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Das Buch

Labyrinthisch ist die Phantasie des Dichters Jorge Luis Borges,


labyrinthisch ist auch die Welt seiner Erzählungen. A u f ver­
schlungenen Pfaden führt Borges den Leser zu seltsamen und
höchst ungewöhnlichen Ereignissen. E r kennt sich in allen
Zeiten, in allen Ländern und Kulturen aus - ein moderner
poeta doctus, der hier sein Zauberspiel der Magie vorführt.
Kühn entwirft Borges philosophische Systeme, er erfindet Bü­
cher, Sprachen, Völker und Wissenschaften. Immer aber gerät
er an einen Punkt, wo der rationale Ablauf der Geschichte jäh
durchbrochen wird: die scheinbar festgefügte Welt öffnet sich
dem Unbegreiflichen, Unberechenbaren. Betroffen entdeckt
der Leser, daß sich die Grenzen des Wahrnehmbaren ver­
schieben, daß es verschiedene Bewußtseinsgrade gibt zwischen
Erkenntnis, Wissen, Ahnung, Traum und Tod.
Borges ist für Deutschland eine der großen literarischen Ent­
deckungen der Nachkriegszeit.
Jorge Luis Borges:
Labyrinthe
Erzählungen

Deutscher
Taschenbuch
Verlag
Von Jorge Luis Borges
ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:
Borges und Ich (sr 69)

1. Auflage Juli 1962


2. Auflage Januar 1969: 21. bis 30. Tausend
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. K G ,
München
Lizenzausgabe des Carl Hanser Verlages, München
Die Erzählungen »Das geheime Wunder«, »Das unerbittliche
Gedächtnis«, »Die Narbe«, »Das Thema vom Verräter und dem
Helden« und »Der Süden« wurden von Liselotte Reger, die
übrigen Erzählungen von Karl August Horst übersetzt.
Ausstattung: Celestino Piatti
Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei,
Nördlingen
Printed in Germany
Inhalt

Die beiden Könige und die beiden Labyrinthe 7


Die Wartezeit 9
Der Mann auf der Schwelle 14
Das geheime Wunder 21
Der Garten der Pfade, die sich verzweigen 29
Das unerbittliche Gedächtnis 42
Die Narbe 51
Deutsches Requiem $8
Das Aleph 66
Die Inschrift des Gottes 84
Die Lotterie in Babylon 90
Die Bibliothek von Babel 98
Drei Fassungen des Judas 108
Der andere Tod 115
Das Thema vom Verräter und dem Helden 123
Emma Zunz 128
Das Ende 135
Der Süden 139
Der Tote 148
Averroes auf der Suche 154
Nachwort 164
Die beiden Könige und die beiden Labyrinthe

Von glaubwürdigen Menschen wird erzählt (doch Allah


weiß mehr), daß es in den frühesten Tagen einen König der
Inseln von Babylon gab, der seine Baumeister und Magier
um sich versammelte und ihnen auftrug, ein so verzwicktes
und fein ausgesponnenes Labyrinth zu bauen, daß die klüg­
sten Männer nicht wagen sollten hineinzugehen und die hin­
eingehen würden, sich verirren sollten. Dieses Werk war ein
Ärgernis, denn die Verwirrung und das Wunder sind Taten
Gottes, nicht aber der Menschen. Wie nun die Zeit verging,
kam an seinen H of ein König der Araber, und der König
von Babylon (um den Gast ob seiner Einfalt zu verhöhnen)
ließ ihn in das Labyrinth hineingehen, wo er erschreckt und
verwirrt bis zum sinkenden Abend umherschweifte. Dann
erflehte er den Beistand Gottes und fand die Türe. Von sei­
nen Lippen fiel keine Klage, doch sagte er zu dem König von
Babylon, er hätte in Arabien ein noch besseres Labyrinth, und
wenn Gottes Wille geschehe, wolle er ihn eines Tages damit
bekannt machen. Dann kehrte er nach Arabien zurück, sam­
melte seine Hauptleute und Gemeindeobersten und verwü­
stete die Ländereien Babylons unter einem derart günstigen
Stern, daß er ihre Festungen schleifte, ihre Leute aufrieb und
den König selber gefangennahm. E r schnallte ihn auf ein
schnelles Kamel und entführte ihn in die Wüste. Sie ritten
drei Tage, da sprach er zu ihm: »O König der Zeit und der
Beständigkeit, du Inbegriff des Jahrhunderts! In Babylon woll­
test du mich in einem Labyrinth aus Bronze verderben, mit
vielen Treppen, Türen und Mauern; jetzt hat es dem Allmäch­
tigen gefallen, daß ich dir meines zeige, wo keine Treppen
zu ersteigen, keine Türen aufzustoßen und keine ermüdenden

7
Gänge zu durchwandern sind und wo keine Mauern dir den
Weg verlegen.«
Darauf band er ihn von seinen Fesseln los und verließ ihn
mitten in der Wüste, wo er an Hunger und Durst starb. Ruhm
sei bei Ihm, der nicht stirbt.
Die Wartezeit

Die Droschke setzte ihn bei Nummer viertausendundvier


dieser Straße im Nordwesten ab. Es war noch nicht neun Uhr
morgens; der Mann nahm befriedigt von den verschmutzten
Platanen Kenntnis, dem viereckigen Stück Erde um den Fuß
jeder einzelnen, von den anspruchslosen Häusern mit kleinem
Balkon, von der Apotheke nebenan, von den abgeblaßten Rau­
tenschildern der Färberei und Eisenhandlung. Die breite fen­
sterlose Wand eines Krankenhauses versperrte die andere Stra­
ßenseite; ein Stück weiter flammte die Sonne auf ein paar
Treibhäusern. Der Mann dachte, alle diese Dinge (die jetzt be­
liebig und zufällig durcheinander standen wie Dinge, die man
in Träumen sieht) würden mit der Zeit, wenn es Gott gefiel,
unwandelbar, notwendig und vertraut sein. A u f der Schau­
fensterscheibe der Apotheke las man in aufgesetzten Emaille­
buchstaben: Breslauer; die Juden verdrängten die Italiener,
die ihrerseits die Kreolen verdrängt hatten. Besser so: dem
Mann war es lieber, nicht mit Leuten seines Blutes Umgang
zu haben.
Der Kutscher half ihm, den Koffer herunterzunehmen; eine
Frau, fahrig und müde aussehend, öffnete schließlich die Türe.
Vom Bock herab reichte ihm der Kutscher eine der Münzen
zurück, einen uruguayischen Zwanziger, den er seit jener Nacht
im Hotel von Melo in der Tasche trug. Der Mann gab ihm vier­
zig Centavos und hatte dabei das Gefühl: »Ich bin verpflichtet,
so zu handeln, daß alle mich vergessen. Ich habe zwei Fehler
gemacht: ich habe die Münze eines anderen Landes hingegeben
und habe merken lassen, daß mich dieser Irrtum kümmert.«
Unter Vorantritt der Frau durchschritt er den Hausflur und
überquerte den ersten Hof. Das Zimmer, das man ihm reser-

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viert hatte, ging zum Glück auf den zweiten. Das Bett bestand
aus Eisen, das der kunstsinnige Handwerker in phantastische
Kurven nach der Art von Zweigen und Ranken gebogen hatte;
es gab außerdem einen hohen Kleiderschrank aus Tannenholz,
einen Nachttisch, ein Brett mit Büchern dicht überm Boden,
zwei ungleiche Stühle und ein Waschgestell mit Schüssel und
Kanne, Seifenbehälter und einer Karaffe aus trübem Glas.
Eine Landkarte der Provinz Buenos Aires und ein Kruzifix
schmückten die Wände; die Tapete war hellrot und prangte
mit großen radschlagenden Pfauen in eintöniger Wiederholung.
Die einzige Türe ging auf den Hof. Die Anordnung der
Stühle mußte geändert werden, damit der Koffer Platz fand.
Alles war dem Bewohner des Zimmers recht; als die Frau ihn
fragte, wie er heiße, sagte er Villari, nicht um eine versteckte
Herausforderung anzubringen, nicht um eine Demütigung
wettzumachen, die er in Wahrheit nicht empfand, sondern weil
dieser Nama>ihn heimsuchte, weil es ihm unmöglich war, an
einen anderen zu denken. Bestimmt verfiel er nicht in den
literarischen Irrtum zu meinen, daß es schlau sei, den Namen
des Feindes anzunehmen.
Im Anfang verließ Herr Villari nicht das Haus; als ein paar
Wochen verflossen waren, ging er bei Dunkelwerden ein wenig
aus. Eines Abends betrat er das Kino drei Straßenecken weiter.
E r traute sich nie aus der letzten Reihe heraus, immer erhob
er sich ein wenig vor Ende der Vorstellung. E r sah tragische
Geschichten von Gangstern; sicher waren sie stümperhaft,
sicher kamen in ihnen auch Bilder vor, wie es sie in seinem
früheren Leben gegeben hatte; Villari fielen sie nicht auf, weil
ihm der Gedanke an ein Zusammentreffen von Kunst und
Wirklichkeit fernlag. Gelehrig mühte er sich, an dem Zeug
Gefallen zu finden; er wollte hinter die Absicht kommen, war­
um man dergleichen zeigte. Im Unterschied zu Leuten, die Ro­
mane gelesen haben, hatte er von sich nie das Bild einer künst­
lerischen Figur.
Nie bekam er einen Brief, ja nicht einmal eine Offerte.
Doch las er mit unbestimmter Hoffnung eine der Spalten in
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der Tageszeitung. Am Abend schob er einen der beiden Stühle
vor die Türe und trank gewissenhaft seinen Mate, die Augen
auf das Schlinggewächs an der Brandmauer des nächststehen­
den Hauses gerichtet. Jahre der Einsamkeit hatten ihn gelehrt,
daß die Tage in der Erinnerung einen gleichförmigen Anschein
gewinnen, daß es aber keinen Tag gibt, sei es auch im Kran­
kenhaus oder im Gefängnis, der nicht Überraschungen zeitigt,
der nicht bei Licht besehen ein Netz aus winzigen Überra­
schungen ist. In anderen Haftzeiten hatte er der Versuchung
nachgegeben, die Tage und Stunden zu zählen, aber diese Haft
hier war besonderer Art, weil sie keinen Schlußtag hatte - es
sei denn, die Zeitung brachte eines Morgens die Nachricht vom
Tode Alejandro Villaris. Möglich war auch, daß Villari bereits
gestorben war, dann war dieses Leben ein Traum. Die M ög­
lichkeit beunruhigte ihn, weil er nicht herausfand, ob sie E r­
leichterung oder Unheil bedeutete; er redete sich ein, sie habe
keinen Sinn und verscheuchte sie. In weit zurückliegenden
Tagen - weit nicht so sehr am Ablauf der Zeit gemessen als
an zwei oder drei unwiderruflichen Tatsachen, hatte er nach
vielen Dingen verlangt, mit unbedenklicher Liebe; dieser mäch­
tige Wille hatte die Männer zu Haß, eine Frau zur Liebe be­
wegt; jetzt wollte er nichts einzelnes mehr; er wollte nur noch
andauern, nicht abschließen. Der Duft von Gras, der Geruch
von schwarzem Tabak, der wandernde Schattenstrich, der den
H of überkroch, waren hinreichende Reizmittel.
Im Hause gab es einen Wolfshund, der schon alt war. Vil­
lari freundete sich mit ihm an. E r redete mit ihm auf Spanisch,
auf Italienisch, und in den wenigen Worten, die ihm vom
ländlichen Dialekt seiner Kindheit verblieben waren. Villari
versuchte, rein in der Gegenwart zu leben, ohne Erinnerungen,
ohne Vorausgedanken; die ersten waren nicht so wichtig wie
die zweiten. Dunkel meinte er zu wissen, daß die Vergangen­
heit der Stoff ist, aus dem die Zeit gemacht wird, weshalb
diese auch sogleich zu Vergangenheit wird. Seine Erschöpfung
hatte manchmal das Gesicht des Glücks; in solchen Augen­
blicken war er nicht viel komplizierter als der Hund.
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Eines Nachts wachte er bestürzt und zitternd von einem
zuckenden Schmerz in seiner Mundhöhle auf. Dieses schauder­
hafte Wunder vollzog sich nach ein paar Minuten abermals und
noch einmal gegen Morgen. Villari ließ am nächsten Tag eine
Droschke kommen, die ihn im Wartezimmer eines Arztes im
Stadtviertel Once absetzte. Hier zog man ihm einen Backen­
zahn. Während es geschah, war er nicht weniger feig und nicht
gelassener als andere Leute.
An einem weiteren Abend, als er vom Kino heimging,
spürte er, wie ihn plötzlich jemand anrempelte. Voll Zorn,
Empörung und heimlicher Erleichterung drehte er sich nach
dem Unverschämten um. E r schleuderte ihm ein gemeines
Schimpfwort entgegen; der andere, völlig verdutzt, stammelte
eine Entschuldigung. E r war hochgewachsen, ein dunkel­
haariger junger Mann, in Gesellschaft einer deutsch aussehen­
den Frau. Villari sagte sich in dieser Nacht immer wieder vor,
daß er die beiden nicht kenne. Und doch ließ er vier oder fünf
Tage vergehen, ehe er wieder die Straße betrat.
Unter den Büchern im Gestell war eine »Divina Commedia«
mit dem alten Kommentar von Andreoli. Weniger aus Neu­
gier als aus einer Art von Pflichtgefühl ging Villari an die
Lektüre dieses Hauptwerkes heran; vor jedem Essen las er
einen Gesang und darauf streng in der Ordnung die Anmer­
kungen. Die Höllenstrafen dünkten ihm weder unwahrschein­
lich noch übermäßig und er kam nicht auf den Gedanken, daß
Dante ihn zum letzten Höllenkreis verdammt hätte, wo Ugoli-
nos Zähne ohne Ende den Nacken Ruggieris benagen.
Die Pfauen des Tapetenmusters schienen eigens dazu be­
stimmt, hartnäckige Alpträume zu unterhalten, doch träumte
Herr Villari kein einziges Mal von einem monströsen Triumph­
bogen aus ineinander verstrickten lebendigen Vögeln. Wenn
es auf den Morgen zuging, träumte er einen Traum, der dem
Inhalt nach gleich, den Umständen nach veränderlich war. Zwei
Männer und Villari betraten mit Revolvern sein Zimmer oder
überfielen ihn, wenn er vom Kino zurückging oder waren alle
drei zusammen der Unbekannte, der ihn angerempelt hatte,
oder erwarteten ihn trübe im H of und schienen ihn nicht zu
kennen. Wenn der Traum zu Ende war, griff er nach dem
Revolver in der Schublade des Nachttischs dicht neben seinem
Bett (und tatsächlich befand sich in dieser Schublade ein Re­
volver) und schoß ihn auf die Männer ab. Der Knall der Waffe
weckte ihn auf, aber immer war es nur ein Traum, und in
einem anderen Traum wiederholte sich der Überfall, und in
einem anderen Traum mußte er sie wiederum töten.
An einem trüben Morgen im Monat Juli wachte er von der
Anwesenheit unbekannter Leute auf (nicht vom Aufgehen der
Türe, als sie hereingekommen waren). Groß standen sie in der
Dämmerung des Zimmers, sonderbar vereinfacht durch die
Dämmerung (in seinen Angstträumen waren sie ihm immer
deutlicher erschienen), wachsam, reglos und geduldig, mit ge­
senkten Augen, wie gekrümmt von der Last ihrer Waffen.
Alejandro Villari und ein Unbekannter hatten ihn am Ende
eingeholt. Mit einem Zeichen bat er sie zu warten und drehte
sich gegen die Wand um, wie wenn er von neuem einschlafen
wollte. Tat er es, um in seinen Mördern Mitleid zu erwecken
oder weil es weniger hart ist, ein schreckliches Ereignis hinzu­
nehmen als es sich endlos auszudenken und darauf zu warten
oder - und dies dünkt mich am wahrscheinlichsten - damit
die Mörder nur ein Traum seien, wie sie es am selben Ort und
zur selben Stunde schon so oft gewesen waren?
In dieser Beschwörung war er begriffen, als der abgegebene
Schuß ihn auslöschte.
Der Mann auf der Schwelle

Bioy Casares brachte aus London einen seltsam geformten


Dolch mit: die Klinge war dreieckig, der Griff wie eine römi­
sche II gebildet; unser Freund Christopher Dewey vom British
Council meinte, derartige Waffen seien in Hindostán allge­
mein gebräuchlich. Diese Feststellung ermunterte ihn zu der
weiteren Bemerkung, daß er in diesem Land zwischen den
beiden Kriegen Dienst getan habe. (»Ultra Aurorem et Gangen«,
sagte er, wie ich mich erinnere, auf Lateinisch, wobei er sich in
einem Vers von Juvenal irrte.) Von den Geschichten, die er
mir in jener Nacht erzählte, erlaube ich mir, die folgende
wiederzugeben. Ich werde mich streng an den Wortlaut hal­
ten: möge Allah mich vor der Versuchung bewahren, be­
schreibende Einzelzüge anzubringen oder mit Kiplingschen
Einschaltungen den exotischen Charakter des Berichts zu
überladen; zumal dieser einen Geschmack von Alter und
Schlichtheit hat, um den es schade wäre, etwa den von Tau­
sendundeiner Nacht.

A u f den genauen geographischen Schauplatz der Ereignisse,


von denen ich erzählen will, kommt sehr wenig an. Außerdem:
was würde in Buenos Aires aus der Genauigkeit von Namens­
angaben wie Amritsar oder Udh? Es mag genügen, wenn ich
sage, daß in jenen Jahren in einer Moslemstadt Unruhen aus­
brachen und daß die Zentralregierung einen starken Mann
entsandte, der Ordnung schaffen sollte. Dieser Mann war
Schotte, er entstammte einem berühmten Krieger-Clan und
hatte ein Erbe von Gewalttätigkeit im Blut. Nur ein einziges
Mal habe ich ihn mit Augen gesehen, doch werde ich nicht
sein tiefschwarzes Haar vergessen, die vorspringenden Bak-
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kenknochen, die gierige Nase und den Mund, die breiten
Schultern und den derben Knochenbau eines Wikingers. David
Alexander Glencairn soll er heute in meiner Geschichte heißen;
die beiden Namen passen, weil Könige sie trugen, die mit
eisernem Szepter regierten. David Alexander Glencairn (ich
muß mich erst gewöhnen, ihn so zu nennen) war, vermute
ich, ein gefürchteter Mann; die bloße Nachricht von seinem
Eintreffen genügte, um die Stadt zu befrieden. Das hinderte
jedoch nicht, daß er ein paar energische Maßnahmen verfügte.
Ein paar Jahre vergingen. Die Stadt und der Distrikt lebten in
Frieden; Siks und Muselmanen hatten ihre alte Zwietracht
begraben. Doch auf einmal verschwand Glencairn. Natürlich
fehlte es nicht an Gerüchten, die sagten, man hätte ihn ein­
gesperrt oder getötet.
Soweit erfuhr ich die Sache durch meinen Chef. Denn die
Zensur war streng, und die Tageszeitungen besprachen nicht,
ja erwähnten, soviel ich weiß, nicht einmal das Verschwinden
Glencairns. Ein geflügeltes Wort sagt, daß Indien größer ist
als die Welt; Glencairn, mochte er auch in der Stadt, wohin
der Namenszug unter einem Dekret ihn gewiesen hatte, all­
mächtig sein, war in dem Räderwerk der Verwaltung des Indi­
schen Reiches doch nur eine Zahl. Die Nachforschungen der
Ortspolizei blieben ganz und gar erfolglos; mein Chef war der
Meinung, daß ein einzelner weniger Befürchtungen erwecken
und mehr Glück haben könnte. Drei oder vier Tage später
(mit den Terminen geht man in Indien großzügig um) durch­
streifte ich ohne allzuviel Hoffnung die Straßen der undurch­
sichtigen Stadt, die einen Mann beiseitegeschafft hatte.
Fast unmittelbar empfand ich die unbegreifbare Anwesen­
heit einer Verschwörung, die Glencairns Schicksal im Dunkel
halten sollte. Es gibt in dieser Stadt keine Seele (dachte ich
wohl), die nicht von dem Geheimnis weiß und geschworen hat,
es zu bewahren. Die meisten, wenn ich sie ausfragte, bekannten
sich zu grenzenloser Unwissenheit; sie wußten nicht, wer
Glencairn war, hatten ihn nie gesehen, nie von ihm sprechen
hören. Andere wiederum hatten ihn genau vor einer Viertel-
stunde mit Herrn Soundso im Gespräch erkannt, sie brachten
mich sogar zu dem Haus, in das die beiden hineingegangen
waren und in dem niemand etwas von ihnen wußte, es sei denn,
sie hätten es eben gerade verlassen. Einem von diesen Lügnern
setzte ich die Faust ins Gesicht. Die Zeugen billigten meinen
Zornausbruch und verlegten sich auf neue Lügen. Ich glaubte
ihnen nicht, traute mich aber auch nicht, sie ungehört zu lassen.
Eines Tages überreichten sie mir einen Umschlag mit einem
Papierstreifen darin, auf dem ein paar Zeichen standen . . .
Die Sonne war untergegangen, als ich hinkam. Es war ein
schlichtes Eingeborenenviertel; das Haus wTar niedrig, von der
Straße aus sah ich eine Flucht ungepflasterter Höfe und im
Hintergrund eine Helligkeit. Im letzten Hof wurde irgendein
Moslem-Fest gefeiert; ein Blinder trat ein mit einer Laute aus
rötlichem Holz.
Zu meinen Füßen saß, reglos hingekauert, wie ein toter Ge­
genstand ein uralter Mann. Ich muß sagen, wie er aussah, weil
er ein wesentlicher Bestandteil meiner Geschichte ist. Die vielen
Jahre hatten ihn verringert und abgeschliffen wie fließendes
Wasser einen Stein oder wie die Geschlechter der Menschen
einen Spruch. Herabhängende Lumpenfetzen bedeckten ihn,
und der Turban, der sich um sein Haupt wand, war auch nur
ein Fetzen. In der Dämmerung hob er mir ein dunkles Gesicht
und einen sehr weißen Bart entgegen. Ich sprach ihn ohne Um­
schweife auf David Alexander Glencairn an, da ich schon
jede Hoffnung aufgegeben hatte. E r verstand mich nicht (viel­
leicht hörte er auch gar nicht zu), und ich mußte erklären, er
sei ein Richter und ich beauftragt, ihn zu suchen. Ich empfand,
wie ich diese Worte sagte, wie lächerlich es sei, diesen alten
Mann zu befragen, für den die Gegenwart kaum noch ein unbe­
stimmtes Geräusch war. Nachrichten vom Aufstand oder von
A kbar könnte dieser Mann mir geben (dachte ich), aber nicht
von Glencairn. Was er zu mir sagte, bestärkte mich in meiner
Vermutung.
»Ein Richter!« äußerte er mit leiser Verwunderung, »ein
Richter, der verlorengegangen ist, und man sucht ihn. Der
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Vorfall geschah in meiner Kindheit. Die genaue Zeit weiß ich
nicht mehr, aber Nikal Seyn (Nicolson) hatte noch nicht vor
der Mauer von Delhi den Tod gefunden. Die Zeit, da er von
hinnen ging, haftet im Gedächtnis; gewiß bin ich imstande,
wieder heraufzuholen, was damals geschah. Gott hatte in sei­
nem Zorn zugelassen, daß die Leute schlecht wurden; voll
Lästerung war ihr Mund und voll Lug und Trug. Dennoch
waren nicht alle verkehrten Sinnes, und als verlautete, die
Königin wolle einen Mann herschicken, der in diesem Lande
das Gesetz Englands verfügen sollte, waren die minder Schlech­
ten dessen froh, weil sie meinten, das Gesetz sei besser als
die Unordnung. Der Christ traf ein, und es dauerte nicht lange,
da preßte er das Volk und verfuhr ungesetzlich, ließ scheuß­
liche Verbrechen hingehen und verkaufte Urteile um Geld.
Wir gaben ihm anfangs keine Schuld: die englische Gerechtig­
keit, die er verwaltete, kannte niemand, und die anscheinen­
den Verstöße des neuen Richters entsprachen vielleicht gülti­
gen und tiefgeheimen Gründen. A lles mag in seinem Buch
seine Rechtfertigung haben, dachten wir, aber seine Verwandt­
schaft mit allen schlechten Richtern der Welt wurde offen­
kundig, und zum Schluß mußten wir einsehen, daß er nichts
weiter war als ein Übeltäter. E r schwang sich zum Tyrannen
auf, und das arme Volk (um sich an der Hoffnung, die es
einmal in ihn gesetzt hatte, zu rächen) erwog, ob es ihn ein­
sperren oder vor Gericht stellen sollte. Mit Reden ist nichts
getan; es galt, den Plan ins Werk zu setzen. Im Grunde glaub­
te keiner (abgesehen vielleicht von sehr einfältigen oder sehr
jungen Leuten), daß man dieses verwegene Vorhaben zum
Ziel führen könnte. Aber Tausende von Siks und Moslems
hielten ihr Wort und setzten eines Tages ungläubig in die
Tat um, was keiner von ihnen für möglich gehalten hätte. Sie
sperrten den Richter ein und bestimmten ihm als Gefängnis
ein Landhaus in einem abgelegenen Viertel. Daraufhin spra­
chen sie mit den Untertanen, denen er Unrecht zugefügt hatte,
oder (im einen oder anderen Falle) mit den Waisen und Wit­
wen, denn das Schwert des Henkers war in jenen Jahren nicht
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zur Ruhe gekommen. Zum Schluß - das war vielleicht das
Schwierigste - suchten und ernannten sie einen Richter, der
über den Richter urteilen sollte.«
Hier unterbrachen ihn ein paar Frauen, die in das Haus
traten.
Dann fuhr er langsam fort:
»Es geht die Rede, daß es keine Generation gibt, in der nicht
vier gerechte Männer sind, auf denen das Weltganze insge­
heim ruht und die es vor dem Herrn rechtfertigen; einer dieser
Männer hätte als Richter vollauf gereicht. Aber wo sie auf­
finden, da sie verloren und namenlos durch die Welt ziehen
und einander beim Sehen nicht kennen und nicht einmal selber
um das hohe Geheimnis, das sie erfüllen, wissen. Jemand
sprach damals die Ansicht aus, wenn das Schicksal uns die
weisen Männer versage, müsse man die Vernunftlosen auf­
suchen. Diese Auffassung setzte sich durch. Korangelehrte,
Rechtsdoktoren, Siks, die den Namen von Löwen führen und
nur einen Gott anbeten, Hindus, die eine Vielzahl von Göttern
verehren, Mönche von Mahavira, die lehren, daß die Welt
wie ein Mensch mit gespreizten Beinen gestaltet ist, Feuer­
anbeter und Negerjuden bildeten das Gerichtstribunal, aber der
entscheidende Spruch wurde dem Belieben eines Verrückten
anheimgestellt.«
Hier unterbrachen ihn ein paar Leute, die von dem Fest
weggingen.
»Einem Verrückten«, wiederholte er, »auf daß Gottes
Weisheit durch seinen Mund rede und die menschliche Über­
heblichkeit beschäme. Sein Name ist in Vergessenheit geraten,
oder man hat ihn nie gewußt, aber er ging nackt durch die
Straßen dieser Stadt oder mit Lumpen bekleidet und zählte seine
Finger mit dem Daumen oder schnitt den Bäumen Fratzen.«
Mein gesunder Verstand sträubte sich. Ich sagte, einem Ver­
rückten den Prozeß in die Hand zu geben, hieße soviel wie den
Prozeß entkräften.
»Der Angeklagte erklärte sich mit dem Richter einverstan­
den«, war die Antwort, »vielleicht dachte er, daß angesichts
der Gefahr, der sich die Verschwörer aussetzen würden, wenn
sie ihn freiließen, nur von einem Verrückten kein Todesurteil
zu erhoffen sei. Ich habe sagen hören, daß er lachte, als ihm
der Richter genannt wurde. Viele Tage und Nächte währte
der Prozeß, da die Zahl der Zeugen hoch angestiegen war.«
E r verstummte. Eine Sorge machte ihm zu schaffen. Um et­
was zu sagen, fragte ich, wieviele Tage.
»Mindestens neunzehn«, erwiderte er. Von neuem unter­
brachen ihn Leute, die von dem Fest weggingen. Wein war
den Moslems verboten, aber die Gesichter und die Stimmen
waren wie die von Betrunkenen. Einer rief ihm im Vorbeigehen
etwas zu.
»Neunzehn Tage, genau -«, stellte er richtig. »Der ungläu­
bige Hund vernahm das Urteil, und das Messer letzte sich an
seiner Kehle.«
E r sagte es mit fröhlicher Wildheit. Mit veränderter Stimme
brachte er seine Geschichte zu Ende:
»Er starb ohnfe Furcht; irgendeine Tugend wohnt auch in
den Niedrigsten.«
»Wo geschah, was du erzählt hast?« fragte ich ihn. »In
einem Landhaus?«
Zum erstenmal sah er mir in die Augen. Dann erklärte er
langsam, indem er die Worte abw og:
»Ich sagte, daß sie ihm ein Landhaus als Gefängnis zu­
wiesen, nicht, daß sie dort das Urteil über ihn sprachen. In
dieser Stadt urteilten sie ihn ab, in einem Haus wie alle, wie
dieses Haus hier. Ein Haus kann sich von einem anderen nicht
unterscheiden; wichtig ist allein zu wissen, ob es in der Hölle
oder im Himmel gebaut ist.«
Ich fragte ihn nach dem Schicksal der Verschwörer.
»Das weiß ich nicht«, sagte er gelassen zu mir, »diese Dinge
geschahen und gerieten schon vor vielen Jahren in Vergessen­
heit. Vielleicht haben die Menschen sie verdammt, nicht aber
Gott.«
Mit diesen Worten erhob er sich. Ich spürte, daß er mich mit
ihnen verabschiedete, und daß ich von diesem Augenblick an
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aufgehört hatte, für ihn dazusein. Eine dichte Schar von Män­
nern und Frauen sämtlicher Völkerschaften des Punjab brach
betend und singend über uns herein und hätte uns um ein
Haar weggefegt. Ich war bestürzt, daß aus so engen Höfen,
die kaum breiter waren als ein Hausgang, so viele Menschen
hervorströmen konnten. Andere ergossen sich aus den benach­
barten Häusern; sicher waren sie über die Zwischenmauern
gesprungen . . . Mit Fäusten und Flüchen schaffte ich mir freie
Bahn. Im letzten H of lief mir ein nackter Mann über den Weg,
bekränzt mit gelben Blumen, den alle küßten und streichelten.
E r trug in der Hand ein Schwert. Das Schwert war besudelt,
denn er hatte Glencairn den Tod gegeben, dessen verstümmel­
ten Leichnam ich in den hinteren Pferdeställen fand.
Das geheime Wunder

»Und Gott ließ ihn hundert Jahre lang sterben;


dann rief er ihn ins Leben zurück und sprach zu
ihm: >Wie lange bist du hier gewesen?< >Einen
Tag oder den Bruchteil einesTages <, antwortete er.«
Koran, 77, 261

Jaromir Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie »Die


Feinde«, einer »Ehrenrettung der Ewigkeit« und einer Unter­
suchung der indirekten jüdischen Quellen bei Jakob Böhme,
träumte in der Nacht des 14. März 1939 in einer Wohnung der
Zeltnergasse in Prag von einer großen Schachpartie. Sie wurde
nicht von zwei Personen, sondern von zwei berühmten Fami­
lien gespielt. Die Partie war schon vor vielen Jahrhunderten
begonnen worden; niemand wußte mehr den Einsatz, um den
gespielt wurde, aber man munkelte, er sei ungeheuer, ja viel­
leicht unermeßlich. Die Figuren und das Schachbrett standen in
einem geheimen Turm; Jaromir war (im Traum) der Erstge­
borene einer der feindlichen Familien. Die Uhren schlugen die
Stunde der unaufschiebbaren Partie. Der Träumer lief durch
die Sanddünen einer regnerischen Einöde und wußte sich weder
an die Figuren, noch an die Regeln des Schachspiels zu erin­
nern. An diesem Punkt erwachte er. Das Geräusch des Regens
und der fürchterlichen Uhren hörte auf. Ein rhythmischer, ein­
förmiger Lärm, von Kommandostimmen unterbrochen, kam
von der Zeltnergasse herauf. Es war früher Morgen; die Pan-
zer-Vorhut des Dritten Reiches rückte in Prag ein.
Am neunzehnten ging bei den Behörden eine Denunziation
ein; am gleichen Tage gegen Abend wurde Jaromir Hladik
verhaftet. Man brachte ihn in eine aseptisch saubere, weiß­
gekalkte Kaserne am anderen Ufer der Moldau. E r konnte keine
einzige Anschuldigung der Gestapo widerlegen: der Familien­
name seiner Mutter war Jaroslawski, er war jüdischen Blutes,
seine Untersuchung über Böhme war angejudet, es fehlte· nur
noch seine Unterschrift auf einer Liste von Proteststimmen
gegen den Anschluß. 1928 hatte er den »Sepher Yetzirah« für
den Verlag Hermann Barsdorf übersetzt; der überschwengliche
Katalog dieses Hauses hatte aus Geschäftsgründen den Namen
des Übersetzers übertrieben stark hervorgehoben. Diesen Kata­
log hatte Julius Rothe durchblättert, einer der Gestapochefs, in
dessen Händen Hladiks Schicksal lag. Es gibt keinen Menschen,
der außerhalb seines eigenen Spezialgebietes nicht leichtgläubig
wäre; zwei oder drei Adjektive in gotischer Schrift genügten,
um Julius Rothe von der Wichtigkeit Hladiks zu überzeugen, -
er befahl, ihn zum Tode zu verurteilen, »um die anderen ab­
zuschrecken«. Die Hinrichtung wurde auf den neunundzwan­
zigsten März, neun Uhr morgens, festgesetzt. Diese Verzöge­
rung (deren Bedeutung der Leser später einzuschätzen wissen
wird) war dem Wunsch der Behörden zu verdanken, ganz un­
persönlich und ohne Hast vorzugehen, wie die Pflanzen und
die Planeten.
Hladiks erste Empfindung war reine Angst. E r dachte, daß
Galgen oder Enthauptung ihn nicht so in Schrecken versetzt
haben würden, daß aber der Tod durch Erschießen unerträglich
sei. Vergeblich sagte er sich immer wieder, daß einfach die
ganz allgemeine Tatsache des Sterbens das Furchterregende sei,
nicht die konkreten Umstände. Unaufhörlich stellte er sich
diese Umstände vor: unsinnigerweise suchte er sämtliche Vari­
anten zu erschöpfen. Unzählige Male nahm er den ganzen Her­
gang vorweg, vom schlaflosen Morgengrauen bis zu der ge­
heimnisvollen Salve. Vor dem von Julius Rothe bestimmten
Tag war er schon Hunderte von Toden gestorben - in Höfen,
deren Formen und Ecken die Geometrie müde hetzten, nieder­
kartätscht von den verschiedensten Soldaten in wechselnder
Anzahl, die ihn manchmal aus der Ferne erledigten; andere
Male von ganz nahe. E r begegnete diesen eingebildeten Hin­
richtungen mit wahrhaftiger Angst (vielleicht mit wahrhaftigem
Mut); jedes dieser Trugbilder dauerte wenige Sekunden. Hatte
der Kreis sich geschlossen, so kehrte Jaromir unaufhörlich zu
den durchzitterten Vorabenden seines Todes zurück. Dann
überlegte er, daß die Wirklichkeit nicht mit dem Vorausgese­
henen übereinzustimmen pflegt; mit perverser Logik folgerte
22
er, man verhindere dadurch, daß man sich einen Umstand
genau vorstellt, daß er wirklich eintrifft. Dieser schwächlichen
magischen Vorstellung treu, erfand er, damit sie nicht geschä­
hen, fürchterliche Einzelheiten; selbstverständlich begann er
schließlich zu fürchten, diese Einzelheiten möchten prophetisch
sein. Im Elend der Nächte suchte er, auf irgendeine Weise in
der flüchtigen Substanz der Zeit Halt zu finden. E r wußte, daß
diese auf die Morgendämmerung des Neunundzwanzigsten zu­
stürzte; laut zu sich selbst sprechend überlegte er: Jetzt lebe
ich in der Nacht vom Zweiundzwanzigsten; solange diese Nacht
dauert (und noch weitere sechs Nächte), bin ich unverwundbar,
unsterblich. E r stellte sich vor, seine Traumnächte seien tiefe,
dunkle Brunnenschächte, in die er sich versenken könne. Manch­
mal ersehnte er mit Ungeduld die endgültige Salve, die ihn
wohl oder übel von seiner vergeblichen Bemühung, sich etwas
einzubilden, befreien würde. Am Achtundzwanzigsten, als der
letzte Sonnenuntergang von den hohen Eisengittern zurück­
strahlte, lenkte ihn das Bild seines Dramas »Die Feinde« von
diesen widersinnigen Betrachtungen ab.
Hladik hatte die Vierzig überschritten. Abgesehen von eini­
gen Freundschaften und vielen Gewohnheiten machte die pro­
blematische Beschäftigung mit der Literatur sein Leben aus. Wie
alle Schriftsteller maß er die Fähigkeiten der anderen an dem,
was sie geschaffen hatten - erwartete aber, daß die anderen ihn
nach dem beurteilten, was er von fern erträumte oder plante.
Alle Bücher, die er in Druck gegeben hatte, erweckten in ihm
ein Gefühl unbedingter Reue. Bei seinen Untersuchungen der
Werke Böhmes, Abenesras oder Fludds war vorwiegend der
bloße Fleiß am Werk gewesen, bei seiner Übersetzung des
»Sepher Yetzirah« die Nachlässigkeit, die Mühsal und die bloße
Mutmaßung. Für weniger mangelhaft hielt er vielleicht seine
»Rechtfertigung der Ewigkeit«: der erste Band schildert die ver­
schiedenen Ewigkeiten, die die Menschen ersonnen haben, vom
unbeweglichen Sein des Parmenides an bis zur veränderlichen
Vergangenheit Hintons; der zweite verneint (mit Francis
Bradley), daß alle Tatsachen im Universum eine zeitliche Rei­
23
henfolge bilden. E r folgert, daß die Anzahl der möglichen E r­
fahrungen des Menschen nicht unendlich ist und daß eine
einzige »Wiederholung« genügt, um zu beweisen, daß die Zeit
ein Trug ist . . . Unglücklicherweise sind die Argumente, die
diesen Trug beweisen, nicht minder trügerisch; Hladik pflegte
sie mit einer gewissen verächtlichen Bestürzung durchzugehen.
Auch hatte er eine Reihe expressionistischer Gedichte verfaßt;
diese erschienen, zur Beschämung des Dichters, in einer Antho­
logie von 1924, und es gab keine spätere Anthologie, die sie
nicht übernommen hätte. Von dieser ganzen zweideutigen und
kümmerlichen Vergangenheit wollte Hladik sich durch sein
Versdrama »Die Feinde« befreien. (Hladik pries den Vers, weil
er verhindert, daß die Zuschauer die Irrealität vergessen, die
Bedingung der Kunst ist.)
Dieses Drama wahrte die Einheit der Zeit, des Ortes und der
Handlung; es spielte in Hradcany, in der Bibliothek des Barons
von Roemerstadt, an einem der letzten Abende des neunzehn­
ten Jahrhunderts. In der ersten Szene des ersten Aktes besucht
ein Unbekannter Roemerstadt. (Eine Uhr schlägt sieben, das
Feuer der scheidenden Sonne läßt die Gläser aufglühen, der
Wind bringt die deutlich erkennbaren Klänge einer leiden­
schaftlichen ungarischen Musik.) Diesem Besuch folgen andere;
Roemerstadt kennt die Personen, die ihn belästigen, nicht, hat
aber den unbehaglichen Eindruck, sie schon einmal gesehen zu
haben, vielleicht im Traum. Alle sagen ihm übertriebene Schmei­
cheleien, aber es ist klar, erst für die Zuschauer, dann für den
Baron selbst, daß es geheime Feinde sind, verschworen, ihn zu
verderben. Roemerstadt gelingt es, ihre vielfachen Intrigen in
Schach zu halten oder zu vereiteln; im Gespräch spielen sie auf
seine Verlobte, Julia von Weidenau, an und auf einen gewissen
Jaroslav Kubin, der sie früher einmal mit seiner Liebe belästigt
hat. Inzwischen hat dieser Kubin den Verstand verloren und
hält sich selbst für Roemerstadt. Die Gefahren mehren sich;
am Ende des zweiten Aktes sieht Roemerstadt sich gezwungen,
einen der Verschwörer zu töten. Der dritte Akt, der letzte, be­
ginnt. Allmählich häufen sich Geschehnisse, die ohne Zusam­
24
menhang bleiben: Schauspieler, die scheinbar schon aus der
Handlung ausgeschieden waren, treten wieder auf; für einen
Augenblick kehrt der von Roemerstadt Getötete zurück. Je ­
mand macht darauf aufmerksam, daß es nicht dunkel geworden
ist: die Uhr zeigt auf sieben, in den hohen Gläsern spiegelt sich
von Westen her die Sonne, die Luft bringt eine leidenschaftliche
ungarische Musik. Es erscheint der erste Gesprächspartner und
wiederholt die Worte, die er in der ersten Szene des ersten
Aktes gesprochen hat. Roemerstadt antwortet ihm ohne E r­
staunen; der Zuschauer begreift nun, daß Roemerstadt der
jämmerliche Jaroslav Kubin ist. Das Drama hat sich gar nicht
wirklich ereignet: es ist die kreisende Wahnvorstellung, die
Kubin unaufhörlich lebt und immer wieder lebt.
Nie hatte Hladik sich gefragt, ob diese Tragikomödie der
Irrungen wertlos oder vortrefflich, genau gefügt oder zufällig
sei. In der Handlung, die ich skizziert habe, sah er den geeig­
netsten Einfall, um seine Mängel zu verbergen und seine
Glücksmöglichkeiten wahrzunehmen, die Gelegenheit, (auf
symbolische Art) das Wesentliche seines Lebens zurückzuge­
winnen. E r hatte den ersten Akt schon beendet, auch einige
Szenen des dritten; der metrische Charakter des Werkes er­
laubte ihm, es dauernd zu überprüfen, die Hexameter zu ver­
bessern, ohne das Manuskript vor sich zu haben. E r dachte
daran, daß noch* zwei Akte fehlten und daß er sehr bald ster­
ben werde. Im Dunkeln redete er zu Gott. »Wenn ich über­
haupt existiere, wenn ich nicht eine Deiner Wiederholungen,
einer Deiner Druckfehler bin, so existiere ich als Autor von >Die
Feinde <. Um dieses Drama zu vollenden, das mich und Dich
rechtfertigen kann, verlange ich noch ein Jahr. Gewähre mir
diese Tage, Du, dessen die Jahrhunderte sind und die Zeit.«
Es war die letzte Nacht, die furchtbarste, aber zehn Minuten
danach spülte der Schlaf ihn hinweg wie ein dunkles Wasser.
Gegen Morgen träumte er, er hätte sich in einem Seitenschiff
der Bibliothek des Clementinum verborgen. Ein Bibliothekar
mit schwarzer Brille fragte ihn: »Was suchen Sie?« Hladik ant­
wortete: »Ich suche Gott.« Der Bibliothekar sagte: »Gott ist in
25
einem der Buchstaben auf einer der Seiten eines der vierhun­
derttausend Bände des Clementinums. Meine Eltern und die
Eltern meiner Eltern haben diesen Buchstaben gesucht; ich bin
über dem Suchen danach blind geworden.« E r nahm die Brille
ab, und Hladik sah die Augen, sie waren tot. Ein Leser kam
herein, um einen Atlas zurückzugeben. »Dieser Atlas taugt
nichts«, sagte er und gab ihn Hladik. Der öffnete ihn aufs
Geratewohl. E r sah eine Landkarte von Indien, ihn schwindelte.
Mit plötzlicher Gewißheit wies er auf einen der winzig kleinen
Buchstaben. Eine allgegenwärtige Stimme sprach zu ihm : »Die
Zeit für deine Arbeit ist dir gewährt.« Hier erwachte Hladik.
E r erinnerte sich daran, daß die Träume der Menschen Gott
angehören und daß Maimonides geschrieben hat, die Worte
eines Traumes seien göttlicher Art, wenn sie klar und deutlich
vernehmbar sind und wenn man nicht unterscheiden kann, wer
sie sprach. E r kleidete sich an; zwei Soldaten betraten die Zelle
und befahlen ihm, ihnen zu folgen.
Jenseits der Tür hatte Hladik sich ein Labyrinth von Gale­
rien, Treppen und Seitengängen vorgestellt. Die Wirklichkeit
war weniger reich: sie stiegen über eine einzige Eisentreppe in
einen Hinterhof hinab. Mehrere Soldaten - einige in nicht zu­
geknöpften Uniformröcken - untersuchten ein Motorrad und
diskutierten darüber. Der Sergeant sah auf die Uhr: es war
acht Uhr vierundvierzig. Es mußte gewartet werden, bis es
neun schlug. Hladik setzte sich, mehr gleichgültig als unglück­
lich, auf einen Holzstoß. E r bemerkte, daß die Augen der Sol­
daten den seinen auswichen. Um ihm das Warten zu erleich­
tern, gab der Sergeant ihm eine Zigarette. Hladik rauchte nicht;
er nahm sie aus Höflichkeit oder Unterwürfigkeit. Als er sie
anzündete, merkte er, daß seine Hände zitterten. Der Tag be­
wölkte sich; die Soldaten sprachen leise, als sei er schon tot.
Vergeblich versuchte er, sich an die Frau zu erinnern, deren
Symbol Julia von Weidenau war . . .
Das Pikett formierte sich, richtete sich aus. Hladik erwar­
tete, aufrecht gegen die Wand, die Salve. Jemand äußerte Be­
sorgnis, die Wand könne mit Blut bespritzt werden; man
26
befahl also dem Delinquenten, ein paar Schritte vorzutreten.
Absurderweise mußte Hladik an die langwierigen Vorberei­
tungen beim Fotografen denken. Ein schwerer Regentropfen
streifte Hladiks eine Schläfe und lief langsam seine Wange
hinunter; der Sergeant schrie den Befehl zum Feuern.
Das physische Universum blieb stehen.
Die Gewehre waren sämtlich* auf Hladik gerichtet, aber die
Männer, die ihn töten sollten, waren unbeweglich. Der Arm
des Sergeanten verewigte eine unvollendete Gebärde. A u f eine
Fliese des Hofes warf eine Fliege einen reglosen Schatten. Als
wäre es auf einem Bild, hatte der Wind zu wehen aufgehört.
Hladik versuchte einen Schrei, nur eine Silbe, die Drehung
einer Hand. E r begriff, daß er gelähmt war. Kein noch so
schwacher Laut erreichte ihn mehr aus der lahmgelegten Welt.
Er dachte: ich bin in der Hölle, ich bin tot. E r dachte: ich bin
verrückt. E r dachte: die Zeit ist stehengeblieben. Dann über­
legte er, daß in diesem Fall ja auch sein Denken mit stehen­
geblieben wäre. E r wollte die Probe machen: ohne die Lippen
zu bewegen, sagte er sich die geheimnisvolle vierte Ekloge des
Vergil auf. E r stellte sich vor, daß die schon ferngerückten Sol­
daten sein Angstgefühl teilen müßten; es drängte ihn, sich mit
ihnen zu verständigen. Es setzte ihn in Erstaunen, daß er
keinerlei Ermüdung empfand, nicht einmal ein Schwindelgefühl
durch das lange unbewegliche Stehen. Nach Ablauf einer unbe­
stimmten Zeit schlief er ein. Als er erwachte, war die Welt noch
immer unbeweglich und taub. A u f seiner Wange dauerte der
Wassertropfen an, im H of der Schatten der Biene; der Rauch
der Zigarette, die er weggeworfen hatte, kam nicht dazu, sich
ganz zu verflüchtigen. Es verging ein weiterer »Tag«, bevor
Hladik begriff.
Ein ganzes Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu
beenden: ein Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott voll­
brachte für ihn ein geheimes Wunder: das Blei der Deutschen
würde ihn zur bestimmten Stunde töten, aber in seinem Geist
würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl zum Feuern und
der Ausführung des Befehls. Aus der Bestürzung geriet er in
27
fassungsloses Staunen, aus dem Staunen in Ergebung, aus der
Ergebung in jähe Dankbarkeit.
Es stand ihm kein Dokument zur Verfügung, nur sein Ge­
dächtnis. Die Zeit, die er brauchte, um jeden Hexameter, den
er hinzufügte, zu lernen, legte ihm eine glückliche Strenge auf,
von der diejenigen nichts ahnen, die provisorisch unklare Ab­
sätze aufs Papier werfen und wieder vergessen. E r arbeitete
nicht für die Zukunft, nicht einmal für Gott, über dessen V or­
lieben auf literarischem Gebiet er wenig wußte. Peinlich genau,
unbeweglich, geheim wob er sein hohes unsichtbares Labyrinth
in die Zeit. Zweimal arbeitete er den dritten Akt um. E r tilgte
das eine oder andere allzu deutliche Symbol: die immer wieder­
kehrenden Glockenschläge, die Musik. Kein Umstand ver­
mochte ihn zu stören. E r ließ fort, kürzte, erweiterte; in einigen
Fällen kam er auf die erste Fassung zurück. E r begann schließ­
lich, den Hof, die Kaserne zu lieben; eines der Gesichter, die
er sich gegenüber sah, veränderte seine Auffassung vom Cha­
rakter Roemerstadts. E r entdeckte, daß die scharfen Mißklänge,
die Flaubert so erschreckten, bloßem optischen Aberglauben
entstammen: Schwächen und Beschwerden des geschriebenen
Wortes, nicht des klingenden Wortes . . . E r beendete sein
Drama: nur die Frage eines einzigen Beiwortes galt es noch zu
lösen. E r fand es; der Wassertropfen rollte über seine Wange.
E r stieß einen wilden Schrei aus, wandte sein Gesicht, die vier­
fache Salve warf ihn nieder.
Jaromir Hladik starb am neunundzwanzigsten März, mor­
gens um neun Uhr zwei Minuten.
Der Garten der Pfade, die sich verzweigen

Victoria Ocampo gewidmet

A u f Seite 22 der »History of the European War« von Liddell


Hart steht zu lesen, daß eine Offensive von 13 britischen D ivi­
sionen (mit Unterstützung von 1400 Artilleriegeschützen) ge­
gen die Linie Serre-Montauban auf den 24. Juli 1916 angesetzt
war, jedoch bis zum Morgen des 29. verschoben werden mußte.
Captain Liddell Hart vermerkt, daß schwere Regenfälle diesen
Aufschub veranlaßt hätten - also nichts von besonderer Be­
deutung. Die folgende, von Doktor Y u Tsun, Hochschullehrer
für Englisch an der Universität von Tsintao, diktierte, gelesene
und unterschriebene Erklärung wirft ein unvermutetes Licht
auf den Fall. Die ersten zwei Seiten fehlen.
. . . legte ich den Hörer auf. Im nächsten Augenblick erkannte
ich die Stimme, die auf deutsch geantwortet hatte. Es war die
Stimme von Captain Richard Madden. Wenn Madden sich in
Viktor Runebergs Wohnung befand, so hieß das, daß es mit
unseren Bemühungen und - aber das erschien mir ganz neben­
sächlich und mußte mir pflichtschuldigst so erscheinen - mit
unserem Leben vorbei war. Es hieß, daß sie Runeberg verhaf­
tet oder ermordet hatten1. Noch vor Sonnenuntergang des
gleichen Tages würde mir dasselbe widerfahren. Madden war
unbarmherzig. Besser: er mußte unbarmherzig sein. Als Ire in
englischem Auftrag, als ein Mann, den man der Lauheit, am
Ende gar des Verrats bezichtigte, wie sollte er nicht dankbar
diese wunderbare Gelegenheit begrüßen und ausnützen, die
auf die Entdeckung, die Gefangennahme und den Tod zweier
Agenten des Deutschen Kaiserreichs hinauslief? Ich ging in
1 Eine gehässige und überspannte Vermutung. D er preußische Spion H ans Rabener alias V iktor
Runeberg fiel den Überbringer des H aftbefehls, H auptmann Richard Madden, mit einer Schnell­
feuerpistole an. D ieser brachte ihm, in Notw ehr handelnd, Verwundungen bei, die zum T ode
führten. (Anm. des H erausg.)

29
mein Zimmer hinauf. Ohne vernünftige Absicht versperrte ich
die Türe mit dem Schlüssel und warf mich auf das schmale
Eisenbett. Hinter den Scheiben waren wie immer die Ziegel­
dächer und die dunstverhangene Sonne des Spätnachmittags.
Es erschien mir unglaubhaft, daß dieser Tag ohne Vorahnun­
gen und Vorzeichen unwiderruflich mein Todestag sein sollte.
Obwohl mein Vater tot war, obwohl ich im symmetrischen
Garten Hai Fengs ein Kind gewesen war, sollte nun auch ich
sterben? Dann bedachte ich, daß alles, was uns geschieht, uns
in diesem Augenblick geschieht, hier und jetzt; Jahrhunderte
um Jahrhunderte, und doch ist alles gegenwärtiges Geschehen.
Zahllose Menschen in der Luft, am Boden und auf See, und
doch gilt alles, was wirklich geschieht, mir allein. Der uner­
trägliche Gedanke an Maddens Pferdegesicht verdrängte diese
Spekulationen. Bei all meinem Haß und meiner panischen
Furcht (jetzt macht es mir nichts mehr aus, von Furcht zu
sprechen, jetzt, da ich Madden übertölpelt habe und auf den
Strang gefaßt bin) hegte ich den Gedanken, daß dieser unge­
stüme und sicher vom Glück begünstigte Krieger sich nicht
träumen ließ, daß ich im Besitz des Geheimnisses war: der
genauen Bezeichnung des Orts, an dem sich der neue britische
Artilleriepark befand. Ein Vogel streifte den grauen Himmel,
und ich machte blindlings aus ihm ein Flugzeug und aus dem
einen viele (am französischen Himmel), die ihre Bomben senk­
recht auf den Artilleriepark fallen ließen. Wenn doch mein
Mund, ehe ihn eine Salve zerriß, so laut den Namen schreien
könnte, daß sie ihn in Deutschland vernähmen . . . Um meine
leibliche Stimme war es armselig bestellt. Was sollte ich an­
fangen, daß sie ans Ohr des Chefs drang? Ans Ohr jenes
kranken und verhaßten Mannes, dem von Runeberg und mir
nichts weiter bekannt war, als daß wir uns in Staffordshire
aufhielten, und der in seinem kahlen Berliner Büro vergeblich
auf unsere Informationen wartete und unablässig in den Zei­
tungen nachsah . . . Ich sagte laut: Ich muß fliehen. Ich richtete
mich geräuschlos auf, überflüssigerweise um völlige Lautlosig­
keit bemüht, als würde ich schon von Madden belauert. Einer
30
jähen Regung folgend, vielleicht nur um mir vor Augen zu
führen, daß ich über keinerlei Hilfsmittel verfügte, durchsuchte
ich meine Taschen. Ich fand, was ich zu finden erwartete. Eine
amerikanische Uhr, die Nickelkette und die viereckige Münze,
den Schlüsselbund mit den verräterischen Schlüsseln zu Rune­
bergs Büro, die von jetzt an überflüssig waren, das Notizbuch,
einen Brief, den ich auf der Stelle zu vernichten beschloß (und
den ich nicht vernichtete), eine Krone, zwei Schillinge und ein
paar Pfennige, den Rot- und Blaustift, das Taschentuch, den
Revolver mit einer Patrone. Unwillkürlich packte ich ihn und
wog ihn in der Hand, um mir Mut zu machen. Der Gedanke,
daß ein Pistolenschuß sehr weit zu hören ist, streifte mein
Bewußtsein. Innerhalb von zehn Minuten war mein Plan ge­
reift. Im Telefonbuch fand ich den Namen der einzigen Per­
son, die die Nachricht weitergeben konnte; der Betreffende
wohnte in einer Vorstadt von Fenton, weniger als eine halbe
Stunde mit der Bahn entfernt.
Ich bin ein feiger Mensch. Jetzt kann ich es eingestehen, jetzt,
nachdem ich einen Plan durchgeführt habe, dem keiner den
verwegenen Charakter absprechen wird. Ich weiß, wie schreck­
lich es war, ihn ins Werk zu setzen. Ich tat es nicht für Deutsch­
land, nein. Was liegt mir an einem barbarischen Land, das mir
die Schmach aufgezwungen hat, Spion zu sein? Zudem kenne
ich einen Mann in England - einen unauffälligen Mann - , der
in meinen Augen nicht geringer wiegt als Goethe. Ich sprach
mit ihm nicht länger als eine Stunde, aber während dieser
Stunde war er für mich Goethe . . . Ich tat es, weil ich zu
wissen meinte, daß meinem Chef ein wenig bange war vor
Leuten meiner Rasse, vor den zahllosen Vorfahren, die in mir
Zusammenkommen. Ich wollte ihm beweisen, daß ein Gelber
seine Armeen zu retten vermöchte. Außerdem mußte ich vor
dem Captain fliehen. Seine einlaßbegehrende Stimme, seine
Hand konnten jeden Augenblick an meine Türe pochen. Ich zog
mich geräuschlos an, sagte mir im Spiegel Lebewohl, ging hin­
unter, spähte die stille Straße entlang und trat hinaus. Vom
Haus bis zum Bahnhof war es nicht weit; dennoch zog ich es
3*
vor, ein Taxi zu nehmen. Ich redete mir ein, so bestände weni­
ger Gefahr erkannt zu werden, in Wahrheit fühlte ich mich auf
der menschenleeren Straße aufs verwundbarste jedem Blick
ausgesetzt. Ich weiß noch, daß ich zu dem Chauffeur sagte, er
solle ein Stückchen vor dem Haupteingang anhalten. Absicht­
lich zögernd und fast mühsam stieg ich aus. Mein Ziel war
Ashgrove, doch löste ich ein Billett für eine weiter entfernte
Station. Der Zug fuhr binnen weniger Minuten ab, um acht
Uhr fünfzig. Ich beeilte mich; der nächste würde erst um neun
Uhr dreißig abgehen. A u f dem Bahnsteig befand sich so gut
wie niemand. Ich ging die Abteile entlang; ein paar Bauern
sind mir noch im Gedächtnis, eine Frau in Trauer, ein junger
Mann, der eifrig in den »Annalen« von Tacitus las, ein verwun­
deter und heimkehrfroher Soldat. Endlich setzte sich der Zug
in Bewegung. Ein Mann, den ich erkannte, lief umsonst ^is
zum Ende des Bahnsteigs nebenher. Es war Captain Richard
Madden. Verstört und zitternd drückte ich mich in die ent­
gegengesetzte Polsterecke, so weitab wie möglich von der ge­
fürchteten Scheibe.
Die vernichtende Angst wich einem fast schmählichen
Wonnegefühl. Ich sagte mir, der Zweikampf sei bereits im
Gange und ich könne den ersten Ausfall für mich buchen, da
ich, wenn auch nur für vierzig Minuten, wenn auch nur durch
einen glücklichen Zufall, den Angriff meines Gegners überlistet
hatte. Ich redete mir ein, dieser winzige Sieg sei ein Vorzeichen
des völligen Siegs. Ich redete mir ein, es sei kein so winziger
Sieg, da ich ohne diesen kostbaren Aufschub, den mir der Fahr­
plan bescherte, im Gefängnis oder schon tot wäre. Ich redete
mir (nicht minder spitzfindig) ein, mein feiges Wonnegefühl sei
der Beweis dafür, daß ich der Mann sei, das Abenteuer zum
glücklichen Ende zu führen. Aus dieser Schwäche zog ich Kräf­
te, die nicht mehr von mir wichen. Ich sehe voraus, daß sich der
Mensch zu immer grausameren Unternehmen bereitfinden wird;
nicht lange, und es wird nur noch Kämpfer und Räuber geben;
ihnen erteile ich den Rat: Wer ein schreckliches Unternehmen
antritty muß sich vorstelleny daß er es bereits vollbracht hat; er muß
32
sich eine Zukunft aufawingen, die so unwiderruflich ist wie die Ver­
gangenheit. So verfuhr ich, während meine Augen, die schon
einem Toten angehörten, in sich aufnahmen, wie der Tag, der
vielleicht letzte Tag, verdämmerte und wie die Nacht sich aus­
breitete. Der Zug rollte gemächlich zwischen Eschenbäumen
dahin. E r hielt an, fast auf freiem Feld. Niemand rief den Na­
men der Station aus. »Ashgrove?« fragte ich ein paar Jungen
auf dem Gang. »Ashgrove«, entgegneten sie. Ich stieg aus.
Eine Lampe erhellte den Bahnsteig, aber die Gesichter der
Jungen blieben in der Schattenzone. Einerfragte mich: »Wollen
Sie zu Doktor Stephen Albert?« Ohne die Antwort abzuwarten,
sagte ein anderer: »Sein Haus ist weitab von hier, aber Sie
können nicht fehlgehen, wenn Sie den Weg hier links ein-
schlagen und bei jeder Kreuzung links abbiegen.« Ich warf ihm
eine Münze (die letzte) zu, ging ein paar steinerne Stufen hin­
unter und machte mich auf den einsamen Weg. E r führte sachte
bergab. Es war ein Landweg, zu Häupten verwoben sich die
Zweige, der niedrige kreisrunde Mond schien mich zu begleiten.
Vorübergehend kam mir der Gedanke, Richard Madden habe
vielleicht mein verzweifeltes Vorhaben durchschaut. Gleich
darauf sah ich ein, daß das unmöglich war. Der Rat, immer nach
links abzubiegen, rief mir ins Gedächtnis, daß man so vorgehen
mußte, um den Innenhof gewisser Labyrinthe zu entdecken.
Ich verstehe mich ein wenig auf Labyrinthe; nicht umsonst bin
ich der Urenkel jenes Ts’ui Pen, der Gouverneur der Provinz
Yunnan war und der weltlichen Macht entsagte, um einen
Roman zu schreiben, in dem mehr Figuren Vorkommen sollten
als im Hung Lu Meng, und der ein Labyrinth bauen wollte, in
dem alle Menschen sich verirren sollten. Dreizehn Jahre widmete
er diesen unterschiedlich gearteten Bemühungen; doch er fiel
durch die Hand eines Ausländers, und sein Roman war ein ein­
ziger Unsinn und das Labyrinth nirgends zu finden. Unter den
Bäumen Englands grübelte ich über dieses verlorene Labyrinth:
ich sah es unangetastet und vollkommen auf dem verborgenen
Gipfel eines Berges liegen; ich sah es von Reisfeldern über­
schwemmt oder unter Wasser; in meiner Vorstellung war es un-

33
endlich, es bestand nicht aus achteckigen Beeten und ineinander
verschlungenen Pfaden, sondern aus Strömen, aus Provinzen
und Reichen . . . Ich dachte an ein Labyrinth aus Labyrinthen,
an ein kurvenförmig zunehmendes Labyrinth, das die Vergan­
genheit umfaßte und die Zukunft und das auch die Sterne
irgendwie mit einbezog. An diese Wahnbilder hingegeben,
vergaß ich mein gehetztes Schicksal. Für die Dauer einer un­
bestimmten Zeit empfand ich mich als ein abstraktes Wahr­
nehmungsorgan der Welt. Der webende Lebensatem des freien
Landes, der Mond, der letzte Abendschimmer taten auf mich
ihre Wirkung; dazu der sacht abfallende Weg, der jede Ermü­
dung ausschloß. Der Abend war traut, unendlich. Der Weg
sank ab und gabelte sich zwischen Wiesenflächen, die schon im
Unbestimmten lagen. Eine grelle fast silbenartig hervorgesto­
ßene Musik kam und ging je nach der Laune des Winkes, in
Laub und Ferne eingehüllt. Ich dachte: ein Mensch kann mit
Menschen verfeindet sein, mit anderen Interessen anderer Men­
schen, aber nicht mit einem Land; nicht mit Glühwürmchen,
WTorten, Gärten, Wasserläufen, Sonnenuntergängen. Unter
solchen Gedanken kam ich vor ein hohes schmiedeeisernes Tor.
Zwischen den Stäben hindurchsehend unterschied ich eine
Pappelallee und eine Art Pavillon. Mit einem Schlag fiel mir
zweierlei auf: etwas ganz Gewöhnliches und etwas fast Un­
glaubliches: die Musik kam aus dem Pavillon, es war chinesi­
sche Musik. Deshalb hatte ich sie unmittelbar in mich aufge-
nommen; ohne ihr nähere Beachtung zu schenken. Ich weiß
nicht mehr, ob eine Glocke da war oder eine Klingel oder ob
ich mich durch Rufen und Händeklatschen bemerkbar machte.
Die klirrende Musik dauerte an.
Doch näherte sich aus der Tiefe des inneren Hauses eine
Laterne, über die in Streifen die Stämme der Bäume glitten und
sie ab und an unsichtbar machten, eine Papierlaterne, die wie
eine Trommel gebildet war und die Farbe des Mondes hatte.
Der sie trug, war ein hochgewachsener Mann. Ich konnte sein
Gesicht nicht sehen, weil das Licht mich blendete. E r öffnete
das Tor und sagte gemessen in meiner Sprache: »Ich sehe: der
34
mitleidige Hsi P ’eng läßt es sich angelegen sein, meiner Ein­
samkeit abzuhelfen. Sie wollen sicher den Garten sehen.«
Ich erkannte den Namen eines unserer Konsuln und wieder­
holte verwirrt: »Den Garten?«
»Den Garten der Pfade, die sich verzweigen.«
Etwas regte sich in meinem Gedächtnis, und ich äußerte mit
unbegreiflicher Sicherheit: »D6n Garten meines Vorfahren
Ts’ui Pen.«
»Ihres Vorfahren? Ihres erlauchten Vorfahren? Treten Sie
ein!«
Der feuchte Pfad beschrieb Zickzacklinien wie die Pfade mei­
ner Kindheit. Wir kamen zu einer Bibliothek mit Büchern aus
dem Morgen- und Abendland. Ich erkannte, in gelbe Seide
gebunden, ein paar handschriftliche Folianten der Verlorenen
Enzyklopädie, die unter Leitung des Dritten Kaisers der E r­
leuchteten Dynastie gestanden hatte und nie zum Druck ge­
langt war. Die Grammophonplatte kreiste an der Seite eines
bronzenen Phönix. Auch erinnere ich mich einer hohen Vase
von der Gattung der rosafarbenen und einer anderen, um viele
Jahrhunderte älteren in jenem Azurblau, das unsere Künstler
den persischen Töpfern nachschufen . . .
Stephen Albert betrachtete mich lächelnd. E r war (wie bereits
erwähnt) sehr groß, hatte scharfe Gesichtszüge, graue Augen
und einen grauen Bart. E r hatte etwas von einem Priester, aber
auch von einem Seemann; im weiteren Verlauf erzählte er mir,
daß er Missionar in Tientsin gewesen sei, bevor er sich auf die
Sinologie verlegt habe. Wir nahmen Platz, ich auf einem brei­
ten niedrigen Diwan, er mit dem Fenster und einer großen kreis­
förmigen Uhr im Rücken. Ich berechnete, daß mein Verfolger
Richard Madden vor Ablauf einer Stunde nicht da sein würde.
Mein unerschütterlicher Entschluß konnte warten.
»Erstaunlich: das Schicksal von T s’ui Pen«, sagte Stephen
Albert. »Gouverneur der Provinz, aus der er stammte, als G e­
lehrter bewandert in Astronomie, Astrologie und der unermüd­
lichen Auslegung der kanonischen Schriften, Schachspieler, be­
rühmter Dichter und Kalligraph: und all das gab er auf, um
35
ein Buch und ein Labyrinth zu schaffen. E r leistete Verzicht auf
die Freuden der Unterdrückung, der Rechtsprechung, des viel-
zähligen Beischlafs, der Festmähler und auch der Bildung und
schloß sich auf dreizehn Jahre im Pavillon der Lauteren Ein­
samkeit ein. Als er starb, fanden seine Erben nichts weiter als
chaotische Manuskripte. Die Familie, wie Ihnen nicht unbe­
kannt sein dürfte, wollte sie dem Feuer überantworten, jedoch
sein Testamentsvollstrecker - ein taoistischer oder buddhisti­
scher Mönch - bestand auf der Veröffentlichung.«
»Uns, die wir aus dem Blute T s’ui Pens stammen«, erwiderte
ich, »war dieser Mönch von jeher verhaßt. Diese Veröffentli­
chung war unsinnig. Das Buch ist ein wirrer Haufen wider­
sprechender Entwürfe. Ich habe es einmal durchgesehen. Im
dritten Kapitel stirbt der Held, im vierten ist er wieder am
Leben. Und was das andere Vorhaben Ts’ui Pens angeh^ das
Labyrinth . . .«
»Hier ist das Labyrinth«, sagte er, indem er auf einen großen
lackierten Schreibtisch deutete.
»Ein Labyrinth aus Elfenbein«, rief ich, »ein Miniaturlaby­
rinth?«
»Ein Labyrinth aus Sinnbildern«, stellte er richtig. »Ein un­
sichtbares Labyrinth der Zeit. Mir, dem englischen Barbaren,
war es beschieden, dieses durchsichtige Mysterium zu entschlei­
ern. Nach über hundert Jahren sind die einzelnen Umstände
natürlich nicht mehr festzustellen, aber was vorfiel, läßt sich
unschwer erraten. T s’ui Pen wird einmal gesagt haben: Ich
%iehe mich ^urück, um ein Buch schreiben. Ein andermal: Ich
yiehe mich %urück> um ein Labyrinth %u entwerfen. In jedermanns
Vorstellung waren es zwei Werke. Niemand dachte, daß Buch
und Labyrinth ein einziger Gegenstand seien. Der Pavillon der
Lauteren Einsamkeit erhob sich inmitten eines Gartens, der
vielleicht verschlungen angelegt war. Aus diesem Umstand mö­
gen die Leute auf ein wirkliches Labyrinth geschlossen haben.
T s’ui Pen starb; in den ausgedehnten Ländereien, die sein eigen
waren, stieß niemand auf das Labyrinth; das Durcheinander
des Romans brachte mich auf den Gedanken, ob nicht er das
Labyrinth sei. Zwei Umstände lieferten mir die schlüssige
Lösung des Problems: einmal die sonderbare Legende, Ts’ui
Pen hätte es auf ein Labyrinth abgesehen gehabt, das im stren­
gen Sinne unendlich sein sollte. Zum anderen: ein Bruchstück
aus einem Brief, den ich entdeckte.«
Albert stand auf. Für ein paar Augenblicke wandte er mir
den Rücken zu. E r zog eine Schublade des goldenschwarzen
Schreibtischs auf. E r kam zurück mit einem ehemals karmesin-
farbenen, jetzt zu Rosa verblaßten Papier, das seidendünn und
kariert war. Ts’ui Pens R uf als Kalligraph bestand zu Recht.
Verständnislos, aber mit innerer Anteilnahme las ich die Worte,
die ein Mann von meinem Blut mit winzigen Pinselstrichen
hingemalt hatte: Ich hinterlasse den verschiedenerlei Zukünften (nicht
allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen. Stillschweigend
gab ich das Blatt zurück. Albert fuhr fort:
»Bevor ich diesen Brief ausgrub, hatte ich mich gefragt, wie
ein Buch beschaffen sein müßte, um unendlich zu sein. Ich kam
zu keinem anderen Schluß, als daß ein solcher Band zyklisch,
kreisförmig angelegt sein müßte. Ein Band, dessen letzte Seite
mit der ersten identisch sein müßte, was soviel heißt, daß man
ins Unendliche fortfahren könnte zu lesen. Ich dachte auch an
jene Nacht, die in der Mitte von Tausendundeine Nacht steht,
wo die Königin Scheherazade (wohl infolge einer magischen
Zerstreutheit des Abschreibers) sich anschickt, Wort für Wort
die Geschichte von Tausendundeiner Nacht zu erzählen und
somit Gefahr läuft, wieder bei der Nacht, in der sie sie erzählt,
anzukommen, und so immer fort. Ich stellte mir auch ein pla­
tonisches Werk vor, das als Erbstück vom Vater auf den Sohn
käme und dem jedes neue Individuum ein Kapitel hinzufügte
oder mit pietätvoller Sorgfalt die Seite der Eltern verbesserte.
Dergleichen Erwägungen verschafften mir Ablenkung; und
doch entsprach keine, auch nicht im entferntesten, den wider­
spruchsvollen Kapiteln von Ts’ui Pen. Mitten in dieser Rat­
losigkeit wurde mir von Oxford das handschriftliche Doku­
ment übermittelt, das Sie durchgelesen haben. Natürlich blieb
ich an dem Satz hängen: Ich hinterlasse den verschiedenerlei
37
Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich ver­
zweigen. Fast unter dem Lesen begriff ich: Der Garten der
Pfade, die sich verzweigen, war der chaotische Roman. Die
Wendung: verschiedenerlei Zukünften (nicht allen) brachte mich
auf das Bild der Verzweigung in der Zeit, nicht im Raum. Die
abermalige Gesamtlektüre des Werks bestätigte diese Theorie.
In allen erdichteten Werken entscheidet sich ein Mensch ange­
sichts verschiedener Möglichkeiten für eine und scheidet die
anderen aus; im Werk des schier unentwirrbaren T s’ui Pen
entscheidet er sich - gleichzeitig - für alle. E r schafft sich auf
diese Weise verschiedenerlei Zukünfte, verschiedenerlei Zeiten,
die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die
Widersprüche im Roman. Fang (sagen wir) hütet ein Geheim­
nis, ein Unbekannter klopft an seine Türe: Fang beschließt ihn
zu töten. Natürlich gibt es verschiedenerlei Lösungen. Fang
kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang^
töten; beide können davonkommen, beide können sterben usw.
Im Werk von Ts\ii Pen kommen sämtliche Lösungen vor;
jede einzelne ist der Ausgangspunkt neuer Verzweigungen.
Manchmal streben die Pfade dieses Labyrinths aufeinander zu;
etwa so : Sie kommen in mein Haus, aber in einer der möglichen
Vergangenheiten sind Sie mein Feind gewesen, in einer anderen
mein Freund. Wenn Sie sich mit meiner unverbesserlichen Aus­
sprache abfinden, wollen wir ein paar Seiten lesen.«
Im lebhaften Lichtkreis der Lampe war sein Gesicht unzwei­
felhaft das Gesicht eines alten Mannes, doch war zugleich etwas
Unbeugsames, ja Unsterbliches darin. E r las langsam und deut­
lich zwei unterschiedliche Fassungen ein und desselben erzäh­
lenden Kapitels. In der ersten zieht ein Heer durch ein ödes Ge­
birge in die Schlacht; der Schauder vor der Steinwüste und dem
Nachtdunkel läßt die Männer das Leben gering achten und
führt sie mit Leichtigkeit zum Sieg; in der zweiten Fassung
durchzieht das Heer ein Schloß, in dem ein Fest stattfindet;
die strahlende Schlacht dünkt sie eine Fortsetzung des Festes,
und sie erlangen mit Leichtigkeit den Sieg. Ich lauschte mit
geziemender Verehrung diesen alten Geschichten, die vielleicht
38
nicht so bewundernswert waren wie die Tatsache, daß sie ein
Mann meines Blutes ersonnen hatte und daß ein Mann aus
einem fernen Reich sie mir im Laufe eines verzweifelten Aben­
teuers auf einer Insel im Westen zurückerstattete. Ich erinnere
mich der Schlußworte, die sich in jeder Fassung wie ein heim­
liches Gebot wiederholten: So kämpften die Helden,gelassenen und
bewunderungswürdigen Herzens, mit heftigem Schwertstreich, gewillt
töten und %u sterben.
Von diesem Augenblick an spürte ich ringsum und in mei­
nem dumpfen Körper ein unsichtbares, ungreifbares Gewim­
mel. Nicht das Gewimmel der auseinander strebenden, gleich­
gerichteten und schließlich miteinander verschmelzenden Heere,
sondern eine weniger faßbare, tiefer sitzende Erregung, auf die
sie irgendwie vorausdeuteten. Stephen Albert fuhr fort:
»Ich glaube nicht, daß Ihr berühmter Vorfahr diese Varia­
tionen nur als ein müßiges Spiel betrieben hat. Ich halte nicht
für wahrscheinlich, daß er dreizehn Jahre seines Lebens der un­
endlichen Durchführung eines rhetorischen Experiments ge­
opfert hat. In seinem Land ist der Roman eine untergeordnete
Gattung; in jener Zeit war er eine verächtliche Gattung. Ts’ui
Pen war ein genialer Romandichter, aber er war auch ein hoch­
gebildeter Mann, der sich gewiß nicht als bloßen Romanschrei­
ber ansah. Laut dem Zeugnis seiner Zeitgenossen besaß er - wie
aus seinem Leben sattsam hervorgeht - metaphysische, mystische
Neigungen. Philosophische Kontroversen nehmen in seinem
Roman einen beträchtlichen Raum ein. Ich weiß, daß ihm von
allen Problemen keines so zu schaffen machte, daß er sich mit
keinem so abmühte wie mit dem abgründigen Problem der Zeit.
Nun ist dies aber das einzige Problem, das in den Seiten des
>Gartens <nicht vorkommt. E r verwendet nicht einmal das Wort
{ixt Zeit. Wie erklären Sie sich diese absichtliche Unterlassung?«
Ich brachte verschiedene Lösungen in Vorschlag; alle erwie­
sen sich als unzureichend. Wir sprachen sie durch; zum Schluß
sagte Stephen Albert zu m ir:
»Bei einem Rätselspruch mit dem Lösungs wort >Schach<: wie
lautet das einzige Wort, das nicht ausgesprochen werden darf?«

39
Ich dachte einen Augenblick nach und erwiderte: »Das Wort
>Schach<.«
»Genauso ist es«, sagte Albert. - »Der Garten der Pfade, die
sich verzweigen ist ein ungeheures Ratespiel oder eine Parabel,
deren Rätselwort die Zeit ist; dieser tiefgeheime Grund läßt
den Verfasser ihren Namen verschweigen. Ein Wort immer­
während auszulassen, sich mit untauglichen Metaphern und
offenkundigen Umschreibungen zu helfen, ist vielleicht die
betonteste Art, darauf hinzudeuten. Dem indirekten Ts’ui Pén
war die umschweifige Art lieber, und er hat sie in jedem
Mäander seines unermüdlichen Romans befolgt. Ich habe Hun­
derte von Handschriften miteinander verglichen, habe die Feh­
ler richtiggestellt, die sich durch die Nachlässigkeit der A b­
schreiber eingeschlichen haben, ich habe den Plan dieses Chaos
erschlossen, habe die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt
oder wiederherzustellen geglaubt, ich habe das ganze Werk
übersetzt: für mich steht fest, daß kein einziges Mal das Wort
Zeit darin vorkommt. Der Grund ist augenfällig: Der Garten
der Pfade, die sich verzweigen ist ein zwar unvollständiges, aber
kein falsches Bild des Weltganzen, so wie es Ts’ui Pén auf­
faßte. Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer glaubte
Ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit. E r glaubte
an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerre­
gendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und gleich­
gerichteter Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich ein­
ander nähern, sich verzweigen, sich schneiden oder jahrhun­
dertelang nicht voneinander wissen, umfaßt alle Möglichkeiten.
In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht; in einigen
existieren Sie, ich jedoch nicht; in anderen ich, Sie aber nicht;
in wieder anderen wir beide. In dieser Zeit nun, die mir ein
günstiger Zufall beschert, sind Sie in mein Haus gekommen.
In einer anderen haben Sie mich, da Sie den Garten durch­
schritten, als Toten gefunden; in wieder einer anderen sage
ich dieselben Worte wie jetzt, aber ich bin ein Trug, ein
Scheinbild.«
»In allen«, sagte ich, nicht ohne zu schaudern, »danke ich
40
in Ehrfurcht für Ihre Wiedererschaffung des Gartens von Ts’ui
Pen.«
»Nicht in allen«, murmelte er lächelnd. - »Die Zeit verzweigt
sich beständig zahllosen Zukünften entgegen. In einer von
ihnen bin ich Ihr Feind.«
Wieder empfand ich jenes Gewimmel, von dem ich gespro­
chen habe. Es war mir, als sei der feuchte Garten ums Haus
bevölkert mit einer Unzahl unsichtbarer Personen. Diese Per­
sonen waren Albert und ich, geheim, miteinander befaßt und
vielgestaltig in anderen Zeitdimensionen. Ich hob die Augen,
und der flordünne Alpdruck fiel von mir ab. In dem gelb und
schwarzen Garten war nur ein einziger Mensch; aber dieser
Mensch war stark wie ein Standbild. E r schritt auf dem Weg
daher und war der Captain Richard Madden.
»Die Zukunft ist schon da«, antwortete ich, »aber ich bin
Ihr Freund. Kann ich den Brief noch einmal sehen?«
Albert stand auf. Hoch oben zog er die Schublade des hohen
Schreibtischs auf; er drehte mir für einen Augenblick den
Rücken. Ich hatte den Revolver in Anschlag gebracht. Ich schoß
mit größter Umsicht: Albert brach sofort ohne einen Klagelaut
zusammen. Ich kann schwören, daß der Tod auf der Stelle ein­
trat, wie durch Blitzschlag.
Alles andere ist unwirklich, unbedeutend. Madden drang ein,
verhaftete mich. Man hat mich zum Strang verurteilt. A u f
abscheuliche Art habe ich gesiegt; ich habe an Berlin den ge­
heimgehaltenen Namen der Stadt, die sie angreifen müssen,
weitergegeben. Gestern haben sie sie mit Bomben belegt; ich
las die Nachricht in denselben Zeitungen, die England vor das
Rätsel stellten, daß der gelehrte Sinologe, Stephen Albert, von
einem Unbekannten, Y u Tsun, ermordet worden sei. Der Chef
hat die Lösung des Rätsels gefunden. E r weiß, daß ich vor der
problematischen Aufgabe stand, mitten im Kriegslärm die
Stadt mit Namen Albert anzugeben, und daß ich kein anderes
Mittel fand, als eine Person dieses Namens zu töten. E r weiß
nicht (niemand weiß) um meine unendliche Zerknirschung und
Müdigkeit.
41
Das unerbittliche Gedächtnis

Ich erinnere mich an ihn (freilich habe ich nicht das Recht,
dies geheiligte Wort auszusprechen; nur ein Mensch auf Erden
hatte das Recht dazu, und dieser Mensch ist tot) - an eine dunk­
le Passionsblume in seiner Hand, die er so sah, wie noch nie ein
Mensch sie gesehen hat, auch wenn er sie vom Morgengrauen
bis zur Abenddämmerung, ein ganzes Leben lang betrachtete.
Ich erinnere mich an ihn - an sein schweigsames, indianisch
geschnittenes, seltsam fernes Gesicht hinter der Zigarette. Ich
erinnere mich (glaube ich) an seine feinen, ans Lederfleehten
gewohnten Hände - erinnere mich an ein Mategefäß mit dem
Wappen der Republik Uruguay nahe bei diesen Händen; ich
erinnere mich an eine gelbe Schilfmatte mit einer verschwom­
menen Seelandschaft darauf am Fenster des Hauses. Deutlich
erinnere ich mich an seine Stimme; die ruhige, brüchige, nasale
Stimme der früheren Bewohner des La-Plata-Ufers, - ohne die
heutigen italienischen Zischlaute. Häufiger als dreimal habe
ich ihn nicht gesehen, zuletzt 1887 . . . Es scheint mir ein
glücklicher Plan, daß alle, die mit ihm Umgang hatten, über
ihn schreiben sollen; mein Zeugnis wird vielleicht das kürzeste
und zweifellos das kümmerlichste, aber nicht das am wenigsten
unparteiische des Bandes sein, den Sie herausgeben werden.
Zu meinem Unglück bin ich Argentinier; das verbietet mir,
ins Dithyrambische zu verfallen, das in Uruguay obligatorisch
ist, wenn ein uruguayisches Thema in Frage steht. Literat,
Journalist, Buenos Airenser - gewiß hat mich Funes nie mit
dergleichen Schimpfworten bedacht, aber mir ist nur allzu be­
wußt, daß ich in seinen Augen der Inbegriff dieser Gebrechen
war. Pedro Leandro Ipuche hat geschrieben, Funes sei ein V or­
läufer des Übermenschen gewesen, »ein unbändiger boden-
42
ständiger Zarathustra«; ich will das nicht bestreiten, aber man
sollte doch nicht übersehen, daß er in Fray Bentos beheimatet
war und seine unverbesserlichen Grenzen hatte.
Meine erste Erinnerung an Funes ist sehr deutlich. Ich sehe
ihn in einer Abenddämmerung im März oder Februar des Jah­
res 84. Mein Vater hatte mich in diesem Jahr zur Sommer­
frische nach Fray Bentos mitgenommen. Ich kam mit meinem
Vetter Bernardo Haedo von der Estancia San Francisco zurück
- zu Pferd, singend, doch war dies nicht der einzige Grund für
mein Glücksgefühl. Nach einem drückend schwülen Tag hatte
ein ungeheures, schieferfarbenes Gewitter den Himmel ver­
deckt.
Der Südwind trieb es voran - schon fingen die Bäume an,
toll zu werden; ich fürchtete (ich hoffte), daß wir vom Wolken­
bruch auf freiem Feld überrascht werden möchten. Wir liefen
mit dem Gewitter gleichsam um die Wette. Wir kamen in eine
Gasse, die zwischen zwei hohen Ziegelsteinborden tief einge­
schnitten war. Mit einem Schlag war es dunkel geworden; ich
hörte eilige und fast verstohlene Schritte über uns - ich hob
die Augen und sah einen Jungen, der auf dem schmalen und
schadhaften Rand dahinlief wie auf einer schmalen und schad­
haften Mauer. Ich erinnere mich an die Pumphosen, an die
Hanfschuhe - an die Zigarette in dem harten Gesicht gegen
die schon uferlose Gewitterwand. Bernardo rief ihm unver­
sehens zu: »Wieviel Uhr ist es, Ireneo?« Ohne nach dem Him­
mel zu sehen, ohne stehen zu bleiben, gab der andere zur Ant­
wort: »In vier Minuten acht, junger Herr Bernardo Juan Fran­
cisco.« Die Stimme war scharf und spöttisch.
Ich bin so zerstreut, daß mir der Dialog, den ich da wieder­
gegeben habe, sicher nicht aufgefallen wäre, hätte ihn nicht
mein Vetter breitgetreten; wie ich glaube, aus einem gewissen
Lokalpatriotismus und um mir zu zeigen, wie wenig er sich
aus der dreigeteilten Antwort des anderen machte.
E r erzählte mir, der Junge aus der Gasse sei ein gewisser
Ireneo Funes, bekannt durch einige Sonderlichkeiten; so gebe
er sich mit niemandem ab und wisse immer die genaue Zeit,
43
wie eine Uhr. Er fügte hinzu, er sei der Sohn einer Indianerin
aus dem Dorf, Maria Clementina Funes - es gäbe Leute, die
behaupten, sein Vater sei ein Arzt aus der Salzfleischfabrik,
ein Engländer mit Namen O’Connor - , andere, er sei ein
Pferdebändiger oder Fährtensucher aus dem Bezirk Salto. E r
lebte mit seiner Mutter, am Weg zum Gut Los Laureles.
In den Jahren 85 und 86 verbrachten wir die Sommerferien
in Montevideo. Im Jahre 87 kam ich wieder nach Fray Bentos.
Selbstverständlich erkundigte ich mich nach allen Bekannten
und schließlich auch nach dem »zeitmessenden Funes«. Ich be­
kam zur Antwort, daß ein frisch zugerittenes Pferd auf der
Estancia San Francisco ihn abgeworfen habe und daß er hoff­
nungslos lahm geblieben sei. Ich erinnere mich an das Gefühl
einer unbehaglichen Magie, das diese Nachricht in mir hervor­
rief: beim einzigen Mal, als ich ihn gesehen hatte, kamen wir
zu Pferd von San Francisco, und er ging an erhöhter Stelle; im
Munde meines Vetters Bernardo hatte das Ganze viel von
einem Traum, der aufgebaut war aus früheren Elementen. Man
erzählte mir, daß er sich nicht von seinem Feldbett rühre, die
Augen fest auf den Feigenbaum des Hinterhofes oder auf ein
Spinngewebe gerichtet. An den Abenden erlaubte er, daß man
ihn ans Fenster brachte. E r trieb den Hochmut so weit, so zu
tun, als sei der Hufschlag, der ihn niedergestreckt hatte, eine
Wohltat gewesen . . . Zweimal sah ich ihn hinter dem Fenster­
gitter, das seinen Zustand, auf immer ein Gefangener zu sein,
plump unterstrich: das eine Mal unbeweglich, mit geschlosse­
nen Augen - das andere Mal ebenso unbeweglich, ganz versun­
ken in die Betrachtung eines blühenden Santonia-Zweiges.
Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit hatte ich zu der Zeit mit
dem methodischen Studium des Latein begonnen. Mein Hand­
koffer enthielt »De viris illustribus« von Lhomond, den »The­
saurus« von Quicherat, die Kommentare des Julius Cäsar
und einen einzelnen Band der »Naturalis Historia« des Plinius,
der meine bescheidenen Kenntnisse in Latein überstieg (und
noch übersteigt). In einem kleinen Ort spricht sich alles herum;
Ireneo in seinem Rancho am Flußufer erfuhr sehr bald vom
44
Eintreffen dieser seltsamen Bücher. E r richtete einen blumen­
reichen und förmlichen Brief an mich, in dem er sich auf unser,
bedauerlicherweise flüchtiges, Zusammentreffen »am siebenten
Februar des Jahres vierundachtzig« berief - die ruhmreichen
Dienste erwähnte, die Don Gregorio Haedo, mein in diesem
Jahr verstorbener Onkel, »den beiden Ländern am La Plata
am tapferen Kampftag von Ituzaingo geleistet habe« - und
mich bat, ihm irgendeinen der Bände zu leihen, begleitet von
einem Wörterbuch, »zum besseren Verständnis des Original­
textes, da ich des Lateinischen noch nicht mächtig bin«. E r
versprach, sie in gutem Zustand und fast umgehend zurückzu­
geben. Die Schrift war tadellos, die Buchstaben fein gezogen. -
Zuerst fürchtete ich natürlich, es sei ein schlechter Scherz. Aber
meine Vettern versicherten mir, das sei es gewiß nicht - so
etwas sehe Ireneo ganz ähnlich. Ich wußte nicht, sollte ich die
Vorstellung, daß das schwierigste Latein nichts als ein Wörter­
buch verlange, seiner Frechheit, Unwissenheit oder Dummheit
zuschreiben; um ihn recht gründlich zu enttäuschen, schickte
ich ihm den »Gradus ad Parnassum« von Quicherat und das
Werk des Plinius.
Am 14. Februar bekam ich ein Telegramm aus Buenos
Aires: ich solle sofort zurückkommen, da es meinem Vater
»gar nicht gut gehe«. Gott verzeihe mir: der rühmliche Um­
stand, Empfänger eines dringenden Telegrammes zu sein -
das Verlangen, allen Leuten in Fray Bentos den Widerspruch
zwischen dem negativ umschreibenden Wortlaut und dem
unmißverständlichen »gar nicht« der Nachricht vor Augen
zu führen - die Versuchung, meinen Schmerz zu dramati­
sieren, indem ich einen männlichen Stoizismus zur Schau trug,
lenkten mich von jeder Möglichkeit wirklichen Kummers ab.
Als ich meinen Koffer packte, bemerkte ich, daß der »Gradus«
und der Band der »Naturalis historia« fehlten. Die »Saturno«
lief am nächsten Morgen aus ; abends nach dem Essen machte
ich mich auf den Weg zu Funes’ Haus. Ich wunderte mich, daß
die Nacht ebenso drückend war wie der Tag.
In dem bescheidenen Rancho empfing mich die Mutter von
45
Funes. Sie sagte mir, Ireneo sei hinten im Hof im letzten Zim­
mer und ich solle mich nicht wundern, ihn im Dunkeln zu fin­
den, denn Ireneo pflege die leeren Stunden ohne Kerzenlicht
hinzubringen. Ich überquerte den mit Fliesen belegten Hof, den
kleinen Gang - ich kam zum zweiten Hof. Eine Rebe wuchs
dort; die Dunkelheit wollte mir vollständig scheinen. Plötzlich
hörte ich Ireneos laute spöttische Stimme. Diese Stimme sprach
lateinisch; diese Stimme (die aus der Finsternis kam) sagte mit
lässigem Genuß eine Rede, ein Gebet oder einen Gesang auf.
Die römischen Laute schallten in den H of aus gestampftem
Lehm; meiner Furcht schienen sie unentzifferbar, ohne Ende.
Später, während des ungeheuren Zwiegesprächs dieser Nacht,
erfuhr ich, daß sie im ersten Abschnitt des vierundzwanzijgsten
Kapitels des siebenten Buches der »Naturalis historia« standen.
Thema dieses Kapitels ist das Gedächtnis; die letzten Worte
waren »ut nihil non iisdem verbis redderetur auditum«.
Ohne die Stimme im mindesten zu verändern, sagte Ireneo,
ich solle eintreten. E r lag auf dem Feldbett und rauchte. Mir
ist so, als hätte ich sein Gesicht bis zum Morgengrauen nicht
gesehen; ich meine mich des momentweisen Aufglühens der
Zigarette zu erinnern. Ein schwacher Geruch von Feuchtigkeit
war im Raum. Ich setzte mich, wiederholte die Geschichte
von dem Telegramm und der Erkrankung meines Vaters.
Hier komme ich zum heikelsten Punkt meiner Erzählung.
Diese hat (zum Glück weiß der Leser es schon) nichts anderes
zum Inhalt als jenes Zwiegespräch, das schon ein halbes Jahr­
hundert zurückliegt. Ich werde nicht versuchen, seine Worte
wiederzugeben, die unwiederbringlich verloren sind. Ich ziehe
es vor, wahrheitsgetreu all das, was Ireneo mir sagte, zusam­
menzufassen. Die mittelbare Schreibweise wirkt fern und blaß;
ich weiß, daß ich die Durchschlagskraft meiner Erzählung op­
fere. Mögen meine Leser in ihrer Phantasie die abgebrochenen
Reden, die mich in jener Nacht betäubten, wiedererschaffen.
Ireneo begann damit, in Latein und Spanisch die Fälle von
erstaunlichem Gedächtnis aufzuzählen, die in der »Naturalis
historia« vermerkt werden: Cyrus, der Perserkönig, wußte alle
46
Soldaten seiner Heere mit Namen zu nennen; Mithridates Eu-
pator sprach Recht in den 22 Sprachen seines Reiches; Simoni­
des, der Erfinder der Mnemotechnik; Metrodorus, der sich der
Kunst befleißigte, nur einmal Gehörtes wortgetreu wiederzu­
geben. Ireneo äußerte sein offenbar ehrliches Erstaunen, daß
solche Fälle Staunen erregten. E r erzählte mir, vor jenem reg­
nerischen Tag, an dem das Pferd ihn zu Boden schleuderte, sei
er genauso gewesen wie alle Christenmenschen: blind, taub,
zu nichts nütze, ohne Gedächtnis. (Ich versuchte, ihn an sein
haargenaues Zeitgefühl, sein Namensgedächtnis zu erinnern -
er ging nicht darauf ein.) Neunzehn Jahre hatte er gelebt wie
einer, der bloß träumt; er sah ohne wahrzunehmen, hörte ohne
zu hören, vergaß alles, fast alles. Beim Sturz verlor er das Be­
wußtsein; als er wieder zu sich kam, war sein Gegenwarts­
bewußtsein fast unerträglich reich und klar, und ebenso war
es mit den frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig
später wurde ihm bewußt, daß er lahm war. Dieser Tatsache
schenkte er kaum Beachtung, E r fand, daß die Unbeweglich­
keit ein äußerst geringer Preis sei. Jetzt waren seine Wahr­
nehmungsfähigkeit und sein Gedächtnis unfehlbar.
Wir nehmen mit einem Blick drei Gläser auf einem Tische
wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem
Rebstock gehören. E r kannte genau die Formen der südlichen
Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 - und ver­
mochte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Per­
gamentband zu vergleichen, den er nur ein einziges Mal ange­
schaut hatte -, und mit den Linien des Wellenschaums, den ein
Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend eines Gefechtes auf­
gewühlt hatte. Diese Erinnerungen waren indessen nicht ein­
fältig, jedes optische Bild war verbunden mit Muskel-, Wärme­
empfindungen usw. E r konnte alle Träume, alle Dämmerungs­
träume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen
ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel
gewesen, aber jede solche Rekonstruktion hatte einen ganzen
Tag beansprucht. E r sagte mir: »Ich allein habe mehr Erinne­
rungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die
47
Welt besteht.« Und weiter: »Meine Träume sind me euer Wachen.«
Und schließlich, gegen Morgengrauen: »Mein Gedächtnis,
H err, ¿r/ awV eine Abfalltonne.« Ein Kreis auf einer Schiefertafel,
ein Rhombus sind Formen, die wir ganz und gar wahrnehmen
können; ebenso erging es Funes mit den verwehten Haaren
eines jungen Pferdes - mit einer Viehherde auf einem Hügel,
mit dem wandelbaren Feuer und den unzählbaren Aschen­
stäubchen - mit den vielen verschiedenen Gesichtern eines
Verstorbenen während einer langen Totenwache. Ich weiß
nicht, wieviel Sterne er am Himmel sah. All diese Dinge er­
zählte er mir; weder damals noch später habe ich sie in ^weifel
gezogen. Damals gab es weder Kino noch Phonographen; trotz­
dem ist es unwahrscheinlich, ja fast unglaublich, daß niemand
mit Funes je ein Experiment gemacht hat. Tatsache ist, daß wir
immerfort alles hinausschieben, was nur hinauszuschieben ist.
Vielleicht wissen wir alle zutiefst, daß wir unsterblich sind,
und daß jeder Mensch früher oder später einmal alles tun und
alles wissen wird.
Funes’ Stimme, aus dem Dunkel kommend, sprach und
sprach. E r erzählte mir, daß er um 1886 sich ein eigenes Zahlen­
system ausgedacht hatte und in ganz wenigen Tagen 24000
überschritten hatte. E r hatte es nicht niedergeschrieben, denn
was er nur einmal richtig durchdacht hatte, konnte ihm nicht
mehr entwischen. Den ersten Anstoß gab ihm, glaube ich, der
Ärger über die Unbequemlichkeit, daß die berühmten »Drei
und dreißig Uruguayer« 2 Ziffern oder 3 Worte brauchten,
anstatt eines einzigen Wortes und einer einzigen Ziffer. Dieses
verrückte Prinzip wendete er dann auf die anderen Zahlen an.
Anstatt siebentausend und dreizehn sagte er (zum Beispiel)
»Máximo Pérez«; anstatt siebentausend und vierzehn »Die
Eisenbahn«. Andere Zahlen waren »Luis Melian Lafinur«, »Oli-
mar«, »Schwefel«, »der Walfisch«, »das Gas«, »der Dampf­
kessel«, »Napoleon«, »Agustín de Vedia«. Anstatt fünfhun­
dert sagte er neun. Jedes Wort hatte ein eignes Sinnbild, eine
Art Merkzeichen; die letzten waren sehr kompliziert . . . Ich
versuchte, ihm auseinanderzusetzen, daß eine Rhapsodie aus
48
unzusammenhängenden Stimmen genau das Gegenteil eines
Zahlensystems sei. Ich sagte ihm, daß, wenn man dreihundert­
fünfundsechzig sagt, man 3 Hunderter, 6 Zehner, 5 Einer nennt.
Funes begriff mich nicht oder wollte nicht begreifen.
Im 17. Jahrhundert forderte Locke eine unmögliche Sprache
(die er dann wieder verwarf), in der jedes einzelne Ding, jeder
Stein, jeder Vogel und jeder Zweig einen eigenen Namen
haben sollten. Funes hatte einmal eine ähnliche Sprache ge­
plant, sie aber wieder aufgegeben, weil sie ihm zu allgemein,
zu zweideutig erschien. Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht
nur an jedes Blatt jedes Baumes in jedem Wald, sondern auch an
jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte.
E r beschloß, jeden seiner vergangenen Tage auf 70000 Erinne­
rungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen
wollte. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab : Die Einsicht,
daß die Mühe endlos sein würde, - die Einsicht, daß sie sinn­
los war. E r überlegte, daß er in der Stunde seines Todes noch
nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheits­
erinnerungen zu Ende gebracht haben würde.
Diese beiden Projekte, die ich hervorhob (ein unendliches
Vokabular für die natürliche Zahlenfolge - ein nutzloser
geistiger Katalog aller Erinnerungsbilder), sind unsinnig, be­
kunden aber eine gewisse stammelnde Größe. Sie lassen uns die
schwindelnde Welt des Funes ahnen oder erraten. E r war -
vergessen wir das nicht - zu allgemeinen platonischen Ideen so
gut wie nicht imstande. Nicht nur machte es ihm Mühe zu ver­
stehen, daß der Allgemeinbegriff »Hund« so viele Geschöpfe
verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfaßt; es
störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 Minuten (den er
im Profil sah) denselben Namen führen sollte, wie der Hund
von 3 Uhr 15 Minuten (den er von vorn gesehen hatte). Sein
eigenes Gesicht im Spiegel, seine eigenen Hände überraschten
ihn immer wieder. Swift berichtet, daß der König von Liliput
die Bewegung des Minutenzeigers wahrnahm; Funes unter­
schied ständig die Fortschritte der Verwesung, der Fäulnis, des
Leidens. E r war der einsame und klare Beobachter einer viel­
49
gestaltigen, augenblicklichen und fast unerträglich deutlichen
Welt. Babylon, London und New York haben mit ihrer wilden
Pracht die Einbildungskraft der Menschen überladen. Aber nie­
mand in ihren übervölkerten Türmen oder im Getriebe ihrer
Straßen hat die Hitze und den Druck einer derart nimmer­
müden Wirklichkeit gefühlt, wie sie Tag und Nacht auf dem
unseligen Ireneo in seinem südamerikanischen Winkel lasteten.
Schlafen fiel ihm sehr schwer. Schlafen heißt, sich von der Welt
erholen; Funes, auf dem Rücken auf seinem Feldbett liegen^,
stellte sich im Dunkeln jeden Riß, jedes Gesims der Häuser um
ihn herum vor. (Ich wiederhole, daß die unbedeutendste seiner
Erinnerungen genauer oder lebendiger war, als für uns
die Wahrnehmung eines physischen Lustgefühls oder einer
physischen Qual.) Nach Osten zu, in einem noch nicht ganz
parzellierten Viertel, gab es neue unbekannte Häuser. Funes
stellte sie sich schwarz vor, eng zusammengedrängt, aus gleich­
mäßigem Dunkel gemacht; in diese Richtung wendete er das
Gesicht, um schlafen zu können. Auch pflegte er sich vorzu­
stellen, er liege auf dem Grund des Flusses, gewiegt und auf­
gelöst von der Strömung.
E r hatte ohne Mühe Englisch, Französisch, Portugiesisch,
Latein gelernt. Ich vermute allerdings, daß er zum Denken
nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen,
heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften
Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittel­
barer Art.
Das scheue Licht des grauenden Morgens drang vom H of
herein. Da erst sah ich das Gesicht der Stimme, die die ganze
Nacht gesprochen hatte. Ireneo war 19 Jahre alt, er war 1868
geboren. E r schien mir monumental wie Erz - älter als Ägyp­
ten - früher als die Prophezeiungen und die Pyramiden. Ich
mußte daran denken, daß jedes meiner Worte (jede meiner Be­
wegungen) in seinem unerbittlichen Gedächtnis fortdauern wür­
den ; mich lähmte die Furcht, überflüssige Gebärden zu machen.
Ireneo Funes starb 1889, 21 Jahre alt, an einer Lungenblu­
tung.
50
Die Narbe

Eine grimmige Narbe lief ihm quer über das Gesicht: ein
aschfarbener und fast vollkommener Bogen, der an einem Ende
die Schläfe, am anderen den Backenknochen furchte. Wie er
wirklich hieß, ist nicht wichtig, alle in Tacuarembó nannten ihn
»der Engländer von La Colorada«. Der Besitzer dieser Lände­
reien, Cardoso, wollte nicht verkaufen; man hat mir erzählt,
der Engländer habe zu einem überraschenden Argument ge­
griffen: er vertraute ihm die geheime Geschichte der Narbe an.
Der Engländer kam von der Grenze, von Rio Grande do Sul;
es fehlte nicht an Leuten, die sagten, er sei in Brasilien Schmugg­
ler gewesen. - Die Weiden waren von Unkraut überwuchert,
das Wasser der Tränken unbrauchbar; um diesen Übelständen
abzuhelfen, arbeitete der Engländer Seite an Seite mit seinen
Peones. Man sagt, daß er streng war bis zur Grausamkeit,
aber peinlich gerecht. Man sagt auch, daß er ein Trinker war:
ein paarmal im Jahr schloß er sich im Turmzimmer ein und
tauchte nach zwei oder drei Tagen auf wie aus einer Schlacht
oder einem Taumel, bleich, zittrig, wirr und so herrisch wie
vorher. Ich erinnere mich an die eisigen Augen, die tatkräftige
Magerkeit, den grauen Schnurrbart. E r verkehrte mit niemand;
sein Spanisch war wirklich armselig, mit brasilianischen Brok-
ken untermischt. Außer dem einen oder anderen Geschäfts­
brief oder einer Drucksache bekam er keine Post.
Das letzte Mal, als ich die Nordprovinzen durchreiste, zwang
mich ein Hochwasser des Caraguatá-Flusses, eine Nacht auf La
Colorada zu verbringen. Schon nach wenigen Minuten glaubte
ich zu bemerken, daß mein Erscheinen ungelegen kam; ich ver­
suchte, mich dem Engländer angenehm zu machen; ich wandte
mich an das primitivste menschliche Gefühl: den Patriotismus.
Ich sagte, ein Land vom Geiste Englands sei unbesiegbar. Mein
Gesprächspartner stimmte bei, fügte aber mit einem Lächeln
hinzu, daß er kein Engländer sei. E r war Ire, aus Dungarvan.
Nachdem er dies gesagt hatte, hielt er ein, wie wenn er ein
Geheimnis gelüftet hätte.
Nach dem Abendessen gingen wir hinaus, um den Himmel
zu betrachten. E r hatte sich aufgeklärt, aber hinter der Hügel­
kette braute der Süden, von Blitzen gefurcht und gezeichnet,
ein neues Gewitter zusammen. Im öden Eßzimmer brachte der
Peon, der das Essen aufgetragen hatte, eine Flasche Rum .^^ir
tranken lange Zeit, schweigend.
Ich weiß nicht, wieviel Uhr es war, als ich merkte, daß ich
betrunken war; ich weiß nicht, welche Eingebung oder wel­
cher Drang oder welche Langeweile mich dazu veranlaßte, die
Narbe zu erwähnen. Das Gesicht des Engländers verzerrte sich;
ein paar Sekunden lang glaubte ich, er werde mich aus dem
Hause werfen. Schließlich sagte er zu mir mit seiner gewöhn­
lichen Stimme:
»Ich werde Ihnen die Geschichte meiner Verwundung er­
zählen, unter einer Bedingung: daß ich keine Gemeinheit, kei­
nen schändlichen Umstand beschönige.«
Ich stimmte zu. Dies ist die Geschichte, die er erzählte, ab­
wechselnd auf Spanisch und Englisch, mit portugiesischen Brok-
ken dazwischen.
»Um 1922 war ich in einer Stadt in Connaught einer der
vielen, die einer Verschwörung für die Unabhängigkeit Ir­
lands angehörten. Von meinen Kameraden leben einige noch
und gehen friedlichen Beschäftigungen nach. Andere kämpfen
paradoxerweise zur See oder in der Wüste unter englischer
Fahne; einer, der beste von ihnen, starb auf einem Kasernen­
hof im Morgengrauen durch die Kugeln schlaftrunkener Män­
ner; andere (und nicht die unglücklichsten) ereilte ihr Schick­
sal in den namenlosen und fast geheimen Schlachten des Bür­
gerkrieges. Wir waren Republikaner, Katholiken; wir waren,
vermute ich, Romantiker. Irland war für uns nicht nur die
erträumte Zukunft und die unerträgliche Gegenwart; es war
52
ein bitterer und zärtlicher Mythos, die runden Türme und die
roten Moore, es war die Ausstoßung Parnells und die gewalti­
gen Heldenlieder, die den Raub der Stiere besingen, die in
einem früheren Leben Helden waren und in anderen Fische
und Berge . . . In einer Abenddämmerung, die ich nicht ver­
gessen werde, stieß einer unserer Parteigänger aus Munster zu
uns: ein gewisser John Vincent Moon.
E r war knapp 20 Jahre alt. E r war mager und gleichzeitig
aufgeschwemmt, machte den unangenehmen Eindruck, als
hätte er kein Rückgrat. E r hatte mit glühendem Eifer und mit
Eitelkeit fast alle Seiten irgendeines kommunistischen Hand­
buches durchstudiert; der dialektische Materialismus diente
ihm dazu, jedwede Auseinandersetzung zu verdunkeln. Es gibt
unendlich viele Gründe, aus denen ein Mensch den ändern
verabscheuen oder lieben kann: Moon reduzierte die Weltge­
schichte auf einen einzigen dumpfen wirtschaftlichen Konflikt.
Er versicherte, die Revolution sei dazu bestimmt zu triumphie­
ren. Ich sagte ihm, für einen »gentleman« könne nur eine ver­
lorene Sache von Wichtigkeit sein. . . Es war schon Nacht; wir
stritten weiter, ohne uns zu einigen, auf dem Gang, den Trep­
pen, dann in den unsteten Straßen. Die Urteile, die Moon ab­
gab, beeindruckten mich nicht so sehr, wie sein apodiktischer
Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Der neue Kamerad disku­
tierte nicht: mit Verachtung und einer Art von Zorn stellte er
Behauptungen auf.
Als wir zu den letzten Häusern kamen, betäubte uns ein
plötzliches Gewehrfeuer. (Vorher oder hinterher gingen wir
an der blinden hohen Mauer einer Fabrik oder einer Kaserne
entlang.) Wir bogen in eine ungepflasterte Straße ein; ein Sol­
dat, riesengroß im Flammenschein, tauchte aus einer brennen­
den Hütte auf. Laut schreiend befahl er uns, stehen zu bleiben.
Ich beschleunigte meine Schritte; mein Kamerad folgte mir
nicht. Ich wandte mich um : John Vincent Moon stand unbeweg­
lich, festgebannt und wie zur Salzsäule erstarrt vor Schrecken.
Da lief ich zurück, schlug mit einem Hieb den Soldaten nieder,
schüttelte Vincent Moon, beschimpfte ihn und befahl ihm, mir
53
zu folgen. Ich mußte ihn beim Arm nehmen; die Heftigkeit der
Angst machte ihn unfähig, sich zu rühren. Wir flohen in der
von Bränden durchlöcherten Nacht. Eine Gewehrsalve suchte
uns; eine Kugel streifte die rechte Schulter Moons. Während
wir zwischen Fichtenbäumen flüchteten, brach er in ein jäm­
merliches Schluchzen aus.
In diesem Herbst 1923 hatte ich mich in dem Landhaus des
Generals Berkeley geborgen. E r (ich hatte ihn nie gesehen)
bekleidete damals ich weiß nicht welchen Verwaltungsposten
in Bengalen. Das Gebäude war noch kein Jahrhundert alt;, aber
verfallen und fahl und besaß einen Überfluß von verwirrenden
Gängen und unnützen Vorzimmern. Das Museum und die
riesige Bibliothek nahmen das Erdgeschoß in Anspruch: ein­
ander widersprechende und nicht zusammenpassende Bücher,
die auf irgendeine Art die Geschichte des 19. Jahrhunderts bil­
den; Säbel aus Nishapur, in deren im Schwung gebannten
Kreisbogen der Wind und die Heftigkeit der Schlacht fortzu­
dauern schienen. Wir kamen (glaube ich mich zu erinnern) von
der Rückseite herein. Moon murmelte mit zitternden und aus­
getrockneten Lippen, die Ereignisse der Nacht seien interes­
sant ; ich untersuchte ihn, brachte ihm eine Tasse Tee; ich konnte
feststellen, daß seine Wunde nur oberflächlich war. Plötzlich
stammelte er bestürzt:
>Sie haben sich aber empfindlich in Gefahr gebracht !<
Ich sagte ihm, er solle sich deswegen keine Gedanken ma­
chen. (Die Gewohnheit des Bürgerkrieges hatte mich getrieben
zu handeln, wie ich handelte; außerdem konnte die Gefangen­
nahme eines einzigen unserer Parteigänger unsere Sache ge­
fährden.)
Am nächsten Tag hatte Moon seine Sicherheit wiederge­
wonnen. E r nahm eine Zigarette an und unterwarf mich einem
strengen Verhör über die ökonomischen Hilfsquellen unserer
Revolutionspartei<. Seine Fragen waren sehr klar; ich sagte
ihm (was der Wahrheit entsprach), daß die Lage ernst sei.
Dumpfe Gewehrsalven erschütterten den Süden. Ich sagte
Moon, daß die Kameraden uns erwarteten. Mein Mantel und
54
mein Revolver lagen in meinem Zimmer; als ich zurückkam,
fand ich Moon auf dem Sofa ausgestreckt, mit geschlossenen
Augen. E r behauptete, er habe Fieber, berief sich auf einen
schmerzhaften Kram pf in der Schulter.
Da begriff ich, daß seine Feigheit unheilbar war. Ich bat ihn
unbeholfen, sich zu pflegen, und verabschiedete mich. Dieser
Mann mit seiner Angst beschämte mich, als wäre ich der Feig­
ling, nicht Vincent Moon. Was ein Mensch tut, ist so, als täten
es alle Menschen. Deswegen ist es nicht ungerecht, daß der
Ungehorsam in einem Garten das ganze Menschengeschlecht
befleckte; deswegen ist es nicht ungerecht, daß die Kreuzigung
eines einzigen Juden genügte, es zu erlösen. Vielleicht hat
Schopenhauer recht: ich bin die anderen, jeder Mensch ist alle
Menschen, Shakespeare ist auf irgendeine Weise der jämmer­
liche John Vincent Moon.
Neun Tage verbrachten wir in dem riesigen Haus des Gene­
rals. Von den Todeszuckungen und den Lichtblicken des Krie­
ges will ich nicht sprechen : meine Absicht ist nur, die Geschichte
der Narbe zu erzählen, die mich schändet. Diese neun Tage
bilden in meiner Erinnerung einen einzigen Tag, den vorletzten
ausgenommen, an dem die Unseren eine Kaserne erstürmten
und wir genau die 16 Kameraden rächen konnten, die in
Elphin erschossen worden waren. Ich schlich mich gegen Mor­
gen aus dem Hause, in der ungewissen Dämmerung. Bei An­
bruch der Nacht war ich zurück. Mein Gefährte erwartete mich
im oberen Stockwerk: seine Wunde erlaubte ihm nicht, ins
Erdgeschoß herunterzukommen. Ich erinnere mich genau, daß
er ein Buch in der Hand hielt: F. N. Maude oder Clausewitz.
>Meine Lieblingswaffe ist die Artillerie <, gestand er mir eines
Nachts. E r forschte nach unseren Plänen; er gefiel sich darin,
sie zu tadeln oder zu verbessern. Auch pflegte er auf >unsere
beklagenswerte wirtschaftliche Grundlage < hinzuweisen, pro­
phezeite lehrhaft und düster das schlimme Ende. >C’est une
affaire flambée <, murmelte er. Um zu zeigen, daß es ihm gleich­
gültig war, ein Feigling zu sein, prahlte er mit seinem geistigen
Hochmut.
55
Am zehnten fiel die Stadt endgültig in die Hände der >Black
and Tans<. Hoch zu Roß patroullierten Wachen schweigend
durch die Straßen; der Wind war voll Rauch und Asche; an
einer Ecke sah ich einen Leichnam hingeworfen, der aber in
meiner Erinnerung weniger haftet als eine Gliederpuppe, an
der die Soldaten mitten auf dem Platz unaufhörlich ihre Schieß­
künste erprobten . . . Ich war fortgegangen, als das Morgen­
grauen am Himmel stand; vor Mittag kam ich zurück. Moon
sprach in der Bibliothek mit jemandem; am Ton seiner Stimme
erkannte ich, daß er telefonierte. Dann hörte ich meinen Na­
men; dann, daß ich um sieben zurückkommen werde; dann den
Hinweis, daß sie mich verhaften sollten, wenn ich den Garten
durchquerte. Mein verständiger Freund war dabei, mich höchst
verständig zu verkaufen. Ich hörte ihn Garantien für seine
persönliche Sicherheit fordern.
Hier verwirrt und verliert sich meine Geschichte. Ich weiß,
daß ich den Verräter durch schwarze Alptraum-Gänge und über
tiefe, schwindelnde Treppen verfolgte. Moon kannte das Haus
sehr gut, weit besser als ich. Ein- oder zweimal verlor ich ihn.
Ich stellte ihn, bevor die Soldaten mich fingen. Von einem der
Waffen-Arrangements des Generals riß ich einen Pallasch her­
unter; mit diesem Halbmond zeichnete ich ihm für immer einen
blutigen Halbmond ins Gesicht. Borges: Ihnen, einem Fremden,
habe ich diese Beichte abgelegt. Ihre Verachtung schmerzt mich
nicht so sehr.«
Hier hielt der Erzähler inne. Ich bemerkte, daß seine Hände
zitterten.
»Und Moon«, fragte ich ihn.
»Strich den Judaslohn ein und floh nach Brasilien. An jenem
Nachmittag sah er, wie auf dem Platz eine Gliederpuppe von
Betrunkenen erschossen wurde.«
Ich wartete vergeblich auf die Fortsetzung der Geschichte.
Endlich sagte ich, er solle doch fortfahren.
Da brach ein Stöhnen aus ihm; da wies er mir mit schwäch­
licher Sanftmut die krumme weißliche Narbe.
»Sie glauben mir nicht?« stammelte er. »Sehen Sie nicht,

56
daß ich auf dem Gesicht das Merkmal meiner Schande einge­
zeichnet trage? Ich habe Ihnen diese Geschichte auf diese Weise
erzählt, damit Sie sie zu Ende hören sollten. Ich habe den Mann
verraten, der mich geschützt hatte: ich bin Vincent Moon.
Jetzt verachten Sie mich.«
Deutsches Requiem

Siehe, er wird mich doch erwürgen


und ich Idnn es nicht erwarten; doch
will ich meine Wege vor ihm strafen.
Hiob 13, if

Mein Name ist Otto Dietrich zur Linde. Einer meiner V or­
fahren, Christoph zur Linde, fiel bei der Reiterattacke, die den
Sieg von Zorndorf entschied. Mein Urgroßvater mütterlicher­
seits, Ulrich Forkel, wurde in den letzten Tagen des Jahres
1870 im Wald von Marchenoir von französischen Freischär­
lern ermordet; der Hauptmann Dietrich zur Linde, mein Vater,
zeichnete sich 19 14 bei der Belagerung von Namur und zwei
Jahre später bei dem Übergang über die Donau1 aus. Was mich
angeht, so wird man mich als Folterer und Mörder erschießen.
Das Gerichtsverfahren war ordnungsgemäß; von allem An­
fang an habe ich mich schuldig bekannt. Morgen, wenn die
Gefängnisuhr neun schlägt, werde ich in den Tod gegangen
sein; es ist nur natürlich, daß ich an meine Vorfahren denke,
nun ich ihrem Schatten so nahe, ja in gewissem Sinne schon
einer der ihren bin.
Während der Dauer des Gerichtsverfahrens (das leider nur
kurz war) habe ich nicht gesprochen; unter diesen Umständen
Rechtfertigungsgründe Vorbringen, hätte so viel bedeutet wie
den Schuldspruch abschwächen und den Eindruck von Feig­
heit erwecken. Jetzt hat sich das Blatt gewendet; in dieser
Nacht, der letzten vor meiner Hinrichtung, kann ich ohne
Furcht reden. Ich will nicht, daß man mich begnadigt, da keine
Schuld an mir ist, aber ich will, daß man mich versteht. Wer
mich anhört, der wird die Geschichte Deutschlands verstehen
und die künftige Geschichte der Welt. Ich weiß, daß Fälle wie
meiner, die heute noch grauenerregende Ausnahmefälle sind,
1 Bezeichnenderweise übergeht der Erzähler seinen berühmtesten Vorfahren, nämlich den Th eo­
logen und Hebraisten Johannes F orkel (1799-1846), der die Hegelsche D ialektik au f die Christologie
anwendete und dessen Linearversion einzelner der apokryphen Bücher von H engstenberg gerügt,
von Thilo und Gesenius gebilligt wurde. (Anm. d. H erausg.)

58
binnen kurzer Zeit landläufig sein werden. Morgen werde ich
sterben, aber ich bin ein Sinnbild der künftigen Generation.
Geboren wurde ich im Jahre 1908, in Marienburg. Zwei
Leidenschaften, von denen ich heute so gut wie nichts mehr
weiß, halfen mir viele unselige Jahre mit Mut und Glück be­
stehen: die Musik und die Metaphysik. Ich kann nicht alle
meine Wohltäter nennen, aber auf die Erwähnung zweier
Namen will ich nicht verzichten: Brahms und Schopenhauer.
Auch beschäftigte ich mich eingehend mit der Dichtung; den
zwei vorerwähnten Namen möchte ich einen im umfassendsten
Sinne germanischen hinzufügen: William Shakespeare. V or­
dem interessierte ich mich auch für Theologie, aber von dieser
phantastischen Disziplin (ebenso wie vom christlichen Glauben)
haben mich auf immer mit stichhaltigen Gründen Schopen­
hauer, durch die wimmelnde Vielfalt ihrer Welt Brahms
und Shakespeare abgebracht. Wenn je ein Mensch staunensvoll,
erschauernd in Rührung und Dankbarkeit vor einer Stelle im
Werk dieser Glücklichen verharrt, mag er wissen, daß auch
ich, der Verworfene, vor ihr verweilt habe.
Um das Jahr 1927 traten Nietzsche und Spengler in mein
Leben ein. Bei einem Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert
findet sich die Bemerkung, daß niemand seinen Zeitgenossen
Dank schulden w ill; so schrieb ich, um mich von einem, wie
ich vorausfühlte, bedrückenden Einfluß zu befreien, einen
Artikel unter der Überschrift »Abrechnung mit Spengler«;
darin zeigte ich auf, daß der untrüglichste Nieder schlag jener
Wesenszüge, die der Verfasser »faustisch« nennt, nicht in dem
buntscheckigen Drama von Goethe1, sondern in einem G e­
dicht, dessen Abfassungszeit zwanzig Jahrhunderte früher
liegt, in »De rerum natura«, zu erblicken sei. Ansonst ließ
ich jedoch der aufrechten Haltung des Geschichtsphilosophen
Gerechtigkeit widerfahren und rühmte seine kerndeutsche sol­
datische Gesinnung. 1929 trat ich in die Partei ein.
1 Andere Nationen leben in Unschuld dahin, in sich befangen oder für sich wie Minerale oder die
Meteore; Deutschland ist der universale Spiegel, der sie alle in sich auffängt: das Weltbewußtsein.
Goethe ist der Prototyp dieses umfassenden Verstehens. Ich tadle ihn nicht, aber ich erblicke in
ihm nicht den faustischen Menschen der Spenglerschen These.

59
Über die Jahre meiner Lehrzeit will ich mich kurz fassen.
Sie wurden mir härter als manchem anderen, da ich, wenn­
gleich es mir nicht an Mut fehlte, keine gewalttätige Anlage
mein eigen nenne. Ich begriff jedoch, daß wir an der Grenz­
scheide einer neuen Zeit standen und daß diese Zeit, wie die
Frühgeschichte des Islam oder des Christentums, neue Men­
schen erfordere. Meine Kameraden waren mir verhaßt, als
einzelne betrachtet; vergebens suchte ich mir einzureden, daß
wir im Hinblick auf das hohe Ziel, das uns zusammenscharte,
keine Individuen mehr seien.
Die Theologen versichern, daß die Wachsamkeit des Herrn
sich nur für eine einzige Sekunde von dieser meiner rechten
Hand, die schreibt, abzuwenden brauche, so falle diese zurück
ins Nichts, wie von einem lichtlosen Feuerstrahl getroffen.
Niemand kann bestehen, sage ich, niemand kann auch nur an
einem Glase Wasser nippen oder ein Stück Brot brechen, es
sei denn, er habe eine Rechtfertigung. Bei jedem Menschen
fällt diese Rechtfertigung verschieden aus; ich hoffte auf den
unerbittlichen Krieg, in dem unser Glaube sich bewähren
sollte. Es genügte mir zu wissen, daß ich ein Soldat in seinen
Schlachten sein würde. Manchmal fürchtete ich, die Feigheit
Englands oder Rußlands könnten uns um ihn betrügen. Zu­
fall oder Schicksal schlugen den Faden meines künftigen Da­
seins auf andere A rt; am 1. März bei Einbruch der Dämmerung
kam es in Tilsit zu Unruhen, die in den Zeitungen keine
Erwähnung fanden; in der Straße hinter der Synagoge bekam
ich bei einer Schießerei zwei Kugeln ins Bein, das abge­
nommen werden mußte. Tage danach marschierten unsere
Truppen in Böhmen ein; als die Sirenen die Sondermeldung
verkündeten, befand ich mich im Genesungslazarett, ver­
sunken in die Bücher Schopenhauers und Selbstvergessen
suchend. A u f dem Fensterbrett hockte, Sinnbild meiner ver­
wirkten Daseinsbestimmung, schläfrig ein dick aufgeschwemm­
ter Kater.
Im ersten Band von »Parerga und Paralipomena« las ich
wieder, daß im Menschenleben alles, was uns irgend zustoßen
60
kann, vom Augenblick der Geburt an bis zum Augenblick des
Todes im voraus festgesetzt ist. So beruht jedes Versehen
auf einer vorgängigen Überlegung, ist jede zufällige Begeg­
nung eine Verabredung, jede Demütigung eine Buße, jeder
Fehlschlag ein geheimnisvoller Sieg, jeder Tod ein Selbstmord.
Keine Tröstung ist so geschickt wie die, daß wir uns unser
Mißgeschick selber ausgesucht haben; diese auf den Einzel­
menschen zugeschnittene Teleologie enthüllt uns eine geheime
Fügung und vermengt uns auf wundersame Weise mit der
Gottheit. Welche unbewußte Absicht (grübelte ich) trieb mich
auf die Suche nach dieser Abenddämmerung, diesen Kugeln,
dieser Verstümmelung? Nicht die Angst vor dem Krieg, das
wußte ich genau; etwas Tieferes. Schließlich glaubte ich zu
verstehen. Für eine Religion sterben ist leichter als sie in
ganzer Fülle leben; in Ephesus mit Raubtieren kämpfen ist
weniger hart (Tausende von unberühmten Märtyrern haben
das getan) als Paulus, der Knecht Christi, zu sein; eine Tat
wiegt nicht soviel wie alle Lebensstunden eines Menschen.
Schlacht und Ruhm sind erleichternde Umstände; beschwer­
licher als Napoleons Unternehmung war die des Raskolnikoff.
Am 7. Februar 1941 wurde ich zum Unterführer im Konzen­
trationslager Tarnowitz ernannt.
Diese Funktion auszuüben war mir keineswegs angenehm;
doch ließ ich mir keine Nachlässigkeit zuschulden kommen.
Der Feigling stählt sich inmitten gezogener Schwerter; der
Erbarmungsvolle, der Mitleidige sucht die Erprobung in den
Gefängnissen und im Schmerz des Nebenmenschen. Der Na­
zismus ist seinem Wesen nach eine moralische Tatsache; der
alte verrottete Mensch muß ausgezogen werden, damit man
den neuen anziehen kann. In der Schlacht kommt es bei Füh­
rerkommando und Feldgeschrei ganz von selber zu dieser
Mutation: nicht so in einem dumpfen Kerker, wo das hinter­
hältige Mitleid die Fangarme zärtlicher Gewohnheit nach uns
ausstreckt. Nicht umsonst schreibe ich dieses Wort nieder;
Mitleid ist für den höheren Menschen Zarathustras letzte
Sünde. Beinahe hätte ich sie begangen (ich bekenne es), als
6i
sie von Breslau den bekannten Dichter David Jerusalem bei
uns einlieferten.
Es war das ein fünfzigjähriger Mann, arm an irdischen
Gütern, ein Verfolgter, Ausgemerzter und Ausgespieener, ein
Mann, der sein Genie einem Lobgesang auf das Glück geweiht
hatte. Ich meine mich zu erinnern, daß Albert Soergel in seinem
Werk »Dichtung und Dichter der Zeit« ihn mit Whitman ver­
gleicht. Der Vergleich ist insofern nicht glücklich, als Whitman
die ganze Welt auf voreingenommene Art in Bausch und Bogen
und sozusagen unterschiedslos preist, während Jerusalem sich
mit Liebe ins Kleinste versetzt und über jedes Ding Freude
empfindet. Nie verfällt er ins Aufzählen oder Katalogisieren.
Heute weiß ich noch eine ganze Anzahl Hexameter aus jenem
tiefsinnigen Gedicht herzusagen das »Tse Yang, der Tiger­
maler« überschrieben war und das sozusagen mit Tigern ge­
streift und befrachtet, von Tigerleibern lautlos durchstrichen
war. Und ebensowenig werde ich das Monolog-Gedicht »Ro­
senkranz redet mit dem Engel« vergessen, in dem ein Lon­
doner Geldwucherer des 16. Jahrhunderts in seiner Todes­
stunde umsonst seine Verfehlungen wettzumachen sucht, ohne
zu ahnen, daß die verborgene Rechtfertigung seines Lebens
darin besteht, daß er einem seiner Kunden (den er nur ein
einziges Mal gesehen hat und an den er nicht mehr denkt) den
Charakter des Shylock eingegeben hat. Als ein Mann mit be­
merkenswerten Augen, zitronenfarbener Haut und nahezu
schwarzem Bart war David Jerusalem der vollkommene Typ
eines Sephardim, mochte er auch zu den entarteten und ver­
abscheuten Aschkenazim abgefallen sein. Ich behandelte ihn
mit Härte; weder von Mitgefühl noch von seinem Dichter­
ruhm ließ ich mich erweichen. Schon vor Jahren hatte ich er­
faßt, daß in der Welt kein Ding ist, das nicht der Keim zu
einer Hölle werden kann; ein Gesicht, ein Wort, eine Magnet­
nadel, eine Zigarettenreklame sind imstande, einen Menschen
um den Verstand zu bringen, wenn es ihm nicht gelingt, sie
zu vergessen. Muß nicht ein Mensch verrückt werden, vor
dessen innerem Auge ständig die Landkarte von Ungarn steht?
62
Ich beschloß, die Strafordnung in unserem Hause nach diesem
Prinzip auszurichten und . . .1 Ende 1942 verfiel Jerusalem in
Wahnsinn; am 1. März 1943 glückte es ihm, sich das Leben
zu nehmen.2
Ich weiß nicht, ob Jerusalem begriffen hat, daß ich ihn ver­
nichten mußte, um das Mitleid in mir zu vernichten. In meinen
Augen war er kein Mensch, nicht einmal ein Jude; ich lernte
in ihm sinnbildlich verkörpert eine verabscheute Region mei­
ner Seele erkennen. Ich teilte seine Agonie, ich starb mit ihm,
ich habe mich gleichsam mit ihm verloren und ausgetilgt; des­
halb war ich rücksichtslos.
Unterdessen schweiften über uns die großen Tage und die
großen Nächte eines glückhaften Feldzuges hin. In der Luft,
die wir atmeten, war etwas wie Liebeswehen. Als sei uns das
Meer plötzlich nahegerückt, war im Blut ein Aufhorchen und
hohe Begeisterung. Alles in jenen Jahren war besonderer A rt;
sogar der Geschmack des Schlafs. (Ich war vielleicht nie im
vollen Sinne glücklich, aber bekanntlich verlangt das Mißge­
schick nach verlorenen Paradiesen.) Es gibt keinen Menschen,
der nicht nach der ganzen Fülle strebt, das heißt nach der
Summe aller Erlebnisse, deren ein Mensch fähig ist; es gibt
keinen Menschen, der nicht fürchtete, um ein Teil dieses
grenzenlosen Erbes betrogen zu werden. Meine Generation
hingegen hat alles besessen, weil ihr zuerst der Ruhm und
danach die Niederlage beschieden waren.
Im Oktober oder November 1942 fiel mein Bruder Fried­
rich in der zweiten Schlacht von El Alamein im ägyptischen
Küstensand; ein Luftangriff zertrümmerte Monate darauf das
Stammhaus unserer Familie; ein weiterer Angriff, gegen Ende
1943, mein Laboratorium. Unter dem Ansturm weiträumiger

1 Es war unumgänglich, hier ein paar Zeilen wegzulassen.


3 Weder in den Bibliotheksarchiven noch in dem W erk von Soergel kommt der Name Jerusalem
vor. Auch die deutschen Literaturgeschichten verzeichnen ihn nicht. Trotzdem glaube ich nicht,
daß es sich um eine fälschlich genannte Person handelt. A u f Anordnung von O tto Dietrich zur
Linde wurden in Tarnowitz viele jüdische Intellektuelle gefoltert, unter ihnen die Pianistin Em m a
Rosenzweig. »D avid Jerusalem « ist vielleicht ein Sammelname für eine G ruppe von Einzelpersonen.
Es wird gesagt, daß er am 1. März 1943 starb; am 1. März 1939 wurde der Erzähler in Tilsit ver­
wundet. (Anm. d. Herausg.)

63
Kontinente starb das Dritte Reich. Es hatte die Hand gegen
alle gereckt, und die Hände aller reckten sich nach ihm aus.
Da ereignete sich etwas Sonderbares, das ich erst heute zu
verstehen glaube. Ich fühlte mich imstande, den Kelch des
Zorns bis zur Neige zu leeren, doch ward ich in der Hefe
betroffen eine unerwartete Würze gewahr, die geheimnisvolle
und fast erschreckende Würze des Glücks. Ich versuchte mich
an verschiedenerlei Erklärungen; keine fand ich ausreichend.
Ich dachte: Die Niederlage befriedigt mich, weil ich mich ins­
geheim schuldig fühle und weil allein Strafe mich lossprechen
kann. Ich dachte: Mich befriedigt die Niederlage, weil sie tat­
sächlich eingetreten ist, weil sie auf unzählbare Art mit allem,
was da ist, was da war und was da sein wird, eins ist und weil
eine einzige vollendete Tatsache bemäkeln oder beklagen so­
viel heißt wie das Weltall lästern. Diese Begründungen er­
probte ich, bis ich auf die rechte stieß.
Man hat behauptet, daß alle Menschen als Aristoteliker
oder als Platoniker zur Welt kommen. Das heißt soviel wie
erklären, daß es keine Auseinandersetzung im Abstrakten
gibt, die nicht ein Vorfall in dem ewigen Streitgespräch zwi­
schen Aristoteles und Platon wäre; über Jahrhunderte und
Breitengrade hinweg ändern sich wohl die Namen, die Sprach-
formen, die Gesichter, nicht aber die beiden ewigen Gegen­
spieler. Auch die Geschichte der Völker läßt eine verborgene
Kontinuität erkennen. Als Hermann der Cherusker in einem
Sumpf die Legionen des Varus aufs Haupt schlug, wußte er
nicht, daß er Vorläufer eines Imperiums deutscher Nation war;
Luther, der Übersetzer der Bibel, ahnte nicht, daß er dazu be­
stimmt war, ein Volk zu schmieden, das die Bibel auf immer
vernichten sollte; Christoph zur Linde, den im Jahr 1758 eine
moskowitische Kugel tötete, rüstete sozusagen auf die Siege
von 19 14 ; Hitler glaubte, nur für ein Land zu kämpfen, doch
kämpfte er für sie alle, auch für jene, die er angriff und ver­
abscheute. Es verschlägt nichts, daß sein Ich es nicht wußte;
sein Blut, sein Wille wußten es. Die Welt siechte zu Tode am
Judentum und an jener Krankheit des Judentums, die der
64
Glaube an Jesus ist; wir haben sie die Gewalt gelehrt und den
Glauben an das Schwert. Dieses Schwert tötet uns heute, und
wir sind jenem Zauberer zu vergleichen, der ein Labyrinth
ausspinnt und sich dazu verurteilt sieht, bis an sein Lebens­
ende darin irrezugehen, oder David, da er über einen Unbe­
kannten richtet, ihn zum Tode verurteilt, woraufhin ihm die
Offenbarung zuteil wird: Du bist dieser Mensch. Viele Dinge
müssen zerstört werden, um die neue Ordnung aufzurichten;
heute wissen wir, daß eines unter diesen Dingen Deutschland
gewesen ist. Wir haben nicht nur unser Leben hingegeben,
sondern etwas darüber hinaus; wir haben das Los unserer ge­
liebten Heimat hingegeben. Mögen andere verfluchen, mögen
andere weinen; mich beglückt, daß unsere Gabe weltweit und
vollkommen ist.
Von nun an senkt sich über die Welt eine unbarmherzige
Epoche herab. Wir haben sie geschmiedet, wir, die jetzt ihr
zum Opfer fallen. Was macht es aus, daß England der Hammer
ist und wir der Amboß? Wichtig ist allein, daß die Gewalt
frohlockt und nicht die sklavische Zagheit des Christentums.
Wenn der Sieg, die Ungerechtigkeit und das Glück nicht für
Deutschland sind, mögen sie für andere Nationen sein. Soll
es den Himmel geben, sei auch unser Ort die Hölle.
Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel, um zu erfahren, wer
ich bin, um zu erfahren, in welcher Haltung ich in ein paar
Stunden dem Ende entgegentreten werde. Mein Fleisch mag
Angst fühlen; ich - nicht.
D a s A le ph

O God, I could be bounded in a nutshell and count


myself a King of infinite space. Hamlet, II, 2

But they will teach us that Eternity is the Standing


still of the Present Time, a Nunc-stans (as the Schools
call it); which neither they, nor any eise understand,
no more than they would a Hic-stans for an infinite
greatness of Place. Leviathan, I V , 46

An jenem lichthellen Februarmorgen, als Beatriz Viterbo


starb, nach einem herrscherhaft durchgestandenen Todeskampf,
der nicht einen Augenblick in Sentimentalitäten oder Angst ab­
glitt, fiel mir auf, daß die Eisenschilder an der Plaza Consti­
tución mit einer neuen Reklame für irgendeine blonde Ziga­
rettensorte aufwarteten; die Entdeckung tat mir weh, denn
sie ließ mich fühlen, daß die rastlose und weiträumige Welt
sich bereits anschickte, von ihr fortzugehen, und daß diese
Neuerung die erste einer endlosen Serie war. Die Welt wird
sich verändern, ich jedoch nicht, dachte ich mit schwermütiger
Selbstbespiegelung; zuweilen, wie mir wohl bewußt ist, hatte
sie meine vergebliche Huldigung aufgebracht; nun sie tot war,
konnte ich mich der Erinnerung an sie hingeben, ohne Hoff­
nung zwar, aber auch ohne Selbsterniedrigung. Mir fiel der
30. April, ihr Geburtstag, ein; wenn ich an diesem Tage dem
Haus in der Calle Garay einen Besuch abstattete, um ihrem
Vater und Carlos Argentino Daneri, ihrem älteren Bruder,
Guten Tag zu sagen, war das ein Akt der Höflichkeit, gegen
den nichts einzuwenden, ja der unumgänglich war. Abermals
würde ich in der Abenddämmerung in der vollgepfropften
Diele warten, wieder die vielerlei Gelegenheitsaufnahmen, die
es da von ihr gab, studieren: Beatriz im Profil, in Farben aus­
geführt; Beatriz mit Gesichtslarve beim Karneval im Jahre
19 2 1; Beatriz anläßlich ihrer ersten Kommunion; Beatriz am
Tage ihrer Vermählung mit Roberto Alessandri; Beatriz, kurz
nach ihrer Scheidung, bei einem Frühstück im Reitclub; Bea­
triz in Quilmes, mit Delia San Marco Porcel und Carlos Ar-
.66
gentino; Beatriz mit dem Pekineserhündchen, das ihr Villegas
Haedo verehrt hatte; Beatriz en face und im Dreiviertelprofil,
lächelnd, eine Hand am Kinn. Diesmal brauchte ich mein E r­
scheinen nicht mit bescheidentlichen Dedikationen von Bü­
chern zu rechtfertigen, Büchern, deren Seiten ich mit der Zeit
wohlweislich aufschnitt, um nicht Monate später zu erleben,
daß sie unangerührt geblieben waren.
Beatriz Viterbo starb 1929; von da an ließ ich keinen
dreißigsten April vorübergehen, ohne in ihrem Hause Wieder­
kehr zu halten. Ich kam gewöhnlich eine Viertelstunde nach
sieben und blieb etwa fünfundzwanzig Minuten; jedes Jahr
erschien ich ein bißchen später und blieb eine Weile länger;
im Jahre 193$ begünstigte mich ein sturzbachartiger Regen­
schauer; sie mußten mich zum Essen dabehalten. Natürlich
ließ ich diesen Präzedenzfall nicht ungenützt; im Jahre 1934
erschien ich, als es bereits acht geschlagen hatte, mit einer
Flasche Würzwein von Santa Fe und blieb mit aller Selbst­
verständlichkeit zum Essen. A u f solche Weise wurde ich an
schwermutvollen und von vereiteltem Liebesdrang bewegten
Jahrestagen nach und nach Empfänger der vertraulichen
Herzensergüsse von Carlos Argentino Daneri.
Beatriz war hochgewachsen, schmächtig und ganz wenig
nach vorne geneigt; in ihrem Gang lag (sofern das Oxymoron
zulässig ist) etwas wie graziöse Gehemmtheit, eine Spur von
Entrückung; Carlos Argentino ist rosig, kompakt, weißhaarig,
mit feinen Gesichtszügen. E r versieht irgendeine untergeord­
nete Tätigkeit in einer obskuren Bibliothek der südlichen V or­
stadtviertel; er ist herrisch, kommt aber doch zu nichts; bis
vor nicht langer Zeit benutzte er die Sonn- und Feiertage,
um daheimzubleiben. Nach Ablauf zweier Generationen
haben sich bei ihm noch das italienische j- und die reiche italieni­
sche Gebärdensprache erhalten. E r ist pausenlos in geistiger
Tätigkeit, die leidenschaftlich und sprunghaft und im Grunde
völlig nichtssagend ist. E r strotzt von unbrauchbaren Analo­
gien und von müßigen Skrupeln. E r hat (wie Beatriz) große
schöne spitz zulaufende Hände. Ein paar Monate lang war
67
er krankhaft besessen von Paul Fort, nicht so sehr seiner
Balladen wegen, als angesteckt von seiner Idee eines »unbe­
fleckten Ruhms«. »Er ist der Fürst unter den französischen
Dichtern«, wiederholte er selbstgefällig. »Du magst dich noch
so sehr gegen ihn sperren: auch der giftigste deiner Pfeile
wird ihn nie treffen.«
Am 30. April 1941 erlaubte ich mir, der Flasche Würz wein
einen einheimischen Cognak beizugesellen. Carlos Argentino
kostete ihn, fand ihn löblich und machte sich nach ein paar
Gläsern an eine Lobpredigt auf den modernen Menschen.
»Ich sehe ihn vor mir«, sagte er mit nicht ganz plausibler
Verve, »wie er in seinem Studierzimmer gleich einem Türmer
im Auslug einer Stadt haust, zur Hand Telefone, Telegrafen,
Fonografen, Radioapparate, Kinematografen, Laterna-Magicas,
Glossarien, Fahrpläne, Handbücher, Bulletins . . .«
Ich gab zu bedenken, daß für einen derart ausgerüsteten
Menschen das Reisen von keinem Nutzen mehr sei; unser
20. Jahrhundert hätte die Geschichte von Mohammed und dem
Berg umgedreht; heute liefen die Berge alle auf den modernen
Mohammed zu.
So nichtig dünkten mich diese Hirngespinste, so aufge­
bauscht und eitel die Art, wie er sie vorbrachte, daß ich sie
unmittelbar mit der Literatur in Beziehung setzte; ich sagte
zu ihm, warum er sie nicht niederschreibe. Wie vorauszusehen,
erwiderte er, das hätte er bereits getan; diese und ähnliche
nicht minder vorauseilende Sinnfiguren seien in dem Canto
Augural, dem Canto Prologal oder schlicht gesagt - dem
Canto-Prólogo einer Dichtung vertreten, an der er seit vielen
Jahren arbeite, ohne von sich reden zu machen, ohne ohren­
betäubendes Trara, immer nur gelehnt auf die beiden Stützen,
die da heißen Schaffen und Einsamkeit. Zunächst pflege er
seiner Phantasie freien Lauf zu lassen; dann setze er die Feile
an. Das Gedicht sei überschrieben: Die Erde; es gehe darin um
eine Beschreibung des Planeten, die es an pittoresken Abschwei­
fungen und kraftvollen Apostrophierungen gewiß nicht fehlen
lasse.
68
Ich bat ihn, mir eine Stelle, wenn auch nur eine kurze Stelle,
vorzulesen. E r zog eine Schublade seines Schreibtischs auf,
nahm ein Bündel Heftblätter heraus, die aufgedruckt den Stem­
pel der Biblioteca Juan Crisóstomo Lafinur trugen, und las mit
tönender Selbstgefälligkeit:

»Ich sah wie einst der Grieche der Menschen hohe


Städte,
Den Hunger, die Werke und Tage im Wechselschimmer,
Ich schminke nicht die Wahrheit, ich fälsche nicht die
Namen,
Und doch ist, die ich schildre, die Reise - um mein
Zimmer.«

»Eine in jeder Hinsicht interessante Strophe«, verbreitete er sich


lehrhaft. »Der erste Vers buhlt um den Beifall der Gelehrten,
der Akademiker, der Hellenisten, wenn nicht gar der Schön­
geister, die einen ansehnlichen Teil der literarischen Öffentlich­
keit ausmachen; im zweiten gehe ich von Homer zu Hesiod
über (so daß sich hier an der Stirnseite des poetischen Pracht­
gebäudes eine sinnig verkappte Huldigung an den Vater der
gesamten lehrhaften Dichtung findet), nicht ohne an einem
Kunstmittel vorbeizugehen, das sich ursprungsmäßig von der
Heiligen Schrift herleitet, nämlich der Aufzählung, der Häu­
fung oder Ballung; der dritte Vers - barockisierender Paralle­
lismus, Dekadentismus, reinheitsfanatischer Kult der Form? -
ist aus zwei gleichgebauten Halbversen gebildet; der vierte,
mit seiner Anspielung auf einen berühmten französischen Titel,
wird mir die ungeteilte Zustimmung all jener Geister eintragen,
die noch für die leichtgeschürzten Neckereien der komischen
Muse empfänglich sind. Den seltenen Reim will ich gar nicht
erst erwähnen, ebensowenig die Einführung der Themen, die
es mir - ohne in Pedanterie zu verfallen - erlaubt, in vier Versen
drei Anspielungen unterzubringen, die dreißig Jahrhunderte
gedrängter Literaturgeschichte umfassen; die erste auf die
Odyssee, die zweite auf >Werke und Tage<, die dritte auf das
69
unsterbliche Seitenstück, das wir der müßigen Feder des Savoy-
arden verdanken . . . Ich lerne wieder einmal verstehen, daß
die moderne Kunst nach dem Balsam des heiteren Gelächters,
nach dem Scherzo verlangt. Ganz gewiß hat das Wort Gol-
doni!«
Noch viele weitere Strophen las er mir vor, die ihn nicht
minder zu lobender Selbstbestätigung und verschwenderischen
Erläuterungen verlockten. Bemerkenswertes stand in keiner;
auch waren sie, soviel ich beurteilen konnte, nicht viel schlech­
ter als die vorangehende. An seinem Stil hatten Beflissenheit,
Unvermögen und Zufall gleichen Anteil; die poetischen Quali­
täten, die ihm Daneri nachsagte, waren hinterher aufgesetzt.
Ich lernte einsehen, daß die eigentliche Arbeit des Dichters
nicht im Dichten besteht, sondern vielmehr darin, Gründe zu
erfinden, die ihn berechtigen, seine Leistung für großartig zu
halten; natürlich gewann durch diese nachträgliche Arbeit das
Werk in seinen Augen, doch nicht in den Augen anderer.
Daneris mündliche Wiedergabe war übrigens originell; leider
verbot ihm seine Ungeschicklichkeit in der Metrik, sie - von
ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen - auch ins Gedicht
hineinzunehmen1.
Ein einziges Mal in meinem Leben ward mir Gelegenheit,
die 1 5 ooo Zwölfsilbler des »Polyolbion« durchzuackern, jenes
topographischen Epos, in dem Michael Drayton die Fauna, die
Flora, die Gewässer- und Gebirgskunde, die Militär- und
Mönchsgeschichte Englands versifiziert hat; ich kann bezeu­
gen, daß dieses ansehnliche, wenn auch immer noch einge­
schränkte Produkt weniger langweilig ist als das ähnlich ge­
artete Riesenunternehmen von Carlos Argentino Daneri. Ging
er doch darauf aus, den Planeten in seinem Gesamtumfang

1 Ich erinnere mich jedoch an folgende Verszeilen einer Satire, in der er mit herbem Spott die
schlechten Dichter geißelte:
»D er eine leiht als Kriegsschm uck dem Poem
Gelehrte Bildung; jener läßt es prunkvoll klingen.
Vergeblich regen beide, ach, die lächerlichen Schwingen.
Vergaßen sie, die Toren, doch den U m stand: SC H Ö N .«
N ur die Furcht, eine Heerschar unversöhnlicher und mächtiger Feinde wider sich aufzurufen, rie*
ihm (wie er mir sagte) davon ab, das Gedicht unerschrocken zu veröffentlichen.

70
poetisch zu verarbeiten; im Jahr 1941 war er bereits mit einigen
Hektar des Staates Queensland fertig, hatte er mehr als einen
Kilometer vom Lauf des Ob hinter sich gebracht, einen Gaso­
meter im Norden von Veracruz, die hauptsächlichen Geschäfts­
häuser im Gemeindebezirk Concepción, das Landhaus von
Mariana Cambaceres de Alvear in der Straße Elfter September
in Belgrano und ein Türkisches Bad unweit des berühmten
Aquariums von Brighton in Versen aufgenommen. E r las mir
ein paar recht mühsame Stellen der australischen Zone seiner
Dichtung vor; diese ausgewalzten, formlosen Alexandriner
ließen den verhältnismäßig bewegten Gang der Eingangsverse
vermissen. Ich gebe eine Strophe wieder:

Man höre. Am langwierigen Gezäun gleich rechter


Hand
(das heißt, natürlich, kommt man von Nordnordwest)
Zerquält sich Totengebein - die Farbe? Bleiweiß gepreßt
Und macht den Schafpferch wie ein Beinhaus bewandt.

»Zwei Kühnheiten!« schrie er jubelnd. »Ausgetüftelt, wirst du


brummen, um Effekt zu machen. Geb ich .zu, geb ich zu. Die
eine, das Beiwort >langwierig<, das en passant überaus treffend
die mit Weide- und Landarbeit unfehlbar verknüpfte Lange­
weile zum Ausdruck bringt, die weder die >Georgica< noch
unser Poeti laureatus Don Segundo je so unverblümt heraus­
zustellen gewagt haben. Die andere: der kraftvolle Prosaismus
>zerquält sich Totengebein <, den das blumige Genre mit A b­
scheu tilgen würde, den aber die Kunstrichter einer markigen
Geschmacksrichtung über alles stellen werden. Im übrigen ist
der ganze Vers wie auf der Goldwaage abgewogen. Der zweite
Halbvers zieht den Leser aufs lebhafteste ins Gespräch, kitzelt
seine Neugier, legt ihm eine Frage in den Mund, beantwortet
sie . . . und zwar Schlag auf Schlag. Und was sagst du zu mei­
nem poetischen Fund: Bleiweiß gepreßt? Diese malerische Neu­
bildung suggeriert den Himmel, der für die australische Land­
schaft so hochbedeutsam ist. Ohne diese Beschwörung enthielte
71
die Skizze ein Übermaß an düsteren Farbtönen, und der Leser
sähe sich gezwungen, den Band zu schließen, in innerster Seele
vom Stachel unheilbarer Dunkelschwermut verletzt.«
Gegen Mitternacht verabschiedete ich mich.
Am übernächsten Sonntag rief mich Daneri telefonisch an;
ich glaube, zum erstenmal im Leben. E r machte mir den V or­
schlag, wir wollten uns um vier Uhr treffen, um gemeinsam
ein Glas Milch zu trinken, und zwar in der Bar an der Ecke,
deren Eröffnung wir der Geschäftstüchtigkeit von Zunino und
Zungri - »der Eigentümer meines Hauses, wie du weißt« - zu
danken haben; »ein Etablissement, das du unbedingt kennen­
lernen mußt.« Ich nahm an, nicht gerade begeistert, sondern in
mein Schicksal ergeben. Wir hatten Mühe, einen Tisch zu fin­
den; die Salon-Bar, unerbittlich modern gehalten, blieb nur
wenig unter meinen schlimmsten Befürchtungen; an den Nach­
bartischen erörterten die Gäste erregt die Summen, die Zunino
und Zungri, ohne zu feilschen, investiert hatten. Carlos Argen­
tino tat so, als sei er platt über irgendwelche Errungenschaften
der elektrischen Beleuchtungsanlage (die er gewiß nicht zum
erstenmal bemerkte), und sagte zu mir mit strengem Nach­
druck : »Du wirst, wenn auch widerstrebend, zugeben müssen,
daß sich das Lokal hier mit den ausgespitztesten in Flores
messen kann.«
Daraufhin las er mir vier oder fünf Seiten des Gedichts zum
zweitenmal vor. E r hatte es, dem ausschweifenden Grundsatz
schierer Wortbildungsprahlerei folgend, überarbeitet. Wo vor­
her »blau« gestanden hatte, wimmelte es jetzt von »blauend«,
»blaulicht«, ja sogar von »azürlich«. Das Wort »milchig« war
ihm noch nicht häßlich genug; die schwungvolle Schilderung
einer Wollwäscherei ließ ihn »milchen«, »molkig«, »sattmol-
ken«, »gemolkt« den Vorzug geben . . . Er verfuhr bitter mit
den Kritikern; dann setzte er sie, gnädiger gestimmt, mit Men­
schen in Vergleich, »die weder über Edelmetalle noch über
Dampfpressen, Klärvorrichtungen und Kupfersäure verfügen,
um Goldschätze auszuprägen, die jedoch den anderen den Ort
zeigen können, wo ein Schatz verborgen liegt«. Im selben
7^
Atem rügte er die Vorwortsucht, »über die sich bereits in sei­
nem köstlichen Vorwort zum Don Quijote der >Principe de los
Ingeniös < lustig gemacht hat«. E r räumte jedoch ein, daß zur
Charaktermaske des neuartigen Werkes der aufsehenerregende
Prolog gehöre, als Namenszug gleichsam, der die Klaue des
federführenden Löwen auf Anhieb erkennen läßt. E r setzte
hinzu, daß er die einleitenden Gesänge seiner Dichtung zu ver­
öffentlichen gedenke. Erst da schwante mir die geheime Absicht
seiner telefonischen Einladung; der Mann war drauf und dran,
mich zu bitten, für sein pedantisches Kauderwelsch eine Ein­
führung zu schreiben. Meine Furcht war jedoch unbegründet.
Carlos Argentino äußerte, er glaube nicht, daß er sich im Bei­
wort täusche, wenn er seinen R uf in allen Schichten gefestigt
nenne, und zwar dank Alvaro Melian Lafinur, einem literarisch
gebildeten Manne, der, sofern ich mich für seine Dichtung
einsetze, ihr ein rühmendes Geleitwort mitgeben werde. Um
einem Fehlschlag, der ganz und gar unverzeihlich wäre, vorzu­
beugen, brauche ich mich nur zum Wortführer zweier unum­
stößlicher Verdienste zu machen: der formalen Vollkommen­
heit und der wissenschaftlichen Exaktheit, »insofern dieser
weitläufige Garten poetischer Wendungen, Figuren und Zie­
raten nicht die geringste Einzelheit duldet, die nicht vor der
strengen Wahrheit bestehen kann«. Er setzte hinzu, Beatriz
habe sich mit Alvaro immer gut verstanden.
Ich sagte zu, sagte überströmend zu. Ich erklärte, um meine
Bereitschaft in ein noch wahrscheinlicheres Licht zu rücken,
daß ich nicht am Montag, sondern schon am Donnerstag mit
Alvaro sprechen wolle; bei Gelegenheit des kleinen Abend­
essens, das jede Versammlung des Schriftstellerclubs zu krönen
pflege. (Von einem solchen Abendessen konnte keine Rede
sein, doch finden die Versammlungen nachweislich am Don­
nerstag statt, ein Umstand, von dem Carlos Argentino Daneri
sich an Hand der Tagespresse überzeugen konnte und der mei­
ner Aussage einen gewissen Grad von Wirklichkeit lieh.) Ich
sagte, halb ahnungsvoll, halb mit kritischem Scharfblick, daß
ich nicht gleich von der Einführung, sondern zunächst von der
73
wunderlichen Anlage seines Werks sprechen wolle. Damit ver­
abschiedeten wir uns; als ich in die Bernardo de Irigoyen ein­
bog, faßte ich völlig unparteiisch die möglichen Zukunftsaus­
sichten ins Auge: a) mit Alvaro sprechen und ihm sagen, daß
der älteste Bruder der auch ihm seinerzeit bekannten Beatriz
(dieser Euphemismus gab mir ein Recht, ihren Namen auszu­
sprechen) ein Gedicht zusammengeschrieben habe, das die
Grenzen der Kakophonie und des Durcheinander ins Unabseh­
bare zu erweitern verspreche; b) nicht mit Alvaro sprechen.
Ich sah mit hellseherischem Blick voraus, daß meine Trägheit
sich für b) entscheiden würde.
Am Freitag versetzte mich das Telefon von Stunde zu Stunde
in ängstliche Spannung. Ich war empört, daß dieser Apparat,
den einst die unwiederbringliche Stimme von Beatriz durchtönt
hatte, so tief hatte sinken können, die nutzlosen und vielleicht
sogar ergrimmten Anklagen dieses verblendeten Carlos Argen­
tino Daneri aufzunehmen. Glücklicherweise erfolgte nichts -
außer daß sich bei mir unvermeidlich Groll einnistete, als der
Mann, der mir eine delikate Mission anvertraut hatte, nichts
mehr von sich hören ließ.
Das Telefon verlor für mich seine Schrecken, jedoch gegen
Ende Oktober rief Carlos Argentino mich an. E r war in höch­
ster Erregung; zuerst erkannte ich überhaupt nicht seine
Stimme. In gramvollem Zorn stammelte er hervor, daß diese
schon über alle Ufer schwellenden Zunino und Zungri unter
dem Vorwand, sie müßten ihr hypermodernes Lokal erweitern,
sein Haus abreißen wollten. »Das Haus meiner Väter, mein
Haus, das alteingesessene Haus in der Calle Garay«, psalmo-
dierte er, vielleicht um sich durch die Klangmelodie über den
Kummer hinwegzubringen.
Es kostete mich keine Mühe, seine Betrübnis zu teilen. Wenn
man die Vierzig hinter sich hat, wird jede Veränderung zum
Symbol der unaufhaltsam verrinnenden Zeit; überdies ging es
hier um das Haus, das mich tausendfältig an Beatriz gemahnte.
Ich wollte diese hauchzarte Nuance zum Ausdruck bringen:
mein Gesprächspartner hörte mich gar nicht an. E r sagte: soll-
74
ten Zunino und Zungri auf ihrem sinnwidrigen Vorhaben be­
stehen, würde Doktor Zunni, sein Rechtsanwalt, ipso facto
eine Klage auf Schädigung und Verunglimpfung erheben und
sie zwingen, 100000 Zigarren herauszurücken.
Der Name Zunni machte mir Eindruck; seine Kanzlei in
Caseros y Tacuari ist von sprichwörtlicher Gediegenheit. Ich
fragte, ob er den Fall bereits übernommen habe. Daneri sagte,
er wolle noch an diesem Abend mit ihm sprechen. E r wurde
unsicher und sagte mit jener glatten unpersönlichen Stimme,
die wir anzunehmen pflegen, wenn es sich um etwas sehr Per­
sönliches handelt, daß er, um das Gedicht zu Ende zu führen,
das Haus unbedingt brauche, da es in einem Winkel des Keller­
geschosses ein Aleph hätte. Er fügte zur Erklärung hinzu, das
Aleph sei einer jener Punkte des Raums, in dem alle Punkte
zusammenträfen.
»Es befindet sich im Keller unter dem Eßzimmer«, erklärte
er mit angstbeflügeltem Ton, »es gehört mir, es gehört mir;
ich habe es als Kind entdeckt, bevor ich in die Schule kam. Die
Treppe in den Keller ist steil, meine Onkel hatten mir streng
verboten hinunterzusteigen, aber jemand hatte behauptet, im
Keller sei ein Allerweltsding. E r meinte, wie ich später erfuhr,
einen Reisekofler; ich jedoch nahm an, es sei da wirklich eine
Welt. Ich stieg heimlich hinunter, rutschte auf der verbotenen
Treppe aus, fiel hin. Als ich die Augen aufschlug, sah ich das
Aleph.«
»Das Aleph?« wiederholte ich.
»Ja, der Ort, an dem, ohne daß sie ineinander übergingen,
alle Orte des Erdkreises versammelt sind, von allen Blickwin­
keln aus gesehen. Ich habe von meiner Entdeckung zu nie­
mandem gesprochen, aber ich bin wieder dorthin gegangen.
Der Knabe konnte noch nicht wissen, daß ihm diese Gunst
zuteil wurde, damit dereinst der Mann das Gedicht meißeln
sollte. Zunino und Zungri werden mich nicht ausplündern,
nein und tausendmal nein. Mit der Hand auf dem Gesetzbuch
wird Doktor Zunni den Beweis antreten, daß mein Aleph un­
veräußerlich ist.«
75
Ich versuchte, ihm vernünftig zuzureden:
»Aber - ist der Keller nicht sehr dunkel?«
»Die Wahrheit dringt nicht in ein widerspenstiges Hirn.
Wenn alle Orte der Welt im Aleph sind, dann müssen hier auch
alle Leuchten, alle Lampen, alle Quellen des Lichts versammelt
sein.«
»Ich werde es mir auf der Stelle ansehen.«
Ehe er eine Widerrede äußern konnte, legte ich den Hörer
auf. Das Wissen um eine Tatsache reicht hin, uns im Verhalten
eines Menschen eine Reihe bestätigender Züge, die uns vorher
nicht aufgefallen sind, wahrnehmen zu lassen; ich wunderte
mich, daß ich bis zu diesem Augenblick nicht darauf gekom­
men war, daß ich in Carlos Argentino einen Verrückten vor
mir hatte. Mit allen diesen Viterbo hatte es übrigens nicht ge­
stimmt . . . Beatriz (ich sage es mir immer wieder vor) war eine
Frau, ein kindliches Geschöpf von geradezu unbarmherzigem
Scharfblick; und doch kamen bei ihr auch Versehen, Zerstreut­
heiten, Versäumnisse, ja regelrechte Grausamkeiten vor, die
sich eigentlich nur pathologisch erklären lassen. Daß Carlos
Argentino verrückt war, erfüllte mich mit boshafter Wonne;
im Grunde hatten wir uns von jeher nicht ausstehen können.
In der Calle Garay bat mich das Dienstmädchen, ich möchte
so gut sein und einen Augenblick warten. Der Kleine hielt sich
wie immer im Keller auf und entwickelte fotografische Plat­
ten. Zur Seite der großen Tonvase, die keine einzige Blume
schmückte, lächelte auf dem Piano in grellen Farben (nicht so
sehr unzeitgemäß als zeitlos) das große Porträt von Beatriz.
Niemand konnte uns sehen, mit liebevoller Verzweiflung trat
ich auf das Bild zu und sagte zu ihm:
»Beatriz, Beatriz Elena, Beatriz Elena Viterbo, geliebte Bea­
triz, auf immer verlorene Beatriz, ich bin es, ich - Borges.«
Eine kleine Weile später trat Carlos ein. Er sprach in trocke­
nem Ton; ich sah ein, daß er außerstande war, an etwas anderes
als den drohenden Verlust des Aleph zu denken.
»Ein Gläschen von dem falschen Cognak«, rief er befehls­
haberisch, »dann sollst du die Nase in den Keller stecken. Ich
76
habe dir schon gesagt: ohne Rückgratverkrümmung geht es
nicht ab. Auch die Dunkelheit, die Reglosigkeit, eine gewisse
Anpassung des Auges sind unerläßlich. Du legst dich rücklings
auf den Fließenboden und heftest den Blick auf die neunzehnte
Sprosse der betreffenden Treppenleiter. Ich gehe fort, schlage
die Falltüre zu, und du bleibst allein. Solltest du vor irgend­
einem Nagetier Angst haben - das macht nichts. Binnen weni­
ger Minuten erblickst du das Aleph, den Mikrokosmos der
Alchimisten und Kabbalajünger, den Gottseibeiuns in leibhaf­
ter Gestalt, das multum in parvo.«
Wir waren bereits im Eßzimmer, als er hinzusetzte: »Es ver­
steht sich von selbst, daß, falls du es nicht siehst, deine Un­
fähigkeit mein Zeugnis keineswegs entkräftet . . . Geh hinun­
ter; binnen kürzester Frist wirst du mit allen Bildern von Bea­
triz Zwiesprache halten können . . .«
Ich stieg rasch hinunter, überdrüssig seiner haltlosen Rede­
reien. Das Kellergeschoß, kaum breiter als die Treppe, hatte
große Ähnlichkeit mit einem Brunnenschacht. Vergeblich suchte
mein Blick den Koffer, von dem Carlos Argentino gesprochen
hatte. Ein paar Kisten mit Flaschen und ein paar Leinwand­
säcke waren in einer Ecke gestapelt. Carlos ergriff einen Sack,
faltete ihn zusammen und legte ihn an eine bestimmte Stelle.
»Das Deckenpolster ist armselig«, erklärte er, »doch würde
ich es nur um einen Zentimeter anheben, so sähest du keinen
Pfifferling und müßtest verärgert und beschämt von hinnen
ziehen. Bequeme deine leibliche Fracht hier auf den Boden und
zähle neunzehn Sprossen ab.«
Ich entsprach seinen lächerlichen Vorschriften; endlich ging
er. Behutsam schloß er die Falltür über mir; die Finsternis
dünkte mich vollkommen, trotz einer Ritze, die ich erst später
entdeckte. A u f einmal begriff ich die Gefahr, in der ich mich
befand; von einem Verrückten hatte ich mich lebendig begra­
ben lassen, nachdem er mir Gift verabreicht hatte. Aus Carlos’
prahlerischen Reden sprach die heimliche Angst, ich könnte die
Wundererscheinung nicht sehen; Carlos, bestrebt, an seinem
Wahn festzuhalten, die Verrücktheit vor sich selber zu leug­

77
nen, konnte gar nicht anders: er mußte mich umbringen. Ich emp­
fand ein dumpfes Unbehagen, das ich auf meine versteifte Hal­
tung und nicht auf die Wirkung irgendeines Giftes zu schieben
bemüht war. Ich schloß die Augen, tat sie wieder auf. Da er­
blickte ich das Aleph.
Hiermit komme ich zum unaussprechlichen Kernpunkt mei­
ner Geschichte; und hiermit hebt auch für den Schriftsteller
das Verzweiflungsvolle seiner Aufgabe an. Alles, was sich Spra­
che nennt, ist ein Alphabet aus symbolischen Zeichen, deren
Verwendung die Teilnahme der Sprechenden an einer Vergan­
genheit voraussetzt; wie aber soll man anderen das unendliche
Aleph mitteilen, wenn es meine schaudernde Erinnerung kaum
zu fassen vermag? Die Mystiker helfen sich aus einer ähnlichen
Klemme, indem sie, um die Gottheit zu bezeichnen, in Sym­
bolen schwelgen. So spricht der Perser von einem Vogel, der
gewissermaßen alle Vögel in sich faßt; Alanus ab Insulis von
einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang
nirgends ist; Ezechiel von einem Engel mit vier Gesichtern,
die er gleichzeitig nach Osten und Westen, nach Norden und
Süden kehrt. (Nicht umsonst rufe ich diese unbegreiflichen
Analogien in Erinnerung; sie stehen mit dem Aleph in einem
gewissen Zusammenhang.) Vielleicht würden auch mir die
Götter den Fund eines einschlägigen Bildes nicht versagen, und
doch müßte dieser Art der Wiedergabe etwas Literarisches,
etwas Falsches anhaften. Im übrigen ist das Kernproblem nicht
zu lösen: nämlich die Aufzählung, sei es auch nur die teilweise
Aufzählung eines unendlichen Insichganzen. In jenem alles
überragenden Augenblick habe ich Millionen herzerfreuender
und gräßlicher Vorgänge gesehen; am meisten war ich darüber
erstaunt, daß sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne sich
zu überdecken oder durchzuscheinen. Was meine Augen schau­
ten, war im Raum und in der Zeit gleich; ich kann es nur als
Nacheinander wiedergeben, weil die Sprache so beschaffen ist;
doch etwas davon will ich festhalten.
Im unteren Teil der Treppenstufe, ein Stück weit rechts, sah
ich einen kleinen regenbogenfarbenen Kreis von fast unerträg­
78
licher Leuchtkraft. Anfangs glaubte ich, er schwinge um sich
selbst; nachher begriff ich, daß die schwindelmachende Fülle
dessen, was sichtbar in ihm vorging, an dieser Täuschung
schuld war. Im Durchmesser mochte das Aleph zwei oder drei
Zentimeter groß sein, aber der kosmische Raum war ohne
Schmälerung seines Umfangs in ihm versammelt. Jedes Ding
(etwa wie die Scheibe des Spiegels) war eine Unendlichkeit
von Dingen, da ich sie deutlich von allen Punkten des Welt­
alls aus erblickte. Ich sah das bewegte Meer, ich sah Morgen-
und Abendröte, ich sah die Menschenmassen Amerikas, ich sah
ein versilbertes Spinngewebe inmitten einer schwarzen Pyra­
mide, ich sah ein aufgebrochenes Labyrinth (das war London),
ich sah unzählige ganz nahe Augen, die sich in mir wie in
einem Spiegel ergründeten, ich sah alle Spiegel des Planeten,
doch warf keiner mich zurück, ich sah in einem Durchgang der
Calle Soler dieselben Fliesen, die ich vor dreißig Jahren im
Flur eines Hauses in Fray Bentos sah, ich sah Wurzelgeflecht,
Schnee, Tabak, Metalladern, Wasserdampf, ich sah aufgewölbte
Wüsten am Äquator und jedes einzelne Sandkorn darin, ich
sah, nie zu vergessen, in Inverness eine Frau, sah das unge­
stüme Haar, den stolz aufgerichteten Körper, sah eine Krebs­
geschwulst in der Brust, sah einen kreisförmigen Ausschnitt
trockenen Bodens auf einem Waldweg, wo vordem ein Baum
gestanden hatte, sah in einem Landhaus von Adrogue ein
Exemplar der ersten englischen Pliniusübersetzung, verfaßt
von Philemon Holland, sah gleichzeitig jeden einzelnen Buch­
staben auf jeder Seite (als Kind wunderte ich mich immer, daß
die Lettern in einem geschlossenen Buch nicht durcheinander
geraten und sich verirren), ich sah die Nacht und den Tag
gleichzeitig, ich sah einen Sonnenuntergang in Queretaro, der
die Farbe einer Rose von Bengalen widerzustrahlen schien, ich
sah mein Schlafzimmer und niemanden darin, ich sah in einem
Kabinett in Alkmaar einen Erdglobus zwischen zwei Spiegeln,
die ihn endlos vervielfältigten, ich sah Pferde mit zerstrudelter
Mähne in der Morgenfrühe auf einem Strand am Kaspischen
Meer, ich sah das feingliedrige Skelett einer Hand, sah die

79
Überlebenden einer Schlacht, wie sie Postkarten nach Hause
schrieben, sah in einem Schaufenster von Mirzapur ein spani­
sches Kartenspiel, sah die schrägen Schatten von Farnen am
Boden eines Gewächshauses, sah Tiger, Dampfkolben, Bisons,
Sturzfluten und Heereszüge, sah alle Ameisen, die es auf Erden
gibt, sah ein persisches Astrolabium, sah in einer Schublade
des Schreibtisches (und beim Anblick der Handschrift erbebte
ich) unanständige, unglaubliche, unzweideutige Briefe von Bea­
triz an Carlos Argentino, sah ein Andachtsmal in der Chacarita,
sah den furchtbaren leiblichen Überrest der ehemals so köst­
lichen Beatriz Viterbo, sah den Kreislauf meines dunklen Blu­
tes, sah das ineinandergreifende Triebwerk der Liebe und die
langsame Entstellung des Todes, sah das Aleph aus allen Punk­
ten zugleich, sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals
das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Antlitz und meine
Eingeweide, sah dein Antlitz, empfand Schwindel und weinte,
weil meine Augen diesen verborgenen gemutmaßten Gegen­
stand erschaut hatten, auf dessen Namen die Menschen An­
spruch erheben, den aber kein Mensch je geschaut hat: das
unfaßliche Weltall.
Ich fühlte unendliche Verehrung, unendliches Bedauern.
»Der K op f muß dir schwirren von alldem, was du unberufen
ausspioniert hast«, sagte eine unleidliche begönnernde Stimme.
»Wenn du dir auch das Gehirn ausschwitzt: nicht in einem
Jahrhundert wirst du mir diese Offenbarung heimzahlen kön­
nen. Was für ein sagenhaftes Observatorium, he, Borges?«
Die Füße von Carlos Argentino standen auf der obersten
Treppenstufe. Im jäh hereingebrochenen Dämmerlicht brachte
ich es fertig, mich aufzuraffen und zu stammeln: »Sagenhaft,
ja, - sagenhaft!«
Der gleichgültige Klang meiner Stimme befremdete mich.
Ängstlich gespannt, beharrte Carlos Argentino auf seiner Fra­
ge: »Hast du auch alles richtig gesehen, in Farben?«
In diesem Augenblick nahm ich meine Rache wahr. Wohl­
wollend, betont mitleidig, nervös, ausweichend sprach ich Car­
los Argentino meinen Dank für die Gastfreundlichkeit in sei-
80
nem Keller aus und legte ihm dringend nahe, den Abbruch
seines Hauses zu benutzen, um sich von der verderblichen
Hauptstadt eine Weile zu entfernen, die keinen - »glaub es
mir!« - die keinen ungestraft läßt. Ich sträubte mich mit sanf­
tem Nachdruck wider jede Erörterung des Aleph; ich umarmte
ihn beim Abschied und sagte noch einmal zu ihm, daß Land­
luft und Gelassenheit zwei vortreffliche Arzte seien.
A u f der Straße, auf den Treppenstufen der Constitución, in
der Untergrundbahn kamen mir alle Gesichter bekannt vor.
Ich fürchtete, daß kein Ding mehr imstande sei, mich zu über­
raschen, ich fürchtete, nie mehr den Eindruck von Wiederkehr
loszuwerden. Glücklicherweise überfiel mich nach ein paar
schlaflosen Nächten wiederum das Vergessen.

Nachschrift vom 1. März 194$. - Sechs Monate nachdem das


Wohnhaus in der Calle Garay abgerissen worden war, lancierte
das Verlagshaus Procrustes, ohne sich von der Länge der statt­
lichen Dichtung abschrecken zu lassen, eine Auswahl »Argen­
tinischer Stücke«. Was dann geschah, sei hier noch einmal ver­
zeichnet; Carlos Argentino Daneri erhielt den Zweiten Natio­
nalpreis für Literatur1 ; der Erste wurde Doktor Aita zugespro­
chen, der Dritte Doktor Mario Bonfanti; unverständlicherweise
entfiel auf mein Werk »Die Würfel des Spielers« keine einzige
Stimme. Wieder einmal trugen Unverständnis und Neid den
Sieg davon. Schon seit langem sehe ich Daneri nicht mehr. Die
Zeitungen stellen in Kürze das Erscheinen eines weiteren Ban­
des in Aussicht. Seine glückliche Feder (der jetzt kein Aleph
mehr im Wege steht) hat sich der Aufgabe zugewandt, die
Stoffsammlungen von Doktor Acevedo Diaz in Verse zu brin­
gen.
Zwei Bemerkungen will ich noch anfügen; eine über das
Wesen des Aleph, die andere über seinen Namen. Es ist dieser
bekanntlich der erste Buchstabe des Alphabets der heiligen
1 »Deinen gewundenen Glückw unsch habe ich erhalten«, schrieb er mir. »Aufwallungen, mein
beklagenswerter Freund, des puren N eides; aber D u wirst zugeben müssen, auch wenn D u daran
erstickst, daß ich diesmal an meinen Hut die flammendste Feder stecken, meinen Turban mit dem
strahlendsten Rubin krönen konnte.«
Sprache. Seine Anwendung auf den Zirkel meiner Geschichte
erfolgt nicht von ungefähr. In der Kabbala bezeichnet dieser
Buchstabe das En Soph, die unbegrenzte und lautere Gottheit;
auch wurde gesagt, daß das Aleph die Gestalt eines Menschen
hat, der auf Himmel und Erde zeigt, um anzudeuten, daß die
untere Welt Spiegel und Kartenbild der oberen ist; in der
Mengenlehre ist es das Zeichen für die transfiniten Zahlen, bei
denen das Ganze nicht größer ist als irgendeines seiner Teile.
Ich möchte wissen: hat Carlos Argentino diesen Namen eigens
erwählt oder hat er ihn als Bezeichnung eines anderen Punktes,
in dem alle Punkte Zusammentreffen, in irgendeinem der zahl­
losen Texte gelesen, die ihm das Aleph seines Hauses enthüllte?
So unglaublich die Sache erscheinen mag: ich glaube, daß es
ein anderes Aleph gibt (oder gab), ich glaube, daß das Aleph
in der Calle Garay ein falsches Aleph war.
Ich belege meine Annahme mit Gründen. Um das Jahr 1867
hatte Hauptmann Burton in Brasilien das Amt eines britischen
Konsuls inne; im Juli 1942 entdeckte Pedro Henriquez Ureña
in einer Bibliothek in Santos ein Schriftstück von seiner Hand,
das von dem Spiegel handelte, den man im Orient Iskandar Zu
al Kanayin oder Alexander von Mazedonien zuschreibt. In sei­
nem Kristall spiegelte sich die gesamte Welt. Burton kommt
auf andere ähnlich geartete Zaubergebilde zu sprechen: auf
den siebenfachen Kelch von Kai Josru, auf den Spiegel, der von
Tarik Benzejad in einem Turm gefunden wurde (1001 Nacht,
272), auf den Spiegel, den im Mond zu erblicken Luciano de
Samosata vergönnt war (Historia Verdadera, I, 26), auf die
Spiegellanze, die das erste Buch des Satiricon von Capella dem
Jupiter zuschreibt, auf den Weltenspiegel Merlins (»rund und
hohl und gleich einer Welt aus Glas gebildet«, Fairie Queen,
III, 2, 19) - und er schließt die folgenden merkwürdigen Worte
an: »Die vorstehend erwähnten jedoch - ganz abgesehen von
dem Fehler, daß es sie nicht gibt - sind bloße Werkzeuge der
Optik. Die Gläubigen, die sich in der Moschee von Amr ver­
sammeln, wissen ganz genau, daß die Welt im Innern einer der
Steinsäulen ist, die den Haupthof einfassen . . . Niemand kann
82
sie natürlich sehen, aber wer das Ohr an ihre Oberfläche legt, der
vernimmt alsbald ihr geschäftiges Brausen. So wird erklärt. . .
Die Moschee stammt aus dem siebenten Jahrhundert; die
Säulen hingegen gehören einer anderen Religion an, die wider
den Islam gerichtet war, denn wie bei Abenjaldun zu lesen
steht, ist >in den Staatswesen, die von Nomaden gegründet
werden, das Hinzuziehen von Fremden in allem, was das Mau­
rerhandwerk angeht, unumgänglich<.«
Ist das Aleph vorhanden im Innersten eines Steins? Habe
ich dieses Innere gesehen, als ich alle Dinge sah, und habe es
dann wieder vergessen? Unser Geist ist durchlässig für das
Vergessen. Verfälsche und verliere ja ich selber infolge des tra­
gischen und abtragenden Zerstörungswerks der Zeit die Ge­
sichtszüge von Beatriz.
Für Estela Canto
Die Inschrift des Gottes

Der Kerker ist tief und aus Stein; seine Form eine beinahe
vollkommene Halbkugel, obzwar der Boden (der gleichfalls
aus Stein ist) sie hinter ihrem weitesten Umfang ein wenig Z u ­
rückbleiben läßt, was das Gefühl von bedrängender Räumlich­
keit noch erhöht. E r ist durchschnitten von einer Zwischen­
mauer; diese, obgleich sehr hoch, reicht doch nicht bis zum
oberen Teil der Wölbung; auf der einen Seite bin ich, Tzina-
cän, Magier der Pyramide von Qaholom, die Pedro de Alva-
rado in Brand steckte; auf der anderen Seite befindet sich ein
Jaguar, der lautlos mit gleichmäßigen Tritten Zeit und Raum
des Kerkers abmißt. Über dem Boden ist in die Zwischenmauer
ein mit Eisenstäben vergittertes Fenster gebrochen. Zur schat­
tenlosen Stunde (am Mittag) öffnet sich oben eine Falltüre,
und ein Wärter, den die Jahre allmählich verwischt haben, han­
tiert an einer Winde und läßt am Ende eines Seils Krüge mit
Wasser und Stücke Fleisch zu uns herab. Das Licht fällt in die
Wölbung; in diesem Augenblick kann ich den Jaguar sehen.
Die Zahl der Jahre, seit ich im Finstern liege, ist mir ent­
schwunden; ich, der ich einmal jung war und in diesem Ge­
fängnis umhergehen konnte, tue jetzt nichts mehr als in der
Stellung des Todes das Ende erwarten, das mir die Götter be­
stimmen. Mit dem tief grabenden Messer aus Feuerstein habe
ich den Opfern die Brust aufgerissen, doch heute könnte ich
mich ohne Magie nicht einmal aus dem Staub erheben.
Am Abend, bevor die Pyramide brannte, folterten mich die
Männer, die von hohen Pferden sprangen, mit glühenden Me­
tallen, damit ich ihnen die Stelle verriete, wo ein Schatz ver­
borgen liege. Sie stürzten vor meinen Augen das Idol des G ot­
tes, aber dieser wich nicht von mir, und ich blieb stumm unter
84
der Folter. Sie zerfetzten mich, zerbrachen mich, entstellten
mich, und dann erwachte ich in diesem Verlies, das ich in mei­
nem hiesigen Leben nicht wieder verlassen werde.
Im Drange verhängter Not irgend etwas zu tun, auf irgend­
eine Weise die Zeit auszufüllen, bestrebte ich mich, alles was
ich wußte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Ganze Nächte ver­
schwendete ich damit, Anordnung und Zahl von ein paar stei­
nernen Schlangen oder die Bildung eines heilkräftigen Baums
im Gedächtnis wiederzufinden. So überwand ich die Jahre, so
nahm ich in Besitz, was bereits mein eigen war. Eines Nachts
hatte ich das Gefühl, daß ich in die Nähe einer kostbaren E r­
innerung geriet; der Reisende, noch bevor er das Meer erblickt,
fühlt eine Erregung im Blut. Stunden später bekam ich die
Erinnerung allmählich in Sicht; es war eines der überlieferten
Vermächtnisse des Gottes. Dieser, in der Voraussicht, daß am
Ende der Zeiten viel Unheil und Vernichtung hereinbrechen
würden, schrieb am ersten Tage der Schöpfung einen Zauber­
spruch nieder, der die Kraft hatte, diese Übel zu bannen. Er
schrieb ihn auf eine Weise nieder, daß er zu den fernsten Ge­
schlechtern gelangen und der Zufall ihm nichts anhaben sollte.
Niemand weiß, an welchem Ort er ihn schrieb noch in welchen
Schriftzeichen, aber wir haben die Gewißheit, daß er im Ver­
borgenen fortwährt und daß ein Erkorener ihn lesen wird. Ich
bedachte, daß wir wie immer am Ende der Zeiten stünden und
daß mir auf Grund meines Schicksals, als letztem Priester des
Gottes, das Vorrecht zukomme, diese Schrift zu schauen. Daß
ich mich von einem Kerker umgeben sah, verwehrte mir nicht
diese Hoffnung; vielleicht hatte ich die Inschrift Qaholoms Tau­
sende von Malen gesehen und brauchte sie nur zu verstehen.
Dieser Gedanke belebte mich und versetzte mich alsbald in
eine Art von Taumel. Es gibt auf dem Erdenrund alte Formen,
unverwesliche und ewige Formen; irgendeine unter ihnen
mochte das gesuchte Sinnbild sein. Ein Berg konnte das Wort
des Gottes sein, oder ein Fluß oder das Reich oder das Bild der
Gestirne. Jedoch im Laufe der Jahrhunderte flachen sich die
Berge ab, der Lauf eines Flusses geht häufig einen anderen
85
Weg, und die Reiche erleiden Veränderungen und Verheerun­
gen, und das Bild der Sterne wandelt sich. Am Firmament
herrscht Wechsel; Berg und Stern sind Einzelwesen, und die
Einzelwesen gehen dahin. Ich suchte nach etwas Bleibenderem,
etwas Unverwundbarem. Ich dachte an die Geschlechter des
Korns, der Tiere auf der Weide, der Vögel, der Menschen.
Vielleicht stand in meinem Antlitz der Zauberspruch geschrie­
ben; vielleicht war ich selber das Ziel meiner Suche.
Als ich so rang, fiel mir ein, daß der Jaguar eines der Attri­
bute des Gottes ist.
Da füllte sich meine Seele mit Andacht. Ich stellte mir den
ersten Zeitenmorgen vor, ich sah in der Vorstellung meinen
Gott, wie er dem lebenden Fell der Jaguare seine Botschaft an­
vertraute, der Jaguare, die einander lieben und ohne Ende fort­
zeugen sollten, in Höhlen, im Röhricht und auf Inseln, damit
die letzten Menschen sie empfingen. Ich stellte mir dieses Tiger­
netz vor, dieses heiße Tigerlabyrinth, das Fluren und Herden
zum Schrecken ward, damit eine Zeichnung erhalten bliebe. In
der anderen Zelle befand sich ein Jaguar; daß er in meiner
Nachbarschaft weilte, nahm ich als eine Bestätigung meiner
Vermutung und als heimliche Gunst.
Viele Jahre verbrachte ich damit, die Anordnung und Zu­
sammenstellung des gefleckten Musters zu erlernen. Jeder
blinde Tag gewährte mir diesen einen lichten Augenblick; so
konnte ich mir die schwarzen Formen einprägen, die das gelb­
liche Fell überziehen. Einige schlossen sich um einen Punkt,
andere bildeten Querstreifen auf der Innenseite der Beine, an­
dere, ringförmige, kehrten wieder. Vielleicht waren sie der
gleiche Laut oder das gleiche Wort. Viele hatten rote Säume.
Von der Mühsal meiner Arbeit will ich nicht sprechen. Mehr
als einmal schrie ich in die Wölbung hinauf, es sei unmöglich,
diesen Text zu entziffern. Nach und nach beunruhigte mich das
handgreifliche Rätsel, das mich gefangenhielt, nicht so sehr wie
die Natur des Rätsels: ein Spruch, von einem Gott geschrieben.
Was für eine Art Spruch (fragte ich mich) kann wohl ein abso­
luter Geist zusammenfügen? Ich bedachte, daß es auch in der
86
Sprache der Menschen keinen einzigen Satz gibt, der nicht die
gesamte Welt zur Voraussetzung hat; sagt man »der Tiger«,
so sagt man zugleich die Tiger, die ihn zeugten, die Rehe und
Schildkröten, die er verschlang, die Weide, von der die Rehe
sich nährten, die Erde, deren Mutterschoß die Weide hervor­
brachte, der Himmel, von dem die Erde Licht empfing. Ich
bedachte, daß in der Sprache eines Gottes jedes Wort diese
unendliche Verkettung von Tatsachen aussprechen würde, und
zwar nicht implizit, sondern explizit, nicht nacheinander, son­
dern unmittelbar. Mit der Zeit dünkte mich der Begriff eines
göttlichen Spruches kindisch und lästerlich. Ein Gott, grübelte
ich, braucht nur ein Wort zu sagen und in diesem Wort die
ganze Fülle. Keine Äußerung, die er von sich gibt, kann gerin­
ger sein als das Weltall oder geringer als die Summe der Zeit.
Schatten oder Trugbilder dieser göttlichen Äußerung, die
gleichbedeutend ist mit der Sprache und mit dem, was die
Sprache irgend umfassen kann, sind die hochfliegenden und
erbärmlichen menschlichen Worte: All, Welt, Weltall.
Eines Tages oder während einer Nacht - was für ein Unter­
schied besteht denn zwischen meinen Tagen und meinen Näch­
ten? - träumte ich, auf dem Boden meines Kerkers läge ein
Sandkorn. Ich fiel aufs neue in Schlaf, ohne darauf zu achten,
und träumte, daß ich aufwachte und nun wären es zwei Sand­
körner. Ich schlief wieder ein und träumte, die Zahl der Sand­
körner hätte sich auf drei erhöht. So vermehrten sie sich fort
und fort, bis sie den Kerker anfüllten und ich unter dieser Halb­
kugel von Sand erstickte. Ich begriff, daß es ein Traum war;
mit aller Kraft weckte ich mich auf; das Aufwachen war ver­
gebens; der unzählbare Sand erstickte mich. Jemand sagte zu
m ir: Nicht %um Wachen bist du erwacht, sondern %u einem früheren
Traum. Dieser Traum ist in einem anderen Traum, und so bis ins
Unendliche, welches die Zahl der Sandkörner ist. D er Weg, den du
£urücklegen mußt, ist ohne Ende, und du wirst sterben, ehe du wahrhaft
aufgewacht bist.
Ich glaubte mich verloren. Der Sand zerquetschte mir den
Muiid, doch ich schrie: E in geträumter Sand kann nicht töten;
87
auch gibt es in Träumen keinen Traum. Ein Lichtschein weckte
mich auf. In der oberen Dunkelheit zeichnete sich ein Kreis
von Licht ab. Ich sah das Gesicht und die Hände des Wärters,
die Winde, das Seil, das Fleisch und die Krüge.
Ein Mensch verschmilzt allmählich mit der Gestalt seines
Schicksals; ein Mensch ist auf die Dauer mit seiner Lage gleich.
Nicht so sehr ein Entzifferer oder ein Rächer, nicht so sehr ein
Priester des Gottes war ich als ein Kerkerhäftling. Aus dem
unersättlichen Labyrinth der Träume fand ich zurück, fand ich
gleichsam heim zu dem harten Gefängnis. Ich segnete seine
Nässe, ich segnete den Tiger, ich segnete das Loch voll Licht,
ich segnete meinen alten, schmerzenden Leib, ich segnete die
Finsternis und den Stein.
Dann geschah das, was ich nicht vergessen, aber nicht mit-
teilen kann. Es geschah die Einigung mit der Gottheit, mit dem
Weltall (ich weiß nicht, ob zwischen diesen Worten ein Unter­
schied ist). Die Ekstase kennt keine Wiederholung ihrer Zei­
chen; der eine hat Gott in einem Strahlenglanz erblickt, der
andere in einem Schwert oder in den Kreisen einer Rose. Ich
sah ein himmelhohes Rad, das nicht vor meinen Augen, nicht
in meinem Rücken, nicht seitwärts, sondern allenthalben und
gleichzeitig war. Dieses Rad war aus Wasser gemacht, aber
auch aus Feuer, und es war (obwohl man den Rand sehen
konnte) unendlich. Ineinander verschlungen, half es alle die
Dinge bilden, die sein werden, die sind und die waren, und ich
war einer der Fäden dieses Allwirkenden, und Pedro Alvarado,
der mir die Folter zufügte, war ein anderer. Hier waren die
Ursachen und die Wirkungen, und ich brauchte nur dieses Rad
anzusehen, um alles zu begreifen, ohne Ende. O Seligkeit des
Begreifens! höher als die Seligkeit des Vorstellens und Empfin­
dens. Ich sah das Weltall und sah die verborgenen Pläne des
Weltalls. Ich sah den Ursprung, den das Buch vom Rat er­
zählt. Ich sah die Berge, die dem Wasser entstiegen, ich sah
die ersten Pfahlmenschen, ich sah die Kufen, die sich wider
die Menschen kehrten, sah die Hunde, die ihnen das Gesicht
zerfleischten. Ich sah den antlitzlosen Gott, der hinter allen
Göttern ist. Ich sah unzählige Vorgänge, die eine einzige
Wonne bildeten, und indem ich alles verstand, gelang es mir
auch, die Schrift des Tigers zu verstehen.
Es ist eine Formel aus vierzehn zufälligen Worten (die zu­
fällig aussehen), und ich brauchte sie nur laut zu sagen, so
wäre ich allmächtig. Ich brauchte sie nur zu sagen, und dieses
steinerne Verlies wäre nicht mehr, der Tag dränge in meine
Nacht, ich wäre jung, unsterblich, der Tiger zerfleischte Alva-
rado, ich tauchte das heilige Messer in die Brust der Spanier,
baute die Pyramide wieder auf, baute das Reich wieder auf.
Vierzig Silben, vierzehn Worte, und ich, Tzinacän, würde über
die Länder herrschen, über die Moctezuma herrschte. Aber
ich weiß, daß ich diese Worte nie sagen werde, weil ich mich
Tzinacäns schon nicht mehr entsinne.
Soll mit mir das Geheimnis sterben, das den Tigern ein­
geschrieben ist. Wer einen Blick ins Weltall getan, wer die
feurigen Muster des Weltalls geschaut hat, kann nicht eines
Menschen gedenken, seines nichtigen Glücks oder Unglücks,
sei dieser Mensch auch er selber. Dieser Mensch ist er selber
gewesen, nun liegt an ihm nichts mehr. Was liegt an dem Los
jenes anderen, was liegt an seinem Volk, wenn er jetzt niemand
ist? Darum spreche ich die Formel nicht aus. Darum lasse ich
die Tage meiner vergessen, ruhend im Dunklen.
Die Lotterie in Babylon

Wie alle Babylonier bin ich Prokonsul gewesen; wie alle


Sklave; auch habe ich die Allmacht, die Schande, den Kerker
kennengelernt. Seht her: an meiner rechten Hand fehlt der
Zeigefinger. Seht her: durch diesen Riß im Mantel sieht man
auf meinem Bauch eine rote Tätowierung; es ist das zweite
Schriftzeichen, Beth. Dieser Buchstabe verleiht mir in Voll­
mondnächten Gewalt über die Menschen, die mit Ghimel ge­
zeichnet sind, aber er unterstellt mich denen mit einem Aleph,
die in Neumondnächten jenen mit dem Ghimel willfahren müs­
sen. In der Morgendämmerung habe ich in einem unterirdi­
schen Gelaß vor einem schwarzen Stein heilige Stiere erdros­
selt. Für die Zeit eines Mondjahres hat man mir Unsichtbar­
keit zugesprochen; ich rief und bekam keine Antwort, ich stahl
Brot, und man köpfte mich nicht. Ich habe erfahren, wovon die
Griechen nichts wissen: die Ungewißheit. In einem bronzenen
Gemach, im Angesicht der stummen Tuchmaske des Würgers,
ist die Hoffnung an meiner Seite geblieben; im Strom der
Wonnen die Angst. Herakleides Ponticus erzählt bewundernd,
daß Pythagoras sich erinnerte, vordem Pyrrhon gewesen zu
sein und vordem Euforbos und davor irgendein anderer Sterb­
licher; um ähnlicher Wechselfälle zu gedenken, brauche ich
mich nicht an den Tod zu halten, auch nicht an Schwindelei.
Diese in gewissem Sinne grausame Vielseitigkeit verdanke
ich einer Einrichtung, die in anderen Gemeinwesen unbekannt
ist oder dort nur unvollkommen und geheim ihr Wesen treibt:
der Lotterie. Ihre Geschichte habe ich nicht erforscht, ich weiß
nur, daß die Magier über sie uneins sind; ich weiß von ihren
gewaltigen Vorhaben nur soviel, wie ein der Astrologie Un­
kundiger vom Mond wissen kann. Ich stamme aus einem
90
schwindelerregenden Land, in dem die Lotterie ein Haupt­
bestandteil der Wirklichkeit ist; bis zum heutigen Tage habe
ich so wenig über sie nachgedacht wie ein Mensch über das
Verhalten unenträtselbarer Götter oder des Herzens in seiner
Brust. Jetzt, da ich fern von Babylon und seinen geliebten
Bräuchen weile, denke ich mit einem gewissen Staunen an die
Lotterie und an die lästerlichen Mutmaßungen, die sich in der
Dämmerung die Verschleierten zuraunen.
Mein Vater wußte zu erzählen, daß in früher Zeit - vor
Jahrhunderten oder vor Jahren? - die Lotterie in Babylon eine
Belustigung des gemeinen Volkes war. E r berichtete (ich weiß
nicht, ob wahrheitsgemäß), daß die Barbiere gegen Kupfer­
münzen viereckige Plättchen aus Bein oder Pergament aus-
gaben, die mit Zeichen beschriftet waren. Die Ziehung fand
bei hellem Tage statt: die glücklichen Gewinner erhielten,
ohne daß man dem Zufall sonst eine Bekräftigung zuteil wer­
den ließ, geprägte Silbermünzen. Das Verfahren steckte, wie
man sieht, noch ganz in den Anfängen.
Natürlich erlitten diese »Lotterien« Schiffbruch. Ihr morali­
scher Gehalt war gleich Null. Sie wendeten sich nicht an alle
Fähigkeiten des Menschen, sondern einzig und allein an seine
Hoffnung. Angesichts der Gleichgültigkeit des Publikums be­
gannen die Händler, die diese käufliche Lotterie ins Leben
gerufen hatten, Geld zuzusetzen. Jemand schlug eine Reform
vor; und zwar sollten in die Serie der Glücksnummern jeweils
einige wenige Unglücksnummern eingeschaltet werden. A u f
Grund dieser Reform hatten die Käufer numerierter Vierecke
die zweifache Chance, entweder eine Summe zu gewinnen
oder eine manchmal beträchtliche Geldbuße erlegen zu müssen.
Diese nicht eben schwerwiegende Gefahr (auf dreißig Glücks­
lose entfiel ein widriges Los) stachelte begreiflicherweise das
Publikumsinteresse an. Die Babylonier ergaben sich dem
Spiel. Wer keine Lose erwarb, wurde als ein Angsthase, ein
Jammerlappen angesehen. Im Laufe der Zeit verzwiefachte
sich diese gerechte Verachtung. Man sah nicht nur auf den
herab, der nicht spielte, sondern auch der Verlierer, der die

91
Buße entrichten mußte, verfiel der Verachtung. Die Gesell­
schaft (so fing sie damals an, sich zu nennen) mußte sich der
Interessen der Gewinner annehmen, da diese nicht in den Be­
sitz ihrer Prämien kamen, wenn nicht fast der gesamte Betrag
an Bußen den Kassen zufloß. Sie richtete eine Forderung an
die Verlierer: der Richter verurteilte sie zur Entrichtung der
ursprünglichen Buße sowie zu den Kosten oder ein paar Tagen
Gefängnis. Alle entschieden sich für das Gefängnis, um der
Gesellschaft einen Tort anzutun. Aus dieser Widerspenstigkeit
von ein paar Leuten ist die Allmacht der Gesellschaft hervor­
gegangen: ihr ekklesiastischer, metaphysischer Anspruch.
Nicht viel später ließ man bei Bekanntgabe der Ziehungs­
ergebnisse die Aufzählung der Strafsummen weg und be­
schränkte sich auf die Mitteilung, wieviele Tage Gefängnis je­
weils auf das Unglückslos entfielen. Diese lakonische Verkür­
zung, die zu jener Zeit fast unbeachtet blieb, war von grund­
legender Bedeutung. Zum erstenmal setzten sich in der Lotterie E le­
mente durch, die mit dem Geld nichts %u tun hatten. Der Erfolg war
durchschlagend. A u f Betreiben der Spieler sah die Gesellschaft
sich veranlaßt, die Zahl der Unglücksnummern zu erhöhen.
Es ist kein Geheimnis, daß das Volk von Babylon für die
Logik und ebenso für die Symmetrie sehr viel übrig hat. Es
wirkte nicht recht schlüssig, daß die Glückslose mit runden
Münzen, die Unglückslose hingegen mit Tagen und Nächten
Gefängnishaft abgegolten werden sollten. Ein paar Moralisten
sprachen sich dahingehend aus, daß Geldbesitz nicht immer
ein glückliches Dasein verbürgt und daß andere Formen des
Glücks unter Umständen triftiger seien.
Eine andere Sorge reifte in den Armenvierteln heran. Die
Mitglieder des Priesterkollegs erhöhten die Einsätze und pro­
fitierten an jeder Schwankung von Furcht und Hoffnung; die
Armen (berechtigtermaßen oder notgedrungen neidisch) sahen
sich von diesem bekanntermaßen lustspendenden Getriebe
ausgeschlossen. Das billige Verlangen, daß alle, ob arm oder
reich, an der Lotterie gleichberechtigt Anteil haben sollten,
führte zu einer Empörung, die noch nach Jahren frisch im
92
Gedächtnis ist. Ein paar Starrköpfe begriffen nicht (oder stell­
ten sich so, als begriffen sie nicht), daß es um eine neue Ord­
nung, eine notwendige geschichtliche Etappe ging . . . Ein
Sklave stahl ein scharlachrotes Billett, das ihn bei der Ziehung
dazu berechtigte, sich die Zunge verbrennen zu lassen. Eben
dies wurde dann als Strafmaß für Losdiebstahl im Gesetz
verankert. Es gab Babylonier, die die Ansicht vertraten, er
hätte in seiner Eigenschaft als Dieb das glühende Eisen ver­
dient; andere, die großmütiger gesinnt waren, wollten den
Henker die Strafe darum vollstrecken lassen, weil es der Z u­
fall so gefügt hatte . . . Es kam zu Unruhen, zu beklagens­
wertem Blutvergießen; aber das babylonische Volk setzte
schließlich seinen Willen durch, dem Widerstand der Reichen
zum Trotz. Das Volk erreichte voll und ganz seine edelmüti­
gen Absichten. An erster Stelle setzte es durch, daß die Gesell­
schaft die Summe aus öffentlicher Hand entgegennahm. (Diese
Vereinheitlichung war geboten im Hinblick auf die Weiträu­
migkeit und Vielschichtigkeit der neuen Vorhaben.) An zwei­
ter Stelle setzte es durch, daß die Lotterie allgemein, unentgelt­
lich und geheim wurde. Der Losverkauf durch Händler wurde
abgeschafft. Nach vollzogener Einweihung in die Mysterien des
Baal nahm jeder freie Mann automatisch an den geheiligten
Ziehungen teil, die in den Labyrinthen des Gottes im Abstand
von sechzig Nächten vorgenommen wurden und über sein
Schicksal bis zur nächsten Handlung entschieden. Die Folgen
waren unberechenbar. Ein glücklicher Spielausgang konnte der
Anlaß sein, daß man ihn in den Rat der Magier erhob oder
einen seiner Feinde (öffentlicher oder privater Art) gefangen
setzte oder daß er im friedlichen Dämmer des Gemachs der
Frau begegnete, auf die er es gerade abgesehen hatte oder die
er nicht gewärtig war wiederzusehen; ein unglücklicher Spiel­
ausgang: die Verstümmelung, alle Arten von Schande,.. der
Tod. Manchmal war eine einzige Tatsache - die gemeine E r­
mordung von C, die mysteriöse Apotheose von B - der Ertrag
von dreißig oder vierzig Ziehungen. Die Ergebnisse der Zie­
hungen zu kombinieren, war allerdings schwierig: doch muß
93
daran erinnert werden, daß die Vertreter der Gesellschaft all­
mächtig und schlau waren (und sind). In vielen Fällen hätte die
Bekanntschaft mit dem zufälligen Zustandekommen gewisser
Glücksumstände deren Ansehen geschmälert; um diesen Übel­
stand auszuscheiden, machten die Agenten der Gesellschaft von
suggestiven Mitteln und von der Magie Gebrauch. Ihre Schritte,
ihre Maßnahmen waren geheim. Um die versteckten Hoffnun­
gen, die versteckten Ängste jedes einzelnen auszuspähen, ver­
fügten sie über eine Schar von Astrologen und Spitzeln. Es gab
gewisse Steinlöwen, es gab eine heilige Latrine mit Namen
Qaphqa, es gab ein paar Ritzen in einem staubbedeckten Aquä­
dukt, die nach allgemeiner Ansicht der Gesellschaft in die Hand
spielten; boshafte oder wohlwollende Personen deponierten an
diesen Stellen ihre Anzeigen. Ein alphabetisch geordnetes
Archiv nahm diese Benachrichtigungen von unterschiedlichem
Wahrheitsgehalt auf.
So unglaublich es klingen mag: es wurde hie und da ge­
murrt. Die Gesellschaft erteilte daraufhin mit gewohnter Z u­
rückhaltung keine direkte Antwort. Sie ließ vielmehr in den
Ruinen einer Maskenfabrik einen hingeschmierten Denkzettel
anbringen, der heute in die heiligen Schriften aufgenommen
ist. Darin wurde dogmatisch festgestellt, daß die Lotterie eine
Einschaltung des Zufalls in die Weltordnung sei und daß Irr-
tümer in K au f nehmen nicht dem Zufall widersprechen, son­
dern im Gegenteil - ihn bestätigen heiße. Außerdem: daß
diese Löwen und dieses heilige Behältnis, obwohl die Gesell­
schaft (die sich auch nicht des Rechts entäußerte, sie gelegent­
lich zu Rate zu ziehen) ihnen die Autorität nicht abspreche,
ohne offizielle Deckung arbeiteten.
Diese Erklärung beschwichtigte die Unruhe in der Öffent­
lichkeit. Sie zeitigte noch andere, von den Urhebern vielleicht
nicht vorgesehene Wirkungen. Sie brachte in der Gesinnung
und den Maßnahmen der Gesellschaft einen tiefgreifenden
Wandel hervor. Es bleibt mir nur noch wenig Z eit; man meldet
uns, das Schiff sei klar zur Abfahrt; aber ich will versuchen,
die Sache zu erklären.
94
So unglaubhaft es klingt: niemand hatte bis dahin eine all­
gemeine Theorie des Spiels gelehrt. Der Babylonier ist nicht
gerade spekulativ veranlagt; auf die Urteilssprüche des Z u­
falls verläßt er sich, weiht ihnen sein Leben, seine Hoffnung,
sein panisches Entsetzen; doch fällt es ihm nicht ein, seine
labyrinthischen Gesetze oder die kreisenden Sphären, die ihn
enthüllen, zu erforschen. Dennoch wurde die offizielle E r­
klärung, von der ich gesprochen habe, die Ursache zahlreicher
Erörterungen juristisch-mathematischer Art. Einer von ihnen
entsprang die folgende Erwägung: wenn die Lotterie eine
Verstärkung des Zufalls, eine periodische Ergießung des Chaos
in den Kosmos ist: sollte dann der Zufall nicht gerechter­
weise in alle Etappen der Ziehung eingreifen, statt nur bei
einer einzigen die Hand im Spiel zu haben? Ist es nicht lächer­
lich, daß der Zufall den Tod irgendeines Menschen verfügt,
daß aber die Umstände seines Todes - Ausschluß oder An­
wesenheit der Öffentlichkeit, Vollstreckung binnen einer
Stunde oder eines Jahrhunderts - nicht dem Zufall unterworfen
sind? Diese so berechtigten Bedenken führten schließlich zu
einer bedeutenden Reform, in deren außerordentlich verwik-
keltem Apparat (der sich durch jahrhundertelange Betätigung
noch kompliziert hat) nur ein paar Spezialisten klar sehen,
den ich aber, wenn auch nur andeutend, verständlich machen
will.
Stellen wir uns eine erste Ziehung vor, die den Tod eines
Menschen verfügt. Zur Vollstreckung veranstaltet man eine
weitere Ziehung, die (sagen wir) neun vollstreckende Per­
sonen in Vorschlag bringt. Von diesen Vollstreckern kön­
nen vier eine dritte Ziehung einleiten, die den Namen des
Henkers erbringen soll, zwei können an die Stelle des schwar­
zen Spruchs einen glücklichen treten lassen (etwa die Auffin­
dung eines Schatzes), ein anderer kann die Todesstrafe ver­
schärfen (das heißt ihr die Schande hinzufügen oder sie um
Folterqualen bereichern), wieder andere können sich weigern,
sie zu vollstrecken . . . So verhält es sich mit dem symbolischen
Schema. In Wirklichkeit ist die Anzahl der Ziehungen gleich
95
unendlich. Kein Entscheid ist endgültig, alle sind mit anderen
verflochten. Die Unwissenden sind der Meinung, daß unend­
liche Ziehungen eine unendliche Zeit erfordern; in Wahrheit
braucht die Zeit nur unendlich teilbar zu sein, wie das be­
rühmte Gleichnis vom Wettlauf mit der Schildkröte lehrt.
Diese Unendlichkeit stimmt mit den gewundenen Abläufen
des Zufalls und mit dem himmlischen Urbild der Lotterie, das
die Platoniker anbeten, wunderbar zusammen . . . Ein ver­
zerrtes Echo unserer Riten scheint bis an den Tiber gedrungen
zu sein. Aelius Lampridius berichtet in der Vita des Antonius
Heliogabal, daß dieser Kaiser auf Muscheln schrieb, was er
jedem seiner geladenen Gäste als Los zudachte, so daß einer
zehn Pfund Gold erhielt, ein anderer zehn Fliegen, zehn
Murmeltiere, zehn Bären. Man darf daran erinnern, daß Helio­
gabal in Kleinasien bei den Priestern des Deus eponymus er­
zogen worden ist.
Doch gibt es auch unpersönliche Ziehungen, die in keiner
bestimmten Absicht erfolgen; so bestimmt zum Beispiel eine,
daß in die Wasser des Euphrat ein Saphir von Taprobana ge­
worfen werden soll, eine andere, daß man vom Dach eines
Turms einen Vogel freilassen soll; eine andere, daß in jedem
Jahrhundert von den unzähligen Sandkörnern am Strand eines
weggenommen oder hinzugetan werden soll. Die Folgen sind
manchmal furchterregend.
Unter dem wohltätigen Einfluß der Gesellschaft haben sich
unsere Gebräuche mit Zufall gesättigt. Wer zehn Amphoren
Damaszener Wein kauft, wird sich nicht wundern, wenn eine
davon einen Talisman oder eine Viper birgt; der Schreiber, der
einen Vertrag aufsetzt, wird selten verfehlen, ein verkehrtes
Datum einzusetzen; ich selber habe in dieser übereilten Dar­
legung mancherlei Ruhm und Scheußlichkeit verfälscht -
vielleicht auch eine geheime Eintönigkeit verhehlt. Unsere Ge­
schichtsschreiber, die an Scharfsinn die gesamte Welt über­
treffen, haben eine Methode entwickelt, den Zufall zu korri­
gieren; wie allgemein bekannt, sind die Anwendungen dieser
Methode (im allgemeinen) glaubwürdig, wenn man auch na­
96
türlich bei ihrer Verbreitung nicht ohne eine Dosis Betrug aus­
kommt. Im übrigen ist kaum etwas so mit Erfundenem ver­
quickt wie die Geschichte der Gesellschaft . . . Eine paläogra-
phische Urkunde, die in einem Tempel ausgegraben wird, kann
von der gestrigen Ziehung her rühren oder von einer vor Jahr­
hunderten erfolgten. Kein Buch erscheint, das nicht von Exem­
plar zu Exemplar gewisse Abweichungen aufweist. Die Schrei­
ber leisten einen geheimen Eid, wegzulassen, einzuschieben,
abzuändern. Auch befleißigt man sich der mittelbaren Lüge.
Die Gesellschaft in ihrer göttlichen Bescheidenheit entzieht
sich der Öffentlichkeit. Ihre Agenten arbeiten, wie nicht anders
zu erwarten, im geheimen; die Anordnungen, die sie fort­
während (oder besser unablässig) trifft, unterscheiden sich nicht
von solchen, wie sie Schwindler ausstreuen. Außerdem: wer
kann sich rühmen, ein regelrechter Schwindler zu sein? Der
Betrunkene, der einen sinnlosen Befehl in die Welt setzt, der
Schläfer, der jäh aus dem Traum fährt und die Frau an seiner
Seite erwürgt: führen sie nicht am Ende Geheimaufträge der
Gesellschaft aus ? Dieses stillschweigende an Gott gemahnende
Walten gibt zu den verschiedensten Mutmaßungen Anlaß.
Eine besonders verabscheuenswerte will wissen, daß es schon
seit Jahrhunderten keine Gesellschaft mehr gibt und daß die
heilige Unordnung unserer Lebensverfassung rein erblich, bloß
überkommen ist; eine andere nennt die Gesellschaft ewig
und lehrt, daß sie bis zur letzten Nacht fortdauern wird, wenn
der letzte Gott die Welt ins Nichts versenkt. Eine andere
erklärt, die Gesellschaft sei allmächtig, doch erstrecke sich ihr
Einfluß nur auf die winzigsten Umstände: auf den R uf eines
Vogels, auf die Nuancen von Rost und Staub, auf die Dämmer­
träume am Morgen. Eine andere verkündet durch den Mund
verlarvter Heresiarchen, daß sie nicht existiert hat noch exi­
stieren wird. Eine andere entwickelt den nicht minder abge­
feimten Gedanken, daß es gleichgültig ist, ob man das wirk­
liche Vorhandensein der schattenhaften Körperschaft bejaht
oder verneint, weil Babylon selber nichts weiter als ein un­
endliches Spiel von Zufällen ist.
97
Die Bibliothek von Babel

By this art you may contemplate the variation of the


23 letters . . .
The Anatomy of Melancholy, part. 2 sect. II, mem. I V

Das Universum (von anderen die Bibliothek genannt) setzt


sich aus einer unbestimmten, womöglich unendlichen Anzahl
sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungs­
schächten in der Mitte und sehr niedrigen Geländereinfassun­
gen. Von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen
Stockwerke sehen, in nicht endender Folge. Die Anordnung
der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Büchergestelle,
auf jeder Seite fünf, nehmen die Seitenflächen ein, von denen
zwei freibleiben; ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stock­
werks deckt, übersteigt kaum die Größe eines normalen Biblio­
thekars. Eine der freien Flächen öffnet sich auf einen schmalen
Gang, der in eine andere Galerie mündet; diese gleicht in allen
Stücken der ersten und allen insgesamt. Links und rechts
des Ganges befinden sich zwei winzig kleine Kabinette. In
dem einen kann man stehend schlafen, in dem anderen seine
Leibesnotdurft verrichten. Hier geht die spiralförmige Treppe
vorbei, die sich tief senkt und in ferne Höhen steigt. In dem
Gang ist ein Spiegel, der den äußeren Schein getreulich ver­
zwiefacht. Die Menschen pflegen aus diesem Spiegel zu schlie­
ßen, daß die Bibliothek nicht unendlich ist (wäre sie es in der
Tat, wozu dann diese scheinhafte Verdoppelung?); ich hänge
an der Vorstellung, daß die blanken Oberflächen das Unend­
liche darstellen und verheißen . . . Licht spenden kugelförmige
Früchte, die den Namen »Lampen« tragen. Es gibt deren zwei
in jedem Sechseck, seitlich angebracht. Das Licht, das sie aus­
strahlen, ist unzureichend, unaufhörlich.
Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend
gereist; ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten; viel­
leicht war es der Katalog der Kataloge; jetzt können meine
98
Augen kaum mehr entziffern, was ich schreibe; ich bereite mich
zum Sterben, nur wenige Meilen von dem Sechseck entfernt,
in dem ich geboren ward. Wenn ich tot bin, wird es nicht an
mitleidigen Händen fehlen, die mich über das Geländer wer­
fen; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib
wird immer tiefer sinken und sich im Zugwind seines unend­
lichen Falles zersetzen und auflösen. Ich behaupte, daß die
Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten führen an, daß die
sechseckigen Säle die notwendige Form des absoluten Raums
sind, oder zumindest unserer Anschauung vom Raum. Sie ge­
ben zu bedenken, daß ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal
nicht vorstellbar wäre. (Die Mystiker behaupten, daß sich ihnen
in der Ekstase ein kreisförmiges Gemach offenbart, darin ein
kreisförmiges Buch mit fortlaufendem Rücken, der rund um
die Wände geht; ihr Zeugnis ist mit Argwohn aufzunehmen,
ihre Worte sind dunkel; dieses zyklische Buch ist Gott.) Für
heute mag es genügen, wenn ich den klassischen Ausspruch
zitiere: D ie Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicherMittelpunkt
sich in jedem beliebigen Sechseck befindet und deren Umfang unzu­
gänglich ist.
A u f jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Bücherge­
stelle; jedes Gestell umfaßt zweiunddreißig Bücher von glei­
chem Format; jedes Buch besteht aus einhundertundzehn
Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig
Buchstaben von schwarzer Farbe. Buchstaben finden sich auch
auf dem Rücken jedes Buches; doch bezeichnen diese Buch­
staben nicht oder deuten nicht im voraus an, was die Seiten
mitteilen werden. Ich weiß, daß dieser fehlende Zusammen­
hang gelegentlich mysteriös angemutet hat. Bevor ich die L ö ­
sung zusammengefaßt wiedergebe (deren Entdeckung trotz
ihrer tragischen Auswirkungen vielleicht der Hauptgegenstand
der Geschichte ist), will ich eine Reihe von Axiomen ins Ge­
dächtnis rufen.
Erstes Axiom : Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser
Wahrheit, aus der die Ewigkeit der Welt auch in der Zukunft
unmittelbar folgt, ist keinem vernunftbegabten Geist zu zwei-
99
fein gestattet. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar,
mag ein Gebilde des Zufalls oder ein Gemacht böswilliger Dä­
monen sein; das Universum, so wohlgefällig ausgestattet mit
Regalen, mit rätselhaften Bänden, mit unerschöpflichen Trep­
pen für den wandernden und mit Abtritten für den sitzenden
Bibliothekar, kann nur das Werk eines Gottes sein. Um den
Abstand, der zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen
liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen
Schriftzüge, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines
Buches kritzelt, mit den organischen Lettern im Inneren zu
vergleichen: gestochen, feingebildet, tiefschwarz, unnachahm­
lich symmetrisch stehen sie da.
Zweites Axiom : Die Anzahl der orthographischen Zeichen
ist fünfundzwanzig1. Diese Feststellung gab vor dreihundert
Jahren die Möglichkeit, die allgemeine Theorie der Bibliothek
in Worte zu fassen und das Problem, dem bis dahin mit keiner
Hypothese beizukommen war, befriedigend zu lösen: nämlich
die formlose und chaotische Beschaffenheit nahezu sämtlicher
Bücher. Eines, das mein Vater in einem Sechseck des Rund­
gangs fünfzehnhundertundvierundneunzig sah, bestand aus
den Buchstaben M C V , die auf unsinnige Art von der ersten
bis zur letzten Seite wieder kehrten. Ein anderes (das in dieser
Zone sehr gefragt war) ist ein bloßes Labyrinth von Buch­
staben, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit, deine Pyra­
miden. Man ersieht daraus: auf eine einzige verständliche Zeile
oder eine treffende Anmerkung entfallen Meilen sinnloser
Kakophonien, sprachlichen Kauderwelschs oder zusammen­
hanglosen Zeugs. (Ich weiß von einer Region, in der die
Bibliothekare die abergläubische und eitle Jagd nach dem Sinn
in Büchern verschmähen und sie auf die gleiche Stufe mit
Traumdeuterei und Handlesekunst stellen . . . Sie geben zwar
zu, daß die Erfinder der Schrift die fünfundzwanzig Natur­
symbole nachgeahmt haben; sie behaupten jedoch, daß sie in
1 Im Originalmanuskript steht weder Kursivschrift noch Großschreibung. D ie Interpunktion
beschränkt sich auf K om m a und Punkt. D iese beiden Zeichen, der Raum und die zweiundzwanzig
Buchstaben des Alphabets sind die fünfundzwanzig ausreichenden Symbole, die der Unbekannte
aufzählt.

lO O
der Anwendung zufällig seien und die Bücher an sich nichts
bedeuteten. Diese Auffassung geht, wie man sehen wird, nicht
völlig fehl.)
Lange Zeit hindurch war man des Glaubens, daß diese un­
durchdringlichen Bücher sich mit vergangenen oder fernab­
liegenden Sprachen deckten. Nun trifft zwar zu, daß die frühe­
sten Menschen, die ersten Bibliothekare, eine Sprache verwen­
deten, die von der heute gesprochenen beträchtlich abweicht;
auch trifft zu, daß ein paar Meilen weiter nach rechts die
Sprache mundartlich und daß sie neunzig Stockwerke höher
unverständlich wird. All das, ich wiederhole es, trifft zu, aber
einhundertundzehn Seiten, auf denen unwandelbar M C V
wiederkehrt, lassen sich auf keine auch noch so mundartliche
oder unentwickelte Sprache beziehen. Einige sprechen die Ver­
mutung aus, daß jeder Buchstabe auf den nächstfolgenden Ein­
fluß nehme und daß der Gehalt von M C V in der dritten Zeile
auf Seite 71 nicht identisch sei mit derselben Buchstabenfolge
in einer anderen Zeilenstellung oder auf einer anderen Seite,
aber dieser verschwommenen These war kein Fortleben be-
schieden. Andere dachten an Kryptogramme; diese Deutung
setzte sich durch, wenn auch nicht auf die Weise, wie ihre E r­
finder sie verstanden.
Vor fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höheren Sechs­
ecks1 auf ein Buch, das so verworren war wie alle übrigen, das
jedoch zwei Seiten gleichlautender Zeilen von wahrscheinlicher
Lesbarkeit aufwies. E r zeigte seinen Fund einem ambulanten
Entzifferer, der nach der Sprachform auf Portugiesisch riet;
andere deuteten ihn auf Jiddisch. Vor Ablauf eines Jahrhun­
derts ließ sich der Sprachcharakter eindeutig bestimmen: es
handelte sich um einen samojedisch-litauischen Dialekt des
Guarani mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch
der Inhalt wurde entziffert: es waren drei Figuren der kombina­
torischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich ins Unend-

1 Ursprünglich kam a u f je drei Sechsecke ein Mensch. Fälle von Selbstm ord und Lungenkrank­
heit haben dieses Maß Verhältnis zerstört. Unsäglich schwermütige Erinnerung: manchmal bin ich
nächtelang über blanke G änge und Treppen geirrt, ohne einen einzigen Bibliothekar zu finden.

IOI
liehe wiederholender Variationen. Diese Beispiele setzten einen
genialen Bibliothekar instand, das Fundamentalgesetz der Bi­
bliothek zu entdecken. Und zwar traf dieser Denker die Fest­
stellung, daß sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch sein
mögen, aus denselben Elementen bestehen: dem Raum, dem
Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Zeichen des Alpha­
bets. Auch führte er einen Umstand an, der von allen Reisen­
den bestätigt wird: In der ganzen ungeheuren Bibliothek gibt es
nicht zwei Bücher, die identisch sind. Aus diesen unwiderleglichen
Prämissen folgerte er den Satz, daß die Bibliothek allumfas­
send ist und daß ihre Regale alle irgend möglichen Kombina­
tionen der über zwanzig orthographischen Zeichen (deren
Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist)
verzeichnen sowie alles, was sich irgend ausdrücken läßt: in
sämtlichen Sprachen - alles: die Geschichte der Zukunft bis
ins einzelne, die Autobiographien der Erzengel, den echten K a­
talog der Bibliothek und Tausende und Abertausende falscher
Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der
Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium von
Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kom ­
mentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheits­
gemäße Darstellung deines Todes, die Fassung jedes Buches
in sämtlichen Sprachen, die Einschaltungen jedes Buches in
allen Büchern.
Als bekannt wurde, daß die Bibliothek alle Bücher umfasse,
war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle
Menschen wußten sich Herren über einen unversehrten und
geheimnisvollen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Welt­
problem mehr, dessen beredte Lösung nicht in irgendeinem
der Sechsecke zu finden war. Das Universum war gerecht­
fertigt, das Universum bemächtigte sich mit einem Schlag der
Dimensionen unbegrenzter Hoffnung. In jener Zeit war viel
die Rede von »Rechtfertigungen«: apologetische und propheti­
sche Bücher rechtfertigten für immer die Taten jedes einzelnen
Menschen auf Erden und bewahrten für die Zukunft der Welt
wundersame Geheimgründe auf. Zu Tausenden ließen Begehr­
102
liehe ihr Heimatsechseck im Stich und jagten die Treppen
empor, von dem eitlen Drang bewegt, Rechtfertigung für sich
zu finden. Diese Schweifenden stritten in den engen Fluren,
stießen dunkle Verwünschungen aus, gingen auf den göttlichen
Stiegen einander an die Kehle, schleuderten die Trugbücher
in den Grund des Tunnels und fanden den Tod, gestürzt von
Menschen weit entlegener Regionen. Andere wurden wahn­
sinnig . . . Die Rechtfertigungen sind da: (ich habe zwei ge­
sehen, die sich auf künftige Personen beziehen, auf Personen,
die womöglich nicht nur in der Vorstellung existieren), aber die
Sucher bedachten nicht, daß die Chance, daß ein Mensch
seine Rechtfertigung findet oder irgendeine trügerische A b­
wandlung derselben, mit Null zu beziffern ist.
Auch erhoffte man sich Aufklärung über die grundlegenden
Geheimnisse der Menschheit: den Ursprung der Bibliothek
und der Zeit. Wahrscheinlich lassen sich diese schwerwiegen­
den Mysterien in Worten auslegen; wenn die Sprache der
Philosophen nicht ausreicht, mag die vielgestaltige Bibliothek
die unerhörte Sprache, deren es dazu bedarf, gezeitigt ha­
ben, sowie die Wörterbücher und Grammatiken dieser Sprache.
Schon vier Jahrhunderte lang durchstöbern die Menschen
vergeblich die Sechsecke . . . Es gibt amtliche Sucher, Inquisi­
toren. Ich habe gesehen, wie sie ihres Amtes walteten: sie ma­
chen immer einen strapazierten Eindruck, sie reden von einer
Treppe ohne Stufen, die sie um ein Haar umgebracht hätte; sie
reden mit dem Bibliothekar und unterhalten sich über Galerien
und Treppen; manchmal greifen sie nach dem nächststehenden
Buch und blättern darin, auf der Suche nach Schimpfworten.
Offensichtlich hat keiner die Hoffnung, irgend etwas zu ent­
decken.
A u f die überschwengliche Hoffnung folgte ganz natürlich
übermäßige Verzagtheit. Die Gewißheit, daß irgendein Regal
in irgendeinem Sechseck kostbare Bücher berge, daß diese
Bücher aber unzugänglich seien, dünkte ein schier unerträg­
licher Gedanke. Eine Sekte von Lästerern schlug vor, man solle
die Suche einstellen, alle Menschen sollten Buchstaben und
103
Zeichen solange durcheinander würfeln, bis sie auf Grund
eines unwahrscheinlichen Zufalls diese kanonischen Bücher
zusammengebracht hätten. Die Behörden sahen sich gezwun­
gen, strenge Anordnungen zu erlassen. Die Sekte tauchte un­
ter, aber in meiner Kindheit sah ich alte Männer, die lange auf
dem Abtritt verweilten, mit ein paar Metallscheiben in einem
nicht einmal zulässigen Würfelbecher, kraftlos bemüht, der
göttlichen Unordnung abzuhelfen.
Andere waren umgekehrt der Meinung, zu allererst müßten
alle nutzlosen Bücher ausgemerzt werden. Sie brachen in die
Sechsecke ein, zeigten Beglaubigungsschreiben vor, die nicht
einmal immer gefälscht waren, blätterten gelangweilt in einem
Band und verdammten ganze Gefache. Ihr hygienischer Aske­
teneifer ist schuld an der sinnlosen Vernichtung von Millionen
Büchern. Heute sind ihre Namen dem Abscheu preisgegeben,
aber wer die Thesauri beklagt, die sie in ihrer Wut zerstörten,
übersieht zwei bemerkenswerte Tatsachen. Die eine: die Bi­
bliothek ist so gewaltigen Umfangs, daß jede Schmälerung durch
Menschenhand sich als verschwindend gering herausstellt. Die
andere: jedes Exemplar ist zwar einzig, unersetzlich, aber da
die Bibliothek allumfassend ist, gibt es immer hunderttausende
unvollkommener Faksimiles von Werken, die nur in einem
Buchstaben oder einem Komma voneinander abweichen. Ent­
gegen der herrschenden Auffassung wage ich die Vermutung,
daß die Folgen der von diesen Reinigern verübten Plünderun­
gen aus Entsetzen über diese Fanatiker zu hoch eingeschätzt
worden sind. Sie waren von dem Wahn besessen, die Bücher
des scharlachroten Sechsecks an sich zu bringen: Bücher kleine­
ren Formats als die gewöhnlichen: allmächtig, erlaucht und
zauberkräftig.
Auch wissen wir von einem anderen Aberglauben jener Z eit:
dem Glauben an den »Buchmenschen«. In irgendeinem Regal
irgendeines Sechsecks (so dachten die Menschen) muß es ein
Buch geben, das Inbegriff und vollkommener Auszug aller
anderen ist: ein Bibliothekar hat es durchgesehen und ist gott­
ähnlich. In der Sprache dieser Zone finden sich noch Spuren
104
des Kults, den man diesem zeitfernen Amtswalter darbrachte.
Viele machten sich auf den Weg, ihn zu suchen. Ein Jahrhun­
dert lang durchstreiften sie die verschiedensten Himmelsrich­
tungen. Wie aber das ehrfürchtig verehrte Sechseck, das ihn
beherbergte, örtlich bestimmen? Jemand schlug eine regressive
Methode vor: um das Buch A zu lokalisieren, gilt es zuvor,
ein Buch B heranzuziehen, das die Ortsbestimmung von A an­
gibt ; um das Buch B zu lokalisieren, gilt es zuvor ein Buch C -
und so ins Unendliche. Mit dergleichen Abenteuern habe ich
meine Jahre vergeudet und aufgezehrt. Ich halte es nicht für
unwahrscheinlich, daß es in irgendeinem Gestell des Univer­
sums ein totales Buch gibt1, ich flehe zu den unerkannten Göt­
tern, es möge einen Menschen geben - einen einzigen, und
habe er vor tausend Jahren gelebt! - , der es untersucht und ge­
lesen hat. Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht mir bestimmt
sind, mögen sie anderen zuteil werden! Möge der Himmel
sein, wenn auch mein Ort die Hölle ist. Mag ich beschimpft
und zunichte werden, aber laß einmal, für einen Augenblick,
in einem Menschenwesen Deine ungeheure Bibliothek ihre
Rechtfertigung finden.
Die bar der Ehrfurcht sind, versichern, daß in der Bibliothek
der Unsinn an der Tagesordnung ist und daß das Vernunft­
gemäße (ja selbst das schlicht und recht Zusammenhängende)
eine fast wundersame Ausnahme bildet. Sie sprechen (ich
weiß es) von »der fiebernden Bibliothek, deren Zufallsbände
ständig in Gefahr schweben, sich in andere zu verkehren, und
die alles behaupten, leugnen und durcheinanderbringen wie
eine delirierende Gottheit«. Diese Worte, mit denen nicht nur
die Unordnung entlarvt, sondern zugleich musterhaft vorge­
führt wird, sind ein denkwürdiges Beispiel für grundschlechten
Geschmack und verzweifelte Unwissenheit. Wohl umfaßt die
Bibliothek alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfund­
zwanzig orthographischen Zeichen möglichen Abwandlungen,
1 Ich w iederhole: die bloße Möglichkeit eines Buches ist hinreichend für sein Dasein. N ur das
Unmögliche ist ausgeschlossen. Zum Beispiel: ein Buch kann nicht zugleich eine Treppe sein, ob­
wohl es bestimmt Bücher gibt, die diese Möglichkeit verneinen oder beweisend vorführen, und
andere, deren Bauart einer Treppe entspricht.

10 5
doch birgt sie nicht einen einzigen absoluten Unsinn. Es er­
übrigt sich zu bemerken, daß der beste Band der vielen Sechs­
ecke, die ich verwalte, den Titel »Gekämmter Donner« trägt
und ein anderer »Gipskrampf« und wieder ein anderer »Axa-
xaxas Mlö«. Diese auf den ersten Blick zusammenhanglosen
Fügungen entbehren gewiß nicht einer kryptographischen oder
allegorischen Rechtfertigung; diese Rechtfertigung besteht in
Worten und ist - ex hypothesi - in der Bibliothek bereits
vertreten. Ich bin außerstande, ein Kombination von Schrift­
zeichen auszuhecken
dhcmrlchtdj,
die in der göttlichen Bibliothek nicht bereits vorgesehen ist
und in irgendeiner ihrer Geheimsprachen einen schrecklichen
Sinn birgt. Niemand vermag eine Silbe zu formen, die nicht
voll Zärtlichkeit und voll Schauder ist, die nicht in irgendeiner
dieser Sprachen der gewaltige Name eines Gottes ist. Sprechen
heißt ins Tautologische verfallen. Diese überflüssige und wort­
reiche Epistel steht bereits in einem der dreißig Bände der fünf
Büchergestelle eines der unzählbaren Sechsecke - und auch
ihre Widerlegung. (Der Zahl nach haben n mögliche Sprachen
den gleichen Wortschatz: in einigen gestattet das Symbol Bi­
bliothek die korrekte Definition: überall vorhandenes und an­
dauerndes System sechseckiger Galerien, aber Bibliothek kann
auch heißen: pan oder Pyramide oder irgend etwas anderes, und
dann haben die sieben Worte der Definition einen anderen
Bedeutungswert. Bist du, mein Leser, denn sicher, daß du meine
Worte verstehst?)
Die methodische Schrift zieht mich von der gegenwärtigen
Verfassung der Menschen ab. Die Gewißheit, daß alles nieder­
geschrieben ist, löst uns in Nichts auf oder macht uns zu Gei­
stern. Ich kenne Bezirke, in denen die Jugend sich vor den
Büchern niederwirft und mit ungezügelter Wildheit ihre Seiten
küßt, aber keinen einzigen Buchstaben entziffern kann. Die
Epidemien, die ketzerischen Zwistigkeiten, die Wanderungen,
die unvermeidlich in Freibeuterei ausarten, haben die Bevölke­
rung dezimiert. Ich glaube, ich sprach schon von den Selbst-
106
morden, die mit jedem Jahr häufiger auftreten. Vielleicht spie­
len mir Alter und Ängstlichkeit einen Streich: aber ich hege
die Vermutung, daß die Menschenart - die einzige, die es gibt
- im Begriff ist auszusterben und daß die Bibliothek fort-
dauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen, un­
beweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, nutzlos, unver­
weslich, geheim.
»Unendlich« habe ich geschrieben. Dieses Adjektiv ist mir
nicht aus rhetorischer Gewohnheit untergekommen; ich be­
haupte vielmehr, es ist nicht unlogisch zu denken, daß die
Welt unendlich ist. Wer sie für endlich beschränkt hält, setzt
voraus, daß an irgendeinem weit entfernten Ort die Gänge
und Treppen und Sechsecke auf unfaßliche Art zu Ende sind -
was keinen Sinn hat. Wer sie für unendlich hält, der ver­
gißt, daß die mögliche Zahl der Bücher begrenzt ist. Ich möchte
hinsichtlich der Lösung des uralten Problems den Satz wagen:
D ie Bibliothek ist unbegrenzt und periodisch. Wenn ein ewiger
Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmäße,
würde er nach Ablauf einiger Jahrhunderte die Erfahrung ma­
chen, daß dieselben Bände in derselben Ungeordnetheit wieder­
kehren (aus dieser Ungeordnetheit würde durch Wiederholung
eine Ordnung, der Ordo). Meine Einsamkeit gefällt sich in die­
ser auf heiternden Hoffnung1.
1941 Mar del Plata

1 Letizia Alvarez de T oledo hat angemerkt, daß die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; streng­
genomm en würde ein einziger Band gewöhnlichen Form ats, Corpus neun oder zehn, genügen,
wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestände. (Cavalieri sagt zu Anfang
des 18. Jahrhunderts, daß jeder feste K örper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Schich­
ten ist.) D ie H andhabung dieses seidendünnen Vademecum wäre nicht einfach; jedes anscheinende
Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete zweiteilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte
hätte keine Rückseite.
Drei Fassungen des judas

There seemed a certainty in degradation.


T .E . Lawrence, Seven Pillars of Wisdom, C I II

In Kleinasien oder in Alexandria, im zweiten Jahrhundert un­


seres Glaubens, als Basilides verkündete, der Kosmos sei eine
tollkühne oder verworfene Improvisation abtrünniger Engel -,
damals hätte Nils Runeberg mit ausgesuchtem Verstandeseifer
einen gnostischen Gemeindezirkel geleitet. Dante hätte ihm
unter Umständen ein feuriges Grab zudiktiert; sein Name
stünde unter den minder bedeutenden Häretikern verzeich­
net, zwischen Satornilos und Karpokrates; ein Bruchstück aus
seinen Predigten, mit Scheltworten ausgeziert, dauerte in dem
apokryphen »Liber adversus omnes haereses« fort oder wäre,
als der Brand einer Klosterbibliothek das letzte Exemplar des
»Syntagma« vernichtete, untergegangen. Stattdessen beschied
Gott ihn ins 20. Jahrhundert, und zwar in die Universitäts­
stadt Lund. Hier veröffentlichte er im Jahre 1904 die erste
Ausgabe von »Kristus och Judas«; hier, im Jahre 1909, sein
Hauptwerk »Den hemlige Frälsaren«. (Von dem zweiten Buch
gibt es eine deutsche Fassung, die im Jahr 1912 Emil Schering
besorgte; sie heißt »Der heimliche Heiland«.)
Ehe wir die vorgenannten Arbeiten näher untersuchen, müs­
sen wir nachdrücklich betonen, daß Nils Runeberg, Mitglied
der Evangelischen Nationalunion, tief religiös war. In einem
Intellektuellenzirkel in Paris oder gar in Buenos Aires könnte
ein Literat die Thesen von Runeberg sehr wohl wieder auf­
greifen; würden seine Thesen in einem solchen Zirkel vorge­
bracht, so wären sie nichts weiter als leichtfertige Gedankenspie­
lereien aus Gewissenlosigkeit oder Lästersucht. Für Runeberg
dagegen waren sie der Schlüssel zu einem zentralen Mysterium
der Theologie; sie boten ihm den Stoff für Meditation und Ana­
lyse, für geschichtliche und philologische Kontroversen, für
108
Überheblichkeit, Jubel und Schrecken. Sie rechtfertigten sein
Leben und würdigten es tief herab. Wer sich mit diesem Auf­
satz befaßt, muß überdies bedenken, daß er nur die Schluß­
folgerungen Runebergs verzeichnet, nicht seine Dialektik und
seine Beweise. Man wird jedoch nicht übersehen können, daß
die Schlußfolgerung sicher vor den »Beweisen« da war. Wer
bescheidet sich damit, Beweise für etwas zu suchen, woran er
nicht glaubt oder an dessen Verkündung ihm nichts liegt?
Die erste Ausgabe von »Kristus och Judas« ist unter den
kategorischen Vorspruch gestellt, dessen Sinngehalt der näm­
liche Nils Runeberg Jahre später auf ungeheuerliche Weise
erweitern sollte: Nicht nur ein einzelner Zug, sondern alles, was
die Überlieferung Judas Ischariot ^uschreibt, ist falsch (De Quincey,
1857). In der Nachfolge eines Deutschen hatte De Quincey
die spekulative Behauptung aufgestellt, daß Judas den Herrn
auslieferte, um ihn zur Erklärung seiner Gottnatur zu zwingen
und einen weitreichenden Aufstand wider das römische Joch zu
entfesseln. Runeberg hingegen hatte es auf eine Rechtfertigung
metaphysischer Art abgesehen. Sehr geschickt geht er vom
überflüssigen Charakter der Tat des Judas aus. E r stellt (wie
Robertson) fest, daß man, um einen Meister zu identifizieren,
welcher täglich in der Synagoge predigte und Wundertaten vor
Tausenden herbeigeströmter Menschen verrichtete, nicht auf
den Verrat eines Jüngers angewiesen war. Und doch geschah
es so. Einen Irrtum in der Heiligen Schrift anzunehmen, ist
untragbar; nicht weniger untragbar ist es, dem kostbarsten
Ereignis der Weltgeschichte die Mitwirkung eines zufälligen
Umstandes anzusinnen. Ergo: der Verrat des Judas war nicht
zufällig; er war eine vorbestimmte Tatsache, die in der Ökono­
mie der Erlösung ihren geheimnisvollen Platz hat. Runeberg
fährt fort: Das Wort, da es Fleisch wurde, ging von der all­
gegenwärtigen Räumlichkeit, von der Ewigkeit hinüber in die
Geschichte, von der schrankenlosen Wonne hinüber in die
Wandelbarkeit und den Tod; um einem derartigen Opfer
ebenbürtig zu sein, mußte notwendig ein Mensch, in Vertre­
tung aller Menschen, ein entsprechendes Opfer darbringen.
Judas Ischariot war dieser Mensch. Judas als einziger unter den
Jüngern erschaut die verborgene Gottnatui und das schreck­
liche Vorhaben Jesu Christi. Das Wort hatte sich zur Sterblich­
keit herabgelassen; Judas, der Jünger des Wortes, konnte sich
zur Angeberei herablassen (dem schlimmsten Vergehen,
dessen die Schmach fähig ist) und seine Wohnung in jenem
Feuer nehmen, das nie erlischt. Die niedere Ordnung ist
ein Spiegel der höheren Ordnung; die Formen der Erde ent­
sprechen den Formen am Himmel; die Fleckenzeichnung im
Fell von Tieren ist die Karte der unverweslichen Gestirnstel­
lungen; Judas spiegelt auf gewisse Weise Jesus. Daher die drei­
ßig Silberlinge und der Kuß; daher der freiwillige Tod, um der
Verworfenheit in noch höherem Maße würdig zu werden. So
deutete Nils Runeberg das Rätsel des Judas.
Die Theologen sämtlicher Bekenntnisse widerlegten ihn.
Lars Peter Engström warf ihm vor, daß er von der hypostati­
schen Einigung nichts wisse oder an ihr vorbeigehe; Axel Bore-
lius, daß er die ketzerische Anschauung der Doketen, die Jesus
die Menschennatur absprachen, erneuere; der hitzige Bischof
von Lund, daß er dem dritten Vers im zweiundzwanzigsten
Kapitel des Lukas-Evangeliums widerspreche.
Diese mancherlei Verdammungsurteile hatten Einfluß auf
Runeberg, der das verworfene Buch teilweise neu schrieb und
seine Lehre abwandelte. Er überließ seinen Gegnern das theo­
logische Feld und führte indirekte Gründe moralischer Art ins
Treffen. E r gab zu, daß Jesus, »der über die ansehnlichen Hilfs­
mittel verfügte, welche die Allmacht an die Hand zu geben
vermag«, nicht auf einen einzelnen Menschen angewiesen war,
um alle Menschen zu erlösen. Dann wandte er sich gegen
jene, die behaupteten, daß wir von dem unerklärlichen Ver­
räter nichts wissen; wir wissen, sagte er, daß er einer von den
Jüngern war, einer der Erwählten, die das Himmelreich ver­
künden, die Kranke heilen, Aussätzige reinigen, Tote aufer­
wecken und Teufel austreiben sollen (Matth. 10, 7-8; Lukas
9, 1). Ein Mann, den der Heiland derart ausgezeichnet hat,
darf den Anspruch erheben, daß wir seine Handlungen im be-
liO
sten Sinne auslegen. Sein Verhalten der Begehrlichkeit zu­
schreiben (wie es einige unter Berufung auf Joh. 12, 6 getan
haben) heißt, sich mit dem gröbsten Motiv zufriedengeben.
Nils Runeberg verlegt sich auf das entgegengesetzte M otiv:
eine hochgetriebene und geradezu schrankenlose Askese. Der
Asket erniedrigt sich und tötet das Fleisch zur höheren Ehre
Gottes; Judas tat dasselbe mit dem Geist. E r entsagte der Ehre,
dem Guten, dem Frieden, dem Himmelreich, so wie andere
aus geringerem Heldenmut der fleischlichen Lust entsagen1.
E r bedachte im voraus mit schrecklicher Hellsichtigkeit seine
Verschuldungen. Am Ehebruch nehmen gewöhnlich Zunei­
gung und Entsagung teil; am Mord der M ut; an den Schändun­
gen und Lästerungen des Heiligen ein gewisser satanischer
Glanz. Judas entschied sich für jene Verschuldungen, denen
keinerlei Tugend beiwohnt: für den Vertrauensbruch (Joh.
12, 6) und die Angeberei. E r handelte aus alles überragender
Demut, er hielt sich nicht für wert, gut zu sein. Paulus hat
geschrieben: »Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn.«
Judas trachtete nach der Hölle, weil er am Glück des Herrn
genug hatte. E r glaubte, daß die Glückseligkeit wie das Gute
Attribute des Göttlichen sind und daß der Mensch sich ihrer
nicht bemächtigen dürfe2.
Vielen ist post factum aufgefallen, daß bereits in den noch
vertretbaren Anfängen Runebergs sein ausschweifendes Ende
enthalten ist und daß »Den hemlige Frälsaren« nichts anderes
ist als eine Verkehrung und Zuspitzung von »Kristus och Ju ­
das«. Gegen Ende 1907 schloß Runeberg die Niederschrift

1 Borelius stellt die spöttische F rage: Warum entsagte er nicht dem Entsagen? Warum nicht dem
Entsagen des Entsagens?
a Euclydes da Cunha vermerkt in einem Buch, von dem Runeberg keine Kenntnis hat, daß für
den Heresiarchen von Canudos Antonio Conselheiro die T ugend »schon fast ein Verstoß wider
die Fröm m igkeit war«. D er argentinische Leser wird sich ähnlicher Stellen im Werk von Alma-
fuerte erinnern. Runeberg veröffentlichte in dem symbolischen Blatt »Sju insegel« ein anzügliches
beschreibendes Gedicht »E l agua secreta« (D as heimliche W asser); die ersten Strophen schildern
die Vorfälle eines stürmisch bewegten T ages, die letzten das Auffinden eines vereisten W eihers; der
D ichter legt den Gedanken nahe, daß die währende D auer dieses in Stille versenkten Weihers unsere
fruchtlose H eftigkeit ausgleicht und sie gewissermaßen zuläßt und freispricht. D as Gedicht schließt
mit den W orten: das Wasser dort im Walde ist voll G lü ck; wir dürfen böse sein und Schmerz er­
leiden.
und Durchsicht des handschriftlichen Textes ab; fast zwei Jahre
vergingen, ohne daß er ihn drucken ließ. Im Oktober 1909 er­
schien dann das Buch mit einem (bis zur Rätselhaftigkeit lauen)
Vorwort des dänischen Hebraisten Erik Erfjord und unter dem
folgenden perfiden M otto: »Es war in der Welt und die Welt
war durch dasselbe gemacht, und die Welt kannte es nicht«
(Joh. 1, 10). Der allgemeine Gedankengang ist nicht so schwie­
rig, die Schlußfolgerung allerdings ungeheuerlich. Gott, so ar­
gumentiert Nils Runeberg, erniedrigte sich und wurde Mensch,
um der Erlösung des Menschengeschlechtes willen; man ist zu
dem Schluß genötigt, daß das von ihm gewirkte Opfer voll­
kommen war und durch keinerlei Auslassungen entkräftet und
abgeschwächt. Was er erduldete, auf die Todesnot eines Nach­
mittags am Kreuz zu beschränken, kommt einer Lästerung
gleich1. Behaupten, daß er Mensch und keiner Sünde fähig
war, schließt einen Widerspruch in sich; impeccabilitas und
humanitas sind als Attribute unvereinbar. Kemnitz räumt ein,
daß der Erlöser fähig war, Müdigkeit, Frost, Verwirrung, Hun­
ger und Durst zu leiden; ebenso muß eingeräumt werden, daß
er fähig war, zu sündigen und zu verderben. Die berühmte
Schriftstelle: »Denn er schoß auf vor ihm wie eine Wurzel aus
dürrem Erdreich; er hatte keine Gestalt noch Schöne; er war
der Allerverachtetste und Unwerteste, Voller Schmerzen und
Krankheit« (Jesajas 5353, 3) gilt vielen als Voraus schau auf den
Gekreuzigten in der Stunde seines Todes; für einige (so etwa
für Hans Lassen Martensen) als eine Widerlegung der Schön­
heit, die nach allgemeiner Auffassung Christus zugeschrieben
w ird; für Runeberg als die peinlich genaue Prophezeiung nicht
nur eines Augenblicks, sondern der gesamten bitterharten Zu­

1 Maurice Abramow icz stellt fest: »D iesem Skandinavier zufolge hat Jesu s sich immer die schöne
Rolle ausgesucht; seine Aussprüche genießen dank der Buchdruckerkunst einen vielsprachigen
R u f; sein dreiunddreißigjähriges Weilen unter den Menschen war, im ganzen gesehen, nur ein
Ferienaufenthalt.« E rfjo rd weist im dritten Anhang der »Christelige D ogm atik« diese Stelle zurück.
E r weist daraufhin, daß G ott nie aufgehört hat, gekreuzigt zu werden, weil das, was einmal geschah,
sich in Ew igkeit pausenlos wiederholt. Judas em pfängt heute wie je die dreißig Silberlinge, er küßt
heute wie je Jesu s Christus, w irft heute wie je die Silberlinge in den Tem pel, knüpft heute wie je
die Seilschlinge a u f der Richtstätte. (Erfjord beruft sich, um seine Behauptung zu stützen, auf das
letzte Kapitel des ersten Bandes der »Ehrenrettung der Ew igkeit« von Jarom ir H ladik.)
kunft, die dem fleischgewordenen Wort in Zeit und Ewigkeit
bevorsteht. Gott machte sich voll und ganz zum Menschen,
aber zum Menschen bis hinunter in die Schande, zum Menschen
bis in die Verworfenheit und den Abgrund. Zu unserer Erret­
tung konnte er jedes beliebige unter den Schicksalen wählen, aus
denen sich das verschlungene Netz der Geschichte webt; er
konnte Alexander werden oder Pythagoras oder Rurik oder
Jesus; er wählte ein allerniedrigstes Schicksal: er wurde Judas.
Vergebens boten die Buchhandlungen in Stockholm und in
Lund diese Offenbarung feil; die Ungläubigen erblickten in ihr
a priori eine alberne, spitzfindige Gedankenspielerei theologi­
scher Art. Die Theologen übergingen sie mit Verachtung. Ru­
neberg erkannte in dieser ökumenischen Gleichgültigkeit eine
fast ans Wunderbare grenzende Bestätigung: Gott gebot diese
Gleichgültigkeit; Gott wollte nicht, daß Sein furchtbares Ge­
heimnis auf Erden ruchbar werde. Runeberg sah ein, daß die
Stunde noch nicht gekommen war. E r fühlte, wie sich um sein
Haupt uralte Verwünschungen Gottes zusammenzogen; er
dachte an Elias und an Moses, die auf dem Berg ihr Gesicht
verhüllten, um Gott nicht zu sehen; an Jesajas, der sich zu
Boden warf, als seine Augen Ihn schauten, dessen Ruhm die
Erde erfüllt; an Saul, dessen Augen auf dem Weg nach Da­
maskus blind wurden; an den Rabbiner Simeon ben Azai, der
das Paradies schaute und starb; an den berühmten Hexenmei­
ster Johann von Viterbo, der wahnsinnig wurde, als er die
Dreieinigkeit mit Augen zu sehen vermochte; an die Midra-
shim, die voll Abscheu sind vor den Frevlern, die das Shem
Hamephorosh, den Geheimen Namen Gottes, aussprechen.
Hatte er sich am Ende dieses dunklen Verbrechens schuldig
gemacht? War dies am Ende die Sünde wider den Geist, die
nicht vergeben wird? (Matth. 12, 31) Valerius Soranus starb,
weil er den verborgenen Namen Roms preisgegeben hatte;
welche unendliche Strafe harrte seiner, da er den entsetzlichen
Namen Gottes entdeckt und preisgegeben hatte?
Trunken vor Schlaflosigkeit und vom Taumel der Dialek­
tik, irrte Nils Runeberg durch die Straßen von Malmö, laut
113
betend um die Gnade, mit dem Heiland die Hölle teilen zu
dürfen.
E r starb an einem Aderriß am 1. März 19 12. Die Häretiker­
forschung wird ihm vielleicht ein Gedenken bewahren; er hat
dem anscheinend erschöpften Begriff des Sohnes die heiklen
Bestimmungen des Bösen und des Mißgeschicks hinzugefügt.
Der andere Tod

Es mag vor ein paar Jahren gewesen sein (ich habe den Brief
verloren), da schrieb an mich Gannon aus Gualeguaychú, mit
Ankündigung einer Übertragung, wohl der ersten in spanischer
Sprache, des Gedichts »The Past« von Ralph Waldo Emerson
und einem als Nachschrift beigefügten Zusatz, daß Don Pedro
Damián, dessen ich mich wohl noch entsinnen werde, ein paar
Nächte vorher an einer Lungenentzündung gestorben sei. Vom
Fieber aufgezehrt hatte der Mann in seinem Wahnzustand noch
einmal den blutigen Tag von Masoller durchlebt; ich fand die
Mitteilung wenig überraschend, ja fast in der Ordnung, da
Pedro Damián sich mit neunzehn oder zwanzig Jahren den
Banden von Aparicio Saravia angeschlossen hatte. Die Revo­
lution von 1 904 hatte ihn auf einem Gutshof in Rio Negro oder
Paysandú überrascht, wo er als Knecht arbeitete; Pedro Damián
stammte aus Gualeguay, doch trat er auf die Seite, wo die
Gesinnungsgenossen standen, und tat es ihnen an Mut und
Ahnungslosigkeit gleich. E r nahm kämpfend an einem bewaff­
neten Zusammenstoß und an der letzten Schlacht teil; im Jahre
1905 kehrte er in seine Heimat zurück und widmete sich aufs
neue mit dienender Ausdauer seinen landwirtschaftlichen Ob­
liegenheiten. Soviel ich weiß, hat er seine Heimatprovinz nicht
wieder verlassen. Die letzten dreißig Jahre verbrachte er auf
einer sehr abgelegenen Stelle, ein oder zwei Meilen von Nan-
cay; in dieser weltverlorenen Gegend unterhielt ich mich eines
Nachmittags mit ihm (oder versuchte ich wenigstens, mich mit
ihm zu unterhalten), und zwar um das Jahr 1942. E r war ein
wortkarger, nicht sehr aufgeweckter Mann. Mit dem Getöse
und der Wut von Masoller war seine Geschichte erschöpft; es
wunderte mich nicht, daß er sie in seiner Todesstunde noch
einmal durchlebt hatte . . . Ich wußte jetzt, daß ich Damián nie
Wiedersehen würde, und versuchte, ihn mir ins Gedächtnis
zurückzurufen. So armselig ist es um unser Sehgedächtnis be­
stellt, daß ich mich nur an ein Foto erinnerte, das Gannon von
ihm aufgenommen hatte. Daran ist nichts Sonderbares, wenn
man bedenkt, daß ich den Mann zu Beginn des Jahres 1942 ein
einziges Mal gesehen hatte, das Bild von ihm hingegen sehr
viele Male. Gannon hatte mir dieses Foto zugeschickt, ich
habe es verloren und suche auch gar nicht mehr danach. Ich
bekäme es mit der Angst, wenn ich es wiederfände.
Die zweite Episode ereignete sich Monate später in Monte­
video. Fieber und Todeskampf des Mannes aus Gualeguay
inspirierten mich zu einer phantastischen Schilderung der Nie­
derlage von Masoller. Emir Rodríguez Monegal, dem ich das
Thema vortrug, empfahl mich mit ein paar Zeilen an den Ober­
sten Dionisio Tabares, der an jenem Feldzug teilgenommen
hatte. Der Oberst empfing mich nach dem Abendessen. Im
Hof, in einem Schaukelstuhl sitzend, rief er verworren und
zärtlich die dahingegangenen Zeiten wach. E r sprach von Mu­
nitionskolonnen, die nicht eintrafen, von erschöpften Reiter­
trupps, von schlaftrunkenen und ausgemergelten Männern, die
labyrinthische Märsche zurücklegten, von Saravia, der Monte­
video hätte einnehmen können und der vom Ziel abkam, »weil
der Gaucho die Stadt fürchtet«, von Männern, die mit Stumpf
und Stiel enthauptet wurden, von einem Bürgerkrieg, der mir
weniger wie das Gefecht zweier Heere als wie der Rausch eines
Totschlägers vorkam. E r sprach von Illescas, von Tupambaé,
von Masoller. E r tat es in so geläufigen Sätzen und auf so leb­
hafte Art, daß ich spürte, wie oft er schon dasselbe erzählt hatte,
und zu fürchten begann, hinter seinen Worten möchten kaum
noch Erinnerungen stehen. In einer Atempause gelang es mir,
den Namen Damián einzuschalten.
- »Damián? Pedro Damián?« sagte der Oberst, »der hat un­
ter mir gedient. Ein kleiner Schwarzer, den seine Kameraden Day-
man nannten-«. E r ließ eine dröhnende Lachsalve los und been­
dete sie schlagartig, aus erheucheltem oder echtem Unbehagen.
116
Mit veränderter Stimme fuhr er fort, der Krieg und die Frau­
en seien dazu geschaffen, daß Männer sich an ihnen bewährten,
keiner, der noch nicht in die Schlacht gekommen sei, könne
wissen, wie er mit sich daran sei. Jemand könne meinen, er sei
feige und sei doch tapfer, und ebenso auch umgekehrt, wie es
eben diesem armen Damián ergangen sei, der in den Schenken
mit der weißen Kokarde geprahlt und dann bei Masoller ver­
sagt hätte. Bei einer Schießerei mit den »zumazos« hätte er sich
wie ein Mann gehalten, doch eine andere Sache war das, als die
Heere gegeneinander antraten und das Geschützfeuer einsetzte
und jeder Soldat das Gefühl hatte, daß fünftausend Mann sich
zusammengetan hätten, um ausgerechnet ihn umzubringen.
Armer Kerl, der bislang nur mit Schafen umgegangen war und
der es auf einmal mit dem Davonlaufen bekam . . .
Unbegreiflicherweise empfand ich bei der Version von Taba-
res Beschämung. Mir wäre lieber gewesen, wenn die Dinge sich
nicht so zugetragen hätten. Aus dem alten Damián, den ich
vor vielen Jahren an einem Nachmittag flüchtig gesehen hatte,
war in meiner geschäftigen Phantasie eine Art Idol geworden;
die Geschichte von Tabares zertrümmerte es jäh. A u f einmal
verstand ich die Zurückhaltung und die störrische Einsamkeit
Damiáns; nicht Bescheidenheit war maßgebend für sie, son­
dern Trübsinn. Vergebens redete ich mir ein, daß ein Mensch,
dem Feigheit die Erinnerung vergällt, komplizierter veranlagt
ist und mehr Interesse verdient als ein schlechthin mutiger
Mann. Der Gaucho Martín Fierro, dachte ich, ist weniger be­
merkenswert als Lord Jim oder Razumow. Jawohl: - doch war
Damián als ein Gaucho verpflichtet, Martín Fierro zu sein, vor
allem, wenn er Gauchos aus dem Osten hinter sich hatte. Aus
dem, was Tabares sagte und nicht sagte, schlug mir der säuer­
liche Geschmack des sogenannten »artiguismo« entgegen; das
(sozusagen unwiderlegliche) Bewußtsein, daß Uruguay urtüm­
licher und deshalb auch tapferer ist als unser Land . . . Ich
erinnere mich, daß wir in dieser Nacht mit übertriebenem Über­
schwang voneinander schieden.
Im Winter geschah es dann, daß mich ein paar fehlende Ein­
117
zelheiten für meine phantastische Geschichte (die sich hartnäk-
kig weigerte, in die richtige Form zu kommen) abermals zu
Oberst Tabares ins Haus führten. Ich traf ihn in Gesellschaft
eines anderen bejahrten Herrn: er hieß Doktor Juan Francisco
Amaro, aus Paysandú, und hatte gleichfalls während der Re­
volution von Saravia ein Kommando innegehabt. Wie voraus­
zusehen, kam die Rede auf Masoller; Amaro gab ein paar Anek­
doten zum besten und setzte dann langsam, wie einer, der laut
denkt, hinzu:
»Wir blieben die Nacht über in Santa Irene, weiß ich noch,
und es stießen ein paar Leute zu uns. Darunter ein französischer
Veterinär, der am Vorabend der Schlacht starb, und ein junger
Knecht aus Entre Rios, ein gewisser Pedro Damián.«
Ich unterbrach ihn schroff: »Ich weiß schon«, sagte ich zu
ihm, »der Argentinier, der vor den Kugeln schwach wurde.«
Ich hielt inne; die beiden sahen mich verdutzt an.
»Sie irren sich, mein Herr«, sagte schließlich Amaro. »Pedro
Damián starb einen Tod, wie ihn sich jeder Mann nur wün­
schen kann. Es mag gegen vier Uhr am Nachmittag gewesen
sein. A u f der Kammhöhe hatte sich die Artillerie des Gegners
verschanzt; unsere Leute griffen sie mit gefällter Lanze an;
Damián an der Spitze, er schrie laut, und eine Kugel traf ihn
mitten in die Brust. E r richtete sich in den Steigbügeln auf,
hielt mit Schreien inne und stürzte zu Boden, wo er unter den
Hufen der Pferde liegen blieb. E r war tot, und die letzte Welle
der Attacke von Masoller ging über ihn hinweg. So tapfer,
und dabei so jung - noch nicht zwanzig Jahre alt.«
E r sprach, daran war kein Zweifel, von einem anderen Pedro
Damián, aber irgend etwas ließ mich die Frage stellen, was
denn der junge Kerl geschrien hatte.
»Übles Zeug«, sagte der Oberst, »was man bei Attacken so
schreit.«
»Mag sein«, sagte Amaro, »aber er schrie auch: Viva Ur-
quizal«
Wir schwiegen still. Endlich murmelte der Oberst vor sich
hin: »Als hätte der Kam pf nicht bei Masoller, sondern ein Jahr-
118
hundert früher bei Cagancha oder India Muerta stattgefunden.«
E r setzte mit aufrichtiger Betroffenheit hinzu: »Ich hatte das
Kommando über diese Truppen, aber ich möchte schwören, daß
es das erste Mal ist, daß ich von einem Pedro Damián höre.«
Wir brachten ihn nicht dazu, daß er sich seiner erinnerte.
In Buenos Aires wiederholte sich das fassungslose Erstau­
nen, in das seine Vergeßlichkeit mich versetzt hatte. V or den
elf köstlichen Bänden der Emerson-Ausgabe im unteren Ge­
schoß der englischen Buchhandlung Mitchell sitzend, traf ich
eines Nachmittags mit Patricio Gannon zusammen. Ich fragte
ihn nach der Übersetzung von »The Past«. E r gab mir zur
Antwort, daß er an eine Übersetzung nicht im Traum denke;
die spanische Literatur sei ohnehin so langweilig, daß sie auf
Emerson verzichten könne. Ich rief ihm ins Gedächtnis, daß
er mir die Übertragung in demselben Brief zugesagt habe, in
dem sich die schriftliche Mitteilung vom Tode Pedro Damiáns
befunden hätte. E r fragte, wer denn Damián sei. Ich sagte es
ihm, jedoch vergebens. Mit zunehmendem Entsetzen stellte ich
fest, daß er mich befremdet anhörte, und nahm Zuflucht bei
einem literarischen Gespräch über die herabsetzende Kritik an
Emerson, diesem außerordentlich vielseitigen Dichter, der
wendiger und ohne Zweifel eigenartiger gewesen sei als der
unselige Poe.
Ein paar weitere Tatsachen muß ich noch anführen. Im April
erhielt ich von Oberst Dionisio Tabares einen Brief; sein Ge­
dächtnis war jetzt nicht mehr getrübt, er erinnerte sich sehr
wohl an den Mann aus Gualeguay, der bei der Attacke von
Masoller an der Spitze geritten war und den in derselben Nacht
seine Männer am Fuße des Höhenkamms bestattet hatten. Im
Juli kam ich durch Gualeguaychú; dort fand ich keine Spur
von Damiáns Ranch, auch konnte sich kein Mensch an ihn
erinnern. Ich wollte den Pächter Diego Abaroa ausfragen, der
ihn hatte sterben sehen; er war vor dem Winter verschieden.
Ich suchte mir die Züge Damiáns in Erinnerung zu rufen;
Monate später machte ich beim Durchblättern einiger Photo­
alben die Entdeckung, daß das dunkelfarbene Antlitz, auf das
119
ich mich hatte besinnen wollen, das Gesicht des berühmten
Tenors Tamberlick in der Rolle des Othello war.
Ich komme nun zu den möglichen Erklärungen. Die ein­
fachste, aber auch am wenigsten befriedigende, setzt die Exi­
stenz von zwei Männern namens Damián voraus: der Feigling,
der um 1946 in Entre Rios starb, der Mutige, der 1904 bei
Masoller fiel. Ihre Schwäche besteht darin, daß sie das eigent­
liche Rätsel ungelöst läßt: das merkwürdige Schwanken im
Gedächtnis von Oberst Tabares, die Vergessenheit, die in so
kurzer Zeit das Bild, ja den Namen des Heimkehrers auslöschte.
(Eine noch einfachere Mutmaßung lasse ich nicht zu, will ich
nicht gelten lassen: daß ich den ersten der beiden nur geträumt
habe.) Seltsamer ist die übernatürliche Erklärung, die sich
Ulrike von Kühlmann ausgedacht hat. Pedro Damián, sagte
Ulrike, fiel in der Schlacht, in seiner Todesstunde bat er Gott,
er möge ihn nach Entre Rios heimkehren lassen. Gott zögerte
eine Sekunde, bevor er ihm die Gnade zugestand; der Bitt­
steller war bereits tot, ein paar Männer hatten ihn fallen sehen.
Gott, der die Vergangenheit nicht ändern kann, wohl aber die
Bilder der Vergangenheit, wandelte das Bild des Todes in das
einer Ohnmacht, und der Gefallene kehrte als Schatten in seine
Heimat zurück. E r lebte in der Einsamkeit, ohne Frau, ohne
Freunde; alles liebte und besaß er, aber aus der Ferne, als stände
er jenseits einer Glasscheibe; er starb, und sein mattes Bild ver­
lor sich wie Wasser im Wasser. Diese Erklärung ist irrig, aber
sie sollte mich auf die richtige bringen (die ich heute für zutref­
fend halte) und die einfacher, aber noch unerhörter ist. A u f fast
magische Art entdeckte ich sie in dem Traktat »De omnipo­
tentia« von Pier Damiani, den zu studieren mich zwei Verse
aus Canto X X I des Paradiso veranlaßten, die in scharfer Form
das Problem der Identität stellen. Im fünften Kapitel seines
Traktats behauptet Damiani, im Gegensatz zu Aristoteles und
zu Fredegar von Tours, daß Gott bewirken kann, nicht gewe­
sen sein zu lassen, was einmal war. Ich las diese alten theologi­
schen Erörterungen und fing an, das tragische Schicksal Pedro
Damiáns zu begreifen.
120
Ich vermute, es kam so. Damián benahm sich auf dem
Schlachtfeld von Masoller wie ein Feigling und wandte sein
Leben daran, diese dumpfe Schwäche gutzumachen. E r kehrte
nach Entre Rios zurück; er hob gegen keinen die Hand auf, er
Zeichnete keinen, er bewarb sich nicht um den Ruhm der Tapfer­
keit, sondern wurde hart auf den Feldern von Nancay, rang
mit der Wildnis und den halbwilden Herden. Und bereitete
sich so, bestimmt ohne darum zu wissen, das Wunder zu. In
seinem tiefsten Inneren dachte er: Wenn mir das Schicksal eine
andere Schlacht beschert, werde ich ihrer wert sein. Vierzig
Jahre lang wartete er auf sie mit dumpfer Hoffnung, und am
Ende - in seiner Todesstunde - brachte sie ihm das Schicksal.
Es brachte sie ihm in Gestalt des Fieberwahns, aber schon die
Griechen wußten, daß wir die Schatten eines Traums sind. Im
Todeskampf durchlebte er noch einmal die Schlacht und ver­
hielt sich wie ein Mann; er ritt bei der letzten Attacke an der
Spitze, und eine Kugel traf ihn mitten in die Brust. So bewirkte
im Jahre 1946 eine lange Leidensfrist, daß Pedro Damián bei
der Niederlage von Masoller fiel, die an der Wende von Winter
und Frühling des Jahres 1904 stattfand.
In der »Summa Theologiae« wird geleugnet, daß Gott Ver­
gangenes ungeschehen machen könne, doch verlautet nichts
über die heikle Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die
so umspannend und tiefgehend ist, daß sich im Grunde kein
einziger zurückliegender Vorfall, mag er noch so geringfügig
sein, ausmerzen läßt, ohne das Gegenwärtige zu entkräften. Die
Vergangenheit abändern, heißt nicht etwa, einen einzigen Vor­
fall ändern; es heißt vielmehr ihre Folgen, die bis ins Unend­
liche gehen, austilgen. Mit anderen Worten: es heißt zwei Uni­
versalgeschichten schaffen. In der ersten (nehmen wir an) starb
Pedro Damián in Entre Rios, im Jahr 1946; in der zweiten bei
Masoller im Jahre 1904. Diese Geschichte ist jetzt in Kraft ge­
treten, aber die Unterdrückung der anderen fand nicht unmit­
telbar statt und führte zu den Unvereinbarkeiten, von denen
ich berichtet habe. In Oberst Dionisio Tabares spielten sich die
unterschiedlichen Etappen ab; im Anfang erinnerte er sich, daß
121
Damián sich wie ein Feigling benommen hatte; dann vergaß
er ihn völlig; dann erinnerte er sich seines stürmischen Todes.
Nicht minder erhärtet meine Erklärung der Fall des Pächters
Abaroa, der sterben mußte - so verstehe ich die Sache weil
er an Pedro Damián überreiche Erinnerungen hatte.
Was mich angeht, so glaube ich kein ähnliches Risiko zu
laufen. Ich habe einen den Menschen unzugänglichen Vorgang
erraten und verzeichnet, etwas wie ein Skandalon für die Ver­
nunft; aber dieses Vorrecht ist mit ein paar mildernden Um­
ständen verbunden. Zunächst einmal bin ich durchaus nicht
sicher, daß meine Niederschrift in allem wahrheitsgemäß ist.
Ich vermute, daß sich in meine Darstellung falsche Erinnerun­
gen eingeschlichen haben. Ich vermute, daß Pedro Damián
(wenn es ihn gegeben hat) nicht Pedro Damián hieß und daß
ich ihm in der Erinnerung diesen Namen beilege, um eines
Tages glauben zu können, die Argumente von Pier Damiani
hätten mich auf seine Geschichte gebracht. Ähnlich verhält es
sich mit dem Gedicht, das ich im ersten Absatz erwähnt habe
und das von der UnWiderruflichkeit der Vergangenheit han­
delt. Etwa im Jahre 1951 werde ich glauben, ich hätte mir eine
phantastische Geschichte ausgedacht, während ich einen wirk­
lichen Vorfall geschichtlich verzeichnet habe; auch der ah­
nungslose Vergil glaubte vor annähernd zweitausend Jahren
die Geburt eines Menschen vorauszukünden und weissagte die
Geburt Gottes.
Armer Damián! Der Tod nahm ihn mit zwanzig Jahren fort,
in einem erbärmlichen obskuren Krieg und bei einer Bruder­
schlacht, aber er erlangte, wonach sein Herz begehrte, und
mußte lange warten, bis er es erlangte, und vielleicht ist dies
die größte Wonne.
Das Thema vom Verräter und dem Helden

So the Platonic Year


Whirls out new right and wrong,
Whirls in the old instead;
All men are dancers and their tread
Goes to the barbarous clangour of a gong.
W. B . Yeats: The Tower

Unter dem deutlichen Einfluß Chestertons (der sich auf das


Erzählen und Ausschmücken eleganter Geheimnisse verstand)
und des Hofrats Leibniz (der die prästabilierte Harmonie er­
fand) bin ich auf dieses Thema verfallen, das ich vielleicht ein­
mal ausführen werde und das schon heute meine müßigen
Abende irgendwie rechtfertigt. Noch fehlen Einzelheiten, Be­
richtigungen, Verbesserungen; es gibt Teile in der Geschichte,
die sich mir noch nicht erschlossen haben. Heute, am 3. Januar
1944, sehe ich, ahne ich sie wie folgt:
Die Handlung spielt sich in einem unterdrückten und wider­
standskräftigen Lande ab: sei es nun Polen, Irland, die Repu­
blik Venedig, irgendein südamerikanischer oder balkanischer
Staat - , besser gesagt, sie hat sich abgespielt, denn wenn auch
der Erzähler unser Zeitgenosse ist, so ereignet sich die von ihm
berichtete Geschichte doch in der Mitte oder zu Beginn des
19. Jahrhunderts. Sagen wir (der Einfachheit halber) Irland;
sagen wir 1824. Der Erzähler heißt Ryan; er ist ein Urenkel
des jungen, des heldenhaften, des schönen, des ermordeten
Fergus Kilpatrick, dessen Grab auf geheimnisvolle Weise ent­
weiht wurde, dessen Name die Verse von Browning und
V. Hugo verklärt, dessen Standbild einen grauen Berggipfel
zwischen roten Mooren krönt.
Kilpatrick war ein Verschwörer, ein geheimnisvolles und
ruhmvolles Oberhaupt von Verschwörern. Ähnlich wie Moses,
der vom Lande Moab aus das Gelobte Land sah und es nicht
betreten durfte, fiel Kilpatrick am Vorabend der siegreichen
Rebellion, die er geplant und erträumt hatte. Der 100. Jahres­
tag seiner Ermordung rückt heran; die Umstände des Verbre­
123
chens sind rätselhaft. Ryan, mit der Herausgabe einer Biogra­
phie des Helden beschäftigt, entdeckt, daß das Rätsel die Gren­
zen des rein Kriminellen überschreitet. Kilpatrick wurde in
einem Theater ermordet; die englische Polizei hat den Mörder
nie gefunden. Die Geschichtsschreiber behaupten, dies Ver­
sagen schmälere nicht ihr Ansehen, da ihn vielleicht die Polizei
selbst habe ermorden lassen. Weitere rätselhafte Züge beun­
ruhigen Ryan. Sie tragen zyklischen Charakter: sie scheinen
Ereignisse aus weit entfernten Zeiten, weit entfernten Regionen
zu wiederholen oder zu kombinieren. So weiß jedermann, daß
die Polizei, als sie den Leichnam des Helden untersuchte, einen
verschlossenen Brief bei ihm fand, der ihn vor der Gefahr
warnte, an diesem Abend das Theater zu besuchen; und ebenso
erhielt Julius Caesar, als er zu dem Ort auf brach, wo ihn die
Dolche der Freunde erwarteten, ein Schreiben, das er nicht las
und das den Verrat und alle Namen der Verräter enthüllte.
Caesars Gattin, Calpurnia, sah im Traum einen Turm einstür-
zen, der ihm auf Beschluß des Senats geweiht werden sollte.
Am Vorabend des Todes von Kilpatrick wurden im ganzen
Land falsche und anonyme Gerüchte vom Brand des Rundtur­
mes von Kilgarvan verbreitet, was man als eine Art von V or­
zeichen hätte deuten können, denn in Kilgarvan war er gebo­
ren. Diese (und andere) Parallelen zwischen der Geschichte
Caesars und der Geschichte eines irischen Verschwörers lassen
Ryan auf eine geheime Formel der Zeit schließen, auf ein Mu­
ster von Linien, die sich wiederholen. E r denkt an die Dezimal-
Geschichte, die Condorcet erdachte; an die Morphologien, die
Hegel, Spengler und Vico vortrugen, an die Menschen des
Hesiod, die vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter entarten.
E r denkt an die Lehre von der Seelenwanderung, die die kel­
tischen Schriften mit Schauder erfüllt und die der nämliche
Caesar den britannischen Druiden zuschrieb. E r denkt, daß
Fergus Kilpatrick, bevor er Fergus Kilpatrick war, Julius Cae­
sar gewesen sein mag. Aus diesen kreisförmigen Labyrinthen
rettet ihn eine seltsame Feststellung, die ihn dann in neue, noch
unentrinnbarere und andersgeartete Labyrinthe stürzt: gewisse
124
Worte eines Bettlers, der mit Kilpatrick am Tage seines Todes
sprach, hatte Shakespeare in seiner Tragödie »Macbeth« vor­
gebildet. Daß die Geschichte die Geschichte kopiert haben
sollte, war schon erstaunlich genug; daß die Geschichte die
Literatur hätte kopieren sollen, ist nicht vorstellbar - Ryan
findet heraus, daß im Jahr 1814 James Alexander Nolan, der
älteste Kamerad des Helden, die Hauptdramen Shakespeares
ins Gaelische übersetzt hatte, unter ihnen »Julius Caesar«. Auch
entdeckt er in den Archiven einen handgeschriebenen Artikel
Nolans über die Festspiele in der Schweiz: große Wanderauf­
führungen, die Tausende von Schauspielern erfordern und
geschichtliche Vorfälle in denselben Städten und Bergen dar­
stellen, in denen sie geschehen sind. Ein anderes, nie veröffent­
lichtes Dokument verrät ihm, daß Kilpatrick wenige Tage vor
dem Ende, als er in der letzten geheimen Versammlung den
Vorsitz führte, das Todesurteil für einen Verräter unterschrie­
ben hatte, dessen Name getilgt worden ist. Dieses Urteil stimmt
nicht mit den sonstigen milden Gepflogenheiten Kilpatricks
überein. Ryan untersucht den Fall (diese Untersuchung ist eine
der Lücken in meinem Thema), und es gelingt ihm, das Rätsel
zu lösen.
Kilpatrick wurde in einem Theater umgebracht, aber die
ganze Stadt war Mitspieler, die Anzahl der Schauspieler war
Legion, und das Drama, das in seinem Tod gipfelte, dauerte
viele Tage und Nächte. Hier folgt, was geschah:
Am 2. August 1824 versammelten sich die Verschwörer. Das
Land war reif zur Rebellion: irgend etwas aber schlug immer
fehl: ein Verräter mußte in der Geheimversammlung stecken.
Fergus Kilpatrick hatte James Nolan aufgetragen, diesen Ver­
räter herauszufinden. Nolan führte seine Aufgabe durch: vor
der ganzen Versammlung gab er bekannt, daß der Verräter
Fergus Kilpatrick selbst sei. Mit unwiderleglichen Beweisen
belegte er seine Anklage; die Verschworenen verurteilten ihren
Vorsitzenden zum Tode. Dieser Unterzeichnete sein eigenes
Urteil, bat aber inständigst, seine Bestrafung solle nicht dem
Land zum Schaden gereichen.
1 25
Da entwarf Nolan einen seltsamen Plan. Irland vergötterte
Kilpatrick; der leiseste Verdacht, daß er ein Schurke sei, hätte
die Rebellion in Gefahr gebracht. Nolan schlug ein Verfahren
vor, das aus der Hinrichtung des Verräters ein Werkzeug zur
Befreiung des Vaterlandes machte. E r riet, den Verurteilten
von der Hand eines unbekannten Mörders sterben zu lassen,
- unter absichtlich dramatischen Umständen, die sich in die
Einbildungskraft des Volkes eingraben und die Rebellion be­
schleunigen sollten. Kilpatrick schwur, bei diesem Plan mitzu­
wirken, der ihm Gelegenheit gab, Abbuße zu tun und der sei­
nen Tod besiegeln sollte.
Da die Zeit drängte, vermochte Nolan nicht, alle Umstände
der vielfältigen Hinrichtungszeremonie zu erfinden; er mußte
bei einem anderen Dramendichter eine Anleihe aufnehmen,
beim englischen Feind William Shakespeare. E r übernahm Sze­
nen aus »Macbeth«, aus »Julius Caesar«. Die öffentliche und
geheime Vorstellung zog sich über mehrere Tage hin. Der
Verurteilte zog in Dublin ein - er verhandelte, traf Entschei­
dungen, betete, tadelte, hielt feierliche Reden - , und jede ein­
zelne dieser Handlungen, die im Nachruhm fortdauern sollten,
war von Nolan vorherbestimmt. Hunderte von Schauspielern
wirkten zusammen mit dem Hauptdarsteller; einige Rollen
waren schwierig, andere beschränkten sich auf einen Augen­
blick. Die Dinge, die gesagt und getan wurden, stehen noch
heute in den Geschichtsbüchern - sind verewigt im leiden­
schaftlichen Gedächtnis Irlands. Kilpatrick, hingerissen von
diesem genau ausgedachten Schicksalsablauf, der ihn lossprach
und ihn ins Verderben führte, bereicherte mehr als einmal den
Text seines Richters um improvisierte Taten und Reden. So
entfaltete sich in der Zeit das volkreiche Drama, bis am 6. Au­
gust 1 824 in einer mit Trauervorhängen ausgeschlagenen Loge,
die auf die Theaterloge Lincolns vorausdeutete, die ersehnte
Kugel die Brust des Verräters und Helden durchbohrte, der
zwischen zwei Strömen stürzenden Blutes kaum noch ein paar
vorgesehene Worte zu sprechen vermochte.
In dem Werk Nolans sind die Teile, die sich an Shakespeare
126
anschließen, die im geringsten Maße dramatischen; Ryan ver­
mutet, daß der Autor sie einfügte, damit irgend jemand künf­
tig die Wahrheit herausfinden sollte. E r begreift, daß auch er
in Nolans Plan einbezogen ist . . . Nach reiflicher Überlegung
beschließt er, seine Entdeckung zu verschweigen; er veröffent­
licht ein Buch, das dem Ruhm des Helden gewidmet ist. Auch
das war, vielleicht, vorgesehen.
Emma Zunz

Am 14. Januar 1922 fand Emma Zunz, als sie von der Textil­
fabrik Tarbuch und Loewenthal heimkam, im hintersten Flur
einen in Brasilien aufgegebenen Brief, der die Nachricht vom
Tode ihres Vaters enthielt. A u f den ersten Blick ließ sie sich
durch die Marke und den Umschlag täuschen; dann erschreckte
sie die unbekannte Schrift. Neun oder zehn hingeworfene Zei­
len bemühten sich, den Bogen zu füllen; Emma las, daß Herr
Maier versehentlich eine starke Dosis Veronal zu sich genom­
men habe und am dritten dieses im Krankenhaus von Bage
verschieden sei. Unterzeichnet war diese Mitteilung von einem
Pensionsnachbarn ihres Vaters, einem gewissen Fein oder Fain
aus Rio Grande, dem nicht bewußt sein mochte, daß er den
Brief an die Tochter des Verstorbenen richtete.
Emma ließ das Briefblatt fallen. Das erste, was sie empfand,
war ein Schwächegefühl im Leib und in den Knien; dann ein
dunkles Gefühl von Schuld, von Unwirklichkeit, von Kälte
und Furcht; dann wünschte sie, es wäre schon morgen. Im sel­
ben Augenblick begriff sie, daß diese Wunschregung nutzlos
war, da es nur eines gab, was geschehen war, der Tod ihres
Vaters, daß sein Tod immer wieder geschehen würde, ohne
Ende. Sie hob das Blatt auf und ging in ihr Zimmer. Verstohlen
barg sie es in einer Schublade, als wüßte sie bereits, was sich
später ereignen sollte. Vielleicht erhaschte sie blitzartig das
Kommende und war schon jetzt, was sie künftig sein würde.
In der zunehmenden Dunkelheit beweinte Emma Zunz bis
in die späten Nachtstunden den Selbstmord von Manuel Maier,
der ehemals in seiner glücklicheren Zeit Emanuel Zunz gehei­
ßen hatte. Sie erinnerte sich an Sommeraufenthalte in einer
Indianerhütte in der Nähe von Gualeguay, sie erinnerte sich
128
an ihre Mutter - oder versuchte sich an sie zu erinnern das
Häuschen in Lanüs fiel ihr ein, das versteigert worden war, die
gelben Karoscheiben eines Fensters, der Polizeiwagen und die
Schande; sie erinnerte sich an die anonymen Zuschriften mit
Zeitungsausschnitten: »Unterschlagung eines Kassierers«, und
erinnerte sich (aber das vergaß sie nie) jener letzten Nacht, in
der ihr Vater sich verschworen hatte, Loewenthal sei der Dieb.
Loewenthal, Aron Loewenthal, ursprünglich Geschäftsführer
der Fabrik, heute einer ihrer Chefs. Emma hütete seit 1916 das
Geheimnis. Vor keinem Menschen hatte sie es enthüllt, nicht
einmal vor ihrer besten Freundin, Elsa Urstein. Vielleicht
fürchtete sie, es im Angesicht der Ungläubigkeit zu entweihen,
vielleicht glaubte sie, das Geheimnis sei ein Band zwischen ihr
und dem Abwesenden. Loewenthal wußte nicht, daß sie wußte.
Emma Zunz bezog aus diesem geringfügigen Umstand ein
Gefühl der Macht.
Sie blieb in dieser Nacht ohne Schlaf, und als das erste Licht
sich im Viereck des Fensters abzeichnete, stand ihr Plan in allen
Einzelheiten fest. Sie sorgte dafür, daß dieser Tag, der ihr end­
los erschien, sich wie alle anderen anließ. In der Fabrik gingen
Streikgerüchte um; Emma sprach sich wie stets gegen jede
Gewaltmaßregel aus. Um sechs, nach Arbeitsschluß, ging sie
mit Elsa in einen Frauenklub, zu dem eine Turnhalle und ein
Schwimmbecken gehörten. Sie schrieben sich ein; sie mußte
ihren Vor- und Zunamen wiederholen und buchstabieren,
mußte während der Untersuchung die üblichen derben Späße
über sich ergehen lassen. Mit Elsa und der jüngeren Kronfuß
beriet sie, in welches Kino sie am Sonntagabend gehen wollten.
Dann kam, das Gespräch auf heiratsfähige junge Männer, und
keine nahm an, daß Emma sich dazu äußern würde. Im April
wurde sie neunzehn Jahre alt, doch flößten die Männer ihr noch
immer einen fast krankhaften Schauder ein. Wieder zu Hause,
kochte sie sich eine Tapiokasuppe und ein bißchen Gemüse,
aß zeitig, legte sich hin und zwang sich zum Schlafen. So
brachte sie mühsam und ganz gewöhnlich Freitag, den 15., den
Vortag, herum.

129
Ungeduld weckte sie am Samstag auf! Ungeduld, nicht Un­
ruhe, dazu das seltsam erleichterte Gefühl, daß nun der Tag
gekommen war. Jetzt gab es nichts mehr einzufädeln und aus­
zumalen; in ein paar Stunden würde sie zur Eindeutigkeit der
Tatsachen hinfinden. Sie las in der »Prensa«, daß der »Nord-
stjärnan« von Malmö in der folgenden Nacht von Mole 3 ab-
legen würde; sie rief Loewenthal telefonisch an, ließ ihn wissen,
daß sie ihm, ohne daß die anderen etwas davon erfahren dürf­
ten, Mitteilungen über den Streik machen wolle, und verhieß,
bei Dunkelwerden in seinem Büro vorzusprechen. Ihre Stimme
bebte; zu einer Angeberin paßte das Beben. Sonst geschah an
diesem Morgen nichts Bemerkenswertes. Emma arbeitete bis
zwölf und besprach mit Elsa und Perla Kronfuß Einzelheiten
ihres Sonntagsausflugs. Sie legte sich nach dem Essen hin und
überschlug bei geschlossenen Augen den Plan, den sie ausge­
heckt hatte. Sie meinte, der abschließende Teil sei weniger ent­
setzlich als der vorhergehende und würde sie bestimmt den
Sieg und die Gerechtigkeit auskosten lassen. Von plötzlicher
Erregung erfaßt, stand sie auf und lief zur Kommodenschub­
lade; unter dem Bild von Milton Sills lag an der Stelle, wo sie
ihn am vorletzten Abend gelassen hatte, der Brief von Fain.
Niemand konnte ihn gesehen haben; sie las ihn noch einmal
und riß ihn in Stücke.
Die Vorfälle des Nachmittags wirklichkeitsgetreu zu erzäh­
len, wäre schwierig, vielleicht sogar unzutreffend. Ein Begleit­
umstand des Höllischen ist seine Unwirklichkeit, ein Umstand,
der seinen Schrecken abzumildern scheint, ihn aber auch wieder
vertieft. Wie soll man eine Tat glaubhaft machen, an die nicht
einmal jene, von der sie getan ward, wirklich glaubte, wie soll
man diesen Auszug des Chaos einfangen, den heute das Ge­
dächtnis von Emma Zunz verleugnet und verwirft? Emma
lebte im Almagroviertel, in der Calle Liniers; wir halten für
ausgemacht, daß sie an jenem Nachmittag im Hafengebiet war.
Vielleicht hat sie sich in der übelberüchtigten Paseo de Julio in
Spiegeln vervielfältigt gesehen, zur Schau gestellt von grellen
Lichtern, preisgegeben geilen Blicken, die ihr die Kleider vom
130
Leibe rissen; bei kühlerer Überlegung ist freilich anzunehmen,
daß sie zuerst unbemerkt im Gewimmel umherstreifte . . . Sie
betrat zwei oder drei Bars, sah die Routine oder das Techtel­
mechtel anderer Weiber. Schließlich traf sie auf die Männer
vom »Nordstjärnan«. Bei einem, der noch ganz jung war,
fürchtete sie, er könne sie weich stimmen; so entschied sie sich
für einen anderen, der vielleicht kleiner als sie und ein Grobian
war, damit ihr Abscheu unbeeinträchtigt in seiner Reinheit
bleibe. Der Mann brachte sie zu einer Türe, dann in einen
schmierigen Flur, dann eine verwinkelte Treppe hinauf, dann
in einen Vorraum (wo ein Fenster mit denselben Karoscheiben
war wie in dem Haus von Lanüs), dann auf einen Gang und
dann zu einer Türe, die sich schloß. Die schwerwiegenden
Dinge geschehen außerhalb der Zeit, vielleicht weil durch sie
die unmittelbare Vergangenheit von der Zukunft losgetrennt
wird, vielleicht auch weil in den Teilen, aus denen sie sich
zusammensetzen, keine Folge zu herrschen scheint.
Hat wohl in dieser Zeit außerhalb der Zeit, in dem wirren
Betroffensein von unzusammenhängenden und gräßlichen Emp­
findungen Emma Zunz ein einzigesmal an den Toten gedacht,
dem ihr Opfer galt? Ich möchte glauben, daß sie einmal an ihn
gedacht hat und daß in diesem Augenblick ihr verzweifeltes
Vorhaben Gefahr lief. Sie dachte (sie konnte gar nicht anders),
daß ihr Vater das Entsetzliche, das man jetzt ihr antat, ihrer
Mutter angetan hatte. Sie dachte es mit mattem Erstaunen und
flüchtete sich gleich darauf in bewußtlosen Taumel. Der Mann,
Schwede oder Finne, sprach kein Spanisch; er war für Emma
ein Werkzeug wie sie für ihn; aber sie diente ihm zur Lust, er
ihr zur Gerechtigkeit.
Als sie allein zurückblieb, schlug Emma nicht gleich die
Augen auf. Neben ihr auf dem Nachttisch lag das Geld, das der
Mann hinterlassen hatte. Geld zerreißen, ist frevelhaft wie Brot
wegwerfen; Emma empfand Reue, kaum daß sie es getan hatte.
Eine Tat aus Überheblichkeit, und an diesem Tag . . . Die
Angst sank unter in der Traurigkeit ihres Leibes, im Ekel. Ekel
und Traurigkeit drückten sie wie Ketten nieder; doch stand
131
Emma langsam auf und begann sich anzuziehen. In dem Raum
waren keine lebhaften Farben mehr; die späte Dämmerung
lastete dunkler und dunkler. Emma konnte das Haus unbe­
merkt verlassen; an der Ecke bestieg sie einen Lacroze, der in
Westrichtung fuhr. Sie wählte, ihrem Plan gemäß, den vor­
dersten Sitzplatz, damit niemand ihr Gesicht sehen sollte. Viel­
leicht tröstete es sie, als sie beim Abrollen nichtssagender Stra­
ßenbänder feststellen konnte, daß die Dinge von dem Vorge­
fallenen unbefleckt geblieben waren. Sie fuhr durch lückenhafte
und trübsinnige Viertel, sah sie und vergaß sie im nächsten
Augenblick; an einer der Straßenmündungen von Warnes stieg
sie aus. Widersprechenderweise stellte sich ihre Müdigkeit als
Stärke heraus; sie zwang sie, sich auf die Einzelheiten des Aben­
teuers zu konzentrieren, und verbarg ihr Hintergrund und
Ausgang.
Aron Loewenthal war nach allgemeiner Ansicht ein tüchti­
ger Geschäftsmann; nach Ansicht der wenigen, die ihm näher­
standen, ein Geizhals. Da er mitten in der verlotterten Vor­
stadt hauste, war er ständig in Angst vor Einbrechern; auf dem
Fabrikhof war ein großer Hund, in seiner Schreibtischschub­
lade - jeder wußte das - ein Revolver. E r hatte im vorigen
Jahr beim unvermuteten Tode seiner Frau - einer geborenen
Gauß, die ihm eine stattliche Mitgift eingebracht hatte - ge­
bührende Tränen vergossen, aber seine eigentliche Leiden­
schaft war das Geld. Zu seinem stillen Verdruß fiel es ihm
schwerer, Geld zu machen, als welches zu horten. E r war sehr
religiös; er hing an dem Glauben, es bestehe zwischen ihm und
dem Herrn ein geheimer Pakt, der ihn im Austausch gegen
Gebet und Andachtsübungen sauberer Geschäftsgebarung ent­
hob. Kahlköpfig, beleibt, in Trauerkleidung, mit trüben Bril­
lengläsern und blondem Kinnbart, erwartete er am Fenster ste­
hend die vertrauliche Mitteilung der Arbeiterin Zunz.
E r sah, wie sie das Gitter aufstieß (das er vorsorglich um das
Fabrikgelände hatte ziehen lassen) und den dunklen H of über­
querte. E r sah, wie sie einen kleinen Bogen machte, als der
Hund an seiner Kette anschlug. Emmas Lippen waren unab-
132
lässig in Bewegung, wie wenn jemand lautlos vor sich hinbetet;
erschöpft sagten sie wieder und wieder das Urteil her, das Herr
Loewenthal vor seinem Tode vernehmen sollte.
Die Sache spielte sich nicht so ab, wie Emma vorausgesehen
hatte. Vom Morgen des vorigen Tages an hatte sie sich immer
wieder in der Vorstellung gewiegt, wie sie den Revolver fest
auf ihn richten und dem Erbärmlichen das Geständnis seiner
erbärmlichen Schuld abringen wollte, um daraufhin ihm das
unerschrockene Verfahren bekanntzugeben, das die Gerechtig­
keit Gottes über menschliche Gerechtigkeit triumphieren las­
sen sollte. (Nicht weil sie Angst hatte, sondern weil sie sich als
ein Werkzeug in der Hand der Gerechtigkeit fühlte, wollte sie
nicht bestraft werden.) Dann sollte ein einziger Revolverschuß
in die Brust das Schicksal Loewenthals besiegeln. Aber so spiel­
ten sich die Dinge nicht ab.
Im Angesicht Aron Loewenthals fühlte Emma nicht so sehr
den Drang, ihren Vater zu rächen, als den Schimpf, den sie
dafür auf sich genommen hatte, zu bestrafen. Nach dieser aus-
getüftelten Entehrung konnte sie ihn nur noch töten. Auch
blieb ihr keine Zeit für Theaterspielerei. V or ihm sitzend, bat
sie Loewenthal zaghaft um Entschuldigung, berief sich (um ihre
Angeberei zu rechtfertigen) auf das Gebot der Diensttreue,
nannte ein paar Namen, ließ auf andere schließen und brach,
wie von Furcht überwältigt, ab. Sie erreichte, daß Loewenthal
ein Glas Wasser holen ging. Als dieser, kopfschüttelnd über so
ein Getue, aber in nachsichtiger Laune, aus dem Speisezimmer
zurückkam, hatte Emma bereits den schweren Revolver aus
der Schublade gerissen. Sie drückte zweimal auf den Abzug, der
mächtige Körper sackte in sich zusammen, als hätten Knall
und Rauch ihn geknickt, das Glas Wasser zerschellte, Staunen
und Zorn sahen ihr aus dem Gesicht entgegen, der Mund in
dem Gesicht beschimpfte sie auf Spanisch und Jiddisch. Die
Schimpfworte nahmen kein Ende; Emma mußte noch einmal
feuern. A u f dem H of brach der angekettete Hund in lautes
Gebell aus, und ein Schwall jähen Blutes floß über die lästern­
den Lippen und befleckte den Bart und die Wäsche. Emma be-
13 3
gann die Anklageworte herzusagen, die sie sich zurechtgelegt
hatte (»Ich habe meinen Vater gerächt, und sie werden mir
keine Strafe geben können«), aber sie kam nicht mit ihnen zu
Ende, denn Herr Loewenthal war bereits tot. Sie erfuhr nie,
ob er sie noch verstanden hatte.
Das keifende Gebell erinnerte sie daran, daß sie sich noch
keine Ruhe gönnen durfte. Sie brachte den Diwan in Unord­
nung, knöpfte der Leiche den Anzug auf, nahm ihr die fleckige
Brille ab und legte sie auf den Notizblock. Dann griff sie zum
Telefonhörer und wiederholte, was sie noch oft wiederholen
sollte, in diesen und anderen Worten: »Etwas Unglaubliches
ist geschehen . . . Herr Loewenthal ließ mich unter dem V or­
wand, es handle sich um den Streik, zu sich kommen . . . E r
hat mich mißbraucht, ich habe ihn getötet. . .«
Die Geschichte war in der Tat unglaublich, aber sie setzte
sich bei allen durch, weil sie auf den Kern zutraf. Zutreffend
war die Tonart, in der Emma Zunz sprach, zutreffend war ihr
verletztes Schamgefühl, zutreffend war ihr Haß. Zutreffend
war auch der Schimpf, den sie erlitten hatte; falsch waren nur
die Umstände, der Zeitpunkt und ein oder zwei Eigennamen.
D as Ende

Recabarren schlug im Liegen die Augen auf und sah schräg


unter sich den Himmel der Grassteppe. Aus dem anstoßenden
Zimmer drang das Schwirren einer Gitarre, das wie ein ganz
dürftiges Labyrinth sich endlos verwob und wieder aufknüpfte.
Nach und nach wurde er der Wirklichkeit inne, der alltäg­
lichen Dinge, die er nie mehr mit anderen vertauschen würde.
E r sah ohne Mitleid auf seinen großen untauglichen Körper,
auf den grobwollenen Poncho, der seine Beine einhüllte. Drau­
ßen, jenseits der Eisenstangen des Fensters, breiteten sich die
Steppe und der Abend; er hatte geschlafen, aber am Himmel
war noch viel Helligkeit. E r tastete mit dem linken Arm, bis er
am Fuß des Lagers die bronzene Glocke zu fassen bekam. Ein­
oder zweimal schüttelte er sie; von der anderen Seite der Türe
drangen weiter die bescheidenen Akkorde zu ihm her. Der
Gitarrenspieler war ein Neger, der sich eines Abends als
Sänger bei ihm eingeführt hatte und mit einem anderen frem­
den Gast in einer langen Stegreifballade in Wettstreit ge­
treten war. E r war unterlegen, besuchte aber weiterhin die
Schenke, wie wenn er auf jemanden warte. E r vertrieb sich
die Zeit mit der Gitarre, doch gesungen hatte er nie wieder;
vielleicht hatte ihn die Niederlage verbittert. Die Leute hatten
sich unterdessen an den harmlosen Mann gewöhnt. Recabar­
ren, dem Wirt der Schenke, sollte dieser Wettstreit nie mehr
aus dem Gedächtnis schwinden; als er am nächsten Tag ein
paar Maultierlasten Heu gebündelt hatte, war ihm plötzlich
die rechte Seite abgestorben, und er hatte die Sprache verloren.
Aus lauter Mitleid mit den Schicksalen von Romanhelden kom­
men wir schließlich dazu, uns wegen eigener Schicksalsschläge
übermäßig zu bedauern; nicht so Recabarren, der die Gelähmt-
*35
heit hinnahm, wie er vordem Härte und Einsamkeit Amerikas
hingenommen hatte. Da er wie die Tiere gewöhnt war, im
Gegenwärtigen zu leben, sah er jetzt nach dem Himmel und
dachte, der rote H of um den Mond deute auf Regen.
Ein Junge mit indianischen Gesichtszügen (vielleicht war es
sein Sohn) öffnete die Tür um einen Spalt. Recabarren fragte
mit den Augen, ob von den Leuten aus der Gemeinde jemand
da sei. Der Junge gab ihm durch ein stummes Zeichen zu
verstehen, es sei keiner da; der Neger zählte nicht. Der aus­
gestreckt Daliegende blieb wieder allein; seine linke Hand
spielte eine Zeitlang mit der Glocke, als versichere sie sich
einer Macht.
Die Ebene wirkte im letzten Sonnenlicht fast körperlos wie
eine Traumerscheinung. Ein Punkt bewegte sich am Horizont,
wurde allmählich größer, bis er ein Reiter war, der herankam,
der - so schien es - auf das Haus zukam. Recabarren unter­
schied den breitkrempigen Hut, den weiten dunklen Poncho,
das schwarzbraune Pferd, jedoch nicht das Gesicht des Mannes,
der zum Schluß aus dem Galopp fiel und sich in kurzem Trab
näherte. A u f ein paar Dutzend Ellen Entfernung schwenkte er
ein. Recabarren sah ihn nicht mehr, hörte aber, wie er durch­
parierte, aus dem Sattel sprang und das Pferd am Geländer fest­
machte, dann mit kräftigem Schritt in die Schenkstube trat.
Ohne seine Augen vom Instrument aufzuheben, wo er
etwas zu suchen schien, sagte der Neger sanftmütig: »Ich
wußte ja, Herr, daß ich auf Sie rechnen konnte.«
Der andere erwiderte mit harscher Stimme: »Und ich mit
dir, Schwarzer. Ein paar Tage habe ich dich warten lassen.
Aber hier bin ich nun.«
Eine Zeitlang blieb es still. Dann erwiderte der Neger: »Ich
habe mich ans Warten gewöhnt. Sieben Jahre lang habe ich
gewartet.«
Der andere erklärte unbekümmert: »Über sieben Jahre habe
ich meine Kinder nicht gesehen. Heute bin ich ihnen begeg­
net, doch wollte ich vor ihnen nicht als ein Mann dastehen,
der auf einen Zweikampf mit dem Messer auszieht.«
136
»Das hab ich mir wohl gedacht«, sagte der Neger. »Ich
hoffe, Sie haben sie bei guter Gesundheit angetroffen.«
Der Fremde, der sich an den Schanktisch gesetzt hatte,
lachte hellauf. E r bestellte ein Glas Schnaps und nippte daran,
trank es jedoch nicht aus.
»Ich erteilte ihnen gute Ratschläge«, sagte er, »die nie zu
Unrecht kommen und die obendrein nichts kosten. Ich sagte
zu ihnen unter anderem, daß der Mensch nicht das Blut des
Menschen vergießen soll.«
Ein langer Akkord ging der Antwort des Negers voraus:
»Das war recht getan. So werden sie wenigstens nicht sein
wie wir.«
»Zumindest wie ich«, sagte der Fremde und setzte, als
dächte er laut, hinzu: »Mein Schicksal hat es so gewollt, daß
ich tötete, und heute drückt es mir ein zweites Mal das Mes­
ser in die Hand.«
Der Neger, wie wenn er ihn nicht hörte, versetzte: »Im
Herbst werden die Tage kürzer.«
»Mir reicht die Helligkeit draußen noch«, erwiderte der
andere aufstehend.
E r trat vor den Neger hin und sagte, als hätte er genug:
»Laß die Gitarre in Frieden, heute bekommst du es mit einer
anderen Art von Kontrapunkt zu tun.«
Die beiden schritten zur Tür; der Neger murmelte im
Hinausgehen: »Mag sein, daß es mir diesmal so übel ergeht
wie beim erstenmal.«
Der andere entgegnete ernsthaft: »Beim erstenmal erging es
dir nicht übel. Du hattest nur Lust, es zu diesem zweiten Mal
zu bringen.«
Sie entfernten sich eine Strecke von den Häusern, neben­
einander hergehend. In der Ebene war eine Stelle wie die
andere, und der Mond gleißte. Plötzlich sahen sie einander
an, blieben stehen, und der Fremde legte die Sporen ab.
Schon hatten sie den Poncho um den Unterarm geschlungen,
als der Neger sagte:
»Um eines möchte ich Sie noch bitten, bevor wir handge­
137
mein werden. Nehmen Sie bei diesem Zweikampf Ihre ganze
Angriffslust und Ihre ganze Wut zusammen, genauso wie bei
jenem anderen vor sieben Jahren, als Sie meinen Bruder
töteten.«
Vielleicht zum erstenmal, seit sie miteinander sprachen, ver­
nahm Martin Fierro die Stimme des Hasses. Sein Blut spürte
den Haß wie ätzendes Gift. Sie fielen einander an, und der ge­
schliffene Stahl streifte und umriß das Antlitz des Negers.
Es gibt am Abend eine Stunde, da ist die Steppe nahe daran,
etwas zu sagen; sie sagt es nie oder vielleicht sagt sie es
ohne Anfang und Ende, und wir verstehen es nicht, oder wir
verstehen es, aber es läßt sich so wenig übersetzen wie eine
Melodie . . . V o n seinem Lager aus sah Recabarren das Ende.
Ein Ausfall, und der Neger wich zurück, verlor den Stand,
fuhr mit dem Messer nach oben, als wolle er das Gesicht tref­
fen, und streckte sich dann in einen tief angesetzten Stich hin­
ein, der in den Bauch drang. Darauf erfolgte ein zweiter Stich,
den der Schankwirt nicht unterscheiden konnte, und Fierro
stand nicht mehr auf. Reglos schien der Neger über seinem
mühsamen Todeskampf zu wachen. E r reinigte die blutige
Klinge im Gras und kehrte sich, ohne einen Blick zurück, den
Häusern zu. Jetzt, da er seiner Richterpflicht genügt hatte,
war er fortan niemand mehr; er war der andere; er hatte auf
Erden kein Schicksal mehr, und er hatte einen Menschen
getötet.
Der Süden

Der Mann, der im Jahre 1871 in Buenos Aires an Land ging,


hieß Johannes Dahlmann und war Pfarrer der Evangelischen
Kirche; im Jahr 1939 war einer seiner Enkel, Juan Dahlmann,
Sekretär an einer Städtischen Bibliothek in der Straße Cor­
doba und fühlte sich zutiefst als Argentinier. Sein Großvater
mütterlicherseits war jener Francisco Flores vom 2. Linien­
infanterieregiment gewesen, der an der Grenze der Provinz
Buenos Aires von Lanzen der Catriel-Indianer gefallen war. Im
Widerstreit seiner beiden verschiedenen Abstammungen ent­
schied sich Juan Dahlmann (vielleicht unter dem Einfluß seines
deutschen Blutes) für die Linie dieses romantischen Vorfah­
ren mit seinem romantischen Tod. Ein Lederetui mit dem
Daguerreotyp eines unpersönlich dreinblickenden bärtigen
Mannes, ein alter Degen, der Schwung und die Herzhaftigkeit
gewisser Musikstücke, - der ständige Umgang mit den Versen
des »Martin Fierro1«, die Jahre, die Enttäuschungen und die
Einsamkeit verstärkten seinen »criollismo«, sein Bedürfnis, sich
als eingeborener Argentinier zu fühlen, das er zwar bewußt
pflegte, aber nie übertrieben zur Schau trug. Um den Preis
einiger Entbehrungen war es Dahlmann gelungen, sich das
Kernstück einer Estancia im Süden zu erhalten, die den Flores
gehört hatte. Zu seinen Erinnerungs-Gewohnheiten gehörte das
Bild der balsamisch duftenden Eukalyptusbäume und des lang­
gestreckten rosafarbenen Hauses, das einmal karmesinrot ge­
wesen war. Seine Arbeit und vielleicht auch eine gewisse Träg­
heit hielten ihn in der Stadt fest. Sommer auf Sommer be­

1 »M artin Fierro«, berühmtes argentinisches V ersepos von Jo sé Hernandez aus der z. Hälfte
des 19. Jahrhunderts, das die Welt und die Lebensweisheit (um nicht zu sagen: Philosophie) des
argentinischen Gaucho zum Them a hat.

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gnügte er sich mit der abstrakten Vorstellung des Besitzes und
mit der Gewißheit, daß dort an einer bestimmten Stelle der
weiten Ebene sein Haus auf ihn wartete.
In den letzten Februartagen 1939 stieß ihm etwas zu.
Blind für wirkliche Schuld, kann das Schicksal doch unbarm­
herzig gegen die kleinsten Unachtsamkeiten sein. Dahlmann
hatte an diesem Abend ein unvollständiges Exemplar von
»Tausendundeine Nacht« von Weil aufgetrieben; begierig,
diesen Fund zu betrachten, wartete er nicht, bis der Fahrstuhl
herunterkam, sondern lief eilig die Treppe hinauf. In der Dun­
kelheit streifte etwas seine Stirn - eine Fledermaus, ein Vogel?
Im Gesicht der Frau, die ihm die Tür öffnete, stand Entsetzen
geschrieben und die Hand, mit der er sich über die Stirn strich,
färbte sich rot von Blut. Die Kante eines frischgestrichenen
Fensterflügels, den jemand zu schließen vergessen hatte, war
schuld an dieser Wunde. Es gelang Dahlmann einzuschlafen;
aber gegen Morgen wurde er wach, und von diesem Augen­
blick an bekamen alle Dinge einen abscheulichen Geschmack.
Das Fieber verzehrte ihn, und die Illustrationen von »Tausend­
undeine Nacht« waren dazu angetan, Angstträume auszu­
schmücken. Freunde und Verwandte besuchten ihn und ver­
sicherten ihm mit übertriebenem Lächeln, daß er sehr gut aus­
sehe. Dahlmann hörte sie mit einer Art von mattem E r­
staunen an und wunderte sich, daß sie nicht wußten, daß er
in der Hölle war. Acht Tage vergingen wie acht Jahrhunderte.
Eines Nachmittags erschien sein gewohnter Arzt mit einem
neuen Arzt, und sie brachten ihn in ein Sanatorium in der
Straße Ecuador, weil sich eine Röntgenaufnahme als unum­
gänglich erwiesen hatte. In der Mietdroschke, die sie dorthin
brachte, dachte Dahlmann, daß er in einem Zimmer, das nicht
sein Zuhause wäre, endlich werde schlafen können. E r fühlte
sich glücklich und gesprächig. Kaum angekommen, entkleidete
man ihn, schor ihm den K op f, schnallte ihn auf einer Bahre
fest, durchleuchtete ihn bis zum Blindwerden und bis zur
Übelkeit, untersuchte ihn, - und ein maskierter Mann stieß
ihm eine Nadel in den Arm. E r wachte mit Brechreiz auf, fest
140
verbunden und in einer Zelle, die etwas von einem Brunnen­
schacht hatte; in den Tagen und Nächten, die auf die Opera­
tion folgten, mußte er erkennen, daß er bis dahin kaum im
V orhof der Hölle gewesen war. Das Eis ließ in seinem Mund
nicht die leiseste Spur von Erfrischung zurück. In diesen Tagen
begann Dahlmann, sich Stück für Stück zu hassen; er haßte
sein Selbst, seine körperlichen Bedürfnisse, seine Erniedrigung,
den Bart, der sein Gesicht stachelig machte. Mit stoischem
Gleichmut ertrug er die Behandlungen, die sehr schmerzhaft
waren; aber als der Chirurg ihm sagte, daß er beinahe an einer
Sepsis gestorben sei, brach Dahlmann in Tränen aus, nur aus
Mitleid mit seinem Geschick. Das körperliche Elend und das
unablässige Gefaßtsein auf schlimme Nächte hatten ihn an so
etwas Abstraktes wie den Tod nicht denken lassen. Am näch­
sten Tag sagte ihm der Chirurg, daß er auf dem Weg der
Besserung sei und daß er sehr bald zur Erholung auf die
Estancia werde gehen können. Wider alles Erwarten kam der
versprochene Tag heran.
Die Wirklichkeit liebt die Symmetrie und die leichten
Anachronismen; Dahlmann war in einer Mietdroschke ins
Sanatorium gekommen, und jetzt brachte ihn eine Miet­
droschke zur Bahnstation Constitución. Die erste herbstliche
Kühle nach der drückenden Luft des Sommers war gleichsam
ein Sinnbild seines Schicksals, das ihn von Fieber und Tod los­
gesprochen hatte. Die Stadt hatte um 7 Uhr früh noch nicht
das Aussehen eines alten Hauses eingebüßt, das ihr die Nacht
zu geben pflegt; die Straßen waren wie lange Gänge, die
Plätze wie Höfe. Dahlmann erkannte sie mit einem Gefühl
von Glück und anfänglichem Schwindel wieder; Sekunden be­
vor seine Augen sie entdeckten, erinnerte er sich an die
Straßenkreuzungen, die Anschlagsäulen, an die bescheidenen
Unterschiede im Stadtbild von Buenos Aires. Im gelben Licht
des neuen Tages kamen alle Dinge zu ihm zurück.
Jedermann weiß, daß der »Süden« jenseits der Straße Riva-
davia1 beginnt. Dahlmann pflegte zu sagen, daß das keine
1 R ivad avia: Kilometerlange Straße, die das alte Zentrum von Buenos Aires in zwei Hälften teilt.

141
bloße Redensart ist, - daß, wer diese Straße überquert, eine
ältere und gefestigtere Welt betritt. Vom Wagen aus suchte er
zwischen den Neubauten das alte Gitterfenster, den Tür­
klopfer, den Türbogen, den Gang und den Innenhof.
In der Bahnhofshalle merkte er, daß noch 30 Minuten Zeit
waren. E r erinnerte sich plötzlich, daß es in einem Café in der
Straße Brasil (wenige Schritte vom Hause Irigoyens1 entfernt)
einen riesigen Kater gab, der sich wie eine Gottheit verächt­
lich von den Leuten liebkosen ließ. E r ging hinein. Da lag der
Kater, schlafend. E r bestellte eine Tasse Kaffee, süßte sie
langsam, kostete (dieser Genuß war ihm im Sanatorium unter­
sagt gewesen) und dachte, während er das schwarze Fell strei­
chelte, daß diese Berührung eitel war und daß sie wie durch
eine Glaswand voneinander getrennt waren; denn der Mensch
lebt in der Zeit, im Ablauf der Dinge - und das zauberische
Tier in der Gegenwart, in der Ewigkeit des Augenblicks.
Am vorletzten Bahnsteig wartete der Zug. Dahlmann ging
durch die Wagen und fand einen, der fast leer war. E r ver­
staute den Handkoffer im Netz; als die Wagen sich in Bewe­
gung setzten, machte er ihn auf und holte, nach einigem
Zögern, den ersten Band von »Tausendundeine Nacht« heraus.
Mit diesem Buch zu reisen, das so eng mit der Geschichte
seines Mißgeschicks verknüpft war, war soviel wie eine Be­
stätigung, daß dieses Mißgeschick behoben war, und eine
heitere und geheime Herausforderung an die gescheiterten
Mächte des Bösen.
Zu beiden Seiten des Zuges löste die Stadt sich in Vororte
auf; dieser Anblick und weiterhin der der Gärten und Land­
häuser zögerten den Beginn der Lektüre hinaus. In Wahrheit
las Dahlmann überhaupt nur wenig; der Magnetberg und der
Geist, der geschworen hat, seinen Wohltäter zu töten, waren
wunderbar - wer könnte das bezweifeln aber nicht viel
wunderbarer, als der Morgen und die Tatsache, dazusein.
Das Glücksgefühl lenkte ihn von Scheherezade und ihren
1 H ipolito Irigoyen, Präsident Argentiniens von 1916-22 und von 1928-30, als Politiker viel­
umstrittene Persönlichkeit.

142
überflüssigen Wundern ab; Dahlmann schloß das Buch und
überließ sich einfach dem Leben.
Das Mittagessen (bei dem die Fleischbrühe in glänzenden
Metallschalen serviert wurde, wie in längst vergangenen Som­
merfrischen seiner Kindheit) war ein neuer, mit Ruhe und
Dankbarkeit hingenommener Genuß.
Morgen werde ich auf der Estancia aufwachen, dachte er,
und es war, als sei er zur selben Zeit zwei Menschen: einer,
der durch den Herbsttag, durch die heimatliche Landschaft
dahinfuhr - der andere in einem Sanatorium eingesperrt und
planmäßiger Knechtschaft unterworfen. E r sah ungetünchte
Backsteinhäuser, langgestreckt und mit vielen Ecken, die ohne
Ende nach den vorbeifahrenden Zügen ausschauten; er sah
Reiter auf den Erdstraßen; sah Gräben und Lagunen und
Vieh; sah breite, leuchtende Wolken, die wie aus Marmor
schienen - und all diese Dinge waren zufällig, gleichsam wie
Träume der weiten Ebene. E r glaubte auch Bäume und Saaten
wiederzuerkennen, die er nicht hätte nennen können, da seine
wirkliche, unmittelbare Kenntnis des Landes erheblich geringer
war als seine sehnsüchtigen und literarisch gefärbten Kennt­
nisse.
Manchmal schlief er, und in seinen Träumen war das V or­
wärtsdrängen des Zuges. Die unerträglich weiß glänzende
Sonne des Mittags hatte sich in die goldgelbe Sonne verwan­
delt, die der Abenddämmerung vorausgeht, und bald würde
sie rot sein. Auch der Wagen war ein anderer geworden, es
war nicht mehr derselbe Wagen, der den Bahnsteig in Con­
stitución verlassen hatte: die Ebene und die Stunden waren
durch ihn hingegangen und hatten ihn verwandelt. Draußen
verlängerte der bewegliche Schatten des Wagens sich bis
zum Horizont hin. Die unbebaute Erde störten weder Ort­
schaften noch sonstige Spuren von Menschen. Alles war weit,
aber zur selben Zeit war es vertraut und, auf irgendeine
Weise, geheim. A u f der ungeheuren Fläche war manchmal
nichts zu sehen als nur ein Stier. Die Einsamkeit war voll­
kommen, vielleicht feindlich, und Dahlmann konnte sich ein­
*43
bilden, er fahre in die Vergangenheit, nicht bloß in den Süden.
Aus dieser phantastischen Vorstellung riß ihn der Schaffner,
der, als er seine Fahrkarte sah, ihn darauf aufmerksam machte,
daß der Zug nicht auf der gewohnten Station halten werde,
sondern auf einer anderen, etwas früheren, die Dahlmann
kaum kannte. (Der Mann fügte eine Erklärung hinzu, die Dahl­
mann gar nicht zu verstehen, ja nicht einmal zu hören ver­
suchte, da der Mechanismus der Ereignisse ihm nicht wichtig
war.)
Der Zug hielt mühsam, fast mitten auf freiem Feld. A u f der
anderen Seite der Gleise lag die Station, die wenig mehr als
ein überdachter Bahnsteig war. Es gab kein Fahrzeug, aber
der Stationsvorsteher meinte, er könne vielleicht eines in dem
Laden, den er ihm angab, bekommen, etwa 1000 Meter weiter
weg.
Dahlmann akzeptierte den Spaziergang wie ein kleines Aben­
teuer. Die Sonne war schon untergegangen, aber ein letzter
Glanz ließ die lebendige, schweigende Ebene aufleuchten, be­
vor die Nacht sie auslöschte. Weniger um sich nicht zu er­
müden, als um all dies andauern zu lassen, ging Dahlmann
langsam und atmete in feierlichem Glücksgefühl den Geruch
des Klees ein.
Das Almacén1 war früher einmal hochrot angestrichen ge­
wesen, aber die Jahre hatten die grelle Farbe vorteilhaft
gedämpft. Etwas in seiner armseligen Architektur erinnerte
ihn an einen Stahlstich, vielleicht aus einer alten Ausgabe von
»Paul et Virginie«. An den Pfosten davor waren ein paar
Pferde angebunden. Drinnen glaubte Dahlmann den Wirt zu
erkennen; aber dann merkte er, daß ihn seine Ähnlichkeit mit
einem der Angestellten des Sanatoriums getäuscht hatte. Der
Mann hörte sich den Fall an und sagte, er werde ihm den
Wagen anspannen lassen; um diesem Tag noch ein weiteres
Ereignis hinzuzufügen und um die Zeit auszufüllen, beschloß
Dahlmann, im Almacén zu essen.
1 Alm acén: au f dem Land in Argentinien eine Mischung von Kolonialw arengeschäft und Wirts­
haus.

144
An einem Tisch aßen und tranken lärmend ein paar kräftige
Burschen, um die Dahlmann sich anfangs nicht kümmerte. A u f
dem Boden, gegen den Schanktisch gelehnt, hockte unbeweg­
lich, als sei er bloß ein Ding, ein sehr alter Mann. Die Jahre
hatten ihn vermindert und abgeschliffen, wie Wasser einen
Stein oder wie Generationen von Menschen ein Sprichwort. E r
war dunkel, klein und ausgemergelt, schien gleichsam außer­
halb der Zeit, in einer Ewigkeit, zu existieren. Dahlmann be­
merkte mit Befriedigung die K op f binde, den Flanell-Poncho,
den Chiripá und die Stiefel aus Fohlenleder1 ; er erinnerte sich an
fruchtlose Diskussionen mit Leuten aus dem Norden oder der
Provinz Entrenos und sagte sich wieder einmal, daß es Gauchos
wie diesen eben nur noch im Süden gibt.
Dahlmann machte es sich beim Fenster bequem. Die Dun­
kelheit verschluckte allmählich das Land draußen, aber sein Ge­
ruch und seine Geräusche drangen auch jetzt noch durch die
Fenstergitter bis zu ihm hin. Der Wirt brachte ihm Sardinen
und dann am Rost gebratenes Fleisch; Dahlmann spülte es mit
ein paar Glas Rotwein hinunter. Müßig kostete er den herben
Geschmack und ließ seinen schon etwas schläfrigen Blick durch
den Raum schweifen. Die Petroleumlampe hing von einem der
Balken herunter; die Gäste am anderen Tisch waren zu dritt:
zwei sahen wie Peones von einer Farm aus - der dritte, mit
einem stumpfen Eingeborenengesicht, trank mit dem Hut auf
dem Kopf. Dahlmann spürte plötzlich, daß etwas leicht sein
Gesicht streifte. Neben dem Trinkgefäß aus trübem gewöhn­
lichem Glas, auf einem der Streifen des Tischtuchs, lag ein
Kügelchen aus Brotteig. Das war alles - aber irgendwer hatte
es nach ihm geworfen.
Die am anderen Tisch schienen sich gar nicht um ihn zu
kümmern. Verwirrt beschloß Dahlmann bei sich, daß nichts
geschehen sei, und öffnete den Band von »Tausendundeine
Nacht«, wie um die Wirklichkeit zu verdecken. Nach wenigen
Minuten traf ihn ein zweites Kügelchen, und diesmal lachten
1 D ie Kopfbinde (»vincha«), der Poncho, der Chiripá (ein hosenartiges Kleidungsstück) und die
Stiefel aus Fohlenleder gehören zum althergebrachten Anzug des argentinischen Gaucho.

145
die Peones. Dahlmann sagte sich, daß er keinerlei Angst fühle,
daß es aber eine Torheit wäre, wenn er, als Rekonvaleszent,
sich von Unbekannten zu einem zweifelhaften Streit hinreißen
ließe. E r beschloß hinauszugehen und war schon aufgestanden,
als der Wirt zu ihm trat und ihn mit besorgter Stimme er­
mahnte :
»Señor Dahlmann, kümmern Sie sich nicht um diese Bur­
schen - die sind schon ziemlich angetrunken.« x
Dahlmann wunderte sich gar nicht, daß der andere ihn
jetzt auf einmal kannte, aber er fühlte, daß diese beschwich­
tigenden Worte in Wahrheit die Situation verschlimmerten.
Vorher hatte sich die Herausforderung der Peones an ein zu­
fälliges Gesicht gerichtet, eigentlich an niemand; jetzt ging sie
gegen ihn und seinen Namen, und die Nachbarn würden
davon erfahren. Dahlmann schob den Wirt zur Seite, stellte
sich vor die Peones hin und fragte, was sie wollten.
Der Flegel mit dem Eingeborenengesicht stand schwankend
auf. Obwohl nur einen Schritt von Juan Dahlmann entfernt,
schrie er ihm Beschimpfungen ins Gesicht, als stände er weit
weg. E r übertrieb absichtlich seine Betrunkenheit, und diese
Übertreibung war Wut und war Hohn. Unter Flüchen und
unflätigen Schimpfworten warf er ein langes Messer in die
Luft, folgte ihm mit den Augen, fing es und forderte Dahl­
mann zum Zweikampf auf. Der Wirt wandte mit zitternder
Stimme ein, daß Dahlmann keine Waffe habe. In diesem
Augenblick geschah etwas, was nicht vorauszusehen war.
Aus der Ecke warf der alte reglose Gaucho, in dem Dahl­
mann ein Sinnbild des Südens sah (des Südens, der ihm ge­
hörte), ihm ein bloßes Dolchmesser zu, das vor seine Füße fiel.
Es war, als habe der Süden beschlossen, daß Dahlmann die
Herausforderung annehmen sollte. Dahlmann bückte sich,
um das Dolchmesser aufzuheben, und spürte zweierlei. Erstens,
daß diese fast instinktive Bewegung ihn zum Kam pf ver­
pflichtete. Zweitens, daß die Waffe in seiner ungeschickten
Hand nicht zu seiner Verteidigung dienen werde, sondern nur
zur Rechtfertigung für die anderen, ihn zu töten. E r hatte wohl
146
einmal mit einem Dolch gespielt, wie jeder Mann; aber seine
Fechterei reichte nicht weiter als bis zu der Kenntnis, daß die
Stöße von unten nach oben geführt werden müssen und mit
der Schneide nach innen. Im Sanatorium hätten sie nicht
zugelassen, daß mir so etwas geschieht, dachte er.
»Gehen wir«, sagte der andere.
Sie gingen hinaus, und wenn in Dahlmann keine Hoifnung
war, so doch auch keine Angst. Während er über die Schwelle
trat, fühlte er, daß in der ersten Nacht im Sanatorium, als man
ihm die Nadel einstach, es für ihn eine Erlösung gewesen wäre,
ein Glück und ein Fest, in einem Messerkampf zu sterben,
unter freiem Himmel, im Angriff. E r fühlte, daß - wenn er
damals seinen Tod hätte wählen oder erträumen können - es
dieser Tod gewesen wTäre, den er erwählt oder erträumt hätte.
Mit festem Griff packt Dahlmann das Messer, das er viel­
leicht nicht einmal zu führen wissen wird, und geht in die
Weite hinaus.
Der Tote

Daß ein Mann aus der Vorstadt von Buenos Aires, daß ein
unscheinbarer Geselle, durch nichts ausgezeichnet als eine ge­
wisse Verliebtheit in den Mut, sich aufgemacht haben soll, um
in den Reitersteppen an der brasilianischen Grenze Hauptmann
einer Schmugglerbande zu werden, erscheint auf den ersten
Blick undenkbar. Wer dieser Meinung ist, dem will ich das
Schicksal von Benjamin Otalora erzählen, an den sich im Viertel
Balvanera wohl niemand mehr erinnert und dem es bestimmt
war, im Grenzgebiet von Rio Grande do Sul den Tod durch
eine Kugel zu finden. Ich kenne nicht die näheren Einzelheiten
seines Abenteuers; würden sie mir enthüllt, müßte ich diese
Seiten auf sie abstimmen und weiter ausbauen. Für heute mag
diese zusammengefaßte Wiedergabe dienlich sein.
Benjamin Otalora ist um 1891 neunzehn Jahre alt. E r ist ein
Bursche mit niedriger Stirn, dreisten, hellblickenden Augen,
stämmigem Baskenwuchs; ein wohlgelungener Messerstich hat
ihm die Augen darüber geöffnet, daß er ein tapferer Kerl ist; der
Tod seines Widersachers kümmert ihn nicht, ebensowenig die
Notwendigkeit, die sich unmittelbar daraus ergibt, nämlich aus
der Republik zu flüchten. Der Obmann der Gemeinde emp­
fiehlt ihn in einem Schreiben an einen gewissen Azevedo Ban-
deira aus Uruguay. Otalora geht an Bord, die Überfahrt ist qual­
voll und mißlich; am nächsten Tag irrt er durch die Straßen von
Montevideo mit uneingestandener oder kaum bewußter Trau­
rigkeit. Azevedo Bandeira trifft er nicht an, um Mitternacht ge­
rät er in einem Packhof am Paso del Molino in einen Zank zwi­
schen Viehtreibern. Ein Messer blitzt auf; Otalora weiß nicht,
auf welcher Seite das Recht ist; ihn lockt der schiere Geruch der
Gefahr wie andere das Spiel oder die Musik. Im Handgemenge
148
fängt er einen Messerstich auf, den ein Peon einem Manne ver­
setzt, der eine Schmarre und einen Poncho hat. Es ist, wie sich
später herausstellt, Azevedo Bandeira. (Otálora, kaum daß er es
erfährt, zerreißt das Schreiben, da er alles nur sich selber ver­
danken will.) Azevedo macht trotz seines stattlichen Aussehens
den Eindruck, als sei er auf eine nicht näher zu erklärende Art
nachgemacht; in seinem Gesicht, das immer stark in die Augen
fällt, ist etwas vom Juden, vom Neger, vom Indio; in seiner
Körperbeschaffenheit ist etwas vom Affen und vom Tiger; die
Narbe, die sein Gesicht quer durchläuft, ist eine weitere schmük-
kende Zutat wie sein drahtiger schwarzer Schnurrbart.
Ist es eine Wirkung oder Vorspiegelung des Alkohols? Die
Streitigkeit endet so rasch, wie sie ausgebrochen ist. Otálora
trinkt mit den Viehtreibern und geht dann mit ihnen zu einem
Rummelplatz und dann zu einem großen Haus in der Altstadt,
als die Sonne schon hoch steht. Im letzten H of aus gestampfter
Erde breiten die Männer ihr Zeug zum Schlafen aus. Im stillen
vergleicht Otálora diese Nacht mit der vorangehenden; jetzt hat
er schon festen Boden unter sich, Freunde zur Seite. Es wurmt
ihn nur, daß Buenos Aires ihn nicht bestaunt. Er schläft bis
Mittag, als der Peon ihn weckt, der Bandeira in der Trunkenheit
angegriffen hat. (Otálora weiß noch, daß dieser Mann am Trubel
der durchzechten Nacht teilgenommen hat und daß Bandeira
ihn zu seiner Rechten niedersitzen ließ und zum Weitertrinken
aufforderte.) Der Mann sagt zu ihm, der Patron lasse ihn rufen.
In einer Art Büro, das auf den Flur hinausgeht (noch nie hat
Otálora einen Flur mit Seitentüren gesehen) erwartet ihn Aze­
vedo Bandeira; bei ihm ist eine hellhäutige hochmütige Frau mit
starkfarbenem Haar. Bandeira mustert ihn abwägend, bietet
ihm ein Glas Zuckerrohrschnaps an, wiederholt, er sei, scheint’s,
ein beherzter Kerl, schlägt ihm vor, mit den anderen als Herden­
treiber in den Norden zu gehen. Otálora schlägt ein; gegen
Morgen sind sie unterwegs, in Richtung Tacuarembó.
Und nun beginnt für Otálora ein ganz anderes Leben, ein
Leben voll weitgespannter Morgenhimmel, Tage voll Pferde­
geruch. Dieses Leben ist für ihn neu, manchmal auch grimmig
149
hart, aber es liegt ihm schon im Blut, denn so wie die Männer an­
derer Völker dem Meer huldigen und es im Gefühl haben, so ver­
langen wir (auch der Verfasser dieser sinnbildlichen Geschichte)
nach der unerschöpflichen Grasebene, die unter Hufschlag er­
dröhnt. Otälora ist in den Vierteln der Wagner und Schiffs-
zimmerleute aufgewachsen; er ist ein Gaucho, ehe ein Jahr um
ist. E r lernt mit dem Pferd umgehen, die Herde einzingeln, Vieh
schlachten, das bändigende Lasso und die niederfällende Eisen­
bola schwingen, dem Schlaf, den Unwettern, Frost und Sonnen­
glut trotzen, mit Pfiff und heiserem Schrei anfeuern. Nur einmal
während seiner ganzen Lehrzeit sieht er Azevedo Bandeira, doch
hat er ihn im Inneren ständig vor Augen, denn ein »Mann Bandei­
ras« zu sein, heißt soviel wie angesehen und gefürchtet sein; auch
sagen die Gauchos, daß unter Männern seines Schlages Bandeira
das meiste ausrichte. Einer meint, Bandeira sei auf der anderen
Seite des Cuareim, in Rio Grande do Sul geboren; diese Angabe,
statt ihn herabzusetzen, bereichert ihn vielmehr auf undurchsich­
tige Art um volkreiche Waldungen, um Sümpfe, um unentwirr­
bare und nahezu endlose Entfernungen. Allmählich wird Otä­
lora klar, daß Bandeira vielerlei Geschäfte betreibt und daß sein
Hauptgeschäft der Schmuggel ist. Solange man Viehtreiber ist,
gehört man dem dienenden Stande an; Otälora nimmt sich vor,
es zum Schmuggler zu bringen. Zwei seiner Kameraden sollen
eines Nachts über die Grenze gehen und ein paar Lieferungen
Schnaps besorgen; Otälora reizt den einen bei einem Wortwech­
sel, verwundet ihn und nimmt seine Stelle ein. Der Ehrgeiz
treibt ihn, aber auch ein dumpfes Treuegefühl. Soll der Mann
(denkt er) endlich einsehen, daß ich mehr wert bin als alle seine Ost­
männer zusammen.
Ein weiteres Jahr vergeht, ehe Otälora nach Montevideo zu­
rückkehrt. Sie streifen durch die Straßen, die Stadt (die Otälora
sehr groß dünkt); sie kommen zum Hause des Patrons; die Män­
ner breiten im letzten H of ihr Zeug aus; die Tage vergehen, und
Otälora bekommt Bandeira nicht zu Gesicht. Furchtsam wird da­
von geredet, er sei krank; ein Dunkelhäutiger bringt ihm ge­
wöhnlich die Wärme Vorrichtung und den Mate in seinen Schlaf­
1 50
raum. Eines Abends tragen sie dieses Geschäft Otälora auf. Der
fühlt sich unbestimmt gedemütigt und ist es doch zufrieden.
Der Schlafraum ist unverputzt und dunkel. Ein Balkon ist da,
der nach Sonnenuntergang liegt, ein breiter Tisch mit einem blit­
zenden Durcheinander von Münzen, Zaumzeug, Patronengur­
ten, Feuer- und Stichwaffen; weit hinten ist ein Spiegel, dessen
Scheibe erblindet ist. Bandeira liegt flach auf dem Gesicht; er
schläft und stöhnt im Schlaf; ein letzter greller Sonnenstrahl um­
reißt seine Gestalt; das mächtige weiße Bett scheint sie zu schmä­
lern und zu verschatten. Otalora bemerkt sein graues Haar, die
Ermüdung, die Schlaffheit, die Risse der Jahre. Es empört ihn,
daß dieser Alte über sie herrscht. E r denkt, ein Stoß reichte hin,
und er wäre erledigt. In diesem Augenblick sieht er im Spiegel,
daß jemand eingetreten ist. Es ist die rothaarige Frau; sie ist halb
angezogen und barfuß und mustert ihn mit kalten Augen. Ban­
deira richtet sich auf; während er von Land und Vieh spricht und
ein Glas Mate nach dem anderen hinunterstürzt, spielen seine
Finger mit den Flechten der Frau. Schließlich erteilt er Otälora
Urlaub zu gehen.
Tage danach erhalten sie die Weisung, in den Norden aufzu­
brechen. Sie erreichen ein verlorenes Gehöft, das im Einerlei der
endlosen Grassteppe liegt. Weder Bäume noch ein Bach heitern
es auf; die erste und die letzte Sonne treffen es mit ihrem Strahl.
Steinerne Gehege sind da für das Vieh, das schmutzig und brest­
haft ist. E l Suspiro nennt sich dieses armselige Anwesen.
Otälora kommt im Kreise der Knechte zu Ohren, daß Bandeira
in nicht ferner Zeit von Montevideo her eintreffen wird. E r fragt,
warum; einer klärt ihn auf, es sei da ein Fremder in Gauchotracht,
der sich allzusehr auf den Häuptling spitze. Otalora begreift
wohl, daß es ein Scherz sein soll, aber es schmeichelt ihm, daß ein
solcher Scherz bereits gemacht werden kann. Dann bringt er her­
aus, daß Bandeira sich mit einem der politischen Häupter ver­
feindet hat und daß ihm von dorther die Stütze entzogen worden
ist. Diese Nachricht paßt ihm.
Schwere Waffen kommen in Kisten; ein Krug und ein Wasch­
becken aus Silber kommen, für das Schlafgemach der Frau; es
151
kommen gewirkte Damastvorhänge; eines Morgens kommt von
den Partisanen ein düsterer Reiter mit vollem krausen Bart und
Poncho. E r heißt Ulpiano Suárez und ist der »capanga« oder
Hintermann von Azevedo Bandeira. E r ist sehr wortkarg und
spricht mit leicht brasilianischem Akzent. Otálora weiß nicht, ob
er seine Zurückhaltung als Feindseligkeit, Mißachtung oder
bloße Ungeschliffenheit deuten soll. Das eine weiß er jedoch, daß
er für den Plan, den er ausheckt, seine Freundschaft gewinnen
muß.
Dann tritt in das Schicksal von Benjamín Otálora ein gefleck­
ter Rotschimmel ein, den Azevedo Bandeira aus dem Süden kom­
men läßt und der in silberbeschlagenem Zaumzeug und einer mit
Tigerfell gesäumten Satteldecke prangt. Dieses großartige Pferd
ist ein Symbol der Herrschergewalt des Patrons, und deshalb ge­
lüstet den Burschen nach ihm, den alsbald mit rachsüchtiger Lust
auch nach der Frau mit dem strahlenden Haar gelüstet. Die Frau,
das Zaumzeug und der Hengst sind die Attribute oder Eigen­
schaften eines Mannes, den er zu vernichten trachtet.
An diesem Punkt wird die Geschichte verwickelter und tief­
gründiger. Azevedo Bandeira versteht sich auf die Kunst fort­
schreitender Einschüchterung, auf die satanische Geschicklich­
keit, den Partner nach und nach zu demütigen, indem er Ernst
und Spaß miteinander verquickt. Otálora beschließt, diese dop­
pelsinnige Methode bei der harten Aufgabe, die er sich vorge­
setzt hat, als Richtschnur zu nehmen. E r beschließt, Azevedo
Bandeira langsam von seinem Platz zu verdrängen. In Tagen ge­
meinsam durchstandener Gefahr erwirbt er sich die Freundschaft
von Suárez. E r vertraut ihm seinen Plan an; Suárez verspricht
ihm Beistand. Vielerlei Dinge geschehen dann, von denen ich
nur wenige weiß. Otálora gehorcht Bandeira nicht mehr; er ver­
gißt, verändert, verkehrt seine Befehle; alles scheint mit ihm im
Bunde zu stehen und die Vorgänge zu beschleunigen. Eines Mit­
tags kommt es im freien Feld von Tacuarembó zu einer Schieße­
rei mit Männern vom Rio Grande; Otálora setzt sich eigenmäch­
tig an die Stelle Bandeiras und führt die Ostmänner an. Eine
Kugel durchbohrt seine Schulter, doch an diesem Abend reitet
152
Otälora auf dem Fuchshengst des Häuptlings nach Suspiro, und
an diesem Abend beflecken ein paar Tropfen seines Blutes das
Tigerfell, und in dieser Nacht schläft er bei der Frau mit dem
leuchtenden Haar. Anders gefaßte Berichte stellen die Reihen­
folge der Ereignisse um und stellen in Abrede, daß sie an ein
und demselben Tage stattgefunden haben.
Gleichwohl ist Bandeira noch immer der Anführer. E r gibt
Befehle, die nicht ausgeführt werden; Benjamin Otälora ver­
greift sich nicht an ihm, aus einem Gemisch von eingefahrener
Gewohnheit und Erbarmen.
Der letzte Auftritt der Geschichte steht in Zusammenhang
mit den Unruhen in der letzten Nacht des Jahres 1894. In dieser
Nacht essen die Männer in Suspiro frischgeschlachtetes Fleisch
und trinken händelstiftenden Alkohol; einer zupft ein Lied, das
sich durch endlose Strophen quält. Am Kopfende der Tafel
häuft Otälora betrunken Hochgefühl auf Hochgefühl, Jubel­
rausch auf Jubelrausch. Dieser Turm aus Taumel ist Sinnbild
seines unabwendbaren Geschicks. Bandeira, der sich inmitten
der Schreier in Schweigen hüllt, läßt die lärmende Nacht ver­
rinnen. Als die zwölf Schläge der Glocke ertönen, steht er auf
wie einer, der sich einer Pflicht entsinnt. E r steht auf und klopft
sachte an die Türe der Frau. Diese öffnet sogleich, als hätte sie auf
den R uf gewartet. Halb angezogen und barfuß tritt sie heraus.
Mit einer Stimme, die weibisch und gedehnt klingt, befiehlt ihr
der Führer:
»Da du und der aus Puerto euch so gernhabt, gib ihm hier auf
der Stelle vor aller Augen einen Kuß.«
E r läßt eine rohe Redensart folgen. Die Frau will sich sträuben,
doch zwei Männer haben sie bei den Armen gepackt und schleu­
dern sie auf Otälora. Tränenüber strömt küßt sie ihm das Gesicht
und die Brust. Ulpiano Suärez hält den Revolver umspannt. Otä­
lora begreift, noch ehe er stirbt, daß sie ihn von Anfang an preis­
gegeben haben, daß er zum Tode verurteilt war und daß sie ihm
die Liebe, den Befehl und den Triumph gegönnt haben, weil er
für sie bereits tot, weil er für Bandeira bereits ein Toter war.
Suärez gibt fast verächtlich Feuer.
153
Averroes auf der Suche

S’imaginant que la tragédie n’est


autre chose que l’art de louer . . .
Ernest Renan, Averroes, 48 ( 1861 )

Abulgualid Muhámmad Ibn-Achmad ibn-Muhámmad ibn-


Rushd (ein Jahrhundert sollte vergehen, ehe dieser lange Name
zu Averroes wurde, wobei er noch seinen Weg über Benraist und
Avenryz sowie über Aben-Rassad und Filius Rosadis nahm) war
dabei, das elfte Kapitel seines Werkes »Tahafut-ul-Tahafut«
(Zerstörung der Zerstörung) abzufassen, worin entgegen dem
persischen Asketen Ghazali, Verfasser des »Tahafut-ul-falasifa«
behauptet wird, daß die Gottheit lediglich die allgemeinen Ge­
setze des Weltalls kennt, jene, die sich auf die Gattung, nicht auf
das Individuum beziehen. E r schrieb mit sicherer Gelassenheit,
von rechts nach links; seine Gewandtheit im Aufstellen von
Syllogismen und im Ausspinnen weitläufiger Paragraphen hin­
derte ihn nicht, die kühle Tiefe des Hauses, das ihn umgab, wohl­
tuend zu empfinden. Inmitten dieser Stille tönte nur das Gurren
verliebter Tauben; aus einem unsichtbaren H of stieg das Plät­
schern eines Brunnens; etwas, das Averroes im Blute lag - seine
Vorfahren stammten aus der arabischen Wüste - empfand Wohl­
gefallen an der Beständigkeit des Wassers. Drunten waren die
Gärten, der Obsthain, tiefer noch der geschäftige Guadalquivir
und dann die geliebte Stadt Córdoba, nicht minder berühmt als
Bagdad oder Kairo, einem hochentwickelten und feinfühligen
Instrument vergleichbar, und rundum (auch das empfand Aver­
roes) breitete sich bis an den Grenzsaum der Welt die Erde
Spaniens, auf der es nur so wenig Dinge gibt, wo aber jedes ein­
zelne vollkräftig und für immer dazustehen scheint.
Die Feder lief über das Blatt, die Argumente verketteten sich,
unwiderleglich, doch ein leises Unbehagen trübte das Glück des
Averroes. Nicht der »Tahafut« war daran schuld, der mehr eine
Nebenarbeit war, sondern ein Problem philologischer Art, im
154
Zusammenhang mit seinem denkwürdigen Hauptwerk, das ihn
vor den Augen der Welt rechtfertigen sollte: dem Aristoteles-
Kommentar. Dieser Grieche, der Urborn aller Philosophie, war
den Menschen gesandt worden, um sie alles, was sich überhaupt
wissen läßt, zu lehren; seine Schriften auszulegen, so wie die
Ulemas den Koran auslegten, war des Averroes heißes Be­
mühen. Schwerlich verzeichnet die Geschichte einen schöneren
und bewegenderen Vorfall als diese Hingabe eines arabischen
Arztes an das Denken eines Menschen, von dem ihn vierzehn
Jahrhunderte trennten; zu den im Stoff liegenden Schwierigkei­
ten müssen wir noch den Umstand hinzunehmen, daß Averroes,
der weder des Syrischen noch des Griechischen mächtig war,
seiner Arbeit die Übersetzung einer Übersetzung zugrunde le­
gen mußte. Am Abend zuvor hatten ihn zwei Worte von zweifel­
hafter Bedeutung am Anfang der »Poetik« innehalten lassen. Es
waren die Worte Tragödie und Komödie. Jahre vorher war er im
dritten Buch der Rhetorik auf sie gestoßen; kein Mensch im
Bannkreis des Islam hatte eine Ahnung, was sie bedeuten sollten.
Vergebens hatte er die Schriften Alexanders von Aphrodisia
durchstöbert, vergebens hatte er sich in den Fassungen des Ne-
storianers Hunain-ibn-Ishaq und des Abu-Bashar Mata umge­
sehen. Diese beiden sinndunklen Rätselworte fanden sich im
Text der Poetik an unzähligen Stellen; unmöglich sie zu um­
gehen.
Averroes ließ die Feder sinken. E r sagte sich (ohne allzugroße
Zuversicht), daß der gesuchte Gegenstand meistens ganz in un­
serer Nähe liegt, verwahrte die Handschrift des »Tahafut« und
lenkte seinen Schritt zu dem Gefach, wo aufgereiht, in Abschrif­
ten persischer Kalligraphen, die zahlreichen Bände des »Moh-
kam« von dem blinden Abensida standen. Die Vorstellung, daß
er unterlassen hätte, ihn zu konsultieren, war lachhaft, doch
lockte ihn das müßige Vergnügen, seine Blätter umzuwenden.
Von diesem gelehrten Zeitvertreib lenkte ihn dünner Singsang
ab. E r warf einen Blick durch den vergitterten Balkon; drunten,
auf dem schmalen ungepflasterten Hof, spielten ein paar halb­
nackte Bürschchen. Der eine, auf den Schultern des anderen
155
stehend, machte offenbar den Almueddin nach; mit festgeschlos­
senen Augen psalmodierte er: Es ist kein anderer Gott außer
Gott. Der andere, der ihn reglos im Gleichgewicht hielt, spielte
das Minarett; ein dritter, der voll Demut im Staub kniete, stellte
die Gemeinde der Gläubigen vor. Das Spiel währte nur kurz;
alle wollten der Almueddin sein, keiner die Gemeinde oder der
Turm. Averroes hörte sie in ungeschliffener Mundart zanken, näm­
lich in dem frühen Spanisch des niederen muselmanischen Vol­
kes der Halbinsel. E r schlug das »Quitab ul ain« von Jalil auf und
gefiel sich in dem stolzen Gedanken, daß es in ganz Córdoba
(vielleicht in ganz Al-Andalus) keine Abschrift des vollendeten
Werkes gab außer dieser einen, die ihm der Emir Yacub Alman-
sor von Tanger aus zugeschickt hatte. Beim Namen dieser Ha­
fenstadt fiel ihm ein, daß der große Reisende Abulcásim Al-As-
hari, der von Marokko heimgekehrt war, am heutigen Abend im
Hause des Koranlehrers Farach mit ihm speisen sollte. Abulcá­
sim behauptete, er sei bis zu den Reichen des Sin (China) ge­
kommen; seine Neider, verblendet von der eigenartigen Logik
des Hasses, wollten schwören, daß er nie seinen Fuß auf den Bo­
den Chinas gesetzt und daß er in den Tempeln dieses Landes
Allah gelästert habe. Das Zusammensein würde unumgänglich
ein paar Stunden dauern. Averroes nahm sich in Eile die Hand­
schrift des »Tahafut« noch einmal vor. E r arbeitete bis in die
sinkende Abenddämmerung.
Das Gespräch im Hause Farachs kam von den unvergleich­
lichen Tugenden des Gouverneurs auf die seines Bruders, des
Emir. Danach, im Garten, sprach man über Rosen. Abulcásim,
der ihnen noch nie einen Blick geschenkt hatte, wollte schwören,
keine Rose sei schöner als die, mit der sich die andalusischen
Mädchen schmücken. Farach blieb unbestechlich; er bemerkte,
daß es von dem gelehrten Ibn Qutaiba die Beschreibung einer
hervorragenden Dauersorte von Rosen gebe, die in den Gärten
von Hindostán gediehen und deren tiefrot gefärbte Blätter
Schriftzeichen trügen, die besagten: E s ist kein anderer Gott außer
Gott. Muhammad ist der Apostel Gottes. Abulcásim warf ihm einen
erschreckten Blick zu. Wenn er Ja sagte, würden ihn alle, und
156
zwar mit Recht, für den nachgiebigsten und windigsten Auf­
schneider halten.Er beschied sich damit,undeutlich zu murmeln,
daß die Schlüssel der verborgenen Dinge in der Hand des Herrn
seien und daß es auf Erden nichts Grünes oder Welkes gebe, das
nicht in seinem Buch verzeichnet steht. Diese Worte kommen
in einer der ersten Suren vor; sie wurden mit einem Raunen der
Ehrfurcht aufgenommen. Eitel auf seinen dialektischen Sieg,
tat Abulcasim den Ausspruch, daß der Herr vollkommen sei in
seinen Werken und unerforschlich. Daraufhin erklärte Aver-
roes, unter Vorwegnahme der weit vorausliegenden Begrün­
dungen eines heute noch problematischen Hume:
»Es kostet mich weniger, den gelehrten Ibn Qutaiba oder die
Abschreiber eines Irrtums zu zeihen als der Annahme zuzustim­
men, daß die Erde Rosen mit dem Glaubensbekenntnis hervor­
bringt.«
»So ist es. Ein großes und wahres Wort«, sagte Abulcasim.
»Ein Reisender -« erinnerte sich der Dichter Abdalmälik,
»spricht von einem Baum, der als Frucht grüne Vögel hat. We­
niger schwer fällt es mir, an ihn zu glauben als an Rosen mit
Buchstaben.«
»Es scheint, daß die Farbe der Vögel dem Wunder entgegen­
kommt«, sagte Averroes. »Überdies gehören die Früchte und
die Vögel der natürlichen Welt an, die Schrift hingegen ist eine
Kunst. Von den Blättern auf die Vögel zu kommen, ist leichter
als von Rosen auf Buchstaben.«
Ein anderer Gast leugnete entrüstet, daß die Schrift eine
Kunst sei. Stammt doch das Original des Qurän - der Mutter des
Buches - aus der Zeit vor der Schöpfung und wird im Himmel
aufbewahrt. Ein anderer berief sich auf Chahiz von Basra, der
gesagt hat, der Quran sei eine Substanz, die Menschen- oder
Tiergestalt annehmen könne, eine Auffassung, die mit jener zu­
sammenstimmt, nach der ihm zwei Gesichter zu eigen sind.
Farach setzte die orthodoxe Lehrmeinung umständlich ausein­
ander. Der Quran (sagte er) ist eines der Attribute Gottes, wie
Seine Barmherzigkeit; es wird mit der Zunge ausgesprochen,
es wird seiner im Herzen gedacht, und die Sprache, die Zeichen
157
und die Schrift sind Menschenwerk, aber der Qurän ist unwider­
ruflich und ewig. Averroes, der den »Staat« kommentiert hatte,
wäre imstande gewesen zu sagen, daß die Mutter des Buches so
etwas sei wie dessen platonisches Muster; er bemerkte jedoch,
daß die Theologie für Abulcasim ein völlig unzugängliches Ge­
biet war.
Andere, denen es auch nicht entging, setzten Abulcasim zu, er
solle ihnen eine Wundergeschichte erzählen. Die Welt war da­
mals so grimmig wie heute; Waghälse konnten sie durchstreifen,
aber auch Elende, die sich bei jeder Gelegenheit duckten. Das
Gedächtnis Abulcasims war ein Spiegel verhohlener Feigheit.
Wovon sollte er berichten? Außerdem verlangten sie von Wun­
dern zu hören, und vielleicht läßt das Wunder sich gar nicht mit-
teilen; der Mond von Bengalen ist nicht derselbe wie der Mond
von Jemen; aber er läßt sich mit denselben Worten schildern.
Abulcasim schwankte, dann sprach er.
»Wer Länder und Städte durchzieht«, ließ er sich salbungs­
voll vernehmen, »sieht viele Dinge, die Glaubwürdigkeit
verdienen. So auch die Geschichte, die ich erst einmal erzählt
habe, und zwar dem türkischen König. Sie trug sich in Sin
Kalan (Kanton) zu, wo sich der Strom des Lebens ins Meer
ergießt.«
Farach stellte die Frage, ob die Stadt viele Meilen von der
Mauer abliege, die Iskandar Zul Qarnain (Alexander Bicornis
von Mazedonien) wider G og und Magog errichtet habe.
»Wüsten liegen dazwischen«, sagte Abulcasim mit unwill­
kürlicher Überheblichkeit. »Vierzig Tage würde eine Cafila (Ka­
rawane) brauchen, ehe sie ihre Türme unterscheiden könnte,
und etwa ebenso viele Tage, um an sie heranzukommen. Ich
kenne in Sin Kalan keinen Menschen, der sie gesehen hat oder
der einen gesehen hätte, der sie sah.«
Ein Schauder vor der baren Unendlichkeit, vor dem nackten
Raum, der nackten Materie strich einen Augenblick über Aver­
roes hin. E r sah auf den symmetrisch angelegten Garten; er
wußte um sein Alter, seine Unzulänglichkeit, seine Unwirklich­
keit.
1 58
Abulcäsim sagte: »Eines Abends brachten mich die musul-
manischen K auf leute von Sin Kalän zu einem Haus aus bemal­
tem Holz, in dem viele Menschen lebten. Es läßt sich nicht schil­
dern, wie dieses Haus beschaffen war, das eigentlich nur aus
einem einzigen Zimmer bestand, mit Reihen offener Gemächer
oder Balkone, eins über dem anderen. In diesen Vertiefungen
saßen Leute, die aßen und tranken, und ebenso auf dem Boden
und ebenso auf einer Terrasse. Die Personen auf der Terrasse
schlugen die Trommel und die Laute, ausgenommen etwa fünf­
zehn oder zwanzig (mit scharlachfarbenen Masken), die auf­
sagten, sangen und Zwiegespräche führten. Sie litten unter Fes­
seln, aber ein Kerker war nicht zu sehen; sie ritten, aber es war
kein Pferd da; sie fochten, aber die Degen waren aus Rohr; sie
starben, und standen wieder auf.«
»Das Tun der Narren«, sagte Farach, »übertrifft die Voraus­
sicht des Vernünftigen.«
»Es waren keine Narren«, mußte Abulcäsim erklären. »Sie
stellten etwas dar, sagte ein Kaufmann zu mir, eine Geschichte.«
Niemand verstand; auch schien keinen nach Verstehen zu ge­
lüsten. Abulcäsim in seiner Verwirrung stürzte sich nach der
willkommenen Erzählung in langwierige Begründungen. E r
sagte, unter Zuhilfenahme seiner Hände:
»Stellen wir uns vor: jemand zeigt eine Geschichte vor, an­
statt sie zu berichten. Meinetwegen die Geschichte von den
Schläfern von Ephesus. Wir sehen, wie sie sich in die Höhle zu­
rückziehen, wie sie ihr Gebet verrichten und schlafen, wir sehen
sie mit offenen Augen schlafen, wir sehen sie aufwachen nach
dreihundertneun Jahren, wir sehen, wie sie dem Händler eine
alte Münze geben, wir sehen sie im Paradies aufwachen, sehen
sie mit dem Hund aufwachen. Etwas Ähnliches zeigten uns an
jenem Abend die Personen auf der Terrasse.«
»Sprachen diese Personen?« fragte Farach.
»Und ob«, sagte Abulcäsim, der sich unversehens bemüßigt
fühlte, eine Darbietung in Schutz zu nehmen, an die er sich kaum
noch erinnerte und die ihn damals erheblich gelangweilt hatte.
»Sie sprachen und sangen und deklamierten.«

* 59
»In diesem Falle«, sagte Farach, »waren keine zwanzig Per­
sonen vonnöten* Ein einziger Sprecher genügt, um, was es auch
sei, zu berichten, mag es auch noch so schwierig sein.«
Alle stimmten diesem Ausspruch zu. Man rühmte die Vorzüge
des Arabischen, dessen Gott sich bedient, um die Engel zu unter­
weisen; dann kam man auf die arabische Poesie. Abdalmálik be-
zeichnete nach einer gebührenden Weile der Besinnung als ver­
altet jene Dichter, die sich in Damaskus oder Cordoba an Bilder
aus dem Hirtenleben und einen beduinischen Wortschatz klam­
merten. E r sagte, es sei sinnwidrig, daß ein Mensch, vor dessen
Augen sich der Guadalquivir breite, das Wasser eines Brunnens
feiere. E r trat nachdrücklich ein für die Erneuerung der alther­
gebrachten Metaphern; er sagte, als Zuhair das Schicksal mit
einem blinden Kamel verglichen habe, sei das Bild noch im­
stande gewesen, auf die Leute Eindruck zu machen, aber fünf
Jahrhunderte der Bewunderung hätten es aufgebraucht. Alle
stimmten diesem Urteil zu, das sie schon viele Male und aus
vieler Leute Mund vernommen hatten. Averroes schwieg still.
Am Ende sprach er, nicht so sehr zu den anderen als zu sich
selber.
»Nicht so beredsam«, sagte Averroes, »aber mit gleichartigen
Argumenten habe ich einmal den Satz, den Abdalmálik behaup­
tet, vertreten. In Alexandria sagt man, daß unfähig einer Schuld
nur der ist, der sie bereits einmal begangen und bereut hat; setzen
wir hinzu, daß man, um von einem Irrtum frei zu sein, sich zu
ihm bekannt haben muß. Zuhair sagt in seiner >mohalac<, daß er
im Ablauf von achtzig Jahren voll Schmerzen und Ruhm viele
Male das Schicksal jäh über die Menschen herfallen sah wie ein
blindes Kam el; Abdalmálik ist der Meinung, daß uns diese Figur
nicht mehr in Erstaunen versetzen könne. Zu diesem Einwand
ließe sich mancherlei Vorbringen. Zum ersten: daß, sofern der
Zweck des Gedichts das Erstaunen wäre, seine Zeit nicht nach
Jahrhunderten, sondern nach Tagen und Stunden, möglicher­
weise nach Minuten zu messen sei. Zum zweiten: daß ein be­
rühmter Dichter weniger Erfinder als Entdecker ist. Zum Lobe
von Ibn Sharaf von Berja hat man immer wieder gesagt, nur
160
seine Phantasie habe auf den Einfall kommen können, daß im
Morgengrauen die Sterne langsam herabsinken wie die Blätter
von den Bäumen; dies würde aber, sofern es zuträfe, nur offen­
kundig machen, daß es sich um ein wohlfeiles Bild handelt. Das
Bild, das nur einem einzigen Menschen einfällt, geht keinen et­
was an. Unzählige Dinge gibt es auf Erden; jedes läßt sich mit
jedem gleichsetzen. Sterne mit Blättern gleichzusetzen, ist nicht
minder willkürlich als sie mit Fischen oder Vögeln gleichzuset­
zen. Dagegen hat jeder einmal empfunden, daß das Schicksal
stark und plump, daß es unschuldig und außerdem unmenschlich
ist. A u f diese innere Überzeugung, die flüchtig oder anhaltend
sein kann, der aber keiner entgeht, wurde der Vers von Zuhair
gemünzt. Was mit ihm gesagt ist, wird man nicht besser sagen
können. Außerdem (und vielleicht ist dies der Kern meines Ge­
dankengangs) spendet die Zeit, wenn sie die Burgen ausraubt,
den Versen Reichtum. Als Zuhair den Vers in Arabien schuf,
diente er der Gegenüberstellung zweier Bilder: des Bildes vom
alten Kamel und des Bildes vom Schicksal; wiederholen wir ihn
heute, so dient er dem Gedanken an Zuhair und der Vereinigung
unseres Kummers mit dem Kummer jenes alten Arabers. Aus
einem zweigliedrigen Vergleichspaar bestand ehemals die Figur;
heute besteht sie aus vier Gliedern. Die Zeit erweitert den Um­
kreis der Verse, und ich kenne welche, die wie die Musik für alle
Menschen alles sind. So tröstete ich mich vor Jahren in Marra-
kesch, als mich die Erinnerung an Córdoba plagte, mit dem
Gruß, den Abdarramahn in den Gärten von Ruzufa einer afri­
kanischen Palme zurief:
>Du auch verweilst, o Palme,
auf diesem fremden Boden.. .<
Seltsame Wohltat der Poesie! Worte, aufgesetzt für einen K ö ­
nig, der sich nach dem Orient sehnte, dienten mir, dem nach
Afrika Verschlagenen, meinem Heimweh nach Spanien Aus­
druck zu geben.«
Daraufhin sprach Averroes von den ersten Dichtern, von
jenen, die in der Zeit der Unwissenheit, vor dem Islam, schon
161
alles gesagt hatten, in der unendlichen Sprache der Wüste. Nicht
ohne Grund aufgebracht über die Zierereien von Ibn-Sharaf,
sagte er, daß in den alten Dichtern und im Koran die ganze Poesie
beschlossen liege, und sprach sich verurteilend aus über die
stammelnde und eitle Neuerungssucht. Die anderen lauschten
ihm beifällig, weil er für das Alte eintrat.
Die Muezzin riefen zur ersten Gebetsstunde am Morgen, als
Averroes seine Bibliothek abermals betrat. (Im Harem hatten
die schwarzhaarigen Sklavinnen eine rothaarige gefoltert, aber
das sollte er erst am Nachmittag erfahren.) Etwas hatte ihm den
Sinn für die beiden dunklen Worte aufgetan. Mit fester und
sorgfältiger Schönschrift fügte er dem Manuskript die Zeilen
an \Aristü (Aristoteles) benennt Tragödien die Panegyriken und Ko­
mödien die Satiren und Anathemen. Herrliche Tragödien und Komödien
bergen in Fülle der Koran und die Mohallas des Heiligtums,
E r fühlte sich schläfrig, fröstelte ein wenig. Als er den Turban
abgeschlungen hatte, betrachtete er sich in einem Metallspiegel.
Was seine Augen erblickten, weiß ich nicht, weil kein Ge­
schichtsschreiber seine Gesichtszüge überliefert hat. Ich weiß
nur, daß er jäh entschwand, wie von einem lichtlosen Feuer­
strahl getroffen, und daß mit ihm das Haus und der unsichtbare
Springbrunnen entschwanden und die Bücher, die Manuskripte,
die Tauben und die vielen schwarzhaarigen Sklavinnen und die
zitternde mit dem roten Haar und Farach und Abulcasim und die
Rosenbüsche und am Ende gar der Guadalquivir.

In der vorstehenden Geschichte wollte ich den Vorgang eines


Scheiterns darstellen. Zuerst dachte ich an jenen Erzbischof von
Canterbury, der sich vornahm zu beweisen, daß es einen Gott
gibt; dann an die Alchimisten, die nach dem Stein der Weisen
suchten; dann an die eitlen Versuche, den Winkel zu dritteln
und den Kreis geradezubiegen; dann kam ich auf den Gedanken,
daß es dichterischer sei, den Fall eines Menschen zu schildern,
der sich ein Ziel vorsetzt, das zu erreichen anderen nicht versagt
ist, wohl aber ihm. Ich dachte an Averroes, der, befangen im
Bannkreis des Islam, nie die Bedeutung der Worte Tragödie und
162
Komödie wissen konnte. Ich schilderte den Fall; je weiter ich
kam, um so mehr hatte ich das Gefühl wie jener von Burton er­
wähnte Gott, der sich vornahm, einen Stier zu schaffen, und der
einen Büffel schuf. Ich empfand, wie das Werk meiner spottete.
Ich empfand, daß Averroes, als er sich vorzustellen versuchte,
was ein Drama ist, ohne eine Ahnung vom Theater zu haben,
nicht absurder war als ich, der ich mir Averroes vorzustellen ver­
suchte, ohne mehr Unterlagen zu besitzen als ein paar Schwarten
von Renan, von Lane und Asin Palacios. Ich empfand auf der
letzten Seite, wie meine Erzählung zum Sinnbild des Menschen
ward, der ich, als ich sie schrieb, gewesen war, und wie ich, um
diese Erzählung zu verfassen, dieser Mensch hatte sein müssen
und, um dieser Mensch zu werden, diese Erzählung hatte ver­
fassen müssen; und so ins Unendliche. (Im Augenblick, da ich
aufhöre, an ihn zu glauben, verschwindet »Averroes«.)
Nachwort

Als ich in dem Band »Südamerikanische Erzähler« der


Manesse-Bibliothek zum erstenmal dem Namen Jorge Luis
Borges begegnete, las ich jene Geschichte, in der ein Verräter
sich im Laufe eines verhüllten Geständnisses das Schandmal
seiner Tat - die Narbe - noch einmal und wahrscheinlich noch
oft ins Gesicht zeichnet. Der Form nach schloß ich auf einen
Erzähler, der die Technik der englischen Kurzgeschichte be­
herrscht. Ein paar Jahre später las ich »Das Aleph«, ohne
einen Gedanken an den Borges der früheren Erzählung. Wehn
ich ein Zufallsleser geblieben wäre, hätte ich aus Geschichten
wie »Das geheime Wunder« oder »Drei Fassungen des Judas«
schwerlich auf ein und denselben Autor geschlossen.
Das sporadische Auftauchen des Namens Borges in Zeitun­
gen und Zeitschriften, die Selbstverständlichkeit, mit der er in
der englischen und französischen Literatur Eingang gefunden
hat, die begierige Frage, wer er denn eigentlich sei, woher er
stamme und zu welcher literarischen Richtung er sich bekenne:
all das sind ungenaue, weil im Bereich der Tatsachen statt­
findende Reaktionen auf den sehr genauen geistigen Charakter
seines Werkes.
Wir sind nun einmal daran gewöhnt, hinter dem Namen des
Autors eine einheitliche Person zu suchen. Im Falle Borges
besagt der Name so wenig, daß manche in ihm nicht zufällig
eine Mystifikation vermutet haben. Die Erzählungen, mit de­
nen der Leser im Laufe der Zeit bekannt wird, deuten zwar
auf eine gemeinsame Mitte hin, aber diese Mitte fällt nicht mit
einer bezeichenbaren Person zusammen. Gestalten wie der
jüdische Dramatiker in »Das geheime Wunder« und der Scho­
lastiker Aberroes in der Erzählung gleichen Titels sind auf
164
keine Weise identisch. Aber beiden widerfährt dasselbe. Sie
werden zunichte in dem Augenblick, da Gott oder der Geist
sie aus seinem Bewußtsein entläßt.
Diese eigentümliche Dialektik zwischen Nichts und Sein
wird uns an späterer Stelle beschäftigen. Zunächst stellen wir
fest, daß der Vereinigungspunkt der Erzählungen von Borges
keine individuellen Merkmale aufweist. Unverkennbar ist der
Stil, der jedoch bis zu derartiger Objektivität durchgearbeitet
ist, daß er geradezu als Antipode des persönlichen Stils gelten
kann.
Das erklärt unter anderem, warum Borges ohne Paßschwie­
rigkeiten über die Grenzen verschiedener Literaturen gelangt
ist und sich in Frankreich ebenso einbürgern läßt wie in Eng­
land und vermutlich jetzt auch in Deutschland. Und doch be­
steht der geheimnisvolle Reiz seiner Erzählungen nicht in der
Anpassung an den Stil einer antiken Fabel, eines Märchens
aus Tausendundeine Nacht oder einer Novelle von Kleist, son­
dern in etwas, das dem angenommenen Stil dialektisch wider­
spricht. Erklären wir uns an einem Beispiel. Die Erzählung
»Deutsches Requiem« beginnt mit den Worten: »Mein Name
ist Otto Dietrich zur Linde. Einer meiner Vorfahren, Chri­
stoph zur Linde, fiel bei der Reiterattacke, die den Sieg von
Zorndorf entschied. Mein Urgroßvater mütterlicherseits,Ulrich
Forkel . . .« usw. Der Leser, der nach dieser biographisch ge­
nauen Einführung auf ein Porträt gefaßt ist, merkt, wie im
weiteren Verlauf der Erzählung die individuellen Züge mehr
und mehr auslöschen. Sein Blick, der zuerst auf ein Bild fiel,
verliert sich in der Tiefe eines Spiegels. Dieses Prinzip: die
Auflösung des vorgeblich Individuellen ins ebenbildlich Viel­
deutige - weil das Ich sich selber nie eindeutig gegeben ist -
finden wir in einer Reihe weiterer Erzählungen wieder (»Die
Inschrift des Gottes«, »Das geheime Wunder« usw.).
Die Anpassung an die Wirklichkeit, der sich der Leser auf
Treu und Glauben überließ, wird zu fremdester Maske. Man
achte auf die topographisch genaue Einführung von Erzählun­
gen wie »Die Inschrift des Gottes« und »Die Bibliothek zu
165
Babel«. Uber die aus realen Bestandteilen gezimmerte Bühne
sehen wir ein Stück gehen, das in gewissen Teilen durchaus
wirklich zu sein scheint. Wir hören von Ereignissen, die wirk­
lich stattgefunden haben, werden mit Örtlichkeiten und Per­
sonen bekannt gemacht, die es tatsächlich gibt. Der Kredit, den
wir unserem sogenannten faktischen Wissen einräumen - das
doch zumeist nur ein Wortwissen ist - täuscht uns zunächst
darüber, daß wir es nicht mit der Wirklichkeit, sondern mit
der Wirklichkeitserfindung eines anderen zu tun haben. Un­
scheinbare Widersprüche im Text erschüttern unsere Illusion.
In »Deutsches Requiem« berichtet Otto Dietrich zur Linde,
daß er unter dem Titel »Abrechnung mit Spengler« an dem
bedrückenden Einfluß des Kulturphilosophen Rache genom­
men habe. Doch fließen ihm zur Begründung die Worte in die
Feder, daß niemand seinen Zeitgenossen Dank schulden will.
Der Ausspruch stammt von Samuel Johnson. Otto Dietrich
zur Linde begnügt sich mit einer allgemeineren Quellenan­
gabe. Trotzdem steht der Satz in berechnetem Widerspruch zu
der Psychologie des Erzählers. Vielmehr fungiert er als Abwei­
chung, die uns mehr oder weniger bewußt spüren läßt, daß
Otto Dietrich zur Linde keine Identifikation des Autors mit
seiner Gestalt, sondern ausgesprochen eine Figur, eine E r­
findung ist.
Wer die Erzählungen von Borges daraufhin durchgeht,
wird eine ganze Anzahl aphoristischer Kontrastfiguren finden,
die jedesmal so angebracht sind, daß wir hinter die Illusion sehen
und das Stück auf der Bühne als Erfindung erkennen.
Soll man in diesem Widerspiel von Evokation und Desillu­
sion, von Porträt und Spiegel, von Eindeutigkeit und Mehr­
deutigkeit ein manieristisches Vexierspiel erblicken? Oder ge­
schieht hier noch etwas anderes? Ernst Robert Curtius hat
Friedrich Schlegel nachgerühmt, »daß er Ältestes und Aktuel­
les gleichzeitig aufzunehmen und zu verarbeiten wußte«. Faßt
man den Manierismus so auf, wie ihn Gustav René Hocke in
der Nachfolge von Curtius deutet, so ist die Kombination von
Ältestem mit Aktuellem eines seiner Merkmale. So betrachtet ist
166
Borges Manierist, der unter dem Pseudonym Herbert Quain von
sich selber sagt, er gehöre nicht der Kunst, sondern der Kunst­
geschichte an, mit dem merkwürdigen Zusatz, die geschicht­
liche Kategorie nehme in seinen Augen die letzte Stelle ein.
Dieser intime Widerspruch zwischen spekulativer Kombina­
tion auf Grund geschichtlichen Wissens bei gleichzeitiger A b­
wertung der geschichtlichen Kategorie ist für Borges überaus
bezeichnend und ist zugleich der Punkt, in dem er mit Paul
Valéry zusammentrifft. Dies näher auszuführen, ist hier nicht
der Ort. Kennzeichnen wir lediglich die Lage ! Alle Geschichts­
theorien stehen zur Wahl frei, alle sind im Entwurf gleich
berechtigt, im Hinblick auf die Wirklichkeit gleich hinfällig.
Damit ist das historische Material freigegeben, das heißt kom­
binationsfähig geworden. Gemessen an den geistigen Struktur­
bildern, erscheint das Individuum außerordentlich suspekt,
vor allem wenn es seine metaphysischen Spekulationen, die in
den Bereich dichterischer Erfindung fallen, als Wahrheit aus­
gibt, während sich die moderne Wissenschaft nur noch an der
jeweiligen Leistung einer Theorie orientiert.
Borges geht weder von einer absoluten Wahrheit aus noch
zielt er auf eine solche hin. E r beschreibt in seinen Erzählun­
gen philosophischen Inhalts die Leistungskurve gewisser Ideen.
Sie enden meistens in der Aporie. E r kombiniert Strukturen:
so etwa in der »Lotterie in Babylon« das Lotteriewesen mit
dem allgemeinen Stimmrecht oder in »Drei Fassungen des
Judas« die Gnosis mit Kierkegaard.
Seine Rolle als Autor beschränkt sich darauf, die Kombina­
tion herzustellen und strukturgetreu durchzuführen. Das Expe­
riment gelingt nur unter der Voraussetzung, daß der persön­
lichen Entsagung ein hoher Grad von Sachkenntnis und logi­
scher Phantasie entspricht. Ohne Entsagung bliebe das Muster
trübe oder verschwommen. Ohne die außerordentliche Breite
von Sachkenntnis auf den entlegensten Gebieten würde es
fadenscheinig.
Wir haben auf Friedrich Schlegel angespielt. Nach seiner
Überzeugung stand schon zu Anfang des neunzehnten Jahr­
167
hunderts die Dichtung im Begriff, Wissenschaft zu werden.
Wissenschaft heißt: daß die immer deutlicher hervortretende
Eigengesetzlichkeit der Literatur sie in ebendem Maße tauglich
macht, ein Mittel der Erkenntnis zu werden.
Dieser Schluß konnte nur unter Vorantritt des Idealismus
gezogen werden. Der Raum des Bewußtseins mag sich noch
so weit ausdehnen und aller persönlichen Eigenschaften ent­
kleiden, um das All möglicher Kombinationen zu umfangen: je
weiter seine Grenzen gespannt werden, um so unentrinnbarer
verfällt bei seinem Erlöschen die Wirklichkeit dem Nichts.
An diese Grenze führt uns Borges immer wieder heran, in­
dem er bald die absolute Gesetzlichkeit, bald den absoluten
Zufall ad absurdum führt. Und an dieser Bewegung seines
Denkens, an dieser unabschließbaren Folge von Setzungen
und Aufhebungen, von Bildern und Spiegelbildern, an diesem
Ausspinnen eines labyrinthischen Fadens, der Ältestes mit
Aktuellem verknüpft, erkennen wir den Autor Borges - nicht
seine Individualität, die ihm als eine willkürliche Setzung gilt,
sondern den vieldeutigen Entwurf seiner selbst.
Dennoch wäre der Leser mit Recht enttäuscht, wenn wir
ihm in diesem Nachwort die biographischen Daten vorenthiel­
ten. Jorge Luis Borges ist Argentinier. E r wurde im Jahre 1899
in Buenos Aires geboren. Während des Ersten Weltkriegs stu­
dierte er in G enf und bereiste danach mehrere europäische
Länder. In Spanien, wo er sich einige Jahre auf hielt, schloß er
sich vorübergehend dem >Ultraismus< an, der als avantgar­
distische Bewegung etwa dem Surrealismus in Frankreich ent­
sprach. Viel anzufangen ist mit diesem -Ismus nicht, und
Borges selber mißt ihm keine Bedeutung bei. 1921 kehrte er
nach Buenos Aires zurück; 1923 veröffentlichte er seinen
ersten Gedichtband. Es folgten größere und kleinere Samm­
lungen von Essays, darunter eine mit dem Titel »Geschichte
der Ewigkeit«. Die Erzählungen gehören einer späteren Periode
an, doch ist die Grenze zwischen beiden Gattungen nicht im­
mer leicht zu ziehen. Als Übersetzer widmete sich Borges der
feinfühligen Wiedergabe von Virginia Woolf, Faulkner, K af­
168
ka und André Gide. Besondere Liebe hegt er für die deutsche
Sprache. Borges ist heute Direktor der argentinischen National­
bibliothek in Buenos Aires und lehrt englische und ameri­
kanische Literatur an der Universität.
Es wäre der Absicht von Borges widersprechend, wollte der
Übersetzer seiner Erzählungen nach einem Schema verfahren,
dem die mimische Charakterisierung des Themas durch den Stil
zum Opfer fiele. Hier liegt die eigentliche Schwierigkeit.
Mehr als bei anderen Autoren war darum auch bei diesen
Übersetzungen auf die stilistische Besonderheit jeder Erzäh­
lung, auf den »kritischen Mimus«, wie Friedrich Schlegel die
Charakterisierung eines Themas in der Darstellung oder Vor­
führung nennt, zu achten.
Karl August Horst

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