1.1 Mit welchen Argumenten lässt sich die Behauptung stützen, der Historiker verhalte
sich nur dann wissenschaftlich, wenn er in in seiner Arbeit -sine ira et studio- persönliche
Erkenntnisinteressen ausklammert und von der eigenen geschichtlichen Situation abstrahiert?
Gadamer betont im Text den Begriff des "Vorurteils". Er wird bei ihm nicht, wie in der Tradition
der Aufklärung und auch noch bei Schleiermacher, negativ verstanden als Quelle des Mißverstehens.
Das "Vor-Urteil" ist bei Gadamer die durch Lebensgeschichte und Bildungsgeschichte vorstrukturierte
Verstehensfähigkeit des jeweiligen Subjekts, die es nun versuchsweise auf das neu zu Verstehende
"entwerfen" kann und meist korrigieren wird. In diesem Sinn ist das Vorurteil für ihn nicht Störung,
sondern geradezu produktive Bedingung des geschichtlichen Verstehens.
1.2 Wie beurteilen Sie die Überzeugung Gadamers, dass durch die Einsicht in die
Wirkung der Tradition dieses Wissenschaftsverständnis als positivistischer Selbstbetrug entlarvt
wird?
Traditionen, so meint Gadamer, sind nicht nur Erbstücke, sondern Deutungshorizonte, die wir
immer wieder neu zu bereichern haben. Das geschieht, wenn wir die Traditionen interpretieren und
verstehen. Gadamer glaubt nicht, Traditionen seien mit dem Tod der Vernunft verbunden. Er nennt die
Tradition „ein Moment der Freiheit und der Geschichte selber“, denn Tradition bedeutet Bewahren und
das ist „eine Tat der Vernunft“.
2. Erörtern Sie die These Gadamers, das Ziel der historischen Forschung bestehe darin,
„die Bedeutung des Erforschten neu zu bestimmen“.
Gadamer schildert hier die Idee, dass eine Sache kann unterschiedlicherweise verstanden
werden, und dafür spielt der Kontext, in dem sie auftacht, eine große Rolle. „So gilt unser Interesse
wohl der Sache, aber die Sache gewinnt ihr Leben nur durch den Aspekt, in dem sie uns gezeigt wird.“
Die Bedeutung einer Sache ist also vom Kontext abhängig. „Wir nehmen hin“, schreibt Gadamer
weiter „dass diese Aspekte sich nicht einfach in der Kontinuität fortschreitender Forschung sich
aufheben, sondern wie einander ausschließliche Bedingungen sind, die jede für sich bestehen und die
sich nur in uns selber vereinigen.“ Mit der Zeit wird der Sinn über eine Sache immer mit neuen
Aspekten bereichern, dank den verschiedenen Erfahrungen, die man erlebt, das bedeutet dass das
Verstehen über das Erforschte sich stets ändert und neue Formen nimmt.
7. Gadamer kritisiert das Zeitverständnis des Historismus. Wie begründet er seine Kritik?
Welche Konsequenzen haben seine Vorstellungen für das methodologische Bewusstsein der
historischen Wissenschaften?
Die Zeit soll nicht angesehen werden, als ein Schlucht die etwas trennt, in Gegenteil soll sie als
die Herkunft, die Quelle des Geschehens. Die Überlieferung, in der man lebt, ist nicht kulturelle
Überlieferung, die aus Texten und Denkmälern allein besteht und einen sprachlich verfassten oder
geschichtlich dokumentierten Sinn vermittelt. Vielmehr wird einem die kommunikativ erfahrene Welt
selbst als eine offene Totalität beständig übergeben. Hermeneutische Anstrengung gelingt nach
Gadamer überall dort, wo Welt erfahren und Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten,
Einsehen, Aneignung erfolgen, und am Ende auch dort, wo die Integration aller Erkenntnis der
Wissenschaft in das persönliche Wissen des Einzelnen gelingt.
9.2. Warum bedeutet für Gadamer die These von der Horizontverschmelzung die
Überwindung des Positivismus durch die Hermeneutik?
Jeder Text hat – unabhängig von der Richtigkeit des Ausgesagten – einen Wahrheitsanspruch,
den man normalerweise akzeptiert. Einen Text verstehen bedeutet, dessen Sinnganzes in Fragen des
Interpreten und Antworten des Textes in sich aufzunehmen. Dieses bezeichnete Gadamer als
Horizontverschmelzung. Diese Horizontverschmelzung, die ebenso im alltäglichen Geschehen wie in
der Auseinandersetzung mit den Texten fremder Kulturen stattfindet, ist die Bedingung der Möglichkeit
des Verstehens, also transzendentale Voraussetzung. Für Gadamer sind Verstehen und Verständigung
Vollzugsformen menschlichen Lebens, die der Reflexion und damit der Philosophie und den
Naturwissenschaften vorausgehen.