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Du bist, was
du isst
Foto: Kathrin Koschitzki
Brot, Wurst und Bier – ist das nun typisch
deutsch oder ein Klischee? Was essen die
Deutschen wirklich? Und wie wichtig ist ihnen,
was auf den Tisch kommt? Von Andrea Lacher
MITTEL
Fotos: xxxx
18 ESSEN & TRINKEN – WIE SICH DIE DEUTSCHEN ERNÄHREN Deutsch perfekt 12 / 2018
E
strömen p„chten
s ist Sommer in Leipzig. Aber auch ältere, vom Konsumprinzip , hier: in Massen kommen , ≈ mieten
Mitten unter alten Obst- überforderte Menschen“, erzählt Pomm.
(“n M„ssen die [bo-K“ste, -n
bäumen im Stadtteil Rentner und Rentnerinnen, die sich noch , in großer Menge) , hier: Kiste mit saisona-
Leutzsch steht ein langer daran erinnern, wie sie zu Zeiten der len Lebensmitteln, z. B. von
zubereiten
einem Bauernhof, die man
Tisch mit weißen Decken. Deutschen Demokratischen Republik , ≈ kochen; herstellen
bestellen kann
Menschen strömen in den im Gemüseladen zwischen Kartoffeln der G„ng, ¿e
der Hofladen, ¿
Garten. Die Gästeliste ist schon seit Wo- und Karotten wählten, und die nun zu , hier: Teil von einem
, Laden eines Bauernhofs
Menü, z. B. Vorspeise
chen voll. In der offenen Küche bereiten jeder Zeit im Jahr Tomaten und Mangos mit eigenen Produkten
die Köche und Helfer den ersten von drei kaufen können. Für Pomm ist die urbane die G„stgeberin, -nen
das Konsumprinzip, -ien
, hier: Organisation, die
Gängen zu. Fast 130 Leute werden hier Landwirtschaft kein neues Phänomen. , gemeint ist hier: Prinzip
Gäste einlädt oder gerade
der Supermärkte, dass die
für je 39 Euro ein Menü zusammen es- Im Gegenteil. Verrückt findet er, dass man Gäste hat
Menschen so viel kaufen
sen. Der Wein wird in Gläser gefüllt, man im Supermarkt Äpfel aus Chile kauft. urban sollen wie möglich
kommt miteinander ins Gespräch. Die Rund um die Annalinde haben sich , städtisch
überf¶rdert
Gastgeberin dieses Abends ist Annalin- Restaurants und Läden von der Idee in- das L„ndwirtschaftspro- , hier: ≈ mit zu vielen
de, ein urbanes Landwirtschaftsprojekt spirieren lassen. In der Pizzeria Pekar, nur jekt, -e Emotionen konfrontiert,
, Projekt mit Agrarwirt- weil so viel angeboten wird
mit einer Gärtnerei. Aus dem kommen ein paar Kilometer von der Stadtgärtnerei schaft
belegen m“t …
an diesem Abend auch die Zutaten für entfernt, wird die Pizza mit dem Gemüse , hier: … legen auf
die Gärtnerei, -en
das Gartendinner. der Annalinde belegt. Die Gastronomen , Firma, die z. B. Gemüse
verz“chten auf
Drei Monate später steht Sebastian des Restaurants verzichten auf Zusatz- und Blumen produziert
, hier: freiwillig nicht
Pomm neben grünen Tomaten und ei- stoffe und erklären, woher die Zutaten die Zutat, -en nehmen
nem Berg von Basilikum. Es ist Herbst ge- kommen. „Da hat sich eine kleine Szene , Lebensmittel, das zur
der Zusatzstoff, -e
Herstellung einer Speise
worden. Erntezeit. „Die letzten Tomaten entwickelt“, sagt Pomm. Eine Szene zwi- , hier: Substanz, die
nötig ist
eigentlich nicht nötig ist
der Saison müssen noch reif werden“, sagt schen Discountern und Fast-Food-Res-
der Basilikum
Pomm. Der Geoökologe kam taurants. „Für uns ist das keine die Szene, -n
, Pflanze, deren Blätter
, hier: hier: Gruppe mit
2007 zum Studium nach Leip- Essen ist ein Utopie. Wir wollen vorleben, man als Gewürz verwendet
einem speziellen Lebensstil
zig und 2011 als Bundesfreiwil- Spiegel der was möglich ist.“ die ]rntezeit, -en oder Hobby
liger zu Annalinde. Heute ist Möglich ist zurzeit vieles. , Zeit, in der man z. B. Obst
Identität. Aber oder Gemüse sammelt, das
s“ch entw“ckeln
er einer von vier Angestellten. wenn wir sind, Ein Zeitreisender aus dem , hier: ≈ werden; da sein
man gepflanzt hat
Annalinde will eine Alternative was wir essen, Jahr 1995 würde sich beim Be- vorleben
der/die B¢ndesfreiwil-
zur konventionellen Landwirt- wer sind wir such eines Supermarkts wahr- lige, -n
, hier: ein positives
dann? Beispiel für andere sein
schaft, zu Supermärkten und scheinlich darüber wundern, , Person, die für bestimm-
te Zeit freiwillig in sozialen laktosefrei
Discountern sein. Mit einem was er alles in den Regalen
Institutionen arbeitet , ohne laktose
Garten, in dem jeder willkommen ist, der findet: vegane Wurst, laktosefreie Milch,
gærtnern bio
in der Stadt gärtnern möchte und einer glutenfreies Bier, grüne Smoothies, Su- , hier: im Garten arbeiten , kurz für: biologisch =
Gärtnerei. „Natürlich stehe ich auch ideell shi und natürlich Bio-Produkte. Über das hier: ökologisch hergestellt
stehen h“nter
hinter diesem Projekt“, sagt der 34-Jähri- Land fahren Slow-Food-Trucks, und das , hier: unterstützen; scheinen
ge. Gerade erst hat er eine Schulklasse Fernsehen zeigt stundenlang Kochsen- dafür sein , hier: wirken
durch die Stadtgärtnerei geführt. dungen. Es scheint, dass die Deutschen – ide¡ll verœffentlichen
Fast 150 Jahre lang wuchsen dort Obst anders als das Klischee es sagt – nicht nur , hier: persönlich , publizieren
und Gemüse für die Leipziger, bis die essen, um satt zu werden. das Gewæchshaus, ¿er nach den aktu¡llen Zahlen
, ≈ Glashaus, in dem z. B. , die aktuellen Zahlen
Gärtnerfamilie Toelpel aufhörte und die Jedes Jahr veröffentlicht das Bundes-
Früchte besser wachsen sagen, dass …
Gewächshäuser verfielen. Eine Tank- ministerium für Ernährung und Land- können
der Verbraucher, -
stelle sollte gebaut werden. „Es wäre die wirtschaft einen Ernährungsreport. Nach verf„llen , Person, die Waren kauft
Vierte in dieser Gegend gewesen“, erzählt den aktuellen Zahlen ist 92 Prozent der , hier: kaputtgehen und benutzt
Pomm. 2013 konnte Annalinde das rund Deutschen gesundes Essen wichtig. 72 die Gegend, -en bereit sein
5500 Quadratmeter große Gelände pach- Prozent sagen, dass sie täglich Obst und , hier: Umgebung in der , etwas tun wollen
Nähe
ten. Nun wachsen mitten in der Stadt Gemüse essen. Aber jeder Dritte isst
Foto: Stockfood/Michael Wissing
mehr als 100 verschiedene Gemüse- und auch jeden Tag Fleisch und Wurst. Neun das Gelænde, -
, hier: Areal/Zone/Stück
Obstsorten. Die Produkte werden über von zehn Verbrauchern erklären, für Bio- Land mit genauen Grenzen
eine Abo-Kiste verkauft. An sechs Tagen Fleisch mehr Geld zahlen zu wollen. Aber
in der Woche ist der Hofladen geöffnet. nur rund jeder Zweite ist bereit, für ein Ki-
„Da kommen viele junge Leute, die unser logramm Fleisch bis zu fünf Euro mehr
Projekt aus den sozialen Medien kennen. zu bezahlen.
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20 ESSEN & TRINKEN – WIE SICH DIE DEUTSCHEN ERNÄHREN Deutsch perfekt 12 / 2018
ring-Unternehmen Compass Group wer- eine Mahlzeit, die man alleine isst. Die Firma, in dem Angestellte verb„nnen
günstig essen können , hier: nicht mehr
tete 2016 rund 70 Millionen Bestellungen Slow-Food-Bewegung orientiert sich da-
das Schn“tzel, - verwenden
von Kantinengästen aus: Auf Platz eins ran: bewusster Genuss mit Lebensmit-
, hier: dünnes, gebratenes vermeiden
das Schnitzel, auf Platz zwei Currywurst teln aus der Region. Stück Fleisch, das man , hier: nicht benutzen
mit Pommes frites, auf Platz drei Spaghet- „Fast alle meine Lebensmittel bekom- vorher in Ei und sehr kleine
Brotstückchen gelegt hat der Fr“schkäse, -
ti Bolognese, auf Platz vier Burger und auf me ich heute bei meinem Bäcker im Ort. , ≈ weiche weiße Sub-
Platz fünf Würstchen mit Kartoffelbrei. Er hat für mich sein Sortiment erwei- der Kart¶ffelbrei stanz aus Milch
, weiche Mischung aus
Die Liste ist kulinarisch nicht beson- tert“, erzählt Nadine Schubert. Einen gekochten Kartoffeln und über N„cht
ders spektakulär. „In Deutschland hat Discounter hat die Mutter zum letzten Milch , hier: so schnell, dass es
nur eine Nacht dauert
man immer schon, anders als in Frank- Mal vor fünf Jahren besucht. Mit ihrem gew“nnen
reich, einfach gegessen“, sagt Klotter. Buch Besser leben ohne Plastik hat sie einen , hier: bekommen
„Aber über das Essen gewinnt man eine Bestseller geschrieben. „Ich kann Plastik das Refugium, Refugien
soziale, kulturelle und politische Identi- nicht komplett aus unserem Leben ver- , hier: ≈ Ort; Teil des
Lebens
tät. Für den einen sind das Tomaten vom bannen. Dann hätten wir kein Licht, kein
Bio-Bauern, für den anderen veganes Es- Auto, kein Telefon. Und meine Kinder
sen oder ein Burger mit Pommes frites. hätten kein Lego und Playmobil“, sagt die
Das Essen ist eins der letzten Refugien 37-Jährige. „Aber ich will Wegwerfplastik
Foto: Stockfood/Michael Wissing
der Freiheit.“ Das musste auch die Partei vermeiden.“ Angefangen hat sie in der
Die Grünen lernen, die mit der Idee eines Küche: Milch und Joghurt nur noch im
fleischlosen Tags pro Woche keinen Er- Glas. Bis heute hat sie in keinem Laden
folg hatte. einen Frischkäse im Glas gefunden. „Also
Und trotzdem sind die Menschen in mache ich mir meinen eigenen Frischkä-
ihrer Entscheidung, was sie essen, schon se. Geht ganz einfach über Nacht.“
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eine konventionelle Gurke aus Franken Auto aus als für die eigene Ernährung. Fr„nken das B¢ndesverdienst-
, Region in Nordbayern kreuz, -e
als eine Bio-Gurke in Plastik“, sagt sie. Für Früher sagte man: Es wird gegessen, , ≈ Medaille, die man
Wurst und Käse bringt sie eigene Dosen um satt zu werden. Und: Es wird geges- einen Vortrag h„lten
bekommt, wenn man etwas
, eine Rede halten; vor
mit. „Das hat bei mir immer funktioniert. sen, nicht gesprochen.“ Und heute? Der Besonderes für Deutsch-
Publikum erzählen
land gemacht hat
Es ist ein schönes Gefühl, so einzukaufen: 56-Jährige erzählt von deutschen Klassi-
der Privathaushalt, -e
Ich produziere fast keinen Müll und un- kern wie Schweinebraten. Vom Fisch aus (das Bes¶ndere
, alle Personen, die zusam-
, Spezielle)
terstütze lokale Firmen, damit Familien dem Norden, von Gemüse und Früchten men in einer Wohnung oder
einem Haus leben die Sp“tzenküche
in der Region leben können“, erzählt sie. aus Süddeutschland. Vom Interesse der , sehr gute / die beste
Inzwischen hält Schubert in Süd- Deutschen an Kochshows und an Koch- die Studie, -n
Küche
, systematische Unter-
deutschland auch Vorträge über ihr Le- büchern. suchung die Hochkultur, -en
ben ohne Plastik. „Die Leute freuen sich, Nach den Zahlen des Ernährungsre- , hier: ≈ Kunst
die Ch“ps Pl.
dass wir eine ganz normale Familie sind.“ ports kochen drei Viertel der Deutschen , hier: dünne Stücke aus weiterentwickeln
Moralisieren will sie nicht. „Mir macht ein sehr gern. Neun von zehn wäre Ernäh- Brot, die in Fett gebraten , hier: ≈ noch verbessern
werden
Leben ohne Plastik einfach mehr Spaß.“ rungsunterricht in der Schule genauso das Kulturgut, ¿er
Bei Familie Schubert kommt auch kein wichtig wie Mathematik, Deutsch oder den K¶pf sch•tteln , Objekt, das kulturellen
, hier: durch eine Geste Wert hat
Essen mehr in die Mülltonne. Im Gegen- Englisch. Wie also sieht die Zukunft der Nein sagen
(der Wert, -e
satz zu vielen anderen Privathaushalten. deutschen Esskultur aus? Vielleicht ist es
die |ntoleranz gegenüber , ≈ Wichtigkeit)
Zwischen sechs und sieben Millionen das Schnitzel in Bio-Qualität. Die Wurst , ≈ gesundheitliche
subventionieren
Tonnen Lebensmittel, so eine Studie der mit selbst gemachtem Ketchup und der Probleme, die man durch …
, finanziell unterstützen
bekommt
Universität Stuttgart aus dem Jahr 2012, Kartoffelbrei aus Kartoffeln der Stadt-
schætzen
landen jedes Jahr im Müll, ungefähr 85 Ki- gärtnerei. Es wäre ein Anfang. In Leipzig , hier: wissen, dass etwas
logramm pro Kopf. „Aus altem Brot ma- wird nun alles für das letzte Gartendinner gut und wichtig ist
che ich Chips“, erzählt Schubert. „Ohne des Jahres vorbereitet. Die Gästeliste ist
Plastik ist unser Essen frischer und bun- schon fast wieder voll.
ter geworden. Keine Konserven, keine
Fertiggerichte mehr.“
Bei dem Wort Fertiggericht schüttelt
Matthias Mangold den Kopf. „Ich habe
eine Intoleranz gegenüber Geschmacks-
verstärkern“, erzählt der Autor des Koch-
buches Deutsche Küche neu entdeckt!. In
Venningen, einem kleinen Weinort in
Rheinland-Pfalz, veranstaltet Mangold
Kochkurse und Weinseminare. „Viel-
leicht“, sagt er, „ist die deutsche Küche
nicht spektakulär. Aber sie ist ehrlich und
regional.“ In diesem Jahr hat sein Kol-
lege Christian Bau als erster deutscher
Küchenchef das Bundesverdienstkreuz
bekommen. Rund eine Viertelmillion
Menschen haben es seit 1951 bekom-
men. Bau ist der Erste, der diesen Preis
für seine Kochkunst bekommt. Spitzen-
küche ist Hochkultur, erklärte er der Süd-
Foto: Stockfood/Michael Wissing