kovalent längs- und quervernetzt.
Schließlich ziehen sich in der letzten Phase die stabilisierten Fibrinfäden mit
Hilfe einer ATPase, die aus den Blutplättchen stammt, zusammen und ver-
schließen durch die Retraktion des Fibringerüstes die Wundränder. Fibrin ist
der Klebstoff“ für verletzte Gefäße.

Der Mechanismus der Gerinnung läuft über vielstufige Reaktionskaskaden ab,
die eine enorme Verstärkung der auslösenden Signale zulassen. Fibrin als Fak-
tor I ist darin das letzte Glied einer Kette, wobei ein Zuviel an Gerinnsel am
falschen Ort der wichtigste Auslöser von Schlaganfall und Herzinfarkt ist und
ein Zuwenig zu unstillbaren Blutungen führt. Es ist darum nicht weiter verwun-
derlich, dass diese Feinregulation Angriffspunkt für eine Reihe von toxischen
Substanzen ist.
Im Jahre 1922 wurde von einem Kuhsterben in Nordamerika berichtet, das
durch eine innere Verblutung der Tiere verursacht worden war. Schließlich
konnte man die Ursache hierfür finden. Aus faulendem Süßklee ließ sich nämlich
Dicumarol, ein Abbauprodukt von Cumarin, isolieren. Stoffe des Cumarin-
Typs, so fand man weiter heraus, verdrängen aufgrund ihrer Struktur-ähnlich-
keit das Vitamin K (siehe Kapitel 6.4), das für die vollständige Synthese der in
der Leber gebildeten Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X verantwortlich
ist.
Vitamin K ist an der Synthese einer speziellen Aminosäure, die für das Anbin-
den der oben genannten Gerinnungsfaktoren an Phospholipid-Membranen und
für die dort erfolgende Aktivierung notwendig ist, beteiligt. Die Vitamin K-
abhängige enzymatische Carboxylierungsreaktion verwandelt Glutaminsäure
in g-Carboxyglutaminsäure, einen Calcium-Chelator, der über Calcium das
Andocken an negativ geladene Phospholipide ermöglicht (Abbildung 3.10).
134 Kapitel 3 Toxikodynamik

+ -
NH3 COO
-
OOC CH CH2 CH
-
COO
J-Carboxyglutaminsäure

Die funktionelle Bedeutung des Phospholipid-Protein-Calcium-Komplexes liegt


darin, dass die einzelnen Reaktionspartner, z. B. aktiver Faktor X und das
Substrat Prothrombin, in unmittelbarer Nähe miteinander reagieren können,
wobei sie von einem Cofaktor V in optimaler Position gehalten werden. Bei
einem zufälligen Treffen der 3 Gerinnungsfaktoren im Plasma würden sie nur
selten in der erforderlichen Stellung zusammenkommen.
Der Treffpunkt“ auf der Phospholipidmembran, der durch Calcium-Anbin-

dung erzwungen wird, führt zu einer Beschleunigung der proteolytischen Spal-
tung von Prothrombin zu Thrombin etwa um den Faktor 10 000. Das ent-
stehende Thrombin selbst besitzt keine g-Carboxyglutaminsäuren mehr zum
Festhalten an der Phospholipidmembran, es wird abgelöst und kann nun das
Fibrinogen im Plasma aktivieren, indem es die Peptide A und B abspaltet.
Die Phospholipid-Membranen stammen hauptsächlich von den Blutplättchen,
die sich im Falle einer Gefäßverletzung zusammenlagern und einen ersten Ver-

R1
C O
- - NH
OOC
2+
Ca CH CH2 CH
- -
OOC C O
Phosphatidylserin NH
R2
Blut-
gerinnungsfaktor
Phospholipidmembran

Abbildung 3.10 Schema der Anbindung eines Gerinnungsfaktors über γ-Carboxy-


glutaminsäure und Calcium an negativ geladene Phospholipide (Phosphatidylserin) einer
Membran.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 135

schluss bewirken. Gleichzeitig führen sie dabei einen Gestaltwechsel durch und
setzen Membrananteile und Gerinnungsfaktoren frei.

Der toxische Effekt des Dicumarols aus Süßklee führt dazu, dass keine funk-
tionstüchtigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X von der Leber mehr ge-
bildet werden. Erst nach Aufbrauchen der vorhandenen Faktoren trat dann
die Verblutung der Tiere ein (siehe Kapitel 6.4).

Dieses inhibitorische Prinzip der Cumarine wird heute in der Medizin als Medi-
kament bei verstärkter Blutgerinnungsneigung und bei der Ratten- und Mäuse-
bekämpfung als Gift eingesetzt. In der Medizin wird die Blutgerinnungsneigung
bei Patienten mit drohendem Herzinfarkt z. B. durch das Cumarin-Präparat
Phenprocoumon herabgesetzt. Bei Blutungsrisiken wirkt Vitamin K zwar als
spezifisches Antidot, aber es dauert in der Regel 36 bis 48 Stunden bis genügend
funktionstüchtige Gerinnungsfaktoren synthetisiert worden sind und die Ge-
rinnungsfähigkeit des Blutes wieder voll hergestellt ist.

Bei der Bekämpfung von Ratten- und Mäuseplagen wurden früher toxische
Präparate mit Thalliumsulfat, Natriumfluorid und Zinkphosphid eingesetzt
(siehe Kapitel 4.2.6). Anfang der fünfziger Jahre kam es zu einer beängsti-
genden Zunahme von Thalliumvergiftungen. Die tödliche Dosis beim Men-
schen schwankt außerordentlich, sie dürfte für das Thalliumsulfat im Mittel
etwa 1 g betragen. Heute werden als Ratten- und Mäusebekämpfungsmittel
fast ausschließlich Cumarin-Derivate eingesetzt. Der Vorteil liegt darin, dass
die ausgebrachten Dosen für Erwachsene, Kinder und Haustiere in der Regel
unbedenklich sind. Eine akute Toxizität ist wegen der langsam einsetzenden
Wirkung nicht vorhanden. Sollte es trotzdem bei chronischer Aufnahme zu
Vergiftungen kommen, so ist die Therapie mit Vitamin K-abhängigen Gerin-
nungsfaktoren sehr effektiv im Gegensatz zu der Therapie bei Thalliumvergif-
tungen mit kolloidalem Eisen(III)-hexacyanoferrat(II) (Berliner Blau).

In Abbildung 3.10 wurde gezeigt, dass Calciumionen ganz wesentlich am


Reaktionsablauf der Gerinnung beteiligt sind. Entzieht man dem Organismus
Calcium, so macht sich dies in einer Herabsetzung der Gerinnungsfähigkeit des
Blutes sowie in einer muskulären Übererregbarkeit (Tetanie) bemerkbar.

Die Wirkung der Oxalsäure ist wie bei jeder Säure zuerst eine direkte Ätzwir-
kung auf die Schleimhäute. Nach Einnahme treten sofort heftige Magenschmer-
zen, Brechreiz und Erbrechen von schwärzlichen Massen auf. Nach der Resorp-
tion kommt es jedoch infolge der starken Calciumbindung der Oxalsäure zu
Blutungsneigung und schweren Krämpfen. In der Niere fällt das Calciumoxalat
in Form von Kristallen aus, die zu einer Verstopfung der Nierenkanälchen mit
fehlender Harnabsonderung (Anurie) führen.
136 Kapitel 3 Toxikodynamik

Eine weitere Möglichkeit, sich mit Oxalsäure zu vergiften, besteht bei der In-
toxikation mit Ethylenglycol (siehe Kapitel 5.4). Der Stoffwechselweg führt
zu dem Endprodukt Oxalsäure. Dabei ist hier nicht die Beeinflussung der
Gerinnung, sondern die sogenannte Oxalatniere mit vollständiger Harnsper-
re die vorrangige toxische Komponente. Schon 100 bis 200 ml Ethylenglycol
sind mitunter tödlich. Die rechtzeitige Therapie beruht unter anderem auf ei-
ner metabolischen Hemmung der Ethylenglycoloxidation durch Ethanol, das
die Umsetzung über die Dehydrogenasen blockiert.
Nicht nur Chelatbildner wie Oxalat können durch ihre Calciumbindung die
Blutgerinnung beeinträchtigen, sondern auch Metalle aus der Lanthanreihe wie
Lanthan, Cer, Praseodym und Neodym (siehe Kapitel 4.1.7). Der Mechanismus
ist hier in der Blockade der Calciumstelle bei der Anbindung der Gerinnungs-
faktoren an die Phospholipidmembranen zu suchen. Praseodym wurde früher
als Medikament benutzt, um die Blutgerinnung herabzusetzen.

3.5.3 Erythrozyten als Modell für toxische Mechanismen


Erythrozyten wurden bereits im Kapitel 2.3.2 beim Aufbau von Membranen
als Spezialzellen vorgestellt, die im Gegensatz zu anderen Zellen keine intrazel-
lulären Organellen wie einen Zellkern, Mitochondrien, Golgiapparat oder endo-
plasmatisches Retikulum besitzen. Ihre spezielle Aufgabe liegt hauptsächlich
im Sauerstofftransport. Um dieser Funktion optimal zu genügen, sind sie zu
über 90 % mit kugelförmigen Hämoglobinmolekülen mit einem Durchmesser
von 5,5 nm gefüllt, deren Anzahl pro Erythrozyt etwa 300 Millionen ausmacht.
Außerdem besitzen die Erythrozyten mit ihrer bikonkaven Form eine sehr große
Oberfläche, die dem effizienten Gasaustausch nützlich ist.
Wegen ihrer leichten Gewinnbarkeit und wegen ihres übersichtlichen Stoffwech-
sels im Vergleich zu anderen Zellen, wurden die Erythrozyten von Toxikologen
besonders häufig als Modellzellen für toxische Mechanismen benutzt. Nach dem
Entnehmen der Erythrozyten durch Einstechen in eine Vene muss zuerst die
Gerinnung des Blutes verhindert werden. Dies geschieht am einfachsten durch
einen Calcium-Entzug mit Hilfe einer Citrat-, EDTA- oder Oxalat-Lösung.
Hierbei dürfen die Blutzellen nur in einer isotonischen Lösung mit einem phy-
siologischen pH-Wert von 7,4 aufgefangen werden, weil sonst die Membran
zerplatzt und der Inhalt mit dem Hämoglobin aus der Zelle austritt. Die-
ser Vorgang wird Hämolyse genannt. Eine isotonische Lösung ist eine
Lösung, die den gleichen osmotischen Druck wie die Erythrozyten besitzt. Die-
se ist zweckmäßig eine gepufferte 150 mM NaCl-Lösung mit einem osmotischen
Druck von etwa 300 mosmol pro Liter (d. h. bei einer vollständigen Dissoziati-
on des NaCl in Na+ und Cl− würde der durch die gelösten Teilchen erzeugte
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 137

Druck 300 mosmol/Liter ergeben). Die gelöste Substanz, hier das NaCl, pene-
triert nur sehr langsam in die Zelle, so dass über lange Zeit nur eine geringe
Wasserverschiebung in die Zelle hinein erfolgt.
Ersetzt man aber die isotonische NaCl-Lösung durch eine isotonische Harn-
stofflösung, so hämolysieren die Erythrozyten sofort, da das kleine Harnstoff-
molekül sehr schnell in die Zelle penetriert und das Volumen der Zelle aufgrund
des gleichzeitig erfolgenden Wassereintritts zunimmt. Erythrozyten können nur
bis zu dem 1,5-fachen ihres Volumens anschwellen; sie verändern dabei ihre bi-
konkave Scheibchenform zur Kugelform. Eine weitere Volumenzunahme führt
zum Zerreißen der Zellmembran.

3.5.3.1 Osmotische Resistenz der Erythrozyten

In isotonischer NaCl-Lösung aufgeschwemmte Erythrozyten verhalten sich als


nahezu perfekte Osmometer. Ein gutes Modell für das Osmometerverhal-
ten von Zellmembranen schien im Jahre 1867 die von Moritz Traube gefundene
Niederschlagsmembran zu sein, welche bei der Berührung von Kupfersulfat und
Kaliumhexacyanoferrat entsteht. Ihr analoges Verhalten zu Zellmembranen wie
Erythrozyten bestand darin, dass sie für Wasser durchgängig, aber für beina-
he alle im Wasser gelöste Substanzen undurchgängig war. Dieses Verhalten
der Membranen bezeichnete man als semipermeabel. In der physikalischen
Chemie haben solche semipermeable Membranen eine große Rolle gespielt.
Besonders in den Händen von J. H. Van´t Hoff wurde die künstlich erzeugte
Niederschlagsmembran von Traube zu einem wichtigen Instrument. Anhand
der Messergebnisse wurden die Gesetze des osmotischen Druckes erkannt und
Van´t Hoff formulierte 1887 als Grundsatz für die Theorie der Lösungen:
Der osmotische Druck einer Lösung entspricht dem Druck, welchen die gelöste

Substanz bei gleicher Molekularbeschaffenheit als Gas oder Dampf im gleichen
Volumen und bei derselben Temperatur ausüben würde.“
Der kolloidosmotische Druck ist von der Anzahl der gelösten Teilchen n abhän-
gig und steht in gleicher Weise in Beziehung zur absoluten Temperatur T, zur
Gaskonstante R und zum Volumen V wie der Druck eines Gases P:

nRT
P= . (Van´t-Hoffsche Gleichung)
V

Diese Gleichung stellt als ideale Zustandsgleichung der Gase ein Grenzgesetz
dar und sie lässt sich daher im strengsten Sinne auch nur für verdünnte Lösun-
gen anwenden. In der physikalischen Chemie wurden neben der semipermea-
blen Niederschlagsmembran auch Pflanzenzellen und Erythrozyten als Modell-
138 Kapitel 3 Toxikodynamik

systeme benutzt, um die physikalischen Gesetze beim osmotischen Druck zu


untersuchen.

Das Osmometerverhalten der Erythrozyten erlaubt darüber hinaus eine Rei-


he von Tests auf toxische Wirkungen von Substanzen. Normale Erythrozyten
beginnen von einer 83 mM NaCl-Lösung (ungefähr 166 mosmol/Liter) an zu
hämolysieren, da hier durch Wassereinstrom ihr maximales Volumen erreicht
wird. Dabei platzen die Erythrozytenmembranen und setzen Hämoglobin mit
dem gesamten osmotischen Inhalt frei. Optisch lässt sich dieser Prozess be-
sonders leicht durch Messung des roten Farbstoffes Hämoglobin im zellfreien
Überstand quantifizieren. Die Hämolyse ist vollständig in einer Lösung mit
57 mM NaCl. Durch Bestimmung des Hämolysegrades bei verschiedenen NaCl-
Konzentrationen zwischen 57 und 83 mM erhält man die sogenannte osmoti-
sche Resistenzkurve der Erythrozyten.

Durch Zusatz einer Substanz kann diese normale osmotische Resistenzkurve


in Richtung auf höhere NaCl-Konzentrationen verschoben werden und damit
die normale osmotische Resistenz herabgesetzt werden. Dieser Effekt wird als
ein toxisches Merkmal gewertet. Außerdem reagieren Erythrozyten sehr emp-
findlich mit Hämolyse auf pH-Veränderungen zum Sauren hin, sie tolerieren
nur pH-Werte bis zu etwa pH 6. Der toxische Mechanismus beruht dabei auf
einer Schädigung der Membran und zwar entweder der Lipidbarriere (Mem-
brananteil 43 % Lipide) oder der Proteine (Membrananteil 49 % Proteine).
Grundsätzlich kann zwischen einer unspezifischen Zerstörung der Membran-
doppelschicht und einer mehr selektiven Änderung der Membranpermeabiliät,
die durch die Funktion der Membranproteine bedingt ist, unterschieden wer-
den.

Betrachtet man auf einer Langzeitskala das Verhalten der Erythrozyten in einer
isotonischen NaCl-Lösung, so registriert man eine langsame Volumenzunahme,
die schließlich auch zur Hämolyse führt. Diese Art der Hämolyse hat Wilbrandt
nach ihrem Mechanismus als kolloidosmotische Hämolyse“ bezeichnet. In

Kapitel 2.2.3 wurde der kolloidosmotische Druck der Plasmaproteine und die
daraus resultierenden Flüssigkeitsbewegungen in den Kapillaren besprochen.
Aus dem hohen Hämoglobingehalt der Erythrozyten, der etwa einer Konzen-
tration von 5 mM entspricht, ergibt sich ein kolloidosmotischer Druck von etwa
85 mm Hg. Das ist das 3,4-fache des osmotischen Drucks der Plasmaproteine.
Diese Berechnung zeigt, dass es eine entsprechende Flüssigkeitsbewegung in
die Erythrozyten geben muss, die eigentlich zum Schwellen der Zellen und
schließlich zur Hämolyse führt. Da dies im lebenden Organismus nicht ein-
tritt, kann man davon ausgehen, dass es einen Mechanismus gibt, der diesen
kolloidosmotischen Druck kompensiert.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 139

3.5.3.2 Die Na+ -K+ -ATPase

Der Mechanismus des osmotischen Druckausgleichs ist mit dem aktiven Trans-
port von Kalium- und Natriumionen verbunden. Im Jahre 1957 entdeckte
Jens Skou in Membranpräparationen von Krebsnerven ein Enzym, das ATP
(Adenosintriphosphat) in ADP (Adenosindiphosphat) und Pi (anorganisches
Phosphat) spaltet, wenn gleichzeitig Natrium-, Kalium- und Magnesium-Ionen
anwesend sind. Seither wird dieses in fast allen Zellmembranen und auch im
menschlichen Erythrozyten vorkommende Enzym Na+ -K+ -ATPase genannt:

ATPase
ATP + H2O ADP + Pi + H+
Na+, K+, Mg++

Dieses Transmembran-Protein besteht aus drei Untereinheiten, einer a-Unter-


einheit von 110 kD, auf der sich die katalytische Aktivität und die Bindungs-
stellen für die genannten Kationen befinden, einer glycosylierten b-Untereinheit
mit 55 kD und einer g-Untereinheit mit nur 10 kD. Die wahrscheinliche Zusam-
mensetzung des Komplexes ist a2 b2 g. Das Enzym ist für den hohen Kalium-
gehalt von etwa 140 bis 150 mM in den meisten Zellen gegenüber nur 4 bis
5 mM in der Außenlösung verantwortlich. Gleichzeitig liefert es eine geringe
Natriumkonzentration von 10 bis 15 mM in den Zellen, während außen etwa
150 mM Natrium anstehen. Die Transporteigenschaften des Enzyms und der
Reaktionsablauf wurden hauptsächlich an Erythrozyten bestimmt. Dabei er-
gab sich folgende Gesamtstöchiometrie der Na+ -K+ -ATPase-Reaktion:

3Na+ +
Zelle + 2KPlasma + ATP

 3Na+ +
Plasma + 2KZelle + ADP + Pi

Es werden 3 Natrium-Ionen vom Zellinneren nach außen transportiert, dagegen


nur 2 Kalium-Ionen vom Außenmedium in das Zellinnere überführt. Für diesen
Transportzyklus wird ein ATP-Molekül verbraucht.
Es handelt sich also bei dieser Membranpumpe um einen elektrogenen Trans-
porter, bei dem drei positive Ladungen die Zelle verlassen, während zwei
eintreten. Neben dem elektrochemischen Potentialgradienten bildet sich ein
osmotisch wirksamer Konzentrationsunterschied an Kationen aus. Der asym-
metrische Transport der Na+ -K+ -ATPase kompensiert den durch das Hämo-
globin bedingten kolloidosmotischen Wassereinstrom und erlaubt somit eine
osmotische Regulation des Wassergehaltes in den Erythrozyten und ebenso in
anderen Zellen.
Der elektrochemische Potentialgradient, der durch die Na+ -K+ -ATPase
erzeugt wird, ist z. B. für die elektrische Erregung von Nervenzellen verant-
140 Kapitel 3 Toxikodynamik

wortlich und dient als Triebkraft für sekundäre Transportprozesse, die an einen
Na+ -Gradienten gekoppelt sind, wie z. B. der Aminosäurentransport und der
Glucosetransport im Darm. Für alle diese Zellen gilt, dass sie einen großen
Anteil des von ihnen produzierten ATP zur Aufrechterhaltung der Kalium-
und Natriumgradienten benötigen.
Die große Verbreitung bei fast allen Zellen und die funktionelle Bedeutung der
Na+ -K+ -ATPase machen deutlich, dass eine toxische Schädigung des Enzyms
weitreichende Folgen haben muss. Bei den Pfeilgiften wurden die sehr giftigen
Glycoside Ouabain und Strophanthus kombe erwähnt, die zu den Herzgiften
gehören. In Ostafrika wurde der eingedickte Extrakt dieser Gifte auf Pfeil- und
Speerspitzen aufgetragen und bewirkte, dass sogar bei größeren verwundeten
Tieren wie Flusspferden oder Elefanten die Herztätigkeit schnell abnahm und
der Herzmuskel in kontrahiertem Zustand (Kontraktur) stehen blieb.
Der Wirkungsmechanismus der Herzglycoside auf die Na+ -K+ -ATPase wur-
de 1957 von H. J. Schatzmann am Erythrozyten aufgeklärt. Die Herzglycoside
binden an der Außenseite der Erythrozytenmembran an die a-Untereinheit der
Na+ -K+ -ATPase und hemmen die Dephosphorylierung des Enzyms. Die Bin-
dung der Herzglycoside an der Membran kann durch Kalium verdrängt werden.
Die eigentliche Wirkung der sogenannten Herzglycoside ist jedoch durch zwei
Mechanismen zu erklären. Der erste beruht auf der oben erwähnten Hemmung
der Na+ -K+ -ATPase der Herzmuskelzellen. Durch diese Hemmung sinkt in der
Zelle die Kaliumkonzentration ab. Gleichzeitig steigt die Natriumkonzentrati-
on an. Der zweite Mechanismus bringt auf Grund des erhöhten Natriumgehalts
in der Zelle über einen Na+ -Ca2+ -Austauscher vermehrt Calcium in das Zell-
innere.
Infolge des ersten Mechanismus sinkt das auf der reduzierten Kaliumkonzen-
tration beruhende Membranpotential ab und ein unregelmäßiger Herzrhyth-
mus ist die Folge (Herzarrhythmie). Der zweite Mechanismus führt durch die
erhöhte Calciumkonzentration zum Tod, das Herz bleibt in Kontraktur stehen.
Die Herzglycoside werden in der Medizin als Medikamente eingesetzt, um die
Herzkraft bei Herzkranken zu steigern. Der Mechanismus ist der bei der Ver-
giftung beschriebene, nur wird die Dosis hier niedriger gewählt (Prinzip des
Paracelsus). Entscheidend ist beim Herzkranken die indirekte Steigerung der
Calciumkonzentration, welche die Herzkraft zunehmen lässt.
Eine andere Möglichkeit, die Na+ -K+ -ATPase zu hemmen, beruht auf der
blockierenden Wirkung von Schwermetallen wie Quecksilber- und Blei-
Ionen. Beim Quecksilber wie auch beim Blei steht die große Affinität der
Schwermetalle zu funktionellen SH-Gruppen im Vordergrund. In der Niere
ist die treibende Kraft für die aktive Natriumrückresorption im Nephron die
Na+ -K+ -ATPase. Die Kenntnis der harntreibenden Wirkung von Quecksilber
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 141

geht bereits auf Paracelsus zurück und wird unter anderen Wirkungen des
Quecksilbers mit einer Hemmung der Na+ -K+ -ATPase in der Niere in Verbin-
dung gebracht. 1924 wurden als harntreibende Medikamente organische Queck-
silberverbindungen eingesetzt, die heute wegen ihrer toxischen Wirkung nicht
mehr angewandt werden.
In neuerer Zeit stehen jedoch bei der Quecksilberdiurese die Aquaporine im
Vordergrund. Die Wasserkanäle im proximalen Anteil der Niere werden effektiv
durch Quecksilber blockiert (siehe Kapitel 4.2.5).
Ein weiteres Schwermetall-Ion, das den aktiven Natrium- und Kaliumtrans-
port mit hoher Affinität blockieren kann, ist das Vanadat-Ion. Die Chemie
dieses Ions in wässrigen Lösungen ist äußerst vielfältig durch Polymerisati-
on und Komplexbildung mit Hydroxyl-Ionen und anderen Verbindungen. Das
Vanadat-Ion ist ein Oxometallat des fünfwertigen Vanadiums. Es liegt im phy-
siologischen pH-Bereich unter 100 mM als VO− 3 -Anion (Metavanadat) vor, im
alkalischen Bereich vorwiegend als VO3− 4 -Anion (Orthovanadat). In der Bio-
chemie wird Vanadat als Hilfsmittel eingesetzt, um ATPasen zu klassifizieren.
Alle ATPasen, die phosphorylierte Zwischenverbindungen bilden, werden meist
schon durch Vanadat im mikromolaren Bereich gehemmt, z. B. Metallionen-
pumpen wie die Na+ -K+ -ATPase der Erythrozytenmembran.
Der Grund für diese Hemmung wird in der Ähnlichkeit der Anionen gese-
hen. Danach hat das Phosphatanion, PO3− 4 , chemische Ähnlichkeit mit dem
3−
Vanadat-Anion, VO4 . Mit diesem Modell wird die effektive Hemmwirkung
an der ATP-Phosphorylierungsstelle des Enzyms erklärt (Kapitel 4.1.7, Mi-
mikry). Im Gegensatz zu den Herzglycosiden, die an der Außenseite an der
a-Untereinheit des Enzyms anbinden, erfolgt die Reaktion mit Vanadat an der-
selben Untereinheit, jedoch an der Innenseite der Membran. Um beim intakten
Erythrozyten eine Wirkung auf die Transport-ATPasen zu erzielen, muss das
hydrophile Vanadat-Anion die Membran erst passieren können. Der Transport
des Vanadats in das Zellinnere führt uns zu einem anderen wichtigen Mem-
branprotein, dem Anionentransporter, der auch das Vanadat transportiert.

3.5.3.3 Der Anionentransporter

Das Stoffwechselendprodukt der meisten Substrate im Organismus ist CO2 . Es


fällt beim oxidativen Zitronensäure-Stoffwechselweg in den Mitochondrien in
besonders großen Mengen an. Pro Minute werden vom Menschen etwa 200 ml
CO2 gebildet und ausgeatmet. In der Stunde werden 12 Liter und am Tag 288
Liter CO2 ausgeschieden. Umgerechnet sind dies rund 13 mol CO2 pro Tag.
Bei körperlicher Arbeit kann die CO2 -Produktion bis auf 8000 ml pro Minute
ansteigen.
142 Kapitel 3 Toxikodynamik

Diese großen Mengen an CO2 können wegen ihrer viel zu geringen Löslichkeit
im Blut nicht als CO2 zu den Lungen transportiert werden. Im Blut gelöst ge-
langen etwa 8 % als CO2 , der größte Anteil von etwa 81 % als Hydrogencarbo-
nat, HCO−3 , und der Rest an Hämoglobin gebunden als Carbaminoverbindung
zur Lunge.
Das im Zellstoffwechsel gebildete CO2 diffundiert zunächst als physikalisch
gelöstes CO2 aus der Zelle und muss in gleicher Form den Zwischenzellraum
und die Gefäßwände passieren, um schließlich den Erythrozyten zu erreichen.
Die gekoppelten Transportvorgänge von CO2 und O2 sind in der Abbildung
3.11 schematisch wiedergegeben.
Erst in den Erythrozyten wird aus CO2 und H2 O das H2 CO3 gebildet, das
sofort entsprechend dem Dissoziationsgleichgewicht in das Anion HCO− 3 und
ein Proton dissoziiert. Die Reaktion wird im Erythrozyten durch die in großer
Menge vorhandene Carboanhydrase, ein sehr wirksames zinkhaltiges Enzym,
katalysiert (siehe Kapitel 4). Das Proton, das bei dieser Reaktion entsteht, wird
hauptsächlich von Hämoglobin unter O2 -Abgabe gepuffert. An dieser Stelle ist,
wie auch beim umgekehrten Effekt in der Lunge, der O2 -Transport mit dem
CO2 -Transport gekoppelt.

Abbildung 3.11 Schema des CO2 - und des O2 -Transports durch die Erythrozyten. Die Ery-
throzyten sind entsprechend ihrer Form als bikonkave Scheibchen wiedergegeben, mit A ist
der Anionentransporter, mit CA die Carboanhydrase und mit Hb das Hämoglobin bezeichnet.

Das Hydrogencarbonat-Anion im Erythrozyten wird durch den Anionen-


transporter in der Membran gegen ein Chlorid-Anion ausgetauscht, bis auf
beiden Seiten der Membran nahezu gleiche Konzentrationen vorhanden sind.
Der umgekehrte Vorgang erfolgt in der Lunge. Durch das Abatmen des CO2 ,
entsprechend dem CO2 -Gradienten in der Lunge, liefert die Carboanhydrase
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 143

aus Hydrogencarbonat-Anion und einem Proton, vom Hämoglobin, das CO2


ständig nach. Die verminderte Hydrogencarbonatkonzentration innen wird
durch den Anionentransporter sehr schnell ausgeglichen, indem jetzt ein Hydro-
gencarbonat-Anion im Austausch gegen ein Chlorid-Anion in die Zelle eintritt.
Durch die Protonenabgabe des Hämoglobins in der Lunge wird gleichzeitig die
Affinität des Hämoglobins für O2 erhöht.
Der Vorgang des Hydrogencarbonat-Chlorid-Austausches muss mit großer Ge-
schwindigkeit vonstatten gehen, da die Durchflusszeit der Erythrozyten durch
die Lunge in Ruhe nur 0,7 Sekunden beträgt und bei Arbeit sogar auf 0,3
Sekunden verkürzt ist. Dieser sehr effiziente Transportprozess wurde bereits
im Jahre 1874 von dem Marburger Physiologen Hermann Nasse entdeckt und
wird darum heute als Nasse-shift“ bezeichnet.

Von Hermann Nasses Entdeckung bis zur Auffindung des Transportproteins
durch die Forschergruppe um Aser Rothstein in Toronto mussten fast 100
Jahre vergehen, bis der Anionentransporter als ein 96 kD Protein in der Ery-
throzytenmembran identifiziert werden konnte. Auf Grund seiner großen phy-
siologischen Bedeutung macht dieses Protein einen sehr großen Anteil der ge-
samten Membranproteine mit 20 bis 30 % aus. In der Membran eines einzelnen
Erythrozyten befinden sich etwa 1, 2 · 106 Anionentransporter.
Für die Toxikologie ist dieses Protein deshalb wichtig, weil es nicht nur die
physiologischen Anionen wie Hydrogencarbonat, Chlorid, Sulfat und Phos-
phat in die Zelle transportiert, sondern darüber hinaus für die Permeabilität
einer Reihe toxisch wirksamer Anionen wie Vanadat-, Chromat-, Arsenat- und
Superoxid-Anionen verantwortlich ist.
Das Vanadat-Anion kann auf diesem Wege die Innenseite der a-Untereinheit
der Na+ -K+ -ATPase erreichen und hier seinen hemmenden Einfluss ausüben.
In der Zwischenzeit hat man dieses Transportprotein auch in den Epithelzellen
der Niere, der Lunge und des Darmes sowie in Zellen von Leber, Gehirn, Herz
und in weißen Blutzellen gefunden. Es ist also nicht nur auf die Erythrozyten
beschränkt.
In Kapitel 2.5, Biotransformation wurde beschrieben, dass Vanadat-Ionen bei
ihrer Reduktion zu Vanadyl den Elektronenfluss zum Cytochrom P-450 unter-
brechen und so den Biotransformationsmechanismus unterbinden können. Der
Eintritt in die Leberzellen erfolgt sicher auch hier über den Anionentranspor-
ter.
Ein weiteres Beispiel für den Transport von toxischen Anionen bietet das VI-
wertige Chromat-Anion, CrO2− 4 . Sein Eintritt in die Erythrozyten über den
Anionentransporter kann wie beim Vanadat-Anion durch spezifische Inhibito-
ren dieses Transportes nachgewiesen werden. Chrom(VI)-Verbindungen sind
144 Kapitel 3 Toxikodynamik

im allgemeinen 100 bis 1000 mal toxischer als die häufigeren Chrom(III)-
Verbindungen. Dies kann seine Ursache darin haben, dass Chrom(III)-Verbin-
dungen von intakten Zellen kaum aufgenommen werden können. Sind jedoch
die Chrom(VI)-Verbindungen in die Erythrozyten gelangt, so werden sie durch
den Stoffwechsel rasch zu Chrom(III)-Verbindungen reduziert und bleiben als
Kationen in der Zelle gefangen (siehe Kapitel 4.1.7, Mimikry). Ein gleicher
Mechanismus ist auch für Leberzellen beschrieben worden, hier scheint der
Cytochrom P-450-Stoffwechsel an der Umwandlung in das dreiwertige Chrom
beteiligt zu sein. Die Diskussion über die mögliche toxische und besonders
krebserregende Form ist noch nicht abgeschlossen, es erhärtet sich jedoch der
Verdacht, dass in die Zelle eingedrungenes Chrom(VI) bei seiner Reduktion
zu Chrom(III) reaktive Metabolite bildet, die DNA-Addukte erzeugen. Eine
besondere Vorsicht ist im Umgang mit Chromtrioxid, Bleichromat, Calcium-
chromat, Strontiumchromat, Chrom(III)-chromat und Alkalichromaten wegen
ihrer krebsauslösenden Wirkung geboten.
Als ein letztes Beispiel für die Bedeutung des Anionentransporters beim Trans-
port von toxischen Substanzen soll das Arsenat-Anion, AsO3− 4 , dienen. Dieses
Ion besitzt wie das Vanadat eine Ähnlichkeit mit dem Phosphat-Anion, PO3− 4 .
Das Arsenat-Anion benutzt ebenfalls den Anionentransporter als Weg, um in
das Innere der Zelle zu gelangen. Biochemiker haben dieses Molekül eingesetzt,
um den ATP-Gehalt der Zelle schrittweise abzusenken. Ein wichtiger Angriffs-
punkt in der Zelle ist das Enzym Glycerinaldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase
(GAPDH). Dieses Enzym nimmt beim Abbau von Kohlenhydraten (Glyco-
lyse) eine Schlüsselstellung ein, indem es Glycerinaldehyd-3-phosphat zu 1,3-
Bisphosphoglycerat oxidiert und dabei ein anorganisches Phosphatmolekül Pi
in eine energiereiche Bindung überführt, das dann zur ATP-Gewinnung ge-
nutzt wird:

H O O O P
C GAPDH C +
+ H
H C OH + NAD + Pi H C OH +
NADH
H C O P H C O P
H H
Glycerinaldehyd-3-phosphat 1,3-Bisphosphoglycerat

In dieser Reaktion kann das Phosphat-Anion Pi nun durch Arsenat ersetzt wer-
den. Die entstehende Verbindung ist ein sehr labiles Acylarsenat, das schnell
zerfällt und somit die Substratkettenphosporylierung unterbricht.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 145

O
-
O O As O
CO
-

H C OH
H C O P
H
1-Arseno-3-phosphoglycerat
Die Strukturformel für 1-Arseno-3-phosphoglycerat veranschaulicht, dass durch
die Reaktion mit Arsenat kein 1,3-Bisphosphoglycerat zur ATP-Gewinnung
zur Verfügung steht. Aus der Phosphatgruppe im 3-Phosphoglycerat lässt sich
lediglich die zuvor aus ATP stammende Energie wieder zurückgewinnen.

3.5.3.4 Das Hämoglobin als Sauerstofftransporter

In dem Teubner-Studienbuch Bioanorganische Chemie“ von W. Kaim und B.



Schwederski wird z. B. die Chemie des Sauerstofftransports mittels Hämoglo-
bin ausführlich behandelt, so dass an dieser Stelle nur das für das unmittelbare
Verständnis notwendige Wissen von der Struktur und Funktion des Hämoglo-
bins vermittelt werden soll.
Der Sauerstoff wird durch Diffusion in die Erythrozyten aufgenommen und
dort an den Fe2+ -Porphyrin-Komplex des Hämoglobins gebunden. Die Wertig-
keit des Eisens ändert sich bei diesem Vorgang nicht. Das Hämoglobinmolekül
hat ein Molekulargewicht von 67 kD und besteht beim erwachsenen Menschen
aus 2 a- und 2 b-Ketten, die je einen Fe2+ -Porphyrin- oder Häm-Komplex
tragen.
Hämoglobin ist ein allosterisches Protein (siehe Kapitel 3.4.3.3), die Bindung
von Sauerstoff an Hämoglobin erfolgt kooperativ, d. h. ein gebundenes O2
erhöht die Affinität für das zweite O2 , zwei gebundene O2 steigern die Af-
finität für das dritte O2 usw., bis alle 4 Häm-Gruppen an den Untereinheiten
abgesättigt sind. Die Bindung von O2 an Hämoglobin wird durch H+ , CO2
und 2,3-Bisphosphoglycerat reguliert. Diese Regulatoren beeinflussen die Sau-
erstoffbindungseigenschaften des Hämoglobins räumlich weit entfernt von der
Sauerstoffbindungsstelle am Häm.
146 Kapitel 3 Toxikodynamik

Die Bindungsstellen von 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) zwischen den b-Ketten


des Hämoglobins sind in Abbildung 3.1 wiedergegeben (Bindungskräfte am
Rezeptor). Im Zusammenhang mit dem Hydrogencarbonat-Chlorid-Austausch
wurde schematisch die Bindung von H+ und CO2 an Hämoglobin dargestellt
(Abbildung 3.11). Bereits im Jahre 1904 wurde diese wichtige physiologische
Regulation von Christian Bohr, dem Vater des Atomphysikers Niels Bohr,
entdeckt und wird nach ihm als Bohr-Effekt“ bezeichnet. CO2 kann die

O2 -Bindung direkt unter reversibler Carbamatbildung mit den N-terminalen
Aminogruppen des Hämoglobins beeinflussen. Eine hohe CO2 -Konzentration
in den Blutkapillaren stimuliert dabei die Desoxygenierung des Hämoglobins.
Außerdem setzen die bei der Carbamatbildung gebildeten Protonen vermehrt
O2 aus der Hämoglobinbindung frei. Abbildung 3.12 zeigt graphisch die re-
gulativen Einflüsse des Bohr-Effektes und der BPG-Bindung auf die sigmoide
Sauerstoffdissoziationskurve von Hämoglobin in Abhängigkeit vom Sauerstoff-
partialdruck im Organismus.
2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) ist ein Zwischenprodukt der Glycolyse. Bei ei-
ner Inaktivierung des Glycolysestoffwechsels durch Abkühlen des Blutes oder
durch Glukosemangel sinkt die Konzentration des BPG ständig ab. Dies ge-
schieht zum Beispiel auch bei sehr langer Lagerzeit des Blutes. Ist schließlich
kein BPG mehr vorhanden, so verschiebt sich die Sauerstoffdissoziationskur-
ve nach links bis zu einem P50 -Wert von etwa 10 mm Hg. Dies bedeutet für
einen Patienten, der auf eine Bluttransfusion angewiesen ist, dass dieses Blut
nicht mehr als Sauerstofftransporter arbeiten kann und kaum noch Sauerstoff
freigibt.
Eine Reihe toxischer Substanzen kann den Sauerstofftransport am Hämoglobin
beeinflussen. Das Atemgift Kohlenmonoxid, CO, zeigt bezüglich Farbe, Geruch
und Geschmack keinerlei Warnwirkung. Seine Affinität zum Hämo- globin ist
etwa 200 bis 300fach größer als die des Sauerstoffs. Die Bindung am Hämo-
globin ist vollständig reversibel, so dass eine CO-freie Luft oder besser reiner
Sauerstoff die Vergiftungssymptome schnell zum Verschwinden bringt.
Der Erythrozyt ist oft starken oxidierenden Einflüssen des Sauerstoffs ausge-
setzt. Die Oxidation von Hämoglobin (Fe2+ ) zu Methämoglobin (Fe3+ ) oder
Hämiglobin führt zu einem vollständigen Verlust der Sauerstofftransportkapa-
zität. Dieser Prozess läuft in geringem Umfang ständig in den Erythrozyten
ab, man findet jedoch immer nur Spuren (unter 1 %) von Methämoglobin. Der
Grund hierfür ist ein effektives enzymatisches Reduktionssystem, nämlich die
Methämoglobin-Reduktase.
Diese Reduktase benötigt ein weiteres System zur Bereitstellung von Redukti-
onsequivalenten, besonders in Form von NADPH, die es aus dem Pentosephos-
phatstoffwechsel über die Glukose-6-phosphat-dehydrogenase bezieht. Men-
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 147

100
% Sauerstoffbindung ohne Lunge
BPG mit
BPG
Bohr-Effekt

50

P50 = 27 mm Hg

0
0 25 50 75 100
Kapillaren
pO2 in mm Hg
Abbildung 3.12 Sauerstoffdissoziationskurven von Hämoglobin in Abhängigkeit vom Sauer-
stoffpartialdruck (pO2 ). In der Lunge liegt der Sauerstoffpartialdruck bei 100 mm Hg und in
Kapillargefäßen von aktiven Muskelzellen bei etwa 20 mm Hg. Das bedeutet, dass hier etwa
70 % des gebundenen Sauerstoffs freigesetzt werden. Als P50 -Wert wird der pO2 -Wert be-
zeichnet, bei dem die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins 50 % beträgt. Normalerweise liegt
dieser Wert bei 27 mm Hg (Kurve mit Kreisen). Der Bohr-Effekt bewirkt, dass die Sauerstoff-
dissoziationskurve nach rechts verschoben wird (Kurve mit Quadraten). Für den arbeitenden
Muskel, der viel CO2 und H + -Ionen produziert, bedeutet dies eine bessere Sauerstoffversor-
gung. Eine besondere Rolle spielt das BPG bei der Sauerstoffbindung, es ist unter normalen
Bedingungen mit etwa 5 mM in der gleichen Konzentration wie Hämoglobin vorhanden. Oh-
ne BPG erfolgt eine starke Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve (Kurve mit
Dreiecken).

schen, die einen genetisch bedingten Mangel dieses Enzyms aufweisen, sind
sehr empfindlich gegenüber methämoglobinbildenden Giften.
Zu den sogenannten Methämoglobinbildnern gehören verschiedene Substanzen,
die man nach dem Mechanismus der Methämoglobinbildung in vier Gruppen,
nämlich in Oxidationsmittel, Substanzen mit gekoppelter Oxidation, autoka-
talytischer Oxidation und Wirkung durch Redoxfarbstoffe unterteilen kann
(siehe Kapitel 8.2.2, Methämoglobinbildner).
Als ein Beispiel für eine gekoppelte Oxidation sollen die Nitrite dienen. Wäh-
rend dieser Oxidation wird unter Bildung von Nitrat Sauerstoff auf Nitrit
148 Kapitel 3 Toxikodynamik

Tabelle 3.3 Verschiedene Methämoglobinbildner.

Oxidations- Substanzen mit Substanzen mit auto- Redoxfarbstoffe


mittel gekoppelter Oxidation katalytischer Oxidation
Chlorate Natrium-Kaliumnitrit Anilin Methylenblau
Perchlorate Nitrate, NO2 , NO Nitrobenzol Thionin
K3 [Fe(CN)6 ] Amylnitrit Phenylhydrazin Chinone
Nitroglycerin Nitrotoluole
Sulfonamide

übertragen und gleichzeitig Hämoglobin in Methämoglobin verwandelt (Kiese-


Zyklus). Die beiden letzten Prozesse benutzt das NADPH-NADP+ -Reduktase-
System, um indirekt verstärkt Methämoglobin zu bilden.

3.5.3.5 Der Erythrozytenstoffwechsel

Der Stoffwechsel des Erythrozyten zeigt insofern eine Besonderheit, als ATP
ausschließlich durch Glycolyse gebildet werden kann. Durch den Abbau von
Glukose zu Lactat und Pyruvat gewinnt der Erythrozyt nicht nur Energie in
Form von ATP, sondern auch Reduktionsäquivalente in Form von NADH und
NADPH.
Ein großer Teil des ATP wird für die Na+ -K+ -ATPase-Reaktion zur Kompen-
sation des kolloidosmotischen Drucks verwendet. Die Spezialisierung auf den
Sauerstoff- und CO2 -Transport hat es mit sich gebracht, dass der Erythrozyt
auch besonders anfällig für toxische Prozesse ist. Dabei birgt schon die Kombi-
nation einer hohen Sauerstoffkonzentration mit Eisen als Reaktionspartner ein
hohes toxisches Potential. Deshalb gibt es im Erythrozyten vier verschiedene
Oxidationsschutzmechanismen:
• Die Glutathion-Peroxidase
Eine Selen-haltige Peroxidase, die mit Glutathion (GSH) als Cosubstrat arbei-
tet, entgiftet H2 O2 (Wasserstoffperoxid) im Erythrozyten (Abbildung 3.13).
Bei dieser Peroxidase-Reaktion reagiert H2 O2 mit GSH und wird in 2H2 O
und Glutathiondisulfid (GSSG) überführt. In den Erythrozyten existiert ein
Glutathion-Reductase-Enzym, das unter Verbrauch von NADPH das GSSG in
2 GSH zurückverwandelt.
In den Erythrozyten hat das Tripeptid GSH eine Halbwertszeit von 3 bis 4
Tagen. Es wird dort nicht abgebaut, sondern an das Plasma abgegeben. Im
Erythrozyten erfolgt seine Synthese durch zwei jeweils ATP-abhängige Reak-
tionen aus den Aminosäuren Glutamat, Cystein und Glycin. Der Glutathion-
gehalt des Erythrozyten ist, wie in der Leber, sehr hoch und liegt bei einer
Konzentration von 5 bis 7 mM.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 149

Glucose

Hexokinase
+
Glucose-6--P NADP 2 GSH H2O 2

6--P--Gluconat NADPH GSSG 2 H2O


+
+H
Glucose-6- GSSG- GSH-
Phosphat- Reductase Peroxidase
Dehydrogenase

Abbildung 3.13 Entgiftung von Wasserstoffperoxid durch die Glutathionperoxidasereaktion.

• Die Methämoglobin-Reduktase
Im Erythrozyten entsteht Methämoglobin ständig durch die Anlagerung von
Sauerstoff an Hämoglobin. Dieser Vorgang wird als Autoxidation bezeich-
net und führt durch die Übernahme eines Elektrons von Eisen zur Bildung
von Methämoglobin und Superoxid-Anion. Die NADH-abhängige Methämo-
globinreductase bewirkt die Umwandlung von Methämoglobin in Hämoglobin,
während die folgende Superoxid-Dismutase das Superoxid-Anion entgiftet.

• Die Superoxid-Dismutase (Kupfer und Zink enthaltendes Enzym)


Dieses Enzym dient zur Entfernung von Superoxid-Anionen entsprechend der
folgenden Summenreaktion: 2O•−
2 + 2H → O2 + H2 O2 . Das toxisch wirkende
+

Wasserstoffperoxid wird durch Peroxidase oder Katalase abgebaut.

• Die Katalase
Die Katalase des Erythrozyten spaltet 2 H2 O2 in 2H2 O und O2 . Außer dieser
Entgiftungsreaktion oxidiert die Katalase auch metallisches Quecksilber (Hg◦ )
und giftet es hierdurch zu zweiwertigem Quecksilber (Hg2+ ).
Neben dem ausgeprägten Oxidationsschutz stellt die direkte Beeinflussung des
Sauerstofftransportes durch das 2,3-Bisphosphoglycerat (BPG) eine weitere
Besonderheit des Erythrozytenstoffwechsels dar. Erythrozyten führen die Syn-
these des BPG und seinen Abbau auf einem Nebenweg des Glycolysestoffwech-
150 Kapitel 3 Toxikodynamik

sels durch. Dabei katalysiert die Bisphosphoglycerat-Mutase die Übertragung


einer Phosphorylgruppe vom C(1)- auf das C(2)-Atom des 1,3-Bisphospho-
glycerats. Das so entstandene 2,3-Bisphosphoglycerat wird durch 2,3-Bisphos-
phoglycerat-Phosphatase zu 3-Phosphoglycerat hydrolysiert. Vanadat ver-
mindert das BPG (siehe Kapitel 4).
Viele toxische Prozesse sind in der Lage, den Erythrozytenstoffwechsel zu be-
einflussen. Besonders toxisch für den Erythrozyten ist das Blei (siehe Kapitel
4.2.1). Im Blut sind ca. 95 % des zirkulierenden Bleis an Erythrozyten ge-
bunden. Es kann in Form eines lipophilen Hydroxyl-Bicarbonat-Komplexes
verhältnismäßig schnell die Erythrozytenmembran so wie andere Membranen
passieren. Seine akut toxische Wirkung lässt sich durch den Abfall des ATP
in den Zellen nachweisen.
Besser als die akuten Intoxikationen durch Blei kennt man seine chronischen
Wirkungen auf die Hämoglobinsynthese. An verschiedenen Stellen wird die
Hämsynthese gehemmt, und die Vorstufen, z. B. die d-Aminolävulinsäure
(d-ALA), werden vermehrt im Harn ausgeschieden. Es tritt sekundär eine Ver-
minderung der Erythrozytenzahl und des Hämoglobins in den Erythrozyten
auf (Anämie, Blutarmut). Außerdem weisen die Zellen körnige Einschlüsse so-
wie Verformungen auf, und ihre Lebenszeit ist stark verkürzt.

3.5.4 Toxische Einflüsse auf das Nervensystem


Das Nervensystem sorgt für eine koordinative Steuerung der verschiedenen
Organsysteme und ist als Steuerzentrale in besonderem Maße für die bewus-
sten und unbewussten Abläufe im Organismus verantwortlich. Wegen dieser
zentralen Funktion sind toxische Einflüsse auf dieses empfindliche System von
besonderer Bedeutung.
Presst man einem Menschen ein mit Chloroform (Trichlormethan) getränktes
Tuch auf Mund und Nase, so verliert er das Bewusstsein (siehe Kapitel 5). Der
so narkotisierte Mensch ist im Gegensatz zum Schlafenden nicht aufweckbar.
Das Ausmaß der Narkosetiefe wird durch die Chloroform-Konzentration be-
stimmt. Am empfindlichsten reagiert die Hirnrinde. Die Folgen sind Schmerz-
losigkeit, Bewusstseinseinschränkung bis hin zur Bewusstlosigkeit. Die Steue-
rung der bewussten Abläufe im Organismus ist aufgehoben.
Bei weiterer Narkosetiefe werden die protektiven Reflexe wie Flucht-, Stell- und
Haltereflexe, Hustenreflex, Fremdkörperreiz am Auge etc. abgeschwächt oder
sie erlöschen, und die Muskelspannung erschlafft. Bis zu diesem Punkt sind alle
Prozesse reversibel, d. h. lässt die Chloroform-Konzentration im Organismus
nach, so erwacht der Betäubte aus der Narkose und kann sich an nichts mehr
erinnern (retrograde Amnesie, zurückliegender Erinnerungsverlust).
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 151

Ein Zuviel an Chloroform bewirkt, dass die lebenswichtigen Zentren im verlän-


gerten Mark (Medulla oblongata oder Nachhirn) gehemmt werden. Der Kreis-
lauf bricht zusammen, die Atmung hört auf, und der Vergiftete stirbt.
Chloroform wurde 1831 von Justus von Liebig hergestellt, gleichzeitig auch in
Frankreich und den USA. Der Arzt James Y. Simpson in Edinburgh benutzte
Chloroform 1847 in der Geburtshilfe, um z. B. Königin Victoria bei der Geburt
ihres achten Kindes die Schmerzen zu nehmen. Chloroform darf heute nicht
mehr als Narkosemittel eingesetzt werden, weil es unkontrollierbare toxische
Eigenschaften besitzt. Während der Narkose kann es zu einem plötzlichen Herz-
stillstand kommen und nach der Narkose schwere Leberschädigungen erzeugen.
Auch als Lösungsmittel verwendet kann Chloroform narkotische Erscheinungen
hervorrufen und zu schweren Vergiftungen von Leber- und Nierenparenchym
führen.
Der allgemeine Mechanismus der Narkose konnte trotz vieler Versuche bisher
nicht restlos aufgeklärt werden. Der Angriffspunkt der Narkotika ist jedoch
eindeutig die Zellmembran. Die Wirkung beruht darauf, dass die elektrische
Erregbarkeit der Nervenzellen abnimmt und schließlich vollkommen sistiert. So
ändern sich die an der Gehirnoberfläche registrierten elektrischen Potentiale,
die als Elektroencephalogramm (EEG) bezeichnet werden, bei einer Narkose
in typischer Weise:

1. Wachzustand: Vorherrschend desynchronisierte, schnellfrequente Wellen (10


bis 20 Hz) mit kleinen Amplituden (10 bis 20 mV).
2. Narkose: Synchronisierte, zunehmend langsame Wellen (ungefähr 3 Hz) mit
hoher Amplitude (bis 150 mA), ähnlich einem Schlaf-EEG.
3. Toxische Wirkung: burst-artige“ Wellenentstehung begleitet von ständiger

Abnahme der Amplitude bis zum vollständigen Ausbleiben der Potentiale.

Auf Grund der typischen EEG-Muster bei der Narkose wurden die an der
Gehirnoberfläche registrierten Potentiale zur Kontrolle der Narkosetiefe einge-
setzt.

3.5.4.1 Effekte auf die Nervenfasern

Die Beobachtung, dass die Erregbarkeit von Nerven auf elektrischen Vorgängen
beruht, geht auf Luigi Galvanis berühmt gewordene Kontraktionsexperimente
an Froschmuskel-Nerven-Präparaten durch Elektrizität im Jahr 1789 zurück.
Inzwischen kann man Nervenzellen und andere Zellen mit Mikroelektroden
anstechen und Potentialdifferenzen zwischen Innen- und Außenraum messen.
Nervenzellen besitzen unter Ruhebedingungen eine Potentialdifferenz über die
152 Kapitel 3 Toxikodynamik

Zellmembran hinweg, wobei sich das Zellinnere negativ gegenüber der Zellau-
ßenseite verhält. Übereinkunftsgemäß wird das sogenannte Ruhe-Membran-
Potential mit negativem Vorzeichen geschrieben. Die gemessene Potentialdif-
ferenz entspricht in erster Näherung dem Diffusionspotential, welches durch
den vorliegenden Kaliumkonzentrationsgradienten an der Membran hervorge-
rufen wird (Nernst´sches Diffusionspotential):

RT C2
EmV = ln
zF C1
4mMKalium außen
EKalium = 61 · log = − 94mV
140mMKalium innen

Dabei ist R die allgemeine Gaskonstante, T die absolute Temperatur, F die


Faradaykonstante und z die Wertigkeit des Ions. Für den Warmblüter wird
stets eine Temperatur von 37 °C angenommen und anstelle des natürlichen
Logarithmus erfolgt eine Umrechnung in den dekadischen Logarithmus.
Das Ruhepotential wird durch spannungsgesteuerte Kalium-Kanalproteine (Ta-
belle 3.1) bedingt, die am nicht erregten Nerv die Kalium-Ionen durch die
Membran entsprechend ihrem Konzentrationsgefälle diffundieren lassen.
Während der Erregung ändert sich die Kationenpermeabilität ganz erheblich,
und die Folge dieser Permeabilitätsänderung ist das eintretende Aktionspo-
tential. Dabei spielen spannungsgesteuerte Natriumkanäle (Tabelle 3.1) in der
Nervenmembran die wesentlichste Rolle. Durch einen depolarisierenden Reiz,
der von einer anderen Nervenzelle, z. B. vom ZNS, ausgeht oder von einer Re-
zeptorzelle von der Peripherie her kommt (z. B. Schmerzrezeptor), werden bei
Erreichen eines Schwellenpotentials von etwa -65 mV die Natriumkanäle in der
Membran für kurze Zeit (0,5 bis 1 ms) aktiviert und geöffnet. Bei einer gleich-
zeitigen Abnahme der Kaliumpermeabilität führt der plötzliche Einstrom von
Natrium-Ionen entsprechend dem Natriumkonzentrationsgradienten, der dem
Kaliumkonzentrationsgradienten etwa in umgekehrter Richtung entspricht, zu
einer Membran-Depolarisation. Das Natriumgleichgewichtspotential, das ent-
sprechend der Nernst´schen Gleichung

145mMNatrium außen
EKalium = 61 · log = + 66mV
12mMNatrium innen

beträgt, wird jedoch nicht erreicht, da potentialabhängig die Natriumkanäle


inaktiviert werden und die Kaliumpermeabilität bereits zunimmt, bis schließ-
lich das normale Ruhepotential wieder erreicht wird. Dieser Vorgang wird als
Repolarisation bezeichnet.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 153

Der einmal ausgelöste Reiz läuft entlang des Nerven mit konstanter Geschwin-
digkeit bis zu dessen Ende ab. Nerven sind keine elektrischen Kabel, die wie ein
Kupferdraht die Elektrizität mit 300 · 106 m pro Sekunde leiten. Der Vergleich
mit einer Zündschnur ist eher zutreffend. Tabelle 3.4 gibt eine Übersicht über
die verschiedenen Nervenfasertypen, ihre Durchmesser, Leitungsgeschwindig-
keiten, Spitzenpotentialdauer und die absoluten Refraktärperioden (Nichter-
regbarkeitszeiten).

Tabelle 3.4 Eigenschaften von Nervenfasertypen.

Fasertyp Faserdurch- Leitungsgeschwin- Spitzenpotential- Absolute Refrak-


messer (µm) digkeit (m/sec) dauer (ms) tärperiode (ms)
Aα 12 – 20 70 – 120
Aβ 5 – 12 30 – 70 0,4 – 0,5 0,4 – 1,0
Aγ 3–6 15 – 30
Aδ 2–5 12 – 30
B <3 3 – 50 1,2 1,2
C 0,4 – 1,2 0,5 – 2,0 2 2

Der Fasertyp Aa besitzt die größte Leitungsgeschwindigkeit mit maximal 120


Metern pro Sekunde oder 432 Kilometern pro Stunde. Diese ist offensichtlich
eine Funktion des Nervenfaserdurchmessers und der Isolierung der Nervenzelle
mit einer Mark- oder Myelinscheide. Der Typ A bezeichnet Nervenfasern, die
mit einer Myelinscheide umgeben sind (a, b, g und d sind Untergruppen), Typ
B haben eine dünne Myelinhülle und Typ C besitzen kein Myelin.
Die Myelinscheide, welche die Nervenfaser elektrisch isoliert, ist eine spiralför-
mige, sich 10 bis 150-mal um die Plasmamembran legende Lipiddoppelschicht.
Sie ist in Abständen von etwa 1 mm von engen, nichtmyelinisierten Lücken
unterbrochen, die man als Ranvier´sche Schnürringe bezeichnet. An die-
sen Schnürringen häufen sich die Kationenkanäle, und die Erregungsleitung
springt von Ring zu Ring. Diesen Vorgang nennt man saltatorische (lat. sal-
tare, springen) Erregungsleitung. Das Ergebnis ist eine etwa 20-mal schnellere
Erregungsleitung gegenüber einer myelinlosen Nervenfaser von sonst gleicher
Dimension. Die Refraktärzeit einer Nervenfaser ist insofern wichtig, als das
neue Aktionspotential nur in einem noch nicht erregten Gebiet weitergelei-
tet werden kann. Damit ist die Richtung der Erregungsausbreitung eindeutig
festgelegt.
Der spannungsgesteuerte Natriumkanal ist der Angriffspunkt vieler Nervengif-
te. Zu diesen gehört das Gift des Kugelfisches, das Tetrodotoxin (Rezepto-
ren). Der Kugelfisch, auch Fugu-Fisch genannt, ist eine japanische Delikatesse,
und die Entfernung des Gifts macht eine besondere Zubereitung erforderlich.
Bereits 10 ng von diesem Gift sind für eine Maus tödlich. Ein anderer spezifi-
154 Kapitel 3 Toxikodynamik

scher Blocker ist das Saxitoxin von marinen Dinoflagellaten (Flagellaten, Gei-
ßeltierchen). Dieses Gift wird von filtrierenden Muscheln so stark angereichert,
dass der Gehalt einer einzelnen Muschel an Saxitoxin etwa 50 Menschen töten
kann. Die spezifische Wechselwirkung dieser Substanzen mit den Proteinen des
Natriumkanals wurde zur Reinigung der Natriumkanalproteine benutzt.
Lange Zeit bevor diese spezifischen Gifte bekannt geworden sind, hat man
in der Medizin und in der Zahnmedizin die Blockade der Erregungsleitung
benutzt, um dem Patienten bei einem operativen Eingriff, wie z. B. beim
Vernähen einer Wunde oder beim Bohren in einem Zahn, Schmerzen zu er-
sparen. Dazu werden die Lokalanästhetika verwendet. Sie bewirken einen loka-
len, reversiblen toxischen Effekt an dem mit einer feinen Kanüle umspritzten
Nerven, nämlich am spannungsabhängigen Natriumkanal. Die Erfindung der
Lokalanästhesie geht auf das Jahr 1884 zurück, als man das Cocain, ein Alka-
loid aus Erythroxylon coca, zum erstenmal bei einer Augenoperation zu diesem
Zweck verwendete.
Im Jahre 1905 gelang es in vorbildlicher Weise, das wichtige Wirkungsprin-
zip der Lokalanästhesie von den unerwünschten suchtmachenden Effekten des
Cocains zu trennen und auf eine synthetische Verbindung zu übertragen. Die
erste Verbindung war das auch heute noch für die Lokalanästhesie benutzte
Procain.
Gegenüber der blockierenden Wirkung der Lokalanästhetika sind die verschie-
denen Nervenfasern unterschiedlich empfindlich. Dünne Nervenfasern werden
eher gehemmt als dicke. So wird verständlich, dass die dünnen, schmerzleiten-
den (sensiblen) C-Fasern mit einem Durchmesser von 0,4 bis 1,2 mm (Tabelle
3.4) vor den zu einem Erfolgsorgan, z. B. einem Muskel, ziehenden (motori-
schen) Aa-Fasern mit einem Durchmesser von 12 bis 20 mm ausfallen.
In Bezug auf das Gehirn kann man die Nervenbahnen in efferente (heraus-
fahrende) und afferente (zufahrende) Bahnen einteilen. Man spricht von mo-
torischen und sensorischen Nerven, je nachdem, ob diese Bahnen Bewegung
oder Empfindung vermitteln. Die zu den Drüsen ziehenden efferenten Bahnen
werden als sekretorisch bezeichnet. Eine weitere Gliederung ist die Untertei-
lung in das autonome oder vegetative, der Willkür nicht unterworfene, und das
somatische (willkürliche) Nervensystem.

3.5.4.2 Effekte am synaptischen Spalt

Die Erregungsübertragung durch die Nerven erfolgt nicht kontinuierlich, da


das Grundbauelement, das Neuron, mit seinen langen Fortsätzen, den Neuri-
ten, nur etwa 90 cm weit reicht. Die Übertragungsstelle von einer Nervenzelle
auf eine fortleitende andere Nervenzelle, sowie vom Nerven auf eine Muskel-
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 155

oder eine Drüsenzelle wird als Synapse (griechisch Verbindung) bezeichnet.


Während die Erregungsübertragung im Nerven durch das wellenförmige Fort-
schreiten des Aktionspotentials erfolgt, geschieht die Signalübertragung in der
Synapse durch chemisch definierte Botenstoffe oder Transmitter. Diese Sub-
stanzen haben eine Ventilfunktion, da sie die Erregung immer nur in einer
Richtung vom Nervenende ausgehend auf das Folgeorgan übertragen.
Die Entdeckung der Signalübertragung durch einen chemischen Botenstoff ge-
lang Otto Loewi im Jahre 1921. Dabei wurde ein isoliertes Froschherz benutzt,
das in einer geeigneten Nährlösung einige Stunden weiterschlagen kann. Das
isolierte Froschherz besaß außerdem noch den freipräparierten Nervenstrang
des Vagus.
Vagusnerven sind, neben den sympathischen Nerven, ein Teil des auto-
nomen Nervensystems, das die unwillkürliche Steuerung des Herzens be-
wirkt. Reizt man den Vagusnerv mittels einer Elektrode, so verlangsamt sich
der Herzschlag, und die Herzkraft nimmt ab, während eine Reizung des Sympa-
thikus eine Steigerung des Herzschlags und der Herzkraft verursachen würde.
Loewi entnahm dem Herzen alle 15 Minuten mit einer Pipette eine Probelösung,
nachdem er vorher den Vagusnerv elektrisch gereizt hatte. Die gesammelten
Probelösungen wurden nun später dem wieder normal schlagenden Froschher-
zen zugeführt. Die Wirkung der Probelösungen war die gleiche wie die einer
direkten elektrischen Reizung des Vagus, nämlich eine deutliche Abnahme der
Herzfrequenz und der Herzkraft. Loewi folgerte aus seinem Versuch, dass die
Nervenreizung einen Vagusstoff“ freisetzt, der die Herzaktion verlangsamt

und die Herzkraft senkt.
Dieser Vagusstoff“ konnte schon 1926 als Acetylcholin identifiziert wer-

den, und der zur gleichen Zeit bereits vermutete Acceleranz-Stoff des Frosch-
Sympathikus erwies sich später als Adrenalin. Bei den Säugetieren entdeckte
Ulf S. von Euler 1946 das Noradrenalin als den entsprechenden Transmitter.
In der Folgezeit wurden erst langsam, dann immer schneller weitere Transmit-
ter aufgefunden. In Tabelle 3.1 sind einige dieser Transmitter als Rezeptoren
aufgelistet.
Die Vesikel in den Nervenendigungen haben einen Durchmesser von ungefähr
40 nm und enthalten etwa 10 000 Acetylcholin-Moleküle. Wenn an der präsyn-
aptischen Membran (Membran der Nervenendigung) ein Aktionspotential an-
kommt, löst es dort die Öffnung von spannungsgesteuerten Calciumkanälen
(Rezeptoren, Tabelle 3.1) aus. Dies bewirkt wiederum eine Exocytose der Ve-
sikel, die gleichzeitig ihren Inhalt in den synaptischen Spalt freigeben. Der
Spalt ist etwa 50 nm breit, so dass die Acetylcholin-Moleküle in weniger als
100 ms zur postsynaptischen Membran (Membran der Erfolgszelle) diffundie-
ren können.
156 Kapitel 3 Toxikodynamik

Abbildung 3.14 Schema eines synaptischen Spalts. Acetylcholin (ACh) wird aus Cholin und
Acetyl-Coenzym A (AcCoA) synthetisiert und in Vesikeln gespeichert. Bei einem Nervenreiz
erfolgt eine Freisetzung in den synaptischen Spalt, wo Acetylcholin mit dem Rezeptor (R)
reagiert und durch die Acetylcholinesterase (AChE) in Acetat (Ac) und Cholin gespalten
wird.

Zur Auslösung eines wirksamen Signals am Rezeptor der postsynaptischen


Membran müssen mindestens 100 solcher Vesikel ihren Inhalt gleichzeitig frei-
gesetzt haben (etwa 106 Moleküle). Die Wirkung am Rezeptor wird durch
das sich in der Nachbarschaft befindende Enzym Acetylcholin-Esterase termi-
niert. Die Spaltprodukte Acetat und Cholin haben keine Affinität mehr zum
Rezeptor, und das Cholin wird durch einen eigenen Transportmechanismus
in die Nervenendstrukturen wieder aufgenommen. Dort erfolgt mit Acetyl-
Coenzym A aus dem Mitochondrienstoffwechsel und dem Enzym Cholinace-
tyltransferase eine Neusynthese von Acetylcholin, das schließlich in die Vesikel
aufgenommen wird.
Die Mechanismen der Acetylcholinfreisetzung, der Aufnahme von Cholin in die
Nervenendigungen sowie die Synthese des Acetylcholins und seine Speicherung
in den Vesikeln sind in den verschiedenen Acetylcholintransmissionssystemen
sehr ähnlich. So ist es auch verständlich, dass toxische Effekte auf diese Me-
chanismen die verschiedenen Systeme gleichzeitig betreffen.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 157

Das Botulinustoxin, ein Gemisch von acht Proteinen von 135 bis 170 kD,
gilt als das stärkste bekannte Gift (vgl. Tabelle 1.2). Es wird von dem anae-
roben Clostridium botulinum (anaerobes Bakterium) gebildet. Seine Wirkung
beruht darauf, dass es den Freisetzungsmechanismus des Acetylcholins aus
den Vesikeln in den synaptischen Spalt blockiert. Die Folge sind Acetylcholin-
mangelsymptome, die denen einer Atropinvergiftung sehr ähnlich sind: star-
ke Pupillenerweiterung, Doppelsehen, Sprach- und Schluckstörungen, Muskel-
schwäche, Atemnot und Krämpfe. Im Gegensatz zum Botulinustoxin bewirkt
das Gift der Schwarzen Witwe, einer Giftspinne, eine vermehrte Acetylcholin-
ausschüttung in den synaptischen Spalt auf Grund einer Calciummobilisation
in die Nervenendigungen, die eine vermehrte Vesikelentleerung zur Folge hat.
Die Synapsen, die Acetylcholin als Transmitter benutzen, unterscheiden sich
bezüglich der jeweilig unterschiedlichen Rezeptoren (Abbildung 3.15).

H3C CH3
+
H3C O N
C CH2 CH CH3
2
O
Acetylcholin

Muscarin- Ganglien- Muskel-


Rezeptor Rezeptor Rezeptor

H3C CH3 H3C H


H3C +
O N
+ N
CH3
CH2
N
HO H3C H
+
Muscarin N Nicotin

N
Nicotin

Abbildung 3.15 Acetylcholinrezeptoren mit ihren Wirksubstraten, nach denen die Benen-
nung in muskarinisch und nicotinisch erfolgt. Die muskarinischen Rezeptoren werden in
Untertypen von M1 bis M5 eingeteilt.
158 Kapitel 3 Toxikodynamik

Die erste Gruppe der Acetylcholinrezeptoren in der Abbildung 3.15 sind die
muskarinischen, die wegen ihrer Erregbarkeit durch Muskarin m-Acetylcholin-
rezeptoren genannt werden. Es gibt verschiedene Untertypen dieser Rezepto-
ren, welche die Bezeichnung M1 bis M5 , tragen.
Das Herz besitzt vorwiegend M2 -Rezeptoren, über welche die Herzverlang-
samung und die Abnahme der Herzkraft gesteuert wird. Die nicotinischen
Rezeptoren umfassen zwei Gruppen von n-Acetylcholinrezeptoren. Die erste
Ganglien-Gruppe hat Transmitterfunktion innerhalb der Nervenverbindung,
und die zweite ist für die Transmission vom Nerv auf die Skelettmuskeln ver-
antwortlich.
Eine Unterteilung der Acetylcholinrezeptoren ist auch, wie in Abbildung 3.16
gezeigt, durch relativ selektive Inhibitoren möglich.
Dabei hat Atropin, ein Alkaloid der Tollkirsche (Atropa belladonna), in nied-
riger Konzentration bevorzugt kompetitive Hemmwirkung auf die m-Acetyl-
cholinrezeptoren. Bereits Loewi benutzte es in seinem berühmt gewordenen
Herzversuch, um die Wirkung seines Vagusstoffes“ zu antagonisieren. Der

Name Atropin stammt von dem botanischen Systematiker Carl von Linné, der
Atropa belladonna nach der dritten griechischen Schicksalsgöttin, Atropos, be-
nannte. Die erste Parze (Göttin) ist Klotho, die Spinnerin des Lebensfadens,
die zweite Lachesis, die den Lebensfaden zuteilt und die dritte Atropos, die
Todes-Göttin, die den Lebensfaden abschneidet. 15 bis 20 Beeren der Toll-
kirsche können für einen Erwachsenen tödlich sein, für Kinder schon wenige
Beeren.
Die beiden nicotinischen n-Acetylcholinrezeptoren können durch ihre Inhibi-
toren unterschieden werden. Dabei ist Hexamethonium
(CH3 )3 N+ -(CH2 )6 -N+ (CH3 )3
ein starker Inhibitor für den nicotinischen Rezeptor in den Ganglien. Die soge-
nannte Polymethylen-Bismethonium-Verbindungsreihe, zu der auch das Hexa-
methonium gehört, wurde bei SAR-(structure activity relationship)-Studien
zur Charakterisierung von nicotinischen Rezeptoren erfolgreich verwendet:
(CH3 )3 N+ -(CH2 )n -N+ (CH3 )3 .
Die Anzahl der CH2 -Gruppen zwischen den beiden kationischen Stickstoffato-
men bestimmt die spezifische Wirkung am Rezeptor. Eine Verlängerung der
Zwischenglieder auf n = 10 (Dekamethonium) bewirkt, dass die Ganglien-
blockade verschwindet, dafür aber die Blockade der Muskelkontraktion einen
maximalen Wert erreicht.
Mit zehn CH2 -Zwischengliedern wird der gleiche molekulare Abstand zwischen
den beiden kationischen Zentren erreicht, der auch im Curare-Molekül zwi-
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 159

Acetylcholin

Muscarin- Ganglien- Muskel-


Rezeptor Rezeptor Rezeptor

O
CH3 H3C
N + CH3
H3C CH3 N
+ HO CH3
N
H CH3 O CH2
O

O C
C OH
H3C CH2
HOCH2 + O
N
H
H3C CH3 +
N
H3C
CH3
O
Atropin Hexamethonium Curare
(Inhibitor) (Inhibitor) (Inhibitor)

Abbildung 3.16 Muskarinische und nicotinische Acetylcholinrezeptoren mit den typischen


Inhibitoren Atropin (Muskarinrezeptor), Hexamethonium (Ganglien-Rezeptor, nicotinisch)
und Curare (Muskelrezeptor, nicotinisch).

schen den beiden Stickstoffatomen vorhanden ist. Dieser Abstand ist also für
das Anbinden am Rezeptor von großer Bedeutung. Curare hemmt mit hoher
Affinität die Wirkung des Acetylcholins an dem nicotinischen Rezeptor, der
im synaptischen Spalt an der postsynaptischen Membran des Muskels lokali-
siert ist. Soll die Wirkung von Curare aufgehoben werden, so muss für einen
Überschuss an Acetylcholin im synaptischen Spalt gesorgt werden.

3.5.4.3 Effekte auf die Acetylcholin-Esterase

Die Acetylcholin-Esterase hat nicht nur eine große toxikologische Bedeutung,


sie steht auch bei einigen medizinischen Behandlungen im Mittelpunkt. Wenn
160 Kapitel 3 Toxikodynamik

Acetylcholin den Rezeptor erregt hat, so muss es innerhalb kurzer Zeit abge-
baut werden, damit der Rezeptor wieder frei für die nächste Erregung wird
(Abbildung 3.14). Die Acetylcholin-Esterase, welche die Spaltung von Acetyl-
cholin in Acetat und Cholin bewirkt, wurde 1938 von David Nachmansohn
entdeckt.
Im synaptischen Spalt ist das Enzym von einem Netzwerk aus Kollagen und
Glycosaminoglycan an die postsynaptische Membran gebunden und kann ver-
hältnismäßig leicht vom benachbarten Acetylcholinrezeptor abgetrennt wer-
den. Eine hervorstechende Eigenschaft des Enzyms ist seine hohe Wechselzahl
von 25 000 s−1 , die bedeutet, dass ein Acetylcholinmolekül in 40 Mikrosekun-
den gespalten wird. Diese enorm hohe Wechselzahl ist notwendig, damit der
Acetylcholinrezeptor wieder erregt werden kann. Synapsen können bis etwa
1 000 Impulse pro Sekunde übermitteln, dies ist jedoch nur möglich, wenn die
Regenerationszeit einen Bruchteil einer Millisekunde beträgt.
Zur Aufrechterhaltung des normalen Tonus (Spannung) der glatten Muskula-
tur und der Skelettmuskulatur wird an den synaptischen Spalten der Muskeln,
vorwiegend durch zentral ausgelöste Erregungen, ständig Acetylcholin freige-
setzt und sofort von der Acetylcholin-Esterase gespalten.
Der katalytische Mechanismus der Acetylcholinesterase ist sehr ähnlich dem
der Peptidspaltung durch Chymotrypsin. Das Acetylcholin reagiert spezifisch
mit einem Serin-Rest am aktiven Zentrum des Enzyms (Abbildung 3.17).
Bei der Reaktion ensteht eine Acyl-Zwischenverbindung, die sehr schnell zu
Säure und Alkohol hydrolysiert wird. Das anionische Zentrum, welches das
positiv geladene Stickstoffatom des Acetylcholins bindet, ist die negativ gela-
dene Carboxyl-Gruppe der Aminosäure Asparagin oder Glutamin.
Hemmt man dieses Enzym und damit die Veresterung des Acetylcholins, so
steigt der Tonus der glatten Muskulatur und der Skelettmuskulatur an. Ei-
ne solche Hemmung bewirkt z. B. das Physostigmin, ein Alkaloid aus dem
Samen der Kalabarbohne.
Diese Früchte wurden auch als Gottesurteil-Bohnen bezeichnet, weil sie von
den Eingeborenen in Westafrika Schuldverdächtigen verabreicht wurden. Ein
tödlicher Ausgang nach der Einnahme bewies dann die Schuld.
Die größte Gefahr ist die Hemmung der Herzfunktion, wobei die Abnahme der
Frequenz und der Herzkraft im Vordergrund stehen. Es kommt weiter zu Pu-
pillenverengung, Ansteigen des Pulses und des Blutdrucks, Schweißausbruch,
Speichelsekretion, Tränensekretion, Muskelflattern, Erbrechen, Auftreten von
Koliken und Durchfällen sowie zu einer Kontraktion der Bronchien mit Atem-
not.
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 161

CH3 O
+
Bindung H3C N CH2 CH2 O C CH3
CH3
H O Ser
-
O O
C esteratisches
N Zentrum
Asp
anionisches His
HN
Zentrum

Acetylcholinesterase CH3
CH3 OH
+
H3C N CH2 CH2 O C
Umesterung OH
CH3 CH3
OH CH3
+
H3C N CH2 CH2 Ablösung Hydrolyse
O C
CH3 -
H O Ser
O Ser -
O O O O
C esteratisches C esteratisches
N Zentrum N Zentrum
Asp Asp
His anionisches His
anionisches HN HN
Zentrum Zentrum

Acetylcholinesterase Acetylcholinesterase

Abbildung 3.17 Vereinfachtes Schema der Esterspaltung des Acetylcholins durch die serin-
haltige Acetylcholin-Esterase. Das esteratisches Zentrum ist mit Serin (Ser) und Histidin
(His) als funktionelle Aminosäuren und dem anionischen Zentrum mit Asparagin (Asp)
dargestellt. Der Vorgang der Esterspaltung besteht in: Bindung des quartären Stickstoff an
das anionische Zentrum, Umesterung der Acetyl-Gruppe vom Cholin auf die OH-Gruppe
eines Serin-Restes im esteratischen Zentrum und Ablösung des Cholins sowie Hydrolse
des Serin-Essigsäurerestes.

Das Physostigmin ist ein Carbaminsäureester, es hemmt die Acetylcholin-


Esterase durch Carbamylierung des Serins im aktiven Zentrum. Das carba-
mylierte Enzym wird im Gegensatz zum sonst acetylierten Enzym nur sehr
langsam hydrolysiert.

3.5.4.4 Organische Phosphorsäureester (Alkylphosphate)

Die systematische Bearbeitung und gezielte Synthese organischer Phosphor-


verbindungen erfolgte 1934 durch G. Schrader (Firma Bayer, Elberfeld). Das
Ziel von Schrader war es, Insektizide zu finden, die für den menschlichen Or-
ganismus weitgehend unschädlich sein sollten. Zu den synthetisierten Sub-
162 Kapitel 3 Toxikodynamik

stanzen zählte unter anderen das Parathion (E 605: Diethyl-p-nitrophenyl-


thiophosphat). Für die Chemie der damaligen Zeit stellten organische Phos-
phorverbindungen keine Neuheit mehr dar, da man das TEPP (Tetraethyl-
pyrophosphat) schon seit 1854 kannte.
Die Untersuchungen lieferten jedoch auch Organophosphate, die für den mensch-
lichen Organismus hochtoxisch waren. 1936 wurde die Substanz Tabun und
1939 Sarin synthetisiert:

H5C2 O O CH3
P H3C CH O O
H3C N C N P
CH3 H3C F
Tabun Sarin

Ihre Bedeutung als Nervenkampfstoffe (Toxizitäts-Reihenfolge: Tabun < Sarin


< Soman < Substanz VX) ist bis in unsere Tage erhalten geblieben. Sie hem-
men die menschliche Acetylcholin-Esterase so wirksam, dass es durch Blockade
der acetylcholinergen Nervenimpulse zu Lähmungen und zum Tod durch Er-
sticken kommt.
Die Organophosphate haben wegen ihrer vielseitigen Anwendungsmöglichkei-
ten als Insektizide großes toxikologisches Interesse gefunden. Sie werden als
Kontaktinsektizide und Systeminsektizide im Pflanzenschutz in der Agrar-
und Forstwirtschaft (Nahrungsmittel und Faserkonservierung), zur Seuchen-
bekämpfung (Malaria), als Fungizide (Pilzgifte) und gegen Ekto- und Endo-
parasiten in der Veterinärmedizin eingesetzt (siehe Kapitel 6.1).
Gegenüber den chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen (DDT und anderen
Verbindungen) sind sie in zweierlei Hinsicht von Vorteil. Sie sind erstens bio-
logisch abbaubar und werden zweitens weder innerhalb noch außerhalb von
Lebewesen gespeichert. Es besteht jedoch der Nachteil, dass die große Toxi-
zität dieser Insektizide im Wesentlichen auch für den Menschen gilt, so dass
beim Umgang mit diesen Stoffen eine besondere Vorsicht geboten ist.
Es hat zwar Fortschritte bei der Synthese selektiver toxischer Substanzen ge-
geben, z. B. durch die Einführung selektiver Gruppen, die Ausnutzung ver-
schiedener Aufnahmemechanismen oder die Kenntnis über die unterschiedliche
Ausstattung mit inaktivierenden Enzymen. Trotz dieser Erfolge konnte man
jedoch schädliche Wirkungen auf den Menschen nicht umgehen.
Die Insektizid wirkenden Organophosphate zeichnen sich dadurch aus, dass
ein Phosphorsubstituent bei physiologischen pH-Werten besonders leicht hy-
3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 163

drolysiert. Allen organischen Phosphorsäure- und Phosphonsäureverbindun-


gen, summarisch auch Organophosphate genannt, ist eine Grundstruktur ge-
meinsam, die von G. Schrader schon 1937 erkannt worden war:

R O R = Alkyl-, Alkoxy- oder Dialkylamidgruppe


P
R X X = Säure-/Acylrest

Alkanoylgruppen sind als leicht abspaltbare Acylgruppen von Organophospha-


ten wichtig für die Reaktion mit allen serinhaltigen Enzymen. Toxikologisch
betrachtet ist die Reaktion mit der Acetylcholin-Esterase die bedeutsamste.
Nach Einlagerung in das aktive Zentrum der Acetylcholin-Esterase (siehe Ab-
bildung 3.17) wird die Acylgruppe abgespalten, und in bimolekularer Reaktion
geht der Phosphatrest eine Esterbindung mit dem Serin-OH des Enzyms ein.
Damit ist das Enzym nahezu irreversibel gehemmt. Das eigentliche Substrat
des Enzyms, das Acetylcholin, kann dann nicht mehr hydrolisiert werden und
reichert sich an den Rezeptoren an. Die Vergiftungssymptome erklären sich
aus der Anhäufung von freigesetztem Acetylcholin im synaptischen Spalt und
der Wirkung des Acetylcholins auf die verschiedenen Acetylcholinrezeptoren.
Während die Halbwertzeit der Zwischenverbindung der Acetylcholin-Esterase
mit Acetylcholin im Millisekundenbereich liegt, ist sie bei der Reaktion mit
Alkylphosphaten in der Größenordnung von Tagen anzusetzen. Das bedeutet,
daß die Acetylcholin-Esterase praktisch irreversibel inaktiviert wird und durch
Neusynthese ersetzt werden muß.
Die toxische Wirkung hängt von der Lipophilie der Organophosphate, von ihrer
Affinität zur Acetylcholin-Esterase und von der Hydrolysierbarkeit der aciden
Esterkomponente ab. Dabei steigt im allgemeinen die Aufnahme durch die
Haut oder durch die Schleimhäute des Magen-Darmtrakts mit zunehmender
Lipophilie an. Außerdem verbessert sie das Eindringen in die Synapsen an den
Nervenendigungen bis in das Gehirn hinein.
Die Affinität der Organophosphate zur Acetylcholin-Esterase steigt durch struk-
turelle und polare Eigenschaften, z. B. das Anbinden an die anionische Stelle
im aktiven Zentrum des Enzyms.
Die Abspaltung der aciden Esterkomponente ist entscheidend für die toxische
Wirkung. Eine zu frühe spontane Abspaltung vermindert die toxische Kon-
zentration. Phosphatester, die außer der aciden Esterkomponente noch eine
zweite leicht hydrolysierbare Gruppe besitzen, sind extrem toxisch und lassen
sich nicht vom Enzym abspalten. Beispiele hierfür sind chemische Kampfstoffe
wie Tabun, Sarin und Soman.
164 Kapitel 3 Toxikodynamik
LD50 (Ratte, mg/kg, oral)
C2H5O O
P
C2H5O O NO 2 3

Diethyl-4-nitrophenylphosphat (Paraxon)

Cl
CH3O S
P
CH3O O Br 4

Cl
Dimethyl-2,5,-dichlor-4-bromphenylthiophosphat (Bromophos)

C2H5O S
P
C2H5O O NO 2 10

Diethyl-4-nitrophenylthionophosphat (Parathion, E 605)

CH3O O
P
CH3O O CH CCl2 70
Dimethyl-2,2-dichlorvinylphosphat (Dichlorvos, DDVP)

H3CO S
P O H
H3CO S CH2 C N 300
CH3
Dimethyl-S-methyl-carbamoylmethyldithiophosphat (Dimethoat)

Abbildung 3.18 Beispiele für organische Phosphorsäureester mit LD50 -Werten.

Abbildung 3.18 zeigt einige der über 50 verschiedenen Organophosphate.


3.5 Ausgewählte Beispiele toxischer Mechanismen 165

O
+
N C N + HO P OR1
CH3 OR2

O
+
N CH N O P OR1
CH3 OR2
Pralidoxim

H OR 1
+
N C
N O P OR 2
CH3 - O
- -
O O O Ser O O
- O Ser
C esteratisches C esteratisches
N Zentrum N Zentrum
Asp Asp
His anionisches His
anionisches HN HN
Zentrum Zentrum

Acetylcholinesterase Acetylcholinesterase

Abbildung 3.19 Mechanismus der Dephosphorylierung des aktiven Zentrums der Acetylcholi-
nesterase durch nukleophilen Angriff von Pralidoxim. Das Phosphoryloxim zerfällt zum Nitril
und zur ungiftigen Dialkylphosphorsäure.

Eine Organophosphatvergiftung mit Parathion lässt sich durch frühzeitige Ga-


be von Pralidoxim (Oximtherapie) behandeln (Abbildung 3.19).
Teil II

Spezielle Toxikologie
4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle


Günter Fred Fuhrmann

4.1.1 Einführung
Eine erste Information über die Toxikologie der Schwermetalle und Metalloide
soll das Periodische System der Elemente in Abbildung 4.1 vermitteln.

Abbildung 4.1 Periodisches System der Elemente mit etwa 80 Metallen. Die Schwermetalle
mit ausgesprochen toxischen Wirkungen auf den Organismus, wie Cadmium, Quecksilber,
Thallium und Blei, sowie das Metalloid Arsen sind durch ein Kreuz gekennzeichnet. Die
Metalloide sind hellgrau markiert und der Bereich der Nichtmetalle ist dunkelgrau gefärbt.
Alle radioaktiven Metalle sind kursiv geschrieben.
170 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Unter den über 80 Metallen sind mit einem schwarzen Kreuz die Schwerme-
talle markiert, die im Organismus besonders toxisch wirksam sind. Unter den
Metalloiden interessiert in dieser Hinsicht besonders das Gift Arsen. Die bio-
logischen und toxischen Eigenschaften der Schwermetalle einschließlich Arsen
werden ausführlich behandelt.

4.1.2 Geschichte
Durch das natürliche Vorkommen von Schwermetallen in der Erdkruste und
im Wasser sind Lebewesen diesen Metallen immer ausgesetzt gewesen. So
führten wahrscheinlich hohe lokale Konzentrationen in bestimmten geogra-
phischen Arealen mit der Wasser- und Nahrungsaufnahme zu den ersten Ver-
giftungsfällen. Die Freisetzung von Schwermetallen aus Küchengebrauchsge-
genständen und Zivilisationseinrichtungen wie Bleirohren für die Wasserleitung
erhöhten dabei das natürliche Risiko einer Vergiftung.
Historisch gesehen ist Blei eines der am weitesten verbreiteten und am mei-
sten persistierenden Metalle, das vom Menschen entdeckt und nutzbar gemacht
wurde. Wahrscheinlich dienten primitive Öfen dazu, das Metall aus seinen Er-
zen zu schmelzen. Abbildung 4.2 zeigt einen historischen Ablauf der Bleipro-
duktion von 3000 v. Chr. an bis zur heutigen Zeit. Die große Zeitachse lässt
nur angedeutet erkennen, dass die Bleiproduktion in den letzten Jahren nicht
mehr zugenommen hat. Dies ist besonders dem Umstand zu verdanken, dass
Tetraethylblei nicht mehr als Antiklopfmittel dem Kraftfahrzeugbenzin zuge-
setzt wird. Außerdem wird Blei rezyklisiert. Damit ist der letzte steile Anstieg
der Bleiproduktion zum Stillstand gekommen.
Die leichte Gewinnung und Verarbeitung sowie seine Korrosionsbeständigkeit
hat Blei zu einem unentbehrlichen Gebrauchsmetall werden lassen. Nachweis-
bar benutzten die Ägypter bereits 7000 bis 5000 v. Chr. Bleiglasuren für ihre
Töpferwaren und die erste Bleifigur aus der oberägyptischen Stadt Abydos
wird auf das Jahr 3800 v. Chr. datiert. Die Ägypter verwendeten Blei als Hau-
er, Anker und Wassertiefenlot. Mit dem Kuppelationsverfahren lief die Blei-
und Silbergewinnung parallel. Bei der Kupellation (Treibarbeit) wird erhitztes
Rohmetall mit Luft behandelt, um das unedlere Blei vom Silber zu trennen.
Der erste steile Anstieg der Bleiproduktion war mit der Entwicklung der Grie-
chischen Staaten und des Römischen Reiches verbunden. Zur Blütezeit des
Römischen Reiches wurden Bleirohre als Hauswasserleitungen benutzt. Aber
nicht nur das Trinkwasser, sondern auch Kochgeschirre waren bleihaltig.
Eine alte griechische Vorschrift sah das Eindicken von Weintrauben in bleiüber-
zogenen Töpfen oder Bronzekesseln mit Bleiauskleidung vor. Der so über Feuer
eingedickte Weintraubensirup hatte den Namen Sapa und war über einen lan-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 171

7
10 10
Weltbleiproduktion in kg 4
10 9
5
6
3
10 8

2
10 7
1

10 6

10 5
-3000 -2000 -1000 0 1000 2000
Jahre vor und nach Chr.
Abbildung 4.2 Weltbleiproduktion. 1: Beginn der Kupellation (Treibearbeit zur Trennung
von Blei und Silber). 2: Erste Periode der Bronzezeit. 3: Das Münzwesen wird eingeführt,
mit der Bleiproduktion kommt es zur Koproduktion von Schmuck- und Münzmetallen (Sil-
ber und Gold). 4: Blüte des Römischen Reiches. 5: Niedergang des Römischen Reiches. 6:
Silberbergbau in Europa, spanische Ausbeutung von Blei-Silber-Minen in der Neuen Welt. 7:
Einführung des Tetraethylbleis in den USA, (nach Patterson et al. 1975).

gen Zeitraum haltbar. Die Konservierung des Sapa war dem hohen Gehalt an
herausgelöstem Bleiacetat (Bleizucker) zu verdanken, welches einen Befall mit
Bakterien und Pilzen wirksam verhinderte.
Errechnete Konzentrationen an Bleiacetat im Sapa sind äußerst hoch, sie wur-
den mit 0,2 bis 1 g/Liter angegeben. Da Sapa besonders von den Aristokraten
zum Süßen des Weines und der Speisen verwendet wurde, schätzt man bei
ihnen eine hohe nahrungsbedingte Zufuhr von etwa 250 mg Pb/Tag. Wesent-
lich gesünder lebten dagegen die Sklaven und Plebejer, die nur 15 bzw. 35 mg
Pb/Tag zu sich nahmen, was in etwa der heutigen täglichen Bleizufuhr mit
Nahrungsmitteln entspricht (USA 1980: 30 – 50 mg/Tag, Deutschland heute
zwischen 0,5 – 30 mg/Tag).
Der Untergang des Römischen Reiches ist von einigen Autoren mit der hohen
täglichen Bleizufuhr in Verbindung gebracht worden. Ein Teelöffel Sapa täglich
würde unweigerlich zu einer chronischen Bleivergiftung führen. Sapa wurde
nicht nur zum Süßen von Speisen, wie es aus dem Kochbuch des Apicius (Mar-
172 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

cus Gavius Apicius, ein sprichwörtlicher Schlemmer, der zur Zeit des Augustus
und Tiberius lebte) hervorgeht, sondern auch als Zusatz zur Verbesserung des
Geschmack des Weines eingesetzt.
Der geschätzte Genuss von etwa 1 bis 5 Liter Wein pro Tag bei den römischen
Aristokraten hat hauptsächlich zur Vergiftung beigetragen. Als deren Folge
traten subjektive Symptome der Bleivergiftung wie Schwächegefühl, Ap-
petitlosigkeit, Magendruck, Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit und Müdig-
keit auf. Objektive Symptome sind Abmagerung, Darmkoliken, schmerz-
hafte Verstopfung, Schwäche der Streckermuskulatur am Arm, Tremor (Zit-
tern), Blutarmut (Anämie), Impotenz beim Mann und Ausbleiben der monat-
lichen Regelblutung bei der Frau sowie Fehlgeburten. Dazu kommt es zu einer
Encephalopathia saturnina (Encephalopathia = Schädigung des Gehirns;
saturnus, alchimistische Bezeichnung für Blei) mit Leistungs-, Verhaltens-,
Wahrnehmungs- und Gedächtnisstörungen, Intelligenzminderung, sowie de-
pressiver und feindlicher Verhaltensweise. Vielleicht erklären solche mentalen
Schädigungen die Unmenschlichkeiten des als wahnsinnig bezeichneten Nero
und des grausamen Caligula. Nicht nur Fehlverhalten mit Fehlentscheidun-
gen bei den Aristokraten, sondern auch die bleibedingten Fertilitätsstörungen
haben wahrscheinlich ganz wesentlich zum Untergang des Römischen Reiches
beigetragen.
Zwischen 1550 bis 1750 wurden von den spanischen Eroberern die Blei-Silber-
Minen in Mexiko und Peru ausgebeutet, so dass die Bleiproduktion fast den
Höchststand zur Zeit des Römischen Reichs erreichte. Mit der industriellen
Revolution erfolgte dann ein weiterer steiler Anstieg.
Ein trauriges Ende nahm eine der bestausgerüsteten Schiffsforschungsreisen,
die durch eine neue Erfindung tödlich getroffen wurde. Im Mai 1845 startete
von Greenwich unter der erfahrenen Führung von Sir John Franklin eine Po-
larexpedition mit zwei Schiffen und 129 Mann Besatzung, um die sogenannte
Nordwestpassage zu erkunden. Bereits im ersten Winter starben drei Expedi-
tionsmitglieder im jugendlichen Alter von 20, 32 und 25 Jahren. Im Frühjahr
1848 mussten die beiden eisenbewehrten Schiffe im Eis der Antarktis aufgege-
ben werden und die Besatzung, eine ausgesuchte Elite der Royal Navy, kam
letztlich auf dem Weg zur rettenden Zivilisation ums Leben.
Es stellte sich zunächst so dar, dass durch die Erfindung der Blechdose die
mit Nahrungskonserven reichlich ausgestattete Polarexpedition problemlos für
einen langen Zeitraum versorgt worden war. Die Dosen wurden aus verzinn-
tem Eisenblech hergestellt, das um eine zylindrische Form gebogen wurde.
Beiderseits über die gesamte Höhe des Zylinders bekam die Dose eine dicke
Lötschicht. Beim Zusammensetzen der Dose wurde zuerst der Dosendeckel mit
dem Einfüllloch angebracht und von innen verlötet, dann wurde der Boden
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 173

angesetzt und durch das Einfüllloch


ebenfalls von innen verlötet. Schließlich
erhielten Deckel und Boden auch noch
außen eine Lötnaht. Nach dem Befüllen
der Dose mit Nahrungsmitteln wurde
diese in kochendes Wasser eingetaucht.
Die Einfüllöffnung wurde nach dem
Kochvorgang mit einem Deckel ver-
schlossen und verlötet. Das verwende-
te Lötmaterial bestand dabei zu mehr
als 90 % aus Blei und der Rest war
Zinn. Eine Beschreibung später aufge-
fundener Dosen ergab: Das Blei war

an den Lötstellen dick und schlampig
aufgebracht und war – wie geschmol-
zenes Kerzenwachs – an der Innenseite
der Dosen herabgelaufen“.

Der Kontakt des Bleis mit der eingeschlossenen Nahrung in den Dosen verur-
sachte bei der Besatzung eine Bleivergiftung. Beweise dafür waren die Haare
der drei jugendlichen Expeditionsmitglieder, die nach mehr als 140 Jahren aus
ihren Gräbern im Permafrost der Antarktis exhumiert worden waren. Die Tat-
sache, dass Blei in hoher Konzentration, um mehr als das Zwanzigfache über
dem Normalwert, in Scheitel- und Nackenhaaren gefunden worden war, bedeu-
tete, dass die Vergiftung erst auf der Reise eingetreten war und nicht schon
zu Hause erfolgt sein konnte. Man hat errechnet, dass jeder Expeditionsteil-
nehmer jeden zweiten Tag ein Pfund an konservierter Nahrung erhielt, was zu
einer ständigen erheblichen Aufnahme von Blei führte.
Die Bleivergiftung führte nicht nur zum Schwinden der Körperkräfte, son-
dern drückte sich auch in der zunehmenden Verzweiflung der Mannschaft
aus. Störungen des peripheren und zentralen Nervensystems, Appetitlosigkeit,
Müdigkeit, Schwäche und Koliken sind wie bereits erwähnt einige Symptome
der Bleivergiftung. Möglicherweise wirkte sich die Beeinträchtigung der Ge-
hirntätigkeit am verheerendsten aus. Erst 1890 wurde in England das Verlöten
von Konservendosen auf der Innenseite durch Gesetz verboten.
Eine weitere Erfindung in den USA verursachte sogar weltweite gesundheitliche
Folgen. Im Jahre 1921 erfand man in den Kettering Research Laboratories von
General Motors das Tetraethylblei als Antiklopfmittel bei Verbrennungsmo-
toren. Bereits 1923 wurde in Ohio das erste tetraethylbleihaltige Benzin ver-
kauft. Schon damals war bekannt, dass sowohl Tri- als auch Tetraethylbleiver-
bindungen außerordentlich toxisch sind. In den nächsten 17 Monaten erfolgten
174 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

bei der Produktion und beim Umgang mit diesem tetraethylbleihaltigen Ben-
zin 139 schwere Vergiftungen und 13 Todesfälle. Trotz der Giftigkeit nahm
die Produktion von 37 000 Tonnen im Jahre 1935 auf 279 000 Tonnen Tetra-
ethylblei im Jahre 1970 in den USA ständig zu. Der Gipfel in der gesamten
westlichen Welt von 377 000 Tonnen wurde im Jahre 1971 erreicht, das ent-
spricht etwa 10 % der Weltbleiproduktion pro Jahr (siehe auch Seite 208).
Das Tetraethylblei im Benzin zersetzt sich zwischen 100 und 200 °C. Durch
einen weiteren Zusatz von 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan im Benzin
wird das freigesetzte Blei in Bleihalide (PbBrCl) umgesetzt, um die Motoren
vom Blei zu reinigen. Aus dem Auspuff kommen dann kleinste Bleipartikel
heraus, die zu 60 % mit einem Durchmesser von weniger als 2 mm bis in die
kleinsten Lungenbläschen eindringen können. 1973 wurde in den USA festge-
stellt: 90 % des Bleis in der Luft stammt aus den Autoabgasen.
Tabelle 4.1 Anzeichen einer toxischen Bleibelastung anhand eines Blutbleispiegels von mehr
als 40 µg Blei/100 ml Blut bei Kindern (0 bis 5 Jahre), Frauen und Männern in verschie-
denen Gebieten der USA. Angaben in %, – = keine Angabe. Daten aus: Position on Health
Effects of Airborne Lead by the Environmental Protection Service USA 1972.

Orte in den USA Kinder [%] Frauen [%] Männer [%]


Baltimore 25,3 – 31,5 – –
Camden, New Jersey – 1,8 –
Chicago 2,0 – –
Illinois, 12 Städte 11,4 – 31,3 – –
New Haven 23,7 – 29,8 – –
Newark 38,9 – –
New York 20,2 – 45,5 – –
Norfolk, Virgina 22,7 – –
Oakland – 1,9 5,5
Philadelphia 34,0 0,7 2,3 – 4,5
Washington D. C. 22,0 – 39,2 – –
Cincinnati – – 2,9 – 6,7
Los Angeles – 3,3 – 4,4 0,6 – 5,2
Straßenanwohner – 1,8 –
Durchschnittswert 24,6 2,2 2,8

Tabelle 4.1 zeigt die dramatische Situation der Bleibelastung in den USA von
1972. Dies galt auch für andere Großstädte in der westlichen Welt. Bereits
bei 20 mg Blei/100 ml Blut ist die d-Aminolaevulinsäure-Dehydrase, ein Enzym
der Hämoglobinsynthese, zu etwa 50 % gehemmt. Die Bleibelastung gefährdet
Kinder in stärkerem Ausmaß als Erwachsene. Bei Kindern erfolgt neben der
Aufnahme von Blei durch die Lungen eine besonders hohe Aufnahme durch
den Darm. So nehmen Kinder zwischen 2 Monaten und 6 Jahren sogar bis 50 %
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 175

des Bleis aus dem Darm auf. Im Vergleich nimmt der Erwachsene nur 5 bis
10 % auf. Am stärksten betroffen vom Blei waren die Straßenkinder, die direkt
den Autoabgasen ausgesetzt waren. Die schwerwiegensten Folgen waren dabei
mentale Schäden, die zu Gedächtnis-, Konzentrations- und Leistungsschwäche
führten bis hin zur Enzephalopathie, welche bei Kindern eher auftritt als bei
Erwachsenen. Den ersten Berichten nach hatten bereits Blutbleikonzentratio-
nen zwischen 20 und 30 mg/100 ml einen negativen Einfluss auf den IQ, die
Lernfähigkeit und das Verhaltensmuster von Kindern.
Unter dem Druck amerikanischer Familien, ihre Kinder vor dem Blei zu schüt-
zen, wurde per Gesetz stufenweise das Tetraethylblei im Benzin von anfangs
2,65 g/Gallone (0,7 g/Liter) auf 0,58 g/Gallone (0,15 g/Liter) reduziert. Außer-
dem kam 1974 das erste Auto mit einem Platinkatalysator auf den Markt, das
kein Blei im Benzin mehr zuließ. 1976 mussten alle Neuwagen in den USA mit
einem Katalysator ausgerüstet werden. Diese Maßnahmen waren so effektiv,
dass mit der Absenkung des Bleis im Benzin eine signifikante Abnahme des
Durchschnittsbleigehaltes im Blut registriert wurde.
Abbildung 4.3 zeigt den parallelen Verlauf von Bleireduktion im Benzin und
dem durchschnittlichen Blutbleispiegel. Dies ist das bedeutende Ergebnis des
Second National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES II).

NHANES II ist representativ für die gesamte amerikanische Bevölkerung im
Alter zwischen 6 Monaten und 74 Jahren. In dem kurzen Zeitraum zwischen
1976 und 1980 wurde eine Absenkung des Blutbleispiegels von 15,8 auf 10 mg
Blei/100 ml Blut festgestellt.
Diese Untersuchungen lieferten den eindeutigen Beweis dafür, dass Tetraethyl-
blei im Benzin der Verbrennungsmotoren der wichtigste Verursacher der Blei-
vergiftung sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern ist.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1988 der Zusatz von Tetra-
ethylblei zum Benzin vollständig verboten. Von Mitte der siebziger Jahre bis
zum Jahre 2002 ist der durchschnittliche Blutbleispiegel von über 14 mg/100
ml auf unter 5 mg/100 ml gesunken. Bei Kindern, die nach dem Bleiverbot
geboren worden sind, liegt der Bleispiegel bei unter 3 mg/100 ml, so dass von
dieser Seite keine Defizite in der Intelligenzentwicklung im Kleinkindalter zu
erwarten sind.

4.1.3 Kreislauf der Metalle zwischen Land, Wasser, Luft und


Biosphäre
Bei der Verbreitung von Bleipartikeln in der Umwelt spielen die lokalen Wind-
verhältnisse neben der Verkehrsdichte eine große Rolle, wie eine Schwermetall-
176 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Abbildung 4.3 Auswirkungen der Bleireduzierung im Benzin und der Einführung bleifreien
Benzins auf den durchschnittlichen Bleigehalt des Blutes in mg Blei/100 ml. Durch diese
Maßnahmen wurde in der kurzen Zeitspanne von Februar 1976 bis Februar 1980 bei der
amerikanischen Bevölkerung der Bleispiegel im Blut um 37 % gesenkt (NHANES II).

untersuchung im industriearmen Stadtgebiet Marburg von 1979 zeigte (K. H.


Müller). Hier wurden Bleianreicherungen bis zu 1000 ppm im Oberboden, dem
zwanzigfachen des natürlichen Wertes im Ausgangsgestein, festgestellt.
Die Stadt liegt in einem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden engen Talein-
schnitt der Lahn, in dem Nordwest- und Südwestwinde vorherrschen. Die Tal-
lage fördert Temperaturinversionen und das stark gebremste Windfeld verur-
sachte eine große Belastung mit Bleipartikeln aus Benzinmotoren. Durch die
geographisch bedingten Luftströmungen wurden in Marburg besonders an sei-
ner Hanglage große Mengen Blei abgelagert.
Der Transport von Blei erfolgte jedoch nicht nur über kurze Distanzen, sondern
auch bis weit zu den Polkappen. Untersuchungen des Bleigehaltes in Schich-
tenfolgen von Bohrkernen, die in das Grönlandeis getrieben wurden, gaben
Auskunft über den Anstieg der Bleibelastung. 1969 stellten Murozomi et al.
fest, dass 800 v. Chr. die Bleikonzentration noch unter 0,0001 mg/kg Eis lag.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 177

Abbildung 4.4 Profilausschnitt aus dem Stadtbereich Marburg. Die schwarzen Säulen ge-
ben die gemessenen Bleispiegel in ppm (0,1 – 0,2 m Bodentiefe) und die offenen Säulen
die Anzahl der Kraftfahrzeuge/24 Stunden wieder. Die Bleispiegel korrelieren nicht mit der
Verkehrsdichte, sondern das lokale Windfeld ist entscheidend für die Bleianreicherung in
straßennahen Böden. Aus: K. H. Müller, Der Bleigehalt innerstädtischer Böden als Maß für
die Entsorgung von Kraftfahrzeug-Abgasen, Naturwissenschaften 66, 108–109, 1979.

Ein langsamer Anstieg auf 0,011 mg/kg konnte bis 1753 zu Beginn der indu-
striellen Revolution registriert werden, er verdreifachte sich jedoch bis 1815
und verdoppelte sich weiter bis zum Jahr 1933. Von 1933 bis 1965 stieg er
dann steil auf über 0,20 mg/kg an. Jahreszeitliche Schwankungen zeigten im
Winter etwa die doppelte Konzentration an Blei im Schnee als im Sommer.
Die Einführung des Tetraethylbleis wie auch seine Verbannung aus dem Benzin
spiegelte sich ebenfalls anhand der Bleiablagerung im Eis der Polkappen wider.
Dies zeigt, dass die Bleibelastung der Umwelt nicht nur im Blut der Menschen,
sondern sogar an weit entfernten Orten bedingt durch den atmosphärischen
Transport nachzuweisen ist.
Metalle werden als atmophil bezeichnet, wenn ihr Massentransport zum Meer
in der Atmosphäre größer ist als in den Flüssen. Zu solchen gehören die
B-Metalle (weiche Säuren, Klassifikation nach dem Konzept der harten und
weichen Säuren, Peason 1963) und Zwischenstufen zwischen weich und hart wie
178 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Abbildung 4.5 Anstieg der Bleibelastung im Grönlandschnee (aus M. Murozomi, T. J. Chow


and C. C. Patterson, Geochim. Cosmochim. Acta 33, 1247-1294, 1969).

Arsen, Antimon, Blei, Cadmium, Kupfer, Molybdän, Quecksilber und Silber.


Einige atmophile Metalle sind flüchtig wie Quecksilber oder ihre Metalloxide
haben tiefe Siedepunkte. Darüber hinaus können Arsen, Blei, Quecksilber und
Zinn nach ihrer Methylierung gasförmig in die Atmosphäre abgegeben werden.
In gasförmiger Form vorliegende Metalle werden im Regen gelöst und kehren
auf diesem Wege wieder zur Erde zurück. Dagegen werden Blei, Vanadium und
Zink nach Kondensation und Adsorption an Aerosolen mit den Niederschlägen
aus der Atmosphäre ausgewaschen.
Wenn der Massentransport von Metallen hingegen in den Flüssen größer ist
als in der Atmosphäre, so bezeichnet man sie als lithophile Metalle. Dazu
gehören z. B. Zwischenstufen und A-Metalle wie Aluminium, Chrom, Cobalt,
Mangan, Nickel, Titan und Vanadium.
Von der festen Erdoberfläche ausgehend werden über die Atmosphäre und
Hydrosphäre beträchtliche Mengen an Metallen transportiert. Erdoberfläche,
Luft und Wasser sind durch Emissionen und Immissionen verflochten. Die
Bewegungen der Metalle zwischen Land, Luft und Wasser werden daher als
globale Kreisläufe bezeichnet.
Für Quecksilber gilt wie für Blei, dass für die Zunahme in der Umwelt die
menschliche Aktivität verantwortlich ist. Ein exemplarisches Beispiel hierfür
ist die Untersuchung eines Bohrkernes im Lake Windermere in England durch
Aston et al. (Nature 241, 450–451, 1973). Die ungestörten Schichtenfolgen des
Bohrkernes aus einer industriefreien Gegend umfassen dabei den Zeitraum vom
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 179

Jahr 520 bis 1950. Die gemessenen Quecksilberkonzentrationen stiegen jeweils


in den Jahren 1400, 1870 und 1915 sprunghaft an. Der letzte Sprung auf über
1 ppm spiegelt dabei die massive Umweltverschmutzung des 20. Jahrhunderts
wider. Im Quecksilberkreislauf zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre wer-
den ca. 60 000 Tonnen Quecksilber pro Jahr bewegt.
Ein weiterer Transportweg der Metalle erfolgt in den Lebewesen selbst, in
der sogenannten Biosphäre. Wie kompliziert dieser Weg sein kann, soll ein
vereinfachtes Schema des Kreislaufes des Quecksilbers in der Umwelt zeigen
(Abbildung 4.6).

CH4, C2H6 Nahrungskette


Licht
zum
Luft Strahlung
Hg 0 Menschen
(CH3)2Hg
Insekten, Vögel Säugetiere

Fische, Schalentiere

Wasser Plankton etc.


Plankton etc.
+
CH3Hg CH3S HgCH3

(CH3)2Hg CH3S HgCH3


Hg 0 CH3Hg
+

bakterielle
Sediment Aktivität
Hg++

Abbildung 4.6 Quecksilberkreislauf. Das Hg ++ im Sediment stammt aus der Natur und ist
auf anthropogenen Eintrag zurückzuführen. Durch bakterielle und abiotische Aktivitäten im
Sediment wird Hg ++ in organische Quecksilberverbindungen (Methyl- und Dimethylquecksil-
ber sowie Dimethylquecksilbersulfid) umgewandelt. Diese Verbindungen zeichnen sich durch
eine hohe Lipophilie, Flüchtigkeit und große Toxizität aus. Die Lipophilie ist für den Trans-
port in der Nahrungskette verantwortlich und die hohe Flüchtigkeit für den Eintritt in die
Atmosphäre.

Besonders verhängnisvoll wirkt sich jedoch die im aquatischen Milieu erfolgen-


de Akkumulation des Quecksilbers in der Nahrungskette aus. Dabei
ist die Methylierung des Hg++ die entscheidende chemische Reaktion zu sei-
ner Mobilisierung. Sie verleiht dem Molekül lipophile Eigenschaften, die zur
Permeation in die Zellen, zur Akkumulation in den Membranen und zur Bin-
180 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

dung an Sulfhydrylgruppen von Proteinen führt. Die Methylierung kann so-


wohl durch Bakterien als auch abiotisch ablaufen. So haben z. B. Methylzinn-
Verbindungen und Huminstoffe das Potenzial zur abiotischen Methylierung
von Quecksilber.
In Gewässern erfolgt die Aufnahme von Methylquecksilber durch das Phyto-
plankton und höhere Wasserpflanzen. Von diesen gelangt es zum Zooplankton,
Muscheln, Schnecken, Insektenlarven etc. Sodann gelangt Methylquecksilber in
die sekundären und tertiären Konsumenten, wie kleinere und größere Fische
und kleine Fische fressende Vögel. Die obersten Glieder dieser Nahrungsket-
te sind die größeren Raubtiere, die großen Raubfische, große Fische fressende
Vögel, Säugetiere und der Mensch. Hier erreicht die aquatische Nahrungskette
terrestrische Glieder.
Die Anreicherung von methyliertem Quecksilber ist spezies- und altersabhängig.
Als Anreicherungsfaktoren im aquatischen Milieu sind Werte zwischen 100 und
1000 festgestellt worden, während innerhalb der terrestrischen Nahrungskette
Faktoren von 2 bis 5 vorkommen. Unter den Raubfischen ist beim Hecht ein
Anreichungsfaktor von 3000 ermittelt worden. Die nahrungsbedingte Quecksil-
berbelastung des Menschen stammt vorwiegend aus dem Verzehr von Fischen
oder anderen Wassertieren.
Eine traurige Berühmtheit erlangte die Verbindungsklasse methylierter Queck-
silberverbindungen 1952 bei der Katastrophe von Minamata in Japan, bei der
52 Menschen ums Leben kamen. Gestorben sind sie an einer Fischvergiftung,
die auf eine hohe Konzentration an CH3 HgSCH3 in den Fischen zurückgeführt
werden konnte. Verursacht hatte die Vergiftung eine nahegelegene chemische
Fabrik, die Hg(II)-Salze ungeklärt in das Wasser abgelassen hatte.
Die Giftigkeit der Methylquecksilberverbindungen ist sehr groß, ganz außer-
ordentlich aber bei der Dimethylquecksilber-Verbindung. Um seine enorme
Giftigkeit zu demonstrieren, soll der fatale Unfall einer Chemikerin bei der
Herstellung eines Dimethylquecksilber-Standards für die kernmagnetische Re-
sonanzspektroskopie beschrieben werden (Mercury poisoning fatal to chemist,
Chem. Eng. News 75, 11–12, 1997).
Beim Abfüllen unter dem Abzug wurden zunächst unbemerkt ein oder mehrere
Tropfen Dimethylquecksilber auf die Latexhandschuhe getropft. Sie penetrier-
ten sofort durch die Handschuhe und gelangten in den Blutstrom. Nach 3
Monaten traten die ersten Symptome der Vergiftung mit Schwindelanfällen
und Erbrechen auf, nach 5 Monaten konnte die Balance nicht mehr gehal-
ten werden, die Vergiftete hatte Sprachstörungen, verlor die Sehkraft und das
Gehör. Wenig später fiel sie ins Koma und starb an den Folgen der Vergif-
tung. Es gibt leider keine rettende Therapie mehr, wenn bereits die Symptome
eingesetzt haben (siehe auch Seite 236).
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 181

4.1.4 Ausnutzung der toxischen Wirkung von Schwermetallen


und Metalloiden
Die tödliche Wirkung von bestimmten Schwermetallen und Metalloiden wur-
de in der Vergangenheit vielfältig von Giftmischern ausgenutzt. Aus einer
aristotelischen Bemerkung um das Jahr 340 v. Chr. geht hervor, dass man in
dieser Zeit den toxischen Charakter des Arsens verhältnismäßig gut kannte.
Aber erst als aus dem natürlich vorkommenden Auripigment das weiße Ar-
senik durch Sublimation gewonnen werden konnte, steigerte man damit ganz
wesentlich seine Giftigkeit. So wurde um das Jahr 900 die Giftwirkung des Ar-
seniks der des tödlichen Quecksilbers“ gleichgestellt und man bemerkte dazu

nur ist der Arsenik sehr tödlich und von seinen nachteiligen Wirkungen kann

man nicht gerettet werden“.
Trotz der ausgesprochenen Giftigkeit wurde Arsenik dennoch ärztlich verord-
net. Man benutzte Arsenik in medizinischen Lösungen zur Enthaarung, zum
Reinigen von Wunden, wie auch gegen Läusebefall und Krätze. So leicht wie es
für die Vernichtung von Ratten und Mäusen zur Verfügung stand, so bequem
konnte es auch zum Giftmord verwendet werden. Erst der chemische Nach-
weis des Arsens, im Jahre 1836 durch James Marsh eingeführt, hemmte seinen
Missbrauch.
Die Geschichte der Chemotherapie ist eng mit Metallverbindungen ver-
bunden. Bereits vor mehr als 500 Jahren benutzte Paracelsus sehr erfolg-
reich Quecksilber bei der Syphilis-Therapie. Bei dieser Erkrankung wurde oft
Schweinefett mit 30 % metallischem Quecksilber als graue Salbe (Unguentum
cinereum) oder sogenannte Quecksilberkuren angewandt, solange, bis schwere
Vergiftungssymptome wie Speichelfluss oder Durchfälle beim Patienten auftra-
ten. Die Wirkung war sowohl gegen die Erreger als auch gegen den Patienten
gerichtet. Dagegen erfand Paul Ehrlich im Jahre 1910 mit einer organischen
Metallverbindung, dem Arsphenamin (Salvarsan, Dioxydiamidoarsenobenzol),
das Prinzip der selektiven Toxizität. Er wollte, wie er es selbst ausdrückte,
chemisch auf die Bakterien zielen, ohne den Menschen zu treffen. Dieses Ziel
wird heute ohne Schwermetalle mit selektiver wirkenden modernen Antibiotika
erreicht.
Trotz ihrer Giftigkeit sind bis heute immer noch Quecksilber-haltige Desinfek-
tionsmittel im Gebrauch wie z. B. Mercurochrom (siehe auch Abbildung 4.21).
Als Schwermetalle bezeichnet der Chemiker solche Metalle, die eine größere
Dichte als 5 g/cm3 besitzen. Dieser physikalische Parameter sagt jedoch nichts
über die chemischen Eigenschaften dieser etwa 40 verschiedenen Elemente aus.
Sie reagieren eher selten in ihrer metallischen Form mit einem Organismus. Da-
gegen ist ihre toxische Wirkung hauptsächlich auf ihre löslichen Salze zurück-
182 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

zuführen. Als Rezeptoren im Organismus kommen dabei grundsätzlich größe-


re organische Moleküle, bevorzugt Proteine in Frage. Besonders reaktiv sind
folgende funktionelle, biologisch-wichtige Gruppen: -OH, -COO-, -OPO3 H-,
=C=O, -SH, -S-S-, -NH2 und =NH. Im allgemeinen besitzen Schwermetalle
eine größere Affinität zu den Bindungsstellen als die sogenannten Leichtme-
talle. Mehrwertige Schwermetalle besitzen meist die Fähigkeit, koordinative
Bindungen einzugehen, d. h. sie neigen zur Bildung von Komplexen.
Die moderne Biochemie benutzt Schwermetallsalze als Hilfsmittel, um Enzyme,
Transportproteine und biologische Stoffwechselwege näher zu charakterisieren.
Zum Beispiel hemmt die Oxoverbindung des Vanadiums, das Vanadat-Anion,
in mikromolaren Konzentration die ATPasen vom P-Typ, so genannt, da
sie ein phosporyliertes Zwischenprodukt bilden. Zu diesem Typ gehören die
Ionenpumpen wie die Na+ -K+ -ATPase und die Ca++ -ATPase. Die Hemmwir-
kung von Vanadat erfolgt durch Konkurrenz mit Phosphat (Mimikry) an der
ATP-Phosphorylierungsstelle, einem konservierten Aspartatrest der ATPase.
Trotz der Kenntnisse, die bei bestimmten biochemischen Reaktionen bis auf die
molekulare Ebene reicht, wissen wir über den genauen Ablauf einer Schwerme-
tallvergiftung im Menschen nur wenig. Es gibt keine allgemeinen Prinzipien,
um den Mechanismus der toxischen Wirkung zu beschreiben. Dies liegt an
der komplizierten Chemie der Metalle, die mannigfaltige Reaktionen in einem
Organismus hervorrufen können. Die am besten untersuchten Schwermetalle
zeigen eine verwirrende Vielzahl biologischer Effekte. Ihre toxische Wirkung
betrifft viele Zielorgane und Systeme. Es ist in keinem Fall gelungen, nur eine
toxische Wirkung an einem Enzym oder an einer bestimmten biochemischen
Reaktion nachzuweisen.
Die Vielfältigkeit der toxischen Effekte hat vielleicht dazu beigetragen, dass im
Gegensatz zu anderen Gruppen von Giften die Konzepte kritisches Organ“

und kritische Konzentration“ besonders häufig benutzt werden. Der Be-

griff kritisches Organ bedeutet hier soviel wie das empfindlichste Organ, das
bereits bei niedrigsten Konzentrationen reagiert. Dabei ist keine Aussage über
den Schweregrad der toxischen Wirkung am Organ gemacht. Es kann durch-
aus sein, dass bei höheren Konzentrationen ein anderes Organ weit mehr in
Mitleidenschaft gezogen wird.

4.1.5 Einteilung der Metalle

Bezüglich ihrer biologischen und toxikologischen Relevanz können die Schwer-


metalle in sechs Gruppen eingeteilt werden.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 183

1. Nicht reaktive, gering toxische Schwermetalle


Die Beschreibung nicht reaktiv, gering toxisch“ ist ein relativer Begriff, denn

jedes Element kann für einen Organismus ein Gift sein. Es kommt dabei auf
die lösliche chemische Form, auf den Aufnahmemechanismus, auf die Aufnah-
memenge und schließlich auf die Empfindlichkeit des Organismus selbst an.
Gering toxisch bedeutet, dass das Schwermetall bei oraler Aufnahme unwirk-
sam ist.
2. Stimulatorisch wirksame Schwermetalle
Eine stimulierende, hormonähnliche Wirkung besitzen fast alle Schwermetal-
le, wenn sie in niedrigster Konzentration (10−16 bis 10−6 M) an biologischen
Systemen oder Enzymen getestet werden. Die Übersicht des Periodensystems
(Abbildung 4.8) gibt Hinweise auf die so klassifizierten Schwermetalle.
3. Essentielle Schwermetalle
Eine stimulatorische Wirkung allein ist nicht ausreichend, um Leben zu ermögli-
chen. Hierzu muss eine bestimmte Anzahl von essentiellen Schwermetallen wie
Eisen, Kupfer, Zink, Mangan, Cobalt, Chrom und Molybdän vorhan-
den sein, um eine normale Entwicklung und das Wachstum von Säugetieren
zu gewährleisten.
Aus diesem Grund sind die biologischen Kenntnisse über die Wirkung in der
Nahrung vorkommender essentieller Schwermetalle von großer Bedeutung. Ob
Schwermetalle lebensnotwendig oder essentiell sind, hängt von den biochemi-
schen Reaktionen ab, an denen sie im Körper beteiligt sind. Erst wenn ei-
ne bestimmte Konzentration an essentiellen Schwermetallen im Organismus
vorhanden ist, erfolgt eine normale Entwicklung (Abbildung 4.7). Wird diese
durch Homöostase geregelte Konzentration überschritten, so wirken auch die
essentiellen Schwermetalle toxisch. Ein Zuviel bewirkt schließlich sogar den
Tod.
Nach biochemischen Gesichtspunkten kann folgende Einteilung der essentiellen
Schwermetalle vorgenommen werden:
• Metalloporphyrine (Häm-Eisen-Verbindungen):
Hämoglobin, Myoglobin, Cytochrome, Katalase, Peroxidase.

• Nicht-Häm-Eisen-Proteine:
Transferrin (77 kDa, 2 Fe3+ ), Ferritin (440 kDa, ca. 4500 Fe3+ ), Hämosiderin,
Ferredoxin, Rubredoxin.

• Cobalt und Nickel enthaltende Moleküle (Corrin-Ring):


Vitamin B12 , Methylcobalamine, Coenzym F 430 (Nickel). Die beiden letzten
Enzyme sind für die Übertragung von Methylgruppen auf eine Reihe von Me-
tallen wie Hg(II), Te(III), Pt(II) und Au(I) verantwortlich.
184 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Reakion des Organismus

Norm
Mangel Toxizität
Homöostase

Über-
leben
Tod

Konzentration essentieller Schwermetalle

Abbildung 4.7 Schematische Darstellung der Auswirkung der Konzentration essentieller


Schwermetalle wie Chrom, Molybdän, Mangan, Eisen, Cobalt, Nickel, Kupfer und Zink auf
die Reaktion des Organismus eines Lebewesens. Homöostase (Aufrechterhaltung) der Kon-
zentration dieser Schwermetalle im sogenannten inneren Milieu des Körpers mit Regelsyste-
men.

• Metalloenzyme:
Zink enthaltende Proteine (mehr als 300 verschiedene Enzyme): Alkoholdehy-
drogenase, Kohlensäureanhydratase, Carboxypeptidase.
Kupferhaltige Proteine: Ascorbinsäureoxidase, Phenoloxidase, Coeruloplasmin
(Transportform für Kupfer im Blut), Cytochrom-c-Oxidase, Cu-Zn-Superoxid-
Dismutase, Hämocyanine.
Molybdoenzyme: Xanthin-Oxidase, Aldehyd-Oxidase, Sulfit-Oxidase, Nitrat-
Reduktase.

• Metallaktivierte Enzyme:
Alle biochemischen Phosphat-Transfer-Reaktionen, Phosphorylierungen und
Dephosphorylierungen erfordern divalente positiv geladene Metallionen zur
Katalyse. Neben Mg2+ können auch Mn2+ und andere zweiwertige Kationen
mehr oder minder katalytisch wirksam sein.
Viele der essentiellen Schwermetalle kommen im menschlichen und tierischen
Organismus nur in sehr geringer Konzentration vor. Daraus leitete sich auch
die Bezeichnung Spurenelemente“ ab. Auch heute ist der endgültige Beweis

ihrer Essentialität oft nicht ganz einfach, da eine schwermetallfreie Ernährung
zum Nachweis fast nicht herzustellen ist. Beim Molybdän hat man z. B. das
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 185

nächste Gruppenelement Wolfram in der Nahrung angereichert, um die Auf-


nahme von Molybdän im Darm zu blockieren und so zunächst indirekt die
Essentialität nachzuweisen. Beim Chrom ist der chemische Nachweis im Or-
ganismus überaus schwierig und der Beweis entsprechender Mangelsymptome
kann bisher nur aus der parenteralen Ernährung (intravenöse Zufuhr) gezogen
werden. Ein Mangel von Mangan kann dagegen überhaupt nicht nachgewiesen
werden, da die biochemische Funktion des Mangans vom reichlich vorhandenen
Magnesium voll ersetzt wird. Für Vanadium wiederum ist eine Essentialität
bei Hühnern und Ratten nachgewiesen worden, beim Menschen nicht.
4. Toxische Schwermetalle
Wie aus dem Vorhergehenden folgt, sind auch die für einen Organismus essen-
tiellen Schwermetalle in hoher Konzentration toxisch. Als eine Regel für die
Toxizität von Schwermetallen ergibt sich, dass nur die ionische, gelöste Form
der Schwermetalle die giftige Form ist.
Ganz allgemein gilt: Diffusible Schwermetalle sind toxischer als nicht-
diffusible. So wird in der Medizin zur Röntgenkontrastdarstellung des Verdau-
ungsapparates (Schlund, Speiseröhre, Magen-Darm-Bereich) das grobkörnige,
nur schwer lösliche Bariumsulfat verwendet, ohne dass eine signifikante Auf-
nahme des Bariums resultiert. Enthält das Material aufgrund eines Herstel-
lungsfehlers zuviel lösliches Bariumchlorid, dann bewirken die Barium-Ionen
eine schlaffe Lähmung der Skelett- und Herzmuskulatur, die schließlich zum
Herztod führen kann.
Von allen Schwermetallen sind die der 6. Periode des Periodensystems poten-
tiell die toxischsten Elemente (Abbildung 4.8). Streng genommen gilt dies nur
für die relativ gut wasserlöslichen Salze von Blei, Quecksilber und Thallium.
Eine hohe Toxizität der übrigen Schwermetalle der 6. Periode wird oft durch
die schlechte Wasserlöslichkeit der entsprechenden Salze kaschiert.
Neben der Löslichkeit ist der elektrochemische Charakter für die Toxizität eines
Metalles oder seiner Verbindung von besonderer Bedeutung. Grundsätzlich
nimmt die akute Giftigkeit mit der Elektroposivität in den Untergruppen IB
(Cu < Ag < Au), IIB (Zn < Cd < Hg) und IIIA (Al < Ga < In < Tl) zu. Diese
Zunahme der Toxizität kann durch steigende Affinität zu Amino-, Imino- und
Sulfhydryl-Gruppen erklärt werden, die im aktiven Zentrum einer Reihe von
Enzymen sind.
Diese Verallgemeinerung gilt nicht mehr über die Gruppe IV hinaus, da die
Elektropositivität hier graduell abnimmt und mit einem Anstieg der Elektro-
negativität einhergeht. Ab Gruppe IV gehen die Metalle meist starke kovalente
Bindungen ein und bilden koordinative Komplexe oder Chelat-Komplexe mit
biologischen Liganden. Einige neigen zur Bildung von Sauerstoffsäuren, in de-
nen das Metall ein Teil des Anions ist. Die Stabilität dieses Typs kovalenter
186 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Abbildung 4.8 Periodensystem der Elemente gekennzeichnet nach biologisch-toxikologischen


Gesichtspunkten. Alle stimulatorisch wirksamen Metalle sind links oben mit einem + be-
zeichnet. Die essentiellen Schwermetalle einschließlich des Vanadiums, welches nur bei
Hühnern und Ratten essentiell ist, sind hellgrau markiert. Eine schlechte Löslichkeit bzw.
Unlöslichkeit der Salze von Schwermetallen ist durch drei Wellenlinien angedeutet. Die Über-
gangsmetalle sind hellgrau, daneben die Nichtmetalle dunkelgrau gekennzeichnet. Karzino-
gen wirksame Metalle und Metalloide sind mit Sternchen markiert. Alle radioaktiven Metalle
sind kursiv geschrieben. Ein Kreuz steht für ausgesprochen toxisch wie in Abbildung 4.1.

Verbindungen sowie deren Toxizität nehmen in folgender Reihe zu:

IB < IIB < IIIB < IIIA < IV < V < VIII.

Neben der Oxidationsstufe kann auch die molekulare Form entscheidend für die
Toxizität der Metalle sein. Dies ist beim Vanadium der Fall, das als Vanadat(V)-
Anion toxischer ist als das Vanadyl(IV)-Kation, da es über Anionentranspor-
ter in die Zelle gelangt. Oxoanionen wie das Vanadat-Anion unterscheiden sich
nicht in ihrer molekularen Form vom biochemisch wichtigen Phosphat-Anion.
Sie benutzen dieselben Eintrittspforten und nehmen sogar am Stoffwechsel teil.
Für diese speziellen molekularen Formen toxischer Metalle, die physiologische
Substrate nachahmen, wurde von Karen Wetterhahn-Jennette 1981 der tref-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 187

fende Begriff ionic mimicry“ geprägt. (The role of metals in carcinogenesis:



Biochemistry and metabolism. Environ. Health Perspect. 40, 233–252). Es tritt
nicht nur bei Oxoanionen auf, sondern auch bei Kationen und sogar als Kom-
plexverbindung toxischer Metalle.
5. Radioaktive Schwermetalle
Radioaktiv-isotope Metalle wie z. B. 60 Co und 226 Ra wirken zusätzlich toxisch
durch ihre Strahlenemission. Eine solche Wirkung kann erfolgen durch a-,
b- und g-Strahlen, ohne dass Schwermetalle in den Organismus aufgenom-
men werden. Dabei ist das genetische Material der Zellen besonders empfind-
lich gegenüber der Strahlenemission. Neben den Erbgutveränderungen können
bösartige Tumoren entstehen. Aufgrund seiner langen Halbwertszeit von 24 100
Jahren besitzt der a-Strahler 239 Pu ein besonderes Gefahrenpotential; er ist
überaus stark karzinogen. Eine akute und chronische Toxizität, wie sie für
andere Schwermetalle gilt, ist für Plutoniumisotope im allgemeinen wenig re-
levant, da die chronischen strahlenbiologischen Effekte im Vordergrund stehen.
Die kontinuierliche punktuelle Bestrahlung zellulärer DNA durch a-Partikel be-
wirkt chromosomale Aberrationen, Schwester-Chromatid-Austausch und/oder
karzinogene Transformationen (siehe Kapitel 9).
6. Karzinogen wirkende Schwermetalle
Aus epidemiologischen Untersuchungen ist seit längerer Zeit eine karzinogene
Wirkung nach Exposition gegenüber Arsen, Beryllium, Cadmium, Chromate
und Nickel bekannt. Als genotoxisch oder mutagen bezeichnet man eine auf das
Erbgut zielende Wirkung, die eine Krebsentstehung einleiten kann (ausführli-
che Darstellung in Kapitel 9).
Eine Einteilung in Kategorien kanzerogener und mutagener Schwermetalle
erfolgt nach dem 1998 eingeführten Einstufungsschema der Deutschen For-
schungsgemeinschaft, dabei bedeutet (Kurzform):

1 beim Mensch krebserzeugend (kein MAK-Wert)


2 Im Tierversuch krebserzeugend (kein MAK-Wert)
3A Erwiesene oder mögliche krebserzeugende Wirkung (kein MAK-
Wert)
3B In-vitro- oder aus Tierversuchen liegen Anhaltspunkte für eine
krebserregende Wirkung vor
4 Stoffe mit krebserzeugender Wirkung, bei denen genotoxische Effekte
keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen
5 Stoffe mit krebserzeugender und genotoxischer Wirkung, deren Wir-
kungsstärke jedoch als so gering erachtet wird, dass unter Einhaltung
des MAK- und BAT-Wertes kein nennenswerter Beitrag zum Krebs-
risiko für den Menschen zu erwarten ist
188 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Die folgenden Metalle und Metalloide sowie ihre Verbindungen sind bei Mensch
und Tier als karzinogen anzusehen. Eine Einteilung in krebserzeugende Kate-
gorien ist in Klammern angegeben (DFG: MAK- und BAT-Werte-Liste 2005):
Aluminium: Aluminiumoxid, Faserstaub (2)
Arsen: metallisches Arsen, As2 O3 , As2 O5 , H3 AsO3 , NaAsO2 ,
Pb3 (AsO4 )2 , Ca(AsO4 )2 , Ca3 (AsO4 )2 (1)
Beryllium: Beryllium und seine anorganischen Verbindungen (1)
Blei: Blei und seine anorganischen Verbindungen (3B)
Cadmium: Cadmium und seine anorganischen Verbindungen (1)
Chrom: Chrom(VI)-Verbindungen (2)
Cobalt: Cobalt und Cobaltverbindungen (2)
Nickel: Nickel und seine Verbindungen (1)
Quecksilber: Quecksilber und seine anorganischen Verbindungen (3B)
Titan: K2 TiO3 , K2 TiO5 , K2 TiO9 , K2 TiO13 , K2 TiO17 , Faserstaub (2)
Zinkchromat: ZnCrO4 (1)

Nicht aufgeführt sind die essentiellen Metalle wie Eisen, Mangan und Zink, die
in sehr hohen Dosen ebenfalls karzinogen sein können. Außerdem gibt es expe-
rimentelle Hinweise, dass z. B. Eisen, Kupfer, Cobalt, Chrom, Nickel und Va-
nadium reaktive Sauerstoffspezies (verschiedene freie Radikale) erzeugen und
die DNA schädigen können (siehe Karzinogenese, Metalle). Der molekularbio-
logisch zugrunde liegende Mechanismus, der auf der DNA-Ebene liegen dürf-
te, ist bisher nur teilweise verstanden. Hinzu kommt, dass einzelne Metalle
in verschiedenen Zustandsformen (elementares Metall oder Ionenform) auch
unterschiedliche Mechanismen aufweisen können.
Nicht aufgeführt sind radioaktive Metalle wie Plutonium, Polonium, Radium
und Uran, die primär durch ihre energiereiche Strahlung genotoxisch und damit
karzinogen wirken (Abbildung 4.8, kursiv gekennzeichnete Metalle).

4.1.6 Transport von Eisen im menschlichen Organismus


Die resorbierende Zellschicht der Dünndarmschleimhaut (Mucosa) ist haupt-
sächlich das einschichtige Zottenepithel, das im oberen Dünndarm auch ver-
antwortlich für den divalenten Kationentransport ist. In den Mucosazellen exi-
stiert ein Protonen-gekoppelter Dimetalltransporter (DMT1), der in der nach
Affinität absteigenden Reihenfolge Fe++ , Zn++ , Mn++ , Co++ , Cd++ , Cu++ ,
Ni++ und Pb++ transportiert. Die divalenten Kationen konkurrieren um den
Transport und hemmen entsprechend ihrer Affinität die Aufnahme.
Die Aufnahme des mit der Nahrung angebotenen Eisens verläuft in drei Pha-
sen. Erstens erfolgt die Aufnahme von zweiwertigem Eisen über den Dime-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 189

Darmlumen Mucosazelle Blutplasma


+++
Ferritin
++
Fe Fe
++ Fe M
++
Ferri- Fe Hephaestin
++ ++ +++
reductase Fe M Fe Fe
Ferroportin
M
++ ++ ++ Fe
+++
Fe
+++
Fe Fe Fe M
DMT1
M

Transferrin

Abbildung 4.9 Transport von Eisen vom Darmlumen in die Mucosazellen und in das Blut-
plasma. Mit der Nahrung zugeführtes Eisen liegt großteils dreiwertig als unlösliches Eisen-
hydroxid oder Porphyrineisen vor. Im sauren Milieu des Magens werden die Verbindun-
gen gespalten und durch reduzierende Aminosäuren oder Ascorbinsäure sowie durch eine
Membran-assoziierte Ferrireduktase in lösliches F e++ verwandelt. Der Dimetalltransporter
(DMT1) transportiert F e++ in die Mucosazelle. Dort wird F e++ an ein Shuttle-Protein, Mo-
bilferrin (M), gebunden, zum Eisenspeicher Ferritin oder zum Ferroportin-Transporter auf
die gegenüberliegende Seite transloziert. Das Ferroportin im Komplex mit Hephaestin, einem
Caeruloplasmin-ähnlichem Protein, oxidiert F e++ zu F e+++ und transportiert F e+++ zum
Blutplasma, wo es an Transferrin gebunden wird.

talltransporter in die Mucosazellen, zweitens transloziert Mobiloferrin als


Shuttle“ das Eisen zum Eisenspeicher Ferritin oder zur gegenüberliegenden

Seite, der basolateralen Membran, und drittens wird das zweiwertige Eisen
durch Hephaestin zu dreiwertigem Eisen oxidiert und vom Ferroportin zum
Eisentransportsystem im Blutplasma an das Transferrin abgegeben.
Transferrin ist ein Nicht-Häm-Eisen-Protein mit einem Molekulargewicht von
77 kDa; seine Gesamtmenge im Blut eines Erwachsenen beträgt 7 bis 15 g.
Unter gleichzeitiger Aufnahme eines Bicarbonat-Anions bindet es zwei Atome
Fe+++ . Seine sehr hohe Affinität zum Eisen mit einem Kd-Wert von 10−24
bei neutralem pH-Wert des Blutes bedingt, dass praktisch kein freies Eisen
im Blutplasma vorhanden ist und auch keine Ausscheidung über die Nieren
erfolgen kann.
Die Aufnahme von Transferrin in die Zellen erfolgt über den Transferrin-
rezeptor. Etwa 70 bis 90 % des an Transferrin gebundenen Eisens wird für
die Hämoglobinsynthese im Knochenmark verbraucht, der Rest dient zur Bio-
synthese von Enzymen und Coenzymen oder gelangt in die Eisenspeicher.
190 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

3+ 3+
3+ 3+ Fe Fe
3+ 3+
Fe Fe Fe Fe

Tranferrin Apotransferrin 3+ 3+
Fe Fe 3+ 3+ 3+ 3+
Fe Fe Fe Fe

Membran

3+ 3+ 3+ 3+
Fe Fe Fe Fe

Protonen-
pumpe

Fe
++
++ c-ACONITASE
+
H Fe ++ DMT1
Ferri- ++
++
reduktase
Fe Fe
Fe Ferritin
++
Fe
++
Fe

Abbildung 4.10 Vereinfachtes Schema der Endozytose eines Transferrinrezeptors. Der Re-
zeptor ist durch zwei aneinander haftende Kreise mit Bindungsstellen für Transferrin darge-
stellt. Durch Einbuchten und Abschnüren von Membranarealen zu Membranvesikeln gelan-
gen die eisenbeladenen Transferrinrezeptoren in das Zellinnere. Eine Protonenpumpe säuert
das Innere der Vesikel an, so dass Eisen seine Affinität zum Transferrin verliert und ab-
dissoziiert. Eine Ferrireduktase verwandelt das dreiwertige Eisen in zweiwertiges, das jetzt
über den Dimetalltransporter (DMT1) in das Zellinnere gelangt. Der eisenleere Rezeptor mit
dem Apotransferrin rezyklisiert zur Membranoberfläche.

Der Transferrinrezeptor besteht aus zwei identischen Untereinheiten von etwa


90 kDa, die durch Disulfidbrücken kovalent verbunden sind. Jede Untereinheit
kann ein mit zwei Eisen beladenes Transferrin binden. Durch Endozytose
gelangt der Transferrinrezeptor in das Zellinnere. Darunter versteht man das
Einstülpen, Abschnüren von Membranarealen und die nachfolgende Vesikel-
bildung. Eine Protonenpumpe säuert danach das Vesikelinnere an. Dadurch
wird die Affinität des Transferrin zum Eisen soweit herabgesetzt, dass das Ei-
sen abdissoziiert. Eine Ferrireduktase in den Vesikeln wandelt das dreiwertige
Eisen in zweiwertiges um, das durch den Dimetalltransporter (DMT1) in das
Zellinnere transportiert und für die Biosynthese verwendet oder gespeichert
werden kann.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 191

Das nicht für die Biosynthese verwendete Eisen kommt in den Ferritinspeicher,
der bis zu 4500 Eisenatome aufnehmen kann. Wenn dieser gefüllt ist, gelangen
sie in den Hämosiderinspeicher, der eine noch größere Kapazität besitzt.
Das besondere an den Eisenstoffwechselwegen ist, dass es keine speziellen
Exkretionswege für Eisen gibt. Der menschliche Organismus ist unfähig,
größere Eisenmengen auszuscheiden. Es wird etwa pro Tag 1 bis 2 mg Ei-
sen vom oberen Dünndarm aufgenommen und die gleiche Menge geht mit
der Abschilferung von Darmepithelzellen aus den Zottenspitzen verloren. Die
Homöostase des Eisens kann also nur über die Aufnahme reguliert werden.
Hierfür gibt es drei wichtige Regulationsmechanismen:
1. Die c-Aconitase als ein eisensensorisches Bindungsprotein (ES-BP): In
der Abbildung 4.10 ist im Zellinneren der Weg des Eisens zur c-Aconitase dar-
gestellt, dieses Enzym dient zusätzlich als ein eisensensorisches Bindungs-
protein. Die c-Aconitase enthält im aktiven Zentrum einen relativ instabilen
4Fe-4S-Cluster. Dieser Cluster dissoziert bei niedriger Eisenkonzentration
und löst eine Änderung der Proteinkonformation aus, so dass an Stelle des
Eisens geeignete mRNA-Moleküle binden können. Hier erfolgt eine Regulation
auf der Translations-Ebene der Proteinbiosynthese.

Geeignete mRNA-Moleküle (messenger ribonucleic acid) sind die Transferrin-


rezeptor-mRNA und die Ferritinsynthase- und d-Aminolaevulinsäure-Dehyd-
rase-mRNA. Im ersten Fall stabilisiert ES-BP die mRNA, so dass aufgrund der
längeren Halbwertzeit der mRNA mehr Transferrinrezeptoren in der Membran
gebildet werden. Im zweiten Fall hemmt das ES-BP die Ferritin-Synthase- und
die d-Aminolaevulinsäure-Dehydrase-mRNA (Häm-Synthese), so dass sich die
Eisenkonzentration in der Zelle erhöht. Bei zuviel Eisen wird die Transferrin-
rezeptor-mRNA schneller abgebaut und die Ferritin- und Häm-Synthese führen
zu einer Eisenabnahme in der Zelle.

2. Regulation der Eisenaufnahme im Darm: Neben der obigen Regulation wird


die Aufnahme von Eisen sehr effektiv im Darm reguliert. Nach einer experi-
mentellen Beobachtung blockiert eine mehrtägige Eisenzufuhr die weitere Ei-
senaufnahme. Dies wurde früher als Mucosablocktheorie bezeichnet.

Die Mucosazellen im Darm entstehen aus Vorläuferzellen in den sogenann-


ten Brunner´schen Krypten. Diese Vorläufer registrieren offenbar den Eisenbe-
stand im Zellinneren über ein HFE-Protein, das mit dem Transferrinrezeptor
verbunden ist. Bei der Hämochromatose wird der Organismus mit Eisen auf
etwa das zehnfache überschwemmt. 1996 wurde das Hämatochromatose-
Gen HFE und die für die Krankheit ursächliche Punktmutation identifiziert.
Der erste Hinweis auf die direkte Verknüpfung des HFE-Gens mit dem Eisen-
192 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

stoffwechsel ergab sich durch die Beobachtung, dass das HFE-Protein mit dem
Transferrinrezeptor einen Komplex bildet und offenbar die Affinität des Rezep-
tors zu Transferrin herabsetzt. Das mutierte HFE-Protein zeigt diese Bindung
und Wirkung nicht und verursacht eine exzessive Eisenaufnahme.

3. Das dritte Regulationsprinzip ist mit der Bildung der Erythrozyten im Kno-
chenmark verbunden. Es handelt sich dabei um ein lösliches Signalmolekül, das
vom Knochenmark über das Blutplasma zum Darm gelangt und dort die Ei-
senresorption nach den Erfordernissen der Blutbildung im Knochenmark mo-
duliert.

4.1.7 Molekulare und ionische Mimikry toxischer Metalle


Unter Mimikry versteht man, dass Schwermetalle die perfekten Formen von
physiologischen Anionen, Kationen und Aminosäuren annehmen und die ent-
sprechenden Transporter nutzen können, um in das Zellinnere zu gelangen.
Aufgrund ihrer molekularen Ähnlichkeit mit biologisch wichtigen Molekülen
können sie außerdem noch als Substrate von Enzymen dienen und in den Stoff-
wechsel eingeschleust werden.
Mimikry toxischer Anionen
In Abbildung 4.11 sind chemische Strukturen toxisch wirkender Metallanionen
denen der entsprechenden physiologischen Anionen Phosphat und Sulfat ge-
genüber gestellt. Transporter und Enzyme akzeptieren diese falschen Moleküle
wie ihre eigenen Substrate.
Alle diese Anionen haben die Geometrie eines Tetraeders, sie werden von ver-
schiedenen Anionen transportierenden Membranproteinen wie dem Anionen-
transporter des Erythrozyten in das Innere der Zellen transportiert.
Die obere Reihe zeigt Anionen, die bei physiologischem pH-Wert teilweise io-
nisiert in der monovalenten Form vorliegen. Vanadat wird nicht nur trans-
portiert, sondern es ersetzt auch in biochemischen Stoffwechselreaktionen das
anorganische Phosphat und hemmt auf diese Weise z. B. die Na+ -K+ -ATPase
in den Erythrozyten.
Ähnliches gilt für das Arsenat. Sein Eintritt in die Zelle und die nachfolgen-
de biochemische Reaktion mit der Glycerinaldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase
anstelle von Phosphat führen zu einer Abnahme des ATP-Gehaltes in der Zelle.
In der unteren Reihe der Abbildung 4.11 befinden sich die zweiwertigen sul-
fatanalogen Verbindungen. Auch das Chromat-Anion kann aufgrund seiner
strukturchemischen Ähnlichkeit zum Sulfat-Anion über den Anionentranspor-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 193

physiologisches Anion toxisches Anion

O O O
- - -
O P OH O V OH O As OH
O(H) O(H) O(H)

O O O O
- - - -
O S O O Cr O O Mo O O Se O
- - - -
O O O O

Abbildung 4.11 Struktureller Vergleich der physiologischen Oxoanionen Phosphat und Sulfat
mit Oxoanionen toxischer Metalle. Diese Anionen sind Substrate von Membrantransporter
und gelangen aufgrund ihrer Mimikry in das Zellinnere. Als Sulfatanalog wird auch Selenat
in die Zelle transportiert.

ter im Erythrozyten die Membranschranke passieren. Im Zellinneren wird es


durch die Reduktionssysteme, besonders Glutathion, zum dreiwertigen Cr(III)-
Kation reduziert (vgl. Kapitel 4.2.3). Hierbei kann seine oxidierende Wir-
kung zu Methämoglobinbildung führen und das dreiwertige Chrom bindet
an das reichlich vorhandene Hämoglobin. Anhand von Erythrozyten, die mit
Na51
2 CrO4 inkubiert, gewaschen und wieder infundiert wurden, konnte man
1961 das Volumen der zirkulierenden Erythrozyten und ihre Lebensdauer mit
120 Tagen bestimmen. Als Test für eine Chrombelastung dient die Chrom-
bestimmung im Blut. Ein Mensch mit einem Chromblutspiegel von weniger
als 200 mg Chrom/Liter gilt dabei noch als unbelastet.
Anders als bei den kernlosen Erythrozyten ist die Toxizität bei kernhaltigen
Zellen zu beurteilen. Das Chromat-Anion permeiert nicht nur die Zellmem-
bran, sondern dringt über die Kernmembran bis zum genetischen Material
vor. Auf dem Wege dahin erfolgt wie im Erythrozyten eine Reduktion über
Zwischenstufen bis zum dreiwertigen Chrom, wobei reaktive Intermediärpro-
dukte gebildet werden können, die mit DNA Addukte bilden. Daraus können
Strangbrüche, Basenmodifikationen oder Konformationsänderungen der DNA
resultieren (siehe Kapitel 9.4). Chrom (III) ist ferner in der Lage, sich irrever-
sibel an phosphathaltige DNA oder freie Nukleotide zu binden und so die Re-
plikation und Transkription zu beeinflussen. Neben einer direkten Schädigung
wird heute auch auf indirekte Schäden an DNA durch reaktive Sauerstoffspe-
zies hingewiesen, die bei der Reduktion von Chromat entstehen.
194 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Dies alles erklärt möglicherweise die größere Toxizität von Chromat im Ver-
gleich zu Cr(III)-Kationen, die dazu noch schlecht löslich sind und nicht die
Membran durchdringen können. Aus Tierversuchen wurde abgeleitet, dass das
dreiwertige Chrom (CrIII) nicht kanzerogen ist.
Der Chromat- wie auch der Molybdat-Transport wird im Darm durch Sulfat
gehemmt, jedoch nicht durch Phosphat. Beide Schwermetallanionen können
als sulfatanaloge Verbindungen den Schwefelstoffwechsel in der Zelle blockie-
ren. Ein Beispiel ist die ATP-Sulfurylase, welche die Bildung von Adenosin-5-
phosphosulfat aus ATP und Sulfat katalysiert. Im Zellinneren reagiert Molyb-
dat mit dem Glucocorticoid- und dem Östrogenrezeptor.
Mimikry toxischer monovalenter Kationen
Wie die Anionen, so können auch Schwermetallkationen den Weg über Trans-
porter in das Zellinnere finden (Tabelle 4.2). Lithium-Ionen, die bereits bei
einer Blutspiegelkonzentration von 1,4 mM toxisch wirken, treten über Na+ -
Kanalproteine in das Zellinnere ein und werden mit etwa einem Zehntel der
Geschwindigkeit des Natriums durch die Na+ -K+ -ATPase aus der Zelle ausge-
schleust. Durch diese Interferenz mit der Ionenpumpe wird gleichzeitig weniger
Kalium in die Zelle hineintransportiert und als Folge sinkt die intrazelluläre
Kaliumkonzentration ab. Als kaliumanaloges Metall gelangt das toxische ein-
wertige Thallium-Ion, das in Größe und Ladung sich nicht vom Kalium-Ion
unterscheidet, über die Na+ -K+ -ATPase in das Zellinnere. Eine Anreicherung
findet besonders in den Erythrozyten statt. Thallium ist jedoch hauptsächlich
ein Epithel- und Nervengift. Neben der Na+ -K+ -ATPase sind andere Kali-
umtransporter wie das Na+ -K+ -Cl− -Cotransportsystem in der Niere an des-
sen Aufnahme beteiligt. Thallium wird nicht nur in der Niere rückgewonnen,
es existiert außerdem ein intensiver enterohepatischer Kreislauf, der für die
verhältnismäßig lange Halbwertszeit von etwa 30 Tagen verantwortlich ist. Ei-
ne Anreicherung von Thallium findet vermutlich über Porin in den Mitochon-
drien statt. Hier ist eine Oxidation von Tl+ zu Tl3+ möglich. Die letztere Form
ist ein starkes Oxidationsmittel, das für die Zerstörung der Mitochondrien ver-
antwortlich sein könnte.
Mimikry toxischer divalenter und trivalenter Kationen
Weit mehr Mimikry-Mechanismen als für monovalente existieren für divalen-
te Kationen (Tabelle 4.2). Calcium ist ein äußerst wichtiges Kation für die
biologische Regulation. Es wirkt als sekundärer Transmitter bei der Über-
tragung von Signalen, die von Transmittern und Hormonen ausgehen können.
Zu den vielen durch Calcium stimulierten Reaktionen in der Zelle gehören
auch die elektromechanische (Muskelkontraktion) und die elektrosekretorische
Kopplung (Sekretion aus exkretorischen und inkretorischen Drüsen). Calcium-
pumpen, Na+ -Ca2+ -Austauscher und Calcium-Kanäle bestimmen die effektive
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 195

Tabelle 4.2 Beispiele für Mimikry toxischer monovalenter und divalenter Kationen (100 pm
= 1Å).

Physiologisches Radius Toxisches Radius


Kation (pm) Kation (pm)
Na+ 95 Li+ 60
K+ 133 Tl+ 144
Ca++ 97 Sr++ 113
Ca++ 97 Ba++ 135
Ca++ 97 Pb++ 132
Ca++ 97 Lanthanide 103 – 85
Mg++ 65 Be++ 31
Mg++ 65 VO++ 65
Zn++ 74 Cd++ 97
Zn++ 74 Hg++ 110

Calciumkonzentration in der Zelle. Dort können Calcium-stimulierte Kalium-


kanäle geöffnet, vesikuläre Exocytose ausgelöst oder sogar Proteolysemecha-
nismen in Gang gesetzt werden. Extrazellulär ist Calcium z. B. für die Blut-
gerinnung notwendig. Als dem Calcium sehr ähnlich gilt das Strontium, das
in vielen Reaktionen Calcium auch in seiner Funktion ersetzen kann. Dagegen
sind die Lanthanide wie u. a. Lanthan, Cer, Praseodym, Neodym, Samarium,
Holmium, Ytterbium klassische Calciumantagonisten. So bewirkt die chemi-
sche Ähnlichkeit mit Calcium unüberschaubare Interferenzen im Stoffwechsel
der physiologischen Calciumwirkungen. Hierzu gehört auch eine seit langem
bekannte antikoagulierende Wirkung auf die Blutgerinnung.
Ein ganz besonders vielseitiges toxisches Metall ist das zweiwertige Blei-Ion,
das sich in einigen physiolgischen Funktionen ähnlich dem Calcium verhält. Die
Ähnlichkeit kommt besonders am Ca2+ -aktivierten K+ -Kanal in Erythrozyten
zum Ausdruck. Steigt die Calciumkonzentration im Zellinneren auf einige mM
an, so können in wenigen Minuten alle Kalium-Ionen durch die aktivierten
K+ -Kanäle auslaufen. Durch Verminderung des Calciumgehaltes der Inkuba-
tionslösung der Erythrozyten unter die kritische Öffnungskonzentration konnte
gezeigt werden, dass Blei-Ionen anstelle von Calcium in der Lage sind, diesen
K+ -Kanal zu öffnen. Im Gegensatz zum Calcium permeiert jedoch Blei als lipo-
philer Anionen-Komplex innerhalb etwa einer Minute durch die Zellmembran.
Ein Durchtritt des Blei-Anionen-Komplexes durch den Anionentransporter des
Erythrozyten konnte durch Blockade des Anionentransporters mit DIDS (4,4´-
Diisothiocyanostilben-2,2´-disulfonsäure) ausgeschlossen werden.
An spannungsabhängigen Ca2+ -Kanälen hat Blei jedoch meist einen hemmen-
den Effekt. Dies zeigt sich besonders bei der Ca2+ -abhängigen Neurotransmit-
196 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

ter-Freisetzung. Es gibt jedoch beim Blei auch eine Reihe von Calcium-unabhän-
gigen Effekten. So wird die empfindliche Proteinkinase C schon bei 10−10 M
gehemmt und diejenigen SH-Enzyme, die bei der Hämoglobinsynthese eine
wichtige Rolle spielen, werden blockiert.
Das zweiwertige Beryllium kann als leichteres Homologes des Magnesiums bis
in den Zellkern gelangen und dort eine mutagene Wirkung entfalten.
Die strukturelle Ähnlichkeit mit Zink führt dazu, daß bestimmte Zink-Enzyme
auch eine Substitution mit Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum
zulassen. Bei der Carboxypeptidase A ändert sich mit der Metallsubstitution
durch Cadmium oder Quecksilber im aktiven Zentrum der funktionelle Ab-
stand zum Histidin (His-196) und die enzymatische Aktivität nimmt ab.
Molekulare Mimikry
Schwermetalle bilden eine Reihe stabiler Komplexe mit einer Anzahl von Li-
ganden, die auch in lebenden Zellen vorkommen. Unter molekularer Mimikry
versteht man einen Komplex zwischen einem Schwermetall und einem endoge-
nen Substrat, der in idealer Weise einem bekannten Metabolit zum Verwechseln
ähnlich ist.

+ - -
CH3Hg + HS CH2 CH COO CH3 Hg S CH2 CH COO
+ +
NH3 NH3
Methylquecksilber-Cystein
Substrate des Aminosäurentransporters

-
CH3 S CH2 CH2 CH COO
+
NH3
Methionin

Abbildung 4.12 Struktureller Vergleich von Methylquecksilber-Cystein mit Methionin. Nach


Ashner und Clarkson ist Methylquecksilber ein Substrat des Aminosäuretransporters für Me-
thionin (M. Ashner and T.W. Clakson, Brain Res. 462, 31-39, 1988).

Solch ein Komplex ist z. B. Methylquecksilber-Cystein, das der Aminosäure


Methionin strukturell verwandt ist. Ashner und Clarkson fanden 1988, dass
der Transporter für Methionin auch Methylquecksilber-Cystein als Substrat
akzeptiert und es transloziert. Die hohe Affinität zu Thiol-Gruppen im Inneren
und Äußern der Zelle kann nun dazu führen, dass der Methylquecksilberkom-
plex mit anderen Thiolgruppen reagiert und das Methylquecksilber überträgt.
Dieser Transport und Austausch erfolgt in der Niere und ist auch für die Pas-
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 197

sage des Moleküls durch die Bluthirnschranke verantwortlich. Hier trägt er zur
schnellen Zunahme von Methylquecksilber im Gehirn bei.
Ein weiteres Substrat sowohl für monovalentes Methylquecksilber als auch für
zweiwertiges Quecksilber ist Glutathion. Methyl- und anorganische Quecksilber-
Komplexe ähneln den Verbindungen von konjugiertem und oxidiertem Gluta-
thion. Entsprechende Transporter schleppen dann die Quecksilber-Komplexe
durch die Membran. Auch Dipeptidtransporter der Niere, die Valeryl-Glycin
transportieren, akzeptieren das strukturell ähnliche Methylquecksilber-Cys-
teinyl-Glycin als Transportsubstrat. Weiter sind Glutathion-Komplexe mit an-
deren Metallen wie Arsen, Kupfer und Zink möglich.
Eine letzte Möglichkeit der molekularen Mimikry soll am Beispiel von Uranyl-
Komplexen gezeigt werden. Uranyl-Ionen sind seit langer Zeit dafür bekannt,
dass sie an Hefen den Glucosetransport inhibieren. Der Mechanismus kann
ebenso durch eine Mimikry erklärt werden, das mit der transportierten Glu-
cose in der b-D-Glucopyranose-Form zusammenhängt. Uranyl-Ionen liegen in
wässrigen Lösungen hauptsächlich als Dimere vor. In diesem Komplex sind
zwei Uranylatome durch zwei Hydroxo-Brücken verknüpft. Vergleicht man die
Größe und die Sauerstoffabstände mit b-D-Glucopyranose, so findet man ei-
ne große strukturelle Übereinstimmung beider Moleküle. Daraus wurde der
Schluss gezogen, dass die dimere Form des Uranyls möglicherweise mit den
Bindungsstellen der Glucose am Transporter reagiert und hierdurch deren
Transport hemmt.

4.1.8 Metalle im menschlichen Organismus


Die Zellen des Menschen werden auf die sehr hohe Zahl von 1014 geschätzt.
Für den erwachsenen Europäer nimmt man ein Gewicht von 70 kg an.
Der Gewichtsanteil der neun nichtmetallischen Elemente beträgt dabei be-
reits 98 %. Es sind: Sauerstoff (45,5 kg) > Kohlenstoff (12,6 kg) > Wasserstoff
(7,0 kg) > Stickstoff (2,1 kg) > Phosphor (0,7 kg) > Schwefel (0,175 kg) >
Chlor, Fluor und Iod (0,106 kg).
Für alle Metalle verbleiben nur 2 % Gewichtsanteil. Auf die Metalle Na+ , K+ ,
Mg2+ und Ca2+ entfällt der größte Teil mit 1,89 %. Die sogenannten Spurenme-
talle machen lediglich 0,012 % aus (siehe Kapitel 2.2, Tabelle 2.2). Die Tabelle
4.3 zeigt den verbleibenden Rest an Metallen, der einen Anhaltspunkt für die
Belastung des menschlichen Körpers mit z. T. nichtreaktiven und toxischen
Metallen und Metalloiden im menschlichen Organismus wiedergibt.
Die Zahlenangaben in der Tabelle sollen nur einen Eindruck über die Belas-
tung des Menschen mit Metallen und Metalloiden vermitteln. Wenn man eine
198 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Tabelle 4.3 Metallbelastung des menschlichen Körpers. In Spalte 2 ist die durchschnittli-
che Belastung eines 70 kg schweren Menschen in mg angegeben, in Spalte 3 die resultierende
Konzentration in µmol/kg Körpergewicht. Für die Berechnungen in Spalte 4 wird davon aus-
gegangen, dass der Mensch aus etwa 1014 Zellen besteht und eine homogene Verteilung der
Atome im Körper vorliegt. Diese Annahme ist idealisierend, vermittelt aber dem Betrachter
einen Eindruck über die mögliche Größenordnung der Belastung. In der letzten Spalte wird
angegeben, wieviel mg etwa täglich mit der Nahrung zugeführt werden. (Zahlen aus Merian
1987 und Schroeder 1965*).

Element mg/70 kg µmol/kg Atome aus der


Körpergewicht Körpergewicht ·106 / Zelle Nahrung mg/Tag
Aluminium 100 53 22 36,4
Antimon 70 8 3.5
Arsen 14 2,7 1,1 0,14
Barium 16 1,7 0,73 16
Blei 80 5,4 2,3 0,2 – 0,3
Cadmium 30 3,9 1,6 0,018 – 0,2
Gold * <1 0,07 0,03
Niob 100 15,7 7 0,6
Quecksilber 4 0,3 0.12 0,005 – 0,02
Tellur * 600 67,2 28 0,6
Titan 10 3 1.3 0,3
Uran * 0,02
Vanadium 20 5,6 2.4 2,5
Zinn 30 3,6 1.5 17
Zirkonium 300 47,1 20 3,5

idealisierte homogene Verteilung dieser Elemente im Körper annimmt, so re-


sultiert größenordnungsmäßig eine Zahl von etwa 1 Million Atomen pro Zelle.
Diese Anzahl an Atomen pro Zelle wird auch von den essentiellen Metallen er-
reicht (Tabelle 2.2) und zeigt, dass eine so geringe Anzahl an Atomen pro Zelle
durchaus in der Lage ist, wichtige physiologische Funktionen im Organismus
zu übernehmen.

Dies impliziert auch eine mögliche Toxizität der belastenden Metalle und Me-
talloide im Organismus (Tabelle 4.3). Als ein Beispiel kann Cadmium dienen,
es wird nur sehr wenig ausgeschieden und kumuliert mit dem Lebensalter in
der Niere, wo es fest an Metallothionein gebunden ist (siehe Kapitel 4.2.2).
Erst wenn eine kritische Konzentration erreicht wird, kommt die Toxizität
zum Tragen. Ähnlich verhält es sich mit dem Blei, das in dem Knochen im-
mobilisiert wird. Auch die anderen Metalle und Metalloide werden ebenfalls
gebunden oder ausgeschieden und führen so normalerweise zu keinen toxischen
Wirkungen.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 199

4.1.9 Maßsystem für die akute Toxizität der Metalle

Die akute Toxizität einer Substanz kann durch den LD50 -Wert oder analog
dazu durch den T50 -Wert charakterisiert werden, das ist diejenige Dosis in
mg oder mol pro kg Körpergewicht, welche die Hälfte einer Tierpopulation
tötet (siehe Kapitel 1.2.3). Für den Vergleich von LD50 - bzw. T50 -Werten ver-
schiedener Schwermetalle muß unter anderem die chemische Form, in der das
Schwermetall vorliegt, die Art der Aufnahme, die Tierart, das Geschlecht so-
wie das Alter des Tieres, das Gewicht und das Zeitintervall der Beobachtung
in Betracht gezogen werden.
Da die LD50 -Werte über mehrere Zehnerpotenzen varieren können, wurde der
Begriff der potentiellen Toxizität, pT50 eingeführt, der entsprechend dem pH-
Konzept für pT50 = -log T50 setzt. Dadurch lassen sich übersichtliche Klassen
für die toxikologische Interpretation bilden (Tabelle 1.1). Als hoch toxisch wird
z B. eine Substanz mit einem pT50 -Wert von 4 festgesetzt. Das entspricht einer
Konzentration von 0,0001 mol/kg Körpergewicht.
Tabelle 4.4 zeigt eine Zusammenstellung von verschiedenen Metallen mit den
zugehörigen LD50 -Werten in mg/kg, den T50 -Werten in mmol/kg Körperge-
wicht und den pT50 -Werten nach oraler Verabreichung an Ratte und Maus.
Die Schwermetalle umfassen also bei der oralen Applikation den Bereich von
hoch-toxisch, Klasse 4 (pT50 -Wert 4,3 für Thalliumsulfat) bis gering-toxisch,
Klasse 2 (pT50 -Wert 2,0 für Eisensulfat). Dagegen erreicht das über alle Maße
toxische Botulinustoxin D einen pT50 -Wert von fast 16 (Tabelle 1.2). Dies gilt

Tabelle 4.4 Orale akute Toxizität verschiedener Metallsalze. Wie die Beispiele dieser Metalle
zeigen, liegt die Klassifizierung in der Größenordnung von praktisch nicht-toxisch für NaCl
bis hoch-toxisch für das Thalliumsulfat (siehe Tabelle 1.1). Die Daten entstammen dem
Merck Index“.

Substanz Spezies LD50 T50 pT50 Klasse


mg/kg mmol/kg
TlSO4 Ratte 25 0,05 4,30 hoch-toxisch
HgCl2 Ratte 37 0,14 3,87 mäßig-toxisch
CdCl2 Ratte 8 0,48 3,32 mäßig-toxisch
CoCl2 Ratte 0 0,62 3,21 mäßig-toxisch
Pb − Acetat Maus 00 0,62 3,21 mäßig-toxisch
FeCl3 Ratte 900 6 2,26 gering-toxisch
FeSO4 Maus 1520 10 2,00 gering-toxisch
CaCl2 Ratte 4000 36 1,44 praktisch nicht-toxisch
NaCl Ratte 3750 64 1,19 praktisch nicht-toxisch
200 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

jedoch beim Botulinustoxin D für die effektivere peritoneale Injektion. Trotz


dieser enormen Toxizität des Botulinustoxins wird es als Medikament vom Arzt
genutzt, während die Giftigkeit des Thalliums bei der Bekämpfung der Rat-
tenplage nicht mehr zulässig ist, da durch die allgemeine Zugriffsmöglichkeit
Suizide vorgekommen sind.

4.1.10 Entgiftungsmechanismen für toxische Metalle im


Organismus

Es gibt eine ganze Reihe von Mechanismen im menschlichen Organismus, die zu


einer Adaptation an toxische Metalle und Metalloide führen. Ganz allgemein
gilt die Tatsache, dass diffusible Substanzen toxischer sind als nicht-
diffusible.
Eine Entgiftung kann somit eintreten, wenn toxische Metalle oder Metalloi-
de an Plasmaproteine sowie an nicht-essentielle Metaboliten binden oder in
Knochen, Zähnen, Nägeln bzw. Haaren immobilisiert werden.
Auf zellulärer Ebene kann folgende Unterteilung vorgenommen werden:
Intranukleare Einlagerung oder Bindung
Das Chromatin des Kernes besteht aus Desoxyribonukleinsäuren (DNA), ba-
sischen Histonproteinen sowie aus z. T. sauren Nichthistonproteinen. Neben
einer Reaktion von Schwermetallen mit DNA und Histonproteinen binden be-
sonders die sauren Nichthistonproteine Metalle wie Quecksilber und Kupfer.
Außerdem können morphologisch erkennbare Einschlusskörperchen mit z. B.
Blei, Wismut, Quecksilber und Kupfer vorliegen.
Akkumulation von Schwermetallen in Organellen
Schwermetalle können von multilammelaren Lipidkörperchen eingeschlossen
und auf diese Weise unwirksam gemacht werden. Außerdem kommen für die
Speicherung lysosomale Kompartimente in Frage, deren Inneres besonders sau-
er ist. Goldbeladene Lysosomen bezeichnet man als Aurosomen. Schließlich
findet man Schwermetalle in Mitochondrien angereichert.
Bindung von Schwermetallen und Metalloiden im Zytoplasma
Für die Bindung von Schwermetallen im Zytoplasma steht eine ganze Reihe
von physiologischen Molekülen mit entsprechenden funktionellen Gruppen be-
reit, wie z. B. Glutathion, ATP etc. Eine wichtige Funktion haben induzierba-
re Proteine, deren Bildung durch bestimmte essentielle wie auch verschiedene
toxische Metalle im Körper angeregt wird. Hierzu gehört vor allem das Me-
tallothionein, das durch Bindung die toxischen Schwermetalle Cadmium und
Quecksilber immobilisiert und entgiftet.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 201

Induzierbares Metallothionein
Im Jahre 1957 isolierten Margoshes und Valles ein niedermolekulares Protein
mit dem Molekulargewicht von etwa 6500 Dalton aus der Pferde-Niere, wel-
ches einen hohen Gehalt an Zink (2,2 %) und Cadmium (5,9 %) enthielt. Da
außerdem in diesem Protein ein großer Gehalt an SH-Gruppen vorlag (8,5 %),
gaben sie ihm den Namen Metallothionein (Abbildung 4.13).

Cys Cys Cys Cys Cys Cys

Cys

Cys Cys Cys Cys Cys Cys Cys

Cys

Cys Cys Cys Cys Cys

Metallothionein
Abbildung 4.13 Modell eines Säugetier-Metallothioneins (nach Kägi und Nordberg, 1979).

Das Vorkommen von Metallothionein ist ubiquitär, es wurde auch in niederen


Organismen wie Bakterien, Algen und Fischen gefunden. Die Metallothioneine
sind nicht-enzymatische Proteine mit einem Molekulargewicht zwischen 6000
und 7000 Dalton. Sie bestehen in der Regel aus 60 Aminosäuren, wobei 19 bis
21 Aminosäuren Cystein sind. Außer Cadmium und Zink vermögen sie auch
besonders Quecksilber, Kupfer, Silber und Antimon zu binden. Das Cadmium-
Metallothionein ist offensichtlich die Hauptspeicherform für Cadmium in der
Niere und der Leber. Auf diese Weise wirkt es bei der Cadmiumvergiftung als
Schutz, da es das Schwermetall immobilisiert.
Von großer Bedeutung ist ferner die Tatsache, dass durch Cadmiumgaben die
Synthese von Metallothionein induziert werden kann. Diese Induktion führt
dazu, dass Lebewesen mehr Cadmiumbelastung vertragen können, d. h. die To-
leranz für Cadmium ist gesteigert. Außer Cadmium kann auch Zink, Quecksil-
ber, Silber und Kupfer die Metallothionein-Synthese anregen. Gibt man Tieren
kleine Dosen von z. B. Zink oder auch Cadmium als Vorbehandlung, so kann
durch die Metallothioneinsynthesesteigerung eine normalerweise tödliche Dosis
von Cadmium noch verkraftet werden.
202 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

4.1.11 Chelatbildner, Therapie der Schwermetallvergiftung


Die wichtigsten Antidote bei der Schwermetallvergiftung sind die Chelatbild-
ner. Chelate sind Komplexverbindungen von mehrwertigen Schwermetallen,
wobei mehrere Bindungsstellen eines Moleküls mit einem Metallatom eine Bin-
dung eingehen. So entsteht eine besondere Art von Komplex, ein Chelat (gr.
Chele, Krebsschere).
Die Chelatbildner besitzen keine absolute Spezifität für ein bestimmtes Schwer-
metall, wohl aber eine relative, die bei der Therapie ausgenutzt werden kann.
Außerdem laufen in einem Organismus eine Reihe von Nebenreaktionen ab,
welche die Chelatbildung am Schwermetall selbst oder beim Chelatbildner be-
einflussen können. Das Schwermetall kann durch folgende Nebenreaktionen an
der Komplexierung mit dem Chelatbildner gehindert werden:

• Reaktionen mit Hydroxid, Hydrogencarbonat oder Phosphat,


• Komplexbildung mit einer Reihe körpereigener Substanzen wie Dicarbonsäu-
ren, Glutathion, SH-haltige Aminosäuren, Proteine und Membranen,
• Änderung der Affinität eines Schwermetalls durch Oxidation und Reduktion,
• Metabolisierung des Liganden,
• körpereigene essentielle Metalle wie Kupfer, Zink, Magnesium, Mangan oder
Calcium konkurrieren mit dem giftigen Schwermetall um die Liganden,
• weiterhin konkurrieren auch Protonen mit den Metallen um Liganden. So-
mit ist die Stabilität eines Schwermetall-Chelat-Komplexes vom pH-Wert
der biologischen Flüssigkeit abhängig. Von praktischer Bedeutung ist die
Instabilität solcher Komplexe in saurem Harn. So können in der Niere frei-
gesetzte Metalle zu sekundären Schwermetallschädigungen führen.

Aus den oben genannten Gründen ist im Organismus die Stabilitäts- oder
Komplexbildungskonstante K (K = [ML]/[M] · [L], L ist der Ligand und M ein
Metall) gegenüber der in wässriger Lösungen bestimmbaren meist um einige
Zehnerpotenzen niedriger. Für den EDTA-Blei-Komplex wird z. B. anstelle
eines log K von 18,2 in wässrigen Lösungen nur ein log K von ungefähr 6,3 im
Organismus zu erwarten sein.
Bei der Entgiftung von Schwermetallen gelten folgende therapeutischen Ziele:
• Loslösung der Schwermetalle aus funktionell wichtigen Bindungsorten durch
höhere Affinität zum Chelatbildner,
• Abfangen und Inaktivierung zirkulierender Schwermetalle,
• Mobilisierung von Metallen aus ihren Depots, in denen sie in nicht aktiver
Form vorliegen,
• rasche Ausscheidung der gebildeten Schwermetall-Chelate in Harn, Galle
und Kot.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 203

Die Affinität von Metallen zu aktiven Liganden (Bindungsstellen) kann nicht


aufgrund der Stellung im Perioden-System abgeleitet werden. Es lassen sich
jedoch Vorhersagen machen, wenn man Metalle entsprechend der empirischen
Regel von Pearson in harte und weiche Säuren einteilt (Abbildung 4.14).

Klassifikation nach dem Konzept der harten und weichen Säuren (Pearson, 1963)

weich mittel hart

+++ +++ +++ ++


++ +
Hg , Au , Pt
++ ++ ++
Cu , Zn , Ni , Co , Cr
++ ++ +++ Fe , Al , Ga , Be

++ ++ ++
++
Pd , Ag ,
+ ++ ++
Pb , Sn , Cd , Cu
++ ++ VO , UO 2 , Sr

+++ +++ +++ + + +++ ++++ ++++ +++


Platingruppe As , Sb , Bi , Tl , In Y , Th , Ce , La

+++ ++ ++++
und andere Zwischenmetalle In , Ra , Pu

Abbildung 4.14 Metallkationen vom Typus A, die sogenannten harten Säuren“, befinden

sich auf der rechten Seite und Metallkationen vom Typus B, die den weichen Säuren“

angehören, sind auf der linken Seite angeordnet. Dazwischen befinden sich die Metalle mit
der Bezeichnung mittel“.

Metallkationen vom Typ der harten Säuren“ bilden in wässrigen Lösungen



vorzugsweise Komplexe mit harten Basen“, insbesondere mit Fluorid-Ionen

oder mit Liganden, die Sauerstoff-Atome enthalten. Sie zeigen geringe Tendenz,
mit Schwefel und Stickstoff eine Bindung einzugehen.
Dagegen zeigen die weichen Säure“ eine besondere Präferenz für Schwefel-

Liganden. Ein typisch hartes Metall ist Fe+++ und ein typisch weiches Hg++ .
Dazwischen befinden sich die Metalle von mittlerem Charakter wie Pb++ , Cu++
und Zn++ .
Eine für die Therapie wichtige Akzeptor-Präferenz der Chelatform lässt sich
aus Tabelle 4.5 entnehmen.
Die Bezeichnung BAL bedeutet British Anti Lewisit und kommt aus der
Kampfstoff-Chemie. Bei Versuchen zur Entgiftung eines arsenhaltigen Kampf-
stoffes Cl·CH = CH-AsCl2 , dem Lewisit, entwickelten englische Biochemiker
um 1940 ein hoch wirksames Antidot, das 2,3-Dimercaptopropanol (Dimer-
caprol). Ein Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen war die Erkenntnis, dass
SH-Verbindungen Arsenvergiftungen günstig beeinflussen.
204 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Tabelle 4.5 Toxische Schwermetalle und bevorzugte Chelatoren.

Chelator Metall

2,3-Dimercaptopropanol (BAL) Typ weich“:



2,3-Dimercaptopropan-1-sulfonat-Na Hg++ , As+++ , Sb+++ , Bi+++
2,3-Dimercaptobernsteinsäure

D-Penicillamin N-Acetyl-D,L-Penicillamin Typ weich und mittel“:



N-Acetyl-L-Cystein Hg++ , Cu++ , Ni++ , Zn++ , Au+

Ethylendiamintetraacetat (EDTA) Typ hart und mittel“:



Diethylentriaminpentaacetat (DTPA) und Al+++ , Ca++ , Pb++ , Cu++ ,
analoge Verbindungen Zn , Pu++++
++

Deferoxamin (Desferal) Typ hart“: Fe+++ , Al+++ , Ga+++


BAL ist eine übelriechende, leicht zersetzliche Substanz, die vor der Injektion
in Öl gelöst werden muss. Es bildet zwar stabile, relativ untoxische Komplexe
mit Metallen wie Arsen und Quecksilber, ist aber nur wenig wasserlöslich.
Wird BAL bei Vergiftungen mit Quecksilber eingesetzt, nimmt die Queck-
silberkonzentration im Hirn zu. Während Quecksilber-Ionen die sogenannte
Blut-Hirn-Schranke nur sehr schwer permeieren, überwindet der relativ lipo-
phile Dimercaptopropanol-Quecksilber-Komplex diese Barriere gut. Trotz der
dadurch erzeugten hohen Quecksilberkonzentration im Hirn kommt es nicht
zu toxischen Erscheinungen, da die Stabilität der Bindung von Quecksilber an
BAL gewährleistet ist, solange BAL im Überschuss vorliegt. Wegen der schnel-
len Ausscheidung von BAL zielt die Therapie darauf ab, stets einen Überschuss
im Organismus aufrechtzuerhalten (siehe Kapitel 4.2.5).
Vom Chelatbildner wird dabei folgendes verlangt:
• Eine hohe Bindungskonstante für das toxische Schwermetall,
• eine gute Löslichkeit und leichtes Vordringen bis zu den Bindungsorten,
• eine gute Harn- und Gallengängigkeit, sowie Stabilität bis pH 4 (Urin),
• eine geringe Toxizität für den Organismus.
Schließlich können als allgemeine Richtlinien bei der Therapie gelten:
• Die Dosierung des Chelators soll sich an der aufgenommenen Menge an
Schwermetall ausrichten, da sich Metall und Chelatbildner gegenseitig ent-
giften.
4.1 Allgemeine Toxikologie der Schwermetalle 205

• Auf mögliche Verluste an essentiellen, körpereigenen Schwermetallen wie


Kupfer, Zink, Magnesium und Calcium sowie auf Nebenwirkungen soll ge-
achtet werden.
Die Metallausscheidung muss durch ständige Analyse der Ausscheidung in
Harn und Kot kontrolliert werden. Die Chelatbildner nehmen in der Thera-
pie der Schwermetallvergiftung einen bedeutenden Platz als Antidot ein. Das
Prinzip der gleichzeitigen Entgiftung und Ausscheidung lässt sich durch kein
anderes Verfahren ersetzen.
206 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle


Wolfgang Legrum

4.2.1 Blei
Die Bezeichnung trägt der bläulichen Farbe des Metalls Rechnung. Sein natürli-
ches Vorkommen ist ausschließlich auf Verbindungen mit der Oxidationsstufe
+2 beschränkt. Am häufigsten und wichtigsten ist Bleiglanz (PbS), aus dem
Blei dargestellt wird. Er enthält etwa 1 % an Silber. Daneben gibt es eini-
ge farbige, schwerlösliche Salze, die früher als Pigmente Verwendung fanden.
Aufgrund der lateinischen Bezeichnung plumbum wurde durch den Schweden
Berzelius das Elementsymbol Pb eingeführt. Der englische Name lead ist mit
dem deutschen Lot und Löten verwandt, was auf die niedrige Schmelztempe-
ratur des Metalls hinweist.

Globales Vorkommen und anthropogene Einflüsse

Die Jahresproduktion an Blei liegt bei etwa 5,5 Millionen Tonnen. In der
Umgebung von Minen und Schmelzen und selbstverständlich auch von aufge-
lassenen Hüttenbetrieben finden sich erhöhte Bleikonzentrationen (> 200 bis
4000 mg/kg) im Erdboden. Da Blei im Boden schnell immobilisiert wird und
auf Dauer gebunden bleibt, können es Pflanzenwurzeln nur in sehr geringem
Maße aufnehmen. Bleikontaminationen von Pflanzen sind hauptsächlich durch
Immissionen verursacht. Bedingt durch die atmosphärische Verteilung stieg
nach Einsetzen der industriellen Revolution 1750 die Bleikonzentration im
Grönlandeis deutlich an.

Anwendungen

Von historischem und toxikologischem Interesse sind folgende Anwendungen


von Blei und dessen Verbindungen:
Die Verwendung von Bleigeschirr war bei den Römern modern und galt als
besonderer Luxus, ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts Geschirr aus Alu-
minium. Das Herauslösen von Blei durch Kontakt mit sauren Speisen führte
zu chronischer Zufuhr von Bleiionen mit Vergiftungen. Bleirohre als Bestand-
teile der Trinkwasserleitungen stellen noch heute in Europa eine langfristige
Sanierungsaufgabe an älteren Häusern dar. So sind bis 1970 in Hamburg noch
alle Hauseinführungen in Blei gefertigt worden, was heute noch etwa 120 000
Haushaltungen (16 %) betrifft. Aus den Leitungsrohren kann weiches nitrat-,
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 207

carbonat- und huminsäurehaltiges Wasser toxisch relevante Mengen an Blei


herauslösen und zu chronischen Vergiftungen führen.
Blei, das sich wegen der Duktilität leicht walzen lässt, dient in der Dachdecke-
rei als Bleiblech zum Abdichten von Anschlüssen. Bleiauskleidungen (Blei-
kammern) werden wegen ihrer chemischen Beständigkeit gegenüber Schwe-
felsäure genutzt. Geschosskerne und Schrot bestehen aus Blei oder enthalten
es in Legierung. Verbleibt das Material im Gewebe (Steckschüsse), kann es
sich auflösen und zu Vergiftungen führen. Bleilegierungen finden Verwendung
als Letternmetall mit Antimon und Zinn (Hartblei) und als Lagermetall für
Achslager (Bahnmetall). Bleimäntel dienen als Vulkanisierform zur Herstellung
von Hydraulik-Hochdruckschläuchen. Beim halbmaschinellen Abschälen dieser
Formen besteht die Gefahr der Exposition. Daneben sind auch bleiummantelte
Kabel im Einsatz. Zur Herstellung von Bleiakkumulatoren dient etwa die Hälf-
te der Produktion. Für diese Verwendung bestehen auch effiziente Verfahren
der Wiederverwertung, die, bereits vor über hundert Jahren begonnen, zu den
ältesten Techniken des Recyclings gehören.
Eine Anwendung als Pigment fanden Mennige als Rostschutzanstrich und in
den Malerfarben Bleiweiß (Carbonat), Chromgelb (Postgelb, Chromat) und
Neapelgelb (Antimonat). Gefahren der Freisetzung aus diesen Materialien erge-
ben sich bei der Prozessierung gestrichener Objekte (Schrott, Fensterrahmen,
Anstriche). Während aus bleisilicathaltigen Glasuren im Kontakt mit sauren
Speisen Bleiionen in Lösung gehen, besteht eine solche Gefahr bei Bleikristall-
glas und Flintglas, die große Anteile an PbO enthalten, nicht. Bleiarsenat wird
im Ausland teilweise zur Schädlingsbekämpfung im Weinbau eingesetzt, seine
Anwendung ist in Deutschland verboten. Verständlich sind daher die höheren
Blei- und Arsengehalte in manchen importierten Weinen.
Als lösliche Bleiverbindung hat Bleiacetat in den letzten zwei Jahrhunderten
medizinische Anwendung erfahren. Es diente innerlich als Adstringens. Wegen
seines süßlichen Geschmacks auch Bleizucker genannt, wurde es zum direk-
ten Süßen von Wein genutzt, ähnlich wie Bleiglätte (PbO) zum Entsäuern
des Weines. Diese Verfahren lösten im 17. Jahrhundert in Frankreich verschie-
dentlich Massenvergiftungen aus, die mit Bleikoliken begannen. Der Einsatz
von Bleiessig, Bleiwasser, Bleipflaster und Bleipuder besonders in der Wund-
behandlung und von Pigmenten in der Kosmetik führte häufig zu chronischen
Vergiftungen.
Ionisches Blei kann in Nahrungsmitteln auftreten, sofern bei der Herstellung
und Verpackung bleihaltige Legierungen verwendet werden. Zu erwähnen sind
dabei in erster Linie solches Weißblech, dessen Zinnüberzug früher häufiger
einen zu hohen Bleianteil aufwies, Dosennähte, die mit bleihaltigem Zinn aus-
geführt waren, und Tuben.
208 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Anfang der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entdeckte man die Ei-
genschaft der Alkylderivate des Plumbans (Tetraethyl-und Tetramethyl-Blei,
TEL bzw. TML, die Klopffestigkeit von Treibstoffen für Ottomotoren zu stei-
gern (vgl. Seite 174). Konzentrationen von ursprünglich 640, später
150 mg Pb/L Benzin waren zur Erhöhung der Oktanzahl zugelassen. In Eu-
ropa gingen 6 % der Bleiförderung (in den USA 17 %) in die Produktion
dieser Zusatzstoffe. Um die Ablagerung des während der Verbrennung frei-
werdenden Bleis als hochschmelzendes PbO im Motor zu umgehen, sorgte
der Zusatz von 1,2-Dichlorethan (Ethylendichlorid) und 1,2-Dibromethan in
gefärbten Blei-Fluiden für die Bildung von flüchtigen Bleihalogeniden (PbCl2 ,
Smp. 373 °C und PbBr2 , Smp. 501 °C). Als Aerosol werden die Verbindungen
aus dem Brennraum ausgetragen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass
seit 1940 die Konzentrationen im Grönlandeis verstärkt zunahmen und die
in Wässern von Kläranlagen gefundene Bleifracht zu ca. 80 % aus Straßen-
und Dachabwässern stammte. Gegenwärtig vertriebene unverbleite Kraftstoffe
für Ottomotoren dürfen maximal 13 mg Pb/L enthalten. In Schmierölen finden
Bleiseifen als Stabilisatoren und Sikkative Verwendung.

Toxikokinetik

Blei und seine anorganischen Verbindungen werden von der intakten Haut
kaum resorbiert.
Akute Vergiftungsfälle mit anorganischen Bleiverbindungen sind selten, da
auch nach oraler Aufnahme große Mengen ohne Vergiftungszeichen toleriert
werden. Die geringe intestinale Resorptionsquote liegt zwischen 5 und 10 %
und bietet dem Erwachsenen ausreichenden Schutz, nicht dagegen dem Kind,
das bis zu 50 % aufnimmt. Wird allerdings das Darmepithel geschädigt (bis
50 g Bleiionen), treten nach massiver Resorption tödliche Vergiftungen auf.
Die chronische Bleivergiftung (Saturnismus, bereits seit 200 v. Chr. bekannt)
tritt als Folge einer beruflichen Exposition nach regelmäßiger Zufuhr von anor-
ganischen Bleiverbindungen in Milligramm-Mengen pro Tag auf (Berufskrank-
heiten-Verordnung, BKV 1997, Nr. 1101). Hierbei spielt in der Regel neben
der oralen die pulmonale Aufnahme die wichtigere Rolle. Da je nach Atemvo-
lumen, Löslichkeit und Partikelgröße zwischen 30 und 50 % des in der Atemluft
enthaltenen Bleis in der Lunge aufgenommen werden, reichen zur Ausbildung
einer chronischen Vergiftung noch geringere Mengen aus als bei ausschließ-
lich oraler Exposition. Die Aufnahme lässt sich als Funktion der pulmonalen
Retention und Resorption darstellen.
Nach der Resorption sind mindestens 90 % des im Blut befindlichen Bleis an
die Erythrozyten gebunden. Das freie Blei gelangt von hier aus in die weichen
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 209

Gewebe und in die Knochen, wobei es sich wie Calcium verhält. Die Plazentar-
schranke und die Blut-Hirn-Schranke werden in Form von lipophilen Komple-
xen ohne wesentliche Behinderung überwunden. Die weichen Gewebe stellen
flache Kompartimente dar, aus denen Blei mit einer Halbwertzeit von 20 Ta-
gen renal und biliär ausgeschieden wird. Zur mineralischen Knochenmatrix hat
Blei eine hohe Affinität, so dass ein großer Anteil im Knochen gespeichert wird.
Als schwer lösliches Bleiphosphat enthält dieses Kompartiment etwa 95 % des
gesamten Bleis im Organismus (body burden) und deponiert im Laufe des
Lebens ohne berufliche Exposition etwa 200 mg Blei. Eine Mobilisation des
Bleis kann sich durch Fieber, Schwangerschaft, Stress, Azidose oder Frakturen
auslösen lassen, Vorgänge, welche auch physiologisch Calcium mobilisieren. Die
normale Halbwertzeit der Elimination aus dem Knochen beträgt 20 Jahre. Die
Ausscheidung von Blei aus dem Organismus erfolgt zu 75 % renal, der Rest
biliär und in Spuren über Haare, Nägel, Schweiß und Milch.
Tetraalkyl-Blei (TML, TEL) wird im Gegensatz zu allen anderen Bleispezies
besonders leicht durch die intakte Haut und durch die Lunge resorbiert. Es folgt
eine rasche Aufnahme in das Gehirn, was im akuten Vergiftungsbild zentrale
Wirkungen in den Vordergrund treten lässt. Seine Eliminationshalbwertzeit
für das Gehirn beträgt etwa 500 Tage. Tetraethyl-Blei unterliegt einem Meta-
bolismus über Triethyl- und Diethyl-Bleiionen zu anorganischem Blei. Zu einer
Ausscheidung von organischem Blei aus dem Organismus kommt es kaum.
Toxikodynamik
Typisch für eine akute Bleivergiftung ist das Vorherrschen gastro-intestinaler
Symptome wie Erbrechen, Leibschmerzen, Darmkrämpfe, Obstipation und Pro-
teinurie. Sie werden durch Spasmen der glatten Muskulatur des Darmes ver-
ursacht (Bleikolik), weil Blei das physiologische Calcium verdrängt (Mimikry).
Spasmen der Gefäßmuskulatur und der Kapillaren sind Ursache für eine blass-
graue Färbung der Haut (Bleikolorit). Bei Kindern sind zentralnervöse Symp-
tome ausgeprägt, während sie bei Erwachsenen zum Bild der chronischen Ver-
giftung gehören. Ihnen liegen Interferenzen mit der calciumabhängigen Frei-
setzung von Neurotransmittern zugrunde.
Die chronische Vergiftung beginnt mit unspezifischen Symptomen wie Müdig-
keit, Schwäche, Blässe, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Leberschwellung,
Koliken und Obstipation. Sie wird deshalb oft nicht erkannt. Typisch, je-
doch nicht regelmäßig, ist das Auftreten eines Bleisaumes (PbS) am Zahn-
fleisch. Eindeutige Anzeichen für eine chronische Vergiftung sind, neben zen-
tralnervösen, periphermotorischen und glattmuskulären Funktionsstörungen,
vor allem die Störungen der Biosynthese des Hämoglobins und der Erythro-
poese. Hierbei handelt es sich um einen typischen Schwermetalleffekt, der ohne
eine Interaktion mit Calcium zustande kommt.
210 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Succinat Glycin
1
5-Aminolaevulinat (Mitochondrium) (Anstieg im Urin)
(Cytosol)
Pb 2
Porphobilinogen
3
4
(Cytosol)

Uroporphyrinogen III Uroporphyrin III

5
Koproporphyrinogen III Koproporphyrin III (Anstieg im Urin)

Pb 6
Protoporphyrinogen III Protoporphyrin IX (Anstieg im Ery.)
7
Pb 8
(Mitochondrium) Haem

Abbildung 4.15 Vereinfachtes Schema der Hämbiosynthese und der drei Angriffspunkte
von Blei. Sie startet mit Succinyl-CoA im Mitochondrium, wechselt zum Cytosol, um wie-
der in das Mitochondrium zurückzukehren. 5-Aminolaevulinsäure = δ-Aminolaevulinsäure
(δ-ALA). Acht Enzyme sind für die Synthese erforderlich: 1: δ-Aminolaevulinat-Synthase
(Schlüsselenzym); 2: Porphobilinogen-Synthase = δ-Aminolaevulinsäure-Dehydratase;
3: Hydroxymethylbilan-Synthase; 4: Uroporphyrinogen III-Synthase; 5: Uroporphyrinogen III-
Decarboxylase; 6: Koproporphyrinogen III-Decarboxylase; 7: Protoporphyrinogen IX-
Dehydrogenase. Analoge Dehydrogenasen gibt es für die Substrate Uro- und Kopropor-
phyrinogen; 8: Ferrochelatase. Letztere ist in der Lage, auch andere Schwermetalle wie
Cobalt oder Zinn in das Protoporphyrin einzubauen. Die Anhäufung von Zwischenstufen,
die im Urin bzw. im Erythrozyten gefunden werden, ist beweisend für eine Exposition mit
Blei.

Blei blockiert die Biosynthese des Hämoglobins durch Hemmung von drei En-
zymen, der d-Aminolaevulinsäure-Dehydrase (Porphobilinogen-Synthase), der
Koproporphyrinogen III-Decarboxylase und der Ferrochelatase (Abbil-
dung 4.15). Die Folge ist der Anstieg von zwei in Blut und Urin ausgeschiedenen
Synthesezwischenstufen. So ist der Nachweis von d-Aminolaevulinsäure und
Koproporphyrin III diagnostisch von Bedeutung. Protoporphyrin IX ist in den
Mitochondrien und in den Erythrozyten erhöht. Die Hemmung einer Pyrimi-
din-5’-Nukleotidase lässt im Erythrozyten ein Ribonukleotid persistieren, das
für die basophile Tüpfelung verantwortlich scheint, die klinisch zur Früherken-
nung einer Intoxikation dienen kann.
Aber nicht nur über Enzymhemmungen wirkt Blei auf Erythrozyten. Seine
hämolytische Wirkung verkürzt ihre Lebensdauer. Das unmittelbar nach der
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 211

Resorption von den Erythrozyten gebundene Blei ist in der Lage, als lipophiler,
membrangängiger Komplex (mit Bicarbonat) in die Erythrozyten einzudrin-
gen. Hier aktivieren Bleiionen wie physiologischerweise Calcium die Kalium-
kanäle und führen damit zu einem vollständigen Kaliumverlust. Der zelluläre
Gehalt an ATP fällt gleichzeitig ab.
Zentrale degenerative Vorgänge im Gehirn sind Auslöser für Schwindel, Seh-
und Hörstörungen, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit, Depressionen und Er-
regungszustände (Encephalopathia saturnina). Ursache hierfür könnten Kon-
traktionen von Arteriolen und Kapillaren sein. Eine zentral ablaufende de-
generative Schädigung des motorischen Systems äußert sich peripher in Ner-
venlähmungen mit motorischen Ausfällen an Armen und Beinen. Besonders
die Arbeitshand ist davon betroffen, da die Streckermuskulatur infolge der
Lähmung des Nervus radialis nachlässt (sog. Fallhand).
Die spastische Wirkung auf Gefäßwände kann auch zu Nierenschädigung, Gan-
grän und Angina-pectoris-Anfällen führen.
Eine akute Vergiftung mit Tetraethyl-Blei, die bereits durch Schnüffeln von
verbleitem Benzin ausgelöst werden kann, äußert sich als toxische Psycho-
se. Beständige Erregung, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, zentral ausgelöste
Krämpfe, Halluzinationen, Temperatur- und Blutdruckabfall lassen sich be-
obachten. Erschöpfung kann zum Tod führen. Eine chronische Zufuhr von or-
ganisch gebundenem Blei führt zu dem Bild einer chronischen Vergiftung durch
anorganisches Blei.

Therapie

Zur schnellen Giftentfernung ist bei der akuten Vergiftung Erbrechen aus-
zulösen, danach wird lösliches Blei zweckmäßig in schwerlösliches Sulfat über-
führt.
Von den Chelatoren eignet sich zur Therapie chronischer Intoxikationen am
besten EDTA (Abbildung 4.25), das zur Schonung der Calciumbestände als
CaNa2 -EDTA einzusetzen ist. Penicillamin ist auch per os anwendbar, wirkt
aber schwächer. Zur Erkennung von Bleidepots kann ein sogenannter Mobi-
lisationstest durchgeführt werden. Hierzu misst man die nach kombinierter
Anwendung der beiden Chelatoren im 24-Stunden-Sammelurin ausgeschiede-
ne Menge an Blei und vergleicht sie mit der zuvor unter Kontrollbedingungen
eliminierten Menge. Anstiege auf das über 10fache sprechen für vorhandene
Bleidepots.
Dimercaprol (BAL) ist in der Regel ungeeignet, da sein Bleikomplex leicht
dissoziiert und deswegen Schäden an den Nierentubuli setzt. Es hat jedoch
den Vorzug, in das Gehirn eindringen zu können.
212 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Keine der genannten Maßnahmen ist zur Therapie einer akuten Vergiftung mit
Tetraethylblei geeignet. Dessen zentral ausgelöste Erregung kann mit Diaze-
pam gedämpft werden.

4.2.2 Cadmium
Cadmium, als Element 1817 dargestellt, ist ein typischer Begleiter der Schwer-
metalle Zink, Kupfer, Blei. Es fällt bei deren Herstellung automatisch als Ne-
benprodukt an und wird deshalb niemals eigens abgebaut. Sein antropogener
Eintrag in die Umwelt ist unabhängig von seiner Nutzung im wesentlichen
von der (Bunt-)Metallgewinnung abhängig. Die Vergesellschaftung mit ande-
ren Metallen drückt sich auch in der Namensgebung aus, da κadmeia (galmei)
im Laufe der Geschichte die vier Elemente Kupfer, Zink, Cobalt und Cadmium
bzw. deren Erze bezeichnete.

Anwendung

Die erst in diesem Jahrhundert einsetzende industrielle Nutzung des Cadmi-


ums besteht in seiner Verwendung als galvanischer Rostschutz für Eisen, als
Legierungsbestandteil, als Farbpigment (Cadmiumgelb, CdS), als Stabilisa-
tor für Kunststoffe (max. 1 mg/L nach EN71, Europäische Norm, Safety of
toys), zur Herstellung von Trockenbatterien, Ni-Cd-Akkumulatoren und als
Neutronenabsorber in Regelstäben von Kernreaktoren. Spezialanwendungen
für Cadmium sind niedrig schmelzende Legierungen (Woodsches Metall und
Lipowitz-Legierung) und Lote.
Für die Ausbreitung von Cadmium in der Umwelt ist seine Flüchtigkeit ver-
antwortlich. Cadmium verdampft bei der Metallgewinnung und bei techni-
schen Anwendungen (z. B. Schweißen) als einatomiges Gas und reagiert mit
Sauerstoff leicht zu Cadmiumoxid (CdO), das sich als Aerosol auch durch
Verbrennung aus cadmiumhaltigen Materialien wie Kohle, Erdöl, Müll und
Klärschlamm bildet. Deshalb steht für beruflich Exponierte die inhalative Auf-
nahme im Vordergrund. Die Durchschnittsbevölkerung nimmt Cadmium da-
gegen hauptsächlich mit der Nahrung auf. Der Gehalt der Luft liefert hier
nur einen kleineren Beitrag zur Gesamtbelastung, wobei Raucher wegen des
Cadmium-Gehaltes des Tabaks eine höher belastete Sondergruppe bilden. Der
Eintrag von Cadmium auf die landwirtschaftlichen Nutzflächen erfolgt als
Aerosol über die Luft oder direkt durch Ausbringen von Phosphatdünger
(Superphosphat) und Klärschlamm, dessen maximale Konzentration 10 mg/kg
Trockenmasse nicht überschreiten darf. Fünf Tonnen Klärschlamm pro Hektar
sichern die Phosphat-Versorgung für drei Jahre und repräsentieren 5000 Ton-
nen gereinigtes Abwasser. Cadmium reichert sich auf Grund seiner Wechselwir-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 213

kung mit Huminsäuren in der organischen Bodensubstanz an und gelangt von


hier in Pflanzen, z. B. Nicotiana tabacum, die es leicht aufnehmen. Pilze binden
es an einem Glutathionanalogon, dem Phytochelatin ((-Glu-Cys)n=1−8 -Gly).

Toxikokinetik

Die geringe Partikelgröße und Wasserlöslichkeit des Cadmiumoxids (CdO) im


Aerosol bedingt sein Vordringen bis in die Alveolen der Lunge, wo es zurück-
gehalten und zu 25 bis 50 % resorbiert wird. Die Resorptionsquote ist von
beiden Parametern abhängig. Durch den Konsum von zwanzig Zigaretten mit
je 1–2 mg Cd kann dem Körper inhalativ etwa ebensoviel Cadmium zugeführt
werden wie mit der täglichen Nahrung, die zwischen 15 und 60 mg Cd beisteu-
ert. Insgesamt werden mit dem gerauchten Tabak etwa 10 Tonnen Cadmium
freigesetzt, genausoviel wie in der Stahlindustrie. Die Lebensmittel enthalten
zwischen 4 (Äpfel), 60 (Kartoffeln), 120 (Weizenmehl), 20 (Rindfleisch) und
1300 (Rinderniere oder Austern) mg Cd/kg Frischgewicht, weitgehend in Bin-
dung an Proteine. Die Resorption von Cadmium im Gastrointestinaltrakt liegt
bei ca. 2–8 %. Sie ist nicht konstant, sondern von der Füllung der Eisendepots
und dem Angebot an Calcium abhängig. Da zur Kompensation von Mangel-
zuständen an Eisen und Calcium die Transportproteine für Eisen und endoge-
ne Liganden für Calcium verstärkt gebildet werden, steigt die Resorption von
Cadmium, das diese Wege partiell als Eintrittspforten nutzt, ebenfalls an.
Das durch Lunge und Darm resorbierte Cadmium ist im Blut zunächst an
Albumin gebunden und erreicht so leichter die Leber, wo es auf Metallothio-
nein (MT, 6,6 kDa, 61 AS) übertragen wird. Dieses gelangt in beladener Form
in den Kreislauf (Abbildung 4.16). Metallothionein, welches im Molekül etwa
20 Cysteinreste trägt, ist ein effektiver Ligand für Schwermetalle und physio-
logischerweise ein beweglicher Speicher für Zink. Es lässt sich durch Schwer-
metallzufuhr induzieren (Cd > Cu > Hg > Zn), was für den Körper durch
Bindung eine partielle Entgiftung des Metalls bedeutet (vgl. Kapitel 4.1.10).
Mit Cadmium beladenes Metallothionein wird in der Niere aufgrund seiner
Größe zunächst glomerulär filtriert, dann aber im proximalen Tubulus reab-
sorbiert. Intrazellulär löst hier abdissoziiertes ionisches Cadmium eine renale
Neubildung einer zweiten Isoform des Metallothioneins aus, was im Endeffekt
durch Bereitstellung von Bindungsstellen zu einer Deponierung von Cadmium
in der Nierenrinde führt. Hier lagern zwischen 30 und 50 % des Gesamtkörper-
bestandes, während auf Leber und Muskel je etwa 20 % entfallen.
Auch in der Plazenta induziert Cadmium die Bildung von Metallothionein.
Aufgrund der starken Bindung an dieses Protein ist Cadmium kaum plazen-
targängig, und das Neugeborene bleibt praktisch frei davon (Abbildung 4.17).
Die Aufnahme des Metalls führt im Laufe des Lebens zu einem stetigen Anstieg
214 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Cluster B Cluster A

MDPNCSCATDGSCSCAGSCKCKQCKCTSCKKSCCSCCPVGCAKCSQGCJCKEASDKCSCCA
5 7 13 15 19 21 24 26 29 33/4 36/7 41 44 48 50 57 59 60
S

S S S44 S
S S S34

S S15 S S S60 S
S7 S24 S37 S50
S S

Abbildung 4.16 Aufbau von Metallothionein. über der Sequenz der 61 Aminosäuren des
Metallothioneins von Säugetieren (hier Ratte) ist durch die Höhe der Säulen die Aminosäure-
variabilität bei 30 Spezies dargestellt. Die 20 Cystein-Reste (gefüllte Säulen) unterliegen
keiner Variation. Die Aminosäuren 1–30 bilden das Cluster B, das mit 9 Cystein-Resten
drei divalente Kationen (gefüllte Kreise) in jeweils tetraedrischer Anordnung komplexiert
(Cd3 Cys9 ). Cluster A, dem die Aminosäuren 31–61 zugrunde liegen, bindet vier Kationen
unter Beteiligung von 11 Thiol-Gruppen (Cd4 Cys11 ). Die idealisierten Chelate in den bei-
den Clustern sind im unteren Teil abgebildet. Die Indizes an den Thiol-Schwefeln geben die
Position des entsprechenden Cystein-Restes an. Zwischen Metall und Schwefel ergibt sich
im voll beladenen Metallothionein ein molares Verhältnis von beinahe 1:3.

seiner Konzentration im gesamten Organismus vor allem in der Niere, wobei


dort nach ca. 50 Jahren ein Maximum durchlaufen wird. Es liegt für Nicht-
raucher bei durchschnittlich 24 mg Cd/kg Frischgewicht (Raucher 73 mg Cd/kg)
in der Nierenrinde. Nierenschäden sind erst zu erwarten ab einer Konzentra-
tion von > 200 mg Cd/kg. Dann scheint eine Grenze in der Speicherkapazität
erreicht zu sein und freigesetztes Cadmium kann irreversibel die Nierentubuli
schädigen, wodurch seine renale Ausscheidung zunimmt. Solche Konzentratio-
nen sind höchstens durch eine langjährige berufsbedingte Exposition erreich-
bar.
Aufgrund des Anstiegs der Cadmium-Konzentration in der Nierenrinde steigt
auch die renale Ausscheidung bis auf ca. 2 mg/L an, obwohl eine renale Reab-
soption des Metallothioneins erfolgt. Die biologische Halbwertzeit für die Eli-
mination von Cadmium liegt zwischen 10 und 30 Jahren. Verschiebungen aus
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 215

75
ug Cd/g Nierenrinde
Japan
50

USA

25
Schweden

Deutschland
0
0 20 40 60 80 100
Lebensjahre

Abbildung 4.17 Konzentration von Cadmium in der Nierenrinde des Menschen in Abhängig-
keit vom Lebensalter. Die Daten repräsentieren den Zustand in Bevölkerungsgruppen ver-
schieden großer, nicht repräsentativer Stichproben unter Einschluss von Rauchern. Die Kon-
zentrationen beziehen sich auf das Frischgewicht des Organs. Nach Friberg et al., 1974.

nicht speichernden Organen, d. h. solchen ohne nennenswerte Syntheseleistung


für Metallothionein (Apothionein), in speichernde Organe hinein (Cd-shift)
erfolgen mit einer Halbwertzeit von nur fünf Tagen.

Toxikodynamik

Das gemeinsame Prinzip der bekannt gewordenen akuten Schädigungen durch


Cadmium beruht auf der Eigenschaft seiner Ionen, Proteine in Membrangrenz-
flächen zu denaturieren. Hierbei löst es über eine Radikalbildung Lipidperoxi-
dation aus.
Die Inhalation von Cadmium als Dampf, Rauch oder Aerosol führt zu trockenen
Schleimhäuten, Husten und Fieber. Noch 24 Stunden nach der Exposition
kann sich ein Lungenödem ausbilden, das je nach Schweregrad der Schädigung
tödlich sein kann.
Die enterale Aufnahme von größeren Mengen an Cadmium-Ionen löst in der
Regel innerhalb weniger Minuten Erbrechen und Diarrhoe aus, die von kolik-
artigen Schmerzen begleitet ist. Das Erbrechen und eine geringe Resorptions-
quote lassen schwere Intoxikationen meist nicht entstehen.
Unter längerer beruflicher pulmonaler Exposition gegenüber Cadmium in Kon-
zentrationen größer 70 mg/m3 bilden sich entzündliche Veränderungen der
Schleimhäute des Respirationstraktes aus, häufiger begleitet vom Cadmium-
Schnupfen, einer Degeneration des Riechepithels mit Ausbildung einer Anos-
216 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

mie. Weiterhin entwickeln sich eine obstruktive Atemwegserkrankung und ein


Lungenemphysem.
Unabhängig von der Expositionsroute bleibt die Niere Zielorgan der Schädi-
gung. Als Frühsymptom einer nicht reversiblen Schädigung der Nierentubuli
lässt sich eine Proteinurie erkennen. Vorrangig findet man b2 -Mikroglobuline,
die in Anwesenheit von freiem Cadmium nicht mehr reabsorbiert werden kön-
nen und als diagnostische Marker dienen.
Die längerfristige orale Aufnahme von stark mit Cadmium belasteten Lebens-
mitteln löst eine Reihe von Symptomen aus, die sich in einer Störung des Mine-
ralhaushaltes (Ca, Phosphat und Fe) und des Vitamin D-Stoffwechsels äußern.
Dies führt sowohl zu Eisenmangelanämien als auch zu schwerer schmerzhafter
Erweichung des Knochens und zu seinem Abbau (Osteomalazie bzw. Osteopo-
rose).
In Japan, wo diese Intoxikation 1956 auftrat, nachdem Reis mit einem Cadmi-
um-Gehalt von 2 mg/kg zum Verzehr kam, wurde die Bezeichnung Itai-itai-
Krankheit geprägt (itai = aua). Die Cadmium-Belastung kam durch die Be-
wässerung der Reisfelder mit Wasser zustande, das durch Cadmium aus Ab-
raumhalden eines Bergwerks verunreinigt war.
Im einzelnen sind folgende Zusammenhänge bekannt. Cadmium verdrängt be-
reits im Dünndarm Calcium von dessen Bindungsprotein und mindert seine
Resorption. Die Calcium-Konzentration im Plasma reguliert die Ausschüttung
der Hormone Calcitonin (Aufbau von Knochen bei hoher Calcium-Konzentra-
tion) und Parathormon (Abbau von Knochen und damit verbundener Verlust
an Phosphat und Calcium). Cadmium inhibiert die in der Nierentubuluszel-
le lokalisierte Cholecalciferol-Hydroxylase und verhindert so die Entstehung
der biologischen Wirkform des Vitamin D3 , nämlich des 1,25-Cholecalciferols
(Calcitriol), das die Synthese des Calcium-Bindungsproteins und die Knochen-
mineralisation veranlasst.
Eine Schädigung des Hodens, der männlichen Keimzellen und die Auslösung
von Bluthochdruck sowie von Lungen- und Prostatakarzinomen durch Cadmi-
um werden diskutiert.

Therapie

Die Gabe von Dimercaprol (BAL) als Chelatbildner ist nach akuter inhalati-
ver Vergiftung sinnvoll. In der Therapie chronischer Vergiftung ist sie umstrit-
ten, da mit der Mobilisierung des Metalls die Gefahr einer Nierenschädigung
entsteht.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 217

4.2.3 Chrom
Chrom, das härteste aller Gebrauchsmetalle, kommt in der Natur vorwiegend
als Chromeisenstein (Chromit, Cr2 O3 ·FeO = FeCr2 O4 ) vor. Die größten La-
gerstätten liegen in Südafrika. Vierzig Jahre zog sich die Entdeckungsgeschich-
te des Elementes hin, bis es 1798 von Louis Vauquelin unrein hergestellt und
wegen seiner vielfarbenen Verbindungen als Chrom (qrwma) bezeichnet wur-
de. Seine Darstellung ist schwierig, da sich das Metall nicht durch Reduktion
des Erzes mit Kohlenstoff gewinnen lässt. Zum Metall gelangt man nach ei-
nem oxidativen Aufschluss des Erzes über Chrom(VI) (Dichromat). Eine erste
Reduktion mit Kohlenstoff liefert Chrom(III) (Cr2 O3 ), welches im Thermit-
verfahren mit Aluminium zum Element reduziert wird. Das Metall wird we-
der an der Luft noch unter Wasser oxidiert, da es eine dünne, sehr dichte
Schutzschicht von Chrom(III)-oxid (Cr2 O3 ) ausbildet. Durch Behandlung mit
Salpetersäure oder Chromsäure lässt sich diese Passivierung verbessern. Unter
chemischer oder kathodischer Reduktion kann dieser Schutz jedoch zerstört
werden. Für galvanische Anwendungen oder die Gewinnung reineren Chroms
durch Elektrolyse erübrigt sich die Herstellung des Metalls, da der Prozess von
Chrom(III)-Lösungen ausgeht. Auch zur Legierung von Stahl dient nicht das
Metall sondern Ferrochrom (Fe2 Cr) als Zuschlag, das sich aus Chromit durch
Verschmelzung mit Koks im elektrischen Ofen erhalten lässt.
Chrom kommt hauptsächlich in Oxidationsstufen +2, +3 und +6 vor, jedoch
existieren alle Stufen von -2 bis +6. Verbindungen des Chrom(II) sind starke
Reduktionsmittel, die des Chrom(VI) starke Oxidationsmittel. Bevorzugt ist
die Oxidationsstufe +3. Farbintensive Chromate dienen als unlösliche Farbpig-
mente. So wurde Bleichromat früher zum Streichen der Postwägen verwendet
(Postgelb) und basisches Bleichromat dient als rotes Pigment in der Ölmalerei.
Glas lässt sich mit Chrom(III) smaragdgrün, mit Chrom(VI) gelb färben.

Anwendung

Elementares Chrom
Als Metall dient Chrom einerseits zur Hartverchromung, bei der es in einer
500 mm dicken Schicht galvanisch auf die metallischen Werkstücke aufgebracht
wird, andererseits zur Dekorverchromung, welche die Materialien darunter
auch Kunststoffteile mit einer höchstens 1 mm starken Schicht überzieht.
Große Mengen an Chrom werden zur Herstellung von Edelstahl benötigt. Dar-
unter versteht man Stähle mit einem Chromgehalt von über 12 %. Die kor-
rosionsschützende Wirkung geht auch hier von einer Schicht des Chrom(III)-
oxids aus. Verbreitet sind verschiedene Sorten von Chrom-Nickel-Stählen (sie-
he Kapitel 4.2.4). Das Legieren mit weiteren Metallen erhöht die Zugfestigkeit
218 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

(Chrom, Nickel, Mangan), Schmiedefähigkeit (Molybdän), Kerbschlagzähig-


keit (Mangan), Bruchdehnung (Silizium) und senkt die Wasserstoffversprödung
(Chrom) und die Sprödigkeit beim Anlassen (Vanadium).
Sechswertiges Chrom
Chromate und Dichromate dienen als starke Oxidationsmittel. Die Oxidations-
kraft ist im Sauren besonders hoch, so dass Kaliumdichromat in konzentrierter
Schwefelsäure als Chromschwefelsäure früher zur Reinigung und Entfettung
von Geräten aus Laborglas häufig Verwendung fand. Durch die Reaktion ent-
steht aus dem orangeroten Dichromat grünes Chrom(III). Dieser Farbänderung
bediente man sich früher in den Drägerröhrchen zum Nachweis von Ethanol
in der exhalierten Atemluft. Die medizinische Nutzung der Ätzwirkung von
Haut durch Chrom(VI)-oxid (CrO3 , Chromtrioxid) ist heute obsolet. Zur dau-
erhaften Markierung von Erythrozyten kann deren Beladung mit radioaktivem
Natriumchromat dienen (vgl. Seite 193). Durch Einsatz von derart vorbehan-
delten Erythrozyten gelang der experimentelle Nachweis der Auslösung von
okkulten Blutungen nach Gabe von Salizylaten (Acetylsalizylsäure) und Nicht-
steroidalen Antiphlogistika, denn durch einen Austritt von Erythrozyten in das
Darmlumen erscheint deren radioaktiver Inhalt in den Faeces.
Zum Holzschutz wird Chromat zusammen mit Kupfer und Fluor (CKF) als
Imprägniersalz im Kesselvakuumdruckverfahren angewendet. Beginnend mit
einer Behandlung im Unterdruck durchläuft das Holz einen zweistündigen Zy-
klus, der die luftgefüllten Räume mit Holzschutzmitteln füllt. Chromat fixiert
die Wirkstoffe Kupfer, Arsen, Zink und Fluor. Es wird selbst teilweise zu
Chrom(III) reduziert. Sofern nicht ausgewaschen, werden die Salze spätestens
beim Verbrennen des Holzes freigesetzt. Das Chromat gelangt mit Verzögerung
vollständig in Freiheit. Zum Holzschutz mit Bioziden siehe Kapitel 6.3.
Chromat ist auch in Zement und dessen Zubereitungen enthalten. Deren An-
wendung durch unwissende Heimwerker löst in Deutschland pro Jahr etwa
400 Fälle von Maurerkrätze aus, einer Chromatallergie, die ein allergisches
Hautekzem darstellt. Es sind überwiegend Männer betroffen. Zum Schutz der
Bevölkerung darf Zement als Sackware nur noch 2 ppm freies Chromat ent-
halten. Ein Zusatz von Eisensulfat dient zur chemischen Minderung dieser
Konzentration. Auf Verfalldaten ist zu achten.
Vierwertiges Chrom
Chromdioxid (CrO2 ) ist ein kristallines, ferromagnetisches, schwarzes Pigment,
das zur Produktion von Ton- und Streamer-Bändern genutzt wird. Datenträger
in modernen Festplatten bestehen aus zwei dünnen Schichten einer magneti-
sierbaren Cobalt-Platin-Chrom-Bor-Legierung, die durch eine Zwischenschicht
aus drei Atomlagen Ruthenium getrennt sind (AFC = antiferromagnetically-
coupled media).
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 219

Dreiwertiges Chrom
In den Anfängen der Ledergerbung mit Chrom vor über 100 Jahren verwende-
te man meist Chromat. Heute kommt jedoch hierfür ausschließlich basisches
Chromsulfat zum Einsatz. Die vom Chrom verursachte Denaturierung von Ei-
weiß bildet die Grundlage der Gerbung. Pro Jahr werden nach diesem Verfah-
ren weltweit etwa 2000 km2 Leder hergestellt. Fertiges Rindsleder enthält etwa
16 g Chrom(III) pro m2 . Meist finden sich Verunreinigungen mit Chromat,
so dass die Gefahr einer Exposition gegenüber Chromat bei allen Lederwaren
besteht (Arbeitsschutzhandschuhe, Handschuhe, Schuhe, Kleidung). Das zur
Gerbung eingesetzte Chrom wird durch Abwasser, feste Arbeitsabfälle, dar-
unter Stäube, sowie nach einer Latenzperiode durch die Lederprodukte selbst
beinahe vollständig in die Umwelt zurückgegeben.
Pflanzen nehmen das im Boden fast ausnahmslos als Chrom(III) vorliegende
Elemet nur schlecht auf. Das lässt sich am Schwermetalltransfer (cPflanze /cBoden )
erkennen, der zwischen 0,01 und 0,1 liegt. Auch bei hohen Kontaminationen der
Böden tritt Chrom nicht in die Nahrungskette ein. Die meisten Nahrungsmit-
tel enthalten zwischen 0,2 und 0,8 mg Cr/kg Trockenmasse. Getreide, Früchte
und andere Samen enthalten besonders wenig Chrom.
In Hefe und Fleisch werden jedoch hohe Gehalte an komplex gebundenem
Chrom gefunden. Aus der Nahrung ist diese Form des Chrom(III) leicht resor-
bierbar. Die Komplexe enthalten in der Regel Nicotinsäure (Niacin) und Ami-
nosäuren oder Glutathion (GSH). Hierzu gehört auch der Glucose-Toleranz-
faktor (GTF), dem ein Einfluss auf die Insulinwirkung zugeschrieben wird.
Seine Zusammensetzung und Wirkungsweise ist noch nicht zweifelsfrei geklärt.
Chrom ist für Mensch und Tier ein essentielles Spurenelement, dessen Bedarf
sich durch etwa 40 mg organisch gebundenes oder 200 mg anorganisches Chrom
am Tag decken lässt.

Toxikokinetik

Chromat aus inhaliertem Material mit Partikeln unter 5 mm wird in der Lunge
leicht resorbiert. Chrom wird pulmonal deponiert, denn Chromatarbeiter zei-
gen hohe Konzentrationen an Chrom in der Lunge, auch wenn die berufliche
Exposition schon längere Zeit zurücklag. Chrom wird dann meist auch in Milz,
Leber, Nieren und Herzmuskel gefunden. Im Gewebe selbst liegt vorwiegend
Chrom(III) vor, obwohl Chrom(VI) aufgenommen wurde.
Im Detail betrachtet, ergibt sich folgendes Bild vom molekularen Geschehen.
Chromat wird über den Anionentransporter der Membran in die Zelle auf-
genommen, was mit der leichten Permeabilität des anionischen Chromat in
Einklang steht (vgl. Kapitel 3.5.3.3 und 4.1.7). Innerhalb der Zelle herrscht
220 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide


     
      
    0,5 Absorption 432 nm

0,4

     

 

  
       0,3

 0,2

  0,1
        
0,0
  min
           0 1 2 3 4 5

Abbildung 4.18 Links: Reduktion von Chromat durch Glutathion (GSH) bei physiologischem
pH-Wert (pH 7,4). Für 1 Chromat werden zur Reduktion 3 Thiole benötigt wie die Sum-
mengleichung (1) zeigt. Dieser Reduktion ist die schnelle Bildung eines Thioesters vorgela-
gert (2). Das Intermediat entsteht durch eine Liganden-Substitution am Chromat, das sei-
ne Oxidationsstufe hierbei nicht ändert. Die Bildung des Chrom(VI)-Thioesters (Chromat-
Thioester) und seine Weiterreaktion lässt sich anhand seiner Absorption bei 432 nm spektral
verfolgen (rechtes Bild). Unter Verbrauch von zwei Molekülen Glutathion (GSH) wird das
Chrom(VI) des Chromat-Thioesters dann zunächst zum Chrom(IV) reduziert (3), wonach
ein drittes Glutathion die Reduktion zum Chrom(III) beendet (4). Die Oxidation des Gluta-
thions führt in allen Fällen zum Disulfid GSSG.

ein reduktives Milieu, da hohe Konzentrationen von Gluthathion (bis 10 mM)


vorliegen. Bei physiologischem pH ist die Oxidationskraft des Chromat je-
doch gemindert, so dass neben Ascorbat nur Glutathion als Elektronendona-
toren fungieren kann. Chromat wird in der Zelle durch Glutathion (GSH)
nicht-enzymatisch zu Chrom(III) reduziert. Initial bildet sich aus Chromat
und Glutathion ein Thioester, der mit weiterem Glutathion reduziert wird.
Die Reduktion läuft relativ langsam ab, weswegen der Thioester sogar als In-
termediat spektral nachweisbar (Abbildung 4.18). Auf Grund seiner langen
Lebensdauer könnte das Intermediat eine Transportform darstellen, welche
dem Chromat(VI) den Zugang zu kritischen Zielen ermöglicht. Obwohl ver-
schiedene reduktive Enzymsysteme in der Zelle arbeiten, z. B. die hepatische
NAD(P)H-abhängige Cytochrom P450-Reduktase, spielen diese bei der Re-
duktion von Chromat wahrscheinlich nur eine untergeordnete Rolle.
Die Zelle kann aufgrund der beinahe unerschöpflichen Reduktionskapazität
große Mengen an Chromat aufnehmen, da durch dessen Reduktion ein ständi-
ges Konzentrationsgefälle nach innen aufrechterhalten wird. Das entstandene
Chrom(III) ist als Kation in der Zelle gefangen. Dies kann besonders an Ery-
throzyten und Leukozyten beobachtet werden und es ist einsichtig, warum
Erythrozyten mit intravenös appliziertem 51 Cr Natriumchromat für deren ge-
samte Lebensdauer beladen werden können.
Nur ein geringerer Teil des Chromats erfährt schon im Plasma eine Redukti-
on und wird als Chrom(III) renal ausgeschieden. Die hohen Konzentrationen
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 221

der Cr3+ -Ionen im Innern einer Zelle und deren Affinität zu Proteinen und
Nukleinsäuren führen zur einer ausgeprägten Komplexbildung. Etwa 50 % des
in der Zelle gefundenen Chroms befindet sich in der Kernfraktion. Aus Zel-
len ausgetretenes Chrom(III) wird im Blut teilweise an Transferrin gebunden
transportiert und renal ausgeschieden.
Eine cutane Resorption ist für Chromat belegt. In Konzentrationen bis 0,1 %
bleibt es auf dem Weg durch die Haut gebunden liegen, was die topische Sen-
sibilisierung durch Chromat erklärt. In höherer Konzentration dringt es weiter
in den Organismus vor und wirkt systemisch.
Nach oraler Aufnahme von Chromat werden etwa 2 % der Dosis resorbiert. Dies
ist nur unwesentlich mehr als nach einer Aufnahme von Chrom(III) (0,5 %),
denn bereits im Magen erfolgt eine Reduktion zu Chrom(III), das schlecht
resorbiert wird. Oxalate können die Chrom(III)-Resorption durch Chelatbil-
dung steigern, Phytin (meso-Inosithexaphosphat) aus Getreide sie hemmen.
Die Ausscheidung nicht resorbierten Materials erfolgt mit den Faeces. In der
Form des Glucose-Toleranzfaktors liegt die intestinale Resorptionsquote dage-
gen zwischen 10 und 25 %.
Vergleicht man die Toxizitäten wasserlöslicher Chromate in den verschiede-
nen Applikationsrouten, wirken sie nach einer parenteralen Applikation hoch-
toxisch, während sie nach cutaner Applikation eine mittlere Toxizität auslösen
und nach oraler Gabe wenig giftig sind. Im Vergleich dazu sind Verbindungen
aller anderen Wertigkeitsstufen des Chroms harmlos, sie haben beim Menschen
bisher nicht zu Schäden geführt.

Toxikodynamik

Die akute Vergiftung durch Einnahme von etwa 10 g Kaliumdichromat, Ka-


liumchromat oder 2 g Chromsäure führt rasch zu blutigem Erbrechen, hä-
morrhagischen Durchfällen und Kreislaufkollaps. Wird dieses Stadium über-
lebt, entwickelt sich eine Hämolyse mit Hyperkaliämie und die Symptome ei-
ner Leber- und Nierenschädigung. Nach einigen Tagen führt meist eine Urämie
zum Tod. Auch über Verätzungen der Haut mit heißer Dichromatlösung kann
es zu resorptiven Vergiftungen mit denselben Folgen kommen.
Mehrfach sind Verwechslungen des gelben Kaliumchromats und -dichromats
mit anderen gelben Stoffen Anlass von Vergiftungen gewesen. So kamen 1919
durch eine Verwechslung mit Schwefel in einer Salbe zwölf Personen zu Tode
und eine Verwechslung mit Trypaflavin führte zu einer intravenösen Injektion
mit folgender Methämoglobinbildung, Proteindenaturierung und Kapillarem-
bolie und einer dadurch ausgelösten Anurie mit tubulären Nekrosen.
222 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Eine chronische Toxizität lässt sich ausschließlich bei beruflich exponierten


Personen beobachten.
An der Haut können durch anhaftende Chromatsalze nichtallergische Ulzera
entstehen. Um dies zu vermeiden, ist auf die Verbesserung der hygienischen
Verhältnisse und Sauberkeit bei der Arbeit Wert zu legen. Sehr kleine Chro-
matkonzentrationen über mindestens ein halbes Jahr hinweg lösen eine aller-
gische Kontaktdermatitis mit einem chronischen Ekzem aus.
Nach Inhalation von Stäuben oder Nebeln von Chromaten, Dichromaten oder
chromathaltigen Erzen in Konzentrationen um 0,1 mg Cr/m3 treten Entzündun-
gen der Nasenschleimhaut und oft eine Perforation des Nasenseptums auf.
Daneben beobachtet man Konjunktivitis, Pharyngitis, Laryngitis, Bronchi-
tis, präkanzeröse Papillome in der Mundhöhle und im Rachen, Polypen des
Kehlkopfes und in den Nasennebenhöhlen. Auch der Verlust des Geruchs-
und Geschmacksinns und Parodontose werden angetroffen. Sind die inhalierten
Konzentrationen bis 3 mg Cr/m3 bildet sich eine chemische Pneumonitis aus,
ein Vorstadium der Pneumokoniose, der Chrom-Staublunge. Das Verschlucken
chromathaltigen Staubes führt auch zu einer Schädigung des Magendarmtrak-
tes.
In chromatherstellenden und verarbeitenden Betrieben traten nach längerer
Exposition mit einer Konzentration von mehr als 0,1 mg Cr/m3 Bronchialkar-
zinome auf. Die mittlere Zeit bis zur Entwicklung der Tumore betrug etwa
25 Jahre. Ausschließlich das sechswertige Chrom ist hierzu in der Lage. Da in
der Zelle jedoch diese Wertigkeitsstufe nicht vorkommt, sondern nur das drei-
wertige Chrom, können entweder nur dieses oder während der Reduktion von
Chromat auftretende Zwischenstufen, die eigentlichen Karzinogene darstellen.
Dem Chromat fällt lediglich die Rolle der Transportform zu. Die Reduktion
in der Zelle stellt für Chromat einen Giftungsprozess dar. Chrom(III) bindet
an DNA und RNA und hemmt die DNA-Synthese. Durch die Bindung an
Nukleobasen wird insbesondere die Paarung von Guanin-Cytosin gestört. Da-
neben bilden sich auch Sandwich-Komplexe zwischen benachbarten Purin- und
Pyrimidin-Basen (vgl. Kapitel 9.6.1).

Therapie

Die sofortige Giftentfernung steht bei einer akuten Vergiftung im Vordergrund


um tiefe Verätzungen zu vermeiden. Nach oraler Aufnahme erreicht man dies
durch Auslösen von Erbrechen, eine Magenspülung und Gabe von Aktivkoh-
le. Wegen der drohenden Hyperkaliämie ist eine Elektrolytüberwachung wich-
tig. Sofern eine Hämolyse auftritt, muss eine Blutaustauschtransfusion vorge-
nommen werden. Eine Dialyse sollte bei drohendem Nierenversagen (Anurie)
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 223

einsetzen. Eine Behandlung mit CaNa2 -EDTA ist ohne Effekt, denn es er-
reicht die Chromlager nicht. Die Anwendung von BAL birgt die Gefahr einer
zusätzlichen Nierenschädigung und ist deshalb umstritten. Im Falle einer loka-
len Verätzung hilft die sofortige Entfernung des Chroms durch Wasser (Ent-
fernen der Kleidung, Augendusche, Körperdusche, Sprungbadewanne). Um-
schläge mit 10 %igem CaNa2 -EDTA sind hier nützlich. Eine chronische Ver-
giftung kann höchstens durch die Aufgabe der Arbeit gestoppt werden. Die
Behandlung erfolgt symptomatisch. Der Einsatz von Chelatbildnern ist wir-
kungslos.

4.2.4 Nickel
Das Schwermetall Nickel, das ersmals 1751 von Axel F. Cronstedt dargestellt
wurde, wird heute meist aus kanadischem Magnetkies gewonnen, welcher aus
Kupferkies (Chalkopyrit) CuFeS2 , Pentlandit (FeNi)9 S8 besteht. Untergeord-
nete Bedeutung haben Nickelverbindungen mit Arsen, Antimon und Schwefel
(NiS, NiAs, NiSb, NiSbS). Aus vielen Erzen konnten in früherer Zeit mit den
einfachen Röstverfahren keine Metalle gewonnen werden. Die Bergleute sahen
sich von den bösen Erdgeistern Kobold und Nickel in die Irre geführt. Später
dienten diese Namen zur Bezeichnung der Metalle. Nickel kommt mit Eisen in
Meteoren gediegen vor, ebenso in ozeanischen Manganknollen.
Die Nickelgewinnung verläuft über ein mehrstufiges Verfahren, in dem Magnet-
kies vorgeröstet und das Eisen durch Verschlackung als Eisensilikat entfernt
wird. Das entstehende Mischsulfid CuNiS2 lässt sich zum Oxid rösten und zu
Monelmetall reduzieren, das noch 30 % Kupfer enthält. Trennt man zuvor aus
dem Mischsulfid das Kupfersulfid ab, führt die Reduktion des Oxids zu reinem
Nickel, aus dem sich galvanisch noch einige Edelmetalle gewinnen lassen.
Eine elegante Reinigung von Nickel gelingt in der Gasphase nach dem Mond-
Verfahren von 1890. Nickeloxid wird hierzu mit Wassergas (CO, H2 ) zum Ele-
ment reduziert. In einem zweiten Schritt entsteht mit Kohlenmonoxid das bei
42 °C leicht verdampfende Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 . Das staubfreie reine
Gas lässt sich bei ca. 180 °C an Nickelkügelchen zersetzen und liefert ein Granu-
lat höchster Reinheit von 99,99 %. Nickeltetracarbonyl ist an der Luft sehr in-
stabil. Es zerfällt innerhalb von Minuten. In einer Kohlenmonoxidatmosphäre
ist die Stabilität allerdings größer.

Anwendung

Über die Hälfte der Gesamtproduktion an Nickel wird heute zur Legierung von
Stahl eingesetzt. Im Jahre 1912 begann mit der Versuchsschmelze 2 Austenit
224 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

(V2A) die Entwicklung korrosions- und säurebeständiger Stähle bei der Fried-
rich Krupp AG in Essen. Die Legierung wird heute als X5CrNi 18-8 bezeichnet.
Sie enthält 18 % Chrom, 8 % Nickel neben 0,05 % Kohlenstoff, ist also eine Ei-
senbasislegierung. Das führende X kennzeichnet hochlegierte Stähle. Erst die
Verfügbarkeit solcher Stähle hat den großtechnischen Betrieb der Haber-Bosch-
Synthese ermöglicht.

Im Alltag begegnet uns heute meist die Legierung X5CrNi 18-10 mit der Werk-
stoff-Nr. 1.4301. Dies ist ein relativ weicher nickelhaltiger, nicht magnetischer
Austenit-Stahl, der gegen Wasser, Wasserdampf, Luftfeuchtigkeit, Speisesäur-
en, sowie schwache organische und anorganische Säuren beständig ist. Seine
Einsatzgebiete umfassen Nahrungsmittelindustrie, Getränkeproduktion, Phar-
ma- und Kosmetikindustrie, chemischen Apparatebau, Fahrzeugbau, Haus-
haltsgeräte, chirurgische Instrumente, Schank- und Küchenbau, Sanitäranla-
gen, Architektur, Schmuck und Kunstgegenstände. Stähle mit einem Chroman-
teil von mehr als 13 % sind aufgrund einer Passivierung rostfrei. Der Nickel-
anteil steigert die Zugfestigkeit. Weitere nicht-rostende Stähle sind unter den
Namen Nirosta (Krupp), Remanit (Thyssen) oder Cromargan (WMF) be-
kannt. Es gibt derzeit über 800 verschiedene Stähle.

Nickelbasislegierungen, welche hochtemperaturbeständig und zunderfest sind,


finden als Sonderlegierungen Anwendung im Motoren-, Triebwerks- und Tur-
binenbau. Bekannte Handelsnamen sind Hastelloy, Incoloy, Inconel, Monel.
Weitere Nickellegierungen haben wegen spezieller physikalischer Eigenschaften
im Hinblick auf elektrischen Widerstand, kontrollierte thermische Ausdehnung
und besondere magnetische Eigenschaften große technische Bedeutung.

Viele Münzmetalle enthalten Nickel. So bestehen die aktuellen Münzen zu


5, 10, 25 und 50 Cent aus Kanada, dem Hauptlieferanten von Nickel, aus
Reinnickel. Zu den Automatenmünzen mit magnetischem Reinnickelkern zähl-
ten seit 1971 das 2 DM-Stück und seit 1975 das 5 DM-Stück. Die beiden ver-
schiedenfarbigen Legierungen der Euromünzen bestehen aus Kupfer (75 %)-
Zinn (20 %)-Nickel (5 %) (gelb) und aus Kupfer (75 %)-Nickel (25 %) (weiß).
Eventuell stellt diese Kombination ein galvanisches Element dar, was die hohe
Nickelabgabe dieser Münzen erklärte. Aus der weißen Kupfer-Nickel-Legierung
ist auch die US-Münze nickel“ geprägt.

Eine Legierung aus 60 % Kupfer und 40 % Nickel zeichnet sich durch einen von
der Temperatur beinahe unabhängigen Verlauf des elektrischen Widerstan-
des aus. Diese Legierung ist in der Elektrotechnik als Konstantan bekannt.
Nickel-Chrom (18%)- und Nickel-Chrom (15%)-Eisen (25%)-Legierungen die-
nen als Heizleiter in elektrischen Öfen, in denen sie bis 1200 °C erhitzt werden
können.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 225

Große Bedeutung hat der 1899 von W. Jungner in Schweden entwickelte Nickel-
Cadmium-Akkumulator gewonnen, den es als offene und gasdichte Zelle gibt.
Vorteilhaft sind ihre geringen Innenwiderstände, weswegen sie hohe Ströme
liefern können. Wegen ihres Cadmiumgehaltes werden sie seit 1995 zunehmend
durch Nickel–Metallhydrid–Akkus (NiMH) ersetzt. In der EU erwartet man
ein partielles Anwendungsverbot.
Ein wichtiger Einsatz von Nickel als chemischem Werkzeug bei der Hydrierung
von Olefinen ist zu erwähnen. Hierzu wird feinverteiltes Nickel (z. B. Raney-
Nickel) als Katalysator verwendet, welcher Wasserstoff aktiviert. Auf dieser
Basis arbeitet die von Wilhelm Normann 1902 entwickelte Hydrierung von
Ölen und halbfesten Fetten (Fetthärtung), der weltweit jährlich über vier Mil-
lionen Tonnen ungesättigte Acyllipide unterworfen werden. Eine vollständige
Hydrierung strebt man für Koch-, Back- und Bratfette an, während partielle
Hydrierungen die Stabilität von ansonsten leicht autooxidablen Ölen verbes-
sern. Partiell gehärtete pflanzliche Fette und Öle bilden auch die Ausgangs-
stoffe für die Margarine.
Zum Zwecke der Fetthärtung wird Nickel fein verteilt meist auf einen Träger
(Kieselgur, Bimsstein oder Aluminiumoxid) gefällt. Da die Trägerkatalysatoren
(Kontakte) pyripher sind, werden sie in öliger Zubereitung angewendet. Zwi-
schen 200 bis 800 g Nickel sind pro Tonne Fett erforderlich. Die Hydrierung
erfolgt bei etwa 180 °C und einem Wasserstoff-Druck von bis zu 30 bar. Die
Trägerkatalysatoren lassen sich nach der Reaktion durch Filtration abtrennen.
Sehr günstig ist, dass Nickelkontakte im Gegensatz zu anderen bis zu 50-mal
wiederverwendbar sind. Zwischenzeitlich favorisierte man Ni3 S2 (Nickelsubsul-
fid), welches gegen Katalysatorgifte unempfindlicher ist.

Toxikokinetik

Trinkwasser enthält Nickel in einer Konzentration von etwa 20 bis maximal


200 mg/L, Kuhmilch zwischen 20 und 50 mg/L, Obst und Gemüse etwa 2 mg/kg
Feuchtgewicht. Die täglich aus der Nahrung resorbierte Menge wird auf etwa
400 mg geschätzt. Eine Gefährdung geht von dieser Menge nicht aus. Für Tiere
scheint Nickel als essentielles Spurenelement zu fungieren, beim Menschen wohl
nicht.
Die leichte Aufnahme von Nickel durch Pflanzen aus dem Erdboden wird durch
einen hohen pH-Wert desselben vermindert. Deshalb ist das Ausbringen von
Calziumhydroxid auf nickelreiche Böden sinnvoll. Hierdurch steigen die Ern-
teerträge. Für Pflanzen toxische Konzentrationen beginnen ab 50 mg Nickel/kg
lufttrockenem Boden. Im östlichen Mittelmeerraum sind hyperakkumulato-
rische Pflanzen bekannt, die auf mindestens 10 g Nickel/kg Trockengewicht
226 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

anreichern. Sie zeichnen sich durch einen hohen Citronensäuregehalt aus. In


Pflanzen kommt als nickelhaltiges Enzym (Metalloenzym) eine Urease vor.
Aus fossilen Brennstoffen Kohle und Öl, die bis zu 20 mg Nickel/kg enthalten,
erklären sich die höheren Konzentrationen in der Luft von Industriegebieten
bis zu 150 ng/m3 (New York). Etwa ein Drittel der inhalierten Nickelverbin-
dungen aus der Luft werden resorbiert, wobei unlösliche Salze phagozytiert
und vergleichsweise große Mengen in die Zelle aufgenommen und transportiert
werden. Ein solcher Weg steht löslichen Nickelverbindungen nicht offen. Die
Phagozytose bewirkt eine Vervielfachung (103 ) der intrazellulären Konzentra-
tion an freien Nickelionen, die entscheidend für die beobachtete Genotoxizität
vor allem schwerlöslicher Nickel–verbindungen ist.
Nach Staubinhalation von Nickeloxid, Nickelsulfid, metallischem Nickel sowie
anderer schwerlöslicher Verbindungen bleiben diese monatelang in der Lun-
ge deponiert. Das karzinogene Potential steigt mit abnehmender Löslichkeit.
Dieser Gefährdung sind nur Arbeiter von nickelverarbeitenden Betrieben aus-
gesetzt. Aufgrund der Karzinogenität ist kein MAK–Wert festgelegt.
Metallisches Nickel wird im Magen-Darm-Trakt nicht, Nickelionen aus lösli-
chen Salzen zu weniger als 10 % resorbiert. Nickel ist an Albumin und an
Nickeloplasmin (ein a2 -Makroglobulin) gebunden. Dagegen gibt es keine Hin-
weise für eine Bindung von Nickel an Metallothionein. Die Serumkonzentration
liegt beim nicht exponierten Erwachsenen um 2 mg/L. Für resorbiertes Mate-
rial bilden Niere, Leber und Lunge Speicher. Insgesamt enthält der Körper
10 mg Nickel, davon 18 % in der Haut. Seine Ausscheidung erfogt vorwiegend
mit dem Urin, daneben auch über den Schweiß.
Nickelionen haben geringe Affinitäten zu Schwefelliganden, reagieren aber mit
Aminosäuren (Triglycin) und komplexen Peptiden an Carboxyl- und Imida-
zolgruppen. Sie binden außerdem an Pyrimidinbasen und an Pyrophosphat.

Toxikodynamik

Durch das Tragen von Uhren, Brillen, Modeschmuck und Kleidungsstücken


mit Knöpfen oder Verschlüssen aus nickelhaltigem oder vernickeltem Material
kommt es zu einer lokalen Freisetzung von Nickel auf der Haut, die für Nickel
relativ leicht penetrierbar ist. Als Folge kann über eine Typ IV-Immunreaktion
ein allergisches Kontaktekzem entstehen. Man schätzt, dass etwa 15 % der
Bevölkerung gegen Nickel, das verglichen mit anderen Substanzen eine ho-
he sensibilisierende Potenz aufweist, sensibilisiert sind. In der Regel erfolgt
die Sensibilisierung bereits im Kindesalter durch nickelhaltigen Schmuck, bei
Mädchen wesentlich häufiger als bei Jungen. Dieser Unterschied bleibt auch
im Alter bestehen, was sich in den Häufigkeiten bei Frauen (9–18 %) und
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 227

Männern (2–8 %) zeigt. Laut EU-Richtlinie (94/27/EG, Bedarfsgegenstände-


Verordnung) dürfen neuerdings von Gegenständen, die unmittelbar und für
längere Zeit mit der Haut in Berührung kommen, nur noch 0,5 mg Nickel
pro Quadratzentimeter innerhalb einer Woche abgegeben werden. Dies soll
eine Sensibilisierung vermeiden helfen. Bei Industriearbeitern führt der häufi-
ge Kontakt mit metallischem Nickel an den Händen oft zu einer Dermatitis,
die als Nickelkrätze bekannt ist.
Nickeldämpfe und Aerosole lösen an den Atemwegen chronisch-entzündliche
Veränderungen aus. Dazu gehören Schleimhautatrophie, Anosmie und eine
Perforation der Nasenscheidewand. Inhalierbare Stäube von Nickelverbindun-
gen haben bei beruflich exponierten karzinogene Eigenschaften, wie sie in epi-
demiologischen Untersuchungen ab Konzentrationen über 1 mg/m3 Luft deut-
lich zutage traten. Die TRK sind für schlecht lösliche Nickelsalze auf 0,5
und für leicht lösliche auf 0,05 mg/m3 Luft festgesetzt. Es können Lungen-,
Nasen- und Nasennebenhöhlenkrebs entstehen. Die wichtigsten Karzinogene
für den Menschen sind metallisches Nickel, Nickeloxid (NiO), Nickelsulfid (bNiS,
Nickelmonosulfid) und Nickelsubsulfid (aNi3 S2 ). Für Nickeltetracarbonyl ist ei-
ne Karzinogenität im Tierversuch erwiesen.
Nicht genau bekannt ist der Wirkungsmechanismus der Karzinogenese. Man
vermutet, dass durch die bei diesen Substanzen initial auftretende Phagozytose
das Material über Lysosomen bis in den Zellkern gebracht wird, wo sehr hohe
Konzentrationen an Nickelionen zustandekommen. Diese erzeugen Schäden am
Chromatin. Wirkungsverstärkend dürfte die Störung verschiedener zellulärer
Reparaturmechanismen sein.
Nickeltetracarbonyl (Nickelcarbonyl) ist ein lipophiles Molekül, das über die
Haut und die Lunge schnell resorbiert wird. Membranbarrieren und die Blut-
Hirn-Schranke werden leicht überwunden. Nach der Resorption wird die Sub-
stanz zu CO und Ni2+ metabolisiert. Nur ein kleiner Teil wird in der Anfangs-
phase unverändert abgeatmet. Nickel wird großenteils im Urin ausgeschieden.
Im Organismus zerfällt das Molekül, so dass nach der akzidentellen Aufnahme
mit den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung und denen der Nickeltoxizität
zu rechnen ist. In der ersten Phase der Vergiftung treten milde Krankheits-
symptome auf, von Kopfschmerzen, Schwindel, Atemnot und Brustschmerzen
wird berichtet. Nach einem symptomfreien Intervall von 12 Stunden bis 5 Ta-
gen beginnt die zweite Phase mit Husten, Tachykardie und Cyanose. Eine
Schädigung der Kapillaren führt zu einem Lungenödem und einer chemischen
Pneumonie. Schwere Vergiftungen treten beim Menschen bereits nach wenigen
Minuten in Luftkonzentrationen von 4 ppm auf. Werden sie überlebt, bildet
sich oft eine Lungenfibrose aus. Auch eine Exposition gegenüber 0,001 ppm
über 8 Stunden führt zu einer schweren Pneumonie, 30 ppm dagegen unmittel-
228 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

bar zum Tod. Etwa 5 % aller Vergiftungen enden bedingt durch ein Lungen-
versagen tödlich.

Therapie

         


 
 

    
      









   



 
 




  
 

Abbildung 4.19 Chelatoren und deren Komplexe mit Nickelionen. Triethylentetramin =


TETA; Natrium-Diethyldithiocarbamat = Dithiocarb; Dimercaprol = Sulfactin, BAL. Der
leuchtend rot gefärbte Komplex mit Dimethylglyoxim dient nur dem analytischen Nachweis
des Nickels. Zur Struktur von EDTA siehe Abbildung 4.25.

Zur Beschleunigung der Nickelausscheidung können lipophile Chelatoren einge-


setzt werden. Mittel der Wahl ist Natrium-Diethyldithiocarbamat (Dithiocarb,
vgl. Ziram), das in Deutschland als Arzneimittel nicht zugelassen ist (Abbil-
dung 4.19). Geeignet ist auch Triethylentetramin (TETA), weniger wirksam
ist Dimercaprol (Sulfactin, BAL). Hydrophile Chelatoren wie EDTA sind un-
wirksam, da sie intrazelluläres Nickel nicht erreichen, oder sogar schädlich.

4.2.5 Quecksilber
Die Namensgebung (quick) zeigt, dass das Metall bereits früh bekannt, ge-
nutzt und vor allem als flüssiges Element eine besondere Aufmerksamkeit be-
anspruchte. Die Griechen nannten es ÍdrĹrguroc, wässriges Silber. Den Al-
chimisten verdanken wir die Bezeichnung Mercurius, die an die innere Ver-
wandschaft mit dem umlaufschnellsten Planeten und dem flinken Götterboten
anbindet. Hieraus entstand die englische Bezeichnung mercury. Quecksilber
kommt teilweise gediegen in der Natur vor, jedoch sind auch etwa 20 queck-
silberhaltige Mineralien beschrieben, von denen das rote Sulfid Zinnober (HgS,
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 229

Cinnabaris) das wichtigste ist. Aufgrund seiner extrem schlechten Löslichkeit


ist es, im Gegensatz zu schwarzem, praktisch nicht toxisch.

Globales Vorkommen und anthropogene Einflüsse

Die Luft enthält Quecksilber in einer durchschnittlichen Konzentration von


20 ng/m3 . Pro Jahr werden 150 000 Tonnen durch Entgasung des Erdmantels
in die Atmosphäre abgegeben, wobei Vulkane einen großen Beitrag leisten.
Seit mindestens 2000 Jahren bestehen stabile Verhältnisse, wie die konstante
Konzentration von 60 ng/kg im Polareis erkennen lässt. Nicht kontaminiertes
Oberflächenwasser kann infolge von Erosion 200 ng Quecksilber /L enthalten,
Trinkwasser dagegen weniger als 30 ng/L. Das Wasser der Ozeane weist Kon-
zentrationen zwischen 30 und 300 ng/L auf.
Die Weltjahresproduktion an Quecksilber beträgt rund 10 000 Tonnen, wovon
40 % aus Europa stammen. Menschliche Aktivitäten führen also dem natürlich
zirkulierenden Quecksilber einen nur geringen Teil zu. Trotzdem werden auf-
grund der lokalen Massierung des Eintrags durchaus hohe Konzentrationen
erreicht, die in Flüssen bis 1800 ng/L betragen können. Anthropogen gelan-
gen weltweit 4000 Tonnen Quecksilber pro Jahr in die Ozeane. Eine chemische
und biochemische Methylierung von Quecksilber in den oberen Schichten or-
ganischer Fluss- und Meeressedimente lässt etwa 5 % des Quecksilbers über
Plankton, Schalentiere und Fische in die Nahrungskette des Menschen eintre-
ten (siehe auch Seite 178 und Abbildung 4.6). Nach Schätzungen werden pro
Jahr weltweit 10 Tonnen Methylquecksilber im Süßwasser und 480 Tonnen in
den Ozeanen gebildet, welche in die Atmosphäre entweichen. Teilweise werden
Quecksilberionen bakteriell zu elementarem Quecksilber reduziert und gelan-
gen ebenfalls in die Atmosphäre, im Jahr bis 40 000 Tonnen (Abbildung 4.20).
Generell ist davon auszugehen, dass das gesamte geförderte Quecksilber nach
seiner Nutzung in die Umwelt zurückkehrt.

Anwendungen

Mehr als die Hälfte der Weltproduktion an Quecksilber wird von der elektro-
technischen Industrie (Tageslichtlampen, Batterien) und zur Chlorkali-Elektro-
lyse verwendet. Die Farbenindustrie verbraucht etwa 15 %, für Mess- und
Kontrollinstrumente werden 10 % veranschlagt. Seine landwirtschaftliche Ver-
wendung (Saatbeizen) ist stark rückläufig und beträgt weniger als 5 %. In
der Papierindustrie und für katalytische Zwecke liegt der Anteil bei 3 %, für
Arzneistoffe bei 1 %. Die Zahnheilkunde verbraucht zwischen 3 und 5 %. Der
Rest von rund 10 % dient etwa 3000 verschiedenen Anwendungen.
230 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Luft CH 4 C2 H 4
(CH3)2Hg

Vulkane
Hg0

Hg0

Wasser Fisch
CH3Hg+
Hg2+
Plankton Produktion
Hg(CH3)2

Hg22 +
CH3Hg+ Hg(CH3)2

pH <7 CH3Hg-S-CH3
Hg0
Bakterien pH >7 HgS

Sediment
Hg2+

Abbildung 4.20 Darstellung des globalen Quecksilberkreislaufs in Atmosphäre und Hydro-


sphäre. Metallisches Quecksilber tritt vorwiegend durch vulkanische Aktivität in den Kreislauf
ein. Anthropogene Einflüsse steuern anorganisches Quecksilber aller Oxidationsstufen bei,
wie auch organisch gebundenes, vorwiegend als Methylquecksilber, das in technischen Produk-
tionsverfahren anfällt, oder als Phenylquecksilber aus Saatbeizen. Im Sediment von Flüssen,
Seen und Schelfen methylieren methanogene Bakterien Hg2+ durch Übertragung eines Car-
banions. Es entsteht je nach Bedingungen Methyl-, Dimethyl- oder Methanthiolatomethyl-
Quecksilber. Methylierungen werden auch durch Bakterien im Gastrointestinaltrakt ange-
nommen. Anaerob wachsende Bakterien fällen mit Schwefelwasserstoff kaum mobilisierbares
HgS aus. Auch bakterielle Reduktionen und Demethylierungen finden tatt. Dimethylqueck-
silber wird unter atmosphärischen Bedingungen espalten. Methylquecksilber bindet als wei-
che Lewis-Säure gerne (Pseudo-) Halogenanionen, wodurch lipophile Komplexe entstehen.
Methanthiolatomethyl-Quecksilber wird vor allem für die distale Schädigung peripherer Ner-
ven im Zuge der Minamata-Disease verantwortlich gemacht.

Eine Reihe von Anwendungen von Quecksilber und seinen Verbindungen sind
gleichermaßen von historischem und toxikologischem Interesse.
Metallisches Quecksilber diente aufgrund seiner hohen Dichte als Sperrflüssig-
keit in wissenschaftlichen Geräten (Scholander, van Slyke). Auch elektrotechni-
sche Geräte enthielten beachtliche Mengen (Gleichrichter, Schalter). Wurde es
verschüttet, sammelte es sich häufig unter den Holzböden der Laborräume und
verdampfte von dort. Hierbei kann ein Kubikmeter Luft von 20 °C ca. 15 mg Hgo
aufnehmen. Dasselbe Problem ergab sich früher in den Spiegelbelägen im
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 231

Raum Nürnberg und Fürth, in denen bis Ende des 19. Jahrhunderts Kris-
tallglastafeln mit amalgamierter (verquickter) Zinnfolie belegt wurden. Das
Amalgam härtete unter Abpressen des überschüssigen Quecksilbers. Zum Teil
sind die früheren Produktionsstätten, die heute als Wohnhäuser genutzt wer-
den, beachtlich kontaminiert. Noch gravierender sind die Freisetzungen von
gasförmigem Quecksilber, wenn bei der Goldgewinnung oder beim Vergolden
große Mengen an Quecksilber durch Hitze verdampft werden. Quacksalber,
Vergolder und Goldwäscher setzten sich hohen Konzentrationen an Quecksil-
ber aus. Eine heute obsolete Verreibung von Fett mit 30 % metallischem Queck-
silber diente als Graue Salbe“ zur Behandlung der Syphilis. Kupferamalgam,

das größere Mengen an Quecksilber abgibt als heute verwendete Silberamalga-
me, wurde u. a. wegen seiner desinfizierenden Wirkung zur Versorgung kariöser
Zähne verwendet.
Unter den anorganischen mono- und divalenten Quecksilberverbindungen fin-
den sich einige, die zu medizinischen und industriellen Zwecken früher häufig
angewandt wurden. Von Interesse waren vor allem die desinfizierenden Eigen-
schaften, die bei der Behandlung dermatologischer und ophthalmologischer
Infektionen und Erkrankungen und bei Befall mit Ektoparasiten in Salben ge-
nutzt wurden. Die starke Komplexbildung mit biologischem Material mit dar-
aus resultierender Proteindenaturierung ermöglicht diese Anwendungen. Un-
ter den erwähnenswerten Verbindungen finden sich Kalomel (Hg2 Cl2 ; LD100
ca. 2–3 g), weißes Präzipitat (HgNH2 Cl), gelbes Oxid (HgO) und rotes Iodid
(HgI2 ). Kalomel diente auch als Abführmittel. Dies war wegen seiner äuäßerst
geringen Löslichkeit und schlechten Resorption möglich. Zur Gerätedesinfekti-
on und zur Holzbehandlung wurde das stark ätzende Sublimat (HgCl2 ; LD100
ca. 200–400 mg) verwendet. Die beizende Wirkung auf Tierhaare machte man
sich in der Herstellung von Filz zu Nutze (HgNO3 ), so dass Filzhüte oft große
Konzentrationen an Quecksilber enthielten.
Organische Quecksilberverbindungen (Abbildung 4.21) sind seit 1913 in größe-
rem Maße als Fungizide zur Saatgutbeizung verwendet worden. Besonders ge-
eignet hierfür schienen wegen der hohen Flüchtigkeit kurzkettige Alkylverbin-
dungen des Quecksilbers wie Methyl- oder Ethylquecksilber-Chlorid. Jedoch
besteht auch die Gefahr einer Schädigung des Saatgutes und der Anwender,
weswegen Verbindungen dieses Typs in Deutschland schnell verboten wur-
den. Alkoxy- und Aryl-Quecksilberverbindungen wie Methoxyethylquecksilber-
Chlorid oder Phenylquecksilber-Acetat traten an deren Stelle. Die Saatgutbe-
handlung mit Quecksilberverbindungen war lange Zeit üblich, bis in Schweden
erstmals 1966 ein Verbot ausgesprochen wurde, da Vögel verendeten, welche
gebeiztes Getreide von den Äckern gefressen hatten. In Deutschland ist ihre
Anwendung seit 1982 untersagt. In manchen Ländern werden sie jedoch noch
angewendet. Zur Blattspritzung (Obst, Reis) sind sie nicht zugelassen.
232 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide


   
    
  
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Abbildung 4.21 Organische Quecksilberverbindungen.

Phenylquecksilber-Borat (Merfen® ) oder -Nitrat dienen zur Konservierung be-


stimmter nicht sterilisierbarer Arzneizubereitungen. Gleiches leistet Thiomer-
sal DAC, das in Tuberkulintests enthalten ist und der Auslösung von Kon-
taktallergien verdächtigt wird. Mercurochrom dient als Desinfektionsmittel.
Einen wichtigen wissenschaftshistorischen Aspekt stellt die Entwicklung der
quecksilberhaltigen Diuretika dar. Ausgangspunkt war das Novasurol (Merba-
phen® ), eine zur Syphilisbehandlung entwickelte Verbindung, an der 1919 eine
diuretische Wirkung auffiel. Der Einbau von Quecksilber in organische Mo-
leküle reduzierte die toxischen Eigenschaften der Hg2+ -Ionen, verlieh ihnen
aber deren diuretischen Effekt. So konnte im Jahre 1924 als erstes therapeu-
tisch anwendbares quecksilberhaltiges stark wirkendes Diuretikum Mersalyl
(Salyrgan® ) in den Handel gebracht werden. Obwohl alle Quecksilberdiuretika
heute obsolet sind, förderten sie das grundlegende Verständnis für die Vorgänge
der Harnbereitung in der Niere und beeinflussten wesentlich die Entwicklung
aller späteren quecksilberfreien Diuretika.
In jüngster Zeit konnte die durch Quecksilber ausgelöste diuretische Wirkung
(Polyurie) kausal aufgeklärt werden. Zur Erklärung seien zunächst die grund-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 233

A aussen H2 O

C
N P A
A P N

H2 N
HOOC
innen

B
4
10
um/sec
3
10

2
10
durch Aquaporine durch ADH
10
permeabel impermeabel permeabel

Filtration
Henlesche-Schleife
prox. Tubulus dist. Tubulus
Glomerulum Sammelrohr
absteigend aufsteigend absteigend

Abbildung 4.22 A: Modell eines Aquaporins (AQP). Das Motiv NPA, das zwischen der 2.
und 3. sowie der 5. und 6. transmembranären Domäne auftritt, bildet die eigentliche Pore für
H2 O. Hg2+ blockiert den Wasserdurchtritt durch Bindung an ein Cystein im Kanalbereich. B:
Darstellung der Permeabilität für Wasser entlang eines Nephrons, das der Übersichtlichkeit
wegen gestreckt gezeichnet ist. Während Aquaporine im absteigenden Teil des Tubulus für die
H2 O-Permeabilität verantwortlich sind, ist diejenige des Sammelrohres hauptsächlich durch
das Antidiuretische Hormon ADH reguliert (nach Agre et al., 1995).

legenden Prozesse der Harnbereitung in der Niere kurz erläutert, wie sie im
unteren Teil der Abbildung 4.22 schematisch dargestellt sind. Nach einer Ultra-
filtration des Blutes im Glomerulum strömt das blutisotone Filtrat durch den
proximalen Nierentubulus und gelangt in den absteigenden Teil der Henleschen
Schleife. Auf dieser Strecke herrscht eine zunehmend höhere Osmolarität des
234 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Harns, die durch einen aktiven Co-Transport von Na- und Cl-Ionen im benach-
barten aufsteigenden Teil der Henleschen Schleife erzeugt wird (Haarnadel-
Gegenstromprinzip). Gleichzeitig ist dieser aufsteigende Bereich des Systems
für Wasser nicht permeabel. Das absteigende Tubulussystem weist dagegen
eine hohe Permeabilität für Wasser auf, was die Konzentrierung des Ultrafil-
trats erst ermöglicht. Die hohe Durchlässigkeit dieser Zellwände für Wasser
wird durch eine reichliche Ausstattung mit porenbildenden Proteinen, sog.
Aquaporinen erreicht, die sich mit immunologischen Methoden nur in diesem
Bereich des Tubulussystems nachweisen lassen. Die Aquaporine, die aus sechs
transmembranären Domänen gebildet werden, besitzen in einem Cystein-Rest
eine Bindungsstelle für Quecksilber-Ionen. Ist Quecksilber anwesend, wird die
Pore für einen Wasseraustausch außer Funktion gesetzt. Dies verhindert den
passiven Austritt von Wasser aus dem Filtrat und damit dessen Zunahme, was
eine diuretische Wirkung ausmacht.

Toxikokinetik

Die toxikologische Betrachtung des Quecksilbers muss sich mit drei verschie-
denen Verbindungstypen beschäftigen, mit elementarem, anorganischem und
organisch gebundenem Quecksilber.
Elementares Quecksilber
Elementares Quecksilber in metallischer Form hat nur ein geringes toxisches
Potential. Eine orale Aufnahme selbst größerer Mengen ist nicht gefährlich.
Eine dermale Resorption tritt im Normalfall nicht auf, sie ist aber vom Grad
der Dispersion abhängig. Intravenös injiziertes Quecksilber kann Embolien,
also einen Fremdkörperverschluss kleinster Gefäße, auslösen. Es ist nicht akut
toxisch, führt jedoch sicher zu einer chronischen Intoxikation.
Wesentlich gefährlicher ist die Exposition gegenüber gasförmigem Quecksil-
ber. Wo immer metallisches Quecksilber vorkommt, befindet sich aufgrund
seines hohen Dampfdruckes Quecksilber in der Luft. Nach Inhalation gelangt
gasförmiges Hgo wegen seiner hohen Lipophilie (Löslichkeit in Pentan 2,7 mg/L,
in Wasser nur 20 mg/L) und Beweglichkeit, ähnlich wie Narkosegase, über die
kurze alveolare Diffusionsstrecke ins Blut. Die Resorptionsquote liegt bei et-
wa 80 %, der Verteilungsgrad zwischen Luft und Körpergewebe wird auf 1:20
geschätzt.
Bedingt durch seine hohe Beweglichkeit kann das Hgo -Atom in Zellen verschie-
dener Organe diffundieren (Transportform). Es unterliegt gleichzeitig einer ra-
schen metabolischen Umwandlung, die bereits in roten Blutzellen beginnt, aber
auch in anderen metabolisch aktiven Zellen abläuft. In den Erythrozyten liefert
ein zweimaliger Elektronenentzug unter katalytischer Beteiligung der Katala-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 235

Lunge Gehirn
2-
H2O2 H2O + O
max 15 mg/m3 BB
MAK 100 ug/m3 B S
o normal 20 ng/m3 80% o Cat. 2+
Hg Hg Hg Hg
S

t1/2 > 1a
o Cat. 2+
Hg Hg
MeHgX 2: 1 MeHgX

90% MeHgX 20 : 1
Ery
MeHgX

2+ 2+
Hg 5-10% Hg

o
Hg 0,01% MT-Hg
Faeces Urin

MeHgX t1/2 ~ 70 d MeHgX


2+ 2+
HgS + Hg t1/2 ~ 40-70 d Hg
o
Darm Hg Niere

Abbildung 4.23 Toxikokinetik der Quecksilberspezies Hgo , Hg2+ und MeHgX im Organis-
mus nach pulmonaler (li. oben) und enteraler (li. unten) Exposition. Verteilung und Re-
aktionen im Erythrozyten (zentral), Gehirn (re. oben) und Niere (re. unten). BBB: Blut-
Hirn-Schranke, Cat.: Katalase, t1/2 : Halbwertzeit, MT: Metallothionein, Resorptionsquoten
in Prozent.

se Hg2+ -Ionen. Dieser Schritt führt zu einer weitgehenden Immobilisierung.


Wird durch ein erhöhtes Angebot von gasförmigem Hgo die Umgiftungskapa-
zität überschritten, gelangt ein größerer Anteil des leicht beweglichen lipophi-
len Hgo über die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem. Auch hier
folgt eine Umwandlung in ionisches Quecksilber und eventuell die Bildung eines
biologisch unwirksamen Selenid-Komplexes, so dass aus diesem Kompartiment
Quecksilber nur mit einer biologischen Halbwertzeit von mehreren Jahren eli-
miniert wird. Bei gleichbleibender Zufuhr ist hier mit einer Kumulation zu
rechnen. Es wird verständlich, warum vor allem hohe Spitzenkonzentrationen
zu vermeiden sind (MAK 100 mg Hg/m3 ; Spitzenbegrenzung). Ähnlich wie die
236 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Blut-Hirn-Schranke verhält sich Quecksilber auch an der Plazentarschranke.


Gasförmiges Hgo erreicht also leicht fetales Gewebe.
Ionisches Quecksilber
Die Resorption von Quecksilberionen unterscheidet sich wesentlich von der des
Elementes. Monovalente Kationen werden sehr schlecht resorbiert, während
zweiwertige (Hg2+ ) aus dem Gastrointestinaltrakt zu 2 bis 15 % aufgenommen
werden. Der Transport erfolgt im Blut, an Plasmaeiweiße und an Erythrozyten
gebunden. Es erreicht auf diesem Weg zwar alle Organe, kann aber schlecht
Membranen passieren, so dass es sich vor allem in der Niere, weniger in Leber
und Darmschleimhaut anreichert. Interaktionen mit Proteinen erfolgen über
Thiol-Gruppen und führen zur Denaturierung und Enzyminhibition. In diesem
Sinne lassen sich PCMB und Mercury Orange anwenden (Abbildung 4.21). An
Metallothionein der Nierentubuluszellen gebunden findet man höchste Kon-
zentrationen in der Nierenrinde. Die Halbwertzeit der Elimination liegt bei ca.
60 Tagen. Werden im Organismus Quecksilberionen aus Hgo oder organischen
Molekülen freigesetzt, unterliegen sie dem besprochenen Verteilungsmuster.
Umgekehrt kann nach Reduktion von ionischem zu elementarem Quecksilber
letzteres in das Gehirn gelangen oder über die Lunge abgeatmet werden, weil
ihm diese zusätzlichen Verteilungswege offen stehen.
Organisch gebundenes Quecksilber
Die Bindung von Quecksilber in organischen Molekülen verleiht dem Element
völlig andere biologische und ökologische Eigenschaften. Deutlich zeigt sich
dies an den früher als Fungiziden eingesetzten kurzkettigen Alkylquecksilber-
derivaten wie Methylquecksilberchlorid (CH3 HgCl) und Dimethylquecksilber
(CH3 HgCH3 ). Methylquecksilberchlorid ist leicht flüchtig und wird über die
Lunge fast vollständig (90 %) aufgenommen. Gleiches gilt für die Resorpti-
on aus dem Darm und über die Haut. Auch Dimethylquecksilber wird cutan
extrem rasch resorbiert. Latexhandschuhe stellen absolut keinen Schutz dar.
Wenige Tropfen genügen, um eine tödliche Vergiftung auszulösen. Ein trauri-
ger Unfall ereignete sich 1997 in einem US-amerikanischen Labor (vgl. Seite
180). Aufgrund ihrer Lipophilie breiten sich die Substanzen im Organismus
leicht aus und dringen in Kompartimente ein, deren sonst schützenden Gewe-
beschranken für diese Verbindungen keine Barriere darstellen.
Ebensowenig wie Handschuhe aus Latex, stellen solche aus Neoprene und Bu-
tylgummi einen geeigneten Schutz beim Arbeiten mit Dimethylquecksilber dar.
Nur das Material Norfoil® , ein dünnes fünfschichtiges Lamiat aus Polyethylen
(PE) und dem Ethylenvinylalkohol-Copolymer (EVOH), bietet einen sicheren
Schutz. Es zeichnet sich durch hervorragende Sperreigenschaften gegenüber or-
ganischen Lösungsmitteln und Gasen aus. Allerdings wird es nicht empfohlen
bei Arbeiten mit Chloroform.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 237

Eine Einlagerung erfolgt auch in die Haare. Durch Demethylierung von Di-
methylquecksilber entsteht Hg2+ , welches weniger mobil ist. Ihm eröffnet sich
allerdings durch die Reaktion mit Glutathion und ähnlichen Verbindungen, die
weiche Lewis-Basen darstellen, ein Zugang zu deren Ausscheidungswegen über
Faeces und Urin. Die mittlere Halbwertzeit beträgt 70 Tage.
Das Methylquecksilberkation CH3 Hg+ hat die Möglichkeit mit weichen Lewis-
Basen, zu denen Halogenanionen, Cyanid, Rhodanid und Alkylthiolate zählen,
kovalente Bindungen des Typs MeHg-X einzugehen. Diese sind alle lipophil.
Mit harten Lewis-Basen wie Nitrat oder Sulfat bilden sich dagegen ionische
Bindungen, wodurch das CH3 Hg+ ein wasserlösliches hydratisiertes Kation des
Typs CH3 Hg(H2 O)+ bleibt. Die Umwandlung in die lipophile Spezies kann je-
derzeit erfolgen, sofern die geeigneten Anionen anwesend sind. Die Magensäure
oder das Meerwasser können für eine erste Stufe genügend Chlorid bereitstel-
len. Die Bildungskonstanten für die lipophilen Spezies nehmen in der Reihen-
folge MeHgF  MeHgCl < MeHgBr < MeHgI  MeHgSMe zu. Hieraus kann
man ableiten, dass im Organismus eine Umwandlung bis zu den stabileren
Komplexen mit Schwefel ablaufen wird.
Methylquecksilber-Kationen sind auch in der Lage, in den Purinbasen Adenin
und Guanin aciden Wasserstoff zu ersetzen und sich an Aza-Zentren des Mo-
leküls anzulagern. Dieses Verhalten könnte eine Erklärung sein für die unter
Methylquecksilber beobachteten Chromosomenschäden.

Toxikodynamik

Werden große Mengen an gasförmigem Quecksilber eingeatmet, tritt das Bild


einer akuten Vergiftung auf. Es kann sich äußern in Metallgeschmack, Er-
brechen, blutigen Durchfällen und einer Nierenschädigung mit Polyurie und
Proteinurie. Seltener steht eine Reaktion mit Lungenentzündung, Fieber, Hu-
sten und Atemnot im Vordergrund. Die Intoxikation führt erst nach längerer
Krankheit zum Tod.
Die orale Aufnahme von löslichen anorganischen Quecksilberverbindungen kann
eine lokale Verätzung zur Folge haben, was jedoch keine quecksilberspezifische
Reaktion ausmacht. Typisch ist dagegen der Metallgeschmack, Erbrechen und
Durchfälle, die durch Sulfide schwarz gefärbt sein können. Die Niere reagiert
anfänglich mit einer Polyurie, die durch eine reversible Blockade der Aqua-
porine im proximalen Tubulus und im absteigenden Teil der Henleschen Schlei-
fe zustandekommt. Erst eine weitere Schädigung mit höheren Konzentrationen
führen zu einer Proteinurie, der dann eine Anurie folgen kann, welche nach
völliger Zerstörung der Nierenfunktion in eine Urämie mündet und den Tod
innerhalb einer Woche zur Folge hat. Weniger hohe Dosierungen ergeben sub-
238 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

akute Verlaufsformen. In diesem Stadium tritt Quecksilber in den Speichel


über und löst eine Entzündung des Mund- und Rachenraumes bei gleichzeiti-
ger Lockerung der Zähne aus (Stomatitis mercurialis).
Bei subakut mit anorganischem Quecksilber vergifteten Kindern konnte früher
die Feersche Erkrankung (auch: Akrodynie, pink disease) beobachtet werden.
Je länger die Exposition mit anorganischem oder elementarem Quecksilber
anhält (chronische Intoxikation, Merkurialismus), desto stärker tritt die Wir-
kung auf das zentrale Nervensystem in den Vordergrund. Besonders gilt dies
für die chronische Inhalation von Dämpfen (Hgo ). Neben Zahnlockerung, Zahn-
ausfall und Ablagerungen von HgS am Zahnfleisch (Quecksilbersaum) und
Nierenreizung, treten bei einem Merkurialismus folgende typische Vergiftungs-
erscheinungen auf: Stirnkopfschmerzen, Schwindelanfälle, Metallgeschmack,
Stockschnupfen mit Vereiterungen (Quecksilberschnupfen) und Blutarmut. Fer-
ner sind charakteristisch eine nervöse Reizbarkeit (Erethismus mercurialis), ein
feinschlägiger Tremor, der durch die Intention einer Bewegung verstärkt wird,
vor allem beim Schreiben (Tremor mercurialis, Zitterschrift) und ein erschwer-
tes, verwaschenes Sprechen (Psellismus mercurialis). Allgemein imponiert eine
stark abnehmende geistige Leistungsfähigkeit (psychische Schwäche, Konzen-
tration, Gedächtnis).
Für die Vergiftung von Menschen mit Dimethylquecksilber und Methylqueck-
silber-Komplexen (MeHgX) gibt es bemerkenswerte Fallberichte: Zwischen
1953 und 1960 kamen in Fischerfamilien an der Bucht von Minamata (Kyu-
shu, Japan) Sensibilitätsstörungen und zentralnervöse Schädigungen vor. Bis
als Ursache der Minamata-Disease genannten Erkrankung eine Intoxikation
mit Methylquecksilber erkannt wurde, starben etwa 50 Personen (siehe Seite
180 und Abbildung 4.20). Das Methylquecksilber war in Muscheln und Fischen
enthalten, die es über die Nahrungskette aufgenommen hatten. Die Quecksil-
berverbindungen entstanden teilweise bei der Produktion von Vinylchlorid und
gelangten mit dem Abwasser in die marine Küstenregion, teilweise bildeten sie
sich hier durch Biomethylierung von ionischem Quecksilber. Ein in Schwe-
den beobachtetes Massensterben von Tieren (Vögel, Raubvögel, Wildtiere),
die direkt und indirekt gebeiztes Saatgut gefressen hatten, führte wegen der
ökologischen Schäden 1965 zu einem Anwendungsverbot dieser Beizung. Etwa
zehn Jahre später wurde mit verschiedenen Quecksilberverbindungen darunter
Ethylquecksilber-p-Toluolsulfonanilid gebeiztes Saatgetreide aus Unwissenheit
zur Herstellung von Brot verwendet, was im Irak 450 Menschenleben forderte.
Im Vordergrund stehen, nach einer Latenzperiode von Monaten, Symptome
einer Schädigung des zentralen Nervensystems. Zunächst sind Missempfin-
dungen zu beobachten, gefolgt von einer Gesichtsfeldeinengung sowie Sprach-
und Koordinationsstörungen. Kinder und Säuglinge reagieren mit Entwick-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 239

lungsschäden am zentralen Nervensystem. Da die methylierten Quecksilberde-


rivate die Plazentarschranke leicht überwinden, können sie bereits im Fetal-
stadium die pathologischen Veränderungen einleiten.

Therapie

Zur Beschleunigung der renalen Ausscheidung ionischen Quecksilbers jeglicher


Provenienz eignen sich die Chelatoren BAL (Dimercaprol), DMPS (Dimer-
captopropansulfonsäure) und DMSA (Dimercaptosuccinic acid, Dimercapto-
bernsteinsäure), D-Penicillamin (2-Amino-3-methyl-3-thiobuttersäure), sofern
die Nierenfunktion noch intakt ist. Chelatoren nach Vergiftungen mit orga-
nischen Quecksilberverbindungen einzusetzen, verbietet sich wegen einer be-
schleunigten Einschleusung von Quecksilber in das zentrale Nervensystem.

4.2.6 Thallium
Thallium wurde 1861 von W. Crookes aufgrund seiner smaragdgrünen Flam-
menfärbung in selenhaltigen Mineralien entdeckt und ein Jahr später von La-
my rein dargestellt. Die grüne Spektrallinie (535 nm) führte zur Wahl des Na-
mens jallìc, der grüner Zweig bedeutet. Thallium ist mit Pyrit und Zink-
blenden vergesellschaftet und gelangt über den Röstprozess bei der Schwefel-
säureherstellung in den Bleikammerschlamm, aus dem es gewonnen werden
kann.

Anwendungen

Elementares Thallium dient gelöst in Quecksilber (Amalgam) als leitende Flüs-


sigkeit in Schaltern und als Füllung von Thermometern für tiefe Temperatu-
ren. Mit Hilfe seines Oxids werden Gläser hoher Brechkraft hergestellt und
in Verbindungen mit Schwefel, Selen, Tellur und Arsen ist seine Halbleiterei-
genschaft in photoelektrischen Zellen und Szintillationszählern nützlich. Sei-
ne Alkalihalogenide lassen sich für Leuchtstoffe in Leuchtschirmen verwenden
und die Pyrotechnik nutzt seine Flammenfärbung für Feuerwerkskörper. Auf-
grund seiner Toxizität für Säugetiere, der geschmacklichen Indifferenz und des
verzögerten Wirkungseintritts kann Thallium(II)-sulfat als Rodentizid verwen-
det werden. Es kommt hierzu in einer rot eingefärbten 2–3 %igen Zubereitung
als Korn oder Paste zum Einsatz (Zelio® ). Die Einführung als Rodentizid und
Insektizid eröffnete seine missbräuchliche Verwendung für Morde und Selbst-
morde. Wichtig ist die frühere medizinische Anwendung von Thallium-Acetat
als Antihidrotikum und Depilierungsmittel, die in den 20er Jahren des vorigen
240 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Jahrhunderts häufiger zu Vergiftungsfällen führte. Das Radionuklid 201 Tl wird


zur Myokardszintigraphie eingesetzt.
Durch Verwendung von thalliumhaltigem Eisenoxid bei der Herstellung von
Zement kam es Ende der 70er Jahre im Umkreis von Zementwerken zu Im-
missionen, welche zu chronischen Vergiftungen führten. Da Pflanzen und Pilze
teilweise Thallium akkumulieren, ist der Eintrag durch Staubniederschlag auf
0,01 mg Thallium/m2 · d im Jahresmittel begrenzt.
Thallium kommt in den Oxidationsstufen +1 und +3 vor, wovon letztere weni-
ger beständig ist. Ähnlichkeiten des einwertigen Thalliums bestehen einerseits
zum Silber (schwerlösliches Oxid, Sulfid, Halogenid), andererseits zum Ka-
lium (lösliches Hydroxid, Carbonat, Sulfat). Die Ionenradien der genannten
Elemente sind ziemlich ähnlich Tl+ (1,44 Å), K+ (1,33 Å), Ag+ (1,26 Å). Vor
allem spielt die Verwandtschaft zu Kalium, das es teilweise funktionell erset-
zen kann, eine wichtige biologische Rolle. Jedoch ist Thallium kein normaler
Bestandteil des Körpers.

Toxikokinetik

Lösliche Thalliumverbindungen werden aus dem Gastrointestinaltrakt schnell


resorbiert. Die Aufnahme erfolgt wie für Cobalt und Mangan auch über das
Eisentransportprotein. Weil die Na+ -K+ -ATPase nicht zwischen Kalium und
dem kaum größeren Thalliumion diskriminieren kann, ergibt sich eine dem
Kalium entsprechende Verteilung im Organismus mit hohen intrazellulären
Konzentrationen. Die Plazenta stellt für das Element kein Hindernis dar, so
dass es auch fetotoxisch ist. In der Niere findet man die höchsten Thallium-
konzentrationen, gefolgt von der Haut, wo es unter anderem in den Haar-
follikeln angereichert (Widy-Phänomen) und in die Haare deponiert wird.
Hier kann es zur Diagnose mit Hilfe der Atomabsorption oder der Neutronen-
aktivierung nachgewiesen werden. Die Ausscheidung erfolgt langsam mit einer
initialen Halbwertzeit von etwa 14 Tagen überwiegend mit dem Urin. Wie Na-
trium, Kalium, Glucose, Cäsium und Cobalt erfährt Thallium bei der biliären
Elimination keine Konzentrierung. Das Galle/Plasma-Verhältnis für Thallium
ist etwa eins (Substanzen der Klasse A). Wie Versuche am Darm der Ratte
gezeigt haben, werden Thallium-Ionen aus dem Blut in das Darmlumen se-
kretiert. Es kommt zur Ausbildung eines enterohepatischen Kreislaufs, der die
Elimination verzögert.
Thalliumverbindungen, besonders lösliche, werden gut über die Lunge und
auch über die Haut resorbiert, weswegen sie zu berufsbedingten Erkrankungen
führen können. Als Grenzwert für die berufliche Exposition ist in vielen Ländern
eine Konzentration von 0,1 mg/m3 festgesetzt.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 241

Toxikodynamik

Die orale Aufnahme von etwa 1 g Thallium(I)-sulfat (ca. 15 mg/kg) führt nach
einer Latenzzeit von bis zu 3 Tagen zu einer akuten Vergiftung mit Störungen
des Gastrointestinaltraktes, des Nervensystems und der Haut nebst Anhangs-
gebilden (Haare und Nägel).
Nach Übelkeit und Erbrechen, gelegentlich begleitet von Durchfällen, folgt eine
typische Verstopfung mit kolikartigen Leibschmerzen. Die Wirkung am Ner-
vensystem äußert sich in Empfindungsstörungen an Fingern und Zehen, Über-
empfindlichkeit gegenüber Berührungen der Haut. Später kommen aufsteigen-
de motorische Lähmungen hinzu. Psychische Störungen, Depression, Psychose,
Schlaflosigkeit und Krämpfe sind Ausdruck eines zentralen Angriffs. Degene-
rative Schädigungen von Nerven oder Nekrosen von Neuronen sind beschrie-
ben worden. Das sympathische Nervensystem befindet sich in einem Zustand
erhöhter Reizbarkeit mit einem Anstieg von Katecholaminen, was eine Blut-
drucksteigerung und Tachykardie zur Folge hat. Haupt- und Körperhaare fallen
nach 2–3 Wochen teilweise oder völlig aus. Diese Störung ist reversibel. Sinnes-
haare sind vom Ausfallen, vielleicht wegen fehlender sympathischer Innervie-
rung, nicht betroffen. An den Nägeln sind in der Spätphase weiße Quersteifen
(Mees-Streifen) zu beobachten, die durch Wachstumsstörungen hervorgerufen
sind.
Ohne Therapie führt die genannte Dosis zum Tod. Die lange Latenzphase von
etwa zwei Tagen bis zum Auftreten toxischer Wirkungen verhindert meist so-
fortige Gegenmaßnahmen, so dass nach Überleben mit teilweise monatelangen
Erholungsphasen zu rechnen ist.
Thallium ist ein Beispiel für ein typisches Kumulationsgift, da seine Ausschei-
dung im Vergleich zu einer chronischen Exposition in den meisten Fällen gering
ist. Die verzögert und abgeschwächt auftretenden Symptome werden oft nicht
einer Vergiftung mit Thallium zugeordnet. Als Zeichen einer chronischen Ver-
giftung wird bei Industriearbeitern häufig eine entzündliche und degenerative
Nervenkrankheit beobachtet. Teilweise treten degenerative Schädigungen des
Sehnerven auf, die bis zur Erblindung führen. Eine starke Akkumulation von
Thallium durch Sehnerv und Linse kann hierfür eine Ursache sein.
Ultrastrukturell zeigt sich, dass Mitochondrien in Niere, Leber und anderen
Organen degenerativ verändert sind. Hierbei kommt es zu gesteigerter Bildung
der Cristae und zu einer Vakuolisierung. Eine Anreicherung von Thallium in
diesen Organellen ist beschrieben. Die Niere reagiert unter Entzündung mit
einer tubulären Degeneration. Für das Herz zeigt das Thallium eine relative
Organspezifität, weswegen es sich zur Szintigraphie dieses Organs eignet.
242 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Entgiftung

Die Beschleunigung der Ausscheidung von Thallium aus dem Organismus lässt
sich vor allem mit einer Eindämmung des enterohepatischen Kreislaufs er-
reichen. Hierzu dient Kalium-Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), das lösliche oder
kolloidale Berliner Blau. Die Verbindung nimmt das Thallium anstelle von Ka-
lium in den Komplex auf. Das Strukturgerüst des Berliner Blaus ist aufgrund
ähnlicher Ionenradien in der Lage, neben Thallium auch Rubidium (1,48 Å)
und Cäsium (1,69 Å) zu inkorporieren. Daneben eignet sich zur Unterbrechung
der Reabsorption die Überführung in schwerlösliches Thalliumiodid oder Sul-
fid. Die Anwendung von Dimercaprol oder Dithiocarb ist nicht sinnvoll, da sie
komplexiertes Thallium vermehrt in das Gehirn diffundieren lässt und so des-
sen Toxizität erhöht. Generell ist die Behebung der Obstipation durch Gabe
von Laxantien angebracht. Sofern noch keine Nierenschädigung eingetreten ist,
besteht die Möglichkeit der forcierten Diurese. Eine Dialyse ist zur beschleu-
nigten Ausscheidung und zum gleichzeitigen Schutz der Niere sinnvoll.

4.2.7 Vanadium (Vanadin)


1830 wurde das Element von N. G. Sefström in einem Eisenerz aus Südschwe-
den entdeckt und nach dem Beinamen Vanadis der Göttin Freya benannt.
In der Erdkruste kommt es mit einer Häufigkeit von 9,0 · 10−3 Gew. % vor,
meist in der Oxidationsstufe +5 in Form von Salzen der Orthovanadinsäure
(H3 VO)4 ) oder als deren Anhydrid (V2 O5 ).
Höhere Konzentrationen von Vanadium in fossilen Brennstoffen, vor allem in
bestimmten Erdölen, bei deren Raffination es als Nebenprodukt anfällt, und
sein Vorkommen in Eisenerzen, Tonen, Basalten und Böden bedingen seine
hohe Konzentration in Ruß, Asche und Schlacken, bzw. seinen Eintrag in die
Luft. Die industrielle Herstellung geht vom Vanadiumpentoxid V2 O5 aus, das
teilweise aus Thomasschlacke gewonnen wird, in der es zu etwa 1 bis 2 % ent-
halten ist.

Anwendungen

Genutzt wird Vanadium in Form seines dunkelblauen Oxids (V2 O4 ) als Sau-
erstoff übertragender Katalysator beim Kontaktverfahren zur Herstellung von
Schwefelsäure. Eine gleichzeitige Reduktion von V2 O5 und Eisenoxid durch
Kohlenstoff liefert Ferrovanadin mit einem Gehalt von 50 % Vanadin. Es dient
zur Herstellung von Vanadium-Stählen mit geringeren Vanadiumanteilen. We-
gen der Farbenfreudigkeit der verschiedenen Vanadiumoxide (orangerot V2 O5 ,
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 243

blau V2 O4 , schwarz V2 O3 ) verwendet man sie als Pigmente zur Farbenher-


stellung.
Im Organismus ist Vanadium eines der seltensten Spurenelemente. Der Va-
nadiumbestand des Menschen beträgt etwa 20 mg, die tägliche Zufuhr über
die Nahrung liegt bei 60 mg. Nahrungsmittel enthalten Vanadium in folgenden
Konzentrationen (mg/g): Salat 0,05, Getreide 0,09, Kakao-Pulver 0,6, Wild-
pilze getrocknet bis 2, Tabak bis 8 mg/g. Überdurchschnittlich viel Vanadium
findet man in Seetieren bis 2 mg/g. Säugetiere zeigen mit Ausnahme von Le-
ber, Niere und Knochen geringe Konzentrationen. An Hühnern und Ratten
wurde eine Wachstumsförderung durch Vanadium beobachtet. Der essentielle
Spurenelementcharakter für den Menschen ist jedoch nicht erwiesen. Die Re-
sorption aus dem Gastrointestinaltrakt ist gering. Die Konzentration im Blut
beruflich unbelasteter Kontrollpersonen liegt unter 2,5 mg/L.

Toxikokinetik

Besonders das Einatmen von Vanadiumpentoxid-haltigen Stäuben verursacht


starke Reizungen der Augen und Atemwege, Blutungsneigung der Lunge und
Entwicklung einer chronischen Bronchitis und Rhinitis. Vanadiumpentoxid
wird pulmonal nahezu vollständig resorbiert. Eine grün-schwarze Verfärbung
der Zunge scheint eine charakteristische Begleiterscheinung einer chronischen
Exposition zu sein. Die beschriebenen Krankheitsbilder werden beim Arbei-
ten mit Thomasschlacke beobachtet und unterliegen der Verordnung für Be-
rufskrankheiten. Für Vanadiumpentoxid, das beim Menschen als karzinogen
anzusehen ist, gilt heute ein BAT von 70 mg/g Kreatinin. Der früher festgeleg-
te Grenzwert für die berufliche Exposition mit Vanadiumpentoxid (vorläufi-
ger MAK-Wert von 1985) hatte das Ziel, die lokale Reizwirkung auf den
Respirationstrakt zu vermeiden. Hierdurch ergab sich in Abhängigkeit von der
Teilchengröße eine Konzentrationsgrenze für Staub von 0,5 mg/m3 , für Rauch
von 0,1 mg/m3 und für Feinstäube von 0,05 mg/m3 (Durchmesser < 5 mm bei
98% aller Partikel).
Resorptiv aufgenommenes Vanadium wird innerhalb von wenigen Tagen bis zu
60 % über die Nieren ausgeschieden. Ein kleiner Teil von 10 % folgt über die
Faeces. Eine Anreicherung lässt sich im Knochen beobachten; Leber, Lunge
und Niere speichern weniger.

Toxikodynamik

Vanadium kann in wässriger Lösung in den Oxidationsstufen +2 bis +5 auftre-


ten. In Organismen kommt Vanadium(II) aufgrund seiner starken Reduktions-
wirkung nicht vor. Vanadium(III) wurde bisher nur in Vanadocyten bei Mantel-
244 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Vanadium (IV) Vanadium (V)

O H
O
H2O 2+ OH 2
V VO
H2O OH 2
HO OH
H2O

Abbildung 4.24 Räumliche Struktur der Komplexe des Vanadiums in der Oxidationszahl
+4 (Oxovanadium(IV), Vanadyl, VO2+ ) und +5 (Orthovanadinsäure). In Konzentrationen
unter 10 µM liegen fast nur monomere Formen vor. Die Komplexe beider Oxidationsstufen
bilden abhängig vom pH-Wert Ionen unterschiedlicher Ladung. Von sauer bis alkalisch erge-
ben sich die beiden folgenden Reihen: Vanadium(IV): VO2+ 5aq, VO(OH)+ 4aq, VO(OH)2 ,
VO(OH)3− 2aq. Vanadium(V): VO2+ , H2 VO− 2− 3−
4 , HVO4 , VO4 . Bei physiologischem pH-
Wert von 7,4 stehen sich demnach Vanadium(IV) als Kation und Vanadium(V) als Anion
gegenüber. Im stark Sauren liefert die Metavanadinsäure nach Protonierung und Wasser-
abspaltung ein Dioxovanadium(V)-Kation (HVO3 + H+ – H2 O −→ VO+ 2 ), das nicht mit
dem Vanadyl-Kation (VO2+ ) zu verwechslen ist. Das Vanadyl-Hydroxid VO(OH)2 weist eine
ziemlich geringe Löslichkeit auf.

tieren gefunden. Unter physiologischen Bedingungen sind die Oxidationsstufen


+4 und +5 gleichermaßen anzutreffen, die sich in der geometrischen Anord-
nung ihrer Komplexe unterscheiden (Abbildung 4.24).
Vanadium(IV) tritt als Aquo-Komplex des Vanadyl-Kations (VO2+ ) in der Ko-
ordinationszahl 5 oder 6 auf. In biologischen Systemen bildet es starke Kom-
plexe mit verschiedenen Liganden und Proteinen, an denen es gegebenenfalls
physiologische Kationen ersetzen kann. Vanadyl und Magnesium haben ähn-
liche Ionenradien (0,60 bzw 0,65 Å). Somit können beide eine Reihe gleicher
Wirkorte aufweisen. Generell ist das Vanadyl-Kation in biologischen Systemen
ziemlich unbeweglich. So bindet es auch fest an Huminsäuren.
Anders verhält sich das Vanadat, das als Phosphatanalogon leicht beweg-
lich ist. In der Form des Orthovanadats (H3 VO4 = HVO3 + H2 O) stellt es
einen vierzähnig koordinierten Komplex dar, welcher bei Konzentrationen un-
ter 10 mM in der Regel monomer vorliegt. Erst ab dieser Grenze kann man die
Bildung eines Dimeren (Pyrovanadat, H4 V2 O7 = 2 HVO3 + H2 O) und eines
ringförmigen Trimeren (H3 V3 O9 ) beobachten.
Der leichte Wechsel vom 5- zum 4-wertigen Vanadium ist gleichzeitig von ei-
nem Übergang zwischen Anion und Kation begleitet. Hieraus ergibt sich, dass
Vanadat als Anion über den Anionentransporter in die Zelle aufgenommen
werden kann. Innerhalb der Zelle unterliegt Vanadat einer schnellen Redukti-
on zu Vanadyl, dem es unmöglich ist, die Zelle über denselben Weg zu ver-
lassen. Es bleibt gefangen, so dass intrazellulär Vanadyl und extrazellulär Va-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 245

nadat anzutreffen ist. Ähnlich verhalten sich die Paare Chromat/Cr3+ und
Quecksilber/Hg2+ .
Eine Reihe von Wirkungen des Vanadats kommen durch dessen Redox-Reak-
tionen mit zellulären Bestandteilen zustande. Mit freien Thiolen der Zelle, wie
sie in Cystein und Glutathion vorliegen, Ascorbinsäure, NADH und Katecho-
laminen tritt eine rasche Reduktion zum Vanadyl-Kation (+4) (VO2+ ) ein.
Bei der Reduktion durch Thiole ist ein kurzlebiger Thioester als Intermediat
beteiligt (siehe Kapitel 4.2.3).
Die Analogie zu Phosphat ist Ursache für eine andere Wirkungsqualität von
Vanadat. Die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase wurde durch Zufall entdeckt, da
das in den Versuchen eingesetzte ATP tierischen Ursprungs in Chargen unter-
schiedlicher Vanadiumgehalte vorlag. Vanadat bindet an eine hoch- und eine
wenig-affine Bindungsstelle an der a-Untereinheit des Enzyms und verdrängt
hier ATP, das an diesen Stellen inverse Bindungsaffinitäten aufweist. Hier-
durch verzögert es die zum Ionentransport notwendige Konformationsände-
rung (E2 - E1 ). Auch Na+ -Ionen interferieren mit der Bindung des Vanadats.
Ähnliche Wirkungen werden für eine Reihe anderer ATPasen beschrieben.
Für die Adenylatcyclase ist dagegen eine Stimulation durch Vanadat gefunden
worden. Es ist bekannt, dass die positiv inotrope Wirkung der Herzglycoside
durch die Hemmung der Na+ -K+ -ATPase des Herzmuskels zustande kommt.
Allerdings führt die Inhibition des Enzyms nur unter bestimmten Umständen

  







 

 

  


 

 
 

 
  


 


  

 

 


  

    
 

Abbildung 4.25 Die Chelatoren Ethylendiamintetraessigsäure EDTA (Titriplex® ) und Di-


ethylentriaminpentaessigsäure DTPA. Um die Calziumspeicher des Körpers zu schonen, wer-
den beide Chelatoren therapeutisch immer als Ca,Na-Salze eingesetzt, CaNa2 -EDTA und
CaNa3 -DTPA. Hierbei ist Ca2+ komplexiert, wie in der mittleren Struktur gezeigt. Es lässt
sich bei EDTA durch stärker bindende zweiwertige Kationen wie Zn2+ , Cu2+ und Pb2+
verdrängen. DTPA komplexiert auch Eisen Fe3+ und Plutonium.
246 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

(isolierter Herzmuskel) zu einer solchen Wirkung, da Vanadat eine Reihe ver-


schiedenster Interaktionen am Herzen auslöst, die zu gegenteiligen Wirkungen
führen.

Therapie

Zur Behandlung von Vergiftungen wird CaNa2 -EDTA eingesetzt, ein Kom-
plexbildner, der Vanadium als Vanadyl-Kation cheliert (Abbildung 4.25). Vor-
teilhaft erwiesen sich zusätzlich auch hohe Dosen von Ascorbinsäure, welche
die Reduktion von Vanadat zu Vanadyl begünstigt. Da die körpereigene Syn-
these von Ascorbinsäure gestört ist, kann deren erhöhter Verbrauch nicht mehr
gedeckt werden.

4.2.8 Metalloid Arsen


Arsen ist ein typisches Halbmetall, das in einer metallischen grauen und in
drei nichtmetallischen Modifikationen auftreten kann, die gelb, schwarz oder
kristallin sind. Aufgrund dieses Charakters sind sowohl seine metallischen Ei-
genschaften wie die Leitfähigkeit und Legierbarkeit, als auch seine Fähigkeit
zum Eingehen organischer Verbindungen ausgeprägt und von Interesse. Seine
hohe Toxizität war bereits im Mittelalter bekannt, weswegen sich der Namen
Ćrseniκìc, männlich, stark, einbürgerte, der in anderen Sprachen verkürzt wur-
de: arsenic (fr.); arsen (dt.).
In der Natur kommt Arsen oft als Metallarsenid vor. Am häufigsten findet man
Eisen-Arsen-Sulfid, den Arsenkies (Arsenopyrit). Er enthält Eisenarsenid und
Eisensulfid in gemischter Form als FeAs2 ·FeS2 oder Fe[AsS]. Die schwefelfreien
Metallarsenide haben die Zusammensetzung Fe[As2 ]. In allen Verbindungen
kann das Eisen durch Kobalt oder Nickel ersetzt sein. Daneben gibt es me-
tallfreie Arsensulfide wie das rote Realgar (As4 S4 ) und das gelbe Auripigment
(As2 S3 ). Diese beiden Pigmente sind kaum toxisch, sofern sie keine verwitte-
rungsbedingten Beimischungen von Arsenik (As2 O3 ) enthalten.
Das Abrösten von Schwefelerzen zur Gewinnung von Schwefeldioxid und Me-
talloxiden in Kupfer- und Bleihütten lässt größere Mengen an Arsenik anfal-
len und auch im Hüttenrauch als Flugstaub auftreten. Die Verbrennung von
Erdölen kann ebenfalls Arsenik in die Atmosphäre freisetzen.
Vielfach enthalten Bohrschlämme Arsen und Nickel aus dem Gestein. Auch
durch Verwitterung und chemische Auflösung gelangt Arsen geogenen Ur-
sprungs in das Oberflächenwasser. In manchen Gebirgsregionen treten hier-
durch hohe Arsenkonzentrationen auf. Dies trifft besonders für einige Alpentä-
ler in Südtirol, Graubünden und im Tessin zu. Deshalb wird empfohlen, Was-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 247

ser aus privaten Brunnen gefährdeter Gegenden immer auf Arsen prüfen zu
lassen. Auch in Schlesien, Argentinien, Chile, Mexiko, Californien liegen Regio-
nen mit zum Teil hohen geogen bedingten Arsenkonzentrationen. Außerdem
kennt man Grundwasserströmungen, welche in tiefen Ablagerungen des Ter-
tiär fließen und hohe Konzentrationen von Arsen enthalten. Sie verfrachten
große Mengen des Elements über weite Entfernungen hinweg und lassen sie
andernorts an der Oberfläche zutage treten (Freisinger Moos). Auch manche
Thermalbrunnen im Oberrheingraben enthalten so viel Arsen (Maxquelle in
Bad Dürkheim 14 mg/L), dass das Trinken dieser Wässer verboten wurde, so-
fern keine vorherige Abreicherung stattgefunden hat.

In jüngster Zeit sind vornehmlich in West-Bengalen, Bangladesch und Viet-


nam hohe Konzentrationen an Arsen im Trinkwasser festgestellt worden. In
diesen Regionen wurden in den letzten 25 Jahren mit internationaler Hilfe
Trinkwasserbrunnen gebohrt, mit dem Ziel, die Bevölkerung vor bakteriell be-
dingten Krankheiten zu schützen, die aufgrund der Nutzung verseuchten Ober-
flächenwassers nicht zu vermeiden waren. Erfreulicherweise gingen hierdurch
die Erkrankungen von Thyphus, Cholera, Dysenterie stark zurück.

Die Menschen litten aber nach einiger Zeit an Hauterkrankungen, die eindeutig
mit Arsen in Zusammenhang stehen. Nachträgliche Messungen von Arsen in
den Brunnenwässern, die leider zu Beginn versäumt worden waren, brachten
die traurige Gewissheit. Etwa ein Drittel aller zehn Millionen Brunnen führt
Wasser mit Arsenkonzentrationen von über 50 mg pro Liter und mindestens 30
Millionen Menschen sind allein in Bangladesch sind auf dieses Wasser angewie-
sen. Zur hohen Aufnahme von Arsen über das Brunnenwasser tritt noch die
Aufnahme aus dem Reis hinzu, denn in der trockenen Jahreszeit werden die
Felder mit Wasser aus den Brunnen bewässert, und die Pflanze nimmt Arsenit
leicht über die Wurzel auf und reichert es an. Hierbei spielen die Aquaporine
eine wesentliche Rolle.

Als Quelle dieses Arsens gelten Arsenmineralien, meist Fe[AsS], die in den
Gesteinen des Himalaya vorkommen. Die großen Ströme Ganges, Brahmaputra
und Meghna transportieren das verwitterte, arsenhaltige Gestein talwärts und
lagern das Material als schlammiges, toniges Sediment in einem Delta in den
Golf von Bengalen ab.

Durch Zutritt von Sauerstoff kommt es zu einer Oxidation des Materials.


Hierbei bildet sich viel Arsenat neben wenig Arsenit (Verhältnis 15:1) und
Eisen(III)hydroxid (FeOOH). Arsenat hat die Eigenschaft stark an Eisenver-
bindungen zu adsorbieren, wodurch seine freie Beweglichkeit und die toxische
Gefahr deutlich gemindert ist. Sofern die herrschenden oxidativen Bedingun-
gen bestehen bleiben, ändert sich dieser Zustand nicht.
248 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Wenn aber anaerobische und reduktive Bedingungen in den Aquaferen, den


grundwasserführenden Schichten, auftreten, wozu mikrobielle Aktivitäten durch
Geobacter einen entscheidenden Beitrag leisten, wird Arsenat zu Arsenit re-
duziert. Das Verhältnis liegt nun bei 1:12. Das jetzt überwiegende Arsenit ist
frei gelöst und geht in das geförderte Wasser über.
Mischt man arsenhaltiges Trinkwasser mit Eisensalzen und exponiert es dann
in Polycarbonatflaschen dem grellen Sonnenlicht, fällt das meiste Arsen nach
seiner Oxidation aus und kann abgetrennt werden.

Anwendungen

Zur Legierung mit Kupfer und Blei werden nur 3 % der Arsenproduktion ver-
wendet. Bleischrot enthält 1 % Arsen. Arsenik nutzt man bei der Glasherstel-
lung als Klärungs- und Entfärbungsmittel. Einer Reihe von Metall-Arsenaten,
wie dem Blei-, Calcium und Kupferarsenit (Schweinfurter Grün, 3 Cu(AsO2 )2 ·
Cu(CH3 COO)2 ) kam früher bei der Schädlingsbekämpfung im Weinbau und in
der Forst- und Landwirtschaft größere Bedeutung zu. Seit 1942 ist der Einsatz
verboten, da Vergiftungen und Krebserkrankungen sowohl durch das Ausbrin-
gen als auch durch Rückstände auf Früchten ausgelöst worden waren.
In Baumwollplantagen benutzte man früher arsenige Säure H3 AsO3 (HAsO2 )
vor der Ernte zur künstlichen synchronen Entlaubung der Pflanzen, die durch
eine Austrocknung der Pflanzen hervorgerufen wird. Heute wendet man hierfür
und für die Pflege von Golfplätzen das Herbizid Dimethylarsinsäure (DMA,
Kakodylsäure bzw. deren Na-Salze) in großem Maßstab an. Bereits im Viet-
namkrieg wurde dieses arsenhaltige Herbizid, enthalten im agent blue, vom
US-Militär innerhalb einer Dekade in einer Menge von mindestens acht Mil-
lionen Liter über Felder und Dörfer versprüht. Diese rice-killing operations
hatten die Vernichtung der Reiskulturen und der Ernte des Landes zum Ziel.
Arsenoxide wurden früher als Rodentizide eingesetzt, weil sie völlig geruchs-
und geschmacklos sind. Diese Eigenschaften verführten die Menschen seit der
Renaissance dazu, Arsenoxide als Mordgifte zu verwenden. Erst der 1836 von
James Marsh entwickelte forensische Nachweis schreckte allmählich vor dem
Missbrauch als Giftmehl ab (vgl. Abbildung 4.26). Kleine Mengen Arsenik
waren in der Fowlerschen Lösung, dem Liquor Kalii arsenicosi enthalten, die
als Roborans medizinische Verwendung fand. In verschiedenen Alpengegenden
war Arsenikessen verbreitet.
Als erste organische Arsenverbindungen wurden bereits 1760 das Tetrame-
thyldiarsin und dessen Oxid dargestellt, widerlich riechende Stoffe, die durch
Bunsen 1842 die Namen Kakodyl und Kakodyloxid erhielten. Von ihnen leitet
sich auch die Kakodylsäure Dimethylarsin ab.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 249

Abbildung 4.26 Marsh’scher Apparat einfacher Construction. Aus Die Prüfung chemi-

scher Gifte“, A. Duflos, Verlags- und Königliche Universitäts-Buchhandlung, Ferdinand
Hirt, Breslau 1867.

Früher wurden in der Behandlung von Hautkrankheiten und von Syphilis


häufig Arsenverbindungen eingesetzt. Deren selektive Toxizität gegenüber ver-
schiedenen Krankheitserregern förderte die Entwicklung von arsenhaltigen or-
ganischen Verbindungen, welche als Vorläufer der ersten Chemotherapeutika
zu gelten haben.
Die chemische Zwitterstellung des Arsens ermöglichte es Arsanilsäure herzu-
stellen, in der die Toxizität der Arsensäure abgeschwächt ist. In organischen
Verbindungen enthaltenes Arsen wird unterschiedlich stark mineralisiert. In
dieser Hinsicht ist Arsanilsäure ein sehr beständiges Molekül. Die Verbindung
ist gegen die Erreger der Schlafkrankheit wirksam, weshalb das spätere Atoxyl
bereits von Robert Koch auf seiner Afrikaexpedition 1906–1908 verwendet wur-
de (Abbildung 4.27). Paul Ehrlich stellte Hunderte von organischen Arsenver-
bindungen her, an denen er eine trypanozoide und spirillizide Wirkung nur in
vivo beobachten konnte. Hervorragend wirksam war das von Ehrlich und Hata
entwickelte, unter dem Namen Salvarsan in die Syphilistherapie eingeführte
Arsphenamin (Ehrlich 606), das in vivo zu Oxphenarsin aktiviert wird. Al-
le Salvarsan-Derivate bilden kettenförmige oder zyklische Assoziate (vgl. die
Darstellung auf der früheren 200-DM–Banknote). Heute weitgehend durch An-
tibiotika ersetzt haben jedoch einige Arsenpräparate wie z. B. Melarsoprol bei
Trypanosomeninfektionen (Chagas), Phenarsinsulfoxylat bei Amoebiasis und
Phenylarsenoxid als Coccidiostatikum weiterhin therapeutische Bedeutung für
Mensch und Tier (Abbildung 4.27).
250 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide


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Abbildung 4.27 Auswahl organischer Arsenverbindungen von zum Teil historischer Bedeu-
tung. Arsen liegt in der Verbindungen in den Oxidationsstufen +3 oder +5 vor. Arsphenamin
bildet ein Trimeres zyklisches Assoziat mit sechs Ringgliedern.

Die Wirkung auf Trypanosomen beruht auf der Blockade einer essentiellen
Reduktion des in den Erregern enthaltenen Trypanothions, welche durch eine
Adduktbildung mit Arsenit unterbunden wird.

Seit etwa 1970 werden in der US-amerikanischen Geflügelzucht und Schwei-


nemast Phenylarsonsäuren eingesetzt. Die Verbindungen verbessern in einer
Konzentration von 40 mg/kg Futter die Futterausnutzung und die Gewichtszu-
nahme der Tiere und verhindern das intestinale Wachstum von Coccidien. Im
einzelnen handelt es sich um Arsanilsäure, 4-Hydroxy-3-nitrophenylarsonsäure
(Roxarsone) und 4-Nitrophenylarsonsäure (Nitarson). Im Fleisch der Tiere fin-
det man 0,4 ppm Arsen, wovon zwei Drittel als Arsenocholin vorliegen. Der
Dung der Tiere wird häufig auf Maisfelder ausgebracht. Der Abbau von Roxar-
sone verläuft im Boden relativ rasch und entlässt Arsen als wenig mobiles Arse-
nat. Als Zwischenstufe entsteht auch die reduzierte 3-Amino-4-hydroxyphenyl-
arsonsäure.
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 251

Organische Arsenverbindungen wurden für eine chemische Kriegführung im


1. Weltkrieg synthetisiert. Die Chlorarsenkampfstoffe Diphenylchlorarsin, Di-
phenylcyanarsin (Clark I und Clark II) und Methyldichlorarsin, die bereits in
kleinsten Konzentrationen die oberen Atemwege extrem reizen, kamen zur An-
wendung. Man ordnete sie den Blaukreuzkampfstoffen zu. Lewisit (Chlorvinyl-
Dichlorarsin, ClCH=CHAsCl2 , Tau des Todes), eine nach Geranien riechende
Flüssigkeit mit hohem Dampfdruck, Dick (Ethyl-Dichlorarsin) und Adamsit
(Diphenylamin-Chlorarsin) sind toxische Atemgifte, welche auch cutan leicht
resorbiert werden und auf der Haut starke, nur langsam abheilende Blasen
bilden.
Arsenwasserstoff (AsH3 , Arsan, engl. arsine) ist ein unangenehm nach Knob-
lauch riechendes Gas (Abbildung 4.26). Vor allem verunreinigter Wasserstoff,
sofern bei dessen Entstehung deutlich arsenhaltige Säuren oder Metalle Ver-
wendung finden. Dies ist bei vielen technischen Verfahren der Fall, z. B. bei
der Bildung von Akkumulatorengasen. Unreines Acetylen kann AsH3 enthal-
ten, aus technischem Ferrosilicium kann es entstehen. Die Halbleiterherstellung
nutzt neben AsH3 zur Dotierung von Gallium und Indium auch Arsenorgany-
le als Komponenten des MOCVD-Verfahrens (metal-organic chemical vapor
deposition).

Toxikokinetik

Arsenverbindungen gelangen nach der Resorption aus dem Blut rasch in alle
Gewebe. Eine Umverteilung führt zu vorübergehender Anreicherung in Le-
ber und Niere. Verbindungen des dreiwertigen Arsen interagieren im Orga-
nismus generell mit Proteinen, die Sulfhydrylgruppen tragen. Besonders mit
benachbarten Thiolgruppen ist die Bindung effektiv, wie man an der Hem-
mung des Citratzyklus durch die Blockade liponamidhaltiger Transacylasen
in den Dehydrogenase-Komplexen für Pyruvat und 2-Oxoglutarat erkennen
kann. Es bildet sich mit Arsenit ein inaktives zyklisches Arsen-Derivat der
Dihydroliponsäure. Andererseits ermöglicht die Bildung von Thiolkomplexen
unter Beteiligung von Glutathion eine besonders starke Einlagerung von Ar-
sen in sogenannte Depotkompartimente, wie Haut, Nägel und Haare, in de-
nen nach Exposition an Keratin gebunden beachtliche Konzentrationen bis
100 mg As/kg gefunden werden. Diese Immobilisierung stellt gleichzeitig eine
Detoxifizierung dar.
Dreiwertiges Arsen besitzt in allen biologischen Systemen eine höhere Toxi-
zität. Unabhängig davon, welche Wertigkeitsstufe zur Aufnahme kam, findet
man im Organismus sowohl dreiwertiges (Arsenit) als auch fünfwertiges Arsen.
Die Oxidation zum Arsenat stellt eine relative Entgiftung dar.
252 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Beim Arsenat steht die chemische uns strukturelle Analogie zum Phosphat-
Anion im Vordergrund. So kommt es durch die Verwendung von Arsenat, un-
ter der Katalyse der Glycerinaldehydphosphat-Dehydrogenase zur Synthese
des labilen Acylarsenats 1-Arseno-3-phosphoglycerat, das die Substratketten-
phosphorylierung der Glycolyse unterbricht (vgl. Seite 144).
Das aufgenommene anorganische Arsen unterliegt in allen Säugetierspezies
einem beinahe ähnlichen Metabolismus, der in einer stufenweisen Methylierung
besteht (Abbildung 4.28).
Von einer applizierten Testmenge lassen sich im Urin zunächst die anorgani-
schen Spezies finden. 17 % der Dosis werden als Arsenat und 8 % als Arse-
nit ausgeschieden. Daneben treten ein- oder zweifach methylierte Arsenver-
bindungen auf. Vom gesamten ausgeschiedenen Arsen entfallen 10–20 % auf
MMA(V) (CH3 As=O(OH)2 , Monomethylarsonsäure) und 60–80 % auf Dime-
thylarsinsäure (DMA(V), (CH3 )2 As=OOH). Insgesamt überwiegt der Anteil
des fünfwertigen und des organischen Arsen. Bei chronisch exponierten Per-
sonen in Indien und Bangladesch konnte man auch einen kleinen Anteil von
2–5 % an MMA(III) und von 4–21 % an DMA(III) nachweisen.
Anorganisches Arsen unterliegt im Organismus einer mehrfachen Methylie-
rung. Diese findet in Anwesenheit hoher Konzentrationen von Glutathion statt,
das initial ein Arsenit-Triglutathion (ATG) bildet. Jeder oxidativen Methylie-
rung muss eine Reduktion vorausgehen. S-Adenosylmethionin dient der Me-
thyltransferase (Cyt19) als Methylgruppendonator. Beginnend beim Arse-
nit(III) entstehen mono-, di- und trimethylierte fünfwertige und entsprechende
dreiwertige Arsenverbindungen. Der Mechanismus der Reduktion und nachfol-
genden oxidativen Methylierung ist in Abbildung 4.28 erläutert.
In niederen Organismen unterliegen Arsenverbindungen durch Oxidation, Re-
duktion und Methylierung ebenfalls einem regen Stoffwechsel. Bakterien und
Pilze methylieren zu Dimethyl- neben Trimethylarsin. Wachsen Schimmelpilze
auf arsenhaltigen Materialien (Tapeten), so bildet sich flüchtiges Tetraethyl-
diarsinoxid (Ethylkakodyloxid) neben Trimethylarsin (Gosio-Gas), eine Reak-
tion, die sich als biologischer Arsennachweis nutzen lässt. Das Trimethylarsin
unterliegt an der Luft einer Oxidation zu Trimethylarsinoxid.
Im Meer lebende Mikroorganismen, Plankton, Muscheln, Garnelen, Fische und
Algen enthalten von allen Lebensmitteln mit Abstand die höchsten Konzen-
trationen an Arsen. In Garnelen sind 175 ppm gemessen worden, Algen können
bis zu 4 g Arsen im kg Trockenmasse enthalten. Das Arsen liegt überwie-
gend in organischer Form vor, darunter Arsenocholin und Arsenobetain, in
denen der quartäre Stickstoff durch Arsen ersetzt ist. Arsenobetain (Fischar-
sen) und Arsenocholin steuern den größten Teil des über die Fischnahrung und
Meeresfrüchte aufgenommenen Arsen bei (Abbildung 4.29). Die methylierten
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 253







  


 



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Abbildung 4.28 Die Methylierung von Arsenat. Sie beginnt mit der Reduktion des fünfwerti-
gen Arsen durch Zufuhr von zwei aus dem Glutathion (2 GSH −→ GSSG + H2 ) stammenden
Reduktionsäquivalenten. Wasser verlässt nach der Reaktion das reduzierte Molekül und Ar-
sen(III) trägt ein freies Elektronenpaar, in Analogie zu NH3 . R1 und R2 stehen für Hydroxyl-
oder Methylgruppen, je nach Fortschritt der Methylierung. Es folgt nach rechts die oxida-
tive Methylierung des Arsen(III). Als Methylgruppendonator fungiert S-Adenosylmethionin
(SAM), das abgekürzt dargestellt ist. Eine selenhemmbare Methyltransferase überträgt eine
CH+ 3 -Gruppe auf das freie Elektronenpaar des Arsen(III). Ein Proton verlässt das Molekül;
damit ist das Arsen oxidiert. Anmerkung: Die Elektronegativitäten (EN) der beteiligten Ele-
mente sind für Arsen 2,18, Wasserstoff 2,2, Kohlenstoff 2,5 und für Sauerstoff 3,5. Die
Ausbildung einer As-C-Bindung stellt für Arsen eine Oxidation dar. Im unteren Teil sind
vom Arsenat ausgehend die Namen aller möglichen methylierten Arsenverbindungen in den
beiden Oxidationszuständen tabelliert. Häufig wird die Angabe der Oxidationszahl (V) in den
Akronymen weggelassen. Will man mit dem Akronym die freie Säure bezeichnen, wird ein
weiteres A (für acid) angefügt: DMA(V) = Dimethylarsinat, DMAA(V) = Dimethylarsinic
acid = Kakodylsäure = Dimethylarsinsäure. TMA = Gosio-Gas.

Abkömmlinge des Arsenats DMA, TMA-Oxid und TMA, die in geringeren


Konzentrationen in den Meerestieren vorkommen, dienen als Ausgangsverbin-
dungen für die Biosynthese. Arsenocholin kann auch für den Aufbau von Ar-
senolipiden genutzt werden, Stoffe, die man gegenwärtig in der lokalen Be-
handlung maligner Hautveränderungen erprobt. Algen bilden eine Reihe von
verschieden substituierten Arsenozuckern, welche als gemeinsames Grundmo-
lekül eine arsensubstituierte 5-Desoxyribofuranose aufweisen.

Toxikodynamik

Arsenwasserstoff wird über die Lungen gut resorbiert. Er ist etwa 20-mal
giftiger als Kohlenmonoxid. Tödlich ist eine halbstündige Respiration von
254 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

CH3
H3C As CH2 COOH Arsenozucker Substitutionsrest Mr .

CH3 OH 328
Arsenocholin O O
H3C As CH2 O R O S OH 408
CH3 O OH O
O
CH3 S OH 392
HO OH O
H3C As CH2 CH2 OH
O
CH3 O P O OH 482

Arsenobetain OH OH

Abbildung 4.29 Organische Arsenverbindungen aus Meerestieren. Arsenobetain und Arse-


nocholin sind die Arsenanalogen von Betain und Cholin. Die über zehn bekannten Arseno-
zucker leiten sich von der 5-Desoxyribofuranose ab. Die Trivialnamen benutzen zur Unter-
scheidung lediglich die relative Molekularmasse (Mr ) der Verbindungen. Arsenozucker 328
= 3-[5’-deoxy-5’(dimethylarsinosyl)-β-ribofuranosyloxy]-2-hydroxypropylenglycol.

250 mg AsH3 /m3 Luft. Eine akute Exposition führt nach einer Latenzzeit von
einigen Stunden zu ersten Symptomem. In dieser Phase wird der Arsenwasser-
stoff wahrscheinlich zu Diarsin aktiviert (HAs=AsH). Als auffälligstes Zeichen
der Vergiftung stellt sich eine Ausscheidung von zunächst rotem, später brau-
nem Urin ein. Ursache hierfür ist die intravasale Hämolyse, welche Hämoglobin
freisetzt, das später in Hämatin und Hämosiderin übergeht. Der in die Ery-
throzyten eindringende Arsenwasserstoff wird durch oxygeniertes Hämoglobin
oxidiert und bewirkt eine irreversible Ausfällung von Hämoglobin (Denaturie-
rung), begleitet von einer Zerstörung der Erythrozytenmembran. Als Folge der
Belastung der Niere mit Protein kommt es zu Nierenversagen mit Anurie.
Elementares Arsen ist ungiftig. Jedoch lässt es sich durch Sauerstoff leicht zu
seiner dreiwertigen Form oxidieren, wobei es in Arsenik bzw. in arsenige Säure
nebst Arseniten übergeht. Da sich metallisches Arsen immer oberflächlich mit
diesen Oxiden überzieht, ist Vorsicht geboten. Gleiches gilt für Galliumarse-
nid und Indiumarsenid. Verbindungen dieser Oxidationsstufe sind toxischer als
jene des fünfwertigen Arsens (Arsensäure H3 AsO4 nebst Arsenate). Letztere
werden allerdings im Organismus partiell zu dreiwertigen reduziert. Eine kova-
lente Bindung von Arsen an organische Moleküle mindert in der Regel dessen
Toxizität.
Sofern Arsenik (As2 O3 ) gelöst verabreicht wird, erfolgt seine Resorption aus
dem Magen-Darm-Trakt so rasch und vollständig (zu ca. 80 %), dass in schock-
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 255

artigem Verlauf nach schwerem Kreislaufkollaps der Tod innerhalb von weni-
gen Stunden eintritt. Werden dagegen ungelöste Arsenverbindungen aufge-
nommen, beobachtet man die sog. gastrointestinale Vergiftungsform. Sie ist
geprägt durch das Auftreten von choleraähnlichen Brechdurchfällen mit Ex-
siccose und Tod durch Herzlähmung. Ohne Analyse der Exkremente ist diese
Vergiftungsform leicht mit einer infektiösen Darmerkrankung zu verwechseln.
Die Wirkung von Arsenik als Kapillargift zeigt sich in der Erweiterung der
Gefäße infolge einer Lähmung ihrer Muskulatur. Sie ist begleitet von einer Per-
meabilitätserhöhung, welche zu einem Plasmaaustritt führt. Hierdurch ist das
Frühsymptom eines Lid- und Knöchelödems bedingt. In betrügerischer Weise
diente Arsenik als Roborans früher im Pferdehandel, da die Ödembildung der
Haut das Fell straffte und einen gesunden Eindruck entstehen ließ.
Unter einer subakuten Vergiftung mit Arsenik treten Entzündungen der
Schleimhäute an Augen, Nasen und Rachen auf, welche die Nahrungsaufnahme
erschweren. Einer chronischen Vergiftung (Arsenismus) geht meist eine Tole-
ranzentwicklung voraus, wobei das Mehrfache der tödlichen Dosis vertragen
wird. In diesem Zustand lassen sich Erkrankungen der Haut und der Nerven
erkennen. An der Haut zeigen sich eine Arsenmelanose und eine Hyperkerato-
se symmetrisch an Händen und Füßen und anderen Stellen, die zu Hautkrebs
führen können. Zusammen mit der Schädigung der Gefäße entsteht ein Krank-
heitsbild, das black-foot-disease genannt wird. Häufig lassen sich Störungen im
Nagelwachstum beobachten (Mees-Streifen), zuweilen auch Haarausfall. Die
Nerven reagieren mit einer Polyneuritis, die sich von distal nach zentral fort-
schreitend in Empfindungsstörungen, Schmerzen, symmetrischen Lähmungen
und Muskelatrophien ausdrückt. Als Spätschäden sind Arsenkrebs an der Le-
ber und Lunge sowie Leberzirrhose beschrieben.
Die Ursache der karzinogenen Eigenschaft von Arsen ist bisher nicht genau
bekannt. Früher war man der Ansicht, nur dem Arsenit wäre diese Potenz
eigen und seine schrittweise Methylierung sei eine Art Entgiftungsreaktion,
da die Metaboliten gegenüber zellulären Makromolekülen weniger reaktiv sind
und einer schnelleren Elimination unterliegen. Für Arsenit ist gesichert, dass
es DNA-Strangbrüche, oxidative Änderungen von DNA-Basen und DNA-
Protein-crosslinks herbeiführt. Es lässt sich ein Anstieg reaktiver Sauerstoffspe-
zies beobachten. Mittlerweile mehren sich jedoch experimentelle Indizien, wo-
nach die methylierten dreiwertigen Arsenspezies MMA(III) und DMA(III)
eine höhere Zytotoxizität und Genotoxizität aufweisen und starke Enzyminhi-
bitoren sind. An DMA(V) wurde gezeigt, dass es durch Bildung von Dimethyl-
arsenperoxyl-Radikalen (CH3 )2 AsO-O• DNA-Strangbrüche auslösen kann.
Arsenik kann die Differenzierung leukämischer Zellen einer nach Chemothera-
pie rezidivierenden Leukämie verhindern.
256 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

Therapie

   
        
        
       
 

  
 

Abbildung 4.30 Zur Komplexierung von Arsen geeignete Chelatoren, die sich vom BAL
(Dimercaprol, 2,3-Dimercaptopropanol) ableiten. Vicinale Dithiole bilden besonders stabi-
le Komplexe mit Arsen. Die Säureanionen von DMSA = meso-2,3-Dimercaptosuccinat
und DMPS = 2,3-Dimercapto-1-propansulfonat verleihen den Komplexen eine gute Was-
serlöslichkeit.

Gegen die arsenhaltigen Kampfstoffe wurde das 2,3-Dimercaptopropanol (Di-


mercaprol, Sulfactin) als Antidot entwickelt. Das urspüngliche Konzept, die
Substanz zur Inaktivierung von Lewisit einzusetzen, hielt sich in dem Akro-
nym BAL (British-Anti-Lewisit, siehe Seite 203). Die Verbindung stellt neben
2,3-Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS, Dimaval) (Abbildung 4.30) einen
effektiven Chelator für Arsen dar und ist wichtigster Bestandteil einer Entgif-
tungsbehandlung.
Eine sinnvolle Therapie der Vergiftung mit Arsenwasserstoff besteht in der
sofortigen Applikation von BAL, eventuell mit begleitender Dialyse, damit
durch eine möglichst rasche Elimination von Arsen die Progression der Hämo-
lyse vermieden wird. Nach deren Eintritt ist eine Austauschtransfusion an-
gebracht, um freies Hämoglobin und geschädigte Erythrozyten zu entfernen.
Alkalischer Harn vermeidet das Ausfallen von Hämoglobin in der Niere und
damit deren Schädigung.

4.2.9 Eintrag der Metalle in die Umwelt


Natürlicherweise kommen Schwermetalle in Wasser, Luft oder Böden kaum in
größeren Konzentrationen vor. Jedoch können lokale Ausnahmen auftreten.
Zum Beispiel sind einige Tiefengewässer (Mineral- und Thermalbrunnen) be-
kannt, die sehr hohe Arsengehalte aufweisen und deshalb für die menschliche
Nutzung nicht geeignet sind. Die Luft kann in der Nähe von Lagerstätten von
elementarem Quecksilber (Almadén, Spanien) aufgrund der Verdampfung des
Metalls hohe Konzentrationen desselben aufweisen. Gleiches gilt auch für die
Umgebung von Vulkanen (200 ng/m3 ), aus denen insgesamt 150 000 Tonnen
4.2 Toxikologie ausgewählter Metalle 257

gasförmigen Quecksilbers im Jahr freigesetzt werden. Es sind Landstriche be-


kannt, deren Böden durch natürliches Vorkommen von Metallen (oberflächen-
nahe Lagerstätten) für eine landwirtschaftliche Nutzung nicht in Betracht kom-
men, da die Vegetation die Metalle aufnimmt und sie in die Nahrungskette ein-
speist. Hingegen kennt man auch das Gegenteil: Eine zu geringe Konzentration
des Schwermetalls Cobalt in manchen Böden verursacht Blutgerinnungsstörun-
gen beim Weidevieh, was erfolgreich durch einen künstlichen Eintrag (Melio-
rationsdüngung) behoben werden kann.
Terrestrische Spurenelementmängel sind je nach Ausgangsgestein der Böden
für Bor, Mangan, Kupfer und Molybdän beschrieben. Die Aufbringung zu
großer Mengen an Klärschlamm oder Müllkompost mit zum Teil hohen Ge-
halten an Schwermetallen kann den tolerierbaren Gesamtgehalt der landwirt-
schaftlich genutzten Böden, gemessen in einer Schicht von 20 cm Stärke, über-
schreiten lassen. Sieben Metalle dürfen nach der Klärschlammverordnung
(AbfKlärV 1992) folgende Konzentrationen in der Trockenmasse des Klär-
schlamms nicht überschreiten: Zn 2500; Pb, Cr jeweils 900; Cu 800; Ni 200;
Cd 10 und Hg 8 mg/kg. Die erlaubten Konzentrationen sind außerdem vom
Bodentyp und den bereits vorhandenen Metallkonzentrationen abhängig. Die
landbauliche Verwertung von Klärschlamm und Kompost ist deshalb begrenzt.
Unabhängig vom Gesamtgehalt an Schwermetallen ist deren Verfügbarkeit für
die Pflanzen. Blei ist aufgrund einer Immobilisierung kaum über die Wurzeln
aufnehmbar, ganz im Gegensatz zu Cadmium und Zink. Kupfer und Nickel
werden mäßig aufgenommen. In gewissen Grenzen lässt sich über eine Anhe-
bung des pH-Wertes durch Aufkalkung die Verfügbarkeit der Schwermetalle
drosseln. Höhere Tongehalte im Boden bedingen eine Immobilisierung durch
Kationenaustausch. Huminstoffe sind in der Lage, schwerlösliche Komplexe mit
Schwermetallen zu bilden. Das setzt deren Mobilität bis auf die Beweglichkeit
der Trägermoleküle herab, die durch Polymerisation von Fulvosäuren über Hu-
minsäuren zu Huminen zunächst geringer wird, durch einen stetigen biologi-
schen Abbau aber nach geraumer Zeit wieder zunimmt. Können Schwermetalle
durch Eingehen von Redoxreaktionen Anionen bilden, wie Arsen, Chrom, Se-
len, Uran und Vanadium, weisen sie im Alkalischen hohe Beweglichkeiten auf.
Die Gesamtmenge an Schwermetallen, die durch natürliche Vorgänge in Luft,
Wasser und Erde gelangen, ist beachtlich, auch wenn hierdurch nur geringe
Konzentrationen erreicht werden. In den meisten Fällen sind die natürlichen
Kreisläufe mächtiger als die anthropogenen, jedoch von anderer Qualität, da
nur letztere lokal zu hohen (inhomogenen), eventuell toxischen Konzentratio-
nen führen können.
In Lagerstätten findet man Schwermetalle in der Regel in chemisch stabilen
Verbindungen mit Chalkogenen, so dass eine unmittelbare Verbreitung kaum
258 Kapitel 4 Toxikologie der Metalle und Metalloide

möglich ist. Erst menschliche Aktivitäten bringen eine Mobilisation in physika-


lischer und chemischer Hinsicht (Tabelle 4.6). Durch die Verhüttung entstehen
in offenen Prozessen Verbindungen mit höherer chemischer Reaktivität und
die sich anschließende Nutzung durch den Menschen führt zu einer weitgehend
inhomogenen Verteilung. Ein Großteil aller genutzten Metalle ist trotz Wieder-
verwendung nach entsprechender Zeit verloren und mündet dann in natürliche
Kreisläufe.
Mikroorganismen methylieren unter anaeroben Bedingungen eine Reihe von
Schwermetallen (Arsen, Antimon, Zinn, Blei, Selen, Quecksilber u. a.) in De-
ponien oder küstennahen Gewässern und setzen sie als permethylierte Verbin-
dungen zum Teil in die Atmosphäre frei. Die Biomethylierung erfolgt unter
Beteiligung von Methylcobalamin, das die Methylgruppe als Carbanion CH− 3
übertragen kann. Daneben gibt es noch einen zweiten Typ einer Methylierung,
bei der die Methylgruppe als Radikal auf das bereits reduzierte Metallkation
übergeht (vgl. Abbildung 4.20 und 4.6).
Es gilt die Beobachtung, dass alkylierte Metallkationen toxischer sind als die
anorganischen Kationen. Eine maximale Toxizität weisen hierbei sämtliche per-
methylierten Monokationen auf, darunter Me-Hg+ , Me2 -As+ oder Me3 -Sn+ .
Tabelle 4.6 Gegenüberstellung der Häufigkeit ausgewählter Metalle in der Erdkruste, ihrer
Weltjahresproduktion und der in den Weltmeeren enthaltenen Mengen. Insgesamt sind im
Wasser 50 Elemente nachgewiesen, darunter 1011 Tonnen an Schwermetallen.

Metall Erdkruste Produktion Weltmeere


Symbol Gew. % 106 t/a 106 t
Fe 3,38 716,0 ?
Cu 3,0 · 10−4 9,4 600
Zn 5,8 · 10−3 6,1 1200
Pb 1,4 · 10−3 5,5 4
Cr 6,4 · 10−3 2,8 24
Ni 4,2 · 10−3 0,75 240 000
As 2,6 · 10−4 0,027 1800
V 1,0 · 10−2 0,020 312
Cd 1,0 · 10−5 0,018 7
Ag 5,7 · 10−6 0,011 30
Hg 1,0 · 10−5 0,0066 4
Au 3,0 · 10−7 0,0013 240
5 Lösungsmittel
Günter Fred Fuhrmann

5.1 Einleitung

Organische Lösungsmittel sind von der Chemie her eine sehr heterogene Grup-
pe von Substanzen. Meist steht ihre technische Anwendung im Vordergrund.
Ihre Verwendung ist an ihr hohes Fettlösungsvermögen und an das schnelle
Abdampfen gebunden. So werden sie u. a. zum Reinigen von Metallen, Tex-
tilien und Oberflächen eingesetzt. Parallel zum exzessiven Umgang mit den
Lösungsmitteln treten entsprechende Vergiftungen in den Vordergrund.
In der Farb- und Druckindustrie spielen Lösungsmittel und Lösungsmittelge-
mische eine besondere Rolle. Bei der Lackherstellung allein werden etwa vierzig
verschiedene Lösungsmittel verwendet. Die Lösungsmittel werden weiter dazu
benutzt, um Fette, Wachse, Harze, Gummi und Klebstoffe zu lösen und zu
extrahieren. Zum Auflösen von Acetylcellulose finden sie Anwendung in der
Kunstseide-, Film-, Schuh- und Hutindustrie. Weiterhin werden Lösungsmit-
tel in der Erdölraffinerie, der Polymerchemie, bei der Holzverarbeitung und in
der Pharmaindustrie intensiv eingesetzt. Diese Aufzählungen sind keineswegs
vollständig, sie sollen nur dem Leser die umfangreiche industrielle Nutzung
zeigen.
Schließlich kann in der chemischen Synthese ein Lösungsmittel auch die Rol-
le eines aktiven Reaktionspartners besitzen. Diese Eigenschaft eines aktiven
Reaktionspartners spielen Lösungsmittel nach ihrer Aufnahme in lebende Or-
ganismen. Durch Biotransformation können sie in Metabolite verwandelt und
so erst zum Gift werden, welches das toxisches Potential für den Organismus
bestimmt. Dies gilt besonders für die Gruppe der halogenierten Kohlenwas-
serstoffe, die chemisch als stabil gelten aber trotzdem durch den Stoffwechsel
in toxische oder sogar krebserzeugende Verbindungen umgewandelt werden
können.
Obwohl auf dem Gebiet des gewerblichen Arbeitsschutzes viele Fortschritte ge-
macht worden sind, gibt es noch immer das aktuelle Problem der Vergiftungen
260 Kapitel 5 Lösungsmittel

beim Umgang mit Lösungsmitteln. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gibt


alle Jahre eine überarbeitete MAK- und BAT-Werte-Liste heraus, die aktuell
über maximale Arbeitsplatzkonzentrationen und Biologische Arbeitsstofftole-
ranzwerte informiert und damit den Rahmen für den Sicherheitsstandard am
Arbeitsplatz liefert.

5.2 Toxische Wirkung der Lösungsmittel

Trotz der Heterogenität der Substanzen lassen sich bestimmte toxikologische


Wirkungen verallgemeinern. Dieses sind im wesentlichen: Erstens das Ent-
fetten der Haut, zweitens die Reizung der Schleimhäute und drittens
die narkotische Wirkung. Darüber hinausgehende toxische Wirkungen ein-
zelner organischer Lösungsmittel werden bei den jeweiligen Substanzen selbst
besprochen.

5.2.1 Lokale toxische Wirkung auf die Haut


Die Hornschicht (Stratum corneum) der Haut hat als Grenzschicht zur Um-
welt eine ganz besondere Bedeutung (siehe Kapitel 2.1.1, Abbildung 2.3). Ih-
re physikalische Barrierefunktion wird hauptsächlich durch die vielschichtigen,
proteinreichen, wasserarmen Hornzellen und die lipophile Zwischenzellularsub-
stanz gebildet. Außerdem gewähren die Melanozyten durch das Melanin einen
Schutz vor Sonne und Sauerstoffwirkung.
Auf chemischer Ebene sind die verschiedenen polaren und unpolaren Lipide
sowie Fettsäuren zu nennen, die von Talgdrüsen und Enzymen zum Schutz
der Haut produziert werden. Weiterhin gibt es eine biologische, symbiotische
Hautflora, die hauptsächlich von Staphylococcus epidermidis und Propiono-
bacterium acne besiedelt wird. Diese nur gering pathogenen Bakterien bilden
mit säurebildenden Enzymen einen Schutzmantel, der andere pathogene Er-
reger abwehrt. Schließlich kann der Hautkontakt mit allergenen Substanzen
eine immunologische Reaktion auslösen.
Das hohe Fettlösungsvermögen der Lösungsmittel bewirkt eine Entfettung
der Haut. Für die Interaktion zwischen Lösungsmittel und Haut gibt es da-
bei verschiedene Angriffsebenen. Zum einen werden die schützenden polaren
und unpolaren Lipide entfernt, die hauptsächlich von den Talgdrüsen, aber
auch in geringerem Ausmaß von den Keratinozyten der Hornschicht selbst ge-
bildet werden. Zum anderen werden der Haut durch die Lösungsmittel wichti-
ge Fettsäuren entzogen. Diese Fettsäuren sind Bestandteil eines Wasser-Fett-
5.2 Toxische Wirkung der Lösungsmittel 261

Films mit einem sauren pH-Wert zwischen 4,2 bis 6,5, der die Haut vor Bakte-
rienbefall schützt und darüber hinaus eine bakterizide Wirkung besitzt. Sind
diese Schutzschichten entfernt, so dringen die Lösungsmittel entsprechend ih-
rer Lipidlöslichkeit durch die lipophile Hornschicht der Haut hindurch und
gelangen schließlich zu den Blutgefäßen.

5.2.2 Reizung der Schleimhäute


Die Schleimhäute gehören zu den inneren Oberflächenschichten, die z. B. beim
Verdauungstrakt mit den Lippen beginnen, im Rachen zu den Lungen führen,
von der Speiseröhre zum Verdauungskanal sich ausdehnen und am After en-
den. Ferner gibt es Schleimhäute am Auge, in der Nase und am Harnleiter.
Sie bilden die Grenze gegen die Lichtung bzw. den Inhalt von röhrenähnli-
chen Gebilden. Wegen ihrer feuchten, schleimigen Beschaffenheit kommt die
Bezeichnung Schleimhaut, Tunica mucosa, zustande. Sie besteht histologisch
aus dem Epithel und einer Bindegewebsschicht, der Lamina propria mucosa.
Das Epithel ist in Mund, Schlund und Speiseröhre mehrschichtig und wird z. B.
im Darm einschichtig. Im Darm befindet sich unter der Lamina propria mucosa
noch eine weitere Schicht, die Muskelschicht oder Lamina muscularis muco-
sa. Von toxikologischer Seite entscheidend ist für viele lipophile Lösungsmittel
ihre durchblutungsfördernde Wirkung, oft mit einer entzündlichen Kom-
ponente verbunden, die schließlich eine beträchtliche Aufnahme der Substanz
in das Blut ermöglicht.

5.2.3 Narkotische Wirkung


Die Resorption von Lösungsmitteln über die Haut und besonders über die
Schleimhäute des Gastrointestinaltraktes und der Lunge führen zu erhöhten
Blutkonzentrationen, die im Gehirn eine Narkose auslösen können. Im Jahre
1899 veröffentlichte Hans Horst Meyer gleichzeitig mit Ernest Overton eine
klassische Arbeit über die Theorie der Narkose, die unter dem Namen Li-

poidtheorie der Narkose“ in die Lehrbücher eingegangen ist. Abbildung
5.1 mit Daten von H. H. Meyers Mitarbeiter F. Baum zeigt das Prinzip.
Die narkotische Wirkung wurde anhand von Kaulquappen in einem Aqua-
rium ermittelt. Ab einer bestimmten Konzentration des Narkosemittels, der
minimal narkotischen Konzentration, liegen die Tiere bewegungslos am Bo-
den des Aquariums. Die Wirkung tritt bei umso geringeren Konzentrationen
auf, je größer der Olivenöl-Wasser-Verteilungskoeffizient der Substanz ist (zum
Verteilungskoeffizient, siehe Kapitel 2.3.4). Das heißt, die Lipidlöslichkeit be-
stimmt entscheidend die narkotische Wirkung.
262 Kapitel 5 Lösungsmittel

Zur Theorie der Alkoholnarkose

0
Mon-
minimale narkotische
Konzentration (S) für

acetin Äthyl-
-1 urethan
Kaulquappen

Chloralhydrat
log S

-2 Sulfonal
Diacetin
Triacetin Trional
-3 Bromal- Butyl-
hydrat chloral- Tetronal

hydrat
-4
-1 0 1
log Cf /Cw
Konzentration Fett(f)/Wasser(w)
Abbildung 5.1 Doppelt logarithmische Darstellung der minimal narkotischen Wirkung
(S) von Substanzen auf Kaulquappen in Abhängigkeit von ihrem Olivenöl/Wasser-
Verteilungskoeffizienten Cf /Cw (nach F. Baum, Naunyn-Schmiedebergs Arch. Exp. Phar-
makol. 42, 119-137, 1899). Trional = Sulfon- ethylmethan, Tetronal = Sulfondiethylmethan,
Sulfonal = Sulfonmethan.

Es hat seit Meyer und Overton nicht an experimentellen Versuchen gefehlt,


den molekularen Mechanismus der Narkose zu entschlüsseln. Anscheinend ist
der Mechanismus in den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Zellmembran
zu suchen. Durch das Einlagern des Narkotikums in die Membranen wird die
geordnete Lipiddoppelschicht vom Gel- zum Sol-Zustand verändert, der
entsprechend mehr Raum beansprucht, d. h. die Membran expandiert. Hierbei
werden die für die Erregungsvorgänge notwendigen Ionen-Kanäle entweder
direkt oder auch indirekt gehemmt. Neuerdings werden die hydrophoben Teile
der Ionen-Kanal-Proteine, die in die Phospholipide der Nervenzellmembranen
eingebettet sind, in den Vordergrund gestellt. Eine Einlagerung der Moleküle
des Narkotikums in diese Regionen, wo Phospholipide und Proteine zusammen-
treffen, könnte die notwendige Konformationsänderung von Kanalproteinen bei
der synaptischen Signalübertragung verhindern.
5.2 Toxische Wirkung der Lösungsmittel 263

Am Menschen beschreibt Meyer die Erscheinungen der Narkose mit einem


rauschartigen Zustand, in dem das Bewusstsein getrübt und von ungeordneten
Vorstellungen erfüllt wird.
Dies ist das erste Stadium der Narkose mit Bewusst- und Schmerzlosig-
keit. Daraufhin stellen sich lebhafte Muskelbewegungen ein und führen zum
zweiten Stadium, der Erregung oder Exzitation, das oft von lautem sinn-
losen Reden oder Lachen begleitet ist. Das Gesicht ist dabei lebhaft gerötet
und die Pupillen sind weitgestellt. Im nächstfolgenden Stadium, dem der Tole-
ranz, wird die Sensibilität (Fähigkeit zur Wahrnehmung verschiedener Reize,
die durch Rezeptoren, über afferente Nerven und Rückenmarkbahnen zur sen-
siblen Hirnrinde vermittelt werden) aufgehoben noch ehe die Reflexe erlöschen.
Die Augäpfel nehmen dabei die Schlafstellung ein, d. h. sie sind wie im nor-
malen Schlaf nach innen und oben gerollt und die Pupillen sind etwas ver-
engt. Es kommt in diesem Stadium schließlich zur völligen Aufhebung der
Großhirnfunktion und die Lähmung ergreift auch die reflexvermittelnden Zen-
tren. Zugleich mit den Rückenmarksreflexen erlischt der Muskeltonus, so dass
der Narkotisierte völlig schlaff, empfindungs- und erregungslos daliegt. Eine
allmähliche Erweiterung der Pupillen weist bereits auf eine ungenügende At-
mung hin, wobei eine plötzliche Pupillenerweiterung das Zeichen von Lebens-
gefahr bedeutet. Während alle vorhergehenden Stadien der Narkose vollständig
reversibel sind, ist das letzte Stadium, der Atemstillstand (Asphyxie), ir-
reversibel und führt zum Tode.
Die Narkosestadien zusammengefasst:
• Analgesie (Bewusst- und Schmerzlosigkeit)
Am empfindlichsten reagiert die Hirnrinde. Sie wird zuerst gelähmt, es folgen
Schmerzlosigkeit, Bewusstseinseinschränkung, Bewusstlosigkeit.

• Exzitation (motorische Muskelerregung)


Durch eine Hemmung der höher im Hirn gelegenen motorischen Zentren wer-
den die niederen motorischen Reflexe gesteigert.

• Toleranz
Neben dem Großhirn sind Mittelhirn und Rückenmark ausgeschaltet. Der Pa-
tient ist tolerant gegenüber dem chirurgischen Eingriff.

• Asphyxie (Atemlähmung)
Zusätzlich werden auch die vegetativen Zentren im verlängerten Rückenmark
gelähmt. Dabei bricht der Kreislauf zusammen und die Atmung hört auf. Oh-
ne künstliche Beatmung und geeignete Notmaßnahmen tritt innerhalb weniger
Minuten der Tod ein.
264 Kapitel 5 Lösungsmittel

In der Klinik wird das Stadium der Toleranz bei operativen Eingriffen in den
Organismus genutzt. Diese große Errungenschaft, die auf amerikanische Ärz-
te zurückgeht, breitete sich in der Zeit von 1844 bis 1846 vom Norden der
USA über die ganze Welt aus. Es war zuerst die Nutzung der Inhalationsstof-
fe Lachgas (Distickstoffoxid) und Äther (Diethylether), die eine schmerzlose
Zahnextraktion und eine chirurgische Operation unter Bewusst- und Schmerz-
losigkeit ermöglichte.
Bezüglich ihrer narkotischen Wirkung besitzen die Lösungsmittel eine gewisse
Systematik. So nimmt in folgender Reihe ihre Wirkstärke zu:

Alkan < Alkanol < Alkylether < halogenierte Alkane.

5.3 Toxikologische Bewertung von Lösungsmitteln


Erkenntnisse über toxische Eigenschaften von Lösungsmitteln gehen weitge-
hend auf Beobachtungen aus der Arbeitsmedizin zurück. Eine erste Übersicht
kann anhand von maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werte) für
eine Auswahl bestimmter Lösungsmittel gegeben werden (Tabelle 5.1).
Als exakte Definition des MAK-Wertes gilt: Der MAK-Wert ist die höchst-

zulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf oder Schwebestoff
in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenwärtigen Stand der Erkennt-
nis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel täglich achtstündiger
Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 40
Stunden im Allgemeinen die Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt
und diese nicht unangemessen belästigt (z. B. durch ekelerregenden Geruch)“.
Über den MAK-Wert hinaus werden Kanzerogenität, sensibilisierende Wir-
kung, Beitrag zur systemischen Toxizität nach Hautresorption, Gefährdung
der Schwangerschaft und Keimzellmutagenität eines Stoffes bewertet. In der
Tabelle 5.1 ist der MAK-Wert der ausgewählten Lösungsmittel und die Ka-
tegorie der Kanzerogenität gelistet. Liegen neue Erkenntnisse vor, so erfolgt
jeweils eine Reevaluierung und eine entsprechende Änderung.
Der MAK-Wert dient dem Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz. Seine Ab-
leitung orientiert sich an dem no observed adverse effect level“

(NOAEL), der höchsten Dosis eines Stoffes, bei der gerade noch kein schädli-
cher Effekt feststellbar ist. Dabei wird grundsätzlich den Erfahrungen beim
Menschen der höchste Stellenwert beigemessen. Wurde der NOAEL hieraus
abgeleitet, so ist der MAK-Wert in der Regel auch auf die Höhe dieses Wertes
festgelegt.
5.3 Toxikologische Bewertung von Lösungsmitteln 265

Eine große industrielle Bedeutung haben die halogenierten Kohlenwas-


serstoffe. Diese Substanzen werden noch immer wegen ihres ausgezeichneten
Fettlösungsvermögens und ihrer Nichtbrennbarkeit von der chemischen Indu-
strie in großen Mengen als Lösungsmittel verwendet. Es handelt sich dabei
um typisch anthropogene Verbindungen. Trotz der biochemischen Rarität von
Chlorid-Kohlenstoffbindungen können halogenierte Kohlenwasserstoffe nach
Exposition vom menschlichen Organismus umgesetzt und in wasserlösliche Ver-
bindungen umgewandelt werden.

Tabelle 5.1 Beispiele maximaler Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK in mg/m3 ) einiger


Lösungsmittel in absteigender Reihe. Die MAK-Werte sind der MAK- und BAT-Werte-Liste
2005, Mitteilung 41 der Deutschen Forschungsgemeinschaft entnommen. Diese Werte wer-
den ständig überprüft und können sich entsprechend ändern. Die festgesetzten MAK-Werte
verteilen sich über drei Zehnerpotenzen. Organotropie gibt das Zielorgan der toxischen Wir-
kung an. Unter Karzinogenität werden entsprechend dem Einstufungsschema von 1998 die
Kategorien von 1 bis 5 angegeben (Kurzform des Einstufungsschemas siehe Kapitel 4.1.5.).

Lösungsmittel MAK Organotropie Kategorie der


(mg/m3 ) Kanzerogenität
n-Heptan 2100 periphere Nerven –
Ethylacetat 1500 Gehirn –
Aceton 1200 Schleimhäute –
1,1,1-Trichlorethan 1100 Leber –
Ethanol 960 Leber 5
Hexan (Isomere) 720 – –
Cyclohexan 700 – –
Xylole 440 Leber, Niere –
1,1-Dichlorethan 410 Leber, Niere –
Methanol 270 Sehnerv –
Toluol 190 Schleimhäute, Gehirn –
n-Hexan 180 periphere Nerven –
Chlormethan 100 Niere 3B
Acetaldehyd 91 Leber 3B
Styrol 86 Schleimhäute 5
1,1,2-Trichlorethan 55 Schleimhäute, Gehirn 3B
Diethylenglycol 44 Niere –
Ethylenglycol 26 Niere –
1,1-Dichlorethen 8 Niere 3B
2-Chlorethanol 3,3 Leber, Niere –
Tetrachlormethan 3,2 Leber 4
Trichlormethan 2,5 Leber, Niere 4
Tetrachlorethen – Leber, Niere 3B
Benzol – Knochenmark 1
266 Kapitel 5 Lösungsmittel

Häufig ist dabei das oxidativ angreifende, induzierbare Cytochrom P-450 Sys-
tem, besonders das Isoenzym CYP2E1, beteiligt. Dabei können reaktive Me-
taboliten entstehen, die außerordentlich toxisch und sogar karzinogen sind. Die-
se Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Verwendung von halogenierten Koh-
lenwasserstoffen als Lösungsmittel zunehmend durch regulatorische Schutz-
maßnahmen eingeschränkt wird. Dies äußert sich auch in niedrige MAK-Werte,
die eine toxische Wirkung, insbesondere eine karzinogene Wirkung beim Men-
schen ausschließen sollen.
Weitere unterschiedliche toxikologische Aspekte ergeben sich, wenn man die
Lösungsmittel nach chemischen Klassen ordnet. Eine übliche Einteilung ist
in Tabelle 5.2 wiedergegeben. Da die Flüchtigkeit der Lösungsmittel für die
Gesundheitsgefährdung eine bedeutsame Rolle spielt, ist in der Tabelle auch
der Dampfdruck mit aufgenommen. Die Kenntnis des Dampfdruckes und die
Beurteilung der am Ort freigesetzten Lösungsmittelmengen gibt Informationen
über das mögliche Risiko gesundheitsschädlicher Dampfkonzentrationen.

Tabelle 5.2 Chemische Klassen organischer Lösungsmittel mit ausgewählten Beispielen, ma-
ximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK in mg/m3 ), Kategorie der Kanzerogenität und
Dampfdrücken in hPa bei 20°C.

1. Einwertige Alkohole MAK Kategorie der Dampfdruck


(mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Methanol 270 – 128
Ethanol 960 5 59
2-Propanol 500 – 44
1-Butanol 310 – 6,3
Iso-Butanol 310 – 11,7
Tert-Butanol 62 – 40,8

2. Mehrwertige Alkohole MAK Kategorie der Dampfdruck


(mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Ethylenglycol 26 – –
Diethylenglycol 44 – 0,03
1,2-Propylenglycol – – –

3. Ester MAK Kategorie der Dampfdruck


(mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Ethylacetat 1500 – 97
1-Butylacetat 480 – 13,3
Methylformiat 120 – 640
Di-(2-ethylhexyl)- 10 4 –
phthalat
5.3 Toxikologische Bewertung von Lösungsmitteln 267

4. Ketone MAK Kategorie der Dampfdruck


(mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Aceton 1200 – 240
2-Butanon 600 – 105
4-Methylpentan-2-on 83 – 21
2-Hexanon 21 – –

5. Alkane MAK Kategorie der Dampfdruck


(mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
n-Butan 2400 – –
n-Hexan 180 – 160
n-Heptan 2100 – 48
n-Octan 2400 – 15

6. Halogenierte MAK Kategorie der Dampfdruck


Kohlenwasserstoffe (mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Chlormethan 100 3B –
Dichlormethan – 3A 475
Trichlormethan 2,5 4 210
Tetrachlormethan 3,2 4 120
Trichlorethen – 1 77
Tetrachlorethen – 3B 19
1,1,1-Trichlorethan 1100 – 133
1,1,2-Trichlorethan 55 3B 25
Vinylchlorid – 1

7. Aromatisierte MAK Kategorie der Dampfdruck


Kohlenwasserstoffe (mg/m3 ) Kanzerogenität (hPa bei 20 °C)
Benzol 1 101
Toluol 190 – 29
Xylole 440 – 7–9
Ethenylbenzol (Styrol) 86 5 6

Für Lösungsmittelgemische gibt es keine MAK-Werte. Die gleichzeitige oder


nacheinander erfolgende Exposition gegen verschiedene Lösungsmittel kann die
gesundheitsschädliche Wirkung erheblich verstärken, ggf. in Einzelfällen auch
vermindern. MAK-Werte für Gemische mehrere Arbeitsstoffe lassen sich daher
bisher nicht ableiten.
268 Kapitel 5 Lösungsmittel

5.4 Ausgewählte Lösungsmittel nach chemischen


Klassen

5.4.1 Einwertige Alkohole


Die einwertigen Alkohole besitzen eine narkotische Wirkung, die mit der Koh-
lenstoffzahl und der damit verbundener Lipidlöslichkeit zunimmt. Die akute
toxische Wirkung dieser homologen Reihe unterscheidet sich jedoch grundle-
gend. Während beim Methanol und 2-Propanol die im Organismus gebildeten
Metaboliten wie Ameisensäure und Aceton das toxische Potential bestimmen,
wirkt Ethanol selbst mitunter tödlich.

Methanol

Für die berufliche Exposition spielt die Inhalation von Methanol eine relevan-
te Rolle. Der Geruch kann bereits ab 5,3 mg/m3 wahrgenommen werden und
hat mit der Reizwirkung an Haut und Auge eine deutliche Warnwirkung vor
gefährlichen Konzentrationen. Da Methanol schwerer als Luft ist, besteht in
schlecht gelüfteten oder geschlossenen Räumen Erstickungsgefahr. Die Inhala-
tion von Methanol (ca. 60 %) bei einer Exposition über 1000 ppm sowie der
andauernde oder ausgedehnte Hautkontakt können zu einer signifikanten syste-
mischen Resorption führen. Bei Einhaltung des MAK-Wertes von 270 mg/m3
bzw. 200 ppm und eines BAT-Wertes von 30 mg/Liter Blut sind jedoch keine
chronischen Schäden zu erwarten.
Die orale Aufnahme von 0,1 g Methanol/kg Körpergewicht oder mehr sollte
als schwere, von mehr als 1 g Methanol/kg Körpergewicht als lebensbedroh-
liche Intoxikation betrachtet werden. 10 bis 15 ml Methanol können schwe-
re systemische toxische Wirkungen verursachen, wie irreversible Erblindung
und Hemmung des zentralen Nervensystems sowie metabolische Acidose. Die
Mortalität der Vergiftung ist hoch, 30 bis 100 ml können bereits tödlich sein.
Todesursache ist meist die allgemeine Stoffwechselstörung durch Acidose.
Die Vergiftungserscheinungen lassen sich in drei Phasen gliedern:

1. Narkotische Phase: Bis zu 8 Stunden nach der Vergiftung können Sympto-


me von Trunkenheit wie bei einer Ethanolintoxikation auftreten, sie sind aber
meist geringer ausgeprägt.

2. Latenzperiode: Von ca. 6 bis 36 Stunden nach Exposition sind die Vergifte-
ten oft symptomlos, auch bei sehr schweren Vergiftungen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 269

3. Acidose/Neurotoxizität: Die Schwere der Symptome einer Methanolvergif-


tung ist oft proportional zu der metabolischen Acidose, die durch akkumu-
lierende Ameisensäure entsteht. Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, perio-
disches Atmen und Bewusstlosigkeit mit Versagen der Atmung können zum
Tode führen. Sehstörungen werden im allgemeinen bereits mit dem Auftreten
der Acidose registriert. Ein Netzhautödem mit Blutstauung in den Gefäßen
führt zu verschwommenen Sehen und kann zu Erblindung führen. Außerdem
kann eine Pankreasschädigung schwere abdominelle Schmerzen hervorrufen.

Im Vergleich zum Ethanol besitzt Methanol eine bessere Wasserlöslichkeit, es


verteilt sich überwiegend im gesamten Körperwasser und wird deutlich lang-
samer als Ethanol vom Darm resorbiert. Seine Halbwertszeit im Plasma ist
dosisabhängig.
Methanol wird hauptsächlich durch die Alkoholdehydrogenase der Leber in
Formaldehyd umgewandelt (Abbildung 5.2).

H O O
ADH ALDH FH4
H C OH H C H C + H+ CO2
H
H O-

Abatmung über Lunge


(30 - 60%)
Abbildung 5.2 Metabolismus von Methanol zu Formaldehyd, Ameisensäure und CO2 im
menschlichen Organismus. Methanol kann bereits durch die Lungen zu 30 bis 60 % abgeat-
met werden. Alkoholdehydrogenase ADH, Aldehyddehydrogenase ALDH und Tetrahydrofolat-
abhängiger C1 -Stoffwechsel FH4 .

Im Vergleich zum Ethanol erfolgt diese Umsetzung jedoch relativ langsam. Die
anschließende Oxidation des Formaldehyds zu Ameisensäure verläuft dagegen
schnell, so dass es zu keiner Anreicherung von Formaldehyd im Organismus
kommt. Der Abbau der Ameisensäure im Organismus zu CO2 ist wiederum
ein sehr langsamer Prozess, er wird im wesentlichen durch einen Tetrahydro-
folsäure-abhängigen Mechanismus vollzogen (Abbildung 5.2). Als Folge der
langsamen Umsetzungen wird erstens Methylalkohol bereits zu etwa 30–60 %
über die Lungen abgeatmet und zweitens akkumuliert Ameisensäure im
Blut. Die Akkumulation von Ameisensäure führt zur Acidose. Es kommt zu
einer sogenannten Anionenlücke (Verminderung der physiologischen Anionen-
konzentration Bicarbonat-Chlorid im Blut) und der pH-Wert kann bis unter 7
absinken.
270 Kapitel 5 Lösungsmittel

Mögliche Folgen der Vergiftung treten in Abhängigkeit von der resorbierten


Methanolmenge sowie der individuellen Empfindlichkeit und dem Zeitpunkt
der Behandlung auf. Die Sehstörungen können reversibel oder irreversibel sein.
Der zweite Prozess ist die Folge von irreversiblen Degenerationserscheinungen
des Sehnerven und führt zur Erblindung. Weiterhin kann eine periphere Ner-
venentzündung (Polyneuropathie) im Extremitätenbereich und eine zentrale
Schüttellähmung (Parkinsonsyndrom) entstehen.
Therapie: Wenn der Vergiftete (Erwachsener) bei Bewusstsein ist, sollte er
unverzüglich Ethanol in Form alkoholischer Getränke zu sich nehmen, z. B.
150 ml Whisky oder Weinbrand. Kein Erbrechen herbeiführen.
Nur wenn das Bewusstsein des Vergifteten beeinträchtigt ist oder große Men-
gen vor nicht mehr als 30 Minuten verschluckt wurden, kann der Arzt eine
Magenspülung mit einer Sonde in Betracht ziehen.
Als Mittel erster Wahl wird vielfach der synthetische Inhibitor der Alkoholde-
hydrogenase 4-Methylpyrazol betrachtet: Unverzügliche intravenöse Infusion
durch den Arzt. Wenn 4-Methylpyrazol nicht vorhanden ist, stellt die intra-
venöse Infusion von 0,6 g Ethanol/kg Körpergewicht eine alternative Thera-
piemöglichkeit dar. Wenn bereits Ethanol verabreicht worden war, muss der
Blutspiegel so modifiziert werden, dass er nicht 100 bis 130 mg/dl überschrei-
tet. Außerdem erfolgt vom Arzt eine Korrektur der Acidose durch NaHCO3 -
oder Trispufferlösungen. In schweren Fällen kann Hämodialyse zur Elimination
von Methanol und Ameisensäure eingesetzt werden.
Zur schnelleren Entgiftung der Ameisensäure, d. h. ihrem Stoffwechsel zu CO2 ,
werden Folsäurepräparate vom Arzt verordnet. Alle Fälle einer Methanolin-
toxikation müssen von einem Augenarzt untersucht werden.

Ethanol

Die größte Anzahl akuter und chronischer Ethanolintoxikationen geht auf den
Genuss alkoholischer Getränke zurück. Nach Schätzwerten sind 2 bis 5 % der
europäischen Bevölkerung als alkoholkrank anzusehen, in Deutschland etwa
2,5 Millionen. Bei ungefähr 10 % der Arbeits- und mehr als 25 % der Verkehrs-
unfälle ist Missbrauch von Alkohol beteiligt.
Ethanol hat einen Öl/Wasser-Verteilungskoeffizienten von 0,04. Das bedeutet
eine hauptsächliche Verteilung im Wasserraum, der für Männer etwa bei 68 %
und für Frauen je nach Fettdepots bei 55 % liegt. Die Verteilung von Ethanol
im Wasserraum erfolgt sehr rasch, je nach aufgenommener Menge ist in 1 bis 2
Stunden das Maximum der Konzentration im Blut erreicht. Überschlagsmäßig
kann die Blutalkoholkonzentration in Promille ‰ nach der Widmarkschen For-
mel errechnet werden:
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 271

ml Ethanolaufnahme · 0, 8 (spez. Gewicht)


‰=
kg Körpergewicht · Wasserraum (0, 68 bzw. 0, 55)

Eine akute Alkoholeinwirkung kann am Blutalkoholspiegel objektiviert wer-


den. In der Regel lassen sich dabei folgende Auswirkungen feststellen:

Blutalkohol Allgemeine Auswirkungen


0,3 ‰ erste Gehstörungen, Redseligkeit
0,4 ‰ Einschränkung des Gesichtsfeldes
0,5 ‰ Blindzielbewegung gestört
0,6 ‰ leichte Sprachstörungen, Reaktionszeit verlängert
0,8 ‰ Grenze der Fahr- und Verkehrstüchtigkeit
1,0 ‰ mäßiger Rauschzustand
1,4 ‰ Bewusstsein stark gestört, Zurechnungsfähigkeitsgrenze
2,0 ‰ Bewusstseinseintrübung, fehlendes Erinnerungsvermögen
4,0 – 5,0 ‰ tödliche Grenzkonzentration

Die Alkoholwirkung hat bereits Shakespeare im zweiten Akt, dritte Szene des
Macbeth treffend beschrieben: Macduff: What three things does drink espe-

cially provoke? Porter: Marry, sir, nose-painting, sleep and urine. Lechery, sir,
it provokes, and unprovokes; it provokes the desire, but it takes away the per-
formance.“( Macduff: Was sind das für drei Dinge, die der Trunk vorzüglich

befördert? Pförtner: Ei, Herr, rote Nase, Schlaf und Urin. Buhlerei befördert
und dämpft er zugleich; er befördert das Verlangen und dämpft das Tun“).
Ethanol wird von der Alkoholdehydrogenase bis über 90 % zu Acetaldehyd
und weiter durch die Acetaldehyddehydrogenase zu Essigsäure metabolisiert.
Neben diesem Hauptweg werden 3–8 % über das mikrosomale Monooxygenase-
System (Cytochrom P-450-Isoenzym2E1) zu Essigsäure oxidiert und nur etwa
0,5 % direkt in einer Phase-II-Reaktion an Glucuronsäure gekoppelt. Die an-
fallende Essigsäure wird hauptsächlich in den Mitochondrien zu CO2 und H2 O
aufgespalten. 1 g Ethanol liefert somit 7,1 kcal (30 kJ).
Die Alkoholdehydrogenase ist also das für den Abbau entscheidende Enzym,
das bei normalem Metabolismus den Blutalkoholspiegel unter 0,1 ‰ absenkt.
Durch die Aufnahme alkoholischer Getränke arbeitet dieses Enzym praktisch
im Sättigungsbereich. Das bedeutet, dass der Blutalkoholspiegel sich mit ei-
ner Kinetik nullter Ordnung verringert (sogenannte Pseudokinetik). Beim
Erwachsenen erfolgt deswegen pro Stunde eine konstante Erniedrigung des
Alkoholspiegels um etwa 0,15 ‰. Durch diese besondere Eliminationskinetik
kann zum einen relativ leicht berechnet werden, nach welcher Zeit wieder Nor-
272 Kapitel 5 Lösungsmittel

malwerte erreicht werden, andererseits kann aber auch der ursprüngliche Al-
koholspiegel nach Alkoholzufuhr zurück berechnet werden.
Für die Gesundheit folgenschwer ist die chronische Alkoholaufnahme. Da
Alkohol als Lebensmittel gehandelt wird, sind die Diskussionen über den si-
cheren Umgang damit nicht abgerissen. Ob die frühere Regel bei Erwachsenen
noch gilt, dass die tägliche Zufuhr von Ethanol bei Frauen nicht mehr als
20 ml und bei Männern nicht mehr als 60 ml sein darf, um eine chronische
Alkoholvergiftung zu vermeiden, ist heute in Frage gestellt, da dies bei emp-
findlichen Personen bereits ein Zuviel sein kann. Zielorgane der chronischen
Alkoholvergiftung sind in erster Linie die Leber, das Nervensystem sowie das
Herzkreislauf-System. Chronischer Missbrauch führt z. B. zu einer toxischen
Leberwirkung mit Fettleber und Leberzirrhose. Unter einer Zirrhose (gr. harte
Schwellung) versteht man eine Umwandlung von Gewebe mit Verhärtung und
Aufhebung der normalen Struktur der Organe, die zur narbigen Schrumpfung
und zum Kleinerwerden eines Organs führt.
Für den Menschen ist Ethanol außerdem ein bedingt karzinogener Faktor.
Eine amerikanische Studie an 276 000 Männern, bekannt unter dem Namen
cohort follow up“, zeigte, dass ein täglicher Konsum von vier und mehr Ge-

tränken (ein Getränk gleich 20 ml Ethanol) mit einem erhöhten relativen Risiko
an Krebs zu erkranken verbunden ist (Abbildung 5.3).
Krebs in der Mund- und Rachenhöhle ist am deutlichsten mit dem Alkohol-
missbrauch verbunden. Kehlkopfkrebs wird auf den örtlich begrenzten Effekt
während des Trinkens zurückgeführt. Speiseröhrenkrebs, Krebserkrankung der
Leber, der Brust sowie des Dick- und Enddarmes werden ebenfalls mit dem
chronischen Alkoholkonsum in Zusammenhang gebracht. Bei der Biotransfor-
mation von Ethanol entsteht der im Tierversuch krebserzeugende Acetaldehyd.
Es ist davon auszugehen, dass der Metabolit Acetaldehyd wenigstens zum Teil
das alkoholbedingte erhöhte Krebsrisiko erklärt.
Therapie der Alkoholvergiftung: Ärztliches Eingreifen ist nur bei schwe-
ren Vergiftungen, insbesondere bei Mischintoxikationen in suizidaler Absicht,
erforderlich. In Abhängigkeit vom Zustand des Alkolholvergifteten, wenn z. B.
Lebensgefahr besteht, kann Ethanol durch Hämodialyse entfernt werden.

5.4.2 Mehrwertige Alkohole


Ethylenglycol (Glycol)

Ethylenglycol wird hauptsächlich als Lösungs- und Frostschutzmittel sowie in


der Kosmetikindustrie verwendet. Wegen seines süßen Geschmacks kommen
Vergiftungen infolge von Verwechslungen mit Getränken mit ähnlichen Wir-
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 273

Abbildung 5.3 Relatives Risiko der Krebssterblichkeit in Abhängigkeit von der Zahl der al-
koholischen Getränke pro Tag. Die Risikoabschätzung ist auf Nicht-Trinker bezogen und
bereinigt vom Einfluss des Zigarettenrauchens. Ein Getränk ist mit 20 ml Ethanol gleichge-
setzt. Der positiv zu bewertende Effekt von 1 bis 2 Getränken pro Tag ist bemerkenswert,
kann aber bisher nicht erklärt werden. (cohort follow up, USA, Bofetta P. and Garfinkel L.
Epidemiology 1, 45-55, 1990).

kungen wie nach Ethanol vor. Im Organismus wird die weitgehend ungiftige
Substanz durch den Metabolismus gegiftet (Abbildung 5.4).
Wie Ethanol so wird auch Ethylenglycol oxidiert und schließlich über mehrere
Stufen zu Oxalsäure umgewandelt. Diese bindet Calcium mit hoher Affinität,
das schwerlösliche Salz fällt in der Niere aus und bewirkt eine Verstopfung
der Nierenkanäle mit vollständiger Harnsperre (Oxalatniere). Der eigentliche
toxische Metabolit scheint jedoch Glyoxylat zu sein, dem eine direkte toxische
Wirkung auf die Nierentubuli zugeschrieben wird. Die Folge ist eine Urämie
(Harnvergiftung), viele der tödlichen Vergiftungen enden im urämischen Koma.
Weitere toxische Metabolite sind Formiat und Malat.
Die tödliche Dosis wird beim Menschen auf 100 bis 200 ml geschätzt. Im
Frühstadium der Vergiftung erfolgt eine charakteristische hypnotische und nar-
kotische Wirkung, die jedoch schwächer als bei Ethanol ausgeprägt ist. Außer-
dem treten Reizerscheinungen im Magen-Darmtrakt auf. Bei sehr schweren
Vergiftungen kann eine zentrale Atemlähmung zum Tode führen. Der Haupt-
metabolit Glycolat führt zu einer Acidose. Für die zytotoxischen Wirkungen
von Ethylenglycol werden die Aldehydmetaboliten verantwortlich gemacht.
274 Kapitel 5 Lösungsmittel

HO CH2 CH2 OH Urinausscheidung

Alkohol-
dehydrogenase
O
C CH2 OH Glykolaldehyd
H
Aldehyd-
dehydrogenase
O H
O C C
C CH2 OH Glykolat H O
-
O Glyoxal
Glykolat-
oxidase
Lactat- -
O H dehydrogenase O O Calcium-
C C Glyoxylat C C oxalat
- O -
O O O
Oxalat (Ausfallen in
Formiat, Malat, etc. der Niere)

Abbildung 5.4 Toxikologisch wichtigster Weg der Biotransformation von Ethylenglycol zum
Calciumoxalat. Weitere Wege sind durch gestrichelte Pfeile angedeutet.

Nach 12 bis 24 Stunden werden Schäden an Herz und Lunge beobachtet und
erst nach einem Tag bis mehreren Tagen treten die nierentoxischen Wirkungen
ein. Auch im Gehirn und in der Leber kann es zum Ausfall von Calciumoxalat
kommen. Nach 6 bis 14 Tagen stellen sich schließlich Degenerationserscheinun-
gen des zentralen Nervensystems ein.

Therapie: Wie beim Methanol muss beim Ethylenglycol sofort sein Umsatz
über die Alkoholdehydrogenase blockiert werden. Dies kann meist sehr schnell
durch Ethanolgaben erfolgen oder durch den synthetischen Inhibitor der
Alkoholdehydrogenase 4-Methylpyrazol bewirkt werden. Diese Maßnahmen
führen zur Ausscheidung von Diethylenglycol durch die Nieren. Auch bei die-
ser Vergiftung muss eine Korrektur der Acidose durch NaHCO3 - oder Trispuf-
ferlösungen herbei geführt werden. In schweren Fällen kann eine Hämodialyse
zur Elimination der toxischen Metaboliten zum Einsatz kommen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 275

Diethylenglycol

Im Jahre 1937 brachte die amerikanische Firma S. E. Massengill ein Arznei-


mittel Sulfanilamide“ auf den Markt. Dabei war das Lösungsmittel Diethy-

lenglycol auf dem Etikett nicht deklariert. 105 von 355 Personen, die dieses
Arzneimittel eingenommen hatten, starben an Nierenversagen. Die tödliche
Dosis wurde bereits bei der täglichen Einnahme des Arzneimittels erreicht,
denn es enthielt 10 % Sulfonamid gelöst in 72 %igem Diethylenglycol. Diese
tödlichen Vergiftungen am Menschen sind einige der wenigen, bei denen sich
die letale Konzentration beim Menschen direkt errechnen ließ. Das Resultat
war, dass bereits bei 1 bis 2 g Diethylenglycol pro kg Körpergewicht eine für
den Menschen tödliche Dosierung erreicht worden war. Das tragische Ereignis
erklärt sich aus falschen Rückschlüssen, welche die Firma aus Tierversuchen
gezogen hatte. Im Unterschied zum Menschen liegt nämlich die orale LD50 bei
Maus, Ratte, Kaninchen und Hund wesentlich höher und zwar zwischen 15
und 30 g/kg.

Nicht nur als Lösungsmittel bei Arz-


neimitteln, sondern auch als uner-
laubter Weinzusatz hat Diethylengly-
col in den achtziger Jahren des vo-
rigen Jahrhunderts für Schlagzeilen
gesorgt. Der Zusatz erfolgte vorsätz-
lich, um einen höheren Extraktgehalt
des Weines vorzutäuschen und um so
die begehrte Einstufung Qualitäts-

wein mit Prädikat“ zu erhalten. Als
höchster Wert wurde 48 g Diethylen-
glycol im Liter Wein nachgewiesen.
Dabei ist zu bemerken, dass der Ge-
halt des Weines an Ethanol den Um-
satz von Diethylenglycol durch die Al-
koholdehydrogenase ganz wesentlich
herabsetzt und so eine toxische Wir-
kung vermindert oder sogar verhin-
dert.

Die Therapie ist wie bei der Methanol- und Ethylenglycolvergiftung eine
Ethanolgabe, außerdem ist hier auch der Inhibitor der Alkoholdehydrogenase,
4-Methylpyrazol, angebracht. Der prophylaktische Effekt des Ethanols
im Wein ist jedoch kein mildernder Umstand für die Straftat des Weinpan-
schens.
276 Kapitel 5 Lösungsmittel

1,2-Propylenglycol

1,2-Propylenglycol besitzt im Gegensatz zu 1,3-Propylenglycol nur eine sehr ge-


ringe Giftigkeit. Diese Substanz wird in der Lebensmittelindustrie, für kosme-
tische Mittel und für Arzneimittel als Lösungsmittel für schwer wasserlösliche
Stoffe eingesetzt. Ursache für die geringe Toxizität ist die Biotransformation
zu den physiologischen Metaboliten Lactat und Pyruvat.

5.4.3 Ester

Im Gegensatz zu den organischen Phosphorsäureestern, die im Kapitel Insek-


tizide (Kapitel 6.1) abgehandelt werden, sind die Carbonsäureester im Allge-
meinen von geringer Toxizität. Die niedermolekularen Ester sind leicht flüchtig
und lipophiler als die nach der Esterspaltung entstehenden Säuren und Alko-
hole. Ihre Resorption über die Lunge oder Haut führt zu Vergiftungen des
zentralen Nervensystems.
Innerhalb der Alkylester ist Methylformiat (MAK-Wert 120 mg/m3 ) eine
der toxischsten Verbindungen. Es wird im Organismus hydrolytisch in Amei-
sensäure und Methanol gespalten. Leider löst die Substanz wegen ihres ange-
nehmen Geruchs keine entsprechende Warnwirkung aus.
Di-(2-ethylhexyl)-phthalat (MAK-Wert 10 mg/m3 , krebserzeugende Ka-
tegorie 4) und Dibutylphthalat werden als Weichmacher für Kunststoffe
vor allem für PVC eingesetzt. Die ausgeprägte Lipophilie der Verbindungen
begünstigt den Übergang aus Kunststoffen in Fette, Öle und Lösungsmit-
tel. Phthalate konnten in Lebensmitteln und in medizinischen Behältnissen
wie Bluttransfusionsbeuteln nachgewiesen werden. Sie sind akut nach Inha-
lation und Ingestion wenig giftig. Bei Einhalten des MAK-Wertes für Di-(2-
ethylhexyl)-phthalat besteht beim Menschen kein Risiko.

5.4.4 Ketone

Aceton

Obwohl Aceton in der Industrie oft als Lösungsmittel eingesetzt wird, kommt
es nur sehr selten zu akuten Vergiftungen. Es reizt die Schleimhäute und führt
zu brennendem Gefühl in Mund und Rachen. Chronische Expositionen äußern
sich in Entzündungen der Atemwege, des Magens und Dünndarmes, sowie in
Müdigkeit und Schwächegefühl.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 277

2-Hexanon (Methyl-n-butylketon)

2-Hexanon wirkt wie Aceton erst in hohen Konzentrationen narkotisch. Dage-


gen wirkt 4-Methylpentan-2-on (MAK-Wert 83 mg/m3 ) stärker reizend auf
die Schleimhäute, besonders die der Augen und des Mund-Nasen-Rachen-
Bereiches. Bei 2-Hexanon (MAK-Wert 21 mg/m3 ) tritt wie bei dem folgenden
n-Hexan eine neurotoxische Wirkung in den Vordergrund.

5.4.5 Alkane

Die gesättigten aliphatischen Kohlenwasserstoffe besitzen vielfältige industri-


elle Aspekte, sie fallen besonders bei der technischen Verarbeitung des Erdöls
an. Entsprechend ihrem Schmelzpunkt können vier Hauptfraktionen abge-
trennt werden: Rohbenzin, Leuchtpetroleum, Treib- und Heizöle sowie schwere
Schmieröle. Den Rückstand bilden pech- und asphaltartige Stoffe. Durch er-
neute Fraktionierung lassen sich verschiedenkettige Alkane in Bereichen von 5
bis 20 C-Atomen abtrennen. Nebenprodukte sind mit 19 bis 39 C-Atomen die
sogenannten Paraffine. Von toxikologischer Seite können zunächst die gesättig-
ten aliphatischen Kohlenwasserstoffe als wenig giftig eingestuft werden. Akute
Vergiftungen beruhen meist auf versehentlichem Trinken von benzinartigen
Reinigungsmitteln oder durch Einatmen von Dämpfen bei der gewerblichen
Anwendung.
Im Vordergrund stehen dabei die narkotischen Erscheinungen, wie Rausch und
Excitation bis hin zu tonisch-klonischen Krämpfen. Besonders gefährlich ist
nach Benzintrinken der Brechreiz, der mit dem ausgelösten Erbrechen Benzin-
tröpfchen in die Lungen bringt. Diese verursachen dann eine sogenannte Ben-

zinlungenentzündung“, die schweren Gefäßschädigungen und Lungenödemen
einhergeht. Die Therapie beschränkt sich hierbei auf symptomatische Maß-
nahmen. Die tödliche Dosis für Leichtbenzin liegt bei 5 bis 10 ml/kg Körper-
gewicht.
Zu chronischen Vergiftungen führt die Inhalation, auch in der Sonderform des
Schnüffelns“ von Benzin als Rauschmittel. Nicht nur Benzin, sondern auch

verschiedene Gemische von Lösungsmitteln für Klebestoffe, Lacke und Gummi
werden beim sogenannten glue sniffing“ missbraucht, um einen euphorischen

Rausch zu erreichen. Neben Schädigungen der Lunge kommt es dabei oft zu
wenig charakteristischen psychischen Zuständen wie zum Beispiel Gedächt-
nisschwund, nervöse Erschöpfung, Delirien, Depressionen und den Verfall der
Persönlichkeit.
278 Kapitel 5 Lösungsmittel

n-Hexan

Bei längerer Exposition mit n-Hexan steht die Neurotoxizität im Vordergrund,


die sich besonders in einer degenerativen Erkrankung der Nerven der Extre-
mitäten äußert. Der Mechanismus beruht auf einer Aktivierung durch Biotrans-
formation, die toxische Metaboliten erzeugt. Der niedrige MAK-Wert von 180
mg/m3 in der Reihe der Alkane (Tabelle 5.2) weist bereits auf diese Besonder-
heit hin.

n-Hexan

Cytochrom-
OH P450
OH
Alkohol Alkohol
(sek.) (prim.)

2-Hexanon CHO
(Methyl-n-
butylketon)
O

5-Hydroxy-2- COOH
hexanon
OH

2,5-Hexandion E-Oxidation

Abbildung 5.5 Stoffwechselweg von n-Hexan. 2,5-Hexandion kann im Urin nachgewiesen


werden.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 279

Das n-Hexan ist sehr leicht flüchtig und man bemerkt mit dem Geruchssinn lei-
der nicht die Konzentrationen in der Größenordnung des MAK-Werts. Aus die-
sem Grund sollte die Industrie diese Verbindung nach Möglichkeit nicht in der
Produktion verwenden, sondern durch weniger toxisches n-Heptan (MAK-Wert
2100 mg/m3 ) oder Cyclohexan (MAK-Wert 700 mg/m3 ) ersetzen. Im mensch-
lichen Organismus hydroxyliert Cytochrom P-450 die Alkane zu sekundären
oder primären Alkoholen (Abbildung 5.5).
Der primäre Alkohol 1-Hexanol wird nach Umwandlung in Hexansäure durch
b-Oxidation (Fettsäureabbau) verstoffwechselt. Das für die Neurotoxizität ver-
antwortliche Stoffwechselprodukt ist 2,5-Hexandion. Diese Verbindung ent-
steht aus dem sekundären Alkohol, 2-Hexanol, über 2-Hexanon (Methyl-n-
butylketon) und 5-Hydroxy-2-hexanon. Unter den Ketonen (Kapitel 5.4.4)
wurde bereits 2-Hexanon (Methyl-n-butylketon) aufgeführt, das ebenfalls zum
2,5-Hexandion biotransformiert wird und somit auch die gleiche toxische Wir-
kung besitzt.
2,5-Hexandion reagiert mit freien NH2 -Gruppen von Lysinresten in Neuro-
filamenten und leitet so eine Degeneration der peripheren Nerven ein. Eine
Exposition gegenüber etwa 8000 mg/m3 n-Hexan führt nach zwei Monaten
zu Neuropathien mit Kribbeln und Schwäche in den Beinen. Vorausgehend
können Kopfschmerzen und Schwächegefühl auftreten. An den sensorischen
und motorischen Nerven lässt sich eine verminderte Reizleitungsgeschwindig-
keit messen, basierend auf pathologischen Veränderungen. Diese Vergiftungs-
zeichen wurden nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei der Benzinsucht
(Schnüffeln) festgestellt.

5.4.6 Halogenierte aliphatische Kohlenwasserstoffe

Sowohl die halogenierten aliphatischen als auch aromatischen Kohlenwasser-


stoffe besitzen in der Arbeitstoxikologie eine besondere Bedeutung. Erkrankun-
gen durch diese Stoffe sind nach der Berufskrankheiten-Verordnung mel-
depflichtig. Die Einführung von Halogenatomen in gesättigte und ungesättigte
Kohlenwasserstoffe erhöhen im allgemeinen deren chemische Stabilität, wes-
wegen sie mitunter nur schwer biologisch abbaubar sind. Außerdem sind sie
ausgesprochen lipophil, und viele ihrer Verbindungen sehr flüchtig. Das alles
erhöht im allgemeinen ihre Toxizität. Wie bereits erwähnt, ist beim Abbau
der halogenierten aliphatischen Kohlenwasserstoffe das oxidativ angreifende,
induzierbare Cytochrom P-450 System, besonders das Isoenzym CYP2E1,
beteiligt. Dabei entstehen erst reaktive Metabolite, die außerordentlich toxisch
und sogar karzinogen sind.
280 Kapitel 5 Lösungsmittel

Es gibt aber auch Verbindungen wie die fluorierten Kohlenwasserstoffe


(FCKW), die wegen ihrer Reaktionsträgheit für den menschlichen Organis-
mus kaum toxisch sind. Sie wurden darum im medizinischen Bereich als inerte
Treibgase für inhalativ applizierbare Medikamente angewendet. Diese Substan-
zen fanden zusätzlich breite industrielle Anwendung als Kühl- und Lösungsmit-
tel. Ihre Flüchtigkeit und exzessive Freisetzung führte zu einer Anreicherung
in der Stratosphäre. Das Sonnenlicht spaltet hier durch seine intensive UV-
Strahlung Chlor wie auch andere Halogene aus den Verbindungen ab, das dann
mit Ozon reagiert, was zu einer starken Verminderung des vor UV-Strahlung
schützenden Ozongürtels der Erdatmosphäre führt.
Das toxische Spektrum der Verbindungen reicht also wie im Falle der FCKW
von wenig reaktiv bis hin zu biologisch reaktiven Spezies. Eine chemische Re-
aktion bedarf besonderer Erwähnung, es ist die alkylierende Wirkung der
halogenierten Kohlenwasserstoffe (siehe Kapitel 9). Alkylierende Reagenzien
wirken oft akut toxisch, sie besitzen allergisierende Eigenschaften und können
teratogen und karzinogen sein. Eine Auswahl arbeitstoxikologisch wichtiger
Verbindungen soll deren spezielle toxische Wirkungen zeigen. Hierzu zählen die
als Lösungsmittel früher besonders häufig eingesetzten Stoffe Chloroform und
Tetrachlorkohlenstoff, daneben die großtechnisch verwendeten vier Lösungs-
mittel Dichlormethan, Trichlorethen, Tetrachlorethen und 1,1,1-Trichlorethan.
Bedingt durch regulatorische Maßnahmen ist ihre Verwendung seit den 1980er-
Jahren zurückgegangen.

Chlormethan (krebserzeugende Kategorie 3B)

Das Gas Chlormethan wird nicht als Lösungsmittel, sondern in der chemischen
Großindustrie als Zwischenprodukt und zu Methylierungen verwendet. In der
Medizin wurde um 1911 Chlormethan zusammen mit Chlorethyl als Spray
bei der Kälteanästhesierung der Haut verwendet. Das nicht reizende, süßlich
schmeckende Gas verursacht bei akuter Vergiftung eine narkotische Wirkung
bis zur Bewusstlosigkeit, ferner gastrointestinale Symptome wie Erbrechen,
Durchfall und abdomiale Schmerzen. Exponierte Arbeiter zeigten Störungen
des Zentralnervensystems sowie Schädigungen an Leber, Lungen und Nieren.
Die entstehende Ameisensäure kann besonders für die hirnorganischen Schädi-
gungen verantwortlich gemacht werden, daneben werden toxische Effekte durch
Formaldehyd diskutiert. Wie Chlormethan so ist Brommethan (krebserzeu-
gende Kategorie 3B) ein Gas, das akut toxisch ebenfalls das Nervensystem
schädigt. Die neurotoxische Wirkung beider Substanzen wird auch auf ei-
ne Glutathion-abhängige Metabolisierung zu Methylmercaptan zurückgeführt.
Therapeutisch wird bei der Vergiftung mit beiden Gasen die Gabe von Alkohol
und eine Korrektur der durch Ameisensäure erzeugten Acidose empfohlen.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 281

H Cytochrom H H H
P-450 ALDH
Cl C H Cl C H C O C O
-HCl
H H H HO
Formaldehyd Ameisensäure

Abbildung 5.6 Oxidativer Metabolismus von Chlormethan zu Formaldehyd und Amei-


sensäure. Aldehyddehydrogenase ALDH.

Dichlormethan (krebserzeugende Kategorie 3A)

Diese Substanz hat einen niedrigen Siedepunkt von 40 °C. Sie wurde früher
sogar medizinisch zur Kurznarkose verwendet. Die vorläufige Einordnung von
Dichlormethan in die krebserzeugende Kategorie 3A erlaubt nicht mehr die
Ableitung eines MAK- oder BAT-Wertes. Früher wurde bei der industriel-
len Exposition ein BAT-Wert (biologischer Abeitstoleranzwert) von 5 % CO-
Hämoglobin festgelegt, der aus der im Stoffwechsel entstehenden Kohlenmon-
oxidkonzentration resultierte. CO entsteht auf dem oxidativen Abbauweg von
Dichlormethan über den Cytochrom P-450 Stoffwechsel. Der zweite Abbau-
weg ist Glutathion-abhängig über die Glutathion-S-Transferase und führt zu
genotoxischen Verbindungen (Abbildung 5.7).

1. Oxidation
H H
Cytochrom P-450
CH2Cl2 Cl C OH C O
-HCl Cl
2. Kon- Glutathion (GSH) Cl
jugation - HCl
-HCl
GS CH2Cl GSH CO

GS CH2OH CH2O CO-Hämoglobin

Abbildung 5.7 Metabolimus von Dichlormethan. 1. Oxidativer Abbauweg zum toxischen Koh-
lenmonoxid (CO) und 2. Glutathion-abhängiger Abbauweg über die Glutathion-S-Transferase
zu Formaldehyd.
282 Kapitel 5 Lösungsmittel

Beim Ames-Test sind Chlormethylglutathion und Formaldehyd die wahrschein-


lich mutagenen Produkte, die bei der Umsetzung über diesen zweiten Stoff-
wechselweg entstehen.

Trichlormethan (krebserzeugende Kategorie 4)

Im Jahre 1831 wurde Trichlormethan (Chloroform) unabhängig in den USA,


Frankreich und Deutschland (hier durch Liebig) synthetisiert. Bereits 1847
verwendete der schottische Frauenarzt J. Y. Simpson Chloroform zur Narkose.
Nachteilig für eine Narkose waren seine geringe therapeutische Breite,
seine negative Auswirkung auf das Herz und die Atmung, sowie seine Nieren-
und Lebertoxizität. An der Leber bewirkt Chloroform eine Zellschädigung
mit fettiger Degeneration bis hin zum Zelluntergang. Wie auch bei anderen
ähnlich wirksamen halogenierten Kohlenwasserstoffen läuft die Zellschädigung
parallel mit der Häufigkeit der Verteilung von Cytochrom P-450 Enzymen
(CYP2E1) in den Leberzellen. Chloroform wird nämlich erst durch diese En-
zyme zu einem starken Zellgift, dem Carbonylchlorid (Phosgen) umgewandelt
(Abbildung 5.8).
Neben der leberschädigenden Wirkung traten in Tierversuchen insbesondere
bei männlichen Mäusen toxische Effekte auf die Niere ein. Außerdem war Chlo-
roform bei Ratten und Mäusen eindeutig teratogen und an Mäusen konnten
Lebertumoren sowie an männlichen Ratten Nierentumoren festgestellt werden.
Chloroform ist daher auch für den Menschen in die Gruppe der karzinogen-
verdächtigen Substanzen einzureihen.

Tetrachlormethan (krebserzeugende Kategorie 4)

Wie beim Chloroform so führt die Inhalation von Tetrachlormethan ebenfalls


zu Leber- und Nierenschäden. Es ist ein klassisches Substrat von Cytochrom
P-450 (CYP2E1).
Das aus Tetrachlormethan durch Cytochrom P-450 (CYP2E1) erzeugte Ra-
dikal entreißt der ungesättigten Fettsäurekette ein H-Atom, dadurch bildet
sich in dieser ein freies Radikal. In der Fettsäurekette entsteht weiter durch
Resonanz eine Dienkonjugation, die sich fortpflanzt. Das radikalische Kohlen-
stoffatom reagiert mit Sauerstoff zu einem Hydroperoxyd, welches den Zer-
fall der Fettsäure zu Malondialdehyd und anderen Produkten einleitet (Abbil-
dung 5.8). Insbesondere sind vom Zerfall die ungesättigten Fettsäuren in den
Membranen des endoplasmatischen Retikulums betroffen und es kommt zur
Zerstörung der Membranbarriere.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 283

Cl Tetrachlormethan
Cl C Cl
Cl
R1 R1 R1
CYP2E1

HO O
Cl O2
Cl C H C H
Cl
RH R

Cl R2 R2 R2
Cl C H ungesättigte
Fettsäurekette
Cl
Chloroform Zerfall zu weiteren
Radikalen, Lipid-
CYP2E1
peroxidation
Cl O O
[C(OH)Cl3] C O
-HCl Malondialdehyd
Cl
Phosgen

Abbildung 5.8 Schema der Bildung freier Radikale durch Cytochrom P-450 (CYP2E1) in
den Leberzellen aus Tetrachlormethan sowie weiterer Stoffwechsel zu Chloroform, Phosgen
und Malondialdehyd.

Der Weg des aus Tetrachlormethan gebildeten Radikals führt zum Chloroform,
das durch eine weitere Cytochrom P-450 Reaktion in das toxische Phosgen
zerfällt.
Schädigungen der parenchymatösen Organe wie Leber und Niere kommen nicht
nur bei akuten Vergiftungen vor, sondern auch als Folge von langfristigen
Expositionen gegenüber geringen Konzentrationen halogenierter Kohlenwas-
serstoffe. So steigt die Lebertoxizität in der Reihe von Dichlormethan über
1,1,1-Trichlorethan < Trichlorethen < Tetrachlorethen < Trichlormethan <
Dichlorethan < 1,1,2-Trichlorethan zu Tetrachlormethan an. Ähnlich wie Te-
trachlormethan, jedoch stärker wirksam, ist Bromtrichlormethan, da die Ab-
spaltung des Broms leichter erfolgt als die des Chlors.
284 Kapitel 5 Lösungsmittel

Die besondere Gefährdung durch Tetrachlormethan ist in seiner hohen Affi-


nität zum Cytochrom P-450 zu suchen (Abbildung 5.8). Seine Metabolisierung
zum Trichlormethylradikal führt, zusätzlich zu der oben beschriebenen Lipid-
peroxidation mit der Produktion von mutagenem Malondialdehyd, zu einer
direkten irreversiblen Hemmung des Enzyms Cytochrom P-450. Daraus wird
verständlich, dass die Giftung auf Grund der initialen irreversiblen Hemmung
des Enzyms drastisch abnimmt, wenn man Tetrachlormethan in Portionen ver-
abreicht. Langzeituntersuchungen mit Tetrachlormethan führten an Mäusen zu
Lebertumoren.

Trichlorethen (krebserzeugende Kategorie 1)

Beim Trichlorethen steht die Aufnahme über die Lunge im Vordergrund. Wie
andere flüchtige chlorierte Kohlenwasserstoffe löst es eine narkotische Wirkung
aus und sensibilisiert das Herz gegenüber Adrenalin und Noradrenalin, so dass
es zu Herzrhythmusstörungen kommt.

Oxalsäure Dichloressigsäure Lipid- N-(Hydroxyacetyl)-


Glyoxylsäure bindung aminoethanol

Cl3C CH2OH
O Trichlorethanol
Cl2C CHCl Cl3C CHO
Cytochrom-
P-450 Cl3C COOH
1.
Trichloressigsäure
Cl2C CHCl
2.
GSH ß-Lyase H Cl
HClC C(Cl)SG HClC C(Cl)Scys C C
Cl SH

Mercaptursäure Mutagenität
Nephrotoxizität

Abbildung 5.9 Metabolismus von Trichlorethen. Der Hauptweg der Metabolisierung führt
über Cytochrom P-450 (1. oxidativer Stoffwechselweg) zu einem sehr reaktiven Epoxid, das
über Trichloracetaldehyd in Trichlorethanol und in Trichloressigsäure umgesetzt werden
kann. Außerdem können aus dem Epoxid verschiedene toxische Metaboliten wie Dichlores-
sigsäure, Oxalsäure, Glyoxylsäure und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol hervorgehen. Ein
zweiter Transferaseweg mit Glutathion (2. GSH-abhängiger Nebenweg) führt zur b-Lyase
der Niere. Hier können toxische Metaboliten entstehen, die im langzeitigen Tierexperiment
Nierentumoren erzeugen. Die Abkürzung cys bedeutet Cystein.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 285

Der größte Anteil von Trichlorethen wird durch das Cytochrom P-450 Sys-
tem in verschiedene toxische Substanzen metabolisiert (Abbildung 5.9). Über
Trichloracetaldehyd (Chloral) entsteht Trichlorethanol, das eine ausgeprägte
depressorische Wirkung auf das Zentralnervensystem besitzt. Ein Teil des Tri-
chlorethanols wird an Glucuronsäure gekoppelt und im Urin ausgeschieden,
ein anderer Teil wird über die Alkoholdehydrogenase in den Aldehyd rückver-
wandelt und trägt zur Entstehung von Trichloressigsäure bei, deren Konzen-
tration mit der Lebertoxizität des Trichlorethens korreliert. Wegen ihrer hohen
Acidität bindet Trichloressigsäure besonders gut an Proteine, so dass sie nur
verzögert im Urin ausgeschieden wird.
Aus dem intermediären Epoxid des oxidativen Stoffwechselweges entstehen
weitere toxische Metaboliten wie Dichloressigsäure, Oxalsäure, Glyoxylsäure
und N-(Hydroxyacetyl)-aminoethanol.
Ein zweiter Abbauweg des Trichlorethens erfolgt über einen Glutathion-ab-
hängigen Stoffwechselweg, der über die b-Lyase der Niere zu toxischen Meta-
boliten im Nierenparenchym führen kann. In hohen Konzentrationen erzeugt
Trichlorethen bei männlichen Ratten Nierenzelltumoren. Ihre Entstehung wur-
de durch hochreaktive Metaboliten wie Thioketene erklärt, die über die b-Lyase
gebildet werden. Beim Menschen wurde die Kanzerogenität von Trichlorethen
durch das Auftreten von Nierentumoren bei hoch belasteten Personen nach
beruflicher Exposition bestätigt, daher erfolgte seine Einordnung in die krebs-
erzeugende Kategorie 1.
In Gegenwart von Alkalien entsteht aus Trichlorethen unter Abspaltung von
HCl das hochreaktive Gas Dichloracetylen (Abbildung 5.10).

Cl Cl Alkalien neurotoxisch
C C Cl C C Cl kanzerogen
- HCl Dichloracetylen
Cl H

Abbildung 5.10 Trichlorethen wird unter alkalischen Bedingungen zu dem hochreaktiven Di-
chloracetylen zersetzt.

Dieses Gas ist im Tierversuch eindeutig karzinogen. Außerdem hat es eine


ausgeprägte neurotoxische Wirkung und verursacht beim Menschen irreversible
Schädigungen im Hirnnervenbereich, bevorzugt am Trigeminusnerv. Weiterhin
lösen bereits geringe Konzentrationen von Dichloracetylen starke Schleimhaut-
reizungen aus.
286 Kapitel 5 Lösungsmittel

Tetrachlorethen (krebserzeugende Kategorie 3B)

Der Stoffwechselweg des Tetrachlorethens (Perchlorethylen) ist dem des Tri-


chlorethens sehr ähnlich. Der Hauptweg ist der oxidative Abbau über das Cy-
tochrom P-450 System zum Epoxid und zur Trichloressigsäure. Der zweite Weg
führt über die Glutathion-S-Transferase und b-Lyase in der Niere zu toxischen
Metaboliten (Abbildung 5.11).

O
Cl2C CCl2 Cl3C COCl Cl3C COOH
Cytochrom- Trichloressigsäure
P-450
1.
Cl2C CCl2
Mercaptursäure
2.
GSH
Cl2C C(Cl)SG Cl2C C(Cl)Scys
ß-Lyase
Cl2C C(Cl)SH

toxische Metaboliten
Abbildung 5.11 Metabolismus von Tetrachlorethen (Perchlorethylen). Beim Tetrachlorethen
führt der Hauptweg des Metabolismus über den oxidativen Abbauweg (1. Cytochrom P-
450) zur Trichloressigsäure. Der zweite Glutathion-abhängige Nebenweg (2. Gluthathion-
S-Transferase) erzeugt in der Niere über die β-Lyase toxische Metaboliten. Tetrachlorethen
wird jedoch zum größten Teil aus der Lunge abgeatmet.

Die narkotische Wirkung des Tetrachlorethens ist stärker als beim Chloroform
und es sensibilisiert das Herz gegenüber Adrenalin und Noradrenalin. Bei be-
ruflicher Exposition mit hohen Konzentrationen sind Leberschädigungen be-
schrieben. Außerdem führt es zu Schleimhautreizungen des respiratorischen
Systems. Auf die Haut gebracht ruft flüssiges Tetrachlorethen Brennen und
Rötung hervor. Bei akuten Vergiftungen treten Übelkeit, Trunkenheit bis hin
zur Bewusstlosigkeit auf. Danach treten häufig Schädigungen der Leber und
zuweilen der Niere auf.
Nach langdauernder und hochgradiger Exposition mit Tetrachlorethen kann es
zu hirnorganischen Leistungsverminderungen und zu Persönlichkeitsverände-
rungen kommen. In Versuchen an Mäusen sind Karzinome und Adenome in der
Leber aufgetreten. An weiblichen Ratten bildeten sich tubuläre Nierentumore.
Möglicherweise erklärt hierbei der zweite Abbauweg über die Glutathion-S-
Transferase und b-Lyase in der Niere die karzinogene Wirkung.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 287

1,1,1-Trichlorethan und 1,1,2-Trichlorethan (krebserzeugende Kategorie 3B)

1,1,1-Trichlorethan und 1,1,2-Trichlorethan unterscheiden sich ganz wesentlich


im Stoffwechsel. Im Vergleich zu dem ersteren zeigt 1,1,2-Trichlorethan eine
Leber- und Nierentoxizität, die in etwa der von Chloroform entspricht.

Cytochrom-
Cl H
P-450
Cl C C H Cl3C CH2OH Cl3C CHO Cl3C COOH
Cl H Trichloressigsäure
1,1,1-Trichlorethan
H2ClC COOH
H H Cytochrom- Chloressigsäure
P-450 -HCl
Cl C C H H2ClC C(OH)Cl2 H2ClC COCl2
Cl Cl

1,1,2-Trichlorethan

Abbildung 5.12 Stoffwechsel von 1,1,1-Trichlorethan (Methylchloroform) und 1,1,2-


Trichlorethan.

1,1,1-Trichlorethan wird nur zu etwa 2 % über Cytochrom P-450 zu Trichlores-


sigsäure metabolisiert und zu 98 % aus der Lunge abgeatmet. Dagegen wird
1,1,2-Trichlorethan zu einem erheblich höheren Ausmaß von Cytochrom P-450
umgesetzt. So fanden sich im Urin von Mäusen zwischen 73 und 87 % Stoff-
wechselprodukte, an erster Stelle Chloressigsäure (Abbildung 5.12) und deren
Folgemetaboliten S-Carboxymethylcystein und Thiodiessigsäure. Aus diesen
Befunden wurde geschlossen, dass Chloressigsäure ein wichtiges Zwischenpro-
dukt beim Stoffwechsel von 1,1,2-Trichlorethan ist, das durch Konjugation an
Glutathion weiter metabolisiert wird.
Entsprechend seiner geringen Giftigkeit hat 1,1,1-Trichlorethan einen MAK-
Wert von 1100 mg/m3 (200 ppm), während der von 1,1,2-Trichlormethan auf 55
(10 ppm) festgelegt wurde. Der erste MAK-Wert orientiert sich an der Wirkung
von 1,1,1-Trichlorethan auf das zentrale Nervensystem. Als Grenzkonzentra-
tion für das erste Auftreten einer sedativen Wirkung gelten beim Menschen
500 ppm, während für eine tiefe Narkose 5000 ppm erforderlich sind. Auch in
chronischen Inhalationsversuchen bei Ratte, Meerschweinchen, Hund und Affe
wurden keine gravierenden toxischen Effekte gefunden. Erst bei hohen narko-
tischen Konzentrationen wurde eine geringgradige Fettleber festgestellt. Dage-
gen hat 1,1,1-Trichlorethan hat auf die Ozonschicht eine schädigende Wirkung
und fällt in Deutschland unter die FCKW-Halon-Verbotsverordnung.
288 Kapitel 5 Lösungsmittel

Beim 1,1,2-Trichlorethan werden die Leber- und die Nierentoxizität auf das
im Stoffwechsel entstehende reaktive Säurechlorid der Chloressigsäure zurück-
geführt. Bezüglich des Stoffwechsels besteht eine deutliche Parallelität zu
1,1,2,2-Tetrachlorethan, das unter den halogenierten Ethanen die größte Toxi-
zität besitzt (MAK-Wert 7 mg/m3 , 1 ppm, krebserzeugende Kategorie 3B).

Vinylchlorid (krebserzeugende Kategorie 1)

Vinylchlorid und seine höher halogenierten Analoga sind ausführlich in Kapitel


9.6 dargestellt worden, so dass auf ein Schema der metabolischen Aktivierung
durch CYP2E1 an dieser Stelle verzichtet werden kann.
Vinylchlorid erzeugt systemische Krankheitsbilder wie zum Beispiel gastro-
intestinale Symptome, zentralnervöse Störungen, das Raynaud-Syndrom
(Gefäßkrämpfe mit Durchblutungsstörungen des zweiten bis fünften Fingers),
Hautveränderungen des Bindegewebes sowie Vergrößerungen von Leber und
Milz.

5.4.7 Aromatische Kohlenwasserstoffe

Die aromatischen Kohlenwasserstoffe Benzol und dessen Derivate Toluol und


Xylol fallen besonders in großtechnischem Maßstab bei der Erdölraffination
an. Sie sind einerseits wichtige technische Lösungsmittel, andererseits wie et-
wa im Falle des Benzols sehr gefährliche Gifte. Daher ist seit 1972 entspre-
chend einer Übereinkunft der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine
Verwendung von Benzol untersagt, wenn geeignete Ersatzstoffe zur Verfügung
stehen. Letzteres gilt jedoch nicht für den Kraftstoff von Ottomotoren, der 2
bis 5 % Benzol enthält. So gehen 80 bis 90 % der Benzolemissionen auf den
Kraftfahrzeugverkehr zurück. Die Atemluft in verkehrsreichen Gebieten kann
bis zu 30 mg Benzol/m3 betragen, im Vergleich dazu beträgt sie etwa 1 mg/m3
in Reinluftbezirken.
Nach Schätzungen nimmt der Mensch pro Tag etwa 250 mg Benzol über Atem-
luft, Lebensmittel und Trinkwasser auf. Raucher sind zusätzlich belastet, es
wird nämlich aus einer Zigarette bis zu 500 mg Benzol freigesetzt. Außer im
Erdöl ist Benzol auch natürlicher Bestandteil im Erdgas und im Steinkoh-
lenteer. Lösungsmittelgemische mit einem Anteil von mehr als 0,2 % Benzol
müssen als solche gekennzeichnet sein und die Verwendung von mehr als 1 %
Benzol in Gemischen ist verboten. Als Lösungsmittel kann Benzol meist ohne
Nachteile durch Toluol und Xylol ersetzt werden.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 289

Benzol (krebserzeugende Kategorie 1)

Benzol hat eine starke narkotische Wirkung und ist dabei mit Chloroform
vergleichbar. Es wird sowohl über die Lungen als auch aus dem Darm und
über die Haut gut resorbiert. Akute Vergiftungen verursachen rauschartige
Erscheinungen mit euphorisierender Komponente, Kopfschmerzen, Schwindel
und später Übelkeit mit Erbrechen. Höhere Konzentrationen erzeugen Krämp-
fe, Bewusstlosigkeit und Herzrhythmusstörungen. Der Tod tritt schließlich
durch Atemlähmung oder Kreislaufversagen ein. Die letale Dosis liegt bei etwa

Säure-
OH
behandlung Phenylmercaptursäure
O H H
H
Gly C C C S H
N H O
Glu H
Glutathion-S-Transferase Oxepin

Cytochrom H
P-450 (2E1) Epoxidhydrase OH
O O
OH O
H trans-trans-Muconaldehyd
Benzol Epoxid

OH OH

OH
Phenol Catechol

O OH OH

O HO HO OH
p-Benzochinon Hydrochinon

Abbildung 5.13 Metabolische Stoffwechselwege des Benzols nach mikrosomaler Oxidation


durch das Cytochrom P-450 System zum Epoxid. Vom Epoxid ausgehend wird eine enzy-
matische Umsetzungen durch die Glutathion-S Transferase zu Phenylmercaptursäure und
durch die Epoxidhydrase zu Benzolglycol diskutiert. Außerdem wird eine nichtenzymatische
Umsetzungen des Epoxids zu Phenol und Oxepin vorgeschlagen. Für die Blutzellen werden
als toxische Metabolite besonders das Epoxid selbst sowie Katechol, Hydrochinon und der
trans-trans-Muconaldehyd bzw. dessen weitere Oxidationsprodukte verantwortlich gemacht.
290 Kapitel 5 Lösungsmittel

10 bis 30 g Benzol. Nach subletaler Vergiftung bleiben meist keine Folgeschäden


zurück.
Eine chronische Schädigung tritt nach wiederholter, langdauernder Einwir-
kung auf. Benzol ist ein ausgesprochenes Blutgift. Es hemmt die Bildung
von roten und weißen Blutzellen sowie die der Blutplättchen. Oft geht der
Hemmung eine vorübergehende Überproduktion der verschiedenen zellulären
Blutbestandteile voraus. Trotz Unterbrechung der Benzolexposition können die
Blutbildstörungen jahrelang anhalten oder sich erst Jahre nach der Benzolex-
position äußern. Eine therapeutische Beeinflussbarkeit ist bisher nicht bekannt.
Neben diesen Blutbildstörungen können karzinogene Entartungen der weißen
Blutzellen (Benzol-Leukämie) entstehen. Bisher wurde über etwa 500 solcher
Fälle berichtet. Dabei ist ungeklärt, ob nur eine einzelne Exposition genügt
oder mehrmalige bzw. längerfristige Expositionen zur Auslösung erforderlich
sind. Es ist keine unbedenkliche Grenzkonzentration bekannt. In Anbetracht
dessen wurde eine Technische Richtkonzentration (TRK) von 1 ml/m3 vorge-
geben. Bei mit Benzol exponierten Menschen lassen sich an den Blutbildungs-
zellen Chromosomenaberrationen nachweisen, die ursächlich mit der Benzol-
Leukämie in Zusammenhang gebracht werden. Verantwortlich dafür sind nach
bisherigen Vorstellungen reaktive Metabolite aus dem oxidativen Benzolstoff-
wechsel (Abbildung 5.13).
In der Leber und zu einem kleineren Teil auch in den Blutbildungsstätten,
dem roten Knochenmark, werden die hydroxylierten Metaboliten durch die
Phase-II-Reaktion in Glucuronide und Sulfatkonjugate umgewandelt. Der Me-
tabolit Phenylmercaptursäure wird zur Überwachung einer Exposition am Ar-
beitsplatz genutzt (BAT). Seit 1977 ist Benzol aufgrund seiner bewiesenen
Karzinogenität in die Kategorie 1 eingeordnet (vgl. Tabellen 5.1 und 5.2).

Toluol

Trotz der chemischen Verwandtschaft mit Benzol weisen Toluol wie auch die
Xylole eine erheblich geringere Toxizität auf, und eine karzinogene Wirkung
beim Menschen wurde nicht festgestellt. Der Metabolismus erfolgt hauptsäch-
lich in der Leber durch das Cytochrom P-450 System mit nachfolgender Kon-
jugation an Glycin sowie Schwefel- und Glucuronsäure. Grundsätzlich werden
die Verbindungen anders metabolisiert: etwa 80 % des aufgenommenen Toluols
werden nach Oxidation der Methylgruppe mit Glycin konjugiert, 1 % am Ring
zu Kresol hydroxyliert und 19 % in unveränderter Form über die Lungen abge-
atmet. Wichtig ist, dass Toluol mit der Biotransformation anderer Fremdstoffe
in der Leber interferiert. So blockiert es z. B. die metabolische Umwandlung
von Benzol, Styrol, Xylol und Trichlorethan.
5.4 Lösungsmittel nach chemischen Klassen 291

Die akute Toxizität äußert sich in Reizung der Schleimhäute sowie in nar-
kotischen und neurotoxischen Wirkungen. Nach chronischer Exposition wer-
den unspezifische und depressorische Störungen des Zentralnervensystems wie
Schwindel, Kopfschmerzen und eine verlängerte Reaktionszeit beschrieben.

Xylole

Ortho-, meta- und para-Xylol finden Anwendung als Lösungsmittel in der Far-
benindustrie und in Druckereibetrieben. Die hauptsächliche Aufnahme erfolgt
über die Lunge. Der wichtigste Stoffwechselweg ist auch hier die Oxidation
der Methylgruppe und die anschließende Konjugation mit Glycin zu Methyl-
hippursäure. Nach mehrstündiger Exposition kommt es zu Schläfrigkeit, Be-
nommenheit und Kopfschmerzen. Weder im Ames-Test noch an Zellkulturen
ergaben sich Hinweise auf eine Genotoxizität.

Ethenylbenzol (krebserzeugende Kategorie 5)

In der Kunststoffherstellung wird die hohe Reaktivität der Seitenkette von


Ethenylbenzol (Styrol) bei der Polymerisation genutzt. Es wird über die Lun-
gen gut aufgenommen und reichert sich im Fettgewebe an. Der metabolische
Abbau und die Ausscheidung verlaufen entsprechend langsam. Von zentra-
ler Bedeutung ist seine Oxidation zum Epoxid (Styroloxid) durch das Cyto-
chrom P-450. Dabei werden L(+)-7,8-Styroloxid und D(-)-7,8-Styroloxid gebil-
det. Aus beiden entstehen in Gegenwart der Epoxidhydrase, Glycoldehydro-
genase und Aldehyddehydrogenase die weiteren Metaboliten einschließlich der
Mandelsäure als L- und D-Enantiomere. 90 % des Styrols wird beim Menschen
in Form der Metaboliten Mandelsäure und Phenylglyoxylsäure im Urin ausge-
schieden. Weiter Metaboliten im Urin sind 1- und 2-Phenylethanol. In Säuge-
tierzellsystemen wurden durch Styrol-7,8-oxid ausgelöste genotoxische Effekte
beobachtet. Dagegen konnten bei Arbeitern in der styrolverarbeitenden Indus-
trie keine Anzeichen für eine Karzinogenität festgestellt werden. Es liegen aber
Hinweise bei der Ratte vor, wonach inhalative und orale Ethylenbenzolzufuhr
eine Zunahme bei Mammatumoren bewirkte.
Eine Einordnung von Ethenylbenzol erfolgte in die krebserzeugende Kategorie
5. Seine krebserzeugende und genotoxische Wirkung wird jedoch als so gering
erachtet, dass unter Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes von 86 mg/m3
und 600 mg/g Kreatinin im Urin kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko
für den Menschen zu erwarten ist.
6 Toxikologie der Biozide
Wolfgang Legrum

Biozid ist eine Sammelbezeichnung für chemische Substanzen, die zur Bekämp-
fung schädlicher Pflanzen und Tiere eingesetzt werden. Früher war der Begriff
Pestizid gebräuchlich. Eine Einteilung erfolgt nach den Zielorganismen und
zusätzlich nach Art ihrer Aufnahme in Atem-, Fraß- oder Kontaktgifte. Die
Aufzählung drückt in der Reihenfolge die Bedeutung der Einsatzgebiete aus.
Häufig dient dasselbe Biozid zur Bekämpfung von Schädlingen verschiedener
Arten (siehe Tabelle 6.1).

• Insektizide gegen Insekten


• Herbizide gegen Pflanzen (Wildkräuter, Unkräuter)
• Fungizide gegen Pilze
• Rodentizide gegen Nagetiere
• Akarizide gegen Milben (Spinnenmilben)
• Nematizide gegen Würmer (Fadenwürmer)
• Molluskizide gegen Weichtiere (Schnecken)

Eine umfassende und ständig aktualisierte Zusammenstellung von derzeit über


1400 Bioziden (pesticides) gibt das Compendium of Pesticide Commun Names.
Unter der Adresse http://www.hclrss.demon.co.uk/index.html findet man die
Trivialnamen, die systematische IUPAC Nomenklatur, die Strukturformeln,
die CAS Registry Numbers, die CAS Systematic Names und Informationen
über die Klassifizierung.
Daneben werden zur Insektenbekämpfung auch antibiotisch wirksame Sub-
stanzen aus der Reihe der Makrozyklischen Lactone (Spinosyn A/D) einge-
setzt. Ein Eingriff in die Entwicklung der Insekten gelingt mit Wachstums-
regulatoren wie Chitinsynthese-Inhibitoren, dem Juvenilhormon und dessen
Imitaten (Mimetika) sowie mit Hilfe des Häutungshormons Ecdyson und des-
sen Agonisten und Inhibitoren. Weitere Biozidklassen und Informationen zu
deren Anwendungsgebieten enthält Tabelle 6.1.
294 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

Tabelle 6.1 Bevorzugte Anwendungsgebiete der nach chemischen Klassen geordneten Biozi-
de. Angegeben ist die Anzahl der als Insektizide I, Akarizide A, Nematizide N, Herbizide H,
Fungizide F und Rodentizide R genutzten Vertreter. Die Aufstellung enthält Mehrfachnen-
nungen und ist nicht erschöpfend. KW = Kohlenwasserstoffe, TCA = Trichloressigsäure,
ANTU = a-Naphthylthioharnstoff.

Klassen I A N H F R Seite
Antibiotika 13 11 1 1 19
Arsenverbindungen 6 9 3 250
Carbamate 45 13 8 7 6 298
Chlorierte cycl. KW 27 6 3 302
Dinitrophenole 4 11 8 10 306
HCN 2 359
Harnstoffderivate 2 10 3 1 308
Nikotinoide 11
Organophosphate 153 69 20 12 10 1 165, 296
Pyrethrum, Pyrethroide 54 13 299
Wachstumshormone/inhibitoren 35 293
Chinoxaline 2 3
Thiocarbamate 1 18 2
Thioharnstoffe (ANTU) 2 1 1 353
Zinnverbindungen 3 3 317
Anilinderivate 13
Bipyridylium-Derivate 6 308
Chlorat 1 309
Dicarboximide 6 9
Dithiocarbamate 2 21 318
Halog. Aliphaten (TCA) 10 313
Phenoxycarbonsäuren 47 310
Phenyl-/Sulfonylharnstoffe 60
Triazine, Amitrol 42 315
Benzimidazole 9 320
Conazole, Imidazole 44
Kupferverbindungen 17 316
Quecksilberverbindungen 24 229, 317
Schwefel, Polysulfide 5 316
Thiadiazine, Me-N=C=S 2 3 319
Cumarinderivate 9 321
Indan-1,3-dione 3 321
Scillirosid, Strychnin 2
Thallium 1 239, 321

Das Ziel bei der Entwicklung von Bioziden bestand darin, Wirkstoffe mit
möglichst hoher Selektivität zu synthetisieren. Dabei wurden die Unterschie-
6.1 Insektizide 295

de im Stoffwechsel der Schädlinge ausgenutzt. Eine selektive Toxizität lässt


sich um so leichter verwirklichen, je markanter der Unterschied in Physiologie
und Biochemie zwischen den Zielorganismen und den übrigen Lebewesen ist.
Hierdurch konnte besonders bei der Herstellung von Insektiziden, Herbiziden
und Fungiziden das Risiko einer ungewollten Vergiftung von Menschen und
Haustieren vermindert werden. In gezielter Synthese wurde eine große Anzahl
organischer Biozide hergestellt, die aber trotz aller Fortschritte immer noch
für den Menschen nicht vollkommen unbedenklich sind.
Eine Ursache liegt in den vorhandenen biologischen Gemeinsamkeiten, insbe-
sondere bei Nagetieren und Menschen. Hinzu kommt das große Ausmaß ihrer
weltweiten Anwendung, das zu einer globalen Umweltkontamination geführt
hat. Die Anwendung, der zum Teil immer noch sehr beständigen und lipophi-
len Biozide, führt dazu, dass sie auch weiterhin noch in die Nahrungskette für
Mensch und Tier einfließen. Außerdem gibt es bei den Schädlingen selbst eine
zunehmende Resistenz gegen die Biozide, die besonders durch ihren wiederhol-
ten Einsatz verursacht wird, so dass im Extrem diese Substanzen vollkommen
unwirksam werden.

6.1 Insektizide

Insektizide sind die wichtigste Gruppe der Biozide. Sie sind gegen Haus- und
Küchenschädlinge, wie Wanzen, Flöhe, Läuse, Küchenschaben, Mehlwürmer
und Motten, aber auch gegen Pflanzenschädlinge, wie Kartoffelkäfer, Obstma-
den und Blattläuse, sowie gegen Forstschädlinge wie den Borkenkäfer gerich-
tet. Weiterhin gelten sie im weitesten Sinne des Wortes als Desinfektionsmittel,
da sie gleichzeitig mit der Insektenvernichtung die von Insekten übertragenen
Infektionskrankheiten verhindern. So stehen z. B. noch immer die Erkrankun-
gen und Todesfälle der durch die Anophelesmücke übertragenen Malaria an
der Spitze aller Krankheitsursachen. Außerdem gilt es die Ernährung einer
ständig wachsenden Weltbevölkerung zu sichern. Aus all diesen Gründen wird
der Einsatz von Insektiziden als unentbehrlich angesehen.
Da die Insektizide in der Landwirtschaft in riesigen Mengen eingesetzt werden
und sie für den Menschen mehr oder weniger stark giftig sind, kommt ihnen in
der Toxikologie eine große Bedeutung zu. Zum Einsatz als Insektizide gelangen
insbesondere vier Gruppen:
• Organophosphate (Phosphorsäureester)
• Carbamate (Carbaminsäureester)
• Pyrethrine und Pyrethroide
• Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe
296 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

Ein besonderes technisches und toxikologisches Problem ergab sich bei der
letzten Gruppe. Aufgrund der zunächst fehlenden Reinheit der Produkte war
das toxische Potential durch Nebenprodukte wesentlich erhöht.
Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe wie DDT, Hexachlorcyclohexan, Al-
drin u. a. sind wegen der Akkumulation im Fett- und Nervengewebe weitge-
hend verboten (dirty dozen). Viele der heute handelsüblichen Insektizide sind
Hemmstoffe der Cholinesterase (Organophosphate), die immer noch zu aku-
ten Vergiftungen führen und deshalb durch die weniger toxischen Pyrethroide
ersetzt werden.

6.1.1 Organophosphate
Organophosphate sind Ester, Amide oder Thiolderivate der Phosphor-, Phos-
phon-, Thiophosphor- oder Thiophosphonsäure. Sie unterscheiden sich in zwei
Punkten ganz wesentlich von der Gruppe der cyclischen chlorierten Kohlenwas-
serstoffe, da sie biologisch abbaubar sind und weder außerhalb noch innerhalb
des Organismus gespeichert werden. Diesem Vorteil steht jedoch eine hohe
akute Toxizität gegenüber.
Näheres zu Geschichte, Strukurvoraussetzungen und Wirkungsmechanismus
findet sich in Kapitel 3.5.4.4. Kurz zusammengefasst reagieren Organophos-
phate mit der serinhaltigen Acetylcholinesterase wie ein normales Acetylcholin-
molekül und es entsteht ein Organosphosphat-Acetylcholinesterase-Komplex.
Dabei wird das Serin im aktiven Zentrum des Enzyms phosphoryliert (Abbil-
dung 3.19). Der Komplex ist zunächst instabil und reaktiviert sich spontan
oder ist medikamentös durch Verabreichung von Oximen reaktivierbar.
Kommt es vor Reaktivierung allerdings zur Abspaltung eines weiteren Sub-
stituenten (leaving group) vom Organophosphat, entsteht ein äußerst stabiler
Komplex mit der Acetylcholinesterase. Das Enzym ist dann biologisch irrever-
sibel gehemmt und kann weder spontan noch durch Oxime reaktiviert werden.
Diesen Vorgang nennt man Alterung des Enzymkomplexes. In Abhängigkeit
vom Organophosphat kann die Alterung des Komplexes über Stunden bis Tage
fortschreiten.
Die Hemmung der Acetycholinesterase bewirkt eine Anhäufung von Acetyl-
cholin im ZNS, in den cholinergen Synapsen des autonomen Nervensystems
und in den motorischen Synapsen an den Muskelzellen.
Die akute Toxizität resultiert aus Wirkungen an muskarinischen Rezeptoren
des Parasympathikus, an nikotinischen Rezeptoren in den sympathischen und
parasympathischen Ganglien und nikotinischen Rezeptoren an den Muskelzel-
len.
6.1 Insektizide 297

Muskarinische Wirkungen: Zuerst überwiegen die muskarinischen Wirkungen,


sie sind selten lebensbedrohend. Vom Magen-Darmtrakt verbreitet sich Übel-
keit, es treten Durchfälle auf, die mit Darmkrämpfen verbunden sind. Nach
stäkerer Exposition kann unkontrollierter Abgang von Stuhl und Urin erfol-
gen. Bei blasser Haut erfolgt Schweißausbruch, das Auge tränt und die enge
Pupille sieht nur ein verschwommenes Bild. Herzfrequenz und Blutdruck neh-
men ab, das Verteilersystem der Lungen, das Bronchialsystem, ist enggestellt,
und zeigt eine erhöhte Sekretion mit Neigung zum Bronchospasmus.
Nikotinische Wirkungen: Mit dem weiteren Verlauf treten die nikotinischen
Wirkungen an den sympathischen und parasympathischen Ganglien sowie an
den Synapsen der Muskelzellen (Muskelendplatte) in den Vordergrund. Es
werden Zuckungen der Augen- und Zungenmuskulatur und Sprachstörungen
beobachtet. Schließlich erfolgen generalisierte Muskelzuckungen mit Muskel-
schwäche und Lähmung der peripheren Atemmuskulatur.
ZNS-Wirkungen: Erste ZNS-Wirkungen sind Unwohlsein, Ruhelosigkeit, Angst
und Schwindel. Danach folgen schwere Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Bei
sehr starker Exposition treten Konzentrationsstörungen, Zittern (Tremor), ge-
neralisierte Krämpfe und Verwirrtheit auf. Zuletzt kommt es zu Reflex- und
Bewusstlosigkeit.
Am Erwachsenen kann eine Menge von 100–200 mg Parathion zum Tode führen
(Abbildung 6.1), für Kinder liegt die tödliche Dosis deutlich niedriger. Die
Todesursache ist meist die Lähmung der peripheren Atemmuskulatur oder die
Behinderung des Gasaustausches durch Sekretstau in der Lunge.
Die Therapie besteht in resorptionsverhindernden Maßnahmen und einer sym-
ptomatischen Behandlung der zentral ausgelösten Krämpfe und des drohen-
den Lungenödems. Atropin wird bis zur Normalisierung der muskarinischen
und nikotinischen Wirkungen injiziert. Ferner können Acetylcholinesterase-
Reaktivatoren wie Obidoxim oder Pralidoxim (Abbildung 3.19) unter Atro-
pinschutz appliziert werden. Die Reaktivierung hängt nicht nur vom jeweiligen
Organophosphat ab, sondern auch von der Zeit, die bis zur Gabe des Reaktiva-
tors vergangen ist. Die Chance ist umso geringer, je länger die Latenz zwischen
Vergiftung und Behandlung ist.
Nach wiederholter Exposition mit kleineren Mengen werden bei der chroni-
schen Toxizität sowohl additive Effekte als auch eine gewisse Gewöhnung beob-
achtet. Bei einigen Organophosphaten, wie Dichlorvos oder Trikresylphosphat,
kann sich nach einer Latenzzeit von etwa ein bis vier Wochen eine verzögerte
Neurotoxizität ausbilden, wobei die charakteristischen akuten Anzeichen der
Organophosphat-Toxizität oft nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhan-
den sind. Der Angriffsort ist hierbei die sogenannte Neurotoxische-Esterase
(neuropathy target esterase), eine Carboxyesterase im Nervengewebe. Dieses
298 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide










 

 




  

   






 
 



   

Abbildung 6.1 Parathion wird im Organismus zu dem stärker toxischen Paraoxon metaboli-
siert. Die dargestellten Metaboliten werden mit dem Harn ausgeschieden.

Enzym wird anscheinend ähnlich wie die Acetylcholinesterase durch Phospho-


rylierung gehemmt. Außerdem kann der entstehende Organophosphat-Carb-
oxyesterase-Komplex ebenfalls in Abhängigkeit vom Organophosphat einer Al-
terung unterliegen. Die Symptome beginnen mit Gefühllosigkeit und Kribbeln
in den Extremitäten, es treten dann aufsteigende schlaffe und später spasti-
sche Lähmungen der Gliedmaßen auf. Gegen die verzögerte Neuropathie gibt
es bisher keine wirksame Therapie.
Spektakuläre Vergiftungen traten durch den Genuss eines mit Trikresylphos-
phat versetzten Ingwerschnapses in den USA während der Prohibition in den
Jahren von 1929 bis 1930 auf. Etwa 20 000 Menschen zeigten die beschriebenen
Vergiftungssymptome einer verzögerten Neurotoxizität (ginger paralysis).

6.1.2 Carbaminsäureester (Carbamate)


Neben den Organophosphaten hemmen Ester der Carbaminsäure ebenfalls die
Acetylcholinesterase. Im Gegensatz zur Hemmung durch Organophosphate ist
diejenige durch die sogennanten Carbamate vollständig reversibel. Die funktio-
nelle Hydroxylgruppe des Serins im Zentrum des Enzyms wird vorübergehend
carbamoyliert und der Serinester wird innerhalb von Minuten hydrolysiert.
Damit ist das Enzym nach kurzer Zeit wieder vollständig funktionsfähig. Eine
Ausnahme von dieser Wirkung machen die Benzimidazolderivate der Carbama-
te, die als Fungizide dienen (siehe Kapitel 6.3).
6.1 Insektizide 299

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Abbildung 6.2 Strukturen von Carbamaten. Ihre Wirkungsrichtung wird durch die Sub-
stitution bestimmt. R1 Methylgruppe: Insektizid; R1 aromatischer Substituent: Herbizid;
R1 Benzimidazolderivat: Fungizid. R2 aliphatischer oder aromatischer Substituent. Für Car-
baryl besteht ein Anwendungsverbot.

Carbamate werden als Insektizide, Fungizide, Herbizide und Nematizide ver-


wendet (Abbildung 6.2). Die Vergiftungssymptome beim Menschen sind prak-
tisch identisch mit denjenigen der Organophosphate, klingen aber viel schneller
ab. Starke Vergiftungserscheinungen des ZNS und Todesfälle durch Carbamate
sind selten.
Zur Therapie wird Atropin in hohen Dosen gegeben und eine symptomatische
Behandlung wie bei der Organophosphatvergiftung durchgeführt. Die Gabe
von Oximen ist wegen der schnellen Reversibiltät der Vergiftung nicht erforder-
lich. Sie ist sogar kontraindiziert, da Oxime die Carbamatwirkung verstärken
und infolge ihrer Eigentoxizität Schädigungen verursachen. Hierzu zählen die
Hemmung von Esterasen im Blut, Auslösung von Kammerflimmern am Her-
zen und Laryngospasmus. Oximtherapien von Carbamatvergiftungen haben zu
Todesfällen geführt.

6.1.3 Pyrethrine und Pyrethroide


Nach der Entdeckung der insektiziden Wirkung verschiedener Chrysanthe-
mum-Arten (C. cinerariifolium und C. coccineum), die im östlichen Mittel-
300 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

meer und Vorderasien heimisch sind, wurden die pulverisierten Blüten um


1820 in Europa als Dalmatinisches Insektenpulver bekannt. In Kenia kultiviert
man die Pflanzen seit 1930 in Großplantagen und gewinnt durch Extraktion
ein Konzentrat, welches das photolabile, leicht hydrolysierbare und sauerstoff-
empfindliche Pyrethrum enthält.
Pyrethrum ist ein Gemisch von mindestens sechs Estern zwischen den Mo-
noterpenen (+)-trans-Chrysanthemumsäure bzw. (+)-trans-Pyrethrinsäure
und den drei zyklischen Ketoalkoholen (+)-Pyrethrolon, (+)-Cinerolon oder
(+)-Jasmolon. Unter diesen Estern stellt das Pyrethrin I die wirksamste Kom-
ponente dar (Abbildung 6.3). Für die Wirkung entscheidend ist die sterische
Anordnung an den R/S und cis/trans Zentren, obwohl die Substanzen nicht re-
zeptorvermittelt wirken. Pyrethrum enthält zusätzlich das stark allergisierende
Sesquiterpenlacton Pyrethrosin.
Ab 1945 gibt es erste synthetische Verbindungen, sog. Pyrethroide, die sich seit
1970 durch eine hohe Stabilität auszeichnen, welche für eine landwirtschaftliche
Nutzung wesentlich ist. Unter Beibehaltung der natürlichen Säurekomponente
erhielt man Allethrin (1949) und Tetramethrin (1964). Das Phenothrin (1968)
mit Phenoxybenzylalkohol als Baustein ist der Ausgangspunkt für Permethrin
(1972), alle Typ I, und für die a-Cyano-substituierten Vertreter Cypermethrin
(1972) und Cyfluthrin (1976), die dem Typ II angehören (Abbildung 6.3).
Generell wirken Pyrethrine und ihre Abkömmlinge durch eine Verlängerung
des Natriumeinstromes durch den Natriumkanal des erregten Nerven. Die auf
eine Erregung des Nerven physiologisch folgende Inaktivierung wird verzögert.
Hierdurch entsteht eine Blockade.
Am Insekt führt dies zu unkoordinierten Bewegungen und Krämpfen, die in
einer Lähmung und Erschöpfung gipfeln (knock-down-Wirkung). Die neuro-
toxische Wirkung steigt mit fallender Umgebungstemperatur. Am Warmblüter
beobachtet man nach intravenöser Applikation bei allen Pyrethroiden, die kei-
ne a-Cyano-Substitution aufweisen (Typ I), das T-Syndrom, welches bei der
Ratte durch Aggressivität, Erregbarkeit, Temperaturanstieg und Tremor cha-
rakterisiert ist. Die Verbindungen vom Typ II übererregen die Nervenbahnen
und setzen zusätzlich andere Transmitter frei. Sie lösen Krämpfe, Änderungen
im Bewegungsverhalten und einen deutlichen Speichelfluss aus. Die letzten bei-
den Erscheinungen, unter Choreoathetose und Salivation bekannt, sind so cha-
rakteristisch, dass sie zur Bezeichnung des Vergiftungsbildes als CS-Syndrom
dienen.
Der Toxizität am Insekt steht eine Toxizität am Warmblüter gegenüber. Ent-
scheidend für die Sicherheit bei der Anwendung ist das Vorliegen einer mög-
lichst selektiven Toxizität gegenüber dem Insekt. Zur Quantifizierung kann der
Quotient zwischen der LD50 an der Ratte nach oraler Gabe und der LD50 an der
6.1 Insektizide 301

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Abbildung 6.3 Struktur der im Pyrethrin I vorliegenden Einzelkomponenten (oben), die als
Ester vorliegen. Links die Strukturen von vier Pyrethroiden (Typ I und Typ II), rechts dieje-
nigen von drei als Synergisten verwendbaren Verbindungen.

Küchenschabe (Kakerlake, cockroach) nach topischer Exposition herangezogen


werden. Im Mittel liegt er bei etwa 3000, während er für Organophosphate nur
etwa 30 beträgt. Durch die Verwendung von Isomeren der Pyrethroide mit
der natürlichen Konfiguration, z. B. Bioresmethrin, Bioallethrin, lässt sich ein
noch günstigeres Verhältnis erreichen. Die Minderung der Wirkung durch Ge-
mische von Substanzen mit bis zu vier sterischen Zentren ist ein Beispiel für
zusätzliche Schwierigkeiten im Einsatz technischer Produkte.
Ursache für die selektive Toxizität ist vor allem in der höheren Empfindlich-
keit der Natriumkanäle der Nerven von Insekten und Fischen zu sehen. Die
Biotransformation der Pyrethroide bei Insekten und Warmblütern erfolgt vor-
wiegend durch enzymatische Hydrolyse in zwei unwirksame Bruchstücke. Da-
neben metabolisieren Insekten die Pyrethroide durch mikrosomale Monooxy-
genasen. Eine Blockade dieser Enzyme führt zu einer beachtlichen Verstärkung
302 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

Tabelle 6.2 Auswirkungen von Pyrethrum, dem Synergisten Piperonylbutoxid (PBO) und von
unterschiedlichen Kombinationen derselben auf die knock-down-Wirkung und die Sterblich-
keit (Letalität) gemessen an der Stubenfliege (nach Perkow, 1971).

Pyrethrum (mg) PBO (mg) knock-down (%) Sterblichkeit (%)


100 0 95 46
40 0 84 34
40 400 97 90
30 400 99 92
20 100 93 62
0 300 8 0

der knock-down-Wirkung und der Sterblichkeit der Insekten (Tabelle 6.2). Ein
Mittel der Wahl ist das Piperonylbutoxid, eine allein verabreicht harmlose Sub-
stanz, die man wie Sesamex und Safroxane als Synergisten bezeichnet (Abbil-
dung 6.3). Zusätzlich fördern diese Hilfsstoffe auch die Penetration der Py-
rethroide. Sie werden bis zu einem Verhältnis von 10:1 mit dem Pyrethroid
gemischt. Die Kombination mit Organophosphaten ist möglich, aber weniger
effektiv.
Kommt es bei der Anwendung der Pyrethroide zu einem Hautkontakt, zeigen
sich lokale Wirkungen wie kaltes Hautbrennen, Jucken und Blasenbildung.
Am gefährlichsten ist die Inhalation, welche eine Sekretion und schmerzhafte
Schleimhautreizungen auslöst. Deshalb ist mit Verbindungen hohen Dampf-
drucks (Vaporthrin) vorsichtig umzugehen. Die enterale Aufnahme größerer
Mengen an Pyrethroiden bei Unfällen oder Suicidversuchen ruft Anästhesi-
en im oralen Bereich nebst Erbrechen und Durchfall hervor. Die Resorption
ist gering. Nur nach sehr hohen Dosen können auch Krämpfe auftreten. Für
Pyrethrum liegt die tödliche orale Dosierung zwischen 1 und 2 g/kg.
Ein Auftreten der im Einsatz befindlichen persistierenden Pyrethroide in lipo-
philen Geweben wurde unter experimentellen Bedingungen an Tieren nachge-
wiesen. Ob hieraus Zusammenhänge zu chronischen Nervenschädigungen ab-
leitbar sind, wird kontrovers diskutiert.

6.1.4 Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe


Chlorierte cyclische Kohlenwasserstoffe waren wegen der hohen Stabilität und
des niedrigen Preises bis in die Mitte der sechziger Jahre die bevorzugten In-
sektizide, die sowohl zur Anwendung am Menschen nach Befall mit Läusen
und Krätze sowie zur Schädlingsbekämpfung in der Land- und Forstwirtschaft
eingesetzt wurden. Die geringe Metabolisierbarkeit und hohe Lipophilie bilden
jedoch die Ursache für ihre Persistenz und ihre Anreicherung in der Nahrungs-
6.1 Insektizide 303

kette. Die Bedrohung der Umwelt durch den Gebrauch dieser Biozide wurde
durch das Buch Silent Spring“ von R. Carson 1962 allgemein bekannt.

Drei Untergruppen können bei den chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen
unterschieden werden: Erstens die Dichlordiphenylmethane Dichlordiphenyl-
trichlorethan (DDT) und Methoxychlor, zweitens die Cyclodiene wie Aldrin
und Dieldrin und drittens die chlorierten Benzole bzw. Cyclohexane wie He-
xachlorcyclohexan (HCH) und sein g-Isomer, das Lindan.
Dichlordiphenylmethane
Von 1942 bis 1972 gelangten etwa zwei Millionen Tonnen DDT in die Umwelt,
vor allem wurde es in der Landwirtschaft und zur Malariabekämpfung einge-
setzt. Seine geschätzte Halbwertszeit für den globalen Abbau liegt wahrschein-
lich höher als zehn Jahre. Aufgrund seines hohen Dampfdrucks und seiner
außerordentlichen Persistenz kam es durch Wind und Regen zu einer Vertei-
lung über die Welt. Seine globale Destillation führt zur Anreicherung in den
Polkappen der Arktis und Antarktis. Trotz des weitgehenden Verbotes seiner
Anwendung, in Deutschland seit 1972, können immer noch signifikante Kon-
zentrationen von DDT oder dessen Metabolite (Abbildung 6.4) in Lebewesen
und Umwelt festgestellt werden.
Unter der Bezeichnung DDT fasst man ein Gemisch von verschiedenen Sub-
stanzen zusammen, das bei der großtechnischen Herstellung durch Konden-
sation von Chloralhydrat mit zwei Molekülen Chlorbenzol anfällt. Zu etwa
65 % besteht es aus 4,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (4,4’-DDT), 8–21 % aus
2,4’-Dichlorphenyltrichlorethan (2,4’-DDT) und 0,3–4 % aus 4,4’-Dichlorphe-
nyldichlorethan (4,4’-DDD) sowie geringere Anteile von weiteren Nebenpro-
dukten und Verunreinigungen.
4,4’-DDT und analoge Verbindungen werden, besonders in Anwesenheit von
Fett, vom Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Tendenz im Fettgewebe zu
akkumulieren sinkt in der folgenden Reihenfolge 4,4’-DDE, 4,4’-DDT, 2,4’-
DDT und 4,4’-DDD. Dieses unterschiedliche Verhalten hat über Jahre zu ei-
ner auffälligen Musterverschiebung der Verbindungen im Organismus geführt.
Während die 4,4’-DDT Konzentration im Fettgewebe durchschnittlich von 10
bis 15 mg/kg auf 0,5 bis 1 mg/kg von 1955 bis 1990 ständig abgenommen hat,
stieg der prozentuale Anteil des 4,4’-DDE in der gleichen Zeit von 60 auf 80 %
an.
4,4’-DDT besitzt für Insekten eine sehr hohe, für Warmblüter eine sehr nied-
rige akute Toxizität. Die orale Letaldosis wird beim Menschen auf 10 bis 30 g
geschätzt. Aufgrund dieser sehr geringen Toxizität sind berufliche Vergiftun-
gen praktisch ausgeschlossen. Seine Halbwertszeit ist mit etwa einem Jahr sehr
lang, sie kann durch Gabe von Paraffinöl wesentlich verkürzt werden. Hohe ora-
le Dosen führen nach etwa einer Stunde zu Zungentaubheit. Es folgen Sensi-
304 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide


 
 
  
   
  
  
   
  

 
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Abbildung 6.4 Schematische Darstellung der wichtigsten metabolischen Abbauwege von 4,4’-
Dichlorphenyl-trichlorethan (4,4’-DDT). Nach Resorption im Fettgewebe wird es nur lang-
sam mobilisiert. Links: Durch enzymatische Chloridabspaltung entsteht ein 4,4’-Dichlor-
phenyl-dichlorethylen (4,4’-DDE), das durch weitere Chloridabspaltung in ein Monochlor-
ethylen verwandelt und vom Cytochrom P450-System in ein reaktives Epoxid umgesetzt wird.
Dieses könnte im Prinzip mit NA eine Bindung eingehen, zum entsprechenden Ethanol
(DDOH), bzw. wie dargestellt, zum Acetaldehyd-Derivat weiterreagieren oder zur 4,4’-Di-
chlorphenylessigsäure (4,4’-DDA) umgesetzt werden. Rechts: Reduktiver Weg zum 4,4’-Di-
chlorphenyl-dichlorethan (4,4’- DDD) und zur 4,4’-DDA. Einige wenige Mikroorganismen
können DDT völlig abbauen.

bilitätsstörungen wie Kribbeln und Taubheit an Rumpf und Extremitäten,


Unruhe, Reizbarkeit und Schwindel. Später können Krämpfe und Lähmungen
auftreten.
Der Wirkort von 4,4’-DDT ist die Nervenmembran. In geringen Konzentratio-
nen bewirkt es eine Übererregbarkeit, in höheren eine Lähmung. Nach heutigen
Vorstellungen interferriert 4,4’-DDT mit den Na+ -Kanälen, es verhindert ihr
Schließen in der Nervenmembran.
DDT technischer Qualität enthält einen größeren Anteil des Isomers
2,4’-DDT. Dieser Komponente ist eine östrogene Wirkung eigen, welche am
4,4’-DDT nur sehr gering ausgeprägt ist. 2,4’-DDT konkurriert mit Östra-
diol um den Östrogenrezeptor in der Gebärmutter und an den Brustdrüsen.
An Ratten, Mäusen, Kaninchen, Hunden und Vögeln konnte eine Abnahme
6.1 Insektizide 305

der Reproduktivität beobachtet werden. Weiterhin war an Ratten auch die


Spermiogenese und Fertilität beeinträchtigt. Beim Menschen gibt es jedoch
keine Anzeichen für eine Störung der Fertilität oder der Reproduktion infol-
ge einer DDT-Exposition. Vögel reagieren jedoch wegen einer Hemmung der
Ca2+ ATPase in den Schalendrüsen mit der Bildung zerbrechlicher Eier, was
manche Seevögelpopulationen stark dezimiert hatte.
Cyclodiene
Zu den Cyclodienen gehören unter anderen Aldrin, Dieldrin, Chlordan, Hep-
tachlor, Chlordecon und Mirex (Abbildung 6.5). Ihr Haupteinsatzgebiet liegt
in der Bekämpfung von Heuschrecken-, Ameisen- und Termitenplagen. Wie
DDT wirken diese Substanzen als Neurotoxine, sie besitzen jedoch in der Re-
gel eine höhere Toxizität. Cyclodiene werden im Gegensatz zu DDT gut durch
die Haut resorbiert und können zu Krämpfen führen. Danach treten weniger
ernste Vergiftungszeichen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit auf.

     
  
   

  
   
   
    

 
   
   
  
  

   
   
  
 
 
  
 
 

Abbildung 6.5 Chlorierte Cyclodiene. Diese Substanzen induzieren besonders das Cytochrom
P450 System in der Leber, welches Aldrin und Heptachlor in Epoxide verwandelt. Wie die
Cyclodiene werden auch ihre Epoxide sehr stark im Fettgewebe gespeichert. Als neurotoxi-
scher Wirkungsmechanismus wird für den Cyclodientyp eine Hemmung des g-Aminobutter-
säure-stimulierten Chloridkanals (Cl− ↓) und der Ca2+ -Mg2+ -ATPase (Ca2+ ↑) im ZNS
diskutiert. Die Substanzen zählen zu dem dirty dozen“.

An Ratten wurden nach Aldrin Karzinome und Sarkome beobachtet. Dieldrin


ist bei Mäusen karzinogen und Chlordan und Heptachlor zeigten im Lang-
zeitversuch an Mäusen Lebertumoren und bei Ratten Schilddrüsenkarzinome.
Auch Chlordecon und Mirex besitzen im Tierversuch karzinogene Wirkungen.
Mirex wird wahrscheinlich zu Chlordecon oxidiert. Für die letztere Substanz
306 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

ist eine östrogene Wirkung nachgewiesen, die beim Mann eine Hodenatrophie
und verringerte Spermiogenese verursacht.
Hexochlorcyclohexan (HCH)
Von Hexachlorcyclohexan (HCH) gibt es acht isomere, monocyclische, chlo-
rierte Kohlenwasserstoffe. Die Synthese von HCH erfolgt durch Chlorierung
von Benzol unter UV-Licht und liefert ein Gemisch verschiedener Stellungs-
isomere. Die Zusammensetzung des Rohprodukts ist etwa folgende: 65–70 %
a-Hexachlorcyclohexan, 10 % b-Hexachlorcyclohexan, 15 % g-Hexachlorcyclo-
hexan, 7 % d-Hexachlorcyclohexan und weitere Isomere in geringeren Konzen-
trationen. Von diesen Isomeren besitzt nur das Lindan® (g-Hexachlorcyclo-
hexan) eine insektizide Wirkung. Es wird für medizinische Zwecke auf über
99 % gereinigt.
Die Fähigkeit zur Anreicherung in der Umwelt resultiert aus der unterschied-
lichen Lipophilie der Hexachlorcyclohexan-Isomeren. Sie nimmt in folgender
Reihenfolge ab: b- > a- > g- > d-Isomer. Die Exposition des Menschen er-
folgt vorwiegend mit Lebensmitteln. Die Konzentrationen an HCH haben von
50 ng/kg im Jahre 1970 auf derzeit unter 1 ng/kg abgenommen.
Wie DDT wirkt g-Hexachlorcyclohexan neurotoxisch. Es besitz eine geringe
akute Toxizität für den Menschen mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Übel-
keit, Erbrechen, Schwindel, Tremor und gesteigerter Atemtätigkeit. Darauf fol-
gen Krampfanfälle und Lähmung. Beim Menschen wird die krampfauslösende
Wirkung von Lindan auf 10 bis 20 mg/kg geschätzt. g-Hexachlorcyclohexan
wird noch heute als Medikament bei Kopf- und Filzläusen sowie bei Krätze-
milben verwendet.
g-Hexachlorcyclohexan hat keine teratogene und mutagene Wirkung. Dagegen
bewirken sehr hohe Dosen von a-Hexachlorcyclohexan bei Ratten und Mäusen
Lebertumoren, wobei die DNA-Synthese und Mitoserate erhöht sind.

6.2 Herbizide

6.2.1 Dinitrophenole
Als erstes synthetisches Herbizid gilt das 1892 von der Firma Bayer entwickel-
te Dinitrokresol, 2-Methyl-4,6-dinitrophenol. Es wurde zunächst als Insekti-
zid unter dem Namen Antinonnin gegen die Nonnenraupe (Fichtenspinner) in
den Handel gebracht. Später wurde die Substanz als Herbizid und Fungizid
benutzt. Für den Menschen ist Dinitrokresol besonders giftig, weil es wegen
seiner großen Lipophilie bei Kontakt leicht durch die Haut penetriert.
6.2 Herbizide 307


 
   

   
  
   


    
      
  

     
    

Abbildung 6.6 Dinitrokresole binden in der anionischen Form ein Proton und diffundieren
als ungeladene Moleküle durch Lipidmembranen. Trennt die Membran Bezirke unterschied-
licher Protonenkonzentrationen voneinander, führt ihre Anwesenheit zu einem Konzentrati-
onsausgleich. An Mitochondrien reduzieren sie den Protonengradienten und wirken dadurch
entkoppelnd. Dinitrokresol = 3,5-Dinitro-o-kresol = DNOC = 2-Methyl-4,6-dinitrophenol.
Unterer Teil: Dinobuton: Isopropyl-[2-(i-butyl)-4,6-dinitrophenyl]-carbonat; Dinoseb: 2-(i-
Butyl)-4,6-dinitrophenol; Dinoterb: 2-(tert.-Butyl)-4,6-dinitrophenol.

Im Organismus entkoppelt Dinitrokresol wie Dinitrophenol als Protonen-Iono-


phore die oxidative Phosphorylierung in der inneren Mitochondrienmembran
(Abbildung 6.6). Sie vermindern als Protonen-Ionophoren nicht nur den Wir-
kungsgrad der Energiegewinnung in den Mitochondrien (ATP-Synthese), son-
dern sie erhöhen damit auch die Substrat-Oxidation und den Elektronentrans-
port, die mit einer vermehrten Wärmebildung (Thermogenese) einhergehen.
Wegen des hiermit verbundenen erhöhten Energieumsatzes wurde
2,4-Dinitrophenol von 1935 bis 1937 sogar als Schlankheitsmittel vertrieben.
Die vermehrte Protonenbildung führt zusätzlich zu einer metabolischen Azi-
dose. Außerdem treten Schäden an Leber, Niere und Herz auf und es kann eine
Trübung der Augenlinse erfolgen (Katarakt).

Bei chronischen Vergiftungen mit Dinitrophenol und Dinitrokresolen wird eben-


falls eine Thermogenese ausgelöst. Es treten degenerative Veränderungen an
Leber, Niere und Herz sowie Entzündungen an den Nerven (Neuritiden) auf.
Außerdem wird eine Gelbfärbung von Haut und Haaren beobachtet. Gelegent-
lich verursacht Dinitrophenol vergleichbar mit Anilinderivaten eine Methämo-
globinämie mit Blaufärbung der Lippen.
308 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

Die orale LD50 von Dinitrokresol bei der Ratte beträgt 20–30 mg/kg. Die Toxi-
zitäten verschiedener anderer Dinitrophenolderivate wie Dinobuton, Dinoseb
und Dinoterb (Abbildung 6.6) sind bei Warmblütern sehr ähnlich.

6.2.2 Harnstoffderivate
Herbizide Harnstoffderivate wie Diuron (3-(3,4-Dichlorphenyl)-1,1-dimethyl-
harnstoff, Abbildung 7.3) unterbinden in der Photosynthese die Produktion
von Sauerstoff in der Pflanze, indem sie den Elektronentransport vom Photo-
system II zum Cytochrom f blockieren. Stoffwechseluntersuchungen an Ratten
und Hunden, die zwischen 9 Monaten und bis zu 2 Jahren 25 bis 2500 ppm
Diuron im Futter erhielten, ergaben keine Speicherung im Gewebe. Als Haupt-
metabolit wird N-(3,4-Dichlorphenyl)-harnstoff im Urin ausgeschieden. Die all-
gemeine Toxizität für Warmblüter ist sehr gering. Für Diuron wurde bei der
Ratte eine orale LD50 von 3,4 g/kg gemessen.

6.2.3 Bipyridylium-Salze
Unter den auch Dipyridinium-Salze genannten Verbindungen sind Paraquat
und Diquat die Hauptvertreter (Abbildung 6.7). Sie sind sehr wirksame Kon-
taktherbizide. Paraquat, 1,1’-Dimethyl-4,4’-bipyridylium-dichlorid, ist eine star-
ke organische Base, das Dimethylanaloge der von Leonor Michaelis als Re-
doxindikatoren eingeführten Viologene. Reduziertes Paraquat ist dunkelblau
gefärbt. Es wird in Gegenwart von Sauerstoff rasch zum ungefärbten Dikation
oxidiert. Die Blaufärbung von Körperflüssigkeiten durch Zusatz von Dithionit
ermöglicht seinen schnellen Nachweis nach Vergiftung.
Durch Paraquat haben sich zahlreiche, oft tödliche Vergiftungen bei der land-
wirtschaftlichen Anwendung und nach Suizidversuchen ereignet. In vivo er-
folgt eine Reduktion von Paraquat durch NADPH-abhängige Enzymsysteme,
wodurch einerseits das Redoxgleichgewicht in der Zelle verschoben wird und

   
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Abbildung 6.7 Die Herbizide Paraquat (Dimethylviologen) und Diquat. Der Begriff Violo-

gen“ wurde von L. Michaelis geprägt (Biochem. Z. 250: 564, 1932).
6.2 Herbizide 309

andererseits durch schnelle Reaktion des Paraquatradikals mit Sauerstoff zum


Superoxid-Anion eine Radikalkettenreaktion gestartet wird, die zur Zellschädi-
gung führt. Besonders empfindlich ist die Lunge, da es zu einer Anreicherung
von Paraquat in ihren Epithelzellen kommt. Die Beeinflussung der Lungen-
funktion kann sich erst Tage nach der Vergiftung bemerkbar machen und ihr
Fortschreiten ist dann nicht mehr aufzuhalten. In der Anfangsphase findet sich
ein eiweißreiches Ödem in den Lungenbläschen. Diese werden dann durch Ein-
sprossen von Fibroblasten langsam mit Bindegewebe gefüllt, bis durch eine
bindegewebige Schrumpfung der Lunge der Gasaustausch nicht mehr möglich
ist. Der Tod tritt oft erst nach mehreren Wochen ein. Die orale LD50 von Pa-
raquat beträgt an der Ratte ca. 100 mg/kg, beim Menschen liegt sie deutlich
niedriger (wahrscheinlich unter 10 mg/kg).
Eine vorherige Gewöhnung an eine hohe Sauerstoffkonzentration von 85 %
konnte im Tierexperiment die Lungenschädigung auf die Hälfte verringern.
Dies spricht für die Bedeutung antioxidativer Schutzfaktoren, die bei der Ad-
aptation an hohe Sauerstoffpartialdrucke vermehrt gebildet werden.
Bisher waren alle Versuche erfolglos, den Krankheitverlauf medikamentös durch
Antioxidantien, zu beeinflussen. Die Resorption von Paraquat, die nur lang-
sam und unvollständig erfolgt, muss deshalb durch Gabe von Adsorbentien
wie medizinischer Kohle, Bentonit oder Kaolin sowie durch Abführmittel und
eine Darmentleerung auf jeden Fall verhindert werden.
Paraquat wird im Erdboden sofort gebunden und nur sehr langsam abgebaut.
Es ist in Deutschland nicht mehr im Handel, wird aber in England noch be-
nutzt.

6.2.4 Natriumchlorat
Natriumchlorat z. B. in Unkraut-Ex® ist ein Totalherbizid, das sowohl zu
Unfällen durch Entzündung von kontaminierten Kleidungsstücken nach Ein-
trocknen der Lösung als auch zu oralen Vergiftungen beim Menschen führen
kann. Schon wenige Gramm Chlorat haben beim Erwachsenen zum Tode ge-
führt, während auf der anderen Seite aber auch sehr hohe Dosen überlebt
wurden. Es gibt also scheinbar eine individuelle Empfindlichkeit gegenüber
Chlorat. Diese beruht vermutlich auf jeweils unterschiedlichen Methämoglo-
binspiegeln im Blut, die normalerweise unter 1 % liegen. Chlorat wird gut
resorbiert und zum großen Teil unverändert im Urin ausgeschieden. Bei Kon-
takt mit dreiwertigem Hämoglobineisen (Methämoglobin) dismutiert Chlorat.
Das entstehende Hypochlorit gibt neben einer autokatalytischen Methämoglo-
binbildung auch Anlass zur Schädigung des Globins, dem Proteinanteil des
Hämoglobins. Zusätzlich werden Proteine der Erythrozytenmembran in Mit-
310 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

leidenschaft gezogen. So ist die funktionelle Beeinträchtigung der Glucose-6-


Phosphat-Dehydrogenase (vgl. Abbildung 8.3) in der Erythrozytenmembran
verantwortlich dafür, dass Methylenblau bei der Chlorat-Vergiftung nicht ein-
gesetzt werden kann. Weiterhin nimmt die physiologische Verformbarkeit der
Erythozyten ab. Dies führt zu deren Hämolyse mit Freisetzung von oxidiertem
und denaturiertem Hämoglobin. Freies (Met-)Hämoglobin wird durch die Nie-
renglomeruli in den Primärharn filtriert. Es fällt dabei in den Nierenkanälchen
aus und bewirkt ein Nierenversagen. Schließlich werden Blutgerinnungsfakto-
ren im Blut aktiviert, wodurch eine disseminierte intravasale Gerinnung (dis-
seminierte intravasale Coagulopathie, DIC) ausgelöst wird.

6.2.5 Phenoxycarbonsäuren
Chlorierte Phenoxycarbonsäuren besitzen bei der Unkrautbekämpfung eine
große Bedeutung. Sie wirken selektiv auf Pflanzen, da sie die Struktur des
Wachstumshormons Auxin (Indolyl-3-essigsäure) der Pflanzen imitieren (Ab-
bildung 6.8). Bekannteste Vertreter dieser Gruppe sind die 2,4-Dichlorphenoxy-
essigsäure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure. Letztere ist in Deutschland
nicht als Pflanzenschutzmittel zugelassen (siehe Abbildung 6.9) auch nicht in
Form ihrer Salze und Ester.
Unter den Pflanzen sind die zweikeimblättrigen besonders empfindlich ge-
genüber den chlorierten Phenoxycarbonsäuren. Mit einer oralen LD50 von
500–1000 mg/kg an der Ratte ist ihre Toxizität für Tiere relativ gering. Suizida-
le Einnahmen von Dosen im Grammbereich führten zu peripherer Neuritis und



  
      
  

 

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Abbildung 6.8 Strukturformeln von 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) und 2,4,5-Tri-


chlorphenoxyessigsäure (2,4,5-T) im Vergleich zu Auxin. MCPA = 4-Chlor-2-methyl-
phenoxyessigsäure.
6.2 Herbizide 311

zu einer Starre von Stamm- und Extremitätenmuskulatur. Als Mechanismus


hierfür wird wie bei der Monoiod- und Monochloressigsäure eine Hemmung
der Glycolyse diskutiert. Eine spezifische Therapie ist nicht bekannt.
Bei der Produktion von 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure und anderer Derivate
von Chlorphenolen erkrankten Arbeiter oft an einer besonderen Kontaktder-
matitis, welche als Chlorakne bekannt ist. Unter diesem Begriff versteht man
eine akneartige Hauterkrankung mit follikulären Hyperkeratosen, Komedonen,
Knoten, Abszessen und Zysten, besonders im Gesicht, an den Ohren und an
den exponierten Hautstellen.
Eine genaue Analyse des produzierten Herbizids ergab den Nachweis einer Ver-
unreinigung von bis zu 30 ppm an 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD).
Es stellte sich heraus, dass Synthesen, in denen Trichlorphenole als Zwischen-
oder Endprodukte auftreten, besonders bei Temperaturen zwischen 150 und
200 °C im schwach Alkalischen, regelmäßig TCDD oder andere Kongenere
entstehen lassen. Toxikologische Untersuchungen ergaben, dass die Chlorak-
ne beim Menschen und die teratogenen Wirkungen bei Nagern allein auf die
TCDD-Verunreinigungen zurückzuführen sind.
Dioxine, wie die zusammenfassende Kurzbezeichnung für die polychlorierten
Dibenzodioxine (PCDD) lautet, sind keine kommerziellen Produkte. Sie ent-
stehen, wie auch die entsprechenden polychlorierten Dibenzofurane (PCDF),
in chemischen Nebenreaktionen als unerwünschte Produkte (by-products) (Ab-
bildung 6.9). Insgesamt gibt es 75 mögliche Substitutionsvarianten (Konge-
nere) am PCDD und 135 am PCDF, die sich zum Teil erheblich in ihrer
Toxizität unterscheiden. Kritisch ist die Herstellung von polychlorierten Phe-
nolen, insbesondere 2,4,5-Trichlorphenol und 2,4,6-Trichlorphenol, die in weite-
ren Schritten der Produktion von Herbiziden und Desinfektionsmitteln dienen.
Einige Reaktionen sind in Abbildung 6.9 zusammengefasst.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Herbizid agent orange,
welches aus einem 1:1-Gemisch von Butylestern der 2,4-Di- und 2,4,5-Trichlor-
phenoxyessigsäure bestand und bis zu 50 ppm an TCDD als Begleitsubstanz
enthielt. Das Gemisch wurde zur Entlaubung großer Waldbestände im Viet-
namkrieg eingesetzt.
Eine weitere Quelle für TCDD bilden vor allem unvollständige Verbrennun-
gen bei zu niedrigen Temperaturen zwischen 200 und 400 °C. Hierzu zählen
Müllverbrennung, Verbrennungsmotoren, Holzfeuerung, Waldbrände, Vulkane,
Kompostierung und nicht zuletzt das Rauchen. Da eine Zersetzung der Dioxine
erst bei Temperaturen über 500 °C eintritt, sollten bei Verbrennungen minde-
stens 800 °C erreicht werden. Die Metallindustrie stellt bei Schmelzvorgängen
und beim Schrottrecycling ebenfalls einen Beitrag zur Dioxinbildung.
312 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

      
 

      

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Abbildung 6.9 Nebenreaktionen zu polychlorierten Dibenzodioxinen und Dibenzofuranen.

Neben den anthropogenen Quellen liefert auch der natürliche Ligninabbau


durch Pilze einen bedeutenden Eintrag an Dioxinen. Viele Saprophyten nut-
zen neben der Oxidation auch die Chlorierung, um das Ligningerüst des Holzes
zu brechen. Hierbei bilden sich Huminsäuren, die in Gegenwart von Chlorper-
oxidase und Kochsalz chloriert werden. Der weitere Abbau führt über Chlor-
phenole zu Chloressigsäure und Chloroform. Mit Wasserstoffperoxid bakte-
riellen Ursprungs dimerisieren die Chlorphenole leicht zu Dioxinen. Dies ist
der Grund, weswegen im Waldboden die höchsten Konzentrationen an Dioxin
gemessen werden (Waldboden 26, Industriegebiete 17, Straßenränder 8 und
Äcker 4 ng TCDD-Äquivalente/kg Trockenmasse.)
TCDD gehört zu den am stärksten toxisch wirksamen organischen Substan-
zen. Die akute Toxizität ist stark speziesabhängig und wird mit sehr niedri-
gen LD50 -Werten zwischen 0,6–2 mg/kg beim Meerschweinchen und 1–5 mg/kg
beim Hamster angegeben. Bekannt wurde TCDD weltweit im Jahre 1976 als
Seveso-Dioxin durch den Produktionsunfall der Firma ICMESA in Oberita-
lien. In der Bevölkerung von Seveso konnten trotz intensiver Untersuchungen
keine eindeutigen Anzeichen zur allgemeinen Toxizität von TCDD gefunden
6.2 Herbizide 313

werden, obwohl Körperbelastungen bis zu 1000 ppt im Fettgewebe vorkamen.


Ausgenommen ist die schwere Chlorakne, die aber nicht zwangsläufig nach je-
der Exposition auftritt. Da TCDD am Menschen noch nicht zu Todesfällen
geführt hat, kann der Mensch zu den wenig empfindlichen Spezies gezählt wer-
den. Weitere Symptome der Exposition mit TCDD sind unspezifisch. Es wur-
den Polyneuropathien (Nervenentzündungen), Störungen des Fettstoffwech-
sels, der Hämsynthese, der Leberfunktion und des Immunsystems beschrieben.
In Experimenten an Nagetieren erhöht TCDD die Tumorinzidenz in der Leber
bei hoher Dosierung von 100 ng/kg pro Tag eindeutig. Derartige Tumoren tre-
ten aber auch bei anderen Substanzen auf, die zu einer ausgeprägten Induktion
des Cytochrom P450 Systems und einer deutlichen Lebervergrößerung führen.
Als Bindungsort von TCDD wurde ein Ah-Rezeptor (aryl hydrocarbon) in der
Leber der Ratte charakterisiert, der in aktivierter Form sehr stark induzierend
auf das mikrosomale Cytochrom P450-System wirkt.
Andere polychlorierte Dioxine oder Dibenzofurane haben im Vergleich zu
TCDD nur eine geringere Toxizität, so dass für die Risikobewertung ein inter-
nationales Toxizitätsäquivalent (I-TEQ) benutzt wird. Es wird berechnet, in-
dem man die Konzentration jedes einzelnen Kongeners mit seinem relativ zum
TCDD festgelegten internationalen Toxizitätsäquivalentfaktor (I-TEF) mul-
tipliziert und die so gewichteten Konzentrationen addiert. Das 2,3,7,8-TCDD,
welches die Substanz mit der höchsten toxischen Potenz ist, hat einen I-TEF
von 1.
Die durch Verordnungen festgelegten maximalen Tagesaufnahmemengen (TDI)
liegen für dioxinähnliche Verbindungen bei 1–4 pg TEQ/kg·d (WHO 1998)
und bei 7 pg TEQ/kg·Woche (European Commission Scientific Committee on
Food (ECSC) 2000).

6.2.6 Chlorcarbonsäuren und aliphatische Säuren

Zu den Chlorcarbonsäuren zählen die Verbindungen Dalapon (2,2-Dichlorpro-


pionsäure) und Trichloressigsäure (TCA). Beide lösen wahrscheinlich durch
eine Änderung der Proteinstruktur eine Hemmung des Sprosswachstums aus.
Zu den aliphatischen Säuren rechnet man Glyphosat und Glufosinat (Abbil-
dung 6.10). Beide Substanzen werden über das Blatt aufgenommen. Glufosinat
ist für nahezu alle Pflanzen toxisch. Seine Wirkung beruht auf der Hemmung
der Glutaminsynthetase, eines für das Stoffwechselgeschehen notwendigen En-
zyms. Als Folge häuft sich das Zellgift Ammoniak an, was die Pflanze nach
wenigen Tagen absterben lässt.
314 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

     

    
  
   
  

   
   

Abbildung 6.10 Strukturformeln von Glyphosat (N-(Phosphonomethyl)glycin) und dessen


Abbauprodukt AMPA (aminomethylphosphonic acid), daneben die von Glufosinat = Phos-
phinotricin (4[Hydroxy(methyl)phosphinoyl]-D,L-homoalanin).

Glyphosat hemmt die 5-Enol-pyruvyl-shikimat-3-phosphat-synthase (EPSP-


Synthase), auf welche die Pflanze zur Herstellung von Tryptophan und Phenyl-
alanin angewiesen ist. Können diese beiden aromatischen Aminosäuren nicht
mehr gebildet werden, stellt die Pflanze das Wachstum ein und stirbt innerhalb
einer Woche ab.
Glyphosat gilt als umweltfreundlich, da es biologisch abbaubar und für Men-
schen nicht toxisch ist. Es ist erstmals 1971 beschrieben und wird seit 25 Jahren
als Total- oder Breitbandherbizid eingesetzt bei steigender Anwendungshäufig-
keit. Allein am Streckennetz der Schweizerischen Bundesbahn werden im Jahr
vier Tonnen ausgebracht. Glyphosat wird mit einer Halbwertzeit von 45 bis
60 Tagen abgebaut. Sein Hauptmetabolit ist die Aminomethylphosphonsäure
(AMPA). Eine hohe sorptive Bindung an Böden verursacht eine lange Ver-
weildauer, so dass Glyphosat kaum im Grundwasser gefunden wird, wohl aber
sein Metabolit AMPA.
Seitdem verschiedene Nutzpflanzen verfügbar sind (Baumwolle, Soja, Raps,
Mais), die eine gentechnisch vermittelte Toleranz gegenüber Glyphosat besit-
zen, besteht auch die Möglichkeit des Einsatzes von Glyphosat im Ackerbau.
Ein aus dem Bodenbakterium Agrobacterium tumefaciens isoliertes Gen, das
eine bakterielle Variante der EPSP-Synthetase exprimiert, die gegenüber Gly-
phosat wesentlich unempfindlicher ist, verleiht den Pflanzen die Toleranz. In
Verbindung mit den gentechnisch veränderten Pflanzen ist Glyphosat ein Kom-
plementärherbizid.
Die orale Bioverfügbarkeit von Glyphosat am Säugetier liegt zwischen 15 und
35 %. Über die Haut wird der Wirkstoff kaum resorbiert. Das Verteilungsvolu-
men ist relativ gering und beträgt beim Hund 0,28 L/kg. Es wird rasch mit dem
Urin ausgeschieden, teils als Metabolit und teils im unmetaboliserten Zustand.
Glyphosat zeichnet sich durch eine sehr geringe Toxizität beim Säugetier aus.
Die orale Aufnahme großer Mengen führt zu Erbrechen und Durchfall, Blut-
druckabfall, metabolischer Azidose, Atemschwierigkeiten, Niereninsuffizienz
6.2 Herbizide 315

und Schock. Ein Teil dieser Symptome wird durch den Lösungsvermittler Po-
lyoxyethylenamin verursacht, welcher zu 15 % im Fertigprodukt enthalten ist
und eine etwa dreimal höhere orale Toxizität aufweist als Glyphosat selbst.
(LD50 von Polyoxyethylenamin an der Ratte 1–2 g/kg).

6.2.7 Triazine

Seit 1957 ist das Atrazin bekannt (siehe Abbildung 7.4), das als Vorlage für
alle weiteren symmetrischen Triazine diente. Daneben gibt es asymmetrische
Triazine und das Aminotriazol (3-Amino-1,2,4-triazol, AT, Amitrol) mit ei-
nem 5-gliedrigen Ring. Die Substanzen greifen entweder in die Chloroplasten-
synthese ein (Aminotriazol) oder sie hemmen die Photosynthese. Zusätzliche
Wirkungsmechanismen werden diskutiert.
Einige Triazine weisen ein sehr langsames Abbauverhalten auf. Die Halbwert-
zeit für den Abbau von Atrazin im Boden wird zwischen 60 und 135 Tagen
angegeben. Die Triazine persistieren lange im Boden, wo sie aufgrund star-
ker Sorption unerkannt akkumulieren, da sie sich einer analytischen Extrakti-
on entziehen. Durch Auswaschung gelangen sie mit ihren Metaboliten in das
Oberflächen- und Grundwasser. Atrazin stellt in der Analytik ein Leitherbi-
zid dar. Die Verbindungen sind für Wasserorganismen giftig. Seit März 1991
ist die Anwendung von Atrazin und sechs weiteren Analogen zum Schutz des
Grundwassers verboten. In 80 Ländern wird es weiterhin angewendet.
In der Regel werden die Triazine im Säugerorganismus nach oraler Gabe rasch
absorbiert. Der Abbau erfolgt über Hydrolyse, Desalkylierung, Desaminierung,
die Abspaltung von Chlor und letztlich durch Öffnung des Triazinrings. Tria-
zine verursachen eine Irritation der Haut und Schleimhäute; die Vergiftung
äußert sich durch Anorexie, Pansenatonie bei Wiederkäuern, Kolik, Erbrechen
und Durchfall. Innerhalb von 24 Stunden werden 50–90 % der aufgenomme-
nen Triazine zum Teil in unveränderter Form vorwiegend renal ausgeschieden.
Weniger als 5 % der Menge erscheinen in der Milch. Für Pflanzenfressser spielt
das vermehrte Vorkommen von Giftpflanzen in Futter und Silage eine wichtige
Rolle, da einige dieser Giftpflanzen gegen Triazine resistent sind.
Aminotriazol hemmt die Katalaseaktivität im Säugetier. In hoher Dosierung
stört es die Hämsynthese, indem es die Kondensation zweier Moleküle
5-Aminolävulinsäure zu Porphobilinogen und den Einbau von Eisen als Zen-
tralatom in das Protoporphyrin unterbindet. Die toxische Wirkung des Amino-
triazol gleicht im Hinblick auf die Zerstörung der mikrosomalen Monooxygen-
asen, bei gleichzeitiger Induktion bestimmter Isoenzyme des Cytochrom P450,
derjenigen verschiedener Schwermetalle.
316 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

6.3 Fungizide

Unter Fungiziden versteht man Verbindungen, die geeignet sind, Pilze und de-
ren Sporen abzutöten. Die Pilze können sich dabei in oder auf organischen Ma-
terialien wie Holz, Papier oder Textilien, Böden und Lebewesen wie Pflanzen,
Pflanzenteilen (Saatgut, Pflanzgut) oder Nutztieren befinden und dort Krank-
heiten auslösen. Eine kurative und protektive Anwendung kann unterschieden
werden. Fungizide sollen nach Möglichkeit weder gefährlich für Bienen noch
toxisch für Warmblüter sein. Die in der Behandlung von Pilzerkrankungen am
Menschen (Mykosen) verwendeten Substanzen nennt man Antimykotika.

Ende des 19. Jahrhunderts setzte man basische Kupferverbindungen vor al-
lem gegen den falschen Mehltau der Reben ein. Das Kupfer penetriert in die
Pilzspore und blockiert enzymatische Vorgänge durch Verdrängung physiolo-
gischer Ionen. Seine Wirkung ist nur protektiv. Kupfer-HDO ist ein Fungizid,
das zusammen mit dem Insektenwachstumsregulator Fenoxycarb in der Holz-
imprägnierung Anwendung findet (Abbildung 6.11). Es stellt zugleich ein Bei-
spiel eines lipophilen Kupferkomplexes dar und dient heute als Ersatz chrom-
haltiger Holzschutzmittel.

Die fungizide Wirkung des Schwefels wurde seit langer Zeit im Wein- und Obst-
bau (Apfelmehltau) genutzt. Wahrscheinlich beruht seine Wirkung darauf, als
elementarer Schwefel in die Spore einzudringen und dort anstelle des Sauer-
stoffs die Rolle des Wasserstoffakzeptors zu spielen. Der entstehende Schwefel-
wasserstoff wirkt als zusätzliches Zellgift. Da Schäden auch an den Wirtspflan-
zen auftreten, ist die Selektivität beider Fungizide nicht ausgeprägt (geringer
chemotherapeutischer Index).

    

  
 

Kupfer-HDO

Abbildung 6.11 Durch die Komplexierung zu Kupfer-HDO (Bis-(N-Cyclohexyldiazeniumdi-


oxyl)-Kupfer) wird dem wasserlöslichen Cu2+ eine Lipophilie verliehen, die seine Penetra-
tion verbessert und die Toxizität für Pilze erhöht. Neben Cu-HDO sind auch K-HDO und
Al-HDO bei der Holzimprägnierung im Gebrauch (Xyligen).
6.3 Fungizide 317

6.3.1 Organische Quecksilberverbindungen


Als erste organische Fungizide wurden ab 1913 Verbindungen des Quecksil-
bers (Hg II) zur Saatgutbeizung (Getreide, Reis, Rüben, Kartoffel) eingesetzt.
Aufgrund der hohen Toxizität für Menschen und Tiere wurde die Verwendung
auf diesem Gebiet, trotz vieler Vorteile, nahezu eingestellt (vgl. Kapitel 4.2.5).

6.3.2 Organische Zinnverbindungen


Auch organische Zinnverbindungen werden als vielseitige Biozide seit 1940 in
Industrie und Landwirtschaft benutzt. Verglichen mit der Verwendung in tech-
nischen Bereichen haben sie im Pflanzenschutz ihrer Toxizität und Rückstände
wegen eine geringere Bedeutung. Im allgemeinen handelt es sich um ein- bis
vierfach mit Alkyl- oder Arylgruppen substituiertes Zinn. Allen Verbindungen
gleich welcher Substitution ist gemein, dass sie das lymphatische Gewebe und
das Immunsystem beeinflussen und zu einer Reduktion des Thymusgewichts
führen (Thymusatrophie).
Die Betrachtung von Dialkylzinndichloriden macht deutlich, dass deren toxi-
sche Eigenschaften von der Länge der Alkylketten (Lipophilie) abhängig sind.
So nehmen mit steigender Kettenlänge die kutane und enterale Resorption und
die akute Toxizität ab. Schäden der Gallengänge, der Leber und der Bauchspei-
cheldrüse werden vor allem durch Verbindungen mit Ketten zwischen 2 und 6
Kohlenstoffen ausgelöst, da diese am besten durch die Galle ausgeschieden
werden und einem enterohepatischen Kreislauf unterliegen. Die Biotransfor-
mation der Dialkylzinnverbindungen erfolgt vornehmlich durch hepatisches
Cytochrom P450. Über instabiles a- und b-Hydroxyalkylzinn entstehen die
entsprechenden monoalkylierten Verbindungen, die meist renal eliminiert wer-
den. Das Ausmaß der Biotransformation nimmt mit steigender Kettenlänge
ab. Organozinnverbindungen stellen Inhibitoren des Cytochrom P450-Systems
und Induktoren der Hämoxygenase dar.
Tetraethylzinn wird im Organismus durch hepatisches Cytochrom P450 rasch
und einfach desalkyliert. Die weitere Desalkylierung zu Diethylzinn läuft we-
gen der Bildung von Radikalen dagegen sehr langsam ab. Entstandenes Tri-
wie Diethylzinn ist toxischer als die Ausgangsverbindung (Verhältnis der Toxi-
zitäten 20:2:1). Sie reichern sich in den Mitochondrien des ZNS an und behin-
dern die oxidative Phosphorylierung, die Glucoseoxidation und die Phospho-
lipidsynthese. Dies führt zu neurotoxischen Schäden und Ödemen in ZNS und
Rückenmark. An solchen Schäden starben 1954 in Frankreich über 100 Men-
schen wegen der Verwendung des diethylzinnhaltigen Arzneimittels Stalinon® ,
welches zu 10 % mit Triethylzinn verunreinigt war. Die Desalkylierung zu
Monoethylzinn, das vorwiegend renal eliminiert wird, erfolgt wieder rasch.
318 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

Von den stark bioziden Verbindungen wird Triphenylzinn (Fentinacetat) in der


Landwirtschaft und Tributylzinnoxid (TBTO) (n-C4 H9 )3 Sn-O-Sn(n-C4 H9 )3 )
zum Schutz von Werkstoffen genutzt (Holz, Papierfabrikation, Textilien, An-
striche). Besonders sind sie in Schiffsanstrichen enthalten, da sie den Bewuchs
von Schiffsrümpfen mit Muscheln und Schnecken verhindern (Molluskizid, an-
tifouling; vgl. Seite 337). Fentin, das von Cytochrom P450 nicht metaboli-
siert werden kann, ist hepatotoxisch. Dimethyl-, Dibutyl- und Dioctylzinn-
halogenide dienen zur Hitze- und Lichtstabilisierung des Polyvinylchlorids und
als Katalysatoren bei der Polyurethanherstellung. Die jährliche Produktion an
organischen Zinnverbindungen beträgt weltweit etwa 60 000 Tonnen.

6.3.3 Dithiocarbamate, Thiurame


Die Derivate der Dithiocarbamidsäure (Dithiocarbamate, Thiurame) stellen
eine sehr wichtige Gruppe innerhalb der Fungizide dar. Ihre Wirkung ist dem
substituierten Dithiocarbamat-Anion zuzuschreiben.
Die dialkylsubstituierten Anionen (Abbildung 6.12) können durch Komplexbil-
dung metallhaltige Enzyme blockieren (Phenoloxidase, Ascorbinsäureoxidase).
Diese Wirkung tritt bereits ein, wenn sich ein 1:1-Kupfer-Dithiocarbamat-
Komplex bildet. Ein bei höherer Konzentration entstehender 2:1-Komplex
ist nicht fungizid. In höheren Konzentrationen wird das Anion selbst oder
ein Komplex mit anderen Schwermetallen toxisch. Eine zusätzliche Wirkung
basiert auf einer direkten Blockade von SH-Gruppen (Glucose-6-Phosphat-
Dehydrogenase, Cystein, Glutathion).
Den monoalkylierten Derivaten, zu denen die Ethylenbisdithiocarbamate und
deren Polymere zählen, steht aufgrund des am Stickstoff vorhandenen Wasser-
stoffs nach Umlagerung der Zerfall zu Schwefelwasserstoff und Isothiocyana-
ten (Alkylsenföle) offen. Letztere reagieren leicht mit Alkoholen, Aminen und
Thiolen und werden für die fungizide Eigenschaft verantwortlich gemacht.
Ist nur eine geringe Phytotoxizität vorhanden, lassen sich die Verbindungen zur
Behandlung von Pflanzen, Saatgut oder nur zur Bodenentseuchung einsetzen.
Die Stabilität der meisten Derivate liegt in Wasser und Boden im Bereich von
Stunden bis wenigen Tagen, so dass sich kaum Probleme mit Rückständen
ergeben.
Die Dithiocarbamate werden meist als Salze von verschiedenen Schwermetal-
len, darunter Zn, Fe und Mn, angewendet (Abbildung 6.12). Hierdurch erreicht
man eine Modifikation und – gegenüber dem Natriumsalz – eine Steigerung der
fungiziden Wirkung. Vor allem nützt man die entstehenden lipophilen Chela-
te aus, um die toxischen Schwermetalle durch Zellwände und Membranen zu
schleusen.
6.3 Fungizide 319




  

 
  

 





  

 

  


 
 

Abbildung 6.12 Derivate abgeleitet von der Dithiocarbamidsäure. Ziram und Thiram (Po-
marsol) auf der linken Seite sind dialkyliert. Dem Ziram analog ist der Vulkanisationsbe-
schleuniger ZDEC (Zinkdiethyldithiocarbamat). Dem Thiram (Tetramethylthiuramdisulfid,
TMTD) analog ist das Disulfiram (Antabus, Tetraethylthiuramdisulfid). Fungizid wirksam
sind die Dialkyldithiocarbamat-Anionen. Die Biotransformation liefert Dialkylamine und
CS2 . Zineb und Maneb gehören zu den polymeren bzw. zyklischen Ethylenbisdithiocarbama-
ten. Wirksam sind entstehende Alkyl-Isothiocyanate (R-N=C=S). Die Biotransformation
lässt neben Oxalsäure, Glycin und Harnstoff auch Ethylenthioharnstoff, Ethylendiamin, CS2
und H2 S entstehen.

Die für den Menschen relativ wenig toxischen Derivate der Dithiocarbamidsäu-
re dienen in der Gummiherstellung als Vulkanisationsbeschleuniger. Neben der
Auslösung von Kontaktallergien und lokalen Irritationen an Haut und Schleim-
häuten, lässt sich nach Aufnahme dialkylierter Derivate eine Alkoholunver-
träglichkeit beobachten. Die Alkoholintoleranz wird unter anderem bedingt
durch die bereits erwähnte Enzymhemmung, hier derjenigen der Alkohol- und
Aldehyd-Dehydrogenase. Wegen der alkoholabhorrierenden Wirkung diente
früher Disulfiram (Antabus® ) zur Unterstützung des Alkoholentzuges.

6.3.4 Thiadiazine

Übergänge zwischen fungizider, nematizider, insektizider und herbizider Wir-


kungen findet man bei Dazomet. Es hydrolysiert im feuchten Boden zu den
aktiven Bestandteilen Formaldehyd, CS2 und Methylisothiocyanat (Methyl-
senföl). Das analoge Sulbentin (Fungiplex® ) dient als Antimykotikum bei
Pilzerkrankungen der Haut (Abbildung 6.13). Ein Präparat mit Senf- und
Meerrettich-Inhaltsstoffen (Tillecur) dient zur Saatgutbehandlung gegen Stein-
brand.
320 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

     

    
 

   


  





   
  

Abbildung 6.13 Thiadiazine, Benzimidazole und Diphenyle als Fungizide und Fungistatika.
Thiadiazine zerfallen in wirksame Alkyl-Isothiocyanate. Als einziges Benzimidazol trägt Be-
nomyl an N-1 eine Substitution. Es muss metabolisch aktiviert werden. Eine Substitution
an C-5 blockiert die Hydroxylierung und hat eine Wirkungsverlängerung zur Folge. Diphenyl
besitzt einen hohen Dampfdruck. Es wirkt in der Gasphase. Im Warmblüter wird es durch
Cytochrom P450 hauptsächlich zu 4-Hydroxy-, 3,4-Dihydroxybiphenyl, weniger zu ortho- oder
meta-Phenylphenol hydroxyliert.

6.3.5 Diphenyle, Benzimidazole

Citrusfrüchte sind anfällig gegenüber dem Grauschimmel (Botrytis cinerea).


Zu ihrem Schutz dient eine Tauchbehandlung der Früchte mit ortho-Phenyl-
phenol (OPP, Dowicide 1). Mit Diphenyl (Biphenyl) wird dagegen das Ver-
packungsmaterial imprägniert, aus dem es langsam verdampft. Gegen Schim-
melpilze (Penicillium) werden Citrusfrüchte und Bananen mit Thiabendazol
geschützt, welches zur Gruppe der Benzimidazole zählt. Hierzu gehört auch
das seit 1967 als systemisches Fungizid bekannte Benomyl, das in die Pflanze
aufgenommen, in das aktive Methylbenzimidazolcarbamat (MBC) umgewan-
delt wird und dann in die Pyrimidinsynthese eingreift. Das analoge Fuberidazol
dient der Saatbeizung und hat die organischen Quecksilberverbindungen weit-
gehend überflüssig gemacht. Andere Benzimidazole eignen sich zur Behand-
lung von Wurmerkrankungen bei Mensch und Tier (Mebendazol, Parbendazol,
Cambendazol) (Abbildung 6.13).
6.4 Rodentizide 321

6.4 Rodentizide

Rodentizide werden zur Bekämpfung von Nagetieren wie Ratten und Mäuse
eingesetzt. Die Verwendung von Substanzen wie Thalliumsulfat und anderer
Schwermetalle, die außerordentlich toxisch für den Menschen sind, ist weitge-
hend zugunsten der Vitamin K-Antagonisten aus der Gruppe der 4-Hydroxy-
cumarinderivate und derjenigen der Indan-1,3-dione verlassen worden.
Vitamin K-Antagonisten verhindern die von Vitamin K-abhängige Synthese
der g-Carboxyglutaminsäure in der Leber. Diese spezielle Aminosäure ist für
die Funktion der Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X sowie Protein C
und Protein S unbedingt erforderlich (siehe Kapitel 3.5.2). In der Medizin wer-
den Vitamin K-Antagonisten, die Cumarinderivate, als indirekt gerinnungs-
hemmende Substanzen (Antikoagulantien) eingesetzt. Entsprechend der un-
terschiedlichen biologischen Halbwertzeit der betroffenen Gerinnungsfaktoren
tritt der therapeutische Effekt der Cumarinderivate in der Regel erst nach 24
bis 36 Stunden auf.
Therapeutischer und toxischer Effekt unterscheiden sich nur quantititativ hin-
sichtlich des Grades der Verminderung der Blutgerinnung. Die therapeutische
Dosis des Cumarinderivates Warfarin beträgt 5–10 mg täglich, die einmalige
Einnahme von 1 g führte aufgrund von Blutungen in allen inneren Organen
und in der Haut nach 14 Tagen zum Tode. Ratten und Mäuse sind gegenüber
Cumarinen empfindlicher als der Mensch.
Wegen der langsam einsetzenden Wirkung und der guten Therapiemöglich-
keit beim Menschen besitzen Cumarine als Rodentizide einen hohen Sicher-
heitsstandard. Nach unbeabsichtigter oder beabsichtigter Vergiftung können
schnell und wirksam therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Das ein-
malige Verschlucken von ausgelegten Tierködern mit Vitamin K-Antagonisten
bleibt beim Menschen oft symptomlos.
Die Therapie besteht in der Resorptionsverhinderung durch Verabreichung von
medizinischer Kohle und von Vitamin K1 (Abbildung 6.14). Bei oraler Gabe
ist ein Abstand von zwei bis vier Stunden zur Aktivkohle einzuhalten, da sonst
auch die Resorption des Vitamins verhindert wird.
Lebensbedrohende Blutungen, müssen mit der Substitution der fehlenden Ge-
rinnungfaktoren behandelt werden, da sich erst 1 bis 3 Tage nach Vitamin K-
Gaben die Gerinnungsfähigkeit des Blutes normalisiert.
322 Kapitel 6 Toxikologie der Biozide

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Abbildung 6.14 Schema des Vitamin K Zyklus. Vitamin K (Koagulation) zieht in einer
O2 -verbrauchenden Reaktion der Glutaminsäure ein g-Proton ab, es entsteht ein g-Carb-
anion und Vitamin K-2,3-Epoxid. Das Glutamin-Carbanion reagiert mit CO2 zur g-Carb-
oxyglutaminsäure. Die das Vitamin K regenerierenden Reaktionen werden durch Cumarin-
derivate (hier Warfarin) kompetitiv gehemmt. Unterer Teil: Seitenketten von Menadion,
Menachinon und Phyllochinon = Phytomenadion.
7 Rückstände, technische Produkte und
Gefahrstoffe
Wolfgang Legrum

Hatte der Mensch in seiner chemisch schöpferischen Aktivität von 1778 an,
dem Jahr des Erscheinen des ersten chemischen Fachjournals, bis 1954 erst
600 000 chemische Verbindungen erschaffen, so war genau diese Anzahl im
Jahr 1992 bereits neu synthetisiert. Heute kommen pro Jahr etwa eine halbe
Million neuer Verbindungen hinzu. Mitterweile ist die Grenze von 20 Millio-
nen überschritten. Nur ein kleiner Teil dieser neuen Verbindungen gelangt zu
einer Produktreife, sei es als Arzneimittel, Biozid, Waschmittel oder sonstiges
Hilfsmittel. Hergestellt und angewendet gelangen die Stoffe unweigerlich in
die Materialkreisläufe der Welt. Während die Synthesen wohl durchdacht sein
müssen, verlässt man sich nach gezogenen Nutzen bei der Entsorgung meist
auf die Kapazität und die Toleranz der Natur. Generell ist davon auszugehen,
dass jegliche Produktion des Menschen zu Müll und danach desintegriert wird.
Beispiele von verschiedenen Substanzgruppen sollen hierzu Einblicke geben.
In chemischen Synthesen von Wirkstoffen können sich durch Nebenreaktionen
wirkungslose oder auch toxische Produkte bilden. Hierzu sind einige bekannte
Fälle zusammengestellt. Zum Abschluss des Kapitels soll der Blick auf den
Umgang mit Gefahrstoffen gelenkt werden. Da ihr Einsatz und ihre Entste-
hung nach Möglichkeit zu umgehen ist, werden die wichtigsten Richtlinien zur
Vermeidung kurz vorgestellt.

7.1 Rückstände von Bioziden

Derzeit sind in Deutschland etwa 317 Wirkstoffe zum Pflanzenschutz zugelas-


sen, die in über 1200 Präparaten Anwendung finden (siehe Tabelle 6.1). Für
eine Zulassung ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-
cherheit (BVL) zuständig. Zuvor muss jedoch das Umweltbundesamt (UBA)
die Umweltverträglichkeit anhand von Sachverständigengutachten der Biologi-
schen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA) und des Bundesin-
stituts für Risikobewertung (BfR) geprüft haben. In diesen Gutachten sind die
324 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Wirksamkeit, die Anwendungsbedingungen, die toxikologischen Eigenschaften


und auftretende Risiken einer Substanz bewertet. Trotz sachgerechter Anwen-
dung finden sich Biozide an oder in Lebensmitteln, im Wasser oder im Boden.

Im Boden

Zwischen der Ausbringung eines Herbizids auf eine landwirtschaftlich genutzte


Fläche und einer Applikation einer Wirksubstanz am Säugetier besteht völli-
ge Parallelität. Gleiches gilt für die sich daran anschließenden Vorgänge der
Verteilung und Elimination.
Das Ausbringen des Herbizids entspricht einer intravenösen Injektion am Orga-
nismus. Die verwendeten Einheiten ändern sich. Aus der Dosierung, angegeben
in mg/kg Körpergewicht, wird die Aufwandmenge in kg/ha Ackerfläche. Die
Konzentration im Blut in mg/ml wird zu mg/kg = ppm im Bodenmaterial
unter Berücksichtigung einer bestimmten Eindringtiefe. (Als Beispiel liefert
1 kg Wirkstoff/ha auf Lehmboden der Dichte 1,3 kg/L, sofern eine homogene
Verteilung in einer Schicht von 1 cm Stärke vorliegt, eine Bodenkonzentration
von ca. 8 ppm.) Der Proteinbindung entspricht die Sorption an verschiedene
Bodenbestandteile. So wie im einfachsten pharmakokinetischen Modell Meta-
bolismus und Elimination als Wege zu einer Minderung der Konzentration im
Blut zusammengefasst sind, werden im vorliegenden Bodenmodell der Abbau
auf chemischem, photochemischem oder biologischem Weg und der Abtrans-
port von Wirksubstanz durch Verflüchtigung (Luft) und Einwaschung (Wasser)
zusammengefasst. Die Pflanze entspricht letztlich dem Wirkort im Organismus.
Die pharmakokinetischen Überlegungen und deren mathematische Darstellung
lassen sich direkt übernehmen. Ein in der praktischen Anwendung häufig vor-
kommender Fall ist die wiederholte Ausbringung eines Herbizids auf dieselbe
Fläche. Frage ist, ob bei bekanntem und nicht verändertem Abbauverhalten
(konstante Halbwertzeit) eine Voraussage getroffen werden kann, wie hoch die
Bodenkonzentration des Herbizids durch Kumulation ansteigt. Zu Beginn der
Überlegung wird die Zeit t auf die gegebene Halbwertzeit t1/2 normiert. Die
Zeit wird also als Vielfaches der Halbwertzeit aufgefasst:

t
ε= .
t1/2

Die Kumulation ist vom Dosierungsinterval τ abhängig, denn je häufiger ein


Herbizid angewendet wird, desto höher ist dessen Eintrag. Auch diese Zeit
wird auf die gegebene Halbwertzeit normiert. Man erhält das relative Dosie-
rungsintervall ετ :
7.1 Rückstände von Bioziden 325

150
130 = Dmax = D R

100

D = 100
50
30 = Dmin = D (R-1)

0 1 2 3 4 5 a
Abbildung 7.1 Verlauf der präsenten Menge einer wiederholt auf einen Acker im Jahres-
rhythmus ausgebrachten Substanz. Dosierungsinterval t = 1 a, jährlich ausgebrachte Menge
(= Aufwandmenge · Fläche) der Substanz = 100, Halbwertzeit der Substanz t1/2 = 0,5 a. Die
direkt nach dem Ausbringen maximal vorhandene Menge (Dmax ) konvergiert gegen D · R,
wobei R der dimensionslose Kumulationsfaktor ist. Die aus dem betrachteten Bereich eli-
minierte Menge an Wirkstoff muss nicht zwangsläufig biologisch unwirksam geworden sein.
Die Ordinate trägt willkürliche Masseneinheiten.
τ
ετ = .
t1/2

Von der zum Zeitpunkt t0 ausgebrachten Menge ist nach einem Jahr, also
nach einem Vielfachen der Halbwertzeit, noch ein bestimmer Anteil vorhan-
den. Nach der nochmaligen Ausbringung nimmt der Rest plus die zusätzliche
Menge in der gleichen Zeit wieder auf den gleichen Anteil ab. Durch die wie-
derholte Multiplikation ergibt sich eine geometrische Reihe mit dem Faktor
q = 2−ετ , mit der sich die im Boden verbleibende Menge an Wirkstoff (unmit-
telbar vor oder nach der Ausbringung) berechnen lässt:

1 1
Dmax = D =D = D · R.
1−q 1 − 2−τ

Diese maximale Rückstandsmenge kumuliert bis zu einem Grenzwert, der vom


relativen Dosierungsintervall und von der Dosis abhängig ist. Es wird ein
Gleichgewichtszustand erreicht, genau dann, wenn in der Zeit bis zum Aufbrin-
gen der neuen Dosis dieselbe Menge eliminiert wird. Die vorhandene Menge
pegelt also zwischen Dmax und Dmax − D. Der Faktor R stellt den Kumulati-
onsfaktor dar (Abbildung 7.1).
326 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Im Oberflächenwasser

Biozide können produktions- oder anwendungsbedingt (in der Landwirtschaft,


auf Industrie- und Verkehrsflächen, im privaten Haus- und Gartenbereich),
durch Altlasten und durch unsachgemäße Anwendung oder Entsorgung in
die Gewässer gelangen. Gegenwärtig werden 38 Biozide an Meßstellen, wel-
che die Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) betreut, in Oberflächen-
gewässern überprüft. Für Diuron und Isoproturon werden die Zielvorgaben an
mehr als 25 % der Meßstellen überschritten. Andere 13 Biozide halten die Vor-
gaben an allen Stellen ein. Trotz des Anwendungsverbots treten bei Atrazin
(vgl. Abbildung 7.4) sogar Überschreitungen auf, deren Häufigkeit allerdings
zurückgeht. Die höchsten Konzentrationen an Atrazin findet man im Einzugs-
gebiet der Mosel und Rur.

Im Grundwasser

Eine Voraussetzung für die Zulassung von Wirkstoffen zur Anwendung als Bio-
zid ist der Nachweis, dass bei sachgerechter Anwendung im Grundwasser keine
Konzentration größer 0,1 mg/L auftritt. Lysimeteruntersuchungen geben über
das zu erwartende Verhalten der Verbindungen im Boden Auskunft. Wird die
Zulassungsgrenze von der Substanz oder einem seiner Metaboliten überschrit-
ten, können Einschränkungen oder Verbote der Anwendung ausgesprochen
werden. Derzeit bestehen in der Bundesrepublik für die Substanzen Atrazin,
Bromacil und 1,3-Dichlorpropen solche Regelungen. Werden Substanzen unter-
halb der Zulassungsgrenze nachgewiesen, wird deren Überwachung intensiviert.
In der Bundesrepublik gibt es etwa 13 000 Meßstellen, in deren Proben im Jahr
2004 folgende Substanzen mit der angegebenen relativen Häufigkeit in Kon-
zentrationen größer 0,1 mg/L nachgewiesen wurden: Desethylatrazin (4,7 %),
Ethidimuron (3,9 %), Atrazin (2,2 %), Bromacil (2,2 %), 2,6-Dichlorbenzamid
(2,1 %), Bentazon (0,8 %), Hexazinon (0,7 %), Diuron (0,7 %), Simazin (0,6 %),
Desisopropylatrazin (0,5 %), Mecoprop (0,5 %), Propazin (0,3 %), Isoproturon
(0,2 %), Dichlorprop (0,15 %) und Chlortoluron (0,1 %) (siehe Abbildung 7.2
und Abbildung 7.3). Die Rangfolge der Substanzen ist über die Jahre relativ
stabil.

Im Trinkwasser

Nach der Trinkwasserverordnung (TrinkWV 2001) dürfen die im Trinkwas-


ser eventuell vorkommenden organischen Biozide und Wachstumsregulatoren
nebst deren Metaboliten und Reaktionsprodukten die Konzentration von
0,1 mg/L einzeln nicht überschreiten. Für Aldrin, Dieldrin, Heptachlor und
Heptachlorepoxid gilt ein Grenzwert von 0,03 mg/L (siehe Abbildung 6.5). Die
7.1 Rückstände von Bioziden 327

    


    

           

         
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Abbildung 7.2 Im Grundwasser gefundene Pflanzenschutzmittel. Für Diuron und dessen


Metabolite siehe Abbildung 7.3, für Atrazin und dessen Metabolite Abbildung 7.4. Diclobenil
selbst wird im Grundwasser nicht gefunden, dagegen sein Metabolit 2,6-Dichlorbenzamid.

Summe aller einzelnen Biozide zusammengenommen darf dabei auch die Kon-
zentration von 0,5 mg/L nicht übersteigen.

In Lebensmitteln

Pflanzen, die der Erzeugung von Lebensmitteln dienen, wie Obst, Gemüse
und Getreide, werden zur Erzielung höherer Erträge und besserer Qualität
in großem Maße mit Bioziden behandelt, so dass sie und daraus zubereitete
Erzeugnisse diese Stoffe enthalten können. Wie aus einem Bericht der EU-
Kommission für das Jahr 2002 hervorgeht, waren von 46 000 Proben, die im
328 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe





   
 
  

 
 

  
   



 
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Abbildung 7.3 Abbauprodukte von Diuron und Linuron. DCPMH: Dichlorphenylmethylharn-


stoff.

H Desisopropyl-Atrazin, DIA
H N
N
N N Cl N, H oder H, N
N
H N
isopropyl ethyl isopropyl
H N H N H2N
N N N
H N, N
N Cl N OH N OH
N N N
H N Atrazin H N H2N
Hydroxy-Atrazin
ethyl isopropyl ethyl
H N
N
N N Cl N, H oder H, N
N
H N
H Desethyl-Atrazin, DEA

Abbildung 7.4 Abbauprodukte von Atrazin (2-Ethylamino-4-(1-methylethyl)amino-6-chlor-


1,3,5-triazin). H = Hydrolyse, N = N-Desalkylierung. Desethyl-Atrazin (DEA) ist ein persi-
stenter Metabolit. Alle Wege führen zum 2-Hydroxy-4,6-diamino-s-triazin, dessen Ringstruk-
tur durch Oxidation an C2 unter Freisetzung von CO2 geöffnet wird.
7.2 Rückstände von Arzneistoffen 329

Durchschnitt auf 170 Pestizide untersucht wurden, 58 % pestizidfrei, 37 % ent-


hielten sie in Konzentrationen unterhalb des erlaubten Maßes und 5 % über-
schritten diese Grenze. Im allgemeinen stellt man über die Jahre hinweg einen
Trend zu höheren Konzentrationen fest. Parallel nimmt auch der Anteil von
Mehrfachrückständen zu, er stieg innerhalb von fünf Jahren von 2 auf 5 %.
Die Früchte Orangen/Mandarinen, Birnen, Bananen und Pfirsische/Nektarinen
gehören meist in die Gruppe mit erlaubtem Gehalt. In der Gruppe mit Konzen-
trationen oberhalb des erlaubten waren Spinat, Bohnen und Orangen/Manda-
rinen die Spitzenreiter. Die am häufigsten nachgewiesenen Pestizide waren
Imazalil, Thiabendazol, Chlorpyriphos, Methidathion, sowie Vertreter aus der
Maneb- und Benomyl-Gruppe (siehe Abbildung 6.13). Imazalil und Thiaben-
dazol werden häufig in der Kombination mit Orangen, Mandarinen, Bananen
und Pfirsichen/Nektarinen gefunden, wobei sie in Konzentrationen unter oder
über dem minimal risk level (MRL) auftreten.

7.2 Rückstände von Arzneistoffen

Der Arzneischatz besteht gegenwärtig aus etwa 3000 zugelassenen Wirkstoffen,


die unverändert oder als Metabolite in das Abwasser gelangen. Eine empfindli-
che Analytik kann sie hier leicht auffinden. Schon bald nach der Einführung der
hormonalen Kontrazeptiva stieß man im Grundwasser auf synthetische Östro-
gene. Eher zufällig wurde 1992 im Grundwasser Berlins auch Clofibrinsäure,
der Metabolit weit verbreiteter Medikamente zur Senkung der Plasmalipi-
de, gefunden. Systematische Messungen konnten es ebenfalls in Oberflächen-
gewässern und Trinkwasser nachweisen. Heute ist die Liste der Wirkstoffe aus
Medikamenten, die im Abwasser, geklärten Wasser, Grundwasser und gar im
Trinkwasser auftauchen, stark gewachsen. Dies ergibt sich durch die Auswei-
tung der Suche und die empfindlichere Analytik, wodurch sich vor allem persi-
stente und von einem großen Bevölkerungsanteil therapeutisch genutzte Wirk-
stoffe und deren Metabolite auffinden lassen.
Die meisten in Fließgewässern nachgewiesenen Substanzen stammen aus fol-
genden Indikationsklassen: Betablocker (Metoprolol, Sotalol, Propranolol, Ca-
razolol), Bronchospasmolytika (Salbutamol), Zytostatika (Cyclophosphamid),
Lipidsenker (Bezafibrat, Gemfibrozil, Clofibrinsäure), Rheumamittel (Diclo-
fenac, Ibuprofen), Psychopharmaka (Carbamazepin), jodierte Röntgenkontrast-
mittel und Analgetika. Von den wenigen analytisch erfassten Antibiotika wer-
den Roxithromycin, Sulfathoxazol, Trimethoprim, Clarthiromycin und Abbau-
produkte des Erythromycins gefunden. Die gemessenen Konzentrationen liegen
unter Berücksichtigung aller Klassen zwischen 0,05 und 1 mg/L.
330 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Aus der Gruppe der Steroidhormone wird in Fließgewässern vor allem syntheti-
sches 17a-Ethinylöstradiol (EE2) gefunden, das als orales Kontrazeptivum Be-
deutung hat. Die ebenfalls vorkommenden Verbindungen 17b-Östradiol (E2),
Östron (E1) und Östriol (E3) stellen physiologische Ausscheidungen dar, die
nur teilweise aus der Hormonersatztherapie stammen.
Das in einer empfohlenen Tagesdosis von 6 g zur Resorptionshemmung des
Cholesterols aus der Nahrung als Lipidsenker angewendete b-Sitosterol wird
im Wasser in höheren Konzentrationen gemessen. Zusätzlich ist das Steroid als
Nahrungsbestandteil in allen pflanzlichen Ölen enthalten, besonders in Mais-
und Sonnenblumenöl, wo es in Mengen von 1 bis 9 g/kg vorkommt. Eine weitere
Quelle für das b-Sitosterol bilden die Abwässer der Papier- und Zellstoffindu-
strie, welche auch das Lignan Enterolacton und das Iso-Flavon Genistein als
östrogen wirksame Phytohormone abgeben (siehe S. 338). Die Darmbakterien
des Menschen metabolisieren aus den in Pflanzen und Getreide vorkommen-
den Lignanen, speziell deren Glycosiden Secoisolariciresinol und Matairesinol
im proximalen Colon ebenfalls die humanen Lignane Enterodiol und Entero-
lacton, die sowohl im Urin wie mit den Faeces ausgeschieden werden.

7.3 Rückstände von Duftstoffen

Vornehmlich Wasch- und Reinigungsmittel sind der höheren Akzeptanz der


personal-care-Produkte wegen schon lange parfümiert. Besondere Verbreitung
finden synthetische Moschusduftstoffe, von denen die Nitro-Moschusverbindun-
gen Moschus-Xylol (in Wasch- und Reinigungsmitteln) und Moschus-Keton (in
Kosmetika), auf Grund ihrer großen Lipophilie und Persistenz, in Wasserpro-
ben, Muttermilch und Fettgewebe nachweisbar sind (Abbildung 7.5).
Die Konzentrationen der synthetischen polyzyklischen Duftstoffe Galaxolid
(HHCB) und Tonalid (AHTN) liegen in Wasserproben bei 100 ng/L, die von
Moschus-Xylol und Moschus-Keton zwischen 1 und 30 ng/L. Ein Maß für die
Persistenz der Verbindungen gibt der mäßige Abbau der Stoffe in Kläran-
lagen, die Moschus-Xylol nur zu 73 %, HHCB und AHTN je zu 63 % und
Moschus-Keton zu 50 % eliminieren. Während bei AHTN die Abnahme auf
einer Zerstörung des Moleküls beruht, resultiert sie bei HHCB überwiegend
aus einer Sorption an Klärschlamm. Moschus-Xylol und Moschus-Keton zei-
gen so gut wie keinen biologischen Abbau. Sie unterliegen wahrscheinlich einer
Reduktion zum Amin und verlassen das Klärwerk im Wasser.
Die Duftstoffe akkumulieren im Fettgewebe und weisen einen hohen Octa-
nol/Wasser Verteilungkoeffizienten auf (log Kow = 6). Ihr relatives Verteilungs-
volumen ist extrem hoch; für Moschus-Keton liegt es bei etwa 1300 L/kg. Auf
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 331


    

   
 

 
   
 

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Abbildung 7.5 Nitro-Moschusverbindungen und polyzyklische Imitate des Muscons basie-


rend auf substituiertem Tetralin oder Indan. Galaxolid und Tonalid decken 95 % des Mark-
tes der Polyzyklen. Galaxolid (HHCB = 1,3,4,6,7,8-hexahydro-4,6,6,7,8,8-hexamethylcyclo-
penta(g)-2-benzopyran), Tonalid (Fixolid; AHTN = 6-Acetyl-1,1,2,4,4,7-hexamethyltetra-
hydronaphthalin), Cashmeran, (DPMI = 6,7-Dihydro-1,1,2,3,3-pentamethyl-4(5H)indanon).
In drei Ringsystemen ist die Position 1 markiert.

Grund des hohen Dampfdrucks verteilen sich die Verbindungen nicht nur über
die aquatische Phase, sondern auch aerob.
Das natürliche Muscon aus Moschus moschiferus, dem in Mittel- und Ostasien
heimischen Moschushirsch, ist eines von mehreren makrozyklischen Ketonen
und Lactonen mit ungefähr 15 Ringgliedern. Moschus dient in der Parfümerie
als Fixativ.

7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen

Ein drastischer Rückgang der Alligatorpopulation im Lake Apopka sorgte 1980


für Aufsehen in Florida. Die Geburtenrate der Alligatoren sank lokal begrenzt
in diesem See um 90 %. Die eingeleiteten Untersuchungen des spektakulären
Falles zeigten, dass männliche Tiere so tiefe Testosteronspiegel hatten wie weib-
liche Kontroll-Alligatoren und weibliche Tiere doppelt so hohe Östrogenspiegel
wie die Kontrollen. Die gesamte Population war feminisiert. Die Hoden der
männlichen Tiere waren atrophiert und in weiblichen Tieren waren in den Fol-
332 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe
















   
      

Abbildung 7.6 Die Strukturen der Xeno-Östrogene Methoxychlor, Dicofol und als Vertreter
der polyhalogenierten Biphenyle (PCB und PBB) ein Isomer des Arochlor 1242. Die 12 im
Code steht für die Struktur Biphenyl, die 42 gibt den mittleren Chlorgehalt der Verbindung
in Gewichtsprozent an, was hier etwa 3 Chloratomen entspricht. Beispiel für ein PBB ist
das 2,2’,4,4’,5,5’-Hexabromobiphenyl = Firemaster BP-6.

likeln überzählige Eier. Eine Fortpflanzung war nicht möglich. Die auslösende
Ursache in diesem speziellen Fall war die Kontamination des Sees mit DDT
(Abbildung 6.4) und Dicofol (Abbildung 7.6) aus dem übergelaufenen Abfall-
teich einer nahegelegenen chemischen Fabrik. Der in Florida generell beobach-
tete Rückgang der Populationen des Alligators und des Florida-Panthers wird
mit ähnlichen hormonaktiven Auslösern in Zusammenhang gebracht.
In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe weiterer Substanzen identifiziert,
welche hormonelle Aktivität zeigen. Diese kann sich entweder in der Aktivie-
rung von Rezeptoren für Östrogene oder Androgene äußern oder durch eine
Hemmung der Bindung der natürlichen Hormone an diesen Stellen. Ebenfalls
möglich sind Interaktionen mit Hormonen bei deren Stoffwechsel, Transport
oder Ausscheidung. Allgemein bezeichnet man Xenobiotika, welche in einer
dieser drei Arten wirken, als environmental endocrine disruptors. Da sie die
normale Hormonwirkung im wesentlichen während der Entwicklung stören,
wird dieses Gebiet der Toxikologie auch als Entwicklungs-Toxikologie (deve-
lopmental toxicology) bezeichnet.
Die hormonartig wirkenden Substanzen können mit Östrogenen, Androgenen
oder Schilddrüsenhormonen interferieren. Sowohl diese Information als auch
die Herkunft der Verbindungen wird in ihrer näheren Bezeichnung ausgedrückt.
So unterscheidet man zwischen Xeno-Östrogenen, sofern es sich um Pestizide
oder Industriechemikalien handelt, Phyto-Östrogenen, sofern sie pflanzlichen
Ursprungs sind, und Myko-Östrogenen, wenn sie von Pilzen gebildet werden.
Allgemein kann auch von Xeno-, Phyto- oder Myko-Hormonen die Rede sein.
Fremdstoffe dieser Art können permanente Störungen von Entwicklungspro-
zessen in solchen peripheren Organen verursachen, deren Entwicklung von Ge-
schlechtshormonen abhängig ist. Hierzu zählen u. a. Ovarien, Hoden, Genital-
trakt und Brustdrüse, aber auch das Gehirn kann betroffen sein.
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 333

7.4.1 Xeno-Östrogene aus Bioziden


Als eines der ersten Xeno-Östrogene wurde das zu etwa 20 % im DDT ent-
haltene 2,4’-DDT erkannt, während der Hauptbestandteil 4,4’-DDT in die-
ser Hinsicht kaum wirksam ist. Dagegen hat der Metabolit 4,4’-DDE eine
anti-androgene Wirkung (siehe Abbildung 6.4). Die östrogene Gesamtwirkung
beinhaltet also eine mimetische und eine anti-androgene Komponente.
Als relativ flüchtige Substanz hat sich DDT über die gesamte Welt verteilt
und ist auch in zivilisationsfernen arktischen Gebieten anzutreffen. Die Sub-
stanz unterliegt einer Verfrachtung von den warmen Äquatorialzonen ausge-
hend in die kälteren Regionen hinein, wo sie förmlich auskondensiert. Man
spricht deshalb auch von einer globalen Destillation. Die zwischen 10 und 20
Jahren liegende Halbwertzeit wird die Präsenz der Verbindung auch wegen
eines teilweise gelockerten Anwendungsverbots noch lange aufrechterhalten.
Methoxychlor ist ein Analoges des DDT (Methoxy-DDT, Abbildung 7.6),
dessen Anwendung als Insektizid weder erlaubt noch verboten ist. Für Me-
thoxychlor wurde nachgewiesen, dass es die durch Progesteron induzierte Oo-
zytenreifung in Fröschen (Xenopus) hemmt und damit deren Fruchtbarkeit
reduziert.
Die polychlorierten Biphenyle (PCB, Abbildung 7.6), die seit dem Nachweis
ihrer Karzinogenität bei Nagetieren um 1970 gebannt wurden, bilden eine wei-
tere Gruppe von Xeno-Östrogenen. Sie sind in der Lage an verschiedene Ste-
roidrezeptoren zu binden. Ihre lange Persistenz macht man verantwortlich für
die Abnahme der Populationen von verschiedenen Tierspezies, die am Ende
der Nahrungskette stehen und deren Vermehrungsraten gesunken sind, wie
Fischotter, Robben, Nerze und Fische. PCB können Hodenhochstand und
Unfruchtbarkeit von männlichen Tieren auslösen.
Polychlorierte Dibenzodioxine (PCDD, Dioxin) sind Nebenprodukte verschie-
dener chemischer Synthesen und Begleitstoffe bei der Verbrennung chlorhalti-
ger organischer Verbindungen (Abbildung 6.9). Dioxin ist ein Auslöser von
Anomalien in der Entwicklung männlicher Ratten. Waren die Muttertiere
während der Trächtigkeit mit Dioxin in Kontakt, so haben die männlichen
Tiere kleinere Hoden, geringere Spermienzahl und ein weniger männliches Se-
xualverhalten.
Toxaphen wird durch Chlorierung von Camphen (C10 H16 ) 90 %iger Reinheit
gewonnen. Man erzielt einen Chlorgehalt von etwa 68 % (w/w) und erreicht
dabei eine generelle Umstrukturierung des Champhen zu ein Gemisch von über
200 verschiedenen leicht flüchtigen, mehrfach chlorierten, isomeren Bornanen,
Bornenen und Camphenen der mittleren Summenformel C10 H10 Cl8 (Abbil-
dung 7.7). Die Verbindungen unterliegen der globalen Destillation und ha-
334 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Cl Cl Cl Cl

Cl Cl
CH2 Cl CH2Cl

CH3 Cl Cl O
CHCl2
Cl S O
CH3 CH2Cl O
Camphen Toxaphen
Endosulfan
(Octachlorcamphan-Isomer)

Abbildung 7.7 Camphen und ein durch Chlorierung entstandenes Isomer aus Toxaphen.
Endosulfan = Thiodan: abgebildet ist das a-Isomer mit einen Schmelzpunkt von 109 °C, im
Gegensatz zum b-Isomer mit 209 °C.

ben sich vor allem in den aquatischen Organismen der Nordhalbkugel ange-
reichert. Die Anwendung von Toxaphen ist seit 1982 verboten. Es gibt unter
den Isomeren solche, die leicht mikrobiell und photolytisch abbaubar sind, an-
dere dagegen schwer. Der Abbau beginnt mit reduktiven Dechlorierungen und
Dehydrochlorierungen, denen oxidative Reaktionen folgen können. Toxaphen
ist östrogen wirksam, im Ames-Test mutagen und vor allem für Fische sehr
giftig. Über die unterschiedlichen Wirkungsqualitäten der einzelnen isomeren
Verbindungen ist sehr wenig bekannt.
Endosulfan ist ein schon seit 1956 benutztes Insektizid und Akarizid. Es wird
als Kontakt- und Fraßgift im Obst-, Gemüse-, Zierpflanzenanbau und Forst
zum Pflanzenschutz gegen beißende und saugende Insekten eingesetzt. Gegen
Bienen zeigt es eine geringe Toxizität. Das Mittel wird bis zu zwei Wochen vor
der Ernte angewendet bei Beeren, Baumfüchten, Nüssen, Gemüse, Getreide,
Feldfrüchten, Reis, Baumwolle, Tabak und Tee. Da die Sättigungskonzentra-
tion in Luft bei 130 mg/m3 liegt, ist eine Anwendung im Innenbereich nicht
ratsam. Endosulfan ist ein Nervenstimulans, das Krämpfe auslösen kann. Es
hat damit Ähnlichkeit zu anderen chlorierten cyclischen Kohlenwasserstoffen.
Seine östrogene Wirkungskomponente ist dagegen relativ schwach ausgeprägt.
Wirkungssteigerungen durch Kombination mit anderen östrogen wirksamen
Substanzen ließen sich nicht bestätigen.

7.4.2 Xeno-Östrogene aus Industriechemikalien


Industriechemikalien sind Substanzen, die als Ausgangsstoffe zur Herstellung
und Synthese anderer Produkte oder als Hilfsbestandteile (Additive) in densel-
ben dienen. In alleiniger Form kommen sie nicht zur Anwendung. Auch inner-
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 335

H9C4 C4H9 H9C4 C4H9


H19C9 OCH2CH2 OH H9C4 C4H9 Sn
n Sn Sn H9C4 Cl
H9C4 O C4H9
4-Nonylphenolethoxylat
Bis-(tris-n-butylzinn)-oxid Tributylzinnchlorid (TBT)
C2H5
O O
O CH2 C4H9
CH3 C O C4H9 C
H
HO C OH H
C O C4H9 C
CH3 O CH2 C4H9
O
O C2H5
Bisphenol A
Dibutylphthalat, n-Butylphthalat Di(2-ethylhexyl)phthalat, DEHP

Abbildung 7.8 Vertreter von Industriechemikalien, die selbst oder als Abbauprodukte ei-
ne hormonartige Wirkung aufweisen. Das nicht-ionische Detergenz 4-Nonylphenolethoxylat
zeigt erst nach partiellem Abbau diese Wirkung (siehe Text). Sind neun Ethoxyreste ankon-
densiert (n = 9), handelt es sich um Nonoxynol-9. Andere bekannte Vertreter dieser Klasse
sind Triton X-100, Emulgen 911 und Renex 692.

halb dieser heterogenen Gruppe der Industriechemikalien wurden hormonartig


wirkende Substanzen gefunden (Abbildung 7.8).
Die östrogene Wirkung von Kunststoffstabilisatoren war eine Zufallsentdeckung
eines Labors, das östrogen-abhängige Tumorzellen untersuchte. Als Kontrollen
in den Versuchsreihen dienten Zellen, die in Abwesenheit von Östrogen nicht
wuchsen. Bis 1987 liefen diese Versuche reproduzierbar. Obwohl scheinbar der
Versuchsablauf nicht geändert wurde, zeigten die Kontrollen plötzlich Wachs-
tumsraten, die denen östrogenstimulierter Zellen glichen. Ursache für dieses
Verhalten war eine neue Charge von Kunststoffgefäßen aus Polystyrol, das –
wie sich nach mehrmonatiger Suche ergab – mit 4-Nonylphenol stabilisiert war.
Eine besonders hohe Östrogenaktivität besitzt das 4-tert.-Pentylphenol, das
beim männlichen Karpfen (Cyprinus carpis) eine Feminisierung auslöst, in
deren Verlauf Eileiter, Eierstockgewebe und Oozyten gebildet werden.
Para-substituierte Alkylphenole dienen vorzugsweise als Ausgangsprodukte für
die Synthese von Alkylphenol(poly)ethoxylaten (APEO), die nicht-ionische
Detergenzien darstellen, sofern die Anzahl der ankondensierten Ethylenoxide
höher als 6 ist. Man verwendet sie nur in speziellen industriellen Produktions-
verfahren für Reinigungszwecke. In Waschmitteln und Haushaltsreinigern sind
sie seit 1986 aufgrund einer Selbstverpflichtung der Waschmittelindustrie nicht
mehr enthalten. Das bekannteste aus 4-Nonylphenol synthetisierte 4-Nonyl-
phenolethoxylat ist das Nonoxynol-9, das im Mittel eine hydrophile Kette aus
neun ankondensierten Ethylenoxid-Einheiten trägt. Die Alkylphenolethoxyla-
336 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

te werden als Additive in Kunststoffen, als Emulgatoren in Schmierölen, Phe-


nolharzklebern, Lacken, Farben und als Netzmittel in Pflanzenschutzmitteln
eingesetzt. Die Produktion beträgt weltweit etwa 80 000 Jahrestonnen, wovon
der größte Teil in die Produktion von Nonylphenolethoxylat läuft.
Durch einen schnellen primären biologischen Abbau wird die Ethoxylat-Seiten-
kette auf ein bis zwei Ethoxylatgruppen verkürzt (AP2EO, AP1EO). Die
entstandenen Di- und Monoethoxylate oder ebenfalls gebildeten Carboxylate
(APEC) haben keine oberflächenaktive Wirkung mehr. Der folgende Abbau
bis zum alkylierten Phenol dauert wesentlich länger. Die östrogene Wirkung ist
den lipidlöslicheren Alkylphenoldiethoxylaten und Alkylphenolmonoethoxyla-
ten und den Alkylphenolen selbst eigen. Toxikologisch wichtig sind die Deri-
vate des 4-tert.-Octylphenol (OP) und 4-Nonylphenol (NP). Als technisches
Produkt ist 4-Nonylphenol im Verhältnis 9:1 vom 2-Nonylphenol begleitet (iso-
NP). 4-Nonylphenol gibt es außerdem in verzweigter oder unverzweigter Form
(n-NP).
Die Bisphenole dienen als Ausgangsstoffe zur Herstellung von Epoxidharzen
und Polycarbonaten. Etwa 70 % des Bisphenol A (BPA, Abbildung 7.8) geht
durch eine Reaktion mit Phosgen in die Produktion von Polycarbonat, der
Rest durch Reaktion mit Epichlorhydrin in die von Epoxidharz. Ein oligome-
res Zwischenprodukt hierbei ist der Bisphenol A-Diglycidylether (BADGE).
Zahntechnische Füllmassen (Komposite) auf der Basis von Bis-GMA (Bis-
phenol A-Glycidylmethacrylat) setzen östrogenwirksames BPA und BPA-
Dimethacrylat frei. In genügend ausgehärteten Epoxidharzen, die z. B. zur
Innenlackierung von Konservendosen verwendet werden, ist in der Regel kein
BPA enthalten. Hitze, wie sie bei der Sterilisation auftritt (121 °C) oder Be-
dingungen einer Hydrolyse können aber hormonaktive Mono- oder Oligome-
re entstehen lassen, die in fetthaltige Speisen wie Fisch eher eindringen als
in Flüssigkeiten. Meist wird den verwendeten PVC-Organosol-Lacken noch
Bisphenol A-Diglycidylether (BADGE) als Stabilisator (HCl-scavenger) zu-
gesetzt, der sich ebenfalls als östrogenwirksam erwiesen hat. In technischen
Sonderbereichen wird auch nichtpolymerisiertes BPA eingesetzt, darunter in
Thermopapier, wo es als Co-Reaktant in der Farbentwicklungsschicht in ei-
nem Anteil von 10 kg BPA/t Papier enthalten ist. Deshalb ist Fax-Papier
beim Recycling und Entfärben (De-inking) eine größere Quelle für freies BPA,
das ins Abwasser und den Klärschlamm gelangt. In der Vulkanisation von
Reifen dienen orthosubstituierte Bisphenole als Radikalfänger, in Isolierungen
für Hochtemperaturkabel und in Reifengummi kommt das Monomer als An-
tioxidans und Stabilisator vor. Die östrogene Wirkung von BPA liegt in der
Bindung an den Östrogen-Rezeptor begründet. An den menschlichen Brust-
krebszellen der Linie MCF-7 löst es die Bildung von Progesteron-Rezeptoren
und eine Zellproliferation aus.
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 337

Eine große Gruppe von etwa 60 verschiedenen Derivaten bilden die Phthalat-
ester. Etwa zwei Drittel der Produktion finden als äußere Weichmacher in
PVC-Materialien Verwendung. Hierbei gehen sie mit den Kunststoffen keine
Verbindung ein, sondern bleiben lediglich physikalisch darin gelöst. Entspre-
chend schnell können sie meist durch Ausgasung (DBP) oder Auswaschung
die Matrix verlassen, was in der Regel zur Alterung der Kunststoffe führt. Eine
östrogene Wirkung ist für Dibuthylphthalat (DBP) und Benzylbutylphthalat
(BBP) beschrieben, nicht dagegen für den mengenmäßig bedeutendsten Ester
das Diethylhexylphthalat (DEHP). BBP wird hauptsächlich als Weichmacher
in PVC-Fußbodenbelägen und in Polysulfid-Dichtmassen (Isolierglasscheiben)
eingesetzt

7.4.3 Xeno-Androgene
Bisher ist Tributylzinn (TBT, Abbildung 7.8) die einzige Substanz nichtste-
roidalen Aufbaus, an der eine androgene Wirkungsqualität beobachtet wurde.
Organozinnverbindungen werden seit 1950 industriell hergestellt. Sie enthalten
Zinn in der Oxidationsstufe +4 substituiert mit Butyl-, Heptyl- oder Phenyl-
resten und Halogenen.
Das problembehaftete Haupteinsatzgebiet liegt auf dem Sektor der Antifouling-
Anstriche von Schiffsrümpfen. Hier verhindert es den Bewuchs mit Seepocken,
Muscheln und Algen. Ein Anwendungsverbot besteht allerdings bei Schiffen
unter 25 m Länge. Unbehandelt würde ein Luxusliner in sechs Monaten von
etwa 1500 t Seepocken besiedelt. Das Auslaugen der Anstriche führt zur Frei-
setzung des ursprünglich enthaltenen Bis(tri-n-butylzinn)oxids (TBTO), das
sich in Meerwasser zu Tributylzinnchlorid (TBT) umwandelt. Bei Meeres-
schnecken führt die Substanz zu einer Vermännlichung der weiblichen Tiere
mit der Ausbildung von männlichen Geschlechtsorganen (sog. Imposex) und
Unfruchtbarkeit. Die Ursache hierfür ist in einer Hemmung der Aromatase zu
sehen, die bei der enzymatischen Umwandlung von Testosteron zu Östrogen
essentiell ist. Daneben werden eine Reihe toxischer Wirkungen beobachtet, die
nicht auf eine hormonartige Wirkung zurückgehen. Die Alkylzinnverbindungen
werden photolytisch und biotisch schrittweise bis zum anorganischen Stadium
desubstituiert.

7.4.4 Xeno-Thyroxine
Verschiedene Xenobiotika weisen eine schilddrüsenhormonartige Wirkung auf.
Eine solche Wirkungsqualität hat man bei einigen PCB gefunden, die nach
Hydroxylierung im Organismus hohe Affinitäten zum Transthyretrin, dem Se-
338 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

rumtransportprotein des Thyroxins, haben und letzteres aus seiner Bindung


verdrängen. Das führt zu einer erhöhten Ausscheidung des Hormons. Schild-
drüsenhormone sind kritisch für das Wachstum der Cochlea im Innenohr. An
Ratten sind Mangelbildungen der Cochlea und Gehörschäden beschrieben, die
als Folge der Behandlung trächtiger Muttertiere mit PCB auftraten.

7.4.5 Phyto-Östrogene
Wichtige Vertreter der Phyto-Östrogene sind in der Verbindungsklasse der Iso-
flavone zu finden. Die Substanzen sind vor allem in Pflanzen der Familie der
Fabaceen (früher Papilionaceen) weit verbreitet. Hier hat sich eine Fülle von
strukturell ähnlichen Verbindungen entwickelt, von denen in den Blättern des
Färberginsters (Genista tinctoria) das Genistein als erstes entdeckt wurde.
Weitere Vertreter dieser Familie, darunter viele Futterpflanzen und Pflanzen
zur Gründüngung, sind Kleearten (Trifolium), Luzerne (Medicago sativa), Lu-
pinen, Saubohne (Vicia faba), Kichererbse (Cicer ) und die ostasiatische So-
jabohne (Glycine soja). Isoflavonreiche Kleesorten (Trifolium subterraneum)
führten bei Schafen zu Schäden an den Eierstöcken und Fortpflanzungsstörun-
gen.
Ein wichtiger Vertreter der Isoflavone mit östrogener Wirkung ist das Genistein
(Abbildung 7.9). Es ist zusammen mit Daidzein in einer Konzentration von je
etwa 0,5 g/kg in Sojabohnen enthalten. Daidzein hat eine geringere östrogene
Wirkung als Genistein, beide Substanzen sind Radikalfänger und antioxida-
tiv wirksam. Die Anwendung der Isoflavone kann hilfreich sein Beschwerden
während der Postmenopause zu mindern.
Nach oraler Gabe und Resorption unterliegen beide Substanzen einer Elimina-
tion mit einer Halbwertzeit von ca. 8 Stunden. Neben konjugierten Metaboliten
wird nur bei 60 % der Bevölkerung auch eine Ausscheidung von Equol, einem
hydrierten Metaboliten des Daidzein, gefunden (Abbildung 7.9). Ein weiteres
Phyto-Östrogen ist das Biochanin-A, ein 4’-Methylether des Genistein.
Daidzein kommt in der Wurzel der Pflanze Pueraria labata (Kudzu) als
7 b-Glucosid Daidzin vor. Es wird seit 600 v. Chr. in der chinesischen Medi-
zin zur Behandlung des Alkoholismus angewendet. Die Wirkung beruht auf
einer Hemmung der Alkohol-Dehydrogenase.
Neben den Isoflavonen kommt in der Luzerne noch ein weiteres Phyto-Östro-
gen vor, das Coumestrol. Seine Grundstruktur enthält die des C(o)umarins
und wird Coumestan genannt. Luzerne ist in Ergänzung zu Mais eine nähr-
stoffreiche Futterpflanze. Sie wird im Englischen nach einem Namen arabischen
Ursprungs Alfalfa (al fasfasa, Futter) genannt. Coumestrol kommt in Sprossen
von Rotem Klee (red clover), Sojabohnen und in Blättern von Kudzu vor. Es
7.4 Rückstände von hormonaktiven Stoffen 339



 
 



 

  
     
 








 



  


 
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Abbildung 7.9 Östrogen wirksame Substanzen. Phyto-Östrogene: Das Lignan Matairesinol


stellt die Vorstufe für das Enterolacton dar, das bakteriell im Colon gebildet wird. Das Ente-
rolacton entsteht analog aus Secoisolariciresinol. Genistein, Daidzein und dessen Metabolit
Equol gehören zu den Isoflavonen. b-Sitosterol ist in pflanzlichen Ölen enthalten, Coume-
strol wird in Luzerne gebildet. Zearalenon ist ein Myko-Östrogen aus Fusarium graminearum.
Zum Vergleich ist 17b-Estradiol (E2) als genuines Hormon gezeigt. Der Abstand der beiden
Hydroxylgruppen beträgt etwa 12 Å.

zeigt östrogene Wirkungen auf periphere östrogensensitive Gewebe. Die nor-


male Nahrung des Menschen enthält nur geringe Mengen davon. Zur Fütterung
von Tieren baut man Luzernevarietäten mit geringen Coumestrolgehalten an.
Ob Phytoöstrogene einen Schutz vor der Krebserkrankungen bieten oder selbst
eine solche Erkrankung fördern oder gar auslösen können, wird kontrovers
diskutiert.

7.4.6 Myko-Östrogene
Zearalenon (F2-Toxin) ist ein vom Schimmelpilz Fusarium graminearum ge-
bildetes Toxin mit einer deutlich östrogenen Wirkungskomponente. Es han-
340 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

delt sich um einen Vertreter der Resorcylsäurelactone (RAL), ein aus neun
Acetat-Resten gebildetes Polyketid (Abbildung 7.9). Insgesamt sind 13 ver-
schiedene Vertreter isoliert. Vom Pilz befallen sind hauptsächlich Gräser und
damit können alle Getreidefrüchte und daraus erstelltes Tierfutter das Toxin
enthalten. In Weizen, Gerste, und Mais findet man Konzentrationen zwischen
900 und 9000 mg/kg. Dies ist verglichen mit der akuten Toxizität (LD50 Ratte,
i. p. 5 g/kg KG) unbedenklich, obwohl die Verbindungen hitzestabil sind und
den Backprozess überstehen.
Gravierender in den Folgen ist die östrogene Wirkung des Zearalenons. Die
Verfütterung übermäßig kontaminierten Futters kann bei weiblichen Tieren
zu einer Vergrößerung der Genitalien und der Zitzen, einer Uterushypertro-
phie und einer Verminderung der Fertilität durch eine Ovarienatrophie führen.
Männliche Tiere feminisieren. Für das sehr schwer wasserlösliche Zearalenon
besteht ein carry-over-Effekt bei Kühen, die es mit dem aktiven Metaboliten
a-Zearalenol, der eine zehnfach stärkere östrogene Wirkung hat, in die Milch
ausscheiden. Bei Mädchen führt der Verzehr solcher Milch zu einer frühzeitigen
Geschlechtsreife, bei Frauen zu Störungen des Zyklus und bei Männern zu einer
Abnahme der Fertilität. Von Zearalenon, das an den intrazellulären Östrogen-
rezeptor bindet, sind mutagene, karzinogene und bei Ratten und Schweinen
teratogene Effekte beschrieben. Derivate des Zearaleons werden wegen ihrer
anabolen Wirkung in der Veterinärmedizin eingesetzt.

7.5 Biologische Nachweise von Substanzen östrogener


Wirkung

7.5.1 Rezeptorbindung (in vitro)

Im einfachsten Testsystem wird die Bindung der zu untersuchenden Substanz


an den Östrogenrezeptor bestimmt. Hierzu wird in der Regel das den Re-
zeptor enthaltende Protein bei 4 °C über 16 Stunden mit [3 H]-Östradiol in
Anwesenheit oder Abwesenheit verschiedener Konzentrationen der Testsub-
stanzen inkubiert. Nach der Einstellung eines Gleichgewichts der gegensei-
tigen Verdrängung und der Entfernung des nichtgebundenen Materials wird
das spezifisch gebundene [3 H]-Östradiol gemessen. Je geringer diese Menge
ausfällt, desto mehr hat die Testsubstanz am Rezeptor gebunden. Dies kann
eine Rezeptorblockade darstellen und eine anti-Hormonwirkung bedeuten. Mit
dieser Methode lassen sich nur rezeptorvermittelte Wirkungen finden.
7.5 Biologische Nachweise von Substanzen östrogener Wirkung 341

7.5.2 E-Screen-Assay

Östrogen-sensitive Zellen reagieren auf die Anwesenheit östrogenwirkender Stof-


fe mit einsetzender Zellvermehrung. Diese lässt sich leicht quantifizieren. In
dem als E-Screen bezeichneten Verfahren werden klonierte humane Brustkrebs-
zellen der Linie MCF-7 verwendet. Nach einer bestimmten Wachstumszeit
in Anwesenheit der potentiell östrogenen Testsubstanz, in Anwesenheit der
positven Kontrollsubstanz (meist Östradiol, E2) und in Abwesenheit jeglicher
Zusätze wird die Zellzahl gemessen.

Nach der Aussaat der Zellen wachsen diese innerhalb von 24 Stunden an. Durch
einen Mediumwechsel folgt danach die Inkubation mit den Testsubstanzen über
einen Zeitraum von sechs Tagen hinweg. Die östrogen wirkenden Verbindungen
werden in Konzentrationen von 1 nM to 10 mM, das Östradiol (E2) von 0,1 pM
bis 1 nM in Zehnerpotenzschritten eingesetzt. Die Zellen wachsen in dieser
Zeit in die späte logarithmische Phase hinein. Nach ihrer herbeigeführten Lyse
bestimmt man die Anzahl der Zellkerne in einem Coulter-Counter (Partikel-
zählgerät) und erhält eine Annäherung für die Verdopplungszeit (td, t2 ) der
Zellpopulationen. Deren genaue Bestimmung wäre aufwändiger, da dann meh-
rere Messungen der Zellzahl zu verschiedenen Zeitpunkten erforderlich sind.

100 100

Wirkungsstaerke (efficacy) %
75 75
n

h
Ph
stro

-NP
E2

T
’,4-B
S

D
&E

&E

&4
DE

50 50
’-D
’,6
E2

o,p
Zea

Cou
2’,4

25 25
Tx

0 0
0,1 1 10 100 1 10 100 1 10 100 1
pM nM uM mM
Wirksamkeit (potency)

Abbildung 7.10 Konzentrations-Wirkungskurven eines E-Screen-Assay in halblogarithmi-


scher Darstellung. DES = Diethylstilböstrol, E2 = Östradiol (schwarze Kurve), EE2 =
Ethinylestradiol, Zea = Zearalenon (Myko-Östrogen), 2’,4’,6’,4-BPh = 2’,4’,6’-Trichlor-4-
hydroxybiphenyl, Cou = Coumestrol (Phyto-Östrogen), 4-NPh = 4-Nonylphenol. Zwischen
den Kurven von o,p’-DDT = 2,4’-Dichlorphenyltrichlorethan und Txp = Toxaphen liegen
auch diejenigen der Substanzen Chlordecon, Endosulfan, Methoxychlor und Dieldrin. Für
die Strukturen siehe Abbildung 7.7, 7.8, 7.9 u. a.
342 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Die Auswertung unterscheidet zwischen der Wirkungsstärke (efficiency, effi-


cacy) und der Wirksamkeit (potency) einer östrogenen Aktivität (Wirkungs-
qualität). Die Wirkungsstärke wird an Hand der Proliferation gemessen und
gibt an, wie groß der eingetretene Effekt im Vergleich zur positiven Kontrolle
war. Diese Angabe wird in Prozent zur Kontrolle ausgedrückt. Die Wirksam-
keit dagegen gibt an, bei welcher Konzentration die Reaktion erfolgt, ob also
höhere oder geringere Konzentrationen im Vergleich zur positiven Kontrol-
le benötigt werden. Den Abstand zwischen den Konzentrationen gibt man als
deren Verhältnis an. Überspannen die verwendeten Konzentrationen viele Zeh-
nerpotenzen bietet sich eine logarithmische Darstellung an. Quotienten werden
dann zu Differenzen. Die Auswertung bietet ein klassisches Beispiel für eine
logarithmische Konzentrations-Wirkungskurve in der toxikologischen Analyse
(Abbildung 7.10, vgl. Abbildung 3.7). Manche Xeno- oder Phyto-Östrogene
erreichen in ihrer Wirkungsstärke nicht das 100 % Niveau. Hier liegt entwe-
der ein partieller Antagonismus oder der Einfluss einer zweiten Wirkung vor,
nämlich der der Toxizität.
An MCF-7 Zellen lässt sich eine Stimulation durch östrogen wirkende Sub-
stanzen auch anhand der Expression von östrogenresponsiven Genen wie der
des schnell ansprechenden pS2 Gens (trefoil factor 1, TFF1; Accession No.
X52003) nachweisen. Daneben gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, mit Hil-
fe der RT-PCR und cDNA microarrays die Expression anderer östrogen-
responsiver Gengruppen in verschiedenen Zellinien zu überprüfen. Diese Sys-
teme werden in der Diagnose von östrogen-sensitiven Tumorerkrankungen ver-
wendet.

7.5.3 Reportergensysteme für Östrogene


Die Expression eines Reportergens ist ein elegantes Verfahren den Indukti-
onsstatus einer Zelle nach Anwendung von östrogen wirksamen Substanzen
zu verfolgen. Hierzu kann man sich einer östrogen sensitiven Brustkrebszelle
MCF-7 bedienen. Sie ist von Natur aus mit dem human Estrogen Receptor
(hER) ausgestattet. Die Zelle ist nun zusätzlich mit einem transienten Re-
portergen infiziert, das in Anwesenheit von östrogen wirksamen Substanzen
exprimiert wird und zur Bildung eines Proteins mit enzymatischer Aktivität
führt. Meist handelt es sich bei dem Reportergen um das lacZ -Gen, welches
die b-Galactosidase kodiert. Das Enzym spaltet die chromogenen Substrate
Chlorphenolrot- oder 2-Nitrophenyl-b-Galactopyranosid.
Dieses Testprinzip kann auch mit Hilfe transfizierter Hefezellen (Saccharomy-
ces cerevisiae) im Recombinant Yeast Estrogen Assay verfolgt werden (Abbil-
dung 7.11). Die Hefezellen müssen allerdings, durch ein Plasmid (YEprtER)
7.5 Biologische Nachweise von Substanzen östrogener Wirkung 343

TS TL
rtER cDNA rtER mRNA rtER

E E
YEprtER
E
(8,4 kb) E

beta-Galactosidase
CYC1-P E E TATA CYC1 lacZ

Plasmid Genom ERE

Abbildung 7.11 Schema des Recombinant Yeast Estrogen Assay. Die rekombinante Hefe Sac-
charomyces cerevisiae exprimiert aus YEprtER den Östrogen-Rezeptor der Forelle (rtER =
rainbow trout Estrogen Receptor). In Anwesenheit eines Östrogens E kommt es zur Expressi-
on der b-Galactosidase, die vom lacZ-Gen codiert wird. TS: Transkription, TL: Translation,
ERE: Estrogen responsive elements.

mit einem Östrogenrezeptor-Gen von Mensch oder Regenbogenforelle (hER


oder rtER) ausgestattet, die Rezeptoren stabil exprimieren können. Das Hefe-
System beinhaltet ein im Genom nach dem CYC 1-Promoter integriertes Re-
portergen mit zwei östrogenresponsiven Elementen und dem lacZ -Gen (2ERE-
CYC 1-lacZ ).
Die Induktion des lacZ -Gens ist streng an die Anwesenheit des Östrogenre-
zeptors (ER) und eines Östrogens oder Mimetikums gekoppelt. Eine von der
exprimierten b-Galactosidase katalysierte Farbreaktion dient der Quantifizie-
rung.

7.5.4 Vitellogenin-Test (ex vivo)


In allen eierlegenden Wirbeltierspezies bietet sich an, eine östrogene Wirkung
von Substanzen über die Bildung von Vitellogenin (vitellum lat. Dotter) nach-
zuweisen. Vitellogenin ist der Vorläufer eines Dotterproteins, das nur von adul-
ten weiblichen Tieren unter Kontrolle von Östrogen während des Oozyten-
wachstums in der Leber gebildet wird. Ein Teil des Proteins ist phosphoryliert,
ein anderer mit Kohlenhydraten und Lipiden assoziiert. Es wird als Homodi-
mer aus zwei etwa 175 kD schweren Untereinheiten in das Blut abgegeben,
von den Eizellen aufgenommen und dort in zwei Lipovitelline und Phosvitin
gespalten. Xeno-Östrogene induzieren in juvenilen und männlichen Fischen
das Vitellogenin, welches als ein Indikator für eine Exposition gegenüber einer
östrogen wirksamen Substanz herangezogen werden kann.
Die Gewinnung der Plasmaproben ist kritisch, da Vitellogenin durch Abbau
leicht zerfällt. Die Spezifität der Erkennung des Vitellogenin beruht auf der
344 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

S S Substrat TMB

Streptavidin-Peroxidase Enzymkonjugat
Vitellogenin (biotinyliert oder nativ)

spezifische Vitellogenin Antikoerper

Beschichtungsantikoerper

Abbildung 7.12 Kompetitiver ELISA auf Vitellogenin. Beschichtungsantikörper halten die


gegen das Vitellogenin (VTG) spezifischen Antikörper auf der Unterlage. Die enzymkataly-
sierte Farbreaktion liefert um so höhere Farbkonzentrationen (S), je geringer die Konzen-
tration von nativem VTG in der Probe war. Die VTG-Plasmakonzentration lässt sich auch
in einem direkten Sandwich ELISA bestimmen.

Verwendung von Antikörpern, die gegen das Lipovitellin aus Eiern der Fo-
relle erzeugt wurden. Ausreichende Kreuzreaktionen erlauben die Quantifizie-
rung von Vitellogeninen auch anderer Fischarten. Der sog. Vitellogenin-Test
ist ein kompetitiver ELISA (enzyme linked immunosorbent assay). Das Vi-
tellogenin aus der Probe konkurriert mit einem vorgelegten, mit Biotin mar-
kierten Vitellogenin um eine begrenzte Anzahl von Bindungsstellen an spe-
zifischen Vitellogenin-Antikörpern, die ihrerseits auf einer Oberfläche haften.
Nach Einstellung des Gleichgewichts (2 Stunden) wird das ungebundene Mate-
rial weggewaschen. Das zugegebene Streptavidin-Peroxidase-Konjugat bindet
ausschließlich an das biotinylierte Vitellogenin und kann nach Entfernung des
Überschusses und Zugabe von Tetramethylbenzidin (TMB) über eine Farb-
reaktion quantifiziert werden (Abbildung 7.12).
Der Bestimmung von Vitellogenin kann auch als immunhistochemischer Nach-
weis geführt werden. Die Sichtbarmachung erfolgt dann über einen sekundären,
an Fluoresceinisothiocyanat (FITC) gekoppelten Antikörper nach Anregung
mit Licht im Fluoreszenzmikrosop. Versuche mit primären Leberhepatozyten
von Fischen können ebefalls genutzt werden, um eine Induktion von Vitello-
genin durch östrogen wirkende Substanzen auf zellulärer Ebene nachzuweisen.

7.5.5 Nagetiere (in vivo)


Sind östrogen wirkende Substanzen am Säugetier zu prüfen, können Nagetiere
verwendet werden. Hierfür werden unreife weibliche Tiere mit der Testsubstanz
behandelt und das Uterusgewicht gemessen. An männlichen Tieren kann die
Hodengröße und die Spermienzahl als Messparameter dienen. Es ist jedoch
darauf zu achten, dass die verschiedenen Inzuchtstämme unterschiedlich emp-
findlich auf Hormonwirkungen reagieren. Zum Beispiel sind Mäuse des Stam-
mes B6 empfindlicher gegenüber Östrogenmimetika als solche des Stammes
7.6 Toxizität technischer Produkte 345

CD-1. Die Auswahl des Stammes hat demnach große Auswirkungen auf die
Festlegung von Sicherheitsgrenzwerten.

7.6 Toxizität technischer Produkte

Selten laufen organisch-chemische Reaktionen vollständig ab, noch liefern sie


das gewünschte Endprodukt in reiner Form. Da die Abtrennung von Neben-
produkten aufwendig und kostenintensiv ist, unterbleibt sie häufig, und man
versucht technische Produkte direkt einzusetzen.
Weisen die Nebenprodukte dagegen eine biologische oder toxische Wirkkompo-
nente auf, können sogar von kleinen Anteilen schädliche Wirkungen ausgehen.
In diesem Zusammenhang war bereits auf die östrogene Wirkung des 2,4’-DDT
hingewiesen worden, das im 4,4’-DDT als Nebenprodukt (bis 20 %) enthalten
ist, und auf die Isomere des HCH. In viel geringerer Konzentration treten
TCDD und verwandte Verbindungen bei der Synthese von Derivaten chlor-
substituierter Phenole auf. Überschreitungen der optimalen Reaktionstempe-
raturen begünstigt die Bildung von Dioxinen oder Furanen. Bei der Herstellung
von Hexachlorophen, einem Hautdesinfizienz, war dies frühzeitig erkannt wor-
den. In der Reinheitsqualität von > 98 % enthielt es zwischen 15 und 100 mg
TCDD/kg. Von TCDD freie Substanz lässt sich jedoch durch die Anwendung
eines anderen Syntheseweges gewinnen.
Zur Behandlung des kreisrunden Haarausfalls (Alopecia areata) wird eine lo-
kale Behandlung der Kopfhaut mit Diphenylcyclopropenon (DCP) erfolgreich
angewendet (Abbildung 7.13). Die Therapie basiert auf einer Kontaktsensibi-
lisierung, die durch Auftragen logarithmisch steigender Konzentrationen bis
zu einer individuellen Schwelle erreicht wird. Zur Synthese des DCP gibt es
drei Verfahren, von denen eines eine im Ames-Test mutagene Zwischenver-
bindung entstehen lässt. Aus Gründen der Sicherheit sollte das am Menschen
angewandte DCP nicht nach diesem Verfahren hergestellt werden.
Die flüssigen perfluorierten Kohlenwasserstoffe Perfluoroctan und Perfluorde-
kalin hoher Dichte dienen bei der operativen Behandlung einer Netzhautablö-
sung am Auge als mechanisches Hilfsmittel, um die Netzhaut faltenfrei an
den Augapfel anzudrücken, damit sie dort fixiert werden kann. Die absolut
reinen Perfluorcarbone sind biologisch völlig inert. Dagegen enthalten tech-
nische Produkte, wie sie aus der Elektrofluorierung hervorgehen, eine Menge
von teilfluorierten und ungesättigten Verbindungen, die sich durch eine hohe
Gewebetoxizität auszeichnen. Die Rohprodukte sind daher vor einer medizini-
schen Anwendung zur Entfernung toxischer Beiprodukte einem mehrstufigen
Reinigungsverfahren zu unterziehen.
346 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

Seit langem ist bekannt, dass der Umgang mit Anilin neben der akuten Erzeu-
gung einer Methämoglobinämie langfristig Blasenkrebs, den sog. Anilinkrebs,
hervorruft. Diese karzinogene Wirkung scheint, wie sich durch Untersuchung
des Materials ergeben hat, nicht vom Anilin selbst, sondern von verschiedenen
karzinogenen Verunreinigungen wie b-Naphthylamin oder Benzidin ausgelöst
worden zu sein (vgl. Seite 359).
Auch in der Gewinnung von Naturstoffen ergeben sich ähnliche Probleme, da
Konzentrate manchmal biologisch hochaktive toxische Bestandteile in geringer
Menge enthalten, die vor einer Verwendung erst entfernt werden müssen. Als
Beispiele hierfür sollen das sensibilisierende Pyrethrosin, die phototoxischen
Furanocumarine und das toxische Glycoprotein Ricin im nativen Rizinusöl
erwähnt werden.
Die Synthese von Verbindungen mit chiralen Zentren erweitert das Spektrum
der möglichen Begleitprodukte in die andere Richtung. Während es sich bis-
her um geringe Mengen toxischer Verbindungen handelte, besteht mit jedem
chiralen Zentrum die Möglichkeit der Verdünnung der biologisch aktiven Sub-
stanz durch eine wirkungsärmere oder gar wirkungslose. Als Beispiel hierfür sei
an die Gruppe der Pyrethroide erinnert, die teilweise bis zu drei Chiralitäts-
zentren aufweisen. Wirkungsminderung macht in der Regel eine Erhöhung der
Dosierung erforderlich. Folge ist, dass unnötige Mengen wenig wirksamer enan-
tiomerer Biozide oder Arzneimittel durch Biotransformation abzubauen sind.

7.7 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen

Unter dem Begriff Gefahrstoffe sind nach §19(2) ChemG zusammengefasst:


Gefährliche Stoffe und Zubereitungen (§3a ChemG), explosionsfähige Stof-
fe, ungefährliche Stoffe, aus denen gefährliche Stoffe entstehen können, und
Materialien, die Krankheitserreger übertragen können. Die gefährlichen Stoffe
weisen eine oder mehrere der folgenden 15 Eigenschaften auf: explosionsgefähr-

 
  
 
 

 

Abbildung 7.13 Verbindungen, die mit toxikologisch bedenklichen Begleitstoffen verunreinigt


sein können. Diphenylcyclopropenon (DCP), Perfluordekalin oder andere Perfluorcarbone
wie Perfluoroctan (ohne Abbildung), Hexachlorophen (HCP).
7.7 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen 347

lich E, brandfördernd O, hochentzündlich F+ , leichtentzündlich F, entzündlich,


sehr giftig T+ , giftig T, gesundheitsschädlich Xn (noxious), ätzend C (caustic),
reizend Xi (irritant), sensibilisierend, krebserzeugend, fortpflanzungsgefähr-
dend, erbgutverändernd, umweltgefährlich N. X steht für das Symbol des An-
dreaskreuzes (Pestkreuz).
Auf eine Verringerung des Einsatzes und der eventuellen Entstehung von Ge-
fahrstoffen in Arbeitsabläufen wird in §16 GefStoffV nachdrücklich hingewie-
sen. Es besteht eine Pflicht zu ermitteln, ob Materialien mit einem geringeren

Tabelle 7.1 Substitution und Vermeidung von Gefahrstoffen.

Gefahrstoff Substitut
vermeidbare Gefahr bleibende Gefahr
Acrylamid Acrylamid 40%ig in Wasser
karzinogener Staub, Cat. 2, T karzinogener Stoff
Benzol Toluol
karzinogen, Cat. 1, F T schädlich
3-Chlorperbenzoesäure Mg-Monoperoxyphthalat
explosiv, E -
Diethylether tert.-Butylether
peroxidbildend, F+ -
Dimethylsulfat; Methyliodid Dimethylcarbonat
karzinogen, Cat. 2, T; Cat. 3, T+ schädlich
Fluor Xenondifluorid
korrosives Gas, T+ C Feststoff
Hexamethylphosphorsäuretriamid Dimethylethylenharnstoff
karzinogen, Cat. 2, T -
n-Hexan Cyclohexan, Heptan
toxischer Metabolit, F Xn -
Methanol Ethanol
toxisch, F T -
Perchlorsäure Trifluormethansulfonsäure
explosiv, brandfördernd, O C -
Phosgen, Carbonylchlorid Bis(trichlormethyl)-carbonat
(Triphosgen)
sehr toxisches Gas, T+ giftiger Feststoff
Schwefelwasserstoff Schwefel-Paraffin
sehr toxisches Gas, F+ T+ ungiftiger Feststoff
Tetrabutylammoniumperchlorat Tetrabutylammonium-
hexafluorphosphat
explosiv, E nicht explosiv
Xylole Neo-Clear®
hautresorptiv, Xn schädlich
348 Kapitel 7 Rückstände, technische Produkte und Gefahrstoffe

gesundheitlichen Risiko verfügbar sind, mit denen das angestrebte Ziel eben-
falls zu erreichen ist.
Ein allgemeines Konzept zur Reduktion des Risikos besteht darin, Gase, flüch-
tige oder leicht staubende Materialien möglichst durch Feststoffe oder Lösun-
gen zu ersetzen. Die Nutzung einiger Gefahrstoffe kann durch geschickte Wahl
von Verbindungen mit entweder geringerem toxischen Potential oder geringerer
physikalischer Gefährlichkeit vermieden werden, wie Tabelle 7.1 zeigt.
Die gesundheitsgefährdenden Eigenschaften verschiedener Lösungsmittel wur-
den ausführlich in Kapitel 5 besprochen. In den meisten Fällen lassen sich
solche Stoffe ohne Nachteile durch ein weniger gefährliches Substitut ersetzen.
8 Atemgifte
Christian Steffen

Die Atmung umfasst folgende drei Abschnitte: Die äußere Atmung, den Ga-
stransport im Blut und die innere Atmung. Zur äußeren Atmung gehört die
Aufnahme von O2 und Abgabe von CO2 durch die Lungen und damit einge-
schlossen die Gasdiffusion zwischen Lungenbläschen und Blut. Für den Ga-
stransport im Blut selbst ist besonders das Hämoglobin in den roten Blut-
zellen verantwortlich. Unter innerer Atmung versteht man den Gasaustausch
zwischen den peripheren Zellen und deren Flüssigkeit.
Atemgifte können sowohl den Mechanismus der äußeren Atmung blockieren,
mit dem Gastransport im Blut interferieren als auch die innere Atmung hem-
men.

8.1 Toxische Effekte auf die äußere Atmung

Eine Einteilung von gasförmigen Schadstoffen erfolgt nach ihrer Wasserlöslich-


keit, welche die Eindringtiefe in die funktionellen Abschnitte der Lunge be-
stimmt. Die drei Abschnitte sind der obere, der mittlere und der untere Re-
spirationstrakt (siehe Kapitel 2.1.4).
Schadstoffe mit großer Wasserlöslichkeit reagieren mit den feuchten Schleim-
häuten im Rachen sowie mit denen in der oberen Luftröhre und kommen
deswegen oft nicht weit über den oberen Respirationstrakt hinaus. Da-
zu gehören Acrolein, Ammoniak, Chlorwasserstoff, Dischwefelchlorid, Fluor-
wasserstoff und Formaldehyd (Tabelle 8.1). Dabei reagieren die Schleimhäute
des Auges, des Nasen-Rachenraumes und des Kehlkopfes äußerst empfind-
lich, während in den tieferen Abschnitten der Reiz und damit Warnwirkun-
gen fehlen. Die Substanzen können im oberen Respirationstrakt Entzündun-
gen, Verätzungen und Narbenbildung hervorrufen. Ammoniak bildet bei seiner
Lösung in Wasser kleine Mengen von Ammoniumhydroxid, das eine deutli-
che alkalische Wirkung entfaltet, worauf hauptsächlich sein toxischer Effekt
zurückzuführen ist. Typisch sind für Ammoniak ein Stimmritzenkrampf und
ein Kehlkopfödem.
350 Kapitel 8 Atemgifte

Im mittleren Respirationstrakt rufen Schadstoffe mit mittlerer Wasserlös-


lichkeit wie Brom, Chlor und Schwefeldioxid eine vermehrte Schleimabson-
derung mit Hustenreiz und Bronchokonstriktion hervor. Dies kann zu stärk-
ster Atemnot und reflektorischem Atemstillstand führen. Als Spätfolgen treten
Entzündungen der Bronchien und des Lungengewebes auf.

Ein Reizgas mit nur geringer Wasserlöslichkeit und lipophilen Eigenschaften


dringt bis tief in den unteren Respirationstrakt ein. Morphologisch ist das
der Abschnitt mit den kleinsten Bronchien, den Bronchioli respiratorii, und
den Lungenbläschen (Abbildung 2.5).

Dieser untere Abschnitt ist auch der empfindlichste Bereich der Lunge, der
mit allen Zeichen einer florierenden Entzündung reagieren kann. Dabei erzeugt
der chemische Reizstoff eine Erhöhung der Permeabilität der Epithelzellen des
Lungenendabschnittes und der angrenzenden Kapillargefäße. Als Folge tritt
Flüssigkeit in den Zwischenzellraum ein und die Epithelzellen schwellen an
(Ödem). Dies bewirkt in den Lungenbläschen eine Verlängerung der effekti-
ven Diffusionsstrecke für O2 und CO2 zum Blut und dadurch bedingt einen
verminderten Gastransport. Wegen der schlechteren Wasserlöslichkeit des O2
wirkt sich dies besonders auf die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins aus.
Der Vergiftete zeigt auf Grund der Sauerstoffuntersättigung des Hämoglobins
eine grau-blaue Hautfarbe (graue Zyanose). Mit zunehmender Kapillar- und
Gefäßerweiterung wird auch die Abdiffusion von CO2 erschwert und ein ver-
mehrter Flüssigkeitseinstrom in die Lungenbläschen füllt diese vollständig mit
Ödemflüssigkeit aus. Damit ist der lebensbedrohende Zustand des toxischen
Lungenödems erreicht. Als Beispiele für Substanzen gelten Cadmiumoxid,
Chlor, Ozon, Isocyanate, Phosgen und Stickstoffdioxid.

Wird das toxische Lungenödem überstanden, so kommt es zur Bildung bin-


degewebiger Narben in der Lunge. Die Funktionsfähigkeit der Atemoberfläche
wird dadurch irreversibel verkleinert. Im Frühstadien ist das Ausmaß der Lun-
genschädigung nur schwer zu beurteilen, es sollte darum bei den Vergifteten
jede körperliche Anstrengung vermieden werden. Ein toxisches Lungenödem
kann mit einer Latenz bis zu 24 Stunden nach der Vergiftung auftreten.

Für eine Vergiftung mit Phosgen ist eine Latenzperiode von mehreren Stunden
typisch. Unter quälendem Husten mit bräunlich-schaumigem Auswurf und zu-
nehmender Atemnot entwickelt sich danach rasch eine schwere Zyanose (blau-
rote Färbung von Haut und Schleimhäuten infolge Sauerstoffuntersättigung
des Hämoglobins). In vielen Fällen tritt in diesem Stadium des toxischen Lun-
genödems der Tod durch Ersticken ein. Mengen über 50 ppm Phosgen können
schon innerhalb weniger Minuten zum Tode führen.
8.1 Toxische Effekte auf die äußere Atmung 351

Tabelle 8.1 Übersicht über Lungenreizstoffe, ihren Wirkort im Lungenabschnitt und Auftreten
einer Latenz* bis zum Ausbruch der Erkrankung.

Respirationstrakt Beispiele von Substanzen


Oberer Acrolein, Ammoniak, Chlorwasserstoff, Dischwefelchlorid,
Fluorwasserstoff, Formaldehyd
Mittlerer Brom, Chlor und Schwefeldioxid
Unterer Cadmiumoxid, Chlor, Ozon*, Isocyanate, Phosgen*,
Stickstoffdioxid

Der genaue molekulare Wirkungsmechanismus des Phosgens ist unbekannt.


Es wird eine Reaktion mit Proteinen vermutet, die zum Absterben der Zellen
führt.
Eine spezifische Therapie des toxischen Lungenödems existiert nicht. Sie be-
schränkt sich lediglich auf symptomatische Maßnahmen, wie entzündungshem-
mende Glucocorticoid-Trockenaerosole, Sauerstoffzufuhr, Herz- und Kreislauf-
unterstützung und gegebenenfalls eine Verhinderung der Schaumbildung in der
Lunge.

8.1.1 Toxizität des Sauerstoffs


Sauerstoff ist zu 21 % als lebenswichtiges Element in der Luft enthalten, er kann
in höheren Konzentrationen auf die Lungen toxisch wirken. In der Lunge sind
eine Reihe von biologischen Systemen vorhanden, welche die Fähigkeit besit-
zen aus Sauerstoff zytotoxische Sauerstoffradikale zu produzieren, insbesondere
das Superoxid-Anion. Es entsteht als Nebenprodukt bei der mitochondrialen
Atmung und seine Bildung ist direkt proportional der Sauerstoffspannung.
Zu den Systemen gehören weiter die mikrosomalen Cytochrom P-450 Mo-
nooxygenasen, die Xanthinoxidase und die Prostaglandin-Synthase (siehe Ka-
pitel 2.5.1, Phase-I-Reaktion). Während der Phagozytose durch Granulozyten,
Monozyten und Makrophagen (Fresszellen) produziert die membrangebunde-
ne NADPH-Oxidase im Überschuss Superoxid-Anion-Radikale als toxisches
Instrument gegen Bakterien und Partikel. Sie entstehen auch bei einfachen
Autooxidationsvorgängen in der Zelle, z. B. unter Mitwirkung von Flavinen
oder Hydrochinonen. Diese Beispiele sind nicht vollständig, sie sollen nur auf
die vielseitigen Möglichkeiten zur Bildung dieser und anderer Sauerstoffradi-
kale in der Lunge hinweisen.
Das Superoxid-Anion kann entweder direkt toxisch auf Bestandteile der Zelle
wirken oder über spezielle Entgiftungsreaktionen des Stoffwechsels in weniger
reaktive Sauerstoffspezies umgewandelt werden. Die wichtigsten Enzymsyste-
352 Kapitel 8 Atemgifte

½ O 2 + H 2O

Katalase
. SOD
2 O2 + 2 H + O2 + H 2O2 2 GSH

GSH-POD

2 H 2O GSSG GSH

Protein-SH Protein-SSG

GSH GSSG GSH


Glutathion- Thiol-
Reduktase transferase

NADP+ NADPH + H +

Abbildung 8.1 Schema der enzymatischen Entgiftung von Superoxidanion (O·− 2 ) mit
Folgeprodukten. Superoxiddismutase (SOD), Glutathion-Peroxidase (GSH-POD), Gluta-
thion (GSH), Glutathiondisulfid (GSSG) und Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid-Phosphat
(NADP+ ).

me hierfür sind die Superoxid-Dismutasen, die Katalase und die Glutathion-


Peroxidase (Abbildung 8.1).
Die Superoxid-Dismutasen sind Metalloproteine, die das Superoxid-Anion in
sehr schneller Reaktion zu O2 und H2 O2 dismutieren. Das weniger toxische
H2 O2 kann durch die Katalase zu Sauerstoff und Wasser gespalten werden.
Die freien Radikale wie das Superoxid-Anion und das noch reaktivere Hydroxyl-
Radikal schädigen Zellmembranen und besonders Enzyme mit funktionellen
Sulfhydrylgruppen. Der Mechanismus einer Radikalschädigung der Zellmem-
bran wurde ausführlich bei den organischen Lösungsmitteln am Beispiel des
Tetrachlormethans dargestellt (Abbildung 5.8). Zum biologischen Monitoring
dieser Reaktionen dienen die Produkte der Lipidperoxidation: konjugierte Die-
ne, Malondialdehyd und in der Atemluft Ethan und Pentan. Außer den En-
zymen Superoxiddismutase, Glutathion-Peroxidase und Katalase bieten auch
Radikalfänger wie Vitamin E (a-Tocopherol) einen Schutz.
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut 353

Unter den Bedingungen der normalen Sauerstoffkonzentration in der Atem-


luft wird das Hämoglobin im Blut während seiner Lungenpassage nahezu
vollständig mit Sauerstoff gesättigt. Die Einatmung von reinem Sauerstoff
führt bei Tier und Mensch innerhalb von wenigen Tagen zu einer Lungenschädi-
gung. Zuerst werden die Endothelzellen der Kapillaren geschädigt, dann die
Lungenzellen, welche die Alveolen auskleiden, schließlich tritt ein Lungenödem
ein. Versuchstiere, die einige Tage bei einem Sauerstoffgehalt von 85 % gehal-
ten werden, entwickeln eine Toleranz gegenüber Sauerstoff. Dies geht mit einer
Erhöhung der antioxidativen Enzyme im Lungengewebe einher.
Ähnliches ist auch nach Gabe von a-Naphthylthioharnstoff (ANTU) zu beob-
achten (MAK-Wert 0,3 mg/m3 gemessen als einatembare Fraktion). Das Ro-
dentizid verursacht an Ratten ein Lungenödem. Eine Vorbehandlung der Tiere
mit sehr kleinen noch nicht toxischen Dosen bewirkt innerhalb von 24 Stunden
eine Toleranzentwicklung. Dann vertragen diese Tiere bis zum Hundertfachen
der üblichen tödlichen Dosis.
Andererseits führen zusätzliche oxidative Belastungen, wie die vermehrte Bil-
dung von Sauerstoffradikalen nach Paraquat, bereits durch normale Sauerstoff-
konzentrationen zu einer Lungenschädigung.

8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut

Die physikalische Löslichkeit von Sauerstoff in Blutplasma ist mit 3,2 ml O2


pro Liter Plasma gering, dagegen kann das in den roten Blutzellen enthalte-
ne Hämoglobin maximal 220 ml O2 pro Liter Erythrozyt binden. Aus diesem
Grund ist für eine effektive Sauerstoffversorgung der Peripherie der Transport
über die Bindung an Hämoglobin unerlässlich. Die O2 -Bindung erfolgt reversi-
bel an das zweiwertige Hämoglobin-Eisen (Hb Fe2+ · O2 oder kürzer Hb · O2 ).
Eine Beeinträchtigung des Transports führt zur Unterversorgung des Organis-
mus mit Sauerstoff.

8.2.1 Kohlenmonoxid

Eine der häufigsten Vergiftungen vor der Einführung des Erdgases (Methan)
war die Vergiftung durch Kohlenmonoxid (MAK-Wert 35 mg/m3 , 30 ppm) des-
sen Anteil im Leuchtgas bei 15 % lag. Als ubiquitär vorkommendes Molekül
löst es auch heute nicht selten Vergiftungen aus. Ursache hierfür können offene
Heizungen bei schlechter Luftzufuhr oder Autoabgase sein.
354 Kapitel 8 Atemgifte

Da die Affinität des Kohlenmonoxids zum Hämoglobin etwa 300-mal größer


ist als die des Sauerstoffs, reichen niedrige Kohlenmonoxidkonzentrationen
aus, um einen großen Teil des Hämoglobins in Carboxyhämoglobin (Hb · CO)
umzuwandeln. 100 pp CO in der Luft führen zu 15 % Hb · CO, 1000 ppm zu
mehr als 60 % Hb · CO. Ist das Gesamthämoglobin bereits durch eine Blutar-
mut (Anämie) vermindert, treten toxische Effekte schon bei niedrigeren CO-
Konzentrationen auf. Entscheidend für das Auftreten der Vergiftung ist das
noch verfügbare Oxyhämoglobin (Hb · O2 ).
Zeichen des Sauerstoffmangels im Gewebe sind Kopfschmerzen, Schwindel,
Schwäche, Sehstörungen und Übelkeit. Es kommt weiter zu einer Steigerung
der Atmung, die schließlich in eine Atemlähmung übergeht. Außerdem treten
Bewusstseinstrübungen und Krämpfe durch den Sauerstoffmangel im Gehirn
ein und der Kreislauf versagt. Als äußeres Zeichen ist die kirschrote Farbe
der Haut kennzeichnend für eine Vergiftung mit Kohlenmonoxid. Betragen die
Konzentrationen an Kohlenmonoxid in der Atemluft 1 % und mehr, tritt Tod
durch fehlenden Sauerstoff (Anoxie) in wenigen Minuten auf. Die Geschwindig-
keit der Vergiftung ist dabei nicht nur von der Konzentration in der Atemluft
abhängig, sondern auch von der körperlichen Belastung, da ein höheres Atem-
minutenvolumen auch zu einer schnelleren Sättigung des Blutes mit Kohlen-
monoxid führt.
Die Therapie der Kohlenmonoxid-Vergiftung besteht in der Zufuhr von Frisch-
luft bzw. von reinem Sauerstoff, ggf. unter Überdruck (Gefährdung des Hel-
fers und eine mögliche Explosionsgefahr). Günstig ist auch die Steigerung der
Spontanatmung durch Anwendung von Sauerstoff, dem 5 % Kohlendioxid bei-
gemischt sind (Carbogen® ). Durch eine intensive Beatmung mit normobarem
Sauerstoff kann Kohlenmonoxid mit einer Halbwertszeit von ca. 60 bis 80 Mi-
nuten ausgeschieden werden, so dass sich eine Überdruckbeatmung allein aus
zeitlichen Gründen in den meisten Vergiftungsfällen erübrigt.
Eine bei der Vergiftung entstehende Acidose darf dabei nicht übersehen werden
und muss frühzeitig behandelt werden.

8.2.2 Methämoglobinbildner
Wird das zweiwertige Eisen des Hämoglobins (Hb) oxidiert, so entsteht Met-
hämoglobin (Met-Hb, früher Hämiglobin). Letzteres bindet keinen Sauerstoff,
da das Eisen mit Wasser als sechstem Liganden koordinativ besetzt ist (Hb
Fe3+ · H2 O). In den roten Blutzellen reduzieren verschiedene Enzyme, vor al-
lem die Methämoglobin-Reduktase, das anfallende Methämoglobin zu funk-
tionstüchtigem Hämoglobin, so dass im Blut der Anteil an Methämoglobin
normalerweise nicht über 1 % ansteigt. Die Energie für die Reduktion wird
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut 355

durch aktive Stoffwechselleistungen der Glycolyse und des Pentoseabbauweges


in den Erythrozyten bereitgestellt. Beim Glucoseabbau entstehen ATP und
Reduktionsäquivalente in Form von NADPH und NADH.
ATP wird für die Kationenpumpen (Na+ -K+ -ATPase, Ca2+ -ATPase) und zur
Aufrechterhaltung der Membranstruktur benötigt, NADPH ist unter anderem
notwendig, um mit Hilfe der Glutathion-Reduktase Glutathion zu regenerieren
(Abbildung 8.1). Glutathion ist das wichtigste Antioxidans der roten Blutzel-
len, das als Coenzym bei der Reduktion von Methämoglobin wirkt. Weiterhin
dient NADH zur Reduktion von Methämoglobin durch die Methämoglobin-
Reduktase in folgendem Reaktionsablauf:

4 Hb[Fe3+ ] + 2 NADH → 4 Hb[Fe2+ ] + 2 NAD+ + 2 H+

Diese wenigen Aufzählungen aus dem Stoffwechsel der roten Blutzellen sollen
darauf hinweisen, wie komplex die zentrale Funktion des Sauerstofftransports
geregelt ist. Im Prinzip ist jeder hemmende Eingriff in den Stoffwechsel und
jede Störung der Barrierefunktion der Membran mit einer vermehrten Bildung
von Methämoglobin verbunden. Unter diesem Aspekt ist die Zuordnung der
Substanzen zu den direkten und indirekten Methämoglobin-Bildnern
außerordentlich schwierig. Letztere sind erst nach einer Biotransformation hier-
zu in der Lage.
Eine Methämoglobinämie äußert sich in einer blaugrauen Färbung der Haut.
Ein Anteil von 10 % Methämoglobin ist bereits deutlich sichtbar, ab 30 bis
40 % treten Kopfschmerzen und Atemnot auf und mehr als 70 % sind tödlich.
Die physiologische Methämoglobin-Reduktase hat eine begrenzte Kapazität
und kann eine toxische Methämoglobinämie nur sehr langsam korrigieren.

8.2.2.1 Direkte Methämoglobinbildner

Chlorate oxidieren das Eisen des Hämoglobins. Dabei beschleunigt das ent-
stehende Methämoglobin die Reaktion autokatalytisch. Parallel zur Bildung
des Methämoglobins erfolgt auch ein Absinken der Glutathion-Konzentration,
eine Vernetzung der Membranproteine, eine Abnahme der Verformbarkeit der
Zellen, die für einen Durchtritt durch die engen Kapillaren notwendig ist, und
eine Zunahme der Kationenpermeabilität der Membranen. Diese wenigen Ef-
fekte zeigen schon, wie schwierig es ist, die eigentliche Ursache für die Bildung
von Methämoglobin an roten Blutzellen herauszufinden.
In die gleiche Gruppe werden auch Perchlorate, Nitrit, H2 O2 , Kaliumhexacya-
noferrat(III), Chromat, Kupfer(II)-Salze, Hydroxylamin, NO, NO2 , Stickstoff-
trifluorid, Tetranitromethan, Chinone und chinoide Substanzen eingeordnet.
356 Kapitel 8 Atemgifte

Therapeutische Überdosierungen mit Vitamin K3 (Menadion) produzieren ne-


ben einer Methämoglobinämie eine Hämolyse. Wählt man das H2 O2 aus der
obigen Gruppe aus und betrachtet seine vielfältigen toxischen Effekte auf die
roten Blutzellen, so findet man neben Methämoglobin auch andere Hämo-
globinoxidationsprodukte wie Verdoglobin (Aufspaltung des Tetrapyrollringes
des Hämoglobins führt zum Verdoglobin). Mit zweiwertigem Eisen bildet sich
das hochtoxische Hydroxyl-Radikal (OH• ), und es treten Membrandefekte bis
zur Hämolyse auf. Daraus gewinnt man den Eindruck, dass bei der toxischen
Wirkung von H2 O2 die direkte Methämoglobinbildung sicherlich nicht im Vor-
dergrund steht.

Die Bildung von Methämoglobin mit Nitrit verläuft in Abwesenheit und in


Anwesenheit von Sauerstoff nach unterschiedlichen Mechanismen. Unter ex-
perimentellen anaeroben Bedingungen erzeugt ein Mol Nitrit jeweils ein Mol
Methämoglobin und Nitroso-Hämoglobin (Hb · NO). Unter aeroben, physio-
logischen Verhältnissen wird parallel zur Oxidation von Nitrit zu Nitrat auch
oxygeniertes Hämoglobin (Hb · O2 ) in Methämoglobin umgewandelt. Diese Re-
aktion, deren genauer Mechanismus noch nicht bekannt ist, wird als gekop-
pelte Oxidation bezeichnet. Die Summenreaktion lässt sich folgendermaßen
darstellen:

NO−
2 + Hb Fe
2+
· O2 + H2 O → NO−
3 + Hb Fe
2+
+ H2 O2

Hb Fe2+ + H2 O2 → Hb Fe3+ · OH− + OH•

Nitrate können durch Mikroorganismen, die im menschlichen Darm reich-


lich vorkommen, in Nitrit umgewandelt werden. Aus diesem Grunde zählt
man auch Nitrate zu den Methämoglobinbildnern. Besonders gefährdet sind
Säuglinge, die eine hohe Darmbakterienaktivität aufweisen. Durch nitratrei-
che Brunnenwasser oder nitratgedüngte Gemüse besteht die Gefahr, dass sie
an einer Methämoglobinämie erkranken.

Vor über 1000 Jahren wurde zur Konservierung des Fleisches das Prinzip des
Pökelns“ erfunden. Dabei wird Fleisch mit einem Gemisch aus NaCl, NaNO2

und NaNO3 behandelt. Seine Hauptwirkung besteht im Abtöten von Bakte-
rien, welche Fleischvergiftungen verursachen. Als Wirkungsmechanismus wur-
de die Freisetzung von NO aus NaNO2 erkannt. NO bindet an funktionelle
Proteine der Bakterien und tötet sie ab. Als Nebenwirkung resultiert die Bin-
dung von NO an Hämoproteine, die das gepökelte Fleisch rot und damit frisch
aussehen lassen.
8.2 Toxische Effekte auf den Gastransport im Blut 357

8.2.2.2 Indirekte Methämoglobinbildner

Nicht nur aus Nitrit entsteht NO, sondern auch aus den sog. organischen Nitra-
ten wie Glycerintrinitrat (Nitroglycerin), Isorbit-2,5-dinitrat, Isosorbitendo-5-
mononitrat, Pentaerythritoltetranitrat und aus Amylnitrit, einem organischen
Nitrit.
Durch metabolische Reaktionen kommt es zu einer Freisetzung von NO. In der
Medizin werden Nitrate“ wegen der schnellen gefäßerweiternden Wirkung des

entstehenden NO, besonders bei Verengung der Herzkranzgefäße therapeutisch
genutzt. Mit Hämoglobin erzeugt NO ein instabiles Nitroso-Hämoglobin, wel-
ches schnell in Methämoglobin übergeht. Nach therapeutischer Anwendung
werden jedoch keine toxikologisch relevanten Mengen an Methämoglobin ge-
bildet. Dagegen wurde bei exzessivem Inhalieren (Schnüffeln) von Amylnitrit,

NO 2
+++ -
HbFe OH + OH
Reduktion

NO ++
6-Phospho- NADPH HbFe + H2O 2
gluconat + H+

G6PDH Diaphorase

Glucose-
+ ++
6-phosphat NADP NHOH HbFe O2

Oxidation

NH2

Abbildung 8.2 Schema der gekoppelten Oxidation (Co-Oxidation) von Hämoglobin


(HbFe++ · O2 ) zu Methämoglobin (HbFe+++ · OH− ) durch Phenylhydroxylamin im Kiese-
Zyklus. Das entstehende Nitrosobenzol wird durch eine NADPH-abhängige Diaphorase wie-
der zu Phenylhydroxylamin reduziert. Dieser Kreisprozess kann mehrere Mole Hämoglobin
oxidieren. Die Regeneration des NADPH erfolgt über die Glucose-6-Phospat-Dehydrogenase
(G6PDH) im Pentosephospat-Weg.
358 Kapitel 8 Atemgifte

Isoamylnitrit und Butylnitrit eine Methämoglobinämie beschrieben. Auch Ar-


beiter der Sprengstoffindustrie leiden an dieser Erkrankung. Als typisch indi-
rekte Methämoglobinbildner gelten die aromatischen Nitro- und Aminoverbin-
dungen. Sie werden im Organismus durch Oxidation oder Reduktion in die
gemeinsame Wirkform, ein Hydroxylamin, umgewandelt (Abbildung 8.2). Die
Oxidation von Hämoglobin zu Methämoglobin vollzieht sich in einem Kreispro-
zess, der nach seinem Entdecker Manfred Kiese Kiese-Zyklus“ benannt ist.

Hier wird das Phenylhydroxylamin zu Nitrosobenzol oxidiert, einem der stärk-
sten indirekten Methämoglobinbildner.
Da die metabolische Aktivierung der aromatischen Amino- und Nitroverbin-
dungen Zeit benötigt und der Kreisprozess lange anhält, unterscheidet sich die
Kinetik grundsätzlich von der Kinetik der sog. direkten Methämoglobinbild-
ner. Bei Nitraten wird die Anfangsgeschwindigkeit von der schnellen Resorpti-
on, und das Abklingen von der Kapazität der Methämoglobin-Reduktase be-
stimmt. Zu den Verbindungen, die nach metabolischer Aktivierung Methämo-

Methylenblau H
N N

(H3C)2N S - N(CH3) 2 (H3C)2N S N(CH3) 2


Cl

oxygeniertes ++ +++ -
Hämoglobin HbFe O 2 HbFe OH Methämoglobin

NADP
+ NADPH + H+

H
N N

(H3C)2N S N(CH3) 2 (H3C)2N S N(CH3) 2


-
Cl
Leukomethylenblau

Abbildung 8.3 Schema der zweifachen Wirkung von Methylenblau auf Hämoglobin. Erstens
wird die Bildung von Methämoglobin durch die Reduktion von Methylenblau zu Leukomethy-
lenblau bewirkt. Zweitens: Förderung der Rückbildung von Methämoglobin über eine Kopp-
lung an das NADPH-System.
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung 359

globin bilden, gehören gewerbliche Gifte und Medikamente. Im einzelnen sind


dies Anilin, Chloranilin, Nitroanilin, Toluidin, Xylidin, Benzidin, Naphthyla-
min, Azofarbstoffe, Nitrobenzolderivate und Trinitrotoluol. Als Medikamente
sind zu nennen Sulfonamide, Primaquin, Phenazopyridin, Nitrofurantoin, Me-
toclopramid, Procain, Benzocain, Acetanilid und Phenacetin.
Zur Therapie der Methämoglobinämie werden Redoxfarbstoffe eingesetzt. Ei-
ne erhebliche Steigerung der Reduktionsgeschwindigkeit des Methämoglobins
kann durch intravenöse Gaben von Methylenblau (Abbildung 8.3), Toluidin-
blau oder Thionin erzielt werden.
Diese Redoxfarbstoffe übertragen Reduktionsäquivalente von NADPH auf Met-
hämoglobin bis zu einem Redoxgleichgewicht, das bei etwa 10 % Methämoglo-
bin erreicht ist. Methylenblau hat deshalb zwei verschiedene Wirkungen: Beim
Gesunden ist es ein schwacher Methämoglobinbildner und beim Vergifteten
senkt es schnell zu hohe Konzentrationen an Methämoglobin auf nicht mehr
bedrohliche ab. Voraussetzung für die Wirkung dieser Redoxfarbstoffe ist eine
funktionsfähige Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase.
Wird eine Methämoglobinämie durch Chlorat hervorgerufen, führt eine schnel-
le Inaktivierung der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase in den roten Blutzel-
len zur Unwirksamkeit einer Therapie mit Methylenblau.

8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung

8.3.1 Vergiftung durch Cyanwasserstoff (Blausäure)

Am Endpunkt der Atmungskette in den Mitochondrien steht die Reduktion


von Sauerstoff durch die Cytochrom-c-Oxidase (Cytochrom a3 ). Dieses Pro-
tein enthält im Enzymkomplex 2 Hämeisen und zwei Kupferatome an die sich
Cyanid jeweils binden kann. Entscheidend ist jedoch für den komplizierten
Mechanismus, dass sich das Cyanid-Anion mit hoher Affinität an dreiwerti-
ges Eisen bindet und somit die Funktion der inneren Zellatmung blockiert.
Der einsetzende Energiemangel im Gehirn führt zu Bewusstseinsverlust und
Krämpfen, bei höheren Cyanid-Dosen kommt es zum Funktionsausfall anderer
Organe und zum Herzstillstand. Auch Enzyme wie die Carboanhydrase, die zur
schnellen Bildung von Hydrogencarbonat erforderlich ist, werden durch Cya-
nid gehemmt. Bei der Cyanidvergiftung wird die Atmung zunächst forciert und
das Blut zeigt eine hellrote Farbe infolge des fehlenden Sauerstoffverbrauchs
an.
360 Kapitel 8 Atemgifte

Carl Wilhelm Scheele isolierte erstmals die leicht flüchtige Blausäure aus Ber-
liner Blau (Preußischblau, Fe4 [Fe(CN)6 ]3 ). Er starb an einer inhalativen Blau-
säurevergiftung, als er eine Phiole mit HCN zerbrach.
Zahlreiche Pflanzen enthalten Inhaltsstoffe, aus denen Blausäure metabolisch
freigesetzt werden kann. Es sind meist cyanogene Glycoside, wie sie in Bit-
termandeln, Aprikosen und im Kirschlorbeer vorkommen. Im medizinischen
Bereich sind Natriumprussid und Amygdalin als Ursachen von Cyanidvergif-
tung beschrieben worden.
Todesfälle werden meist durch Inhalation von Blausäure in der chemischen
Industrie, bei der Schädlingsbekämpfung oder durch Verschlucken von Cya-
niden verursacht (MAK-Wert 2,1 mg/m3 , 1,9 ppm). Durch die Magensäure
(pH≈1) wird aus den Cyaniden sehr schnell die frei diffusible Blausäure ge-
bildet. Rauchgase können ebenfalls bei Verbrennung von Polyacrylnitril und
Polyurethanschaum erhebliche Mengen von Blausäure enthalten.
Die tödliche Dosis beträgt 1–2 mg/kg Körpergewicht, durch die Inhalation von
Konzentrationen von 300 bis 500 ppm tritt der Tod in wenigen Minuten ein.
Auch eine Vergiftung durch Aufnahme über die Haut ist möglich.
Der Körper entgiftet Cyanid langsam durch Bildung von Thiocyanat (Rho-
danid), das im Urin ausgeschieden wird. Seine Bildung durch das mitochon-
driale Enzym Rhodanese in Leber und Niere beträgt beim Erwachsenen etwa
2 mmol/min. Begrenzt wird die Reaktion durch die Verfügbarkeit von Schwefel,
so dass die Entgiftung von Cyanid durch die Zufuhr von Natriumthiosulfat,
dem bisher wirksamsten Schwefeldonator, erheblich gefördert werden kann.
Die Komplexierung von Cyanid an dreiwertiges Eisen wird durch Oxidation des
Eisens im Hämoglobin und Myoglobin therapeutisch ausgenutzt. Letztere lässt
sich durch Inhalation von Amylnitrit oder als Gabe von Natriumnitrit bzw.
4-Dimethylaminophenol auslösen. Eine Abdissoziation des Cyanids von der
Cytochrom-c-Oxidase erfolgt, wenn das dreiwertige Eisen im Methämoglobin
im Überschuss vorliegt. Das im Gleichgewicht entstehende Cyan-Methämoglo-
bin lässt jedoch Cyanid langsam wieder frei, welches enzymatisch über Tage
hinweg zu Rhodanid (Thiocyanat) umgewandelt und über die Niere ausgeschie-
den wird. Seine Toxizität beträgt nur etwa ein Zehntel der des Cyanids. Wird
eine Vergiftung überlebt, bleiben im Gegensatz zu der mit Kohlenmonoxid in
der Regel keine Schäden zurück.
Andere therapeutische Möglichkeiten der Komplexbildung von Cyanid haben
sich nicht bewährt wegen zu großer Nebenwirkungen oder Interferenzen mit der
therapeutischen Zufuhr von Natriumthiosulfat. Dazu gehört die Gabe von Di-
Kobalt-EDTA und Hydroxocobalamin (Vitamin B12a ). Das erste verursacht
eine drastische Senkung des Blutdruckes und der Hirndurchblutung und er-
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung 361

Cytochrom-c-Oxidase
+++
Cytochrom a3 Fe CN-
Rhodanese SO3--
-
CN + Thiosulfat +
-
Zelle SCN

Blutplasma
Erythrozyt
Plasmaproteine
4-DMAP binden ca. 60% CN-
++ +++
HbFe HbFe
- -
CN CN
+++ -
HbFe CN

Urin -
CN
- SCN

Abbildung 8.4 Reaktion mit der Ferriform des Cytochrom a3 und Blockade der Cytochrom-
c-Oxidase durch Cyanid. Die Blockade kann durch therapeutische Maßnahmen aufgehoben
werden. Im quantitativ wichtigsten Schritt wird aus Cyanid und verabreichtem Thiosul-
fat durch Rhodanese Thiocyanat gebildet und im Urin ausgeschieden. Ein weiterer wich-
tiger Schritt ist die Umwandlung von Hämoglobin durch z. B. 4-Dimethylaminophenol (4-
DMAP) in Methämoglobin, HbFe+++ (ca. 30 %). Das dreiwertige Eisen im Methämoglobin
bindet zwar Cyanid mit geringerer Bindungskonstante als die Cytochrom-c-Oxidase aber
das Methämoglobin ist in so hohem Überschuss vorhanden, dass dadurch eine entscheiden-
de Entlastung herbeigeführt wird. Die Bindung von Cyanid an Methämoglobin oder an die
Cytochrom-c-Oxidase ist reversibel.

zeugt außerdem wie die Cyanidvergiftung eine Lactazidose. Das zweite The-
rapiekonzept ist wegen des hohen Molekulargewichtes des Hydroxocobalamins
nur schlecht realisierbar, da mehrere Gramm davon in einem großen Infusions-
volumen schnell verabreicht werden müssten. Außerdem dürfen Hydroxocoba-
lamin und Natriumthiosulfat nicht zusammen appliziert werden, da sich ein
Hydroxocobalamin-Thiosulfat-Komplex bildet, der Cyanid nicht bindet.
Cyanidvergiftungen können innerhalb von Minuten tödlich sein. Wenn von der
Gegenwart cyanidhaltigen Materials auszugehen ist und Zeichen einer schwe-
362 Kapitel 8 Atemgifte

ren Atemnot vorliegen, sollte man, auch wenn keine Zyanose vorliegt, eine
Cyanidvergiftung annehmen.
Bei Verdacht ist die unverzügliche Gabe reinen Sauerstoffs entscheidend.
Tierversuche haben ergeben, dass eine Sauerstoffbeatmung die Toxizität von
Cyanid vermindert. Außerdem wird die Wirksamkeit der nachfolgenden The-
rapie mit Natriumthiosulfat verbessert.
Bei Vergiftungszeichen sollte der Arzt sofort mit Antidota wie folgt behandeln:
4-Dimethylaminophenol (4-DMAP) intravenös injizieren. Wenn 4-DMAP
nicht zur Verfügung steht, sollte sofort Natriumnitrit intravenös infundiert
werden. Eine Blutdrucküberwachung ist dabei unbedingt notwendig. Das ge-
legentlich empfohlene Amylnitrit ist wegen seiner hohen Flüchtigkeit schwer
zu dosieren, es bildet nur unsicher Methämoglobin und senkt ebenfalls den
Blutdruck.
Anschließend sollte – egal, ob 4-DMAP oder Natriumnitrit gegeben wurde –
eine Natriumthiosulfat-Lösung infundiert werden.
Die durch Cyanidvergiftung ausgelöste Lactacidose (pH-Wert unter 7,2) erfor-
dert eine möglichst frühzeitige Acidose-Korrektur mit Natriumhydrogen-
carbonat-Infusion.
Bei einer Mischintoxikation mit Cyanid und Kohlenmonoxid ist die therapeu-
tische Methämoglobinbildung nicht geeignet, weil die Sauerstofftransportka-
pazität des Blutes nur weiter vermindert würde. Hierbei könnte Hydroxo-
cobalamin das Mittel der Wahl sein, da im allgemeinen auch die eingeatmeten
Cyanidmengen klein sind.

8.3.2 Vergiftung durch Schwefelwasserstoff


Schwefelwasserstoff ist ein intensiv riechendes Gas, dessen Geruchsschwelle
sehr niedrig liegt und deshalb bereits ab 0,025 ml/m3 wahrgenommen wird.
Der stark faulige Geruch, der schon weit unterhalb der toxischen Konzentration
gerochen wird, hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass dieses hochwirksame
Gift relativ selten zu Vergiftungen führt.
Das farblose, brennbare Gas hat eine hohe Dichte von 1,19 und reichert sich
dementsprechend bei geringer Luftbewegung am Boden an. Es entsteht bei
der Einwirkung starker Säuren auf Schwermetallsulfide und bei der Zersetzung
von schwefelhaltigen Aminosäuren durch Fäulnisbakterien. Aus diesem Grunde
findet man hohe Konzentrationen davon in Jauchegruben, Abwasserleitungen
und bei der Verarbeitung von Proteinen in Fabrikabwässern. Weiterhin ent-
steht H2 S bei der Verhüttung von schwefelhaltigen Erzen, bei der Herstellung
von Viskose und Zellstoff und in der Erdölraffinerie. Das Gas wird in Koh-
8.3 Toxische Effekte auf die innere Atmung 363

lengruben und Schwefelminen freigesetzt und ist in bestimmten Erdgasquellen


Kanadas und Südwestfrankreichs mit mehr als 15 % enthalten.
Eine besondere Gefahr liegt darin, dass H2 S bei sehr hohen Konzentrationen
über 200 ml/m3 nicht mehr wahrgenommen wird. Vermutlich ist bei solchen
Konzentrationen das Geruchssystem gelähmt. Aus diesem Grunde gelten H2 S-
Vergiftungen als heimtückisch. Sie ereignen sich bei der Reinigung oder Inspek-
tion von Klärgruben und haben schon häufig zu tödlichen Unfällen geführt. Bei
der Bergung der Vergifteten müssen die Retter zum Selbstschutz Atemmasken
oder noch besser Atemgeräte tragen. Außerdem sollte der Retter angeseilt sein.
Akute Vergiftungen erfolgen bei H2 S-Konzentrationen von 10 bis 50 ml/m3 .
Auf eine Reizung der Augenbindehaut und der Atemwege folgt eine Vertiefung
der Atembewegung. Bei höheren Konzentrationen tritt eine Atemlähmung und
ein Bewusstseinsverlust auf. Extrem hohe Konzentrationen über 1000 ml/m3
führen nach wenigen Atemzügen zu Krampfanfällen und zum schnellen Tod.
Als Spätfolgen gelten Atemnot, Lungenentzündung und eventuell ein Lun-
genödem sowie Herzmuskelschädigungen. Bei der Kunstfaserherstellung wur-
den chronische Schädigungen der Hornhaut der Augen beobachtet. Wie bei der
Kohlenmonoxid- und der Cyanid-Vergiftung kann nach einer H2 S-Exposition
ein Sauerstoffmangel im Gehirn und am Herz eintreten mit entsprechenden
Spätfolgeschäden für diese Organe.
Der Wirkungsmechanismus des H2 S ist nicht eindeutig geklärt. Als wichtig-
ster Beitrag zu seiner toxischen Wirkung wird wie bei Cyanid die Blockade
der Cytochrom-c-Oxidase durch das Hydrogensulfid (HS− ) gesehen. Außerdem
werden aufgrund der Lipophilie und der Reaktivität des Schwefels mit Disul-
fidbrücken oder Schwermetallen weitere enzymatische Reaktionen gehemmt,
so dass toxische Effekte auf vielen Ebenen in Erscheinung treten.
Schwefelwasserstoff wird im Organismus über Schwefel, Thiosulfat und Sulfit
zu Sulfat oxidiert und dann über die Nieren ausgeschieden. Bei seiner Oxidati-
on spielen Hämoproteine, darunter das Oxy-Hämoglobin der roten Blutzellen,
eine Sulfid-Oxidase, Glutathion und eine Sulfit-Oxidase eine wichtige Rolle.
Ähnlich wie Cyanid, jedoch mit einer geringeren Affinität, bindet Hydrogen-
sulfid an das dreiwertige Eisen des Methämoglobins und bildet Sulfmethämo-
globin. Der im Vergleich zum Cyanid geringere Affinität des Hydrogensulfids
steht ein höherer Dissoziationsgrad des H2 S gegenüber, das bei physiologi-
schem pH-Wert von 7,4 zu zwei Dritteln als Hydrogensulfid vorliegt, während
nur rund 2 % HCN zu CN− dissoziiert sind.
Therapie: Da die Vergiftung mit H2 S weitgehend reversibel ist, sollte der
Vergiftete so schnell als möglich aus der H2 S-Atmosphäre gebracht werden.
Dabei ist es wichtig, dass der Retter sich mit Atemmaske oder Sauerstoff-
364 Kapitel 8 Atemgifte

gerät schützt. Bei spontaner Atmung des Vergifteten wird H2 S rasch aus dem
Körper eliminiert und es kommt zur schnellen Erholung. Die Beatmung mit
100 % Sauerstoff beschleunigt ganz wesentlich diesen Prozess. Ein Arzt soll-
te gegebenenfalls eine Azidosebehandlung sowie eine Lungenödemprophylaxe
durch Inhalation eines Glucocorticoids als Aerosol einleiten. Der Einsatz von
Methämoglobinbildnern zeigt keinen sichtbaren Erfolg bei dieser Vergiftung
(siehe Kapitel 8.3.1).
9 Karzinogenese
Achim Aigner

9.1 Krebserkrankungen

Krebs zählt subjektiv zu den am meisten gefürchteten Krankheiten und ob-


jektiv zu den größten Problemen in der modernen Medizin. Dies beruht zum
einen darauf, dass nur ein Teil der Erkrankungen geheilt werden kann, und zum
anderen auf dem hohen Leidensdruck, verbunden mit dem Gefühl, einem unwi-
derruflichen Schicksal ausgeliefert zu sein. Durch Fortschritte in der Medizin,
sowohl bezüglich Früherkennung als auch Therapie, sind die Überlebenschan-
cen bei vielen Krebsarten gestiegen, und die Diagnose Krebs bedeutet nicht
mehr grundsätzlich den sicheren Tod. Dennoch ist Krebs in den westlichen
Industrieländern nach den kardiovaskulären Erkrankungen die zweithäufigste
Todesursache; in Deutschland stirbt etwa jeder vierte daran (Tabelle 9.1).

Tabelle 9.1 Todesursachen in Deutschland 2002 (Statistisches Bundesamt Deutschland


2004).

Todesursache Anzahl Häufigkeit %


Krankheiten des Kreislauf-Systems 393 778 47
Krebs 215 441 26
Krankheiten des Atmungssystems 53 646 6
Krankheiten des Verdauungssystems 41 849 5
Verletzungen, Vergiftungen, andere äußere Ursachen 34 296 4
Sonstige 102 676 12

Die Krebshäufigkeit sowie die Krebssterblichkeit steigen in Abhängigkeit vom


Alter stark an (Tabelle 9.2).
Diese Tatsache und die höhere Lebenserwartung in den Industriestaaten (heu-
te in Deutschland zwischen 75 und 80 Jahren, im Vergleich zu den 45 bis 50
Jahren vor etwa einhundert Jahren) erklären, dass früher weit weniger Men-
schen an Krebs erkrankten. Die altersbereinigte Sterblichkeit an Krebs ist
366 Kapitel 9 Karzinogenese

Tabelle 9.2 Krebs als Todesursache in Abhängigkeit vom Lebensalter (Westdeutschland,


1995).

Alter Männer Frauen


Jahre Fälle in 100 000 Fälle in 100 000
45 145 146
50 188 167
55 313 229
60 438 354
65 625 440
70 813 604
75 1375 815
80 1980 1125
85 2565 1495
90 3375 2000

hingegen schon seit einigen Jahren rückläufig. Dennoch muss nach Extrapola-
tion der Entwicklungen der letzten Jahre damit gerechnet werden, dass Krebs
in 15 – 20 Jahren die häufigste Todesursache werden könnte.
Obwohl nahezu alle Organe von Krebs befallen werden können, konzentrieren
sich fast 75 % aller tödlich verlaufenden Erkrankungen auf nur wenige Orga-
ne. Dabei sind, über die Tumorerkrankungen der Geschlechtsorgane hinaus-
gehend, unterschiedliche Häufigkeiten bestimmter Organtumore bei Männern
und Frauen zu beobachten (Abbildung 9.1).
So ist bei Männern die häufigste zum Tod führende Krebskrankheit der Lun-
genkrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Die zweithäufigste Krebstodesursache
ist bei beiden Geschlechtern Darmkrebs. Da heute kein Zweifel mehr daran
besteht, dass das Rauchen den bedeutendsten Einzelrisikofaktor für Krebs
darstellt, kann die höhere Häufigkeit von Lungenkrebs bei Männern auf den
größeren Anteil an Rauchern zurückgeführt werden.
Vermutungen über mögliche Beziehungen zwischen Krebserkrankungen und
dem Kontakt bzw. der Aufnahme bestimmter Stoffe oder auch gewissen Lebens-
oder Ernährungsgewohnheiten sowie Arbeitsbedingungen gehen bis in die An-
tike zurück. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Beobachtungen syste-
matisch erfasst (Tabelle 9.3).
Das Wissen über die Ursachen von Krebserkrankungen hat sich seither ebenso
wie die Kenntnisse bzgl. bestimmter Risikofaktoren weiterentwickelt. Das
Rauchen stellt den bedeutendsten Einzelrisikofaktor für Krebs dar. Hierbei
sind nicht nur die Lunge, sondern auch Mund- und Speiseröhre, Kehlkopf,
Bauchspeicheldrüse, Harnblase und Gebärmutterhals betroffen. Aus Ergebnis-
sen der Krebsepidemiologie wird ferner klar, dass Ernährungsgewohnheiten
9.1 Krebserkrankungen 367


       

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Abbildung 9.1 Altersstandardisierte Mortalitätsrate pro 100 000 bei Tumorerkrankungen, auf-
geschlüsselt nach Organen und Geschlecht.
Tabelle 9.3 Krebsursachen nach dem Jahr der Entdeckung.

Autor Jahr Noxe Organ


Hill 1761 Schnupftabak Nase
Pott 1775 Ruß Skrotum
Billharz 1852 Nematoden Blase, Harnwege
von Volkmann 1875 Teer Haut
Rehn 1885 arom. Aminfarbstoffe Blase, Harnwege
van Trieben 1902 Röntgenstrahlen Haut
Teutschländer 1928 Pechblende Haut
Martland 1929 Radium Knochen
Gloyne 1931 Asbest Lunge
Pfeil 1935 Chromate Atemwege
Kinosita 1936 Buttergelb Leber
Herbst 1970 Diethylstilboestrol weibl. Genitaltrakt
368 Kapitel 9 Karzinogenese

Tabelle 9.4 Ursachen für Todesfälle durch Krebs, nach Faktoren sortiert (nach: DKFZ-
Heidelberg).

Faktor Ursache in %
Ernährungsgewohnheiten 20 – 42
Tabak (Rauchen) 25 – 30
Alkohol 3
Berufliche Exposition 4–8
Genetische Faktoren 5 – 10
Schadstoffbelastung aus der Umwelt 2
Ionisierende Strahlung 1
Arzneimittel 1
Infektiöse Erreger 5 – 15

zu einem sehr erheblichen Anteil an der Krebsentstehung beteiligt sind. Für


beide wie auch für die meisten anderen Risikofaktoren sind die Inzidenzraten
länderspezifisch etwas unterschiedlich und können daher nur ungefähr ange-
geben werden. Es muss ferner davon ausgegangen werden, dass Einflüsse aus
nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zur Auslösung von Krebserkran-
kungen des Menschen beitragen können (Tabelle 9.4).

9.2 Tumorentwicklung

Der Tumorentstehung liegt ein Mehrstufenprozess zugrunde, in dem eine


normale Zelle mit kontrollierten Wachstums-, Differenzierungs-, Abgrenzungs-
und Zellteilungsmechanismen schrittweise in eine Tumorzelle mit unkontrol-
lierten Mechanismen der Zellvermehrung übergeht.
Basis für diese Kontrolle ist der Zellzyklus (Abbildung 9.2). Die vorhandenen
Kontrollmechanismen entscheiden darüber, ob die Zelle nach einer Zellteilung
(Mitose, M) entweder in einen neuen Zellteilungszyklus eintritt oder den Zell-
zyklus zumindest vorübergehend verlässt und in der sog. G0 -Phase verharrt,
von wo aus sie in den Zelldifferenzierungs- oder Alterungsprozess übergeht.
Zu diesen Kontrollmechanismen gehören neben Wachstumsaktivatoren auch
Wachstumsinhibitoren. In einer gesunden Zelle liegen sie in einem ausgewoge-
nen Gleichgewicht vor. Wird es gestört, und verliert die Zelle die Fähigkeit zur
Vermehrungskontrolle, kommt es zur Tumorbildung.
Die Wachstumskontrolle kann verloren gehen, weil sich entweder Wachstums-
aktivatoren nicht mehr inaktivieren oder andererseits Wachstumsinhibitoren
nicht mehr aktivieren lassen. In einer Tumorzelle trifft in der Regel beides zu.
9.2 Tumorentwicklung 369

Mitosephase
Zellteilung (Mitose)
M G0 Ruhephase
Enddifferenzierte
Zellen bzw.
Zellen in Ruhephase
Wachstumsphase G2 G1
Vorbereitung
Wachstumsphase
der Mitose
Zellwachstum und
Vorbereitung der
Chromosomen
S
für die Replikation
Synthesephase
DNA Replikation
(Verdopplung des Genoms)

Abbildung 9.2 Darstellung der Phasen des Zellzyklus.

Wachstumsaktivatoren werden von sogenannten Proto-Onkogenen kodiert, wel-


che normales Wachstum und Differenzierung steuern. Durch bestimmte Muta-
tionen (siehe Kapitel 9.5) können die Proto-Onkogene in Onkogene überführt
werden. Sie stellen dann permanent aktive Wachstumsaktivatoren dar, die sich
nicht mehr inhibieren lassen. Als Mutationsmechanismen, die zur Umwand-
lung von Proto-Onkogenen in Onkogene führen, kommen nur solche in Frage,
bei denen die wachstumsaktivierende Kompenente des Onkoproteins erhalten
bleibt. Vier solcher Mechanismen sind bisher bekannt:

• Punktmutation im Gen (siehe Kapitel 9.5)


• Translokation: Neukombination von zwei Genen, die sich vorher nicht in
räumlicher Nähe befunden haben
• Amplifikation: lokale Vervielfältigung eines Proto-Onkogens
• Aktivierung: Mutation im Kontrollbereich (z. B. Promotor) des Proto-Onko-
gens

Wachstumsinhibitoren dagegen sind wachstumshemmende Proteine, welche


die Replikation der DNA verhindern. Sie werden von sogenannten Tumor-
Suppressorgenen kodiert. Ein Beispiel ist das Gen p53, das bei zahlreichen
Tumorerkrankungen eine Rolle spielt, indem es den Eintritt in die Phase der
DNA-Synthese im Zellzyklus kontrolliert. Für Tumor-Suppressorgene sind alle
Mutationen von Bedeutung, die zu inaktiven Wachstumsinhibitoren führen.
370 Kapitel 9 Karzinogenese

Eine Mutation ist zwar ein wichtiger Schritt bei der Entstehung von Krebs,
zur malignen Transformation einer Normalzelle in eine Tumorzelle reicht
eine Mutation allein jedoch nicht aus. Daher liegt zwischen der Auslösung
einer Mutation und der Ausbildung eines manifesten malignen Tumors in der
Regel ein Zeitraum von mehreren Jahren bis Jahrzehnten. In dieser Zeit sind
verschiedene Phasen der Tumorentwicklung zu unterscheiden:
Initiation
In der Initiationsphase kommt es zur Ausbildung eines irreversiblen Genscha-
dens, der auch nach einer Zellteilung erhalten bleibt (Mutation). Dies erfolgt
beispielsweise durch Reaktion eines Karzinogens (Initiator) mit der DNA (sie-
he Kapitel 9.5).
Promotion
Während der Promotionsphase, die im Gegensatz zur Initiationsphase ein
längerfristiger Prozess ist, entsteht aus initiierten Zellen durch eine erhöhte
Mitoserate bei gleichzeitiger Unterdrückung der Apoptose (aktive physiolo-
gische Form des Zelltodes) eine Zellpopulation mit identischen Mutationen,
die als Krebsvorstufe angesehen werden kann. Die Zellen eines solchen Klons
zeigen bereits die morphologischen oder biochemischen Folgen der Mutation,
wodurch sie mikroskopisch oder histochemisch in Form von Zellinseln (Foci)
von normalen Zellen zu unterscheiden sind.
Als Promotoren sind eine Fülle von chemischen Stoffen mit sehr unterschied-
lichen chemischen Strukturen bekannt geworden. Typische tierexperimentelle
Promotoren sind das von einem Naturstoff abgeleitete 12-O-Tetradecanoyl-
phorbol-13-acetat (TPA, Haut), Phenobarbital (Leber), Tetrachlordibenzo-
paradioxin (TCDD, Leber), Ethinyloestradiol (Leber und Niere) und Saccha-
rin (Blase).
Tumorpromotoren verfügen in der Regel nicht über eigene genotoxische Ei-
genschaften. Sie bewirken meist eine Stimulierung des Zellwachstums durch
Eingriffe in die Signaltransduktionsketten. Ihre Wirkungen sind daher rever-
sibel. Dabei hängt ihre promovierende Wirkung von der zeitlichen Abfolge
ihrer Applikation im Vergleich zum Initiator sowie von der in der Zeiteinheit
gegebenen Dosis ab (Tabelle 9.5).
Im Gegensatz zur wiederholten Applikation (A) eines Karzinogens führt we-
der eine einmalige Dosis (B) noch die alleinige Gabe eines Promotors (C) zur
Auslösung von Tumoren. Diese entwickeln sich jedoch auch nach einmaliger
Gabe des Karzinogens, wenn anschließend (D) – nicht aber vorher (E) – ein
Promotor mehrfach in kurzen Abständen appliziert wird. Dabei darf ein zeitli-
cher Höchstabstand zwischen der Gabe des Initiators und Promotors (F) bzw.
zwischen dessen einzelnen Gaben nicht überschritten werden (G).
9.3 Karzinogene 371

Tabelle 9.5 Die Wirkung und Wechselwirkung von Karzinogenen und Promotoren bei der
Entstehung von Tumoren (K= Karzinogen, P = Promotor).

Tumor
A K K K K K +
B K -
C P P P P P -
D K P P P P P +
E P P P P P K -
F K P P P P -
G K P P P P P +
C P P P P P -
D K P P P P P +
E P P P P P K -
F K P P P P -
G K P P P P P +
Zeit −→

Progression
In der Progressionsphase kommt es zu einer Zunahme der Wachstumsautonomie
der Zellen und zur Entwicklung eines Mikrotumors, der meist im Zeitraum von
Jahren zum Tumor heranwächst. In dieser Phase ereignen sich weitere geno-
toxische Reaktionen mit neuen Mutationen, die zur Aktivierung von weiteren
Proto-Onkogenen führen. Durch die verstärkte Proliferation in der Promotions-
phase können weitere Mutationen erfolgen, zusätzlich zu den aus der Initiati-
onsphase bereits vorhandenen genetischen Schäden. Entsprechend ist während
der Progressionsphase vermehrt das Auftreten von Chromosomenschäden und
eine Veränderung des Genoms (Entdifferenzierung) zu beobachten. Für diese
Schäden sind Mutagene verantwortlich, die zu Brüchen in den DNA-Strängen
(siehe Kapitel 9.5) führen, sogenannte Klastogene.

9.3 Karzinogene

Entsprechend ihrem Wirkungsmechanismus können zwei Gruppen von geno-


toxischen Stoffen unterschieden werden:

• direkt genotoxisch wirkende Stoffe, die aufgrund ihrer chemischen Reak-


tivität in der Lage sind, direkt mit der DNA zu reagieren, und
372 Kapitel 9 Karzinogenese

• indirekt genotoxisch wirkende Stoffe. Sie wirken nur mittelbar genoto-


xisch, da sie einer metabolischen Aktivierung bedürfen und erst ihre Metabo-
lite als Karzinogene wirken.
Weiterhin ist noch die chemisch sehr heterogene Gruppe epigenetisch wirk-
samer, nicht-genotoxischer Karzinogene zu nennen, die ohne direkten Angriff
am genetischen Material, also ohne chemische Reaktion mit der DNA, eine
Tumorbildung veranlassen. Ihre Kanzerogenität basiert auf anderen biologi-
schen Wirkungen wie Induktion chronischer Entzündungsreaktionen, immuno-
logische Wirkungen, Zytotoxizität mit daraus resultierender gesteigerter Zell-
proliferation zur Regeneration, hormonale Einflüsse oder die oben diskutierte
Tumorpromotion. Hier soll allerdings die Betrachtung auf die Tumorauslösung
durch genotoxische chemische Stoffe beschränkt bleiben.

9.4 Genotoxizität

Wie oben dargestellt, spielen Reaktionen von Fremdstoffen mit dem geneti-
schen Material (Erbgut) einer Zelle, in dem die Informationen über deren Auf-
bau und Funktion sowie für die Zellteilung und Zelldifferenzierung gespeichert
sind, für die Krebsentstehung eine wesentliche Rolle.
Ein genotoxischer Stoff ist in der Lage, das Ergbut einer Zelle bleibend zu
verändern, d. h. Mutationen auszulösen. Diese Eigenschaft genotoxischer Stof-
fe ist von besonderer Bedeutung, weil
• bei Körperzellen aufgrund somatischer Mutationen mit der Entstehung von
Tumoren zu rechnen ist,
• bei Keimzellen aufgrund von Keimbahnmutationen die Gefahr von Schäden
für die Nachkommen besteht,
• bei vielen Stoffen bereits nach kleinsten Dosen die Auslösung einer Muta-
tion zu erwarten ist und sich die Wirkungen wiederholter Stoffexpositionen
addieren,
• sich eine Tumorauslösung beim Menschen meist erst nach mehreren Jahren
oder Jahrzehnten zu erkennen gibt.

9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität

Die meisten der heute bekannten chemischen Mutagene interagieren mit


der Desoxyribonukleinsäure (DNA), indem sie als Elektrophile besonders mit
den nukleophilen Zentren der DNA Addukte bilden.
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität 373

Auf die umfangreiche Biochemie des genetischen Apparates einer Zelle sowie
dessen Funktion soll hier nicht eingegangen werden. Es wird auf die einschlägi-
ge Lehrbuchliteratur verwiesen. Die folgenden Erläuterungen beschränken sich
auf die wesentlichen Mechanismen, die zum Verständnis der Wirkungen geno-
toxischer Stoffe erforderlich sind.
Die DNA ist aus Pyrimidin- und Purinbasen aufgebaut, welche jeweils mit dem
ringförmigen Zucker Desoxyribose verknüpft sind und so die sog. Nukleotide
bilden. Über die Desoxyribose, verbrückt über die Phosphorsäureester, sind
diese Nukleotide zu langen Ketten polymerisiert (Abbildung 9.3). Die Abfol-
ge der Pyrimidinbasen Thymin (T) und Cytosin (C) sowie der Purinbasen
Adenin (A) und Guanin (G) wird als sog. DNA-Sequenz bezeichnet und mit
den vier Buchstaben A, C, G, T abgekürzt. Jeweils zwei DNA-Ketten liegen
sich anti-parallel gegenüber und bilden einen Doppelstrang, der durch Wasser-
stoffbrückenbindungen zwischen den Basen zusammengehalten wird. Aufgrund
der unterschiedlichen Zahl von Wasserstoffbrückenbindungen können sich da-
bei nur die komplementären Basenpaare Adenin und Thymin (A/T bzw. T/A
mit zwei H-Brücken) oder Guanin und Cytosin (G/C bzw. C/G mit drei H-
Brücken) gegenüberstehen. Dadurch wird durch die Sequenz eines Stranges
auch die Sequenz des entsprechenden komplementären, sog. Gegenstranges,
festgelegt (Abbildung 9.3). Der Doppelstrang ist schließlich noch in sich ge-
wunden, so dass die bekannte Form der DNA-Doppelhelix entsteht.
Bei der Synthese eines Proteins wird die kodierte Information zunächst durch
den Vorgang der Transkription auf ein Überträgermolekül kopiert, die sog.
messenger-RNA (mRNA). Dies gelingt, indem ein Strang des entsprechen-
den DNA-Abschnitts als Vorlage (Matrize) verwendet und gemäß der Basen-
Sequenz die komplementäre RNA hergestellt wird.
Im DNA- wie auch im RNA-Molekül stellt eine Einheit von jeweils drei Basen
(Triplett) die kodierte Information für eine ganz bestimmte Aminosäure dar.
Bei der Proteinbiosynthese am Ribosom (Translation) werden entsprechend
der Abfolge der Tripletts Aminosäuren aneinandergehängt. Hierbei werden
die Tripletts von Aminosäure-tragenden sog. tRNA-Molekülen erkannt, wobei
jede tRNA nur an ein Triplett binden kann und immer eine ganz bestimmte
Aminosäure trägt. Damit wird durch die Abfolge der Tripletts, also letztendlich
durch die DNA bzw. RNA-Sequenz, die Aminosäuresequenz determiniert.
In Säugerzellen kommen 20 Aminosäuren vor, die als Bausteine aneinander-
gehängt werden können und damit eine Aminosäurekette, die sog. Primärstruk-
tur des jeweiligen Proteins ergeben. Durch intramolekulare Wechselwirkungen
bzw. Bindungen zwischen verschiedenen Aminosäuren in der Kette kommt es
dann zur Ausbildung einer definierten dreidimensionalen Struktur und erst
damit des fertigen Proteins. Es wird so deutlich, dass Abweichungen in der
374 Kapitel 9 Karzinogenese


 











 


 





 

  


 

 


 
 


 

Abbildung 9.3 Aufbau eines DNA-Moleküls. Gezeigt ist ein aus vier Nukleotiden auf-
gebauter Einzelstrang (grau unterlegt) mit dem Code GCTA und dem Desoxyribose-
Phosphorsäureester-Rückgrat sowie für die beiden mittleren Basen C und T die jeweiligen
komplementären Basen, die über Wasserstoffbrücken binden und den Gegenstrang bilden.
Auf die nukleophilen Zentren des grau unterlegten Einzelstrangs zeigen Pfeile.

Aminosäuresequenz wesentlichen Einfluss auf die Raumstruktur und damit


die Funktion des entsprechenden Proteins haben können.
Zur Vervielfältigung der DNA vor einer Zellteilung (DNA-Replikation) muss
sich die Doppelhelix trennen, und jeder Einzelstrang dient als Matrize für die
Synthese eines komplementären Gegenstranges. Diese Synthese wird durch ein
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität 375

Enzym, die DNA-Polymerase, katalysiert. Auf diesem Wege erhält bei der
Zellteilung jede Tochterzelle die identischen Information von der Mutterzelle.
Die Konstanz des DNA-Strangaufbaues ist dabei außerordentlich hoch. Die
Fehlerraten liegen zwischen 1 : 109 bis 1 : 1010 , da eine Reihe von Enzymsyste-
men den Vorgang an folgenden Punkten kontrolliert:
• Wahl des richtigen Nukleotids durch die DNA-Polymerase,
• Erkennen falscher Basenpaare am 3’-Ende des entstehenden Stranges durch
eine 3’-5’-Exonuklease und Elimination dieser Basenpaare,
• Erkennen falscher Basenpaare in der fertigen, neu synthetisierten DNA so-
wie deren Elimination (Postreplikations-Reparatur).
Diese Prozesse können auf vielfältige Weise durch genotoxische Substanzen be-
einflusst werden, so z. B. durch chemische Veränderungen der Basen, Störun-
gen der Polymeraseaktivitäten, chemischen Angriff an den Phosphatgruppen
und/oder Beinträchtigung der Reparaturmechanismen.
Eine modifizierte Base kann die Ausbildung von Wasserstoffbrücken ändern.
Dies führt möglicherweise in der Replikationsphase zu einer anderen Basenpaa-
rung. Damit ist auch das kodierende Triplett modifiziert und es kann schließlich
ein Protein mit einer falschen Aminosäure entstehen.
Eine Methylierung des Guanins an O6 führt dazu, dass sich zum Cytosin kei-
ne Wasserstoffbrücken ausbilden. Stattdessen gelingt eine zweifache H-Brücke
zum Thymin (Abbildung 9.4). O6 -Methylguanin verhält sich also wie Adenin
komplementär zu Thymin.

 
 


 




 



"  "!


Abbildung 9.4 Verringerung der Zahl der Wasserstoffbrücken durch Methylierung von Gua-
nin.
376 Kapitel 9 Karzinogenese

Eine solche DNA-Alkylierung selbst stellt noch keine Mutation dar, sie kann
aber bei fehlender oder nicht korrekter Reparatur zu einer Mutation führen
(Abbildung 9.5). Im vorliegenden Beispiel ist nach zwei Replikationszyklen das
ursprüngliche Basenpaar G/C durch das Basenpaar A/T ersetzt worden. Die-
se Mutation hat zur Folge, dass im Protein, dessen Gen vom Basenaustausch
betroffen ist, an einer bestimmten Position die Aminosäure Serin durch Phe-
nylalanin ausgewechselt ist.

     
    

     

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Abbildung 9.5 Einführung einer Punktmutation durch Methylierung eines Nukleotidbau-


steins. Dargestellt ist die DNA-Replikation nach Alkylierung von Guanin in Position O6 .
9.5 Molekulare Mechanismen der Genotoxizität 377

Da die Basen zahlreiche nukleophile Zentren besitzen (Abbildung 9.3), können


Alkylierungen zu vielfältigen Basenpaar-Umwandlungen führen. Es entspricht
den Erfahrungen, dass kleine Elektrophile wie methylierende Agenzien an ver-
schiedenen, vorher nicht vorausbestimmbaren nukleophilen Zentren alkylieren
können.
Neben der Basenpaar-Umwandlung sind noch weitere Folgereaktionen nach
nukleophilen Angriffen bekannt, wie die Depurinisierung nach Alkylierung
von Purinbasen im Imidazolring (Abbildung 9.6). Einer Depurinisierung wie
einer Alkylierung der Hydroxyl-Gruppe in der Phosphorsäureestergruppe folgt
nicht selten ein DNA-Strangbruch. Ein solcher führt zu schweren Störungen
bei der Replikation und kann Ursache für Chromosomen-Mutationen (Aberra-
tionen) sein.


   
    

     
 
    
 

Abbildung 9.6 Depurinisierung von DNA durch Purinalkylierung.

Außer der Mutation durch Basenpaarsubstitution ist ein weiterer durch Karzi-
nogene ausgelöster Mutationstyp bekannt. Eine Rasterschub- oder Frame-
shift-Mutation entsteht durch Einfügen (Insertion) oder Überspringen (De-
letion) einer Base bei der Transkription (Tabelle 9.6) Ein solcher Effekt wird
ausgelöst, wenn durch externe Einflüsse die Abstände zwischen den Basen
vergrößert werden. Dies gelingt z. B. durch Alkylierung einer Base mit einem
voluminösen Rest oder Einlagerung eines planaren, meist mehrkernigen Fremd-
stoffes in die DNA-Helix.

Tabelle 9.6 Beispiel für eine Rasterschub- (Frameshift-) Mutation. Ausgehend vom Normal-
zustand ist links eine Deletion, rechts eine Insertion dargestellt. Bei der Translation werden
die Basen immer in Tripletts abgelesen und sind daher in Dreiergruppen dargestellt.

Normal ABC ABC ABC ABC Normal ABC ABC ABC ABC
Deletion A—CA BCA BCA BCA Insertion AXB CAB CAB CAB
378 Kapitel 9 Karzinogenese

Im Vergleich zur Basenpaarsubstitution ergibt sich aus einer Rasterschubmuta-


tion eine erheblich größere Änderung des Gens mit Konsequenzen für das ko-
dierte Protein, da alle folgenden Aminosäuren verändert werden.
Der größte Teil der durch genotoxische Stoffe hervorgerufenen DNA-Verände-
rungen wird in der Regel durch Reparaturmechanismen korrigiert, die im we-
sentlichen nach folgendem Schema arbeiten:

• Aufschneiden des DNA-Stranges in der Nähe des Schadens durch Endo-


nukleasen und Elimination der fehlerhaften Base zusammen mit Basen der
Umgebung durch Exonukleasen,
• Neusynthese des eliminierten Teilstücks durch eine DNA-Polymerase vom
3’-Ende aus,
• Verknüpfung des neuen Teilstücks mit der alten DNA am 5’-Ende durch
eine DNA-Ligase.
Aufgrund dieser Mechanismen ist verständlich, dass mutagene Reaktionen, die
eine Schwächung des sogenannten Repairsystems zur Folge haben, oder Sub-
stanzen, die direkt das Repairsystem in seiner Wirkung hemmen, ohne selbst
direkt mutagene Eigenschaften zu besitzen (Co-Mutagene), die mutagene Po-
tenz einer Substanz erheblich zu steigern vermögen.
Je nach Art und Ausmaß der Veränderung des Erbmaterials resultieren:

• Gen-Mutationen (Punktmutationen)
Basenpaarsubstitutionen
Rasterschubmutationen
• Chromosomen-Mutationen (Aberrationen)
Defizienz - Verlust eines Chromosomenabschnitts
Deletion - Verlust eines terminalen Chromosomenabschnitts
Insertion - Aufnahme eines fremden Chromosomenabschnitts
Interchange - Austausch von Chromosomenabschnitten zwischen
zwei verschiedenen Chromosomen
Inversion - Umkehr eines Chromosomenabschnitts um 180 Grad
• Genom-Mutationen
Verlust oder Zugewinn eines oder mehrerer Chromosomen.

Während Gen-Mutationen im submikroskopischen Bereich liegen, lassen sich


Chromosomen- und Genom-Mutationen mikroskopisch nachweisen. Dies ist für
die Erkennung genotoxischer Eigenschaften in der experimentellen Toxikolo-
gie und für die Überwachung von Personen, die mit mutagenen/karzinogenen
Stoffen umgehen, von Bedeutung.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 379

9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen

Dem chemisch ausgerichteten Leser wird nachfolgend anhand von Stoffgruppen


eine Übersicht über potentiell genotoxische chemische Grundstrukturen gege-
ben. Dies kann auch hilfreich dafür sein, ein Gespür dafür zu entwickeln, bei
der Suche nach neuen Stoffen und beim Umgang mit ihnen Gefahren frühzeitig
zu erkennen.
Die Auswahl der genotoxischen Stoffe erfolgt aufgrund einer in entsprechenden
Testsystemen nachgewiesenen DNA-Aktivität oder Mutagenität bzw. einer im
Tierexperiment nachgewiesenen Karzinogenität.
Viele karzinogene Stoffe weisen neben der Genotoxizität noch weitere toxische
Eigenschaften auf. Deren Besprechung bleibt hier aber ausgeklammert.

9.6.1 Direkt genotoxisch wirkende Stoffe


Im Hinblick auf ihren Reaktionsmechanismus mit DNA sind hier im wesentli-
chen vier Gruppen zu unterscheiden:
• Alkylierende Stoffe (Alkylanzien),
• Stoffe, die insbesondere mit reaktiven Doppelbindungen Additionsreaktio-
nen eingehen können,
• Stoffe, die reaktive Sauerstoffspezies erzeugen,
• DNA-interkalierende Stoffe.
In chemischen Synthesen finden sehr viele Alkylanzien Anwendung, wobei in
der Regel Alkylierungsreaktionen nicht unter physiologischen Bedingungen ab-
laufen. Darüber hinaus werden Alkylanzien in der Chemotherapie von Tu-
moren sowie als Insektizide und Desinfektionsmittel eingesetzt. Sie sind auf-
grund ihrer Elektrophilie chemisch reaktiv und bilden in der Zelle mit Ma-
kromolekülen wie DNA entsprechende Addukte. Eine unter physiologisch-
biologischen Bedingungen (wäßriges Medium, pH-Wert ∼ 7,4, 37 °C) ausrei-
chend alkylierende Wirkung ist hierbei allerdings Voraussetzung für die Aus-
lösung genotoxischer Reaktionen.

Alkylhalogenide

Halogenkohlenwasserstoffe, wie Methyl-, Ethyl- und Benzylhalogenide, müssen


grundsätzlich sowohl als genotoxisch als auch karzinogen angesehen werden.
380 Kapitel 9 Karzinogenese

Die Reaktivität und Genotoxizität hängt vom Halogen ab und nimmt von
Chlormethan über Brommethan zu Iodmethan zu (siehe Abbildung 9.7). Fluor-
methan gilt als nicht genotoxisch. Die Reaktivität nimmt mit steigender C-
Kettenlänge ab.

Bl
R–CH2 –X −→ R–CH2 –B + X

X = I > Br > Cl; R = Benzyl- > H- > CH3 - > C2 H5 -

Abbildung 9.7 Genotoxische Struktur-Wirkungsbeziehungen bei Alkylhalogeniden. BI = Nu-


kleobase oder Phosphatgruppe.

Haloether, Haloalkohole

Alkylhalogenide erfahren durch Sauerstoff-Funktionen, die in Nachbarschaft zu


einem Halogenatom stehen, eine erhebliche Reaktivitätssteigerung wie an den
Haloalkoholen und Haloethern zu beobachten. Wie bei den Alkylhalogeniden
nimmt hier die Reaktivität von den Chloriden über die Bromide zu den Iodiden
zu. Abbildung 9.8 zeigt einige Vertreter dieser Stoffklasse, die in Synthesen
häufig als reaktive Ausgangsstoffe Verwendung finden.

 
            
  
  
  
  



 
          
    
  

Abbildung 9.8 Genotoxische Haloether und Haloalkohole.


9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 381

Entgiftung von Alkylhalogeniden

Für Alkylhalogenide sowie Haloether und -alkohole gibt es im Organismus ei-


ne wichtige Entgiftungsreaktion in Form einer enzymkatalysierten Kopplung
an das Tripeptid g-Glutamat-Cystein-Glycin (g-Glu-Cys-Gly, Glutathion,
GSH) mit Hilfe von Glutathion-S-Transferasen (GST) (Abbildung 9.9). Über
Zwischenstufen werden diese Glutathion-Addukte weiter verstoffwechselt, in-
dem zunächst zwei der drei Aminosäuren des Tripeptids (Glutamat, Glycin)
wieder abgespalten werden. Nach einer abschliessenden Acetylierung durch
eine N-Acetyl-S-Transferase werden als Endprodukte in der Regel Mercap-
tursäuren im Urin ausgeschieden.

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Abbildung 9.9 Der Mercaptursäureweg der Entgiftung: Konjugation von Alkylhalogeniden


mit Glutathion (g-Glu-Cys-Gly) und Bildung von Mercaptursäuren (links) sowie wichtige
Nebenreaktionen. X = Xenobiotikum.
382 Kapitel 9 Karzinogenese

Bei allen Zwischenstufen kann es jedoch, abhängig von der chemischen Struktur
der angehängten Verbindung X, evtl. auch wieder zu Toxizitäts-erhöhenden
Nebenreaktionen kommen. Hier ist die Cyclisierung zu Thiiranium-Ionen (s. u.)
sowie aus dem Cystein-Addukt die Bildung S-oxidierter Folgeprodukte oder
Thiole zu nennen (Abbildung 9.9).

Mehrfach halogenierte Kohlenwasserstoffe

Bei mehrfach halogenierten Kohlenwasserstoffen mit Position der Halogene in


vicinaler Stellung führt die Konjugation mit Glutathion nicht zur Entgiftung,
sondern zu hochreaktiven mutagenen und karzinogenen Episulfonium-Ionen
(Thiiranium-Ionen), wie Abbildung 9.10 am Beispiel des 1,2-Dichlorethans
zeigt.

GSH H2C DNA


Cl-CH2CH2-Cl Cl-CH2CH2-SG SG Cl DNA-CH2CH2-SG
-HCl -HCl
H2C -GSH

Abbildung 9.10 Giftung von 1,2-Dichlorethan durch Glutathion (GSH).

Vom analogen 1,2-Dibromethan wurden nach Exposition und Hydrolyse der


DNA eine große Zahl von ethylierten Basen nachgewiesen (Abbildung 9.12).
Beide Ethandihalogenide wurden bis 1988 dem Benzin als Scavenger zugesetzt,
dann aber aufgrund ihrer Genotoxizität verboten.


 




  











       

Abbildung 9.11 Genotoxische vicinal halogenierte Kohlenwasserstoffe. * nicht genotoxisch.

In Abbildung 9.11 sind weitere mehrfach halogenierte Kohlenwasserstoffe auf-


geführt, für die es zumindest einen begründeten Verdacht auf Karzinogenität
gibt. Von den beiden Trichlorethanen ist nur die 1,1,2-Trichlorvariante genoto-
xisch, da nur hier die Ausbildung einer Episulfoniumstruktur nach Konjugation
mit Glutathion möglich ist.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 383

GS
NH NH O SG
GS N N H N
N N N

N N N N H2N N N

SG
O
Br Br
H N
N
GS
Br GS H2N N N

SG
SG
O O O
H N N H N O
N N N
H N N H
N N H2N N H2N N NH
SG

Abbildung 9.12 Durch 1,2-Dibromethan in vivo ethylierte DNA-Basen.

Stickstoff- und Schwefel-Loste

Auf der Bildung einer intermediären, hochreaktiven Episulfonium-Struktur be-


ruht auch die Karzinogenität von Dichlordiethylsulfid, auch als S-Lost bezeich-
net, das als Kampfgas militärischen Zwecken gedient hat (Abbildung 9.13).

       


      
      

Abbildung 9.13 Alkylierung von Nukleophilen durch S-Lost. BI = Nukleobase oder Phosphat-
gruppe.

Nach einem analogem Reaktionsmechanismus verlaufen die Alkylierungsreak-


tionen auch bei Stickstofflostderivaten (N-Lost) unter Bildung einer interme-
diären Aziridinium (Ethylenimmonium)-Struktur (Abbildung 9.14).
Aufgrund der bifunktionellen Reaktionsmöglichkeit der Lostderivate können
Vernetzungsreaktionen zwischen den DNA-Strängen auftreten (Abbil-
dung 9.15) (crosslinking reaction). Die weniger toxischen Lostderivate wie Cy-
clophosphamid werden als Zytostatika zur Behandlung leukämischer Erkran-
kungen eingesetzt.
384 Kapitel 9 Karzinogenese

       



        
      

Abbildung 9.14 Alkylierung von Nukleophilen durch N-Loste. Das Alkyldichlordiethylamin


kann als Methyl- oder Ethylverbindung vorliegen. Im Falle eines dritten Chlorethyl-Restes
handelt es sich um Trichlorethylamin.

  
 
 

     
 

Abbildung 9.15 Vernetzung von zwei in DNA-Strängen integrierten Guanin-Basen durch ein
Lost-Derivat.

Ethylenimine

Die Ethylenimine verfügen über einen dem Stickstofflost analogen Reaktions-


mechanismus, der insbesondere in einem schwach sauren pH-Bereich durch
Protonierung aktiviert wird (Abbildung 9.16).

    
 
            
 

Abbildung 9.16 Alkylierung von Nukleophilen durch Ethylenimine. BI = Nukleobase oder


Phosphatgruppe.

Dieser Aktivierungsmechanismus hatte zu der Annahme geführt, dass Stoffe


mit mehreren Ethylenimingruppen im Molekül als Cytostatika verwendbar sein
könnten. Im Vergleich zu Normalzellen sollte wegen des niedrigeren pH-Wertes
in Tumorzellen eine spezifischere Giftung möglich sein. Jedoch wurde infolge
der hohen Allgemeintoxizität der entwickelten Arzneimittel die Forschung in
diesem Bereich wieder eingestellt.

Epoxide

Epoxide (Oxirane) bilden eine Stoffgruppe, die in der technischen Chemie


vielfältige Verwendung findet (Abbildung 9.17).
Epoxide verfügen über einen den Ethyleniminen analogen Aktivierungsmecha-
nismus (Abbildung 9.18).
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 385



       
 
 



      
  
 

Abbildung 9.17 Wichtige Epoxide aus der technischen Chemie.


       
   
   

        
  
Abbildung 9.18 Alkylierung von Nukleophilen durch Epoxide. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.

Die Reaktivität der Epoxide hängt ab von ihrer Struktursymmetrie sowie der
Elektronendichte in dem gespannten Dreiring. So nimmt die Reaktivität mit
zunehmend asymmetrischer Struktur zu, ebenso mit abnehmender Elektro-
nendichte, z. B. durch Substituenten mit negativ induktivem oder mesomeren
(-I oder -M) Effekt (Abbildung 9.20).




β) ↑↑ 





γ) ↑

δ) −

Abbildung 9.19 Alkylierung von Nukleophilen durch Lactone. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.

Auch die b- und g-Lactone besitzen gespannte Ringstrukturen, die wie die
Ethylenimine und Epoxide in der Lage sind, mit nukleophilen Zentren zu rea-
gieren (Abbildung 9.19). Dabei nimmt die Reaktivität mit zunehmender Ring-
größe rasch ab.
Lactone finden vielfach in der chemischen Synthese als Ausgangs- oder Zwi-
schenprodukte Verwendung.
386 Kapitel 9 Karzinogenese

  

 
↑↑


 
 ↑

 
↑↑

    

 

  
 ↓
  


Abbildung 9.20 Beziehung zwischen chemischer Struktur und genotoxischer Wirkung (Akti-
vität).

Sultone

Ebenso wie die Lactone zeigen auch Sultone, zyklische Ester von Sulfonsäuren,
eine hohe Reaktivität und Genotoxizität, die jedoch ebenfalls mit zunehmen-
der Ringgröße, d. h. abnehmender Ringspannung, abnimmt (Abbildung 9.21).
Sultone finden vielfach in der Modifizierung von Polymeren Verwendung.

   



β) ↑↑↑       
γ) ↑↑

δ) ↑

Abbildung 9.21 Alkylierung von Nukleophilen durch Sultone. BI = Nukleobase oder Phos-
phatgruppe.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 387

Alkylsulfonsäureester, Alkylsulfate

Sulfonsäure- und Schwefelsäureester sind in der Lage, als alkylierende Agentien


zu fungieren (Abbildung 9.22). Ihre genotoxische Wirkung ist beachtlich und
sie sind im Tierversuch krebserzeugend.




  



  

 

   

Abbildung 9.22 Alkylierung von Nukleophilen durch Alkylsulfonsäureester und Alkylsulfate.


R = CH3 , R’ = CH3 : Methylmethansulfonat (MMS), R = CH3 und R’ = C2 H5 : Ethylme-
thansulfonat (EMS).

Nitroso-Harnstoffe, Nitroso-Amide, Nitroso-Carbaminsäureester

Diese stark genotoxischen Substanzklassen wirken zwar nicht als direkte Al-
kylanzien, bedürfen jedoch keiner enzymatischen Aktivierung. Dem Aktivie-
rungsmechanismus liegt vielmehr eine Hydrolyse zu hochreaktiven Produkten
zugrunde (Abbildung 9.23). Dabei kommt es bei einem pH-Wert < 8 zur Bil-
dung von Carbonium-Ionen. Bei höheren pH-Werten überwiegt die Diazome-
thanbildung.




 
 
 








   


   

Abbildung 9.23 Bildung von alkylierenden Carbenium-Ionen aus Nitrosoharnstoff, -amid und
-carbaminsäureester. Rechts: Reaktion des Hydrolyseproduktes mit Nukleophil BI.
388 Kapitel 9 Karzinogenese

Diese Nitrosoderivate können sich aus Nitrit-Ionen und den jeweiligen Alkyl-
harnstoffen, Amiden oder Carbaminsäureestern bei einem pH-Wert von 1–3
bilden, wie er im Magen vorliegt. Nitrit-Ionen können mit der Nahrung zu-
geführt oder durch Reduktion von Nitrat aus der Nahrung gebildet werden.
Bei entsprechender Konstellation kann es daher zu Nitrosierungen im Magen
kommen.
Fremdstoffe mit potentiell nitrosierbaren Strukturen, die zur oralen Aufnah-
me im menschlichen Organismus bestimmt sind, sollten daher aus Sicher-
heitsgründen auf ihre Nitrosierbarkeit im Sauren geprüft werden.

Alkylhydrazine

Alkylhydrazine sind oxidationsempfindliche Stoffe, die je nach Substitutionsart


bereits durch Sauerstoff direkt oder enzymatisch oxidiert werden unter Bildung
von hochreaktiven Metaboliten, die in der Lage sind, mit Nukleophilen zu
reagieren (Abbildungen 9.24, 9.25).


  

 



 




  














 

 







 

 
 


 

 


Abbildung 9.24 Oxidation von 1,1-Dimethylhydrazin. BH = Nukleophil.


     

 
     

 

       

 
 

Abbildung 9.25 Biotransformation von 1,2-Dimethylhydrazin. BH = Nukleophil.


9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 389

Alkylhydrazine finden als Antioxidanzien in der Technik sowie als Raketentreib-


stoffe vielfältige Verwendung. Aus der Cycanuss stammt der Naturstoff Cyca-
sin, ein Methylazoxymethanol-b-D-Glukosid. Beim Verzehr dieser Nuss wird
durch b-Glukosidasen des Darms die toxische Substanz Methylazoxymethanol
freigesetzt, die Darmtumoren verursachen kann (Abbildung 9.26). Weiterhin
entsteht bei der Hydrazinoxidation Wasserstoffperoxid, aus dem in Gegenwart
von Eisen Hydroxyl-Radikale entstehen können (Fenton-Reaktion), die eben-
falls über genotoxische Eigenschaften verfügen.


β  


  

  
    

Abbildung 9.26 Cycasinspaltung durch die b-Glucosidase. Glc = Glucose.

Reaktive Sauerstoffspezies

Bei vielen enzymatischen Oxidations- und Reduktionsreaktionen im Stoffwech-


sel entstehen Radikale und reaktive Sauerstoffspezies, die genotoxische Reak-
tionen auslösen können (Abbildung 9.27).

 
   
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Abbildung 9.27 Bildung reaktiver Sauerstoff-Spezies. Zur Erläuterung der Möglichkeiten ei-
ner enzymatischen Bildung von Radikalen und reaktiven Sauerstoffspezies sei auf Lehrbücher
der physiologischen Chemie verwiesen.

Hierbei ist das Hydroxyl-Radikal von besonderer Bedeutung. Es ist z. B. in der


Lage, die Purinbasen in der Position 8 anzugreifen und Punktmutationen in
der DNA auszulösen (Abbildung 9.28)
Auch ein Angriff an der Desoxyribose kann zu einem Bruch der DNA-Kette
führen (Abbildung 9.29).
390 Kapitel 9 Karzinogenese

  
 





  



 


 
 
  


  

 

Abbildung 9.28 Reaktion von Hydroxyl-Radikalen mit Adenin. Analog verlaufen die Reaktio-
nen mit Guanin.

O N O N O N
H H +OH H +OH H OH

O -H2O O O
Basen-
P P P elimination

OH OH O
COOH COOH O
H H H

Ketten- O O
+ 5´- PO4 bruch
P P

Abbildung 9.29 Reaktion von Hydroxyl-Radikalen mit Desoxyribose.

Reaktive Allylstrukturen

Stoffe mit hochreaktiven Doppelbindungen, wie zahlreiche Allylverbindungen,


sind in der Lage, mit Aminen, Alkoholen oder Thiolgruppen in Form einer
konjugierten Additionsreaktion oder einer Alkylierung mit Nukleophilen zu
reagieren (Abbildungen 9.30 und 9.31).
In Konkurrenz zu der direkten Reaktion der Allylverbindungen steht vermut-
lich auch eine oxidative enzymatische Epoxidierung der Doppelbindung mit
anschließender Alkylierungsreaktion der Epoxide. Parallel zu den toxischen
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 391





 


 
  




  


 

Abbildung 9.30 Reaktionen von Allylverbindungen. BI = Nukleophil, X = Abgangsgruppe.


  
   
    
   

    

Abbildung 9.31 Beispiele für reaktive Allylverbindungen.

Reaktionen von Allylverbindungen laufen Entgiftungsreaktionen mit Hilfe von


Glutathion (GSH) ab, entweder durch direkte Additionsreaktionen oder kata-
lysiert durch die Glutathion-S-Transferase (GST).

Interkalierende Stoffe

Interkalierende Stoffe können durch verschiedene Mechanismen eine genotoxi-


sche Wirkung entfalten, ohne eine kovalente Bindung an DNA-Strukturen
einzugehen. Aufgrund ihrer mehrkernigen planaren Struktur (Abbildung 9.32)
können sie sich in die DNA einlagern, indem sie mit den Nukleobasen
p-Komplexe bilden. Bei der Transkription kann dies zu Basenverschiebungen
(Rasterschub-, Frameshift-Mutation) führen.


     

     


   
  
    

Abbildung 9.32 Interkalierende Stoffe vom Acridin-Typ.


392 Kapitel 9 Karzinogenese

Andererseits können durch die Interkalation Repair-Mechanismen behindert


werden. Dies führt bei der gleichzeitigen Einwirkung von anderen mutagenen
Stoffen zu einer Verstärkung der mutagenen Ereignisse im Sinne einer promu-
tagenen Wirkung.

Metalle

Metalle und Metallverbindungen werden physiologischerweise in Zell-Struktu-


ren und Zell-Organellen wie dem Zellkern, Zellmembranen, Mitochondrien,
dem endoplasmatischen Retikulum und Lysosomen gefunden. Sie sind an zel-
lulären Funktionen wie der sog. Elektronentransportkette zur Energiegewin-
nung ebenso beteiligt wie an Entgiftungsmechanismen oder als Kofaktoren
von Enzymen an verschiedenen enzymkatalysierten Reaktionen. Metalle oder
Metallionen können über ionische oder koordinative Bindungen u. a. direkt
an zelluläre Komponenten wie Strangbrüche, Basenmodifikationen oder Kon-
formationsänderungen resultieren, was einen Mechanismus der kanzerogenen
Wirkung von Metallen darstellt (s. u.). Durch die Bildung reaktiver und tran-
sienter Metallverbindungen greifen Metalle auch in Reaktionen der intrazel-
lulären Weiterleitung von Signalen, sog. Signaltransduktionswege, ein.
So können verschiedene Metalle etwa bei umwelt- oder berufsbedingter Ex-
position also nicht nur toxische Wirkungen entfalten (siehe Kapitel 4.1.5),
sondern auch zu Karzinogenese führen. Zu diesen Metallen gehören Arsen, Be-
ryllium, Blei, Cadmium, Cobalt, Chrom, Kupfer, Nickel und Vanadium sowie
verschiedene Metallverbindungen. Nicht aufgeführt sind radioaktive Metalle
wie Plutonium, Polonium, Radium und Uran, die primär durch ihre energie-
reiche Strahlung genotoxisch und damit karzinogen wirken.
Während umfassende epidemiologische Untersuchungen das karzinogene Po-
tential verschiedener Metalle zeigen, sind die zugrundeliegenden Mechanismen
dieser Metall-induzierten Karzinogenese nur teilweise verstanden. Wahrschein-
lich gibt es nicht nur einen einzigen gemeinsamen, sondern vielmehr für jedes
Metall mehrere jeweils spezifische Mechanismen. Neben der Art des Metalls
können hierbei auch die Dosis, die Art und Dauer der Exposition sowie ande-
re Umwelteinflüsse entscheidend dafür sein, welche zellulären Antworten aus-
gelöst werden und evtl. zu Karzinogenese führen.
Neue molekulare und molekularbiologische Techniken erlauben immer tiefe-
re Einblicke in diese Mechanismen der Metall-induzierten Karzinogenese. So
kommt es neben der direkten Bindung von Metallen an DNA-Moleküle vor al-
lem zur Bildung sog. reaktiver Sauerstoff-Spezies (reactive oxygen species,
ROS), die vermutlich eine herausragende Rolle durch direkte oxidative Schädi-
gung von Lipiden, Proteinen und DNA und damit als Vermittler karzinogener
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 393

Wirkungen spielen. Zu den ROS gehören Hypochlorid (HOCl), Wasserstoff-


peroxid (H2 O2 ), Stickstoffmonoxid (NO) sowie Superoxid- (O•− 2 ), Hydroxyl-
(• OH), Peroxid- (ROO• ), Alkoxid- (RO• ) und Thiyl-Radikale (RS• ). ROS sind
ferner in der Lage, redoxsensitive Transkriptionsfaktoren (= Faktoren, die die
Transkription und damit Expression von Proteinen steuern) wie NF-κB, AP-
1 oder p53 zu aktivieren. Der oxidative Stress, der in einem Ungleichgewicht
zwischen der Bildung freier Radikale einerseits und antioxidativen Schutzme-
chanismen andererseits begründet ist, spielt somit in mehrfacher Hinsicht eine
wichtige Rolle in der Metall-induzierten Karzinogenese (Abbildung 9.33).


  

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Abbildung 9.33 Rolle von freien Radikalen und oxidativem Stress bei der Metall-induzierten
Karzinogenese (nach: Shi et al., Free Rad. Biol. & Med. (2004)).
394 Kapitel 9 Karzinogenese

Unter den karzinogenen Metallen sind u. a. Chrom und Arsen besonders in-
tensiv untersucht (siehe Kapitel 4.2.3 und 4.2.8). Epidemiologische Studien und
Tierversuche haben beispielsweise gezeigt, dass vor allem Cr(VI)-Verbindungen
toxisch und karzinogen sind. So können sie bei Inhalation Tumoren der Atem-
wege induzieren, in Tierversuchen wurde bei Injektion bzw. Implantation ei-
ne Tumorinduktion an der Injektions- bzw. Implantationsstelle nachgewiesen,
und sie induzieren Mutationen in Bakterien und Transformationen in Säuger-
zellen. Es wird vermutet, dass Cr(VI) intrazellulär zu niedrigeren Oxidati-
onsstufen wie Cr(V) und Cr(IV) reduziert wird, die als reaktive Intermediate
direkt DNA-Schäden verursachen können und darüber hinaus • OH-Radikale
aus H2 O2 bilden. Das H2 O2 entsteht wiederum während des Reduktionsprozes-
ses von Cr(VI), wobei O2 verbraucht und gleichzeitig auch noch O•− 2 -Radikale
gebildet werden. In der Zelle kann somit aus Cr(VI) ein ganzes Spektrum von
ROS gebildet werden.

Arsen kann u. a. in Leber, Lunge, Haut, Harnblase und Niere eine kanzerogene
Wirkung entfalten. Auch hier wurde in verschiedenen zellulären Systemen die
Bildung von O•− 2 -Radikalen und H2 O2 nachgewiesen, wobei die genauen Me-
chanismen der Bildung von ROS noch weitgehend unklar sind. Es werden die
Elektronentransportkette an den Mitochondrien, intermediäre Arsin-Spezies,
methylierte Arsen-Zwischenprodukte oder die Oxidation von Arsenit zu Arse-
nat als mögliche Quellen der ROS diskutiert.

Neben direkten genotoxischen Schädigungen und der Bildung von ROS grei-
fen verschiedene Metalle auch direkt in Signaltransduktionswege ein, die zur
Transformation einer Zelle führen können bzw. mit Tumorpromotion und/oder
Tumorprogression assoziiert sind. Schliesslich können Metalle auch noch nor-
male DNA-Reparaturmechanismen der Zelle inhibieren und somit die Weiter-
gabe einmal aufgetretener DNA-Mutationen begünstigen.

9.6.2 Indirekt genotoxisch wirkende Stoffe

Indirekt genotoxisch wirkende Substanzen werden erst durch metabolische Um-


wandlung aktiviert. Als Grundreaktionen der Biotransformation können Oxi-
dationen am Kohlenstoff- oder Stickstoff-Atom auftreten. Dabei ist die me-
tabolische Kapazität je nach Tierart und Organ häufig sehr unterschiedlich.
Somit ist die karzinogene Potenz dieser Stoffe spezies- und organabhängig.
Die wichtigsten metabolischen Aktivierungsreaktionen werden exemplarisch
besprochen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 395

Epoxidierung von Kohlenstoff-Doppelbindungen

Die Epoxidierung von Kohlenstoff-Doppelbindungen durch das Cytochrom


P-450 System, einer Isoenzym-Familie von Monoxygenasen in der Leber, gehört
zu den wichtigsten Mechanismen bei der Bildung von genotoxischen Metabo-
liten. Die Epoxidierung von Alkenen ist am Beispiel des Ethens dargestellt
(Abbildung 9.34).

H
 H
 Cytochrom P-450 H
 O
 H

Ethen C
 C
 C
 C
 Ethenoxid
H
 H
 H
 H

Abbildung 9.34 Metabolische Epoxidierung von Ethen (Ethylen).

Neben der mutagen wirkenden Alkylierung wird Ethenoxid durch Konjugation


an Glutathion (GSH) und Hydratisierung unter Beteiligung einer Epoxidhy-
drolase entgiftet (Abbildung 9.35). Die Endprodukte beider Reaktionen werden
über die Niere mit dem Urin ausgeschieden.




 

 

 
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Abbildung 9.35 Alkylierungs- und Entgiftungsreaktionen von Ethenoxid. EH = Epoxidhydro-


lase, GST = Glutathion-S-Transferase.

Das Krebsrisiko nach Exposition mit Ethen muss im Vergleich zu seinem Me-
taboliten Ethenoxid (Ethylenoxid), das ebenfalls vielfach technische Verwen-
dung findet, als sehr gering eingeschätzt werden. Dies steht im Gegensatz zu
anderen Ethenderivaten, die in der Polymerchemie Bedeutung erlangt haben
(Abbildung 9.36).


             

    
 
      


Abbildung 9.36 Aufgrund metabolischer Epoxidierung genotoxische Alkenstrukturen.


396 Kapitel 9 Karzinogenese

Von besonderer toxikologischer Bedeutung sind Vinylchlorid und seine höher


halogenierten Analoga (Abbildung 9.37). Nach Umlagerung der Halogenethy-
len-Epoxide entstehen Produkte, die teilweise als alkylierende, genotoxische
Stoffe angesehen werden müssen. Zur Reaktivität der Expoxide sei auf die
Struktur-Wirkungs-Beziehungen an Epoxiden (Abbildung 9.20) verwiesen.

   

       
    

   

       
    

 
   
     
 
 
    
      
   

   
       
    

   
       
    

Abbildung 9.37 Metabolismus von Vinylchloriden zu Epoxiden und Umlagerungsprodukten.

Von Chlorethylenoxid sind eine ganze Reihe Additionsprodukte mit DNA-


Basen bekannt (Abbildung 9.38).

 

  


   


    
 
   


      

  
  

Abbildung 9.38 Addukte von Chlorethylenoxid mit Nukleobasen.


9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 397

Wie sich aus den isolierbaren Trichloressigsäurederivaten ableiten lässt, findet


bei Tri- und Tetrachlorethylen ebenfalls eine Epoxidierung statt. Dies spielt
aber für die genotoxische Wirkung keine Rolle. Eine Aktivierung erfolgt über
eine Konjugation mit Glutathion (GSH) (Abbildung 9.39), wobei Mono- und
Dichlorthioketen als ultimate Karzinogene angenommen werden müssen.

     
      
    
   
 

     
      
    

  

Abbildung 9.39 Genotoxizität von Tri- und Tetrachlorethylen durch Konjugation mit GSH.

Epoxidierung von Furanen

Auch cyclisch eingebundene Kohlenstoff-Doppelbindungen können durch das


Cytochrom P-450-System epoxidiert werden. Dabei weisen insbesondere Nitro-
furan-Derivate, die als zyklische Vinylether angesehen werden können, eine
teilweise hohe Genotoxizität auf (Abbildung 9.40). Epoxide von Furanen oh-
ne Nitrogruppe zeigen in höherer Dosierung zwar eine Zelltoxizität aufgrund
kovalenter Bindung an Zellproteinen, eine Genotoxizität gilt aber nicht als
sicher.
Strukturen des Nitrofurans finden sich in bakterizid wirkenden Arzneimitteln
und Lebensmittelkonservierungsstoffen. Aufgrund ihrer Genotoxizität sind die-
se Produkte heute verboten bzw. finden keine Anwendung mehr.
Von epidemiologisch großer Bedeutung ist das Stoffwechselprodukt des Schim-
melpilzes Aspergillus flavus, das Aflatoxin B1 (Abbildung 9.41). Das karzinoge-
ne Mykotoxin wird vermutlich am Furanring in Position 8,9 zu einem hochre-
aktiven Epoxid metabolisiert. Dieses Epoxid konnte bisher in vivo noch nicht
nachgewiesen werden, auf seine intermediäre Bildung lässt sich jedoch aus iso-
lierten DNA-Addukten, wie einem entsprechenden Guanin-Addukt, schließen
(Abbildung 9.41).
Aflatoxine gelten als starke Leberkarzinogene. Man findet sie gehäuft in Le-
bensmitteln aus Ländern mit mangelnder Lebensmittelhygiene. In diesen Re-
gionen sind auch vermehrt primäre Lebertumoren beim Menschen zu beobach-
ten. Nach deutschem Lebensmittelrecht (Aflatoxinverordnung) darf die Sum-
398 Kapitel 9 Karzinogenese



  

   

   
    
   

    

     

     
    

      
    

Abbildung 9.40 Mutagenität verschiedener Nitrofuranderivate. Als Maß für die Mutagenität
dient die Zahl der Revertanten/µM“ im Ames-Test.

 
  
  
 
 
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Abbildung 9.41 Aflatoxin B1 und sein 8,9-Epoxid, von dem die Genotoxizität ausgeht.

me der in Lebensmitteln enthaltenen Aflatoxine (B1 , B2 , G1 , G2 ) nicht mehr


als 4 mg/kg betragen und gleichzeitig nicht mehr als 2 mg/kg des Aflatoxins B1
enthalten sein.

Epoxidierung von Monoaromaten

Für die Toxizität aromatischer Verbindungen ist die metabolische Bildung


von hochreaktiven, epoxidischen Zwischenstufen (Arenoxide) verantwortlich.
Durch Synthese von Benzoloxid konnte die Existenz solcher Epoxide bewiesen
werden.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 399

Arenoxide unterliegen einer nicht-enzymatischen spontanen Umwandlung in


das entsprechende Phenol. Diese erfolgt über eine Carbonyl-Zwischenstufe
durch den NIH-shift (Abbildung 9.42).





  
 


Abbildung 9.42 Epoxidierung von Benzolderivaten. NIH = National Institute of Health.

Zusätzlich erfahren Arenoxide auch eine enzymatische Desaktivierung, die der


Kopplung an biologische Makromoleküle parallel läuft (Abbildung 9.43).


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Abbildung 9.43 Metabolismus von Benzol ausgehend vom Arenoxid. GST = Glutathion-S-
Transferase, EH = Epoxidhydrolase, Iso = Isomerisierung. Als Sekundärreaktionen können
Hydrolysen auftreten.

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Abbildung 9.44 Metabolismus von Naphthalin. Ox. = Oxidation.


400 Kapitel 9 Karzinogenese

Die Reaktivität der Arenoxide nimmt durch Einführung von Halogenatomen


in den Kern wie bei Chlor- oder Brombenzol deutlich zu. Außerdem ist auch
die Bildung von Chinonen zu beobachten, die Redox-Systeme als reaktive,
genotoxische Sauerstoffspezies erzeugen (Abbildung 9.44).
Längere Exposition mit Benzol, unter schlechten Arbeitsschutzbedingungen
in Kokereien, haben beim Menschen Leukämien induziert. Hierbei ist aller-
dings nicht sicher, ob das Epoxid selbst oder andere Metaboliten wie reaktive
Sauerstoffspezies verantwortlich sind.

Epoxidierung von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen

Die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAKs) stellen eine fast


ubiquitär vorkommende Stoffgruppe dar, die zu den wichtigsten Umweltkan-
zerogenen überhaupt zählen. Sie liegen praktisch immer als Gemische vor (im
Zigarettenrauch z. B. weit über 200 verschiedene Verbindungen), wobei einige
Einzelsubstanzen nicht karzinogen oder nur tumorpromovierend sind, ande-
re aber als besonders starke Karzinogene eingestuft werden. PAKs entstehen
hauptsächlich bei Verbrennungs- und Schwelprozessen, sind aber auch schon
Bestandteil fossiler Brennstoffe und treten deshalb bei der Energiegewinnung
als Kontaminante auf. Während sie in Lebensmitteln zunächst im allgemeinen
nur in geringen Mengen vorkommen, können sie während der Lebensmittel-
Verarbeitung bzw. Speisen-Zubereitung (Braten, Backen, Räuchern, Grillen,
Frittieren, Rösten) neu entstehen. Eine weitere erhebliche Emissionsquelle ist
Tabakrauch.
Das Benzo[a]pyren gilt als Leitsubstanz“. Es wurde unter anderen hinsicht-

lich seines Metabolismus intensiv untersucht (Abbildung 9.45).
Die metabolische Aktivierung beginnt mit einer häufig unter Katalyse von
Enzymen des Cytochrom P-450 ablaufenden Epoxidierung. Die so entstan-
denen Epoxide können dann durch Epoxidhydrolasen zu den entsprechenden
trans-Diolen hydrolysiert werden. Durch eine erneute Epoxidierung kommt es
schließlich zur Bildung der besonders (DNA-)reaktiven Diol-Epoxide.
Von besonderer Bedeutung für die Genotoxizität ist die Bildung von
7,8-Dihydroxy-9,10-epoxy-7,8,9,10-tetrahydrobenzo[a]pyren (BPDEP), dessen
verschiedene Stereoisomere allerdings über unterschiedliche biologische Akti-
vitäten verfügen (Abbildung 9.46).
Über die Ursachen der unterschiedlichen biologischen Aktivität wurden zahl-
reiche Modellvorstellungen entwickelt. Grundlage bildeten Beobachtungen von
Zusammenhängen zwischen der chemischen Reaktivität, der p-Elektronendich-
te und der karzinogenen Wirkung. Diese führten zunächst zur Hypothese sog.
K-Regionen (K = Krebs) und reaktionsträger L-Regionen.
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 401

 
 








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Abbildung 9.45 Metabolismus von Benzo[a]pyren.

Durch spätere Untersuchungen gelangte man zur Bay-Region-Theorie, wel-


che besagt, dass dasjenige Epoxid die höchste mutagene und karzinogene Po-
tenz besitzt, welches an einem gesättigten, angular anellierten Ring gebildet
wird (Abbildung 9.47) ( Bay-region“). In Erweiterung dieser Theorie wurde

die sog. Fjord-Region“ definiert: aufgrund der sterischen Hinderung können

Diolepoxide in dieser Region nicht durch Epoxidhydrolasen entgiftet werden
und stellen daher besonders starke Karzinogene dar.
Eine Bay-region findet sich auch im Benzo[a]pyren. Dabei erwies sich sein 7,8-
Dihydroxy-9,10-epoxid als erheblich genotoxischer als das entsprechende K-
Region-Epoxid. Auch hier ist die unterschiedliche biologische Reaktivität der
7,8-Dihydroxy-9,10-epoxide teils sterisch bedingt. Aufgrund der cis-Konfigura-
tion zwischen der Hydroxylgruppe an C-7 und der Epoxidgruppe (siehe Abbil-
402 Kapitel 9 Karzinogenese






 
 

 

 

 
 





Abbildung 9.46 Bildung von isomeren Benzo[a]pyren-Diolepoxiden.

     


 


   

Abbildung 9.47 Reaktionszentren an Polyaromaten.

dung 9.46) ist eine anchimere Beschleunigung nukleophiler Ringöffnungsreak-


tionen geschaffen (intramolekulare Protonenkatalyse), wodurch die Reaktivität
im chemischen Test tatsächlich höher ist. Dennoch erwiesen sich die trans-
Isomere in vivo als karzinogener. Als Erklärung werden Abfangreaktionen des
cis-Isomeren an der Applikationsstelle herangezogen.

Nitrosamine

Im Gegensatz zu den Nitrosoamiden, Nitrosocarbaminaten (Urethane) und Ni-


trosoharnstoffen (Abbildung 9.23), die durch Hydrolyse reaktive, genotoxische
Abbauprodukte bilden können, bedürfen die N-Nitrosoamine (Abbildung 9.48)
einer metabolischen Aktivierung.
Diese Aktivierung erfolgt durch a-Hydroxylierung mittels Cytochrom P-450,
Abspaltung des Alkylrestes als Aldehyd unter Bildung eines N-Nitrosomono-
amins und Tautomerie unter Bildung eines Diazohydroxids, das über eine
Diazonium-Zwischenstufe unter Abspaltung von Stickstoff zu einem reakti-
9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 403



 

 
  
        
   
  

     


 


Abbildung 9.48 Metabolismus von Dialkylnitrosaminen.

ven Carbenium-Ion zerfällt. Dieser Mechanismus ist plausibel, da Nitrosamine


wie das Diphenylnitrosamin, welche in a-Position nicht hydroxyliert werden
können, auch nicht karzinogen sind.
Nitrosamine kommen in Spuren ubiquitär vor. Sie finden sich in Lebensmitteln,
Kosmetika, Bioziden, Tabakrauch (Nebenstrom) und in vielen technischen
Chemikalien. Nahezu alle untersuchten Nitrosamine, die in a-Position hydro-
xyliert werden können, haben sich tierexperimentell oder am Menschen als
karzinogen erwiesen.
Dabei ist in Abhängigkeit von der Struktur der Alkylreste hinsichtlich der
Tumorbildung eine ausgesprochene Organ- und Tierspezifität festzustellen.
Neben unterschiedlicher Verteilungskinetik im Organismus und verschiedener
Aktivität der Repairmechanismen wird vor allem eine unterschiedlich ausge-
prägte Ausstattung mit konjugatspaltenden Enzymen für die Erklärung der
Befunde herangezogen. Wird das metabolische Primärprodukt, das a-Hydroxy-
Nitrosamin als Konjugat (Glukuronid) gebunden, so kann letzteres vom Ort
der Bildung abtransportiert, im Organismus verteilt und andernorts nach Spal-
tung wieder freigesetzt werden.
Die chemische Bildung von Nitrosaminen aus sekundären Aminen und Nitrit
hat ihre Bedeutung darin, dass für viele Amine die maximale Geschwindigkeit
der Nitrosierung bei sauren pH-Werten liegt, wie sie im Magen herrschen. Ver-
treter der weniger basischen Amine werden leichter nitrosiert als stark basische
Amine (Abbildung 9.49).
Diese Reaktion, bei der N2 O3 als Nitrosierungsagenz wirksam ist, läuft auch in
vivo ab. Dies haben Fütterungsversuche mit N-Methylbenzylamin oder Mor-
pholin und Nitrit an der Ratte gezeigt. Es konnten sowohl die entsprechenden
Nitrosamine isoliert als auch die gleichen Tumoren nachgewiesen werden wie
nach direkter Applikation der entsprechenden Nitrosamine.
404 Kapitel 9 Karzinogenese

2 NaNO2 + 2 HCl H2 O + 2 NaCl + N2 O 3

4 R R
N H + N2 O 3 N NO + HNO 2
relat. Nitrosierungsrate

R R
3

pKA [HNO2] = 3,4


0
pH
1 2 3 4 5 6 7

Abbildung 9.49 Relative Nitrosierung von sekundären Aminen in Abhängigkeit vom pH-
Wert.

Darüber hinaus sind weitere Möglichkeiten der Nitrosaminbildung bekannt


geworden, die häufig als Nebenreaktionen von Syntheseprozessen ablaufen.
Hierbei kommen als Nitrosierungsmittel neben dem Nitrit-Ion auch Nitroxyl-
verbindungen aus der Luft in Frage. Es handelt sich um Verbindungen des
Typs NOX, in dem X für ein Halogenatom oder für eines der Stickstoffoxide
NO2 bzw. NO3 steht. Letztere liefern Distickstofftrioxid N2 O3 (NO·NO2 ) oder
Distickstofftetroxid N2 O4 (NO·NO3 ). Nitroxylverbindungen dieser Art finden
sich vor allem in Abgasen von Autos oder Kraftwerken und im Zigarettenrauch
oder entstehen bei der Verbrennung organischer, stickstoffhaltiger Substanzen
oberhalb von 800 °C.
Als Beispiel einer verdeckten“ Nitrosierung muss der desalkylierenden Nitro-

sierung größere Bedeutung zugemessen werden (Abbildung 9.50). Dabei wer-



     

   

 

      


Abbildung 9.50 Desalkylierende Nitrosierung von tertiären Aminen.


9.6 Genotoxische Stoffe und Stoffklassen 405

den tertiäre Amine durch Einwirken von Distickstofftrioxid in ein Nitrosamin


überführt, wobei ein Alkylrest als Aldehyd abgespalten wird.
Da diese Reaktion an tertiären Aminen eintritt, die zu Handelsprodukten ver-
arbeitet werden, welche zur Anwendung am Menschen dienen, wurden Höchst-
grenzen für Verunreinigungen mit Nitrosaminen erlassen. So unterliegt Trietha-
nolamin, das vielfach bei der Herstellung von Cremes und Gelen Verwendung
findet, dieser Verordnung. Durch desalkylierende Nitrosierung wird es leicht
in Diethanolnitrosamin überführt (Abbildung 9.51), das über die Haut in den
Körper aufgenommen werden kann.
 
   
       
  
 

Abbildung 9.51 Desalkylierende Nitrosierung von Triethanolamin.

Aromatische Amine

Aromatische Amine finden vielfältig Anwendung bei der Synthese von Farb-
stoffen, Bioziden oder Arzneimitteln.
Im Gegensatz zur enzymatischen Oxidation aliphatischer Amine entstehen bei
der Metabolisierung von aromatischen Aminen zur Alkylierung befähigte elek-
trophile Zwischenstufen wie das Nitrenium-Ion, das mit dem entsprechenden
Carbenium-Ion in mesomerer Wechselbeziehung steht (Abbildung 9.52).
Aufgrund dieser mesomeren Struktur besitzen die Elektrophile eine ausrei-
chende Stabilität. Zur Alkylierung ist das elektrophile Zentrum am Stickstoff
und am Ringkohlenstoff befähigt. Neben den in der Abbildung dargestellten
Reaktionen kann die Aminogruppe in einem ersten Schritt auch durch Cy-
tochrom P-450 zum Hydroxylamin oxidiert werden, das im weiteren einer
Acetylierung oder Sulfatierung unterliegt.
Die Mutagenität der Arylamine nimmt im Ames-Test proportional mit der
Zahl der Aminogruppen zu, wobei die Hammett-Regel bzgl. der Basizität of-
fensichtlich von Bedeutung ist (Abbildung 9.53).
Die Befunde an Nitroanilinen scheinen dieser Regel zu widersprechen. Aro-
matische Nitrogruppen können aber durch Testbakterien, nach oraler Gabe
auch durch Darmbakterien, zu Aminogruppen reduziert werden. Die am Bei-
spiel der Anilinderivate gezeigten metabolischen Reaktionswege und Struktur-
Wirkungs-Beziehungen können weitgehend auf mehrkernige Arylamine und
heterozyklische Arylamine übertragen werden, die sich zu einem hohen Pro-
zentsatz als karzinogen erwiesen haben.
406 Kapitel 9 Karzinogenese

     

   
    
 



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Abbildung 9.52 Metabolismus von Arylaminen zu genotoxischen Elektrophilen.


 


       
   

       
       

   

   
    
       
   

       

 
 

 
  
 

Abbildung 9.53 Beziehungen zwischen Struktur und mutagener Wirkung von Derivaten des
Anilins, Chloranilins und Nitroanilins. Als Maß für die Mutagenität ist rechts neben der
Struktur der Parameter Revertanten/µM“ angegeben (siehe Ames-Test, Abschnitt 9.7.2).

9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 407

9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung

Während die akute toxische Wirkung chemischer Stoffe meist gut bekannt ist,
weiß man über deren mutagene oder karzinogene Eigenschaften oft nur wenig.
Dies liegt nicht zuletzt daran, dass genotoxische Effekte als manifeste Schäden
häufig erst nach vielen Jahren oder sogar Generationen nach Erwerb einer
Mutation zu beobachten sind. Diese lange Zeit erschwert es außerordentlich,
einen Zusammenhang zwischen Noxe und Wirkung zu erkennen. Um das Risiko
für den Menschen zu senken, ist die Erkennung eines Gefährdungspotentials
von großer Wichtigkeit.

Zur Beurteilung der potentiellen kanzerogenen Eigenschaften sowie möglicher


genetischer Risiken einer Substanz werden Genotoxizitätstests durchgeführt.
Dabei werden abhängig vom jeweiligen Verfahren unterschiedliche genotoxische
Mechanismen erfasst. Verschieden sind demnach auch die Risikoabschätzun-
gen.

Trotz der Effektivität mancher Testsysteme ist es nicht möglich, durch Anwen-
dung eines einzigen Tests alleine eine sichere Aussage über eine karzinogene
Wirkung einer Substanz am Menschen zu machen. Erst durch Kombination
verschiedener Testverfahren lässt sich die Sicherheit der Aussage steigern, ent-
sprechend sollte eine Bandbreite verschiedener Testmethoden eingesetzt wer-
den, die im Übrigen auch einer ständigen Weiterentwicklung unterliegen.

Heute werden bei der Prüfung auf Genotoxizität Testbatterien“ eingesetzt,



welche eine Substanz stufenweise durchläuft, beginnend mit der Untersuchung
von Punktmutationen und Chromosomenaberrationen zuerst an Bakterien,
später an Säugerzellen und schließlich in vivo. Die experimentelle Erfassung
einer potentiell karzinogenen Wirkung einer Substanz ist zwar im Versuch am
Tier prinzipiell möglich, aber mit einem sehr hohen Aufwand an Zeit, Ar-
beit und Kosten verbunden. Daher wurden die sogenannten short-term-tests“

entwickelt. Diese gestatten mit geringerem Aufwand eine Aussage über eine
mutagene und karzinogene Wirkung. Im Falle positiver Befunde sollten in der
Regel Dosis-Wirkungs-Beziehungen nachgewiesen werden.

Die Interpretation der Tests wird dann schwierig, wenn (i) Effekte nur bei
sehr hohen, bereits toxischen/cytotoxischen Dosen bzw. Konzentrationen auf-
treten, (ii) verschiedene Tests divergierende Ergebnisse erbringen oder (iii)
negative Genotoxizitätsbefunde erhalten werden, obwohl aus den Stoffeigen-
schaften hinreichende Verdachtsmomente auf Genotoxizität vorliegen. Es muss
dann die jeweilige Relevanz verschiedener Testsysteme abgewogen werden. Die
zur Zeit bekannten Testmethoden lassen sich wie folgt gruppieren:
408 Kapitel 9 Karzinogenese

• Tests auf Adduktbildung


Bildung von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten im Reagenzglas
Nachweis von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten über die Postlabeling-

Methode“
• Tests an Mikroorganismen
Prokaryonten (Bakterien)
Eukaryonten (Hefen)
• Tests an Warmblüterzellen
DNA-Repair- und DNA-Replikationshemmeffekte
Genmutationen
Zytogenetische Effekte
Transformationstests
• Tests am Tier
Insekten
Nager

Nachfolgend werden die wichtigsten Testmethoden hinsichtlich ihrer biologi-


schen Mechanismen erklärt sowie ihre Aussagekraft erläutert.

9.7.1 Tests auf DNA-Adduktbildung


(Bildung von Nukleotid-Kanzerogen-Addukten)
4-Nitrobenzylpyridin (NBP)-Test

Zur Abschätzung der alkylierenden Fähigkeit einer Verbindung unter annä-


hernd biologischen Bedingungen können nukleophile Farbstoffe wie 4-Nitro-
benzylpyridin (NBP) dienen (Abbildung 9.54). Bei der Inkubation von NBP
mit einem Alkylanz bildet sich zunächst durch Alkylierung am Pyridinstick-
stoff ein farbloses quarternäres Salz, das durch Zugabe einer Base in einen vio-
letten Farbstoff überführt werden kann. Diese Reaktion läuft über einen relativ
weiten Konzentrationsbereich linear ab, und die Höhe der Extinktion ist bei
konstanter Inkubationszeit und äquimolarer Konzentration der Testsubstanzen
ein gutes Maß für deren alkylierende Wirkung. Gegebenenfalls müssen hierbei
noch notwendige aktivierende Enzymsysteme zugegeben werden.
Bewertung: Aus den Ergebnissen kann nicht generell auf eine genotoxische Wir-
kung geschlossen werden, da weitere Einflüsse wie Stoffaufnahme, Resorption,
Organverteilung, Metabolismus und Ausscheidung noch berücksichtigt werden
müssen. Daher kann der NBP-Test auch nur einen Hinweis auf eine mögliche
Genotoxizität geben.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 409

     






  
  

Abbildung 9.54 Reaktion von 4-Nitrobenzylpyridin (NBP) mit Alkylanzien. Maximale Ab-
sorption bei λ = 560 nm.

Postlabeling-Methode

Das Postlabeling stellt eine allgemein einsetzbare und empfindliche Methode


zur Messung von Substanzen nach deren kovalenter Bindung an DNA dar.
Hierzu erfolgt zunächst die Exposition eines Testorganismus mit der auf Ge-
notoxizität zu prüfenden Substanz. Aus Gewebeproben wird dann die DNA
isoliert, wobei auf dieser Stufe noch nicht zwischen nicht-modifizierter und
evtl. modifizierter DNA unterschieden wird, und enzymatisch (Micrococcus-
Nuklease, Milz-Phosphodiesterase) zu 3’-Mononukleotiden verdaut. Diese wer-
den nun zu ihrem leichteren Nachweis in Anwesenheit von Adenosintriphos-
phat, das eine endständige radioaktive Phosphatgruppe trägt ([g32 P]-ATP),
unter Katalyse von T4-Polynukleotidkinase zu 3’,5’-Diphosphaten phospho-
ryliert und damit radioaktiv markiert. Es folgt die dünnschichtchromatogra-
phische Trennung der Nukleotide, wobei die evtl. entstandenen Nukleotid-
Kanzerogen-Addukte ein anderes Laufverhalten zeigen und damit von nicht-
modifizierten Nukleotiden abgetrennt werden, und die Detektion der Nukleo-
tide über Autoradiographie.

9.7.2 Tests an Mikroorganismen


Test an Prokaryonten

Als Prokaryonten werden Einzeller bezeichnet, bei denen charakteristische Zell-


bestandteile (Organellen) höherer Zellen wie z. B. das endoplasmatische Reti-
kulum fehlen und das Erbmaterial nicht in Chromosomen untergliedert ist. Die
wichtigste Gruppe stellen die Bakterien dar. Im Rahmen der Prüfung auf Ge-
notoxizität können mit ihrer Hilfe Punktmutationen (Basenpaarsubstitution
und Rasterschubmutationen) erfasst werden. Der Test nach Ames (Abbil-
dung 9.55) an Bakterien vom Stamm Salmonella typhimurium hat eine große
Bedeutung erlangt.
410 Kapitel 9 Karzinogenese

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Abbildung 9.55 Der Ames-Test. S9-Mix: Lebermikrosomen mit einem NADPH-


regenerierenden System; Erklärung siehe Text.

Die Testbakterien haben einen genetischen Defekt (Mutation) und sind nicht
mehr in der Lage, die Aminosäure Histidin (His) zu synthetisieren. Man be-
zeichnet sie darum als Histidin-Mangelmutanten; sie sind his− -auxotroph im
Gegensatz zum Wildtyp, der his+ -prototroph ist. In einer Minimalkultur auf
der Agarplatte, die nur Salze und Glucose enthält, können diese Testbakterien
nicht wachsen.
In Gegenwart von mutagenen Substanzen kann es an den Testbakterien zu
DNA-Veränderungen kommen. Prinzipiell können alle Bereiche der DNA be-
troffen sein, unter anderem auch das Gen, in dem der his− -Defekt lokalisiert ist.
Repairmechanismen führen häufig u. a. zu Rückmutationen. Die Auxotrophie
geht damit wieder in eine Prototrophie über und ein Wachstum der Bakterien
auf dem Minimalagar ohne Histidin wird wieder möglich.
Durch Inkubation der Testbakterien mit der zu prüfenden Substanz über einen
Zeitraum von 20 bis 30 Minuten und anschließender Kultivierung der Bakte-
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 411

rien über zwei Tage bei 37 °C lässt sich, sofern eine Rückmutation ausgelöst
wurde, ein Koloniewachstum beobachten. Jede Kolonie entsteht aus jeweils
einem mutierten Bakterium.
Auf diese Weise können allerdings nur direkt wirkende Mutagene erfasst wer-
den. Bakterien verfügen über kein mischfunktionelles Cytochrom P-450-Sys-
tem, mit dem sie indirekte Mutagene in deren reaktive Metabolite überführen
können.
Dieser Nachteil kann dadurch ausgeglichen werden, dass man dem Inkubations-
ansatz mit der zu testenden Substanz ein Cytochrom P-450-System in Form
von Lebermikrosomen mit einem NADPH-regenerierenden System zusetzt.
Dieser Zusatz wird als S9-Mix“ bezeichnet.

Durch Züchtung stehen für den Ames-Test verschiedene Salmonella-Bakterien
zur Verfügung. Sie zeichnen sich entweder durch gute Zellwanddurchlässigkeit
aus oder durch eine verminderte Kapazität der Repairmechanismen. Beide
Eigenschaften sind für die Empfindlichkeit des Tests wichtig. Durch Auswahl
eines geeigneten Stammes gelingt es, zwischen Basenpaarsubstitution oder Ra-
sterschubmutation zu unterscheiden. Auf die ausführlichen Testbedingungen,
die für ein validiertes, standardisiertes Versuchsprotokoll erforderlich sind, wird
an dieser Stelle nicht eingegangen.
Unter optimalen Bedingungen kann eine gute Konzentrations-Wirkungs-Bezie-
hung erhalten werden. Als Maß für die Mutagenität kann die Anzahl der Re-
vertanten auf die Konzentration der Teststubstanz bezogen werden (Rev./mM;
siehe Abbildungen 9.40 und 9.53).
Neben Salmonella-Bakterien haben auch andere Bakterien, darunter Escheri-
chia coli, mit anderen Aminosäureauxotrophien Eingang in die Mutagenitäts-
forschung gefunden. Generelle Vorteile lassen sich aber nicht erkennen.
Bewertung: Erfasst werden in diesem Test Punktmutationen. Die Korrelati-
on zwischen gefundener Mutagenität und experimenteller Tumorbildung im
Tierversuch hat sich mit über 80 % bei direkten Alkylantien, Arylaminen und
polycyclischen Kohlenwasserstoffen als sehr gut erwiesen.
Der Zusatz eines S9-Mix kann die volle Funktion einer Leber nicht ersetzen,
da neben den Giftungsreaktionen vor allem die Entgiftungsreaktionen nicht
gemäß ihrer physiologischen Bedeutung vertreten sind. Außerdem fehlen alle
kinetischen Einflüsse eines intakten Säugetierorganismus auf die Testsubstanz
und auf deren Metaboliten.
Der Ames-Test gilt als kostengünstiges, zeitsparendes und empfindliches Pre-

screening“, dem bei positivem Ergebnis weitere Tests folgen müssen.
412 Kapitel 9 Karzinogenese

Test an Eukaryonten

Eukaryonten besitzen im Gegensatz zu Prokaryonten Chromosomen, die in ei-


nem Zellkern lokalisiert sind. Eukaryotische Mikroorganismen sind somit hin-
sichtlich ihrer Genetik eher mit Säugetierzellen vergleichbar, lassen sich aber
– im Gegensatz zu Säugetierzellen – unter ähnlich einfachen Bedingungen wie
Bakterien kultivieren. Als Testorganismen dienen die Hefen Saccharomyces
cerevisiae und Neurospora crassa sowie Pilze wie Aspergillus nidulans. Sac-
charomyces cerevisiae wird mit Abstand am häufigsten als Testorganismus
eingesetzt.
Die Testbedingungen sind ähnlich wie im Ames-Test, jedoch beträgt die In-
kubation mit der Testsubstanz wegen der längeren Generationszeit der Hefe
12 bis 24 Stunden. Dem Testansatz muss zur Erfassung indirekt wirkender
Agenzien ebenfalls ein exogenes Cytochrom P-450-System zugegeben werden.
Bewertung: Es können reziproke und nichtreziproke Rekombinationen sowie
Chromosomenveränderungen wie Aberrationen erkannt werden. Wie beim
Ames-Test simuliert das exogene, aktivierende Enzymsystem nicht die volle
Funktion einer Leber. Außerdem fehlen alle kinetischen Einflüsse eines intak-
ten Säugetierorganismus auf die Testsubstanz und auf deren Metaboliten.
Der Hefetest ist ein kostengünstiges, zeitsparendes und empfindliches Pre-

screening“, mit dessen Hilfe neben Mutationen – wie im Ames-Test – auch
Chromosomenschäden erfasst werden können.

9.7.3 Test an Warmblüterzellen (Säugetierzellen)


Genmutationstests

Die Genmutationstests an Säugetierzellen sind auf genetischer Ebene dem


Ames-Test vergleichbar. Allerdings werden nicht Rückmutationen (Mutante
−→ Wildtyp) sondern Vorwärtsmutationen (Normalzelle −→ Mutante) erfasst.
Da die Kulturbedingungen so gewählt sind, dass nur die erzeugten Mutanten
aufgrund mutationsbedingt erworbener Eigenschaften überleben können, ist
das Testsystem dem Ames-Test sehr ähnlich.
In diesen Genmutationstests werden nach Inkubation mit der Testsubstanz
den Zellen in der Wachstums- und Vermehrungsphase bestimmte Antimeta-
bolite zugesetzt, die bei normalen Zellen zu deren Absterben führen. Ist durch
die Testsubstanz eine Mutation ausgelöst worden, die zu einer Resistenz ge-
genüber den Antimetaboliten führt, so können sich diese (Vorwärts)-Mutanten
in Gegenwart des Antimetaboliten vermehren. Wegen der Mutation wird der
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 413

Antimetabolit so schnell metabolisiert, dass er für die Zelle keine letale Wir-
kung mehr besitzt.
Folgende Antimetaboliten finden häufig Verwendung: Trifluorthymidin hemmt
die Thymidinkinase, das 6-Thioguanin hemmt die Hypoxanthin-Phosphori-
bosyl-Transferase und greift in die DNA-Synthese ein, Ouabain (g-Strophan-
thin) blockiert die Na+ /K+ -ATPase in der Zellmembran.
Als Testzellen dienen etablierte Zellinien (Permanentkulturen) verschiedener
Tierspezies, z. B. Maus-Lymphoma-Zellen (L 51784), chinesische Hamster Lun-
genzellen (CHV79) und chinesische Hamster Ovarialzellen (CHO).
Der HG-PRT-Test (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferasegen-
Test) basiert auf Säugetierzellen, die durch eine genetische Veränderung ge-
gen Thioguanin (TG) resistent sind. Zur Verfügung stehen z. B. TG-resistente
V79-Hamsterfibroblasten. Werden solche Mutanten mit normalen V79-Fibro-
blasten (Wildtyp) in einer Mischkultur und in Gegenwart von TG gehalten,
kommt es zwischen beiden Zelltypen zur metabolischen Zell-Zell-Kommunika-
tion. Ein von den Wildtyp-Zellen gebildeter Metabolit des Thioguanin gelangt
zu den TG-resistenten Zellen und verursacht deren Absterben. Unter Testbe-
dingungen wird eine Testsubstanz zugesetzt; wenn diese (wie z. B. verschiedene
Tumorpromotoren) die Zell-Zell-Kommunikation unterdrückt, wird ein Wachs-
tum der überlebenden resistenten Zellen beobachtet (Abbildung 9.56).
Alle für diesen Test zur Verfügung stehenden Zellinien besitzen kein metabo-
lisierendes Enzymsystem. Zur Erfassung indirekt wirkender Mutagene muss
dieses daher dem Inkubationsansatz zugefügt werden.
Bewertung: Genmutationstests an Warmblüter- (Säugetier-) Zellen zählen eben-
falls zu den kostengünstigeren Testsystemen. Allerdings ist im Vergleich zum
Ames-Test hier aufgrund der erheblich höheren Populationsverdopplungszeit
von 10–20 Stunden, der bis zu drei Tage dauernden Inkubation mit der Test-
substanz sowie einer Kultivierungsdauer von 7–14 Tagen ist eine deutlich länge-
re Testzeit erforderlich. Wie beim Ames-Test werden metabolische und kine-
tische Einflüsse eines Säugetierorganismus auf die Testsubstanz oder deren
Metabolite nicht erfasst.
Genmutationstests, für die heute gut validierte Versuchsprotokolle vorliegen,
eignen sich als Bestandteile sogenannter Testbatterien. Die Korrelation zwi-
schen Mutagenität und Karzinogenität wird auf 80 bis 95 % geschätzt.

Tests auf zytogenetische Effekte

Bei diesen Testverfahren werden strukturelle Veränderungen von Chromoso-


men erfasst, die durch genotoxische Substanzen hervorgerufen werden. Dabei
414 Kapitel 9 Karzinogenese

V79-Hamsterzellen V79-Hamsterzellen
(HG-PRT+) (HG-PRT-)

Mischkultur

+ Thioguanin
+ Thioguanin + Testsubstanz

Bestimmung der
Zahl überlebender
Zellen

Kein Wachstum Wachstum


wegen intakter Zell-Zell- wegen Testsubstanz-
Kommunikation bedingter Inhibition der
(TG-Metabolit wird auf Zell-Zell-Kommunikation
Mutanten übertragen)

Abbildung 9.56 Der HG-PRT- (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase-Gen-)Test.


HG-PRT + : wt-Zellen; HG-PRT − : Mutanten mit TG-Resistenz.

ist ein direkter Angriff der Testsubstanz an der DNA nicht immer erforderlich,
da auch andere Störungen zu DNA-Doppelstrangbrüchen führen können, die
Voraussetzung für die Chromosomenveränderung sind.

Test auf Chromosomenaberrationen

Hierbei werden die zu untersuchenden Zellen, z. B. menschliche Lymphozyten,


mehrere Stunden lang mit der Testsubstanz inkubiert. Danach werden die
Zellen durch Zugabe von Colchicin, einem Spindelgift, in einer bestimmten
Phase der Zellteilung, der Metaphase, fixiert. Eine besondere Färbetechnik
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 415

macht die Chromosomen für eine lichtmikroskopische Beurteilung sichtbar. Auf


diese Weise werden Strukturanomalien an Chromosomen wie Gaps, Brüche,
Interchanges, Translokationen oder Deletionen erfasst.
Tests auf Chromosomenaberrationen lassen sich auch in vivo durchführen, in-
dem die Testsubstanz einem Hamster als Versuchstier appliziert wird. Nach
einer gewissen Zeit isoliert man Körperzellen, wie Knochenmarkzellen, für ei-
ne mikroskopische Untersuchung.
Bewertung: Das Auftreten von Chromosomenaberrationen in der ersten Zell-
phase beweist keine Mutation, da die ausgelösten DNA-Schäden noch nicht im
Rahmen einer Zellteilung auf die Tochtergeneration übertragen worden sind.

Test auf Schwesterchromatidaustausch

Auch dem Schwesterchromatidaustausch (sister chromatid exchange, SCE)


liegen DNA-Strangbrüche zugrunde. Sie treten in beiden Chromatiden, also
der funktionellen Untereinheit (Längshälfte) eines Chromosoms, an gleicher
Stelle (homolog) auf, so dass es zu einem reziproken Austausch der beiden
DNA-Moleküle an den Bruchstellen mit anschließender Verknüpfung kommt.
Solche Austauschreaktionen an Schwesterchromatiden weist man nach, indem
man teilungsaktive Testzellen im Inkubationsansatz mit 5-Bromdesoxyuridin
(BrdU) inkubiert. Dieses verhält sich dem Nukleotidbaustein Thymidin analog
und wird während der Replikation bei der Synthese von DNA in den jeweiligen
neuen DNA-Strang eingebaut. Nach zwei Zellzyklen enthält die chromosomale
DNA des einen Chromatids somit nur Thymidin, die des anderen BrdU. Durch
eine spezielle Fluoreszenzfärbung lässt sich in der Metaphase mikroskopisch
zwischen BrdU- und Thymidin-haltigen Chromatiden unterscheiden. Hat ein
reziproker Austausch stattgefunden (induziert etwa durch ein Klastogen), so
enthalten beide Chromatiden BrdU und wegen der Reihung heller und dunkler
Abschnitte sind in jedem Chromatid Farbsprünge“ zu erkennen (Abbildung

9.57).
Bewertung: Der exakte Austausch von zwei identischen Chromatidenabschnit-
ten, welche die gleiche Erbinformation enthalten, bedeutet noch keine Mutati-
on. Bei vielen genotoxischen Substanzen hat sich jedoch eine hohe Korrelation
zwischen der Auslösung von SCEs und positiven Ergebnissen in Tests auf Mu-
tagenität oder Karzinogenität ergeben. SCE-Tests werden daher sehr häufig
wegen ihres geringen Aufwands in Testbatterien aufgenommen. Der Zusatz von
S9-Mix zum Testmedium ist möglich.
416 Kapitel 9 Karzinogenese

   


    




 

Abbildung 9.57 Der Test auf Schwesterchromatidenaustausch (hellgrau: BrdU-markierte


DNA-Stränge).

Test auf DNA-Reparatur

Wie erwähnt, werden durch genotoxische Substanzen ausgelöste DNA-Schäden


zum überwiegenden Teil durch Reparatursysteme der Zelle korrigiert. Nicht re-
parierte, auf die Tochterzellen weitervererbte DNA-Schäden sind seltene Er-
eignisse.

Durch genotoxische Substanzen wird das Reparatursystem stärker in Anspruch


genommen. Daher regen solche Verbindungen die behandelten Zellen zu ei-
ner höheren DNA-Reparatur an. Diese kann analytisch erfasst werden, indem
einem Inkubationsansatz [3 H]-Thymidin zugesetzt und die DNA-Reparatur
durch Einbau von [3 H]-Thymidin radioaktiv verfolgt wird. Der Umfang des
[3 H]-Thymidineinbaus gilt als Maß für die DNA-Reparatur.

Allerdings muss für die Messung der DNA-Reparatur eine exakte Unterschei-
dung von der DNA-Synthese in der Replikationsphase erfolgen. Dies lässt sich
durch Auftragen der inkubierten Zellen auf einen photographischen Film er-
reichen, dessen Emulsion für die b-Strahlung des Tritiums empfindlich ist (Au-
toradiographie). Im Autoradiogramm kann anhand unterschiedlicher Schwär-
zungsgrade zwischen Reparatur- bzw. Synthese-DNA differenziert werden.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 417

Bewertung: Durch Erfassung der DNA-Reparatur-Synthese wird lediglich eine


DNA-Aktivität der Testsubstanz nachgewiesen, nicht jedoch eine Mutation.
Nach Zellteilung manifest gewordene DNA-Veränderungen werden dabei nicht
nachgewiesen.

Tests auf DNA-Fragmentierung

Durch DNA-Strangbrüche entstehen kürzere DNA-Stücke, die in alkalischem


Milieu eine bessere Löslichkeit aufweisen als diejenigen von intakten DNA-
Ketten. Es ist deshalb möglich, durch Aufbringen von inkubierten Zellen auf
Porenfilter und Elution mit Kalilauge die DNA-Bruchstücke herauszulösen,
wobei die kürzesten DNA-Bruchstücke als erste im Eluat erscheinen. Der
Nachweis erfolgt photooptisch oder durch Szintillationsmessung nach Mar-
kierung durch [3 H]-Thymidin. Als Elutionstechnik kann auch eine alkalische
Einzelzellelektrophorese durchgeführt werden. Hierbei verlassen die kurzen
DNA-Bruchstücke wegen ihrer höheren elektrophoretischen Beweglichkeit die
Zelle und werden durch Färbetechniken nachgewiesen.
Bewertung: Auch bei der DNA-Fragmentierung werden nur DNA-Schäden,
aber keine Mutationen erfasst.

Tests auf Zelltransformation

In diesen Tests wird die Transformation von normalen Zellen zu solchen mit
malignen Wachstumseigenschaften erfasst. Häufig dienen zu Testzwecken die
Zellen aus Embryonen des syrischen Hamsters (SHE). Nach deren Inkubation
mit der Testsubstanz für 2–4 Wochen können im Falle einer malignen Transfor-
mation Wachstumsanomalien beobachtet werden. Dieses tumorigene Potential
äußert sich durch Erwerb der Fähigkeit, in sog. Weichagarkulturen zu wachsen.
Dies kann dann auch zur Isolierung entsprechend transformierter Zellkoloni-
en ausgenützt werden. Weiterhin sind transformierte Zellen im Gegensatz zu
Normalzellen in der Lage, nach Injektion in Mäusen Tumore zu bilden.
Bewertung: Weisen die Tests auf eine Zelltransformation hin, besteht eine ho-
he Korrelation zur Karzinogenität in vivo. Zwar sind die Verfahren weniger
aufwändig als eine Prüfung auf Karzinogenität am Tier, sie benötigen aber
dennoch einen Zeitaufwand von 1 bis 2 Monaten. Deshalb findet diese Metho-
dik in der Routineprüfung auf Genotoxizität keine Anwendung.
418 Kapitel 9 Karzinogenese

9.7.4 Tests am Tier

In vivo-Tests haben den großen Vorteil, das metabolische und kinetische Ver-
halten der Testsubstanz sowie die Wirkung der entstehenden Metaboliten zu
erfassen. Zwischen Effekten am Versuchstier und Wirkungen, die beim Men-
schen erwartet werden, bestehen engere Korrelationen als zu Ergebnissen aus
in vitro-Untersuchungen.
Die Testmethoden lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: in Keimbahn-Tests
(germ line tests) und in Tests an Soma-Zellen (somatic tissue tests).
Die Keimbahn-Tests erfassen Mutationen in den Keimzellen. Sie sind so an-
gelegt, dass Mutationen in den Keimzellen zu phänotypischen Veränderungen
bei der Tochtergeneration (F1-Generation) führen. Dies ist von Vorteil, da bei
rezessivem Erbgang ansonsten evtl. erst in einer späteren Generation Verände-
rungen auftreten.
In Somazell-Tests werden die Testsubstanzen in der Regel beim Muttertier
während der Tragezeit appliziert. Durch Mutationen an den Körperzellen der
Embryonen kann es dann ebenfalls zu Auffälligkeiten am adulten Nachwuchs
kommen.

Keimbahntests an Fruchtfliegen

Beim Test an der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster ) wird die Testsubstanz


dem Futter männlicher Fliegen zugemischt, die anschließend mit unbehandel-
ten weiblichen Tieren verpaart werden. Weibchen der F1-Generation erhalten
ein X-Chromosom des Vaters und geben es bei erneuter Verpaarung auf ihre
F2-Nachkommen weiter. Alle F2-Männchen erhalten ihr X-Chromosom von
der Mutter, d. h. zur Hälfte das des Großvaters. Rezessive Veränderungen auf
diesem X-Chromosom können sich in den Männchen der zweiten Generation
auswirken, da das Y-Chromosom nicht die dominanten Wildtyp-Allele trägt,
die diese Mutation sonst unterdrücken würden. Trägt ein Weibchen auf dem
X-Chromosom, das sie vom Vater erhalten hat, eine induzierte rezessive Le-
talmutation, so wird die Hälfte ihrer männlichen Nachkommen sterben.
Bewertung: Dieser Test benötigt einen Zeitaufwand von etwa vier Wochen. Da
die Fruchtfliege über ein mischfunktionelles Cytochrom P-450-System verfügt,
das dem der Nagetierleber ähnlich ist, lassen sich auch Prokarzinogene erfas-
sen. Aufgrund des hohen Zeitaufwandes ist der Test jedoch nicht für Routine-
prüfungen geeignet.
9.7 Testsysteme zur Genotoxizitätsprüfung 419

Specific-Locus-Test

Wie beim Drosophila-Test werden auch beim Specific-Locus-Test“ männliche



Tiere, in der Regel Mäuse, mit der Prüfsubstanz vorbehandelt und danach mit
unbehandelten Weibchen gepaart. Ist dabei in den Keimzellen der männlichen
Tiere ein Gen mutiert worden, das in den weiblichen Tieren rezessiv ist, so
können in der Tochtergeneration (F1-Generation) phänotypische Veränderun-
gen an Fell-, Augenfarbe, Enzymaktivitäten u. a. beobachtet werden.
Bewertung: Hinsichtlich der Aussage über das genetische Risiko von indu-
zierten Punktmutationen stellt dieser Test ein relevantes System dar. Seine
Anwendung ist durch die große Zahl der benötigten Versuchstiere stark ein-
geschränkt. So werden für eine sichere Aussage pro Dosisgruppe etwa 50 000
(!) F1-Tiere zur Beurteilung benötigt, was etwa 10 000 trächtigen Weibchen
entspricht. Dazu kommen lange Versuchszeiten und sehr hohe Kosten, die fast
denen von Karzinogenitätsstudien entsprechen. Auch aus ethischen Gründen
ist die Durchführung eines solchen Versuches nur dann vertretbar, wenn po-
sitive Daten aus anderen Punktmutationssystemen vorliegen, eine Exposition
des Menschen nicht zu vermeiden und die Substanz von großer Bedeutung ist.

Dominant-Letal-Test

Der Dominant-Letal-Test“ zählt zu den klassischen Methoden der Mutage-



nitätsprüfung. Wie beim Specific-Locus-Test werden mit der Prüfsubstanz be-
handelte männliche Mäuse mit unbehandelten Weibchen verpaart. Stellt man
an den aus diesen Verpaarungen hervorgehenden Embryonen einen gegenüber
der Spontanrate erhöhten Anteil toter Keimlinge im Uterus fest, so kann auf in-
duzierte, dominante Letalmutationen in den männlichen Keimzellen geschlos-
sen werden.
Bewertung: Der größte Nachteil dieses Tests besteht in der relativ hohen Zahl
der erforderlichen Versuchstiere. Jede Dosis der Testsubstanz muss an etwa 50
männlichen Tiere geprüft werden. Heute hat der Test deshalb eine untergeord-
nete Bedeutung.

Somazell-Tests

In Somazell-Tests“ werden Mutationen in somatischen Zellen von Embryo-



nen erfasst, wobei den Muttertieren während der Tragzeit die Prüfsubstanz
appliziert wird. Als Ergebnis der Mutation (Genmutation, Rekombination)
entwickeln sich aus den mutierten Embryonalzellen bei der Reifung des Tieres
phänotypische Veränderungen.
420 Kapitel 9 Karzinogenese

Als Versuchstiere werden häufig Drosophila melanogaster oder Mäuse einge-


setzt. An der Fruchtfliege kann eine punktuelle Veränderung der Augenfarbe
(Facettenpigmentierung) oder des Flügel-Mosaik-Systems beobachtet werden.
Bei der Maus sind im Falle einer Mutation punktuelle Farbveränderungen des
Fells (Spot-Test) feststellbar.
Bewertung: Die Somazell-Tests haben eine hohe Korrelation zwischen Erfas-
sung der Mutagenität und der im Tierversuch gefundenen Karzinogenität ge-
zeigt. Ein positives Testergebnis ist daher von hoher Relevanz für die Abschät-
zung des Risikos für den Menschen.

Mikrokerntest

Beim Mikrokerntest“ wird die Tatsache genutzt, dass bei der Reifung der Ery-

throblasten zu roten Blutzellen (Erythrozyten) der Zellkern bei seiner letzten
mitotischen Teilung aus der Zelle ausgestoßen wird. Hat während der Reifung
der Erythroblasten eine genotoxische Substanz mit klastogenen Eigenschaf-
ten (Aberrationen) oder mit Beeinflussung des Spindelapparates eingewirkt,
so können entstehende Chromosomenbruchstücke oder auch einzelne Chromo-
somen bei der Zellteilung statt im regulären Zellkern in einem sogenannten
Mikrokern separiert werden. Letzterer wird bei der Erythrozytenbildung nicht
wie der Normalkern ausgestoßen, sondern bleibt in der Zelle, wo er durch ei-
ne besondere Färbetechnik mikroskopisch sichtbar gemacht werden kann. Das
vermehrte Auftreten von Mikrokernen in Erythrozyten ist daher als Nachweis
der Einwirkung einer klastogenen Substanz zu werten. Durch Applikation der
Substanz bei der Maus und Entnahmen von Knochenmark nach 1, 2 oder
3 Tagen lassen sich Mikrokerne nachweisen.
Bewertung: Der Mikrokerntest zählt heute wegen seiner leichten Durchführbar-
keit sowie der Möglichkeit einer automatisierten Auswertung zu den Standard-
verfahren zur Erfassung von Genotoxizität.
Teil III

Behandlungsprinzipien
10 Behandlungsprinzipien bei akuter
Vergiftung
Thomas R. H. Büch

10.1 Einleitung

Akute Vergiftungen sind häufig. In den entwickelten Ländern machen sie et-
wa 5 bis 10 % aller Einweisungen in einer medizinischen Notfallabteilung aus.
Schwere Gesundheitsschäden treten jedoch nur in etwa 2 bis 5 % aller aku-
ten Vergiftungen auf, und die Sterblichkeit nach Krankenhauseinweisung liegt
bei unter 1 %. So gesehen ist die Prognose von Vergiftungen also in den mei-
sten Fällen recht gut. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der niedrige
Prozentanteil schwerer Verläufe mit bedingt ist durch die sehr engmaschige
Erfassung auch leichtester Fälle von Intoxikationen.
In der Todesursachen-Statistik nehmen Vergiftungen dennoch einen wichti-
gen Platz ein. Immerhin ergab sich in einer retrospektiven Analyse von 13 819
Autopsien, die von 1950 bis 2000 am Gerichtsmedizinischen Institut der Uni-
versität Greifswald durchgeführt wurden, für Vergiftungen ein Anteil von über
10 % aller Todesursachen. Bei einer Auswertung der Ursachen von vollendeten
Selbsttötungen in Deutschland im Jahre 2002 standen Vergiftungen an zwei-
ter Stelle, und in einer Auflistung von Todesursachen durch äußere Einwirkung
(Unfälle oder Verbrechen) in den Vereinigten Staaten fanden sich Vergiftun-
gen an dritter Stelle. Besonders groß ist der Anteil von Vergiftungen unter den
Todesursachen in der Gruppe der jüngeren Erwachsenen. So sind in Großbri-
tannien 20 % aller Todesfälle bei Personen zwischen 20 und 29 Jahren durch
Vergiftungen bedingt.
Betrachtet man alle Vergiftungen (leichte und schwere Fälle), so ist der Anteil
von Kindern etwas höher als der von Erwachsenen (Abbildung 10.1). Gerade in
der Entwicklungsphase, in der Kinder ihre Umwelt mit dem Mund erkunden“

sind sie besonders anfällig für die Aufnahme von Giftstoffen, so dass sich knapp
10 % aller Vergiftungsfälle in der Altersgruppe unter 1 Jahr finden.
424 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

Säuglinge (0 – 1 J.)

9%

Kinder Heranwachsende und


50 % 41 %
> 1 J. – 14 J.) Erwachsene (> 14 J.)

Abbildung 10.1 Altersverteilung akuter Vergiftungen in Deutschland. Zusammengefasste Da-


ten der Jahresberichte 2003 der Vergiftungszentralen Bonn, Freiburg und Mainz sowie des
Giftnotrufs Berlin.

Das Maximum kindlicher Vergiftungen liegt jedoch zwischen dem 2. und 3. Le-
bensjahr, wenn die neu gewonnene Mobilität eine raumgreifendere Erforschung
der Umwelt erlaubt, die noch nicht durch die einsichtsvolle Unterscheidung von
Lebensmitteln und Fremdstoffen gebremst wird. Bestätigt wurde dies in einer
Übersicht der American Association of Poison Control Centers (AAPC) für
2003, bei der 2 395 582 Vergiftungen aller Altersklassen erfasst wurden, wobei
auf Kinder im 2. und 3. Lebensjahr 56,6 % aller kindlichen Vergiftungen (< 12
Jahre) entfielen.
Hinsichtlich der Ursachen sind weit über 90 % aller kindlichen Vergiftungen
akzidenteller Natur, erfolgen also unbeabsichtigt. Demgegenüber stehen bei
Erwachsenen an erster Stelle Vergiftungen in suizidaler Absicht, gefolgt von
Unfällen (Abbildung 10.2). Weitere wichtige Ursachen bei Erwachsenen sind
die Einnahme legaler oder illegaler Rauschmittel, Vergiftungen durch Stoffe am
Arbeitsplatz und iatrogene – d. h. aus ärztlicher Fehlbehandlung resultieren-
de – Vergiftungen.
Trotz des hohen Anteils von Kindern bei Vergiftungen ist der Ausgang in die-
ser Altersgruppe ganz überwiegend gutartig. Dies liegt zum einen daran, dass
kindliche Vergiftungen eben meist akzidentell, also ohne bösen Willen“ erfol-

gen, zum anderen reagieren gerade Kinder auf die Einnahme eines Giftstoffes
sehr häufig mit raschem Erbrechen, was meist die Aufnahme einer größeren
Menge verhindert.
10.1 Einleitung 425

40000 0 – 14 J. > 14 J. 40000

An
za 30000 30000
hl
der
Anzahl der Fälle

Fäl
le
20000 20000

10000 10000

0 0
Akzidentell Suizidal Sonstiges Akzidentell Suizidal Sonstiges

Abbildung 10.2 Altersabhängige Ursachen von Vergiftungen. Kombinierte Daten aus den
Jahresberichten 2003 der Giftinformationszentrale Bonn sowie des Giftnotrufs Berlin.

Der im Allgemeinen recht günstige Verlauf bei Kindern wurde kürzlich in der
bereits angesprochenen Untersuchung der AAPC belegt (Abbildung 10.3): Für
das Jahr 2003 waren 496 003 kindliche Vergiftungsfälle (0 – 12 Jahre) hinsicht-
lich ihres Schweregrades auswertbar; der Anteil schwerer oder tödlicher Intoxi-
kationen bei allen kindlichen Vergiftungen lag hierbei unter 0,2 %, und der An-
teil von Kindern unter 12 Jahren bei tödlichen Vergiftungen aller Altersgrup-
pen lag bei 3,7 %. Ungünstiger war dementsprechend das Bild bei Erwachsenen

400000 16000 1200

300000 12000 900


Anzahl der Fälle
Anzahl der Fälle
Anzahl der Fälle

200000 8000 600

100000 4000 300

0 0 0
Kein Effekt Schwacher / mäßiger Effekt Schwere Intoxikation Tod

0 - 12 Jahre > 12 Jahre

Abbildung 10.3 Altersabhängiger Schweregrad von Vergiftungen. Zu beachten ist die un-
terschiedliche Skalierung der Ordinaten. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC zu
Vergiftungen in den USA.
426 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

Oral

77 %

Parenteral 0,5 %

Inhalativ 5,8 %

Okulär 5,2 %

Bisse u.
Stiche 3,5 %
Sonstige Dermal
0,7 % 7,5 %

Abbildung 10.4 Aufnahmewege bei akuten Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003
der AAPC zu Vergiftungen in den USA.

und Jugendlichen: zwar erwiesen sich auch hier über 95 % aller Vergiftungen
als leicht, doch war das Verhältnis von Betroffenen über 12 Jahren zu solchen
unter 12 Jahren bei schweren Vergiftungen 14:1 und bei tödlichen Vergiftungen
25:1.
Der Kontakt mit Giftstoffen erfolgt in den weitaus meisten Fällen durch Ver-
schlucken, d. h. orale Aufnahme (Abbildung 10.4). An zweiter Stelle steht mit
einigem Abstand die Einwirkung des Agens auf die Haut (dermal). An dritter
Stelle folgt die Vergiftung durch inhalative Noxen, an vierter Stelle steht die
Einwirkung von Giften auf die Augen (okulär). Eine Rarität ist die Injektion
toxischer Substanzen (parenterale Aufnahme). Die meisten dieser Fälle treten
in Zusammenhang mit dem Abusus von Opioiden (z. B. Heroin) als Rausch-
mittel auf.
Bei den Substanzen, die in der Allgemeinbevölkerung zu Vergiftungen führen,
stehen Medikamente an erster Stelle, wobei bei Erwachsenen meist eine Ein-
nahme in suizidaler Absicht erfolgt, während bei kindlichen Medikamentenver-
giftungen in der Regel eine akzidentelle Intoxikation vorliegt. Ingesamt kann
man sagen, dass das Spektrum möglicher Substanzgruppen bei Kindern breiter
gefächert ist als bei Erwachsenen. In einer Auflistung des Giftnotrufs München
aus dem Jahr 2000 waren Medikamente für über 50 % aller Vergiftungen bei
10.1 Einleitung 427

7000

6000

5000 0 bis 18 Jahre > 18 Jahre

4000

3000

2000

1000

0
el
te

er
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Pf
So

Fa

Abbildung 10.5 Übersicht über Substanzgruppen bei akuten Vergiftungen. Vergleich von Kin-
dern und Jugendlichen (< 18 Jahre) mit Erwachsenen (> 18 Jahre). Daten aus dem Jah-
resbericht 2000 des Giftnotrufs München.

Erwachsenen verantwortlich aber nur für 28 % aller kindlichen Vergiftungen


(Abbildung 10.5). Pflanzen waren mit 22 % die zweitwichtigste Ursache von
Vergiftungen bei Kindern, während sie bei Erwachsenen mit 5 % keine ver-
gleichbar große Rolle spielen. In der Gruppe über 18 Jahren waren Reini-
gungsmittel, Farben und Lösungsmittel sowie Lebensmittel mit jeweils 6 bis
7 % die wichtigsten Substanzgruppen nach den Medikamenten.
Eine andere Verteilung ergibt sich für die Ursachen von Vergiftungen am Ar-
beitsplatz. In einer Zusammenstellung der Zentralen Erfassungsstelle für Ver-

giftungen, gefährliche Stoffe und Zubereitungen – Umweltmedizin“ im Bundes-
institut für Risikobewertung für das Jahr 2003 (Tabelle 10.1) fanden sich unter
den Berufsgenossenschaftlichen Meldungen von Vergiftungsfällen am häufig-
428 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

sten chemische Grundsubstanzen wie Säuren, Laugen sowie Grund- und Zwi-
schenprodukte bei der industriellen Produktion von Chemikalien. An zweiter
Stelle der Häufigkeit standen Reinigungsmittel, gefolgt von Desinfektionsmit-
teln.
Auch im beruflichen Umfeld verlaufen Vergiftungen meist leicht. Bei den oben
angesprochenen Analysen des Bundesinstituts für Risikobewertung waren in
kapp 90 % der Fälle nur leichte Vergiftungserscheinungen aufgetreten. Eine
Ausnahme stellten Baustoffe (wie zum Beispiel Kalk, Zement oder Mörtel) dar,
bei denen es in immerhin 18 % der Fälle zu mäßigen oder schweren Schädigun-
gen kam. Hierbei spielen vor allem Augenverätzungen eine Rolle (siehe Kapitel
10.3.2).

Tabelle 10.1 Ursachen gewerblicher Vergiftungen. Berufsgenossenschaftliche Meldungen, zu-


sammengestellt anhand des Jahresberichtes 2003 der Zentralen Erfassungsstelle für Vergif-
tungen, gefährliche Stoffe und Zubereitungen des Bundesinstituts für Risikobewertung.

Produktgruppe Anzahl der Fälle Prozentsatz Prozentsatz mit


der Fälle mäßigem oder
schwerem Verlauf
Grundsubstanzen 2335 40 12
Reinigungsmittel 1014 17 11
Desinfektionsmittel 337 6 3
Abgase 322 5 5
Anstrichstoffe 235 4 4
Baustoffe 206 3 18
Akkumulatoren 128 2 8
Klebstoffe 107 2 6
Sonstiges 1225 21 keine Angabe

Bei der Lektüre des Buches von Louis Lewin Die Gifte in der Weltgeschichte“

bekommt man einen Eindruck über die Verbreitung der Giftkenntnisse vom
Altertum bis in unsere Zeit. In seinem Schlusswort auf Seite 579 stellt Levin
heraus: Die Zeit wird kommen, wo der Satz ganz erwiesen sein wird: Vergif-

tung ist eine örtliche oder allgemeine Krankheit, und eine natürliche Krankheit
ist eine örtliche oder allgemeine Vergiftung“. Folgt man dieser Argumentation,
so ist das Gift ein unausrottbarer Feind des Menschen. In der Vergangenheit
galt der Vergiftung aus kriminellen Motiven ein besonderes Augenmerk seitens
der Heilkundigen und Mächtigen. Dagegen tritt dieses Motiv in der heutigen
Zeit gegenüber akzidenziellen und suizidalen Vergiftungen deutlich in den Hin-
tergrund.
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen 429

10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen

Bei der Behandlung einer akuten Vergiftung ist der Zeitfaktor ein entscheiden-
des Kriterium. Rasches und zielbewusstes Handeln ist hier ausschlaggebend
für die Rettung des Vergifteten. Dennoch ist Ruhe bewahren!“– wie bei allen

Notfallsituationen – oberstes Prinzip.
Die allgemeine Rufnummer der Leitstellen von Rettungsdienst, Feuerwehr und
Katastrophenschutz ist die 112. Diese Nummer ist auch für Mobiltelefone ge-
nerell freigeschaltet, also unabhängig von dem eigenen Netzbetreiber wählbar.
Wenn die Nummer nach Einschalten des Handys aber vor der Eingabe des
PIN-Codes gewählt wird, so wird für den Notruf automatisch das stärkste
verfügbare Netz gewählt. In einigen Bundesländern existiert neben der all-
gemeinen Leitstellennummer 112 auch die 19 222 als direkte Verbindung zur
Rettungsleitstelle. Wenn man im Zweifel über die korrekte Nummer ist, sollte
man jedoch die 112 wählen, um Zeit mit Fehlversuchen zu sparen. Mittlerweile
ist die 112 auch als Euro-Notrufnummer in allen EU-Staaten und der Schweiz
und Liechtenstein eingeführt und dort ebenfalls per Handy (vor Eingabe des
PIN-Codes) frei wählbar.

112 Universelle Notrufnummer der Leitstelle


von Rettungsdienst, Feuerwehr und Kata-
strophenschutz.

19 222 Direkte Rufnummer der Rettungsleit-


stelle in Baden-Württemberg, Bayern,
Rheinland-Pfalz und dem Saarland.

Die wichtigsten Fragen der Leitstelle bei einem Notruf wegen einer Vergiftung
werden auf der nächsten Seite aufgeführt.
Oft können schon per Telefon Anweisungen gegeben werden, wodurch es ge-
lingt, kostbare Zeit zur Sicherung der Vitalfunktionen und zur Einschränkung
der Giftresorption (primäre Entgiftungsmaßnahmen) zu gewinnen.
Während bei einem noch ansprechbaren Patienten die primären Entgiftungs-
maßnahmen im Vordergrund stehen (siehe Kapitel 10.3), muss beim Bewusst-
losen auf die Sicherung der Vitalfunktionen geachtet werden, auch wenn der
Arzt noch nicht zur Stelle ist. Der oder die Laienhelfer leiten die entscheiden-
den Sofortmaßnahmen ein.
430 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

Wo hat sich die Vergiftung ereignet? (Standort)

Wer ist betroffen? (Anzahl und Alter der Patienten)

Was wurde eingenommen?

Wieviel der entsprechenden Substanz wurde einge-


nommen?

Wann wurde die Substanz eingenommen?

Welche Vergiftungserscheinungen traten auf?

Ein siebter, essentieller Punkt ist:

Immer auf Rückfragen der Rettungsstelle warten!

10.2.1 Erste Maßnahmen durch den Laien


Bei Auffinden eines bewusstlosen Vergiftungsopfers muss alles getan werden,
um schnellstmöglich die Rettungsleitstelle zu benachrichtigen und die vita-
len Funktionen des Vergifteten zu erhalten und ihn richtig zu lagern. Um die
Bewusstseinslage zu überprüfen, wird der Betroffene laut und deutlich ange-
sprochen und leicht an den Schultern geschüttelt. Erfolgt keinerlei Reaktion,
muss von einer vitalen Bedrohung ausgegangen werden. Im Hinblick auf die Ba-
sismaßnahmen unterscheidet der Gesetzgeber nicht zwischen Laienhelfer und
Arzt: Die unterlassene Hilfeleistung ist strafbar (§ 323c StGB).
Mnemotechnisch werden die Basismaßnahmen zur Sicherung der Vitalfunktio-
nen in der ABC-Regel ausgedrückt:

A = Atemwege freimachen

B = Beatmung C = Circulation
10.2 Allgemeine Maßnahmen bei Vergiftungen 431

A
Die Atemwege sind freizuhalten bzw. freizumachen. Dem Bewusstlosen sind
Zahnprothesen und Fremdkörper aus dem Mund zu nehmen. Bewusstlosen,
die erbrochen haben, wird der Mund mit dem Finger (mit einem Taschentuch
umwickelt) vom Erbrochenen freigemacht.
Bewusstlose, die noch selbständig atmen, werden in die stabile Seitenlage ge-
bracht, wobei der Kopf tiefer als der Oberkörper liegt, damit nicht der Zun-
gengrund die Atemwege verlegen kann.
Bei Bränden und giftigen Gasen ist der Eigenschutz für den Laienhelfer vor-
dringlich. Insbesondere bei der versuchten Bergung von Vergifteten aus Gärkel-
lern, Silos oder Brunnenschächten kommt es immer wieder zu tragischen Unfäl-
len, denen auch die Ersthelfer zum Opfer fallen. In derartigen Situationen ist
die Erste Hilfe nur möglich, wenn sichergestellt ist, das der Ersthelfer bei plötz-
lichem Bewusstseinsverlust durch ein Rettungsseil geborgen werden kann. In
Räumen, in denen es zum Austritt explosibler Gase gekommen ist, darf wegen
der Explosionsgefahr kein Licht eingeschaltet werden.
B
Nach dem Freimachen der Atemwege konzentriert sich der Ersthelfer auf die
Beatmung. Wenn keine ausreichende Spontanatmung besteht, muss die Mund-
zu-Nase- oder Mund-zu-Mund-Beatmung erfolgen. Bei Ersterer ist es für den
Helfer in der Regel einfacher, den Mund dicht aufzusetzen, so dass diese Vari-
ante im Allgemeinen bevorzugt wird. Hierbei legt der Helfer seine Hände flach
auf die Stirn und unter das Kinn des Patienten, wobei dessen Hals überstreckt
und der Unterkiefer vorgeschoben wird. Wichtig ist es, den Mund des Pati-
enten mit der Hand unter dem Kinn zu verschließen. Der Helfer bläst dann
seine Ausatemluft durch die Nasenöffnungen des Patienten ein. Zur Abdich-
tung sollen die Lippen des Helfers hierbei an der Nase des Patienten anliegen.
Bei der Mund-zu-Mund-Beatmung muss die Nase des Patienten mit Daumen
und Zeigefinger der auf der Stirn liegenden Hand verschlossen werden. Der
Helfer beatmet den Patienten und muss wiederum auf eine dichtes Anliegen
des Mundes achten.
Die Atemspende erfolgt bei beiden Methoden langsam über zwei Sekunden.
Wenn keine Hebung des Brustkorbs des Patienten erkennbar ist, muss von
einer unzureichenden Beatmung ausgegangen werden. In der Ausatemphase
des Patienten wendet der Helfer den Kopf zur Seite. Eine Senkung des Brust-
korbs des Patienten und ein hörbares Ausströmen der Atemluft zeigen in dieser
Phase eine ausreichende Beatmung an.
C
Um mit dem Alphabet fortzufahren, bedeutet Circulation, den Kreislauf des
Blutes aufrechtzuerhalten. Dies erfolgt durch die äußere Herzdruckmassage
432 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

(HDM). Die Indikation für die HDM ist der bewusstlose Patient ohne erkenn-
bare Spontanatmung, bei dem nach zwei initialen Atemspenden keine Zeichen
einer Wiederbelebung sichtbar sind (Bewegungen, Schlucken, Husten). Eine
Pulskontrolle (durch Tasten peripher oder an der Halsschlagader) wird vom
Laienhelfer nicht mehr vorgenommen, da die diagnostische Unsicherheit zu
groß ist.
Wichtig für eine erfolgreiche Wiederbelebung ist, dass der Patient auf einer
harten Unterlage liegt. Außerdem muss grundsätzlich der Brustkorb des Pati-
enten von Kleidern freigemacht werden. Man legt dann beide eigenen Handtel-
ler übereinander auf das untere Drittel des Brustbeins des Bewusstlosen und
drückt bei durchgestreckten Ellenbogen 5 cm in Richtung auf die Wirbelsäule,
indem das Gewicht des Oberkörpers auf die gestreckten Arme verlagert wird.
Der Brustkorb muss dann vollständig entlastet werden, ohne die Hände vom
Druckpunkt abzuheben. Es ist wichtig, dass der Oberkörper des Helfers stets
senkrecht über dem Druckpunkt verbleibt. Die HDM erfolgt in einer Frequenz
von 100 pro Minute. Unabhängig davon ob ein oder zwei Helfer die Reanima-
tion durchführen, erfolgen nach 15 Kompressionen zwei Atemspenden.
Schockbehandlung
Typische Zeichen eines Schocks sind aschgraue Haut, kalte Arme und Beine,
ein kaum tastbarer, sehr schneller Puls mit über 100 Schlägen pro Minute
und eine sehr oberflächliche, schnelle Atmung. Der Vergiftete kann im Schock
versterben, daher sollte man diesem Zustand stets entgegenwirken.
Maßnahmen sind Ruhe und Wärme (Unterlage, Zudecke) und eine flachen
Lagerung mit dem Kopf tief und den Beinen hoch, so dass Blut aus den Beinen
zu Herz und Gehirn fließt (körpereigene Bluttransfusion).
Krämpfe
Krämpfe sind vor allem bei Kindern ein häufiges Symptom von Vergiftungen.
Wichtig ist es hierbei, den Betroffenen vor Verletzungen zu bewahren, indem
gefährliche Gegenstände, gegen die er stoßen könnte, aus der Umgebung ent-
fernt werden. Auf keinen Fall dürfen Glieder des Krampfenden festgehalten
oder verkrampfte Hände gewaltsam geöffnete werden. Auch der Kiefer darf
nicht gewaltsam geöffnet werden, auch nicht, wenn ein Zungenbiss erfolgt ist,
und der Speichel des Krampfenden blutig verfärbt sein sollte. Auch darf nicht
versucht werden, den Anfall durch Schütteln, Anschreien oder Wiederbele-
bungsversuche zu unterbrechen.

10.2.2 Asservierung
Die Therapie in der Klinik hängt von der möglichst genauen Diagnose der
Vergiftung ab. Die entsprechenden spezifischen Maßnahmen werden von den
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 433

besonderen Eigenschaften der Gifte bestimmt. Am Vergiftungsort darf daher


nicht vergessen werden, alles Material, das möglicherweise Gift enthält, für
einen eventuellen Giftnachweis oder für mögliche forensische (gerichtliche) Un-
tersuchungen aufzubewahren (Asservierung).
Die Asservierung schließt alle Giftreste am Vergiftungsort einschließlich des
Verpackungsmaterials ein. Zusätzlich werden eventuell Erbrochenes, Stuhl und
Urin als Asservate sichergestellt. Die Proben werden beschriftet und nach
Möglichkeit schon beim Transport des Vergifteten in die Klinik mitgegeben.
Routinemäßig werden in der Klinik zusätzlich Blut-, Urin- und eventuell Magen-
saft-Proben genommen.

10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption

10.3.1 Dekontamination der Haut


Bei Verdacht auf Hautkontakt mit einem Gift müssen sofort die kontaminierten
Kleidungsstücke entfernt werden und eine möglichst ausgiebige Hautreinigung
erfolgen. Kontaktflächen müssen mit großen Mengen fließendem Wasser min-
destens 10 Minuten lang gespült werden. Bei Kontakt mit fettlöslichen Stoffen
sollte ein Dekontaminationsmittel auf Ethylenglycol-Bais verwendet werden
(z. B. Roticlean® ). Benzin oder andere Lösungsmittel sind zur Reinigung un-
geeignet und können die Resorption des Giftstoffes durch die Haut sogar stei-
gern. Ätzende Stoffe müssen möglichst schnell mit Wasser (Dusche) abgespült
werden.
Bei Verbrennungen darf keine Zeit durch das Entfernen der Kleidung verloren
werden. Die betroffenen Regionen sind mindestens 15 Minuten mit fließendem
Wasser zu kühlen. Danach dürfen durch den Laien keine Hautcremes, -puder
oder -salben aufgetragen werden.

10.3.2 Augenverletzungen
Augenverätzungen machen etwa 10 % aller Augenunfälle aus. Betroffen sind
meist jüngere Patienten. Glücklicherweise sind die meisten dieser Unfälle nur
leicht, so dass keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Bei schweren Verätzun-
gen ist die Prognose leider nach wie vor ungünstig. Nach schweren Laugen-
verätzungen kommt es etwa in der Hälfte der Fälle zur Erblindung des betroffe-
nen Auges. Erschreckend ist hierbei, dass von Verätzungen in etwa einem Drit-
tel der Fälle beide Augen betroffen sind. Mit Abstand die meisten Verätzungen
434 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

geschehen durch Laugen, Säureverätzungen folgen an zweiter Stelle, während


Detergenzien und Lösungsmittel seltener für Unfälle verantwortlich sind. Lau-
genverätzungen werden am häufigsten durch Ammoniak, Natronlauge, Kali-
lauge oder Kalk (CaO, Ca(OH)2 ) verursacht. Bei Säureverätzungen stehen
solche durch Salzsäure (HCl), Flusssäure (HF), Schwefelsäure (H2 SO4 ) und
Schweflige Säure (H2 SO3 ) im Vordergrund.
Laugenverätzungen sind im Allgemeinen als gefährlicher anzusehen als Säure-
verätzungen. Durch Säureeinwirkung auf ein Gewebe kommt es zur Denatu-
rierung von Proteinen, die dann präzipitieren und einen Schutzschild“ gegen

ein weiteres Eindringen der Säure in tiefere Gewebeschichten bilden. Der Pa-
thologe spricht bei dieser meist oberflächlicheren Gewebezerstörung von einer
Koagulationsnekrose (Nekrose = Zelluntergang, Gewebstod). Eine Ausnahme
hiervon bildet die Flusssäure, welche ebenfalls in tiefe Gewebeschichten pe-
netriert und bis zu einem gewissen Grad die Schwefelsäure, bei der es durch
die oxidierende Wirkung zu einer zusätzlichen Schädigung kommen kann. Die
Einwirkung von Laugen führt demgegenüber zu einer Verseifung von Lipiden
der Zellmembranen mit anschließender Gewebsverflüssigung. Da hierbei tiefere
Schichten nicht durch einen sich bildenden Wundschorf abgeschirmt werden,
ist die Verätzung in geringerem Maße selbstlimitierend. Aus pathologischer
Sicht spricht man in diesem Zusammenhang von einer Kolliquationsnekrose
(Verflüssigungsnekrose).
Geschädigt wird bei einer Verätzung des Auges zunächst die Hornhaut und
die Bindehaut (siehe Abbildung 10.6). Die durchsichtige Hornhaut, die uhr-
glasartig der Iris und der Linse aufsitzt, ist ein wichtiger Teil des optischen
Systems des Auges. Jede Unregelmäßigkeit der Hornhautoberfläche stört das
Sehvermögen erheblich.
Die Integrität der Hornhaut wird durch eine Deckzellschicht auf der Außen-
seite, das Hornhautepithel, und durch eine innere Zellschicht auf der der vor-
deren Augenkammer zugewandten Seite, das Hornhautendothel, aufrechterhal-
ten. Das Hornhautepithel kann nach einer Zerstörung durch Verätzung von der
Randregion, dem Limbus, wieder regeneriert werden, wenn der Limbus Cor-
neae ebenfalls zerstört wurde, führt dies zur Degeneration der Hornhaut und
dem Vorwachsen der Bindehaut zum Augenzentrum hin. Das betroffene Auge
ist dann blind. Das Hornhautendothel kann sich nicht oder nur in geringem
Maße regenerieren. Die Hornhaut enthält keine Blutgefäße (welche die Durch-
sichtigkeit stören würden), ist aber reichlich sensibel innerviert. Oberflächliche
Hornhautschädigungen sind daher überaus schmerzhaft.
Neben der Schädigung der Hornhaut kann auch eine Schädigung der Binde-
haut die Sehfunktion stark beeinträchtigen. Die Bindehaut ist eine gut ver-
schiebliche Schleimhautschicht, die den Augapfel bis zum Hornhautrand (Lim-
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 435

Hornhaut (Cornea) Limbus Corneae


Vordere Augenkammer
Iris u. Ziliarkörper
Linse
Bindehaut (Kon-
junktiva)
Lederhaut (Sklera)
Glaskörper

Aderhaut (Choroidea)
Netzhaut (Retina)

Sehnerv

Abbildung 10.6 Schematischer horizontaler Schnitt durch das Auge mit Bezeichnung der
wichtigsten Strukturen.

bus) umkleidet und sich in einer Umschlagsfalte auf die Innenseite der Lider
fortsetzt. Durch ihre Gleitfähigkeit ermöglicht sie es dem Augapfel Blickwen-
dungen reibungsarm durchzuführen. Schädigungen der Bindehaut können zu
Verwachsungen führen und so die Beweglichkeit des Auges oder der Lider ein-
schränken.
Bei schwersten Verätzungen kommt es zur Zerstörung noch tieferer Anteile
des Auges mit Schädigung von Iris, Linse und den Gefäßen der Lederhaut.
Aufgrund ihres Aspektes spricht der Augenarzt bei diesen Verletzungen vom
gekochten Fischauge“. Die Sehfähigkeit ist in diesen Fällen natürlich irrepa-

rabel zerstört.
In jedem Fall ist die Erste Hilfe mit rascher Spülung des betroffenen Auges ent-
scheidend. Dabei ist zu beachten, dass die schmerzhafte Hornhautreizung oft
zu einem krampfhaften Lidschluss führt, den der Betroffene nicht aus eigener
Kraft überwinden kann. Daher sind Personen mit stärkeren Augenverätzun-
gen immer auf Helfer angewiesen, welche die Lider passiv offen halten und die
Spülung durchführen. Nach den Richtlinien des American National Standards
Institute (ANSI) sollen starke Augenverätzungen mindestens 15 Minuten mit
500 bis 1000 ml Spülflüssigkeit gespült werden.
Da die Laienhelfer in der Regel nicht in der Lage sind, durch sogenanntes Ek-
tropionieren die Lider umzuklappen“ und so noch festsitzende Fremdkörper

436 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

unter den Lidern zu entfernen (v. a. bei Kalkverätzungen!) und da sie weder
über spezielle, gepufferte Spülflüssigkeiten noch über ein Lokalanästhetikum
und Schmerzmittel verfügen, die dem Lidkrampf entgegenwirken, darf über der
Erstversorgung des Auges keine Zeit verloren werden, einen Notruf abzusetzen,
der eine professionelle Behandlung sicherstellt.

Trotzdem muss nochmals die absolute Wichtigkeit betont werden, schnellst-


möglich mit einer Spülung durch den Laienhelfer zu beginnen, wofür sich am
besten Wasser, notfalls aber auch vorhandene Getränke (Mineralwasser, Bier)
eignen. Milch darf nicht verwendet werden, da sie lipophil ist und u. U. als
Trägermedium ein tieferes Eindringen des Ätzstoffes ermöglicht. Die Bedeu-
tung der Erstversorgung und raschen Spülung nach Verätzung wird durch eine
Untersuchung an der Universitäts-Augenklinik der RWTH Aachen unterstri-
chen, bei welcher der Heilungsverlauf nach Verätzungen bei Patienten mit und
ohne sofort durchgeführte Augenspülung vergleichend untersucht wurde. Hier-
bei war nach rasch durchgeführter Augenspülung sowohl die Anzahl notwendi-
ger Folgeoperationen als auch die Dauer des Krankenhausaufenthaltes deutlich
niedriger als nach verzögerter Behandlung; und letztlich war auch der Anteil
von Patienten mit einer Restsehschärfe > 1/50 (der formalen Grenze zwischen
hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit) nach einer sofortigen Spülung
um die Hälfte höher als nach später einsetzender Therapie (Abbildung 10.7).
% Patienten mit Rest-Sehschärfe > 1/50

6 60
10
Krankenhausauftenhalt (Monate)
Anzahl der Operationen

5 50
8
4 40
6
3 30

4
2 20

2 10
1

0 0 0
1 2 1 2 1 2

sofortige Augenspülung verzögerte/keine Augenspülung

Abbildung 10.7 Einfluss einer sofort durchgeführten Augenspülung im Rahmen der Ersten
Hilfe auf den Verlauf von Augenverätzungen (Daten aus: Schrage et al. Dtsch. Ärztebl. 97:
A-104 (2000).
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 437

10.3.3 Orale Vergiftung: Entschärfen“ vor der Resorption



Ziel der im Folgenden beschriebenen entschärfenden“ Maßnahmen ist es, ver-

schluckte Giftstoffe unschädlich zu machen, bevor es zu einer lokalen Schleim-
hautschädigung oder einer Resorption des Giftstoffes kommt. Allgemein gilt,
dass es fast immer leichter ist, die Resorption bei einer Vergiftung zu ver-
hindern, als später die Elimination der Noxe aus dem Blut zu beschleunigen.
Viele Giftstoffe führen zu einer verzögerten Magenentleerung, indem sie die
propulsive Magenlängsmuskulatur erschlaffen lassen oder zu einer Kontrakti-
on der ringförmigen Muskulatur am Magenausgang (Pylorospasmus) führen.
Da der Magen ein relativ ineffektiver Resorptionsort ist, bietet sich so in vielen
Fällen die Chance, toxische Substanzen zu entgiften, bevor es zur Aufnahme
in das Blut und damit zu einer systemischen Vergiftung kommt. Dabei sind
die folgenden Maßnahmen unspezifisch bei zahlreichen Substanzen anwendbar
im Gegensatz zu den weiter unten aufgeführten spezifisch wirkenden Antido-
ten, deren Anwendung die genaue Kenntnis des Eingenommenen Giftstoffes
voraussetzt.

10.3.3.1 Gabe von Entschäumern

Entschäumer finden Verwendung bei der Aufnahme von Seifen- oder Tensid-
haltigen Reinigungs- und Körperpflegemitteln, z. B. Shampoo oder Spülmittel.
Üblicherweise sind Kleinkinder von derartigen Vergiftungen betroffen.
Eine Resorption von Tensiden findet selbst bei Aufnahme großer Mengen prak-
tisch nicht statt. Auch der schleimhautschädigende Effekt in Mund und Magen-
Darm-Trakt ist vernachlässigbar. Eine Gefahr bei derartigen Vergiftungen geht
allenfalls davon aus, dass es bei starker Schaumbildung zu Erbrechen und an-
schließender Aspiration in die Atemwege kommen kann. Aus diesem Grunde
ist das Auslösen von Erbrechen bei Vergiftung mit schaumbildenden Mitteln
kontraindiziert (siehe Kapitel 10.3.3.3). Auch sollte nach der Aufnahme nicht
zuviel Flüssigkeit nachgetrunken werden, da dies das Risiko von Erbrechen
ebenfalls erhöht. Bei sachgemäßer Behandlung (keine übertriebenen Maßnah-
men!) und Gabe eines Entschäumers, z. B. Dimeticon ist in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle keine Krankenhauseinweisung notwendig.
Einen Sonderfall bilden Vergiftungen mit älteren Spülmaschinenreinigern mit
Metasilikat-Zusätzen. Diese Mittel sind in Deutschland vom Markt genommen
worden, im Ausland aber noch teilweise erhältlich. Nach Verschlucken kommt
es bei diesen Reinigern in etwa 50 % der Fälle zu Verätzungen der Schleimhaut.
Als Erste-Hilfe-Maßnahme sollte der Mund gut ausgespült werden und Wasser
oder Tee nachgetrunken werden, was durch Verdünnung die Ätzwirkung re-
duziert. Kontraindiziert ist auch hier das Auslösen von Erbrechen, zum einen
438 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

wiederum wegen der Aspirationsgefahr bei Schaumbildung, zum anderen aber


auch, weil beim Erbrechen eine erneute Ätzwirkung der Metasilikate auf die
Speiseröhre einsetzt, die schlechter als der Magen gegen aggressive Substanzen
geschützt ist. Kontraindiziert ist in solchen Fällen auch die Gabe von Aktiv-
kohle, da diese die Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes mit einem schwarzen
Film überzieht, was eine Beurteilung der Schleimhautschädigung mittels Ma-
genspiegelung unmöglich macht. Eine Krankenhauseinweisung ist nach einer
Vergiftung mit metasilikathaltigen Maschinenreinigern zur Verlaufsbeobach-
tung notwendig.
Neuere Maschinenreiniger beinhalten allerdings nur noch Disilikate und Car-
bonate zur Verbesserung der Reinigungseffizienz. Deren Ätzwirkung ist äußerst
gering, so dass kaum noch eine größere Gefahr einer nachhaltigen Verätzung
besteht. Wenn daher sicher ermittelt werden kann, dass die Vergiftung durch
einen metasilikatfreien Maschinenreiniger erfolgte, und keine Beschwerden (z. B.
vermehrte Speichelbildung) bestehen, die auf eine Schleimhautschädigung hin-
deuten, so ist eine Krankenhauseinweisung nicht zwingend erforderlich. Tabelle
10.2 fasst das unterschiedliche Vorgehen je nach schaumbildender Substanz zu-
sammen.

Tabelle 10.2 Vorgehen bei Vergiftungen mit Handspülmitteln auf Tensid-Basis, metasili-
kathaltigen Maschinenreinigern und neueren Maschinenreinigern mit Disilikat/Carbonat-
Zusatz.

Tensid Metasilikat Disilikat


Schaumbildung ja ja ja
Verätzungen nein in 50 % der Fälle sehr selten
Trinken lassen nein ja ja
Gabe eines Entschäumers ja ja ja
Aktivkohle-Gabe nutzlos kontraindiziert kontraindiziert
Erbrechen lassen kontraindiziert kontraindiziert kontraindiziert
Krankenhauseinweisung selten nötig notwendig selten nötig

10.3.3.2 Aktivkohle-Gabe

Aktivkohle ist das meist gebrauchte und das wirksamste Adsorbens. Auf-
schlämmungen bis zu 50 g in 0,5 bis 1 l Wasser werden gut vertragen. Bei
Kindern gibt man etwa 10 g Aktivkohle in 1 bis 2 Tassen Wasser. Aktivkohle
kann praktisch nicht überdosiert werden. Aktivkohle bindet durch Physisorp-
tion unspezifisch eine große Anzahl von Substanzen und ist damit ein Univer-

salantidot“. Nach ca. 24 Stunden Verweildauer im Magen-Darm-Trakt wird
jedoch die Wirkung von Aktivkohle durch die Verdauungssäfte aufgehoben;
10.3 Maßnahmen zur Verhinderung der Giftresorption 439

daher wird die Gabe von Aktivkohle meist mit der eines Abführmittels kom-
biniert.
Verwendet werden kann als Abführmittel in Kombination mit Aktivkohle z. B.
Magnesiumoxid, welches die adsorbierenden Eigenschaften von Aktivkohle prak-
tisch nicht beeinflusst. Eine häufig verwendete Möglichkeit besteht auch in der
Gabe von Natriumsulfat (Glaubersalz), welches die Peristaltik (die wurmförmi-
ge fortschreitende Bewegung des Darmes) im gesamten Gastrointestinaltrakt
fördert. Hierbei gibt man ca. 10 g Natriumsulfat in 100 ml lauwarmem Wasser
gelöst. Bei Kindern 1 g Natriumsulfat pro Lebensjahr. Die abführende Wirkung
tritt in etwa 3 bis 5 Stunden ein.
Kontraindiziert ist Aktivkohle – wie bereits oben ausgeführt – bei Vergiftun-
gen mit ätzenden Substanzen, da hierbei die Diagnostik erschwert wird. Nutz-
los, aber auch nicht schädlich, ist die Gabe von Aktivkohle bei Vergiftungen
mit Ethanol und Methanol, Schwermetallen, organischen Lösungsmitteln und
Schaumbildnern. Die genannten Stoffe zeigen eine unzureichende Adsorption
bzw. zu rasche Desorption, so dass durch Aktivkohle-Gabe keine nutzbare In-
aktivierung der Substanzen erfolgt.

10.3.3.3 Induziertes Erbrechen

Induziertes Erbrechen war früher eine Standardmaßnahme zur primären Gif-


tentfernung. Zum Auslösen von Erbrechen wurden verwendet: mechanische
Reizung der Rachenhinterwand, Trinken von Kochsalzlösung, Gabe von Apo-
morphin und die Gabe von Sirup Ipecacuanha. Von diesen Maßnahmen ist nur
noch die letzte überhaupt zulässig.
Auslösen von Erbrechen ist generell keine Maßnahme der Laienversorgung von
Vergiftungen. Eine Untersuchung der AAPC zeigt, dass auch die Gabe von
Sirup Ipecacuanha heute keine Routine-Maßnahme mehr darstellt (Abbildung
10.8).
Kontraindiziert ist induziertes Erbrechen bei Vergiftungen mit Schaumbild-
nern (s. o.), bei Aufnahme von ätzenden Substanzen (erneute Schädigung der
Speiseröhre) oder Lösungsmitteln (Aspirationsgefahr!), sowie bei Personen mit
Bewusstseinstrübung und bei Säuglingen unter 6 Monaten. Äußerst zurückhal-
tend und wohlüberlegt sollte der Einsatz bei Säuglingen > 6 Monaten, alten
Menschen und Schwangeren erfolgen.

10.3.3.4 Magenspülung

Die Magenspülung wird nur noch bei Vergiftungen mit hochtoxischen Verbin-
dungen durchgeführt (z. B. Knollenblätterpilz-Vergiftung). Die Effektivität der
440 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

16
Angewendete Maßnahmen zur
14 primären Giftentfernung
Anwendung in % aller Fälle

12

10

4
Sirup ipecacuanhae
2
Aktivkohle
0
83

85

87

89

91

93

95

97

99

01

03
19

19

19

19

19

19

19

19

19

20

20
Abbildung 10.8 Verwendung von Sirup Ipecacuanha und/oder Aktivkohle-Gabe zur primären
Behandlung oraler Vergiftungen. Daten aus dem Jahresbericht 2003 der AAPC.

Methode ist im Allgemeinen nicht sehr hoch. So fanden sich in einer Untersu-
chung bei Patienten mit Tabletten-Vergiftung in Kontroll-Spiegelungen nach
einer Magenspülung in beinahe 90 % der Fälle noch Tablettenreste im Magen.
Darüberhinaus wird diskutiert, dass durch eine Magenspülung die Entleerung
des Magens sogar beschleunigt werden kann, so dass Giftstoffe u. U. sogar
schneller resorbiert werden.

Diese Überlegungen führten dazu, dass die Magenspülung in Vergiftungsklini-


ken von einem Routineverfahren zu einer sehr selten angewandten Maßnahme
wurde.

10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption

Ist das Gift resorbiert, muss versucht werden, die Wirkung zu unterbinden
(Antidot-Gabe) oder das Gift zu Eliminieren (sekundäre Giftelimiation).
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption 441

10.4.1 Behandlung mit Antidoten (Gegengiften)


Als Antidote im engeren Sinn werden solche Substanzen bezeichnet, die mehr
oder weniger spezifisch die Toxizität resorbierter Gifte aufheben oder zumin-
dest vermindern können. Die Grenzen zwischen Maßnahmen zur Aufnahme-
hemmung (siehe Kapitel 10.3.3) und zur Entgiftung sind hierbei fließend.

Tabelle 10.3 Übersicht über einige Antidote und die Vergiftungen, bei denen sie Anwendung
finden.

Art der Vergiftung Klinisch angewendete Antidode


Äußerliche Kontamination mit Fluss- Calciumgluconat
säure (HF)
Reizgase (inhalative Intoxikation) Dexamethason-Dosieraerosol
Organophospate (z. B. Parathion) Atropin (auch bei Vergiftung mit Carbamaten)
Obidoxim
Atropin, tricyclische Antidepressiva, Physostigmin
Tollkirsche
(Schwer)metall-Vergifung
Blei, Zink, Kupfer Gold, Quecksilber D-Penicillamin
Quecksilber (Anorganische Hg-Salze, Dimercaptopropansulfonat
organische Verbindungen und eingeat-
mete Hg-Dämpfe)
Eisen, Aluminium Deferoxamin
Cyanide Mittel der Wahl:
4-Dimethylaminophenol (4-DMAP)
zusätzlich zu 4-DMAP: Natriumthiosulfat
wenn kein 4-DMAP vorhanden:
Hydroxycobalamin
Intoxikation mit Methämoglobin- Toluidinblau
bildnern (Nitriten, Anilin)
Methanol, Ethylenglycol Ethanol
Paracetamol N-Acetylcystein
Benzodiazepine Flumazenil (Vorsicht: akute Benzodiazepin-
Entzugssymptome nach Flumazenil-Gabe
möglich)
Opiate (z. B. Morphin, Heroin) Naloxon (Vorsicht: kürzere Wirkung als das
Opiat → Wiederauftreten von Vergiftungs-
erscheinungen möglich; evtl. akute Opiat-
Entzugssymptome nach Naloxon-Gabe)
Knollenblätterpilz Penicillin G
Silibinin
Lebensmittelvergifung mit Botulinus- Botulismus-Antitoxin
Toxin = Botulismus (auch bei drin-
gendem Verdacht)
442 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

Antidote können ein Gift neutralisieren oder binden (Dekorporierungsantidote,


z. B. Chelatbildner) oder als funktionelles Antidot seine Wirkung antagonisie-
ren (Rezeptorantagonismus, z. B. Naloxon bei Opiatvergiftung) bzw. die toxi-
schen Folgen rückgängig machen (Oxime als Reaktivatoren bei Organophos-
phatvergiftung). Spezifische Antidote stehen nur für relativ wenige Vergiftun-
gen zur Verfügung. Außerdem können die Antidote selbst toxisch wirken und
dürfen daher nur gezielt eingesetzt werden. Schließlich unterscheiden sich An-
tidote und Gifte u. U. in ihrer Ausscheidungskinetik. So können Vergiftungs-
symptome erneut auftreten, wenn das Antidot eine kürzere Halbwertszeit als
das Gift aufweist und nicht rechtzeitig eine weitere Gabe verabreicht wird.
Tabelle 10.3 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Antidote.

10.4.2 Sekundäre Giftentfernung


Die nachfolgenden Verfahren folgen immer den primären Entgiftungsmaßnah-
men (siehe Kapitel 10.3). Zur sekundären Giftentfernung werden die forcierte
Diurese und Extrakorporale Verfahren angewendet. Ziel ist es, den bereits re-
sorbierten Giftstoff beschleunigt aus dem Blut zu entfernen.
Alle im folgenden angesprochenen Verfahren sind nur erfolgsversprechend,
wenn ein hinreichend großer Anteil des Giftes im Blut zirkuliert (Giftstoff
mit kleinem Verteilungsvolumen). Bei Giften, die stark gewebegängig sind
und aufgrund ihrer geringen Wasserlöslichkeit und/oder geringen Bindung an
Plasmaproteine im Gleichgewichtszustand nur zu einem kleinen Teil im Blut
zirkulieren, sind die folgenden Verfahren ineffektiv.

10.4.2.1 Forcierte Diurese

Der Wirkungsmechanismus ist eine Hemmung der Rückdiffusion des Giftes in


der Niere und eine verstärkte Diurese durch eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr
und die Verbreichung eines Medikamentes, das den Harnfluss steigert (starkes
Diuretikum, z. B. Furosemid). Um die Rückdiffusion zu verhindern, wird der
pH-Wert des Urins verändert.
Die Anwendbarkeit dieser Methode beschränkt sich auf Gifte mit kleinem Ver-
teilungsvolumen (s. o.), die gut wasserlöslich sind aber nur wenig an Plasma-
proteine gebunden werden. Die gleichen Voraussetzungen werden auch bei der
Hämodialyse gefordert. Die primäre Filtration durch die Niere hat hier also
bereits einen hohen Anteil bei der Ausscheidung. Verändert man zusätzlich
den pH-Wert des Urins, um den Ionisierungsgrad der zu eliminierenden Sub-
stanz und damit ihre Ausscheidung zu erhöhen, so spricht man von forcierter
alkalischer bzw. forcierter saurer Diurese. Eine Alkalisierung des Harns kann
10.4 Maßnahmen nach erfolgter Giftresorption 443

mit Natriumhydrogencarbonat und eine Ansäuerung mit Ascorbinsäure er-


reicht werden. Es wird eine Urinausscheidung von insgesamt 12 Litern pro Tag
angestrebt.
Bei einer Vergiftung mit dem Pychopharmakon Meprobamat führt man eine
neutrale forcierte Diurese durch, bei Vergiftungen mit Phenobarbital, Sali-
cylaten und Herbiziden vom Typ der Phenoxyessigsäure-Derivate komt eine
forcierte alkalische Diurese zur Anwendung.
Voraussetzung sind eine ausreichende Nierenfunktion, stabile Herz- und Kreis-
laufverhältnisse, Ausschluss eines Hirnödems und akuter Krampfanfälle. Bei
unzureichender Nierenfunktion würde die erhöhte Flüssigkeitszufuhr die Ge-
fahr der Überwässerung bergen und die u. U. die Entwicklung eines Lungen-
oder Hirnödems nach sich ziehen.

10.4.2.2 Extrakorporale Methoden der Giftelimination

Extrakoporale Verfahren kommen in Betracht, wenn der Vergiftete in Lebens-


gefahr ist und eine kritische Konzentration des Giftstoffes im Blut vorliegt.
Eine andere Indikation für die Hämodialyse bei Vergiftungen (unabhängig von
der Effektivität als Maßnahme zur Giftelimination) ist ein Ausfall der Nieren-
funktion (akutes Nierenversagen).
Hämodialyse
Bei der Hämodialyse lässt man ungerinnbar gemachtes Blut aus einer Arte-
rie in ein extrakorporales Dialysegerät (künstliche Niere) fließen, wo das Gift
über eine semipermealbe Membran dialysiert wird. Anschließend wird das Blut
wieder in eine Vene zurückgeleitet.
Indikation für eine Hämodialyse sind z. B. lebensbedrohliche Vergiftungen mit
kurzkettigen Alkoholen (Methanol, Ethanol, Ethylenglycol, Isopropanol) oder
mit Lithium.
Hämoperfusion
Die Hämoperfusion ist auch bei größeren Molekülen oder solchen mit höher-
er Eiweisbindung wirksam, die eine Dialysemembran nur schlecht passieren.
Hierbei wird ebenfalls extrakorporal ungerinnbar gemachtes Blut über speziell
präparierte Adsorbentien geleitet, welche die Gifte binden. Die Perfusionsdauer
beträgt 4 bis 6 Stunden.
Diese Methode ist z. B. bei Vergiftungen mit Psychopharmaka, Digitalispräpa-
raten sowie bestimmten Pflanzenschutzmitteln und Insektiziden anwendbar.
Nachteilig ist, dass neben den Giftstoffen auch körpereigene Blutbestandteile
z. B. Blutplättchen (Thrombozyten) zum Teil adsorbiert werden.
444 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

10.5 Informationszentren für Vergiftungsfälle

Die unten aufgeführten Informationszentren dienen der Aufklärung der Bevölke-


rung über Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit Vergiftungen und der
Beratung im akuten Vergiftungsfall. Auskünfte für die Bevölkerung werden im
Allgemeinen kostenlos erteilt. Die Vergiftungszentralen nehmen 24 Stunden
am Tag und an allen Tagen im Jahr Anrufe entgegen. In jedem akuten Notfall
soll aber immer zuerst die Notrufnummer 112 gewählt werden.
Übersicht über die Informationszentren für Vergiftungsfälle im
deutschsprachigen Raum.
Stadt/Land Telefon Adresse
Berlin I 030–30 686–711 Berliner Betrieb für Zentrale
Gesundheitliche Aufgaben
Oranienburgerstraße 285
13437 Berlin
mail@giftnotruf.de
Berlin II 030–450–553 555 Charité, Campus Virchow Klinikum
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
giftinfo@charite.de
Bonn 0228–19 240 Zentrum für Kinderheilkunde der Rhei-
nischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn
Adenauerallee 119
53113 Bonn
gizbn@mailer.meb.uni-bonn.de
Erfurt 0361–730 730 Helios Klinikum Erfurt für
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen
Nordhäuser Straße 74
99089 Erfurt
info@ggiz-erfurt.de
Freiburg 0761–19 240 Universitätsklinikum Freiburg
Zentrum für Kinderheilkunde und Ju-
gendmedizin
Mathildenstraße 1
79106 Freiburg
giftinfo@kikli.ukl.uni-freiburg.de
10.5 Informationszentren für Vergiftungsfälle 445

Stadt/Land Telefon Adresse


Göttingen 0551–19 240 Giftinformationszentrum-Nord
(für Bevölkerung) Robert-Koch-Straße 40
0551–383180 37075 Göttingen
(für Fachpersonal) giznord@giz-nord.de
Homburg 06841–19 240 Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Saar 66421 Homburg/Saar
kiszab@med.rz.uni-sb.de
Mainz 06131–19 240 II. Medizinische Klinik und Poliklinik
der Universität
Langenbeckstraße 1
55131 Mainz
giftinfo@giftinfo.uni-mainz.de
München 089–19 240 Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Str. 22
81675 München
tox@lrz.tum.de
Nürnberg 0911–398–2451 Klinikum Nürnberg Nord
Professor-Ernst-Nathan-Straße 1
90419 Nürnberg
muehlberg@klinikum-nuernberg.de
Österreich +43–1–404–002222 Vergiftungs-Informations-Zentrale
Allg. Beratung: Allgemeines Krankenhaus Wien
+43–1–406–4343 Währinger Gürtel 18–20
A-1090 Wien
Schweiz +41–1251–5151 Schweizerisches Toxikologisches
Allg. Beratung: Informationszentrum
+41–1251–6666 Freiestraße 16
CH-8028 Zürich
446 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

10.6 Frei zugängliche Informationen im Internet

Institutionen des Bundes:

Bundesministerium für Gesundheit


http://www.bmgesundheit.de

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte


http://www.bfarm.de

Robert-Koch-Institut
http://www.rki.de

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin


http://www.baua.de

Bundesinstitut für Risikobewertung


http://www.bfr.bund.de

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit


http://www.bvl.bund.de/index.htm

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe


http://www.bbk.bund.de

Bundesumweltamt
http://www.umweltbundesamt.de

Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft


http://www.bba.de

Homepages der deutschsprachigen Giftinformationszentralen:

Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben – Giftnotruf Berlin


http://www.giftnotruf.de
10.6 Frei zugängliche Informationen im Internet 447

Zentrum für Kinderheilkunde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität


Bonn
http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale

Gemeinsames Giftinformationszentrum der Länder Mecklenburg-Vorpommern,


Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
http://www.ggiz-erfurt.de

Vergiftungs-Informationszentrale Zentrum für Kinderheilkunde und Jugend-


medizin des Universitätsklinikums Freiburg
http://www.giftberatung.de

Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen


und Schleswig-Holstein
http://www.giz-nord.de

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universität des Saarlandes


http://www.uniklinik-saarland.de/med− fak/kinderklinik/
Vergiftungszentrale/vergiftungszentrale.html

Beratungsstelle bei Vergiftungen - II. Medizinische Klinik und Poliklinik der


Universität Mainz
http://www.giftinfo.uni-mainz.de

Giftnotruf München
II. Medizinischen Klinik der Technischen Universität München
http://www.toxinfo.org

Giftinformationszentrale der Medizinischen Klinik 2 des Klinikums Nürnberg


Nord
http://www.giftinformation.de

Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum


http://www.toxi.ch

Österreichische Vergiftungs-Informations-Zentrale
http://www.akh-wien.ac.at/viz
448 Kapitel 10 Behandlungsprinzipien bei akuter Vergiftung

Spezielle deutschsprachige Informationsportale:

Informationen über Gift-Pflanzen


http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale/pflanidx.html

Informationen über Gift-Pilze


http://www.meb.uni-bonn.de/giftzentrale/pilzidx.html

Informationen über Gift-Tiere


http://www.toxinfo.org/tier

Antidotarium
http://www.giftinfo.uni-mainz.de/Deutsch/antidotarium/Antidotdepot-Mz.html

Englischsprachige Internetseiten:

Umfassende toxikologische Datenbank-Sammlung der National Library of Me-


dicine
http://toxnet.nlm.nih.gov

Federation of European Toxicologist & European Societies of Toxicology


http://www.eurotox.com

Toxikologische Datenbank der University of California Davis, Oregon State


University, Michigan State University, Cornell University und der University
of Idaho
http://extoxnet.orst.edu

Suchmaschine für Chemikalien


http://ull.chemistry.uakron.edu/erd
Glossar

Adenom (griech. Drüsengeschwulst)


Primär gutartige Neubildung des Epithels endokriner und exokriner
Drüsen
ADI
Acceptable daily intake, oder auf Deutsch ATD: annehmbare tägli-
che Dosis. Angabe der gesetzlich festgelegten Höchstmenge eines
Fremdstoffes, der täglich als Summe über die verschiedenen Aufnah-
mewege in den menschlichen Organismus gelangen darf, ohne Scha-
den zu verursachen
Alterung
Abspaltung eines Alkylsubstituenten vom Phosphatrest der mit ei-
nem Organophosphat vergifteten Acetylcholinesterase
Ames-Test
Bakterielles Testsystem mit mutierten Salmonellen zur Prüfung gen-
toxischer Wirkungen (benannt nach dem Entdecker Bruce Ames)
Anästhesie (griech. Unempfindlichkeit)
Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz-, Druck-, Temperatur- und
Berührungsreizen
Angina pectoris
Akute Herzkranzgefäßdurchblutungsstörung mit plötzlich einsetzen-
den Schmerzen im Brustkorb, die in die Schultern und in den linken
Arm ausstrahlen. Gürtelförmiges Engegefühl der Brust (angina pec-
toris) mit Atemnot und Todesangst
Anoxie
Absoluter Sauerstoffmangel im gesamten Organismus oder in be-
stimmten Organen (Hypoxie)
anthropogen (griech. durch den Menschen verursacht)
Durch menschliche Tätigkeiten ausgelöst
Antihidrotikum (griech. gegen Schweiß)
Übermäßige Schweißbildung unterdrückendes Mittel
Antikoagulanzien
Substanzen mit Hemmwirkung auf die Blutgerinnung (z. B. Heparin,
Cumarinderivate)
450 Glossar

antikoagulierende Wirkung
Blutgerinnungshemmung durch Heparine oder Cumarinderivate (in
vivo) bzw. durch Chelatoren (in vitro)
Antioxidanzien
Leicht oxidierbare Stoffe, die durch ihr niedriges Redoxpotential an-
dere Stoffe vor unerwünschten Oxidationen schützen
Apoptose (griech. wegfallen)
Programmierter, physiologischer Zelltod
Arteriolen
Letzter Gefäßabschnitt der Arterien, welchem die Kapillaren folgen
autonomes oder vegetatives Nervensystem
Das autonome (unwillkürliche) oder vegetative Nervensystem steuert
als Teil des zentralen und peripheren Nervensystems die vegetativen
Funktionen des Organismus, die nicht der Willkür unterstellt sind
auxotroph (griech. wachsen, ernähren)
Bezeichnung für Mikroorganismen, bei denen durch Genmutationen
bestimmte für die Synthese von Körperbausteinen notwendige Enzy-
me nicht mehr gebildet werden können, so dass diese Bausteine von
außen zugeführt werden müssen
bakterizide Wirkung
Fähigkeit einer Substanz Bakterien abzutöten
basophile Tüpfelung
Punktförmig angeordnete mit basischen Farbstoffen anfärbbare Sub-
stanz der roten Blutzellen, wahrscheinlich aus Ribosomen bestehend.
Vermehrtes Vorkommen u. a. bei toxisch bedingten Anämien und
Bleivergiftung
BAT-Wert
Biologischer Arbeitsstoff-Toleranz-Wert, die beim Menschen höchst-
zulässige Quantität eines Arbeitsstoffes bzw. Arbeitsstoffmetaboliten
oder die dadurch ausgelöste Abweichung eines biologischen Indikators
von seiner Norm, die nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaft-
lichen Kenntnis im Allgemeinen die Gesundheit der Beschäftigten
auch dann nicht beeinträchtigt, wenn sie durch Einflüsse des Arbeits-
platzes regelmäßig erzielt wird
Bay-Region
Bay region, eingebuchtete Region an einem gewinkelten polycycli-
schen aromatischen Kohlenwasserstoff, in deren Nachbarschaft durch
drei sequentielle enzymatische Reaktionen (Cyt. P-450, Epoxidhy-
drolase, Cyt. P-450) ein vicinales Dihydrodiol-Epoxid gebildet und
stabilisiert werden kann. Letzteres ist in der Lage, mit nukleophilen
Zentren der DNA zu reagieren
Glossar 451

biliär (lat. bilis Gallenflüssigkeit)


Gallig, die Galle betreffend
Bioverfügbarkeit
Anteil einer Substanz, der an den Wirkort oder in den Blutkreislauf
gelangt
Blut-Hirn-Schranke
Selektiv durchlässige Schranke zwischen Blut und Hirnsubstanz (Ka-
pillartyp 4), durch die der Stoffaustausch mit dem zentralen Nerven-
system einer Kontrolle unterliegt
body burden
Gesamtmenge eines sich im Körper befindenden Fremdstoffes
Chlorakne
Eine durch halogenierte Kohlenwasserstoffe hervorgerufene Akne
(Sammelbezeichnung für Sekretionsstörungen der Talgdrüsen und Er-
krankungen der Haarwurzelscheiden, die mit Entzündung und Ver-
narbung einhergehen)
Chromatid
Eine der beiden identischen Hälften, in welche sich ein Chromosom
vor der Reduktionsteilung der Länge nach spaltet
Chromatin (griech. Farbe)
Mit spezifischen Farbstoffen anfärbbare Substanz im Zellkern, die aus
DNA, RNA und Kernproteinen (Histone und Nichthistone) besteht
Coccidiostatikum
Mittel zur Therapie einer durch Sporozoen hervorgerufenen Infektion
des Dünndarms (Coccidiose)
Cytostatika
Heterogene chemische Gruppe zytotoxischer Verbindungen, welche
die Zellteilung durch unterschiedliche Beeinflussung des Stoffwechsels
verhindern oder verzögern
Dalton
John Dalton, engl. Physiker (1766–1844), ein Dalton (Da) ist eine
atomare Masseneinheit
Delirium, Delir (lat. delirare verrückt sein)
Form der akuten organischen Psychose mit Bewusstseins- und Orien-
tierungsstörungen, Halluzinationen, vegetativen Störungen, Tremor
und motorischer Unruhe
Depilierung (lat. depilare enthaaren)
Enthaarungsmittel
Depression (lat. deprimere niederdrücken, herabziehen)
In der Psychiatrie eine unspezifische Bezeichnung für eine Störung
der Affektivität, bei der ein depressives Syndrom im Vordergrund
steht
452 Glossar

ED50
Effektive Dosis. Diejenige Konzentration, bei der 50 % der Individuen
eines Kollektives eine pharmakologische Wirkung zeigen
Embolie (griech. hineinwerfen)
Verstopfung eines Gefäßes durch ein in die Blutbahn verschlepptes
Gebilde (Thrombus, Bakterien, Gas, Fett, Parasiten u. a.)
enteral (griech. Darm, Eingeweide)
Zum Darm gehörig, Aufnahme über den Darm im Gegensatz zu pa-
renteral, unter Umgehung des Darmes
epigenetisch wirksame Karzinogene
Karzinogene Wirkung ohne Wechselwirkungen mit der DNA
Epithel (griech. darauf wachsen)
Geschlossener, ein- oder mehrschichtiger Zellverband der inneren
oder äußeren Körperoberfläche
Epitheliom
Gutartiger oder bösartiger Tumor aus Epithelzellen (Papillom, Ade-
nom, Karzinom)
Erythroblasten
Vorstufen der Erythrozyten im Knochenmark
Erythropoese
Bildung der roten Blutkörperchen im Knochenmark. Beim Menschen
werden 2,5 Millionen Erythrozyten pro Sekunde gebildet
Erythrozyten (griech. rote Zelle)
Rote Blutkörperchen, rote Blutzellen
Exsiccose (lat. exsiccare austrocknen)
Abnahme des Gesamtkörperwassers
Fertilität
Fruchtbarkeit, geschlechtliche Vermehrungsfähigkeit
Fibroblasten
Vorstufen der Fibrozyten (spindelförmige Zellen des Bindegewebes)
Ganglien
Nervenknoten, Schaltstellen zwischen zwei Neuronen des sympathi-
schen und parasympathischen Nervensystems
Gangrän (griech. fressendes Geschwür)
Nekrose mit Autolyse des Gewebes und dessen Verfärbung
Gastrointestinaltrakt (griech. Magen, Eingeweide)
Magen-Darm-Trakt
Genotoxizität oder Gentoxizität
Sammelbegriff für Erbgutschädigung (z. B. DNA-Schäden und
Schäden des Mitoseapparates)
Glossar 453

Glomerulum (lat. glomus Knäuel)


Kapillarknäuel jedes einzelnen Nephrons, in dem die Ultrafiltration
des Harnes erfolgt
glue sniffing
Klebstoffschnüffeln, inhalativer Missbrauch euphorisierend wirkender
Lösungsmittel
Golgi-Apparat
Subzelluläre Organellen, die dem Sekrettransport und der Regenera-
tion von Zellmembranen dienen
Hämolyse
Austritt von Hämoglobin und anderen Bestandteilen aus Erythrozy-
ten aufgrund des Platzens der Zellmembran
Hodenatrophie
Rückbildung des Hodens mit Störung der Spermiogenese
Homöostase
Auch Homoiostase. Regelvorgänge zur Aufrechterhaltung des inne-
ren Milieus des Organismus (Ionenkonzentration, osmotischer Druck,
pH-Wert, Temperatur etc.)
ILO
International Labor Organization, internationale Arbeitsorganisa-
tion der Vereinten Nationen
intravenös (i.v.)
Applikationsweg in eine Vene
Kapillaren
Feinste Blutgefäße oder Haargefäße, Ø5–25 mm
karzinogen (griech. Krebs entstehen)
Auch kanzerogen, krebserzeugend
Karzinogenese
Entstehung maligner Tumoren unter Beteiligung verschiedener Fak-
toren
Karzinom
Ein vom Epithel ausgehender maligner Tumor
Katecholamine
Oberbegriff für die biogenen Amine mit der Struktur des Brenzka-
techins (Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin)
Keimbahn
Enthält das Ideoplasma, Erbplasma, Erbsubstanz oder sogenann-
te Keimplasma, welches kontinuierlich von einer Generation auf die
nächste übertragen wird
Keratinozyt
Keratin (schwefelreiches Skleroprotein) bildende Epidermiszellen
454 Glossar

Klastogen (griech. brechen)


Substanz, die Chromosomenbrüche auslöst
Klon (griech. Zweig, Schössling)
Kopie, Gruppe von identischen Zellen oder DNA-Abschnitten
knock-down-Wirkung
Neurotoxische Wirkung der Pyrethrine und Pyrethroide auf Insekten
Koagulation
Gerinnung
Kolik
Krampfartige Schmerzen durch Zusammenziehen eines Hohlorgans
(Darm, Harnblase, Gallengang, Gallenblase, Magen)
Komedonen
Sogenannte Mitesser. Erweiterte, mit Keratin und Talg gefüllte Haar-
follikel, die zur Hautoberfläche hin offen oder geschlossen sind
Kontaktallergie (lat. contactus Berührung)
Überschießende Immunantwort auf ein Kontaktallergen (Substanz,
die als Antigen eine Allergie auslöst)
kritische Konzentration
Konzentration eines Toxikons, die das kritische Organ nicht mehr
toleriert
kritisches Organ
Organ, das bei einer Vergiftung zuerst geschädigt wird und funktio-
nelle Ausfallserscheinungen zeigt
LD50
Letale Dosis, Konzentration eines Stoffes, die zum Tode von 50 %
der exponierten Versuchstiere führt
Leukämie
Bösartige Erkrankung der weißen Blutkörperchen durch klonale Ver-
mehrung unreifer blutbildender Stammzellen
LOEL
Lowest observed effect level. Niedrigste Konzentration, die eine be-
obachtbare Wirkung auslöst
Lungenödem
Ansammlung seröser Flüssigkeit im Zwischenzellraum (Interstitium)
des Lungengewebes oder in den Lungenbläschen (Alveolen)
Lymphozyten
Von pluri- bzw. unipotenten Stammzellen im Knochenmark abstam-
mende, in Knochenmark, Lymphknoten, Thymus und Milz gebildete
und hauptsächlich über die Lymphbahnen ins Blut gelangende, kleine
weiße Blutkörperchen
Lysosomen
Im Golgi-Apparat gebildete Zellorganellen, die Hydrolasen enthalten
(kleine Vesikel, die durch Zellmembranen begrenzt werden)
Glossar 455

MAK-Wert
Maximale Arbeitsplatz-Konzentration, die höchstzulässige Konzen-
tration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf, oder Schwebestoff in
der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenwärtigen Stand der
Kenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel täglich
achtstündiger Exposition, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittli-
chen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden im Allgemeinen die Gesund-
heit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt und diese nicht unange-
messen belästigt
MIK-Wert
Maximale Immissions-Konzentration. Immissionen sind auf Men-
schen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmo-
sphäre sowie Kultur- und Sachgüter einwirkende Luftverunreinigun-
gen, Geräusche, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen.
Die MIK-Werte sind Richtwerte und basieren auf einem mehr oder
weniger großen Wissens- und Erfahrungsstand, z. B. für Schadstoffe
in Nahrungsmitteln oder für den Gehalt an Schwermetallen im Bo-
den. Bei der Einhaltung dieser Werte ist der Schutz des Menschen
und seiner Umwelt nach derzeitigem Wissensstand gewährleistet
Metaphase
Phase der Mitose, in der sich die Chromosomen in der Äquatorial-
ebene anordnen
Mimikry (griech. Nachahmung)
Hier Nachahmen der perfekten molekularen Form physiologischer
Substrate
Mitose (griech. Faden)
Zellteilung, identische Reduplikation des genetischen Materials und
Verteilung je eines vollständigen Chromosomensatzes auf die Toch-
terzellen
motorische Endplatte (Muskelendplatte)
Endplattenregion an der Muskelzellmembran mit Acetylcholinrezep-
toren und Acetylcholinesterase
muskarinisch
Kennzeichnet aufgrund der spezifischen Muskarinwirkung den Ace-
tylcholinrezeptor des Parasympathikus am Erfolgsorgan (z. B. Herz,
Auge, Darm etc.)
mutagen (lat. mutare verändern)
Veränderung des genetischen Materials
Neurofilament, Neurofibrillen
Feinste Fäserchen im Zytoplasma der Nervenzellen und ihrer Fort-
sätze
456 Glossar

Neurotoxizität
Toxische Beeinträchtigung zentralnervöser und peripherer Nerven-
funktionen
nicotinisch
Kennzeichnet durch die spezifische Wirkung des Nicotins die Acetyl-
cholinrezeptoren in den Ganglien des Sympathikus und des Parasym-
pathikus
NOEL
No observed effect level. Konzentration, unterhalb derer keine Wir-
kung messbar ist. Die NOEL-Konzentration darf allerdings nicht
gleich dem NEL (No effect level) gesetzt werden, da möglicherwei-
se Schadstoffwirkungen aufgrund zu unempfindlicher Messmethoden
nicht entdeckt werden. Als NOAEL (No observed adverse effect level)
gilt die Konzentration, die gerade noch keine feststellbaren nachtei-
ligen Wirkungen verursachen
Nukleotid
Phosphorsäureester der Nukleoside (Nukleinbase, Pentose, Phosphat)
Nukleosid
Baustein aus Nukleinbase (Purin- oder Pyrimidin-Base) und einer
Pentose meist D-Ribose oder D-Desoxyribose
Obstipation (lat. obstipare verstopfen)
verzögerte Kotentleerung
Onkogene (griech. Geschwulst erzeugen)
Durch Mutation, Deletion oder Überexpression gewinnen die Proto-
Onkogene die Eigenschaft von Onkogenen, sie können Tumoren
auslösen, wenn gleichzeitig die Kontrolle durch Tumor-Suppressor-
gene gestört ist
Organotropie
auf ein bestimmtes Organ gerichtete Wirkung
Parasympathikus
Teil des vegetativen Nervensystems. Die von ihm geförderten Vor-
gänge dienen der Regeneration des Organismus
Persistenz (lat. persistere hartnäckig, verharren)
Beständigkeit eines Stoffes gegenüber dem Abbau in der Umwelt oder
im Organismus
Phänotypus
Merkmalbild, Erscheinung. Summe aller an einem Einzelwesen vor-
handenen Merkmale, sein äußeres Bild, seine äußere Erscheinungs-
form und seine funktionellen Eigenschaften, die durch den Genotypus
im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen verschiedener Art geprägt
werden
Glossar 457

Plazentaschranke
Biologische Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blutkreis-
lauf
Polyneuritis
Enzündung des peripheren Nervensystems
Polyneuropathie
Erkrankung der peripheren Nerven aus nichttraumatischer Ursache
Polyurie
Erhöhung der Harnausscheidung
Proteinurie
Ausscheidung von Eiweiß im Urin (20 bis 150 mg Eiweiß in 24 h sind
physiologisch)
Proto-Onkogene
Als zelluläre Onkogene sind sie Homologe der viralen Onkogene. Ihre
Genprodukte sind an der Kontrolle normaler Wachstums- und Diffe-
renzierungsprozesse beteiligt, insbesondere steuern sie die Zellproli-
feration
prototroph
Mikroorganismen, bei denen alle Enzyme, die für die Synthese von
Körperbausteinen notwendig sind, in den Zellen vorhanden sind.
Psychose (griech. Seele)
Allgemeine Bezeichnung für psychische Störung mit strukturellem
Wandel des Erlebens
pT50
Potentielle Toxizität, negativer Logarithmus der toxischen Konzen-
tration in mol/kg Körpergewicht ausgedrückt, bei der 50 % des be-
handelten Tierkollektivs stirbt
renal (lat. ren)
Die Niere betreffend
Resistenz
Widerstandsfähigkeit von Mikroorganismen gegen Chemotherapeu-
tika und Biozide
Retikulum (lat. reticulum kleines Netz)
Endoplasmatisches Retikulum (ER), elektronenmikroskopisch sicht-
bares, im Grundplasma der Zelle gelegenes dreidimensionales Hohl-
raumsystem aus Bläschen, Kanälchen und Zisternen, deren Membra-
nen kontinuierlich mit der äußeren Kernmembran und zum Teil auch
mit der Plasmamembran zusammenhängen. Man unterscheidet ein
mit Ribosomen besetztes sog. rauhes oder granuläres ER (rER) und
ein Ribosomenfreies glattes ER (sER)
458 Glossar

Risiko
Risk-Assessment. Die Risiko-Abschätzung eines Stoffes lässt sich in
vier Abschnitte einteilen. Zuerst erfolgen eine Identifizierung und
Charakterisierung der toxischen Wirkung. Zweitens gibt die Dosis-
Wirkungsbeziehung Auskunft über Exposition und Ausmaß der Wir-
kung. Dies dient auch zur Festlegung der Messgröße NOEL (no
observed effect level). Drittens erfolgt eine Expositionsmessung und
Abschätzung der Stoffaufnahme am Menschen, und viertens geschieht
schließlich die Charakterisierung und Quantifizierung des Risikos.
Dabei wertet der letzte Abschnitt die Informationen und die Ana-
lysen der ersten drei Abschnitte aus
Roborans (lat. roborare stärken)
Stärkendes Mittel
Sarkom
Ein aus mesenchymalem Gewebe hervorgehender Tumor
Scavenger (engl. Aasfresser)
Abfänger toxischer Produkte, Radikalfänger
Short-Term-Test
Darunter versteht man Kurzzeittestmethoden zur Prüfung von Sub-
stanzen auf mutagene und krebserregende Eigenschaften. Diese
Short-Term-Tests können an Prokaryonten, Eukaryonten, kultivier-
ten Warmblüterzellen und in vivo an Nagern und Insekten durch-
geführt werden. Dabei werden durch die Substanz erzeugte Genmu-
tationen und Chromosomenaberrationen erfasst. Die größte Bedeu-
tung haben Tests an mutierten Bakterienkulturen erlangt. In Gegen-
wart von mutagenen Substanzen kann es zu Rückmutationen kom-
men (Ames Test)
Soma-Zellen (griech. Körper)
Körperzellen
Spasmus, spastisch
Unwillkürliche Muskelkontraktion, Krampf
Spermiogenese, Spermatogenese
Reifung und Ausdifferenzierung der Samenzellen (Spermien) im Kei-
mepithel des Hodens
Stickstoff-Lost
Nach den Herstellern Lommel und Steinkopf auch als Gelbkreuz und
Senfgas bezeichnetes Kampfgas, b,b’-Dichlordiethylsulfid
Sympathikus
Teil des vegetativen Nervensystems und Antagonist des Parasympa-
thikus; vereinfacht dargestellt führt seine Erregung zur Angriffsbe-
reitschaft des Organismus, aber auch zu Fluchtreaktionen
Glossar 459

Synapse
Umschaltstelle für die diskontinuierliche Erregungsübertragung von
einem Neuron auf ein anderes oder auf das Erfolgsorgan
TD50 -Wert
Toxische Dosis. Die Konzentration, bei der 50 % der reagierenden
Individuen eine toxische Wirkung zeigen
TD50 -Wert
Tumor Dosis, die Konzentration angegeben, die zum Auftreten von
Tumoren bei 50 % der behandelten Tiere führt. Die identische Be-
zeichnung für toxische und Tumor-Dosis kann zu Verwechslungen
beitragen
teratogen (griech. Ungeheuer)
Eigenschaft eines chemischen, physikalischen oder biologischen
Agens, vor der Geburt (pränatal) Fehlbildungen auszulösen
Tremor (lat. tremor Zittern)
Unwillkürlich auftretende, meist rhythmische Kontraktionen antago-
nistischer Muskeln
TRK-Wert
Technische Richtkonzentration. Da für krebserzeugende Arbeitsstof-
fe keine MAK-Werte ermittelt werden können, werden für diese und
für krebsverdächtige Stoffe sogenannte TRK-Werte aufgestellt. Der
TRK-Wert ist diejenige Konzentration eines gefährlichen Stoffes in
der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem Stand der Technik erreicht
werden kann. Auch dieser Luftgrenzwert kann sich auf den Stoff als
Gas, Dampf oder Schwebestoff in der Atemluft beziehen. Das Ziel ist
auch bei diesen Grenzwerten, einen Anhalt für zu treffende Schutz-
maßnahmen am Arbeitsplatz zu geben, um das Risiko einer Beein-
trächtigung der Gesundheit des Arbeitsnehmers zu vermindern; dabei
lässt sich aber ein Restrisiko nicht ausschließen
Tubulus (Niere)
Nierenkanälchen, proximales (im Verlauf früher liegendes) und dista-
les (im Verlauf später folgendes)
Zirrhose (griech. harte Schwellung)
Aufhebung der normalen Struktur eines Organs unter Umwandlung
des Gewebes mit Verhärtungen
ZNS
Zentralnervensystem, Gehirn- und Rückenmarksnervensystem im
Gegensatz zu den peripheren Nerven
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Index

Fette Seitenzahlen verweisen auf Überschriften, kursive auf Abbildungen

a-Naphthylthioharnstoff, 353 2,4’-DDT, 303, 333, 345


a-Naphthylthiourea (ANTU), 294 2,4,5-T, 312
b-D-Glucopyranose-Form, 197 2,4,5-Trichlorphenol, 312
b-Glucuronidase, 80 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure,
b-Lyase, 285, 286 310
b-Naphthylamin, 346 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, 310
b-Oxidation, 279 2,5-Hexandion, 279
b-Sitosterol, 330 2-Hexanon, 277
g-Carboxyglutaminsäure, 133, 134, 3-Chlorperbenzoesäure, 347
321 4,4’-DDD, 303
d-Aminolaevulinat-Synthase, 210 4,4’-DDT, 303
d-Aminolaevulinsäure, 210, 315 4-Dimethylaminophenol, 360, 362
-Dehydrase, 210 4-Hydroxymercuribenzoat, 232
4-Methylpyrazol, 270, 274, 275
1,1,1-Trichlorethan, 280, 283, 287, 4-Nitrobenzylpyridin, 408, 409
287 4-Nonylphenol, 335
1,1,2,2-Tetrachlorethan, 288 -ethoxylat, 335
1,1,2-Trichlorethan, 283, 287 4-tert.-Pentylphenol, 335
1,1-Dimethylhydrazin, 388 4-tert.-Octylphenol, 336
1,2-Dibromethan, 174, 208, 383
1,2-Dichlorethan, 174, 208, 382 A
1,2-Propylenglycol, 276 Aberrationen, 378
1,25-Cholecalciferol, 216 Abführmittel, 439
11b-Hydroxysteroid Dehydrogen- Abwasser, 329
ase, 78 Acetaldehyd, 272
17a-Ethinylöstradiol, 330 Aceton, 43, 276
17b-Östradiol, 330 Acetylarsanilsäure, 250
2,3-Bisphosphoglycerat (BPG), Acetylcholin, 112, 113, 155, 157,
108, 128, 146, 149 159, 163, 296
2,3-Dimercaptobernsteinsäure, 204 Acetylcholin-Esterase, 111, 156,
2,3-Dimercaptopropan-1-sulfonat- 159, 160–163, 296
Na, 204 Acetylcholinrezeptor, 112, 116, 124
466 Index

nicotinischer, 114, 115, 126 Entgiftung, 381


Acetylierer, 85 Alkylhydrazine, 388
Acetyltransferasen, 85 Alkylisothiocyanate, 320
Acidose, 269, 273, 280, 362 Alkylphenole, 335
metabolische, 268 Alkylsenföl, 318
Acridin, 391 Alkylsulfate, 387, 387
Acridin-Orange, 391 Alkylsulfonsäureester, 387, 387
Acrolein, 31, 349 Allethrin, 300
Acrylamid, 347 Allosterische Effekte, 128
Acyl-CoA-N-Acyltransferase, 82 Allylstrukturen, reaktive, 390, 391
Adamsit, 251 Alterung, 296
Additive, 334 Aluminium, 188
Adenosintriphophat, 48 Alveolen, 26
Adenylatcyclase, 245 Amalgam, 231, 239
ADI-Werte, 14 Ameisensäure, 269, 280
Adrenalin, 74, 129, 155 Ames-Test, 282, 291, 334, 345, 409,
Adsorbens, 438 410
Adsorbentien, 309 Amidasen, 80
Aerosole, 26, 27, 30 Amine
AFC, 218 aromatische, 405
Affinität, 123 tertiäre, 404
Aflatoxin B1 , 397, 398 Aminoacridin, 391
agent orange, 311 Aminotriazol, 315
agent blue, 248 Amitrol, 294, 315
Ah-Rezeptor, 313 Ammoniak, 31, 349
Akarizide, 293 AMPA, 314, 314
Akkumulation, 95, 269 amphiline Biomoleküle, 42
Akrodynie, 238 Amplifikation, 369
Aktionspotential, 152 Anilin, 31, 346, 359, 406
Aktivierung, 369 Anilinderivate, 294
Aktivkohle, Gabe von, 438 Anionentransporter, 141, 142, 143,
Albumin, 58, 59 192, 195, 219, 244
Aldehyddehydrogenase, 77 Anosmie, 215
Aldo-keto-Reduktase, 77, 79 Antabus, 319
Aldrin, 296, 305 Antagonisten, 125
Aliphaten, halogenierte, 294 chemische, 129
Alkohol, 280 funktionelle, 129
Alkoholdehydrogenase, 77, 271, 275 kompetitive, 125
Alkoholunverträglichkeit, 77 nichtkompetitive, 126
Alkoxid-Radikal, 393 Antibiotika, 294
Alkylanzien, 379 Antidiuretisches Hormon (ADH),
Alkylhalogenide, 379 233
Index 467

Antidot, 5, 205, 441, 441 phosphoglycerat, 252


antifouling, 318, 337 zucker, 253, 254
Antihidrotikum, 239 Arsphenamin, 249, 250
Antikoagulantien, 321 Arylamine, 406
Antimon, 30, 201, 258 Arzneimitteltoxikologie, 8
Antimykotikum, 316, 319 Asbestfasern, 32
ANTU, 294 Ascorbinsäure, 246
Anurie, 222, 237, 254 Asservierung, 432
AP1EO, AP2EO, 336 Atemgifte, 349
Apomorphin, 439 Atemspende, 431
Apothionein, 215 Atemwege freimachen, 430
Applikation, 324 Äther, 264
Aquafer, 248 Atoxyl, 249, 250
Aquaporin, 50, 52, 141, 233, 234, ATP, 145, 148, 150, 200, 355
247 ATPasen
Aquaporinkanal, 49 P-Typ, 182
Arachidonsäure, 74, 75 Atrazin, 315, 326, 328
Arenoxide, 398 Atropa belladonna, 158
Arochlor 1242, 332 Atropin, 158, 297
Arsacetin, 250 Auge
Arsan, engl. arsine, 251 Aderhaut, 435
Arsanilsäure, 249, 250 Bindehaut, 434, 435
Arsen, 170, 181, 188, 197, 204, 218, Choroidea, 435
246, 256, 392, 394 Cornea, 435
-krebs, 255 Glaskörper, 435
-melanose, 255 Hornhaut, 434, 435
Trinkwasser, 247 Hornhautendothel, 434
-verbindungen, 294 Hornhautepithel, 434
-verbindungen, methylierte, Iris, 435, 435
253 Konjunktiva, 435
-wasserstoff, 251, 253 Lederhaut, 435, 435
Arsenat, 144, 145, 192, 247, 251 Limbus, 434
Anion, 143 Limbus Corneae, 435
Arsenik, 23, 181, 246, 254 Linse, 435, 435
Arsenikessen, 248 Netzhaut, 435
Arsenismus, 255 Retina, 435
Arsenit, 247, 251 Sehnerv, 435
Arsenit-Triglutathion, 252 Sklera, 435
Arseno- Zillarkörper, 435
betain, 252, 254 Augenspülung, 435, 436
cholin, 250, 252, 254 Augenverätzungen, 433
lipide, 253 Augenverletzungen, 433
468 Index

Aurosom, 200 eisensensorisches, 191


Ausscheidung, 408 Bioallethrin, 301
Auxin, 310 Biochanin A, 338
Azidose, 364 Biomethylierung, 258
Aziridinium, 383 Bioresmethrin, 301
Biosphäre, 179
B Biotransformation, 48, 62–65, 70,
Bakterien, 252 71, 86, 88, 90, 91, 95, 130,
Geobacter, 248 143, 259, 278, 355
methanogene, 230 Biozide, 31, 293, 323
BAL (Dimercaprol), 203, 204, 211, Biphenyle, polychlorierte, 333
216, 228, 239, 242, 256 Bipyridylium, 294, 308
Bariumsulfat, 185 Bis(tri-n-butylzinn)oxid, TBTO,
Barrierefunktion, 22, 43 337
Basalmembran, 39, 40 Bis(trichlormethyl)carbonat, 347
Basenmodifikation, 193 Bisphenol A, 336
Basenpaarsubstitutionen, 378 black-foot-disease, 255
Basismaßnahmen, 430 Blausäure, 360
BAT-Wert, 14, 187, 260 Blechdose, 172
Bateman-Funktion, 100 Blei, 30, 31, 36, 57, 61, 129, 150,
Bay-Region-Theorie, 401 170, 173, 176, 185, 188, 206,
Beatmung, 431 245, 258, 392
Mund-zu-Mund, 431 -acetat, 171, 207
Mund-zu-Nase, 431 -arsenat, 207
Benomyl, 320, 320, 329 -belastung, 174
Bentonit, 309 -fluid, 208
Benz[a]anthrazen, 31 -glätte, 207
Benz[a]pyren, 31 -Ion, 140, 195
Benzidin, 346 -kolik, 207, 209
Benzimidazole, 294, 320 -kolorit, 209
Benzinlungenentzündung, 277 Komplexe, lipophile, 209
Benzo[a]pyren, 71, 400, 401 -saum, 209
Diolepoxide, 402 -seife, 208
Benzol, 70, 72, 288, 289, 290, 347 -spiegel, 177
Benzol-Leukämie, 290 -weiß, 207
Benzylbutylphthalat, 337 -zucker, 207
Berliner Blau, 242 Blut-Hirn-Schranke, 40, 235
Beryllium, 188, 392 Blutbleispiegel, 175
Besetzungstheorie, 117, 119, 122, Blutgerinnung, 195
123 Blutgerinnungsfaktoren, 321
Binde- und Stützgewebe, 33 Blutplasma, 41, 56, 90, 98
Bindungsprotein Blutspiegel, 39
Index 469

Blutspiegel-Zeitkurve, 95, 96 Carboxyhämoglobin, 354


Bohr-Effekt, 146 Carboxypeptidase A, 196
Bor, 257 carry-over-effect, 340
Botulinustoxin, 157, 199 Cashmeran, 331
BPG, 108, 128, 146, 149 CFK, 218
Brom, 350 Chelatbildner, 129, 202, 202, 204
Bromazil, 326 Chelate, 202, 204, 211, 214, 221,
Brommethan, 280 239, 245
Bronchien, 26 lipophile, 228, 316, 318
Busulfan, 122 chemische Klassen, 266
Chemotherapie, 181
C Chinone, 355
c-Aconitase, 190, 191 Chinoxaline, 294
Cadmium, 30, 31, 57, 61, 188, 196, CHIP28, 49
198, 201, 212, 392 Chiralität, 346
Nahrung, 213 Chitinsynthese-Inhibitor, 293
Nierenrinde, 215 Chlor, 350
-oxid, 32, 212, 350 Chlorakne, 311
Schnupfen, 215 Chloral, 285
-shift, 215 Chloralhydrat, 303
Tabak, 212 Chloranilin, 406
Caeruloplasmin, 60 Chlorat, 294, 309, 355, 359
Calcitonin, 216 Chlorbenzol, 303
Calcitriol, 216 Chlorcarbonsäure, 294, 313
Calcium, 194, 202, 205 Chlordan, 305
-Antagonist, 195 Chlordecon, 305
Ca++ , 182, 195, 204 Chloressigsäure, 287, 288
-Chelator, 133 Chlorethyl, 280
-Kanal, 194 Chlorethylenoxid, 396
spannungsgesteuerter, 155 Chloridkanal, 305
Camphen, 333 Chlormethan, 280, 280
CaNa2 -EDTA, 211, 223, 245, 246 Chloroform, 30, 71, 150, 280, 282,
CaNa3 -DTPA, 245 283
Carbamate, 294, 298, 299 Chlorvinyl-Dichlorarsin, 251
Carbaminsäure Chlorwasserstoff, 31, 349
-ester, 298 Cholecalciferol-Hydroxylase, 216
Carbanion, 258 Chrom, 31, 183, 185, 188, 193, 217,
Carbaryl, 299 257, 392, 394
Carbendazin, 299 -Nickel-Stahl, 217
Carboanhydrase, 142 Oxidationsstufen, 217
Carbonylchlorid, 347 -säure, 221
Carbonylreduktase, 79 -schwefelsäure, 218
470 Index

Staublunge, 222 Cyanid, 359–362


-sulfat, Gerbung, 219 Cyanwasserstoff, 29, 53, 57, 359
-trioxid, 218 Cycasin, 389, 389
Chromat, 218, 355 Cyclodiene, 305, 305
-allergie, 218 Cyclohexan, 279, 347
Anion, 143, 192 Cyclooxygenase, 74, 75
-arbeiter, 219 Cyclophosphamid, 383
Reduktion, 220 Cyfluthrin, 300
-Thioester, 220, 220 CYP-Gene, 68
Chromat/Cr3+ , 245 CYP2E1, 266, 279, 288
Chromdioxid, 218 Cypermethrin, 300, 301
Chromit, 217 Cystein, 213, 233
Chromosomen Cystein-b-Lyasen, 85
Aberrationen, 187, 290 Cytochrom P-450, 66, 67, 68, 69,
Aberrationen, Test auf, 414 69, 70, 86, 143, 281, 282,
Mutationen, 378 285, 287, 290, 291, 351, 395,
-schäden, 237 400, 402
Chrysanthemum, 299 -Isoenzym2E1, 271
-säure, 300, 301 Monooxygenase, 74
Cinerolon, 300 System, 279, 286
Citrus, 320 Cytochrom-c-Oxidase, 359, 363
Clark I/II, 250, 251
Clark, Alfred Joseph, 117 D
Clearance, 98 D-Penicillamin, 204, 239
Nieren-, 89, 96 Daidzein, 338
renale, 91 Dalapon, 313
Clofibrinsäure, 329 Dalton, 40
CO, 51 Dampfdruck, 266
CO-Hämoglobin, 281 Darmflora, 23
Cobalt, 35, 183, 188, 210, 257, 392 Dazomet, 319, 320
Cocain, 154 DDT, 57, 58, 61, 62, 69, 130, 162,
Coenzym F 430, 183 303, 332
Conazole, 294 technisches, 304
Coniin, 4 Deferoxamin, 204
Conydrin, 4 Dehydrogenase, 76
Coumestan, 338 Dekamethonium, 158
Coumestrol, 338 Dekontamination, 433
Cromargan, 224 Dekontaminationsmittel, 433
CS-Syndrom, 300 Dekorporierungsantidot, 442
Cumarin, 133, 135 Depurinisierung, 377
Cumarinderivate, 294, 321 dermale Aufnahme, 426
Curare, 4, 25, 105, 116, 126, 159 Desethylatrazin, 326
Index 471

Desinfektionsmittel, 379 Dimethylarsenperoxyl-Radikal, 255


Desisopropylatrazin, 326 Dimethylarsin, 248
Destillation, globale, 303, 333 Dimethylarsinsäure, 248, 250, 252
developmental toxicology, 332 Dimethylcarbonat, 347
Di-(2-ethylhexyl)-phthalat, 276 Dimethylethylenharnstoff, 347
Dialkylzinn, 317 Dimethylglyoxim, 228
Metabolismus, 317 Dimethylquecksilber, 179, 180, 230,
Diarsin, 254 236
Dibenzodioxine, polychlorierte, Dimethylsulfat, 347
312, 333 Dinitrokresol(e), 306, 307
Dibenzofurane, 312 Dinitrophenol(e), 294, 306
Dibutylphthalat, 276, 337 Dinobuton, 307
DIC, 310 Dinoseb, 307
Dicarboximide, 294 Dinoterb, 307
Dichloracetylen, 285 Dioxine, 311, 333
Dichlordiphenylmethane, 303 Zersetzung, 311
Dichlorethan, 283 Dipeptidtransporter, 197
Dichlormethan, 280, 281, 283 Diphenyl(e), 320
Dichromat, 218 Diphenylamin-Chlorarsin, 251
Dick, 251 Diphenylchlorarsin, 251
Dickdarm, 23 Diphenylcyanarsin, 251
Diclobenil, 327 Diphenylcyclopropenon, 345
Dicofol, 332 Dipyridinium, 308
Dicumarol, 135 Diquat, 308
Dieldrin, 305 dirty dozen, 296
Diethyldithiocarbamat, 228 Dischwefelchlorid, 349
Diethylenglycol, 275, 275 Dischwefeldichlorid, 31
Diethylether, 347 Disilikate, 438
Diethylhexylphthalat, 337 Distickstoff-Trioxid, 403
Diethylzinn, 317 Disulfiram, 319
Diffusion, 49, 51, 52 Dithiocarb, 228, 242
einfache, 48 Dithiocarbamate, 294, 318
Dihydroliponsäure, 251 Diurese, forcierte, 442
Diisopropylfluorophosphat, 111 Diuron, 308, 328
Dimaval, 256 DNA, 373
Dimercaprol (BAL), 203, 204, 211, Alkylierung, 376
216, 228, 239, 242, 256 Doppelhelix, 373, 374
Dimercaptobernsteinsäure (DM- Fragmentierung, Test auf, 417
SA), 239 Interkalatoren, 379
Dimercaptopropansulfonsäure Polymerase, 375
(DMPS), 239, 256 Reparatur, Test auf, 416
Dimetalltransporter, 188, 190 Strangbruch, 193, 255, 377, 417
472 Index

DNA-Addukte, 193 mikrosomale, 93


DNOC, 307 Enzyminduktion, 93
Dominant-Letal-Test, 419 Epidermis, 20
Dosierungsinterval, 324 Episulfonium, 383
Dosis-Wirkungs-Beziehung, 119 Epithelgewebe, 33
Drosophila melanogaster, 418 Epoxid, 70, 76, 285, 286, 289, 291,
DTPA, 204, 245 384, 385, 396
Duftstoffe, 330 technische, 385
Dünndarm, 23 Epoxidierung, 395, 400
-saft, 24 Furane, 397
-schleimhaut, 23
Monoaromate, 398
E EPSP-Synthase, 314
Ecdyson, 293 Erbrechen, induziertes, 439
ED50 , 119 Erdgeister, 223
EDTA, 202, 204, 211, 245 Erethismus mercurialis, 238
Effekte Erythrozyt, 43, 47, 218
akute, 7 Chromat, 220
chronische, 7 Essentialität, 184
efficacy, 342 Essigsäure
efficiency, 342 aktivierte, 80
Ehrlich, Paul, 104, 249 Esterase, 79
Eisen, 35, 183, 191, 245, 318 -neurotoxische, 297
Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), 135 Ethanol, 136, 270, 270, 274, 275,
Eisentransportprotein, 240 347
Ektropionieren, 435 Unverträglichkeit, 319
Elimination, 324 Ethen, 395
Eliminationskonstante, 96 Ethenoxid, 395
Eliminationsphase, 99
Ethenylbenzol, 291
ELISA, kompetitiv, 344
Ethyl-Dichlorarsin, 251
Encephalopathia saturnina, 172,
Ethylen, 30
211
Endharn, 88 Ethylenglycol, 136, 272, 273
endocrine disruptors, 332 Ethylenimine, 384, 384
Endosulfan, 334 Ethylquecksilber-p-Toluolsulfonanilid,
Endothel, 39 238
Endozytose, 56 Evasion, 8, 17, 18, 100
Enterodiol, 330 EVOH, 236
Enterolacton, 330 Exocytose, 195
Entschäumer, 437 Expositionsphase, 17, 18
Entwicklungs-Toxikologie, 332 Exsiccose, 255
Enzyme, 105 extrazellulärer Raum, 37
Index 473

F Furane, 397
F2-Toxin, 339 Furanocumarin, 346
Fabaceen, 338
Fallhand, 211 G
Faxpapier, 336 Galaxolid, 330
FCKW, 280, 287 Galle, 91
Feersche Erkrankung, 238 Gallenwege, 87
Fentin, 318 Galmei, 212
Ferritin, 183, 191 Ganglion, 297
Ferrochelatase, 210, 210 Gasaustausch, 28
Ferrochrom, 217 Gefahrstoff, 346
Ferrovanadin, 242 Gelzustand, 262
Festplatten, 218 Genistein, 330, 338
Fettgewebe, 60 Genmutationstests, 412
Fetthärtung, 225 Genotoxizität, 255
Fibrin, 133 direkte, 379
-Molekül, 132 indirekte, 394
Fick´sches Diffusionsgesetz, 21, 29, Genotoxizitätsprüfung, 407
54 Gerbung, 219
Filtration, 52 Gesamtzellzahl, 32
Filtrationsdruck, 41 Gesetz von Hagen-Poiseuille, 52
Filtrationsrate Gewerbetoxikologie, 9
glomeruläre, 89 Giftentfernung
Firemaster, 332 extrakorporale Methoden, 443
Fish-odor-Syndrom, 74 sekundäre, 442
Fjord-Region, 401 Giftung, 65, 86
Flavin-abhängige Monooxygenasen, ginger paralysis, 298
73 Glaubersalz, 439
Fließgleichgewicht, 95 Globulin, 59
Flimmerepithel, 27, 31 Glomeruläre-Filtrationsrate, 88
Fluor, 31, 347 Glomerulum, 233, 310
Fluorid, 61 Glucose, Toleranzfaktor, 219, 221
Fluorwasserstoff, 130, 349 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase,
Flüssig-Mosaik-Modell, 44 310
Forelle, 343 Glucuronsäure, 63, 80, 92
Formaldehyd, 31, 269, 282, 349 Glucuronyltransferasen, 86
Formiat, 273 Glufosinat, 314
freie Radikale, 188 Glutamin, 82
Fremdstoffe, 59 Glutaminsynthase, 313
Fruchtfliegen, 418 Glutathion, 68, 80, 82, 83, 92, 148,
Fungiplex, 319 193, 197, 200, 220, 251, 252,
Fungizide, 231, 294, 316 355, 363, 381, 382, 395, 397
474 Index

Glutathion-Peroxidase, 68, 148, Henderson-Hasselbach´sche Glei-


352 chung, 55, 119
Glutathion-Reduktase, 355 Henlesche Schleife, 234
Glutathion-S-Transferase, 82, 286, Hephaestin, 189
381 Heptachlor, 305
Glycerinaldehyd-3-phosphat- Heptan, 347
Dehydrogenase, 144, 192 Herbizide, 248, 294, 306
Glycerintrinitrat, 357 Herzdruckmassage, 431
Glycin, 80, 82, 92 Herzglycosid, 94, 140
Glycol, 272 Hexachlorcyclohexan (HCH), 296
Glycyrrhetinsäure, 79 Isomere, 306
Glyoxylat, 273 Hexachlorophen, 345
Glyoxylsäure, 285 Hexamethonium, 158
Glyphosat, 314 Hexamethylphosphorsäuretriamid,
Gosio-Gas (TMA), 252, 253 347
Grauschimmel, 320 Hexanol, 77
HFE-Protein, 191
H HG-PRT-Test, 413, 414
H2 O2 , 355 Hippursäure, 82
H2 S, 363 Histonprotein, 200
Halbwertzeit, 324 Holzschutz, 218, 316
biologische, 98 Homöostase, 183, 191
Haloalkohole, 380, 380 Huminsäuren, 257
Haloether, 380, 380 Hustenreflex, 27
Häm-Eisen-Verbindungen, 183 Hydrazin, 31
Häm-Synthese, 191, 210 Hydroperoxyd, 282
Hämodialyse, 443 Hydroxocobalamin, 360, 361
Hämoglobin, 57, 58, 108, 111, 136, Hydroxyl-Radikal, 356, 389, 393
142, 145, 146, 193, 349, 353, Hydroxylamin, 355
357 Hyperkeratose, 255
-synthese, 196 Hypochlorit, 309, 393
Hämolyse, 136, 138, 254
kolloidosmotische, 138 I
Hämoperfusion, 443 Imidazole, 294
Handspülmittel, 438 Immunoglobulinen, 60
Harnstoffderivate, 294, 308 in vivo-Test, 418
Harnwege, 87 Indan-1,3-dione, 294, 321
Haut, 19, 20, 87, 130, 132, 260 Indolyl-3-essigsäure, 310
Hornschicht, 20, 21, 260, 261 Induktion, 69
Schutzmantel, 260 Induktoren, 69
Hautflora, 260 Industriechemikalien, 334
HCN, 51, 294 inhalative Noxen, 426
Index 475

Initiation, 370 Kapillargift, 255


Insektenpulver, Dalmatinisches, Karzinogene, 371
300 karzinogener Faktor, 272
Insektizide, 294, 295, 379 Karzinogenese
Interkalatoren, 391 metallinduzierte, 392
interstitieller Raum, 36 Katalase, 68, 149, 234, 315, 352
intravasaler Raum, 36 Keimbahntest, 418, 418
intrazellulärer Raum, 36, 37 keratolytischen Wirkung, 22
intrinsische Aktivität, 123, 124 Kiese-Zyklus, 148, 358
Invasion, 8, 17, 18, 100 Kinetik
Ionen-Kanäle, 46, 105 Eliminationskinetik, 271
Ionenbindung, 108 Kinetik erster Ordnung, 95, 98, 100
Ionenfalle, 56, 94 Kinetik nullter Ordnung, 271
Ionenradien, 240, 242 Klastogene, 371
ionic mimicry, 187 Klinische Toxikologie, 9
Isocyanate, 350 knock down, 300
isoelektrischer Punkt, 132 Koagulationsnekrose, 434
Isoflavon, 330, 338 Koch, Robert, 249
Isothiocyanate, 318 Kohle, medizinische, 222, 309
Itai-itai-Krankheit, 216 Kohlenmonoxid, 10, 29, 31, 53, 57,
70, 146, 353, 354
J Vergiftung, 227
Jasmolon, 300 Kohlenwasserstoffe
Juvenilhormon, 293 aromatische, 75, 288
chlorierte, cyclische, 294, 302
K halogenierte, 265
K+ -Kanal perfluorierte, 345
Ca2+ -aktiviert, 195 polyzyklisch, aromatisch, 400
K-Region, 400 Kolliquationsnekrose, 434
Kakodyloxid, 248, 250 Kolloid, 41
Kakodylsäure, 248 kolloidosmotischer Druck, 41
Kalium-Eisen(III)-hexacyanoferrat(II), Kompartiment, 36, 38, 43, 48, 95
242 Volumen, 96
Kalium-Kanalproteine zentrales, 39, 100
spannungsgesteuerte, 152 Komplementärherbizid, 314
Kaliumchromat, 221 Komposit, 336
Kaliumhexacyanoferrat(III), 355 Konformationsänderung, 193
Kalomel, 231 Konjugationsreaktion, 80
Kanzerogenese, 86 Kontaktdermatitis, 222
Kanzerogenität, 264 Kontaktinsektizide, 162
Kaolin, 309 Konzentrations-Wirkungskurve, lo-
Kapillare, 39, 41 garithmisch, 342
476 Index

Kopplungsreaktion, 80 Lederhaut, 20
Koproporphyrin III, 210 Lewis-Basen, 237
Koproporphyrinogen III-Decarboxylase, Lewis-Säuren, 230
210 Lewisit, 203, 251
Korium, 20 Lidkrampf, 436
Kovalente Bindung, 110 Lignan, 330
Krämpfe, 432 Ligninabbau, 312
Krebs, 365 Lindan, 306
-sterblichkeit, 273, 365 Linuron, 328
-ursachen, 367 Lipid-Doppelschicht, 44, 45
Kreislauf Lipide, 46
enterohepatischer, 80, 92, 194, Lipidkörperchen, 200
242 Lipidmembran, 43
globaler, 178 Lipidperoxidation, 215, 284
kritisches Organ, 34, 182 Lipovitellin, 344
Kumulation, 31, 58, 62, 324 Lithium, 194
Kumulationsfaktor, 325 LOEL, 14
Kumulationsgift, 241 London-Dispersionskraft, 110
kumulieren, 10 Löslichkeitskoeffizient, 30
Kupfer, 35, 183, 184, 197, 200–202, Lösungsmittel, 259
205, 218, 245, 294, 316, 318, Lösungsmittelgemische, 267
392 Luftröhre, 27
-arsenit, 248 Lunge, 19, 87, 94
-HDO, 316, 316 Lungenbläschen, 27, 29, 30, 32
-kies, 223 Lungenödem, 29, 215, 227, 309
Kupfer(II)-Salze, 355 toxisches, 350
Luzerne, 338, 339
L Lysinrest, 279
L-Region, 400 Lysosom, 48, 200
Lachgas, 264
Lactone, 385, 385 M
lacZ-Gen, 342 Magen, 23
Langley, John Newport, 105 Magen-Darm-Kanal, 27
Lanthan, 136, 195 Magen-Darm-Trakt, 19, 98
Lanthanid, 195 Magenentleerung, 437
LD50 , 11, 12, 119, 199 Magenspülung, 439
LDR, 123 Magnesium, 202, 205
LDR-Kurve, 119, 128 MAK-Wert, 14, 187, 260, 264, 265
leaving group, 296 Makrophagen, 32
Leber, 63, 64, 69, 77, 81, 85 Malaria, 295
Leberzirrhose, 272 Malat, 273
Leder, 219 Malondialdehyd, 282, 352
Index 477

Maneb, 319, 329 Methanthiolatomethyl-Quecksilber,


Mangan, 183, 185, 202, 257, 318 230, 237
Marsh, James, 181, 249 Methionin, 196
Massengill, 275 Methoxychlor, 63, 333
Massenwirkungsgesetz, 117, 117, Methoxyethylquecksilberchlorid,
123 231, 232
Matairesinol, 330 Methyl-n-butylketon, 277, 279
MCF-7, 336, 341 Methylazoxymethanol, 389
MCPA, 310 Methylcobalamin, 183
Medikamentenvergiftung, 426 Methyldichlorarsin, 251
Mees-Streifen, 241, 255 Methylenblau, 359
Melanozyten, 260 Methylformiat, 276
Melarsoprol, 249, 250 Methylguanin, 375
Membran, 45, 54, 60 Methylierung, 258
Membranlipide, 43 As, 252, 253, 255
Membranrezeptoren, 105 Hg, 229, 230
Merbaphen, 232, 232 Methyliodid, 347
Methylisocyanat, 319
Merbromin, 232
Methylisothiocyanat, 294
Mercaptursäure, 80, 84, 85, 381
Methylquecksilber, 180, 197, 230,
Mercaptursäureweg, Entgiftung,
258
381
-chlorid, 231, 236
Mercurochrom, 181, 232, 232
-Cystein, 196
Mercury Orange, 232, 236
-halogenid, 235, 237
Merfen, 232 Methyltransferase, 86, 252
Merkurialismus, 238 Mg-Monoperoxyphthalat, 347
Mersalyl, 232, 232 Micellen, 42
Metabolismus, 324, 408 Michaelis-Menten-Gleichung, 118,
Metalle 128
atomophile, 178 MIK-Werte, 14
karzinogene, 392 Mikrokerntest, 420
lithophile, 178 Mikrosome, 65, 81
Metalloporphyrine, 183 Mimikry, 141, 144, 192, 194, 196,
Metallothionein (MT), 198, 201, 197, 209, 219
213, 214, 235 Minamata-Disease, 180, 238
Metasilikat, 437 Mirex, 305
Methämoglobin, 148, 221, 309, 355– Mithridatium, 5
357, 359 Mitochondrien, 48
-ämie, 307 Mobiloferrin, 189
-bildner, 147, 354, 356, 358 MOCVD-Verfahren, 251
Reduktase, 146, 149, 354 Modell
Methanol, 77, 268, 347 Ein-Kompartiment-, 95, 98
478 Index

Multi-Kompartiment-, 101 n-Hexan, 72, 278, 279, 347


toxikokinetisches, 94 N-Lost, 383, 384
Zwei-Kompartiment-, 100 Na+ -Ca2+ -Austauscher, 140, 194
Molluskizide, 293, 318 Na+ -K+ -ATPase, 139, 240, 245
Molybdän, 35, 183, 184, 257 NADPH, 67, 355
Molybdat, 194 NADPH-Cytochrom P-450-
Molybdoenzyme, 184 Reduktase, 67
Mond-Verfahren, 223 Nahrungsmitteltoxikologie, 8
Monellmetall, 223 Naphthalin, 399
Monoaminoxydase, 74 Naringinin, 79
Monokation, 258 Narkose, 261, 263
Monomethylarsonsäure, 252 Analgesie, 263
Monooxygenase-System, 66 Asphyxie, 263
Monooxygenasen, 66 Exzitationsstadium, 263
Mortalitätsrate, Tumorerkrankun- Lipoidtheorie, 261
gen, 367 Toleranzstadium, 263
Moschus, 331 Nasen-Rachen-Raum, 26
-Duftstoffe, 330 Nasse-shift, 143
-Keton, 330 Natriumkanäle
-Xylol, 330 spannungsgesteuerte, 152
Mucosablocktheorie, 191 Natriumnitrit, 360
Münzmetall, 224 Natriumsulfat, 439
Muscon, 331 Natriumthiosulfat, 360, 361
Muskarin, 103, 104, 113, 158 Lösung, 362
Rezeptor, 129 NBP-Test, 408
Vergiftung, 103 Nematizide, 293
Muskelgewebe, 33 Neo-Clear, 347
Muskelprotein, 58 Nephron, 88
mutagen, 15 Nernst´schen Gleichung, 152
Mutagene, 371 Nernst´sches Diffusionspotential,
chemische , 372 152
Mutation, 372 Nervengewebe, 33
Frameshift, 377 Nervensystem
Genom-, 378 autonomes, 103, 155
Rasterschub, 377, 378 vegetatives, 103
Myelinhülle, 153 Neuron, 33, 154
Neuropathien, 279
N Neurotoxizität, 269, 279
N-Acetyl-D,L-Penicillamin, 204 verzögerte, 297
N-Acetyl-L-Cystein, 204 Neurotransmitter, 74
n-Acetylcholinrezeptoren, 158 Nicht-Häm-Eisen-Proteine, 183
n-Heptan, 279 Nichthistonprotein, 200
Index 479

Nickel, 30, 31, 188, 223, 246, 392 Nordwestpassage, 172


-basislegierung, 224 Norfoil, 236
-Cadmium-Zelle, 225 Notruf, 429
Hydrierung, 225 Notrufnummern, 429
Kontaktekzem, 226 Novasurol, 232, 232
-krätze, 227 Nukleotid-Kanzerogen-Addukte,
-Metallhydrid-Akku, 225 409
-(mono)sulfid, 227
Pflanzen, hyperakkumulatori- O
sche, 225 Obidoxim, 297
Phagozytose, 226 okuläre Aufnahme, 426
-subsulfid, 225, 227 Olefine, Hydrierung, 225
-tetracarbonyl, 227 Onkogene, 369
Nickeloplasmin, 226 orale Aufnahme, 426
Nickeltetracarbonyl, 223 Orfila, 5
Nicotin, 90, 103, 105, 113 Organophosphate, 111, 162–164,
Niere, 87, 88, 91, 95 294, 296
Nierenrinde, 213, 236 Organosol, 336
NIH-shift, 399, 399 Organotropie, 34
Nikotinoide, 294 Organverteilung, 408
Nitarson, 250, 250 ortho-Phenylphenol, 320, 320
Nitrat, 357, 358 Orthovanadinsäure, 242, 244
Nitrit, 355, 357 Osmometer, 137
Nitroanilin, 406 Osmose, 52
Nitrofuran, 397 Osteomalazie, 216
Derivate, 398 Osteoporose, 216
Nitrosamin, 31, 77, 402 Östradiol (E2), 341
Nitrosierung, desalkylierende, 404 Östrogene
Nitroso Myko-, 332
-Harnstoffe, 387 Phyto-, 332
Nitroso- Xeno-, 333
Amide, 387, 387 Östrogenrezeptor, 194, 340
Carbaminsäureester, 387, 387 human, hER, 342
Harnstoffe, 387 Ouabain, 140
Nitrosobenzol, 358 Oxalat, 136
Nitroxylverbindungen, 404 Oxalatniere, 273
NO, 355, 357 Oxalsäure, 135, 285
NO2 , 355 Oxidation
NOAEL, 264 gekoppelte, 356
NOEL, 14 Oxidationsschutzmechanismen, 148
Nonoxynol-9, 335 oxidativer Stress, 393
Noradrenlin, 74 Oxime, 296, 299
480 Index

Oximtherapie, 165 Phenarsonsulfoxylat, 250


Oxirane, 384 Phenole, 22
Oxophenarsin, 250 Phenothrin, 300
Oxygenase Phenoxycarbonsäure, 294, 310
mischfunktionelle, 67 Phenylarsenoxid, 250
Ozon, 29, 32, 350 Phenylarsonsäuren, 250
Phenylharnstoffe, 294
P Phenylhydroxylamin, 358
Paracelsus, 5, 140 Phenylmercaptursäure, 290
Paraoxon, 298 Phenylquecksilber
Paraquat, 57, 308, 353 Acetat, 231, 232
Parathion, 72, 165, 298 Borat, 232
Parathormon, 216 Phosgen, 29, 32, 282, 283, 347, 350
parenterale Aufnahme, 426 Phosphat, 192
Passivierung, 217 Phosphinotricin, 314
patch-clamp-Methode, 114 Phospholipid, 46, 262
PBO, 301 Phospholipidmembran, 134
PCB, 333 Phosphorsäureester
PCDD, 311, 333 organische, 161
PCDF, 311 Phospolipase A2 , 74, 75
PCMB, 232, 236 Phthalsäureester, 79
Perchlorat, 355 Physisorption, 438
Perchlorethylen, 286 Physostigmin, 160
Perchlorsäure, 347 Phytin, 221
Perfluor Phyto-Östrogene, 338
dekalin, 345 Phytochelatin, 213
octan, 345 pink disease, 238
Periodensystem, 169 Pinozytose, 56
Permeabilität, Wasser, 234 Piperonylbutoxid (PBO), 301
Permeabilitätskoeffizient, 54 Plasma, 96
Permethrin, 300, 301 Plasmaproteine, 37, 38, 58, 138
Permethylierung, 258 Plasmavolumen, 88
Peroxid-Radikal, 393 Platinkatalysator, 175
Peroxidase, 75 Plazenta, 213
Pestizid, 293 Plazentarschranke, 236, 239
Phagozyten, 32 Plutonium, 188, 245
Phagozytose, 56 Pneumokoniose, 222
Pharmakologie, 6 Pneumonitis, 222
Pharmakon, 6 Pökeln, 356
Phase-I-Reaktion, 65, 66, 77, 351 Polizeifunktion, 28
Phase-II-Reaktion, 65, 80, 86, 91, Polonium, 188
92, 271, 290 Polyneuritis, 255
Index 481

Polyoxyethylenamin, 315 Pyrethrosin, 300, 346


Polysulfide, 294 Pyrethrum, 294, 300
Polyurie, 232, 237
Poren, 25, 53 Q
Porphobilinogen-Synthase, 210, Quartärstruktur, 132
210 Quecksilber, 29, 49, 61, 129, 178,
Postlabeling-Methode, 409 180, 181, 185, 188, 196, 200,
Postreplikations-Reparatur, 375 201, 204, 228, 245, 256
potency, 342 Diuretika, 232
Potentialdifferenz elementares, 234
elektrische, 51 gasförmiges, 231, 237
Pralidoxim, 165, 297 Halbwertzeiten biologisch, 235
Praseodym, 195 -Ion, 140
Präzipitat, weißes, 231 organische Verbindungen, 232,
Primärharn, 88 236, 294, 317
Primärstruktur, 131 -saum, 238
Procain, 154 -schnupfen, 238
Proflavin, 391 Selenid, 235
Progression, 371 Quecksilberkeislauf, 179
Progressionsphase, 371 Querfalten, 23
Promotion, 370
Promotoren, 370, 371 R
Propoxur, 299 Radikalfänger, 352
Prostacyclin, 75 Radium, 188
Protein, 131 Raney-Nickel, 225
Protein-Lipidfilm-Theorie Reaktionskette, 17
gemischte, 44 Reduktase, 76, 146
Proteinbindung, 324 Regel von Pearson, 203
Proteinkinase C, 196 Reparaturmechanismen, 378
Proteinurie, 237 Replikation, 374
Proto-Onkogen, 369 Repolarisation, 152
Protoporphyrin IX, 210 Residualmethode, 99
Psellismus mercurialis, 238 Resistenzkurve
pT50 , 12 osmotische der Erythrozyten,
Punktmutation, 369, 376, 378 138
Pylorospasmus, 437 Resorcylsäurelacton, RAL, 340
Pyrethrin I, 300 Resorption, 408
Pyrethrine, 299 Respirationstrakt, 26
Pyrethrinsäure, 300 mittlerer, 32, 350
Pyrethroide, 294, 299 oberer, 31, 349
Konfiguration, 301 unterer, 350
Pyrethrolon, 300, 301 Restsehschärfe, 436
482 Index

Retikulum Sauerstoffspezies, reaktive, 255,


endoplasmatisches, 48, 64, 65, 389, 392
67, 74 Saxitoxin, 154
glattes endoplasmatisches, 48 Schleimhaut, 22, 261
Rettungsleitstellen, 429 Schnüffeln, 211, 277, 279, 357
rezeptive Substanz, 105 Schockbehandlung, 432
Rezeptor, 46, 57, 103, 104, 105, 108, Schwefel, 294, 316
111 -dioxid, 29, 350
Rezeptor-Charakterisierung -Paraffin, 347
indirekte, 111 -säure, 92
Rezeptor-Substrat-Wechselwirkung, -wasserstoff, 29, 318, 347, 362,
110 363
Rhodanese, 360 Schweinfurter Grün, 248
Ricin, 346 Schwermetall-Chelat-Komplex, 202
Risiko, 348 Schwermetalle, 87, 94, 129, 258
Roborans, 248, 255 Anionen, 257
Rodentizide, 239, 248, 294, 321 Schwester-Chromatid-Austausch,
ROS, 392 187
Roxarsone, 250, 250 Scillirosid, 294
Rubidium, 242 Secoisolariciresinol, 330
Rückdiffusion Sekrete, 93
Sekretion
passive, 90
tubuläre, 90
Rückstand(s), 323
Sekundärstruktur, 131
-menge, 325
Selen, 30, 257
hormonaktiv, 331
semipermeabel, 137
Sensibilisierung, 221, 226
S Serin, 296
S-Adenosylmethionin, 80, 252 Sesamex, 301
S-Lost, 383, 383 Seveso-Dioxin, 312
S9-Mix, 411, 415 Short-Term Test, 15, 407
Saatbeizung, 229, 231, 238, 317, 320 Silber, 201
Saccharomyces cerevisiae, 342 Sirup Ipecacuanha, 439
Safroxane, 301 Sojabohne, 338
Salvarsan, 181, 249, 250 Sokrates, 4
Salyrgan, 232 Solzustand, 262
Sammelrohr, 233 Somazell-Test, 418, 419
Sapa, 170 Sorption, 315, 324
SAR, 158 Specific-Locus-Test, 419
Sarin, 162, 163 Spiegelbelag, 230
Saturnismus, 208 Spinosyn A/D, 293
Sauerstoff, Toxizität, 351 Spülmaschinenreiniger, 437, 438
Index 483

Spurenelemente, 35, 184 TBT, 337


Spurenmetalle, 197 TBTO, 337
Stahl, 223, 242 TCDD, 311, 345
steady state, 95 TD50 , 11, 112, 119
Steroidhormone, 330 teratogene Wirkungen, 15
Stickoxid, 29 tert.-Butylether, 347
Stickstoffdioxid, 32, 350 Tertiärstruktur, 131
Stickstoffmonoxid, 393 Tetrabutylammoniumhexafluorphosphat,
Stickstoffoxid, 31 347
Stickstofftrifluorid, 355 Tetrabutylammoniumperchlorat,
Stoffaufnahme, 408 347
Stomatitis mercurialis, 238 Tetrachlorethen, 85, 280, 283, 286,
Strontium, 36, 195 286
Struktur-Aktivitäts-Wechselwirkung, Tetrachlorkohlenstoff, 61, 71, 280
111 Tetrachlormethan, 282, 282, 352
Styrol, 290, 291 Tetraethylblei, 170, 173, 175, 177,
Styrol-7,8-oxid, 291 208
Sublimat, 231 Tetraethylzinn, 317
Succimer, 256 Tetramethrin, 300, 301
Sulbentin, 319, 320 Tetramethylarsonium, 253
Sulfat, 80, 192 Tetranitromethan, 355
Sulfid-Oxidase, 363 Tetrodotoxin, 153
Sulfit-Oxidase, 363 Thallium, 30, 185, 194, 199, 239,
Sulfonamide, 85 294, 321
Sulfonylharnstoffe, 294 Thalliumsulfat, 135
Sulfotransferasen, 81 Thiabendazol, 320, 329
Sultone, 386, 386 Thiadiazine, 294, 319
Superoxid Thiocarbamate, 294
Anion, 67, 143, 309, 351, 352 Thiocyanat, 360
Dismutasen, 68, 149, 352 Thioester, 245
Radikal, 393 Thioharnstoffe, 294
Synapse, 116, 155, 297 Thioketene, 285
synaptischer Spalt, 154 Thiolgruppen, 251
Synergisten, 302 Thiomersal DAC, 232, 232
Syphilis, 231, 249 Thionin, 359
Systeminsektizide, 162 Thiram, 319
Thiurame, 318
T Thiyl-Radikal, 393
T50 , 199 Thomasschlacke, 242, 243
T-Syndrom, 300 Thrombin, 132, 134
Tabak, 78 Thymusatrophie, 317
Tabun, 162, 163 Titan, 188
484 Index

Todesursachen, 423 Trichlorethanol, 285


Toluidinblau, 359 Trichlorethen, 85, 280, 283–285
Toluol, 288, 290, 347 Trichlormethan, 282, 283
Tonalid, 330 Triethanolamin, 405
Totraum, 27, 29 Triethylentetramin (TETA), 228
Toxaphen, 333 Trifluormethansulfonsäure, 347
Toxikodynamik, 103 Trikresylphosphat, 298
toxikodynamische Phase, 17 Trimethylarsin, 252
toxikokinetische Phase, 17 Trinitrotoluol, 359
Toxikologie, 5, 6 Triphenylzinn, 318
Toxikologie der Biozide, 9 Triphosgen, 347
Toxikon, 3 TRK-Werte, 15
Toxizität Trypaflavin, 391
akute, 10 Tubulus, proximaler, distaler, 233
chronische, 10 Tumor-Suppressorgen, 369
potentielle, 12, 199 Tumorpromotoren, 370
subakute, 10
Toxizitätsäquivalent, 313 U
Transferrin, 57, 60, 183, 189 UDP-Glucuronyltransferasen, 81
Transferrinrezeptor, 189–191 Umgiftung, 235
Transformation, maligne, 370 Umwelttoxikologie, 7
Transkription, 373 Unithiol, 256
Translation, 373 Uran, 188, 257
Translokation, 369 Uranyl-Ion, 197
Transport Uranyl-Komplex, 197
Aminosäuren-, 140
atmosphärischer, 177 V
carriervermittelter, 48 V2A, 224
Eisen, 56, 188 Van-der-Waals-Kraft, 110, 113
Glucose-, 140, 197 Van´t-Hoffsche Gleichung, 137
Sauerstoff-, 43, 136 Vanadat, 150, 182, 192, 244
vesikulärer, 48 Anion, 143
Transporter, 105 Ion, 70, 141
elektrogener, 139 Vanadium, 30, 185, 186, 242, 257,
Transportform, 222, 234 392
Tremor mercurialis, 238 Vanadiumpentoxid, 242
Triazine, 294, 315 Vanadyl, 70, 244, 244
Tributylzinn (TBT), 337 Vaporthrin, 302
Tributylzinnoxid (TBTO), 318 Vehikelfunktion, 59
Trichloressigsäure, 285–287, 294, Verätzungen
313 Laugen-, 434
Trichlorethan, 290, 382 Säure-, 434
Index 485

Verbrennung, 311, 433 Weichmacher, 337


Verdauungstrakt, 23 Widmarksche Formel, 270
Verdoglobin, 356 Widy-Phänomen, 240
Vergiftung Wiederbelebung, 432
akute, 423 Wirksamkeit, 342
am Arbeitsplatz, 427 Wirkstoff-Rezeptor-Interaktion,
Aufnahmewege, 426 105
Informationszentren, 444 Wirkstoffe, 6
Prognose, 423 Wirkung
Schweregrad, 425 alkylierende, 280
Sterblichkeit, 423 halbmaximale, 119
Substanzgruppen, 427 muskarinische, 297
Verteilung(s), 324 nakotische, 261
-koeffizient, 53, 261, 270, 330 nikotinische, 297
-räume, 35 östrogene, 304
-volumen, relatives, 330 Wirkungs
-volumen, scheinbares, 101 -charakteristika, 6
Vesikel, 65 -größe, 7
Vesikelbildung, 43 -qualität, 7, 342
Vinylchlorid, 31, 70, 288, 396, 396 -schwellen, 14
Viologen, 308 -stärke, 7, 342
Vitamin K, 133, 321 -stärke, maximale, 119
-2,3-Epoxid, 322 -zeit, 7
Antagonisten, 321
X
Hydrochinon, 322
Xeno-
Menachinon, 322
Androgene, 337
Menadion, 322
Östrogene, 333, 334
Phyllochinon, 322
Thyroxine, 337
Vitamin D3 , 216
Xenobiotikum, 6
Vitellogenin, 343
Xenonfluorid, 347
Test, 344
Xyligen, 316
Vulkane, 229
Xylole, 288, 290, 291, 347
Vulkanisation, 319
Y
W Yeast Estrogen Assay, 342
Wachstumshormone, 294
Warfarin, 321, 322 Z
Wasserkanal, 49 Zahnheilkunde, 229
Wasserstoffbrückenbindung, 108, ZDEC, 319
108, 109, 113, 131 Zearalenon, 339
Wasserstoffperoxid, 148, 393 Zelio, 239
Wehrtoxikologie, 9 Zellmembran, 41
486 Index

Zelltransformation, Test auf, 417 317


Zellzyklus, 368, 369 Ziram, 319
Zement, 218, 240 Zitteraal, 114
Zigarettenrauchen, 31, 78 Zitterschrift, 238
Zineb, 319
ZNS, 152
Zink, 31, 35, 77, 183, 184, 196, 197,
201, 202, 205, 245, 318 Zotten, 23
Zinkchromat, 188 Zottenepithel, 23
Zinn, 210, 258 Zytogenetische Effekte, Test auf,
organische Verbindungen, 294, 413

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