Sie sind auf Seite 1von 9

†| Im Fokus

 OLIVER KÖ NIG | KÖ LN

Familiendynamik und
Gruppendynamik
Gegenstand und Verfahren –
Konvergenzen und Konkurrenzen

Übersicht: Als Erstes werden die Be- Begriffe – Familien- Antriebskräfte angenommen werden,
griffe Familiendynamik und Gruppen- zumal heute, da das wissenschaftliche
dynamik eruiert. Es folgen sozialwissen- dynamik und Feld zunehmend seiner Eigenlogik be-
schaftliche Überlegungen zum Verhält- Gruppendynamik raubt und der Logik der Ökonomie un-
nis der sozialen Gebilde Familie und terworfen wird. Interessanter ist aller-
Gruppe. Gruppendynamik und Famili- In der Wissenschaft fangen die Proble- dings, dass es sich bei Lewin und
entherapie als Verfahren werden dann me mit der Begriffsbildung an. In die- Moreno um einen Typus von Wissen-
als Teil einer Gruppenbewegung be- sem Fall haben wir es mit zwei Begrif- schaftler innerhalb der Sozial- und Hu-
schrieben, die ab den 1920er Jahren fen zu tun, die eine Bezeichnung für manwissenschaften handelt, deren In-
entstanden ist. In einem nächsten Schritt zwei soziale Gebilde – Familie und teressen gleichermaßen der Theorie
werden einige personelle, theoretische Gruppe – mit einem Begriff kombinie- wie der Praxis galten und deren Namen
und praktische Gemeinsamkeiten der ren, der gegenstandsneutral ist und zudem mit einem Verfahren in Verbin-
genannten multipersonellen Verfahren eine Richtung der Betrachtung vorgibt. dung gebracht wird: »Gruppendyna-
beschrieben. Abschließend werden Un- Dynamik eben – und nicht Statik oder mik« bei Lewin, »Psychodrama« bei
terschiede zwischen Gruppendynamik Systemik oder Struktur usw. Der Be- Moreno. Während es der Logik von
und systemischen Verfahren vor dem griff Gruppendynamik ist die frühere Wissenschaft entspricht, die eigenen
Hintergrund allgemeiner Entwicklungen Wortschöpfung von beiden. Üblicher- Ansichten dadurch zu adeln, dass man
im psychosozialen Bereich beschrieben. weise wird er mit den Arbeiten von die »Riesen« ausweist, auf deren Schul-
Kurt Lewin (1890 − 1947) und seiner tern man steht, so sind die psychosozi-
Schlüsselwörter: Familiendynamik, Schüler ab den 1940er Jahren in Verbin- alen Verfahren stärker von der Logik ei-
Gruppendynamik, Familie, Gruppe, dung gebracht, ist also entstanden nach nes Marktes beeinflusst, auf dem sie
Gruppenbewegung, Professionalisie- Lewins Emigration und Flucht aus sich gegen andere Verfahren behaup-
rung psychosozialer Verfahren, Selbst- Deutschland in die USA. In einer Pub- ten müssen. Auf diesem Markt zahlt es
steuerung, Fremdsteuerung likation taucht der Begriff zuerst bei sich aus, möglichst viel als eigene Leis-
Jacob Moreno (1889 − 1974) auf, der tung auszugeben und die Überschnei-
sich nicht nur in dieser Hinsicht von dungen, Übernahmen, Konvergenzen
Lewin um manche Urheberschaft be- herunterzuspielen oder zu tilgen.
raubt glaubte (Rechtien, 1990, S. 45). Damit sind wir bei einer zweiten
Mehrfache Urheberschaften sind in Ebene der Begriffsbildung. Der Begriff
der Wissenschaft durchaus keine Aus- Gruppendynamik bezeichnet – zumin-
nahmen, wie das so amüsant der ame- dest in seinen Anfängen – eine allge-
rikanische Soziologe Robert K. Merton meine Forschungsperspektive inner-
in seinem Buch Auf den Schultern von halb der Sozialwissenschaften, als
Riesen (1980) beschrieben hat. Sicher- Zweites steht er für die sozialpsycholo-
lich müssen auch Konkurrenzen und gische Kleingruppenforschung und als
Eifersüchteleien in der Wissenschaft als

292 35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 Familien


dynamik
FA M ILIE NDY NA M IK UND GRUP P E NDY N AMIK

Drittes eben für ein Verfahren sozialen Verfahrens Gruppendynamik traten im- Fromm, Wilhelm Reich), musste nach
Lernens. mer deutlicher in Erscheinung. Etwa ab 1945 aus dem angelsächsischen Raum
Gegenüber dieser manchmal ver- Anfang der 1980er Jahre ebbte das Inte- re-importiert werden. Zugleich wurde
wirrenden Bedeutungsvielfalt ist der resse ab, es folgten der allmähliche wis- damit die Dominanz Amerikas in der
Begriff Familiendynamik eher unterbe- senschaftliche Reputationsverlust der Wissenschaft ebenso wie in der weite-
stimmt. Er verweist weder auf eine aus- Gruppendynamik, eine Zeit lang noch ren Entwicklung von psychosozialen
gewiesene theoretische Perspektive begleitet vom Erfolg des Verfahrens Verfahren eingeläutet, auch hier mit Be-
noch auf ein Verfahren. Als Bezeich- und seiner Ausweitung in verschiede- teiligung vieler MigrantInnen, was am
nung des Letzteren fungiert der Begriff ne Felder, dann ging auch hier das Inte- Beispiel der Familientherapie gut zu re-
»Familientherapie«, der aber erst im resse zurück. konstruieren wäre (z. B. Paul Watzla-
Zusatz (systemisch, analytisch) die Die Familiendynamik blieb lange Zeit wick, Salvador Minuchin, Ivan Boszor-
Verfahrensorientierung anzeigte, be- die einzige auf Familie ausgerichte- menyi-Nagy).
vor daraus eine breitere »systemische« te Zeitschrift im deutschsprachigen

»
Perspektive hervorging. Raum, verstand sich als interdiszipli-
när und war sowohl an Theorie wie an Gegenstände –
Praxis bzw. praktischen Verfahren inte-
Der Begriff »Familien- ressiert. Die Herausgeberschaft blieb Familie und Gruppe als
dynamik« steht in 20 Jahre konstant. Erst ab 1983 zeigte soziale Gebilde
sie im Untertitel durch den Zusatz
engem Zusammenhang »systemorientiert« ihre Verbindung In welchem Verhältnis stehen nun die
mit der Gründung der mit einem Verfahren an. Auch in ihr sozialen Gebilde, auf die die beiden Be-
gleichnamigen fanden sich anfangs viele Überset- griffe zielen, Familie und Gruppe? Zu-
zungen aus dem Englischen und Ame- erst stoßen wir hier auf ein Problem,
Zeitschrift rikanischen. Dies verdeutlicht eine das entsteht, wenn Wissenschaftler
übergreifende Gemeinsamkeit, die mit sich eines Begriffes aus der Alltags-
der Zerstörung des deutschsprachigen sprache bedienen. Vor allem der Be-
Der Begriff »Familiendynamik« Kultur- und Geisteslebens durch griff Familie ist in einem Ausmaß von
steht in engem Zusammenhang mit der Flucht, Krieg und Vertreibung zusam- alltagsweltlichen Bedeutungen besetzt,
Gründung der gleichnamigen Zeit- menhängt. Denn vieles aus Wissen- dass Wissenschaftler sich erst dieses
schrift. Als diese 1976 das erste Mal im schaft und Praxis, an dem deutsch-ös- (ideologischen) Ballasts entledigen
Ernst Klett Verlag erschien, übernahm terreichische EmigrantInnen beteiligt müssen. Dass dieser Begriffsreinigung
sie nicht nur die Titelkombination der waren (neben Lewin und Moreno z. B. allerdings Grenzen gesetzt sind, dürfte
seit 1970 erscheinenden Zeitschrift Ruth Cohn, Sigmund H. Foulkes, Erich seit der diskursiven Wende in den Sozi-
Gruppendynamik, sondern auch den alwissenschaften bekannt sein.
Verlag und das Layout. Die Reputation Zugleich aber verdeutlicht diese Be-
der Gruppendynamik war damals auf setzung nochmals die zentrale Bedeu-
ihrem Höhepunkt, erkennbar an der tung von Familie als »Keimzelle« von
Gruppe der damaligen Herausgeber, Gesellschaft, wie es in der frühen Fami-
als prominentes Aushängeschild unter liensoziologie des 19. Jahrhunderts bei
ihnen Max Horkheimer. Die Zeitschrift Wilhelm Heinrich Riehl noch hieß.
Gruppendynamik startete als Korres- Wenn solche Metaphern benutzt wer-
pondenzausgabe des amerikanischen den, wird sofort der ganze Ballast an
Journal of Applied Behavioral Science. patriarchalen, nationalistischen, volks-
1984 wanderte die Gruppendynamik ab tümelnden Vorstellungen sichtbar, auf
in den Verlag Leske & Budrich, der denen sie aufsitzen. Wie sich dies in ei-
2004 im VS-Verlag aufging. Der Unter- ner rhetorisch modernisierten Form
titel wandelte sich von »Forschung und fortsetzt, kann man in aktuellen famili-
Praxis« zu »Zeitschrift für angewandte enpolitischen Debatten ebenso verfol-
Sozialwissenschaft«, schließlich zur gen (T. König, 2007; König & König,
engeren Perspektive einer »Zeitschrift 2007) wie im Umkreis psychosozialer
für angewandte Sozialpsychologie«. Verfahren, z. B. in den Auseinander-
Die Herausgeberschaft veränderte sich setzungen um Familienaufstellungen
kontinuierlich, und die Vertreter des

Familien
dynamik
35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 293
IM F O KU S

(O. König, 2007, S. 123 ff.). Familie ha- Gruppe der Primzahlen), so ist in den
ben wir alle in irgendeiner Form erlebt, Sozial- und Humanwissenschaften so
und dies ist mit starken Emotionen ver- ziemlich alles schon einmal als Gruppe
bunden. Familie ist zugleich zentraler bezeichnet worden, von gesellschaftli-
Ort der Reproduktion sozialer Un- chen Kollektiven wie der »Volksgrup-
gleichheit und, dadurch bedingt, Ge- pe« bis hin zu der (durchaus umstritte-
genstand unterschiedlicher Interessen nen) Bezeichnung des Paares bzw. der
und Politiken, nicht nur vonseiten der Dyade als Gruppe. Selbst wenn man
Parteien, sondern auch anderer gesell- sich auf den Bereich von kleinen Grup-
schaftlicher Organisationen und Insti- pen (bzw. Kleingruppen) beschränkt,
tutionen: von den Gewerkschaften so sind damit doch so unterschiedliche
über Kirche bis zu den psychosozialen soziale Formationen bezeichnet wie
Experten, die mit Familie arbeiten. Ehe Gruppen in der Arbeitswelt (heute
und Familie sind im Grundgesetz als »Teams« genannt), im Sport (Mann-
besonders schützenswert ausgewie- schaften), unter Peers (Clique, Gang,
sen, sind selbst »Institutionen«. Jugendgruppe), im kulturellen Bereich
Es sind nicht zuletzt diese Gründe, (Theater- und Tanzensembles, Bands,
warum die Beschäftigung mit Familie Künstlergruppen) und eben auch die
in der Soziologie immer umstritten Familie. Rein begriffslogisch gesehen,
war. Zum einen haben sich die meisten müsste man demnach Familie als eine
Klassiker zu Familie geäußert, und in Unterform von Gruppe bezeichnen, als
der Professionalisierungsphase der So- eine »Gruppe eigener Art« (R. König, Neben der Familie waren damit die
ziologie in der Nachkriegszeit stellte 1945, S. 45). Eine gruppensoziologische Peergruppe der Kinder, die Nachbar-
die Familiensoziologie nicht nur eine Fundierung der Familiensoziologie schaft und die (Dorf-)Gemeinschaft der
der ersten Ausdifferenzierungen des blieb aber umstritten, nicht zuletzt auf- Erwachsenen gemeint.
Faches dar, sondern ihr wurde auch grund der institutionellen Wucht, die Familie gilt hier als »Urform« von
eine herausgehobene Bedeutung für mit dem sozialen Gebilde Familie ver- Gruppe, und demnach ist damit zu
die allgemeine Soziologie zugespro- bunden ist, im Unterschied zu den rechnen, dass in Gruppen jeglicher Art
chen (O. König, 1996). Im breiter wer- demgegenüber zumeist geringer insti- familiäre Erfahrungen wieder auftau-
denden Strom einer formalen Soziolo- tutionalisierten anderen Gruppen des chen, wenn auch in veränderter Form.
gie, für die beispielhaft das Werk sozialen Lebens. Auch wenn diese Verknüpfung plausi-
Niklas Luhmanns steht, fristete der Ge- Die beiden Gegenstandsbereiche bel ist, so musste sich die Gruppenso-
genstand Familie nur ein Schattenda- Familie und Gruppe überschneiden ziologie von einer Familiarisierung von
sein. Luhmann veröffentlichte zu Fa- sich im Konzept der Primärgruppe, Gruppe lösen, wollte sie die Vielfalt so-
milie nur einen kleinen Aufsatz (1988), wie es zuerst von Charles H. Cooley zu zialer Gruppen verstehen, die in jeder
eine Diskussion des Gruppenbegriffs Anfang des 20. Jahrhunderts formu- Gesellschaft vorfindbar sind. Als sinn-
findet sich nur in seinen frühen Arbei- liert wurde. Bei Cooley sind Gruppen voll erwies es sich dabei, den Begriff
ten, in der weiteren theoretischen Ent- als primär zu verstehen in dem Sinne, für kleinere soziale Gebilde zu reser-

› 
wicklung verschwindet er (Kühl, 2008, vieren, für »Systeme persönlicher Be-
S. 71 f. u. 186 f.). Für viele Soziologen dass sie dem Individuum die früheste ziehungen« (Neidhardt, 1983, S. 14),
der 1980er und 90er Jahre strahlte die und umfassendste Erfahrung vom sozi- die von Unmittelbarkeit (Face-to-Face),
Familiensoziologie zudem einen ähnli- alen Ganzen vermitteln, aber auch in dem Diffusität und einer gewissen Dauer-
chen Muff aus, wie es das Thema Fami- Sinne, dass sie sich nicht im gleichen Maße haftigkeit gekennzeichnet sind. Im Un-
lie in den linksliberalen Milieus dieser verändern wie komplexere Beziehungen. terschied zur Rollenförmigkeit einer
Zeit insgesamt umgab. Sie bilden eine vergleichsweise stetige Beziehung verweist das Merkmal Dif-
Für den Begriff Gruppe gibt es eben- Quelle, aus der letztere entspringen. (…) fusität wiederum zurück auf Familie,
falls diese alltagsweltliche Einrahmung. Diese Gruppen sind daher Quellpunkte des für die dies ebenfalls konstitutiv ist.
Allerdings entstehen die Schwierig- Lebens, nicht nur für das Individuum, son- Diffus sind Beziehungen dann, wenn
keiten dabei eher durch die Unbe- dern für die sozialen Institutionen. Sie in ihnen prinzipiell (nicht unbedingt in
stimmtheit des Gegenstandes. Sieht werden nur zum Teil durch bestimmte Tra- der Praxis) alle Themen als ansprech-
man einmal von der rein formalen Ver- ditionen geformt; zum größeren Teil brin- bar gelten, während in rollenförmigen


wendung des Begriffes ab (z. B. die gen sie eine universale Natur zum Aus- Beziehungen das Spektrum der The-
druck.
(zit. nach Schäfers, 1999, S. 98 f.)

294 35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 Familien


dynamik
FA M ILIE NDY NA M IK UND GRUP P E NDY N AMIK

men, die dort verhandelt werden, auf das nicht direkt zugegriffen wer- zu zählen sind, neben einer Vielzahl
durch die Zuschreibungen der Rolle den kann, sondern das alle Interventio- von weiteren Formen wie Gruppen-
begrenzt sind. In der Moderne finden nen aus seiner Umwelt nach seiner ei- analyse, Psychodrama, sozialer Arbeit
sich diesbezüglich immer häufiger genen Systemlogik verarbeitet. Dies mit Gruppen etc.
Mischformen von Gruppen, zumal wiederum lässt sich gut mit einem Diese »Entdeckung« des »Prinzips
wenn sie in größere institutionelle oder Kerngedanken Kurt Lewins verknüp- Gruppe« als eines Mehrpersonensys-
organisatorische Zusammenhänge ein- fen, dass nämlich erfolgreiche Verän- tems fand ab den 1920er Jahren gleich-
gelassen sind. Neidhardt (1983, S. 27) derung auf mehreren Ebenen (Wahr- zeitig in verschiedenen gesellschaftli-
schlägt daher vor, Gruppen als »hybri- nehmung, Kognitionen, Einstellungen) chen Bereichen statt: im Produktions-
de« Gebilde zu betrachten, eingerahmt gleichzeitig stattfinden muss und zu- bereich mit der Entdeckung der Rolle
von zwei anderen Sozialformen, Fami- dem jedes Individuum maßgeblich von der informellen Gruppe im Industrie-
lie einerseits und Organisation ande- seinem Kontext bzw. den Gruppen mit- betrieb ebenso wie im psychosozialen
rerseits, und den in ihnen dominanten bestimmt ist, denen es sich zugehörig Bereich mit der Entdeckung der Rolle
Logiken des sozialen Austausches. fühlt. Derselbe Gedankengang findet der Gruppe für Veränderungsprozesse
Die Sozialpsychologie hingegen, die sich in der Familientherapie in der Ein- allgemein, der Gruppenpsychothera-
die Kleingruppenforschung lange do- sicht, dass ein individueller »Patient« pie im Speziellen sowie dann der gan-
minierte, bezog einen großen Teil ihrer nicht nur nicht adäquat verstanden zen Bandbreite von selbsterfahrungs-
Ergebnisse aus rein experimentellen werden kann, wenn man ihn nicht im orientierten Gruppenmethoden, die ab
Gruppen, die nur für Stunden zusam- Kontext der relevanten Personen seiner den 1960er Jahren explosionsartig zu-
menkamen, häufig nur für die Unter- Familie sieht, sondern häufig auch Ver- nehmen sollten. Mit dieser »Bewe-
suchungssituation selbst. Weder Dau- änderung eines Einzelnen nur möglich gung« nimmt eine Entwicklung ihren
erhaftigkeit noch Diffusität war für ist, wenn die Auswirkungen auf das Anfang, die sich damals als revolutio-
diese Gruppen gegeben. Dies hat zwar ganze System mitbedacht werden. när empfand, sozialmoralisch hoch
zu einigen interessanten Studien ge- aufgeladen war und sich im Dienst von
führt, diese Form der Sozialpsycholo- demokratischer Gesellschaftsverände-
gie aber schon bald erstarren lassen, Gruppe als Prinzip – rung sah. Heute kann man das etwas
zumal sich die Kooperation von Sozio- nüchterner als einen durchaus ambiva-
logie und Sozialpsychologie aufzulö- Die Entstehung der lent zu beurteilenden Siegeszug psy-
sen begann und Letztere wieder zur Gruppenbewegung chologischer Sichtweisen verstehen,
Psychologie zurückwanderte. Natura- der zu einer zunehmenden Verpersön-
listische Studien, die auch heute noch Nun soll hier nicht die Geschichte der lichung von vorher rollenförmigen Be-
mit Gewinn gelesen werden können, Gruppenforschung rekonstruiert wer- ziehungen führen sollte. Das Private
wie z. B. Streetcorner Society von Wil- den (Schäfers, 1999; R. König, 1983). wurde tatsächlich politisch, aber an-
liam Whyte (1955), blieben die Ausnah- Für unseren Zusammenhang ist es aber ders, als es sich die Erfinder dieses Slo-
me oder finden sich heute in anderen wichtig, dass Gruppe als Begriff und gans gedacht hatten. Soft Skills und
Fächern, z. B. der Ethnologie (Tertilt, als soziale Form in dem Augenblick Teamfähigkeit sind heute Bestandteil
1996). verstärkt in die Aufmerksamkeit fast jeder Stellenausschreibung. D. h.
Schon bei Cooley klingt an, dass bei- kommt, in dem das »Prinzip Gruppe« das vormals Persönlich-Private wird

»
de soziale Gebilde, Familie wie Grup- (Neidhardt, 1983, S. 12) zu entstehen zu einem Produktionsfaktor eigener
pe, eine gewisse Sperrigkeit Art und das »Prinzip Gruppe« bzw. die
gegenüber ihrer Umwelt Gruppenbewegung als Agenten dieses
bewahren. Was im Hinblick Gruppe als Begriff und Prinzips zu einem Motor der Vergesell-
auf Familie in der Sozio- als soziale Form rückt in schaftung.
logie als ihre besondere
dem Augenblick verstärkt Hier setzt nun eine paradoxe Ent-
Veränderungsresistenz be- wicklung ein. Denn die Gruppenbewe-
schrieben wird, taucht in in den Fokus, in dem das gung ist von Anfang an gepaart mit
der Gruppensoziologie als »Prinzip Gruppe« zu einer Vorstellung von Selbstverwirkli-
Primat der Binnenorientie-
entstehen beginnt chung, die als solche nur eine jeweils
rung von Gruppe auf, sys- individuelle sein kann, auch wenn ihre
temtheoretisch formuliert (moralische) Lehre ist, dass man dafür
als Vorstellung von Gruppe als einem beginnt. Ihre Institutionalisierung fand auf andere angewiesen ist. Die Grup-
selbstorganisierten sozialen System, dieses »Prinzip« in der Gruppenbewe-
gung, zu der sowohl die Gruppendy-
namik wie auch die Familientherapie

Familien
dynamik
35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 295
IM F O KU S

penbewegung ist, so gesehen, eine der Fernsehprogramm. Jeder Geheim- Egger, 1999). Ihre Wichtigkeit sowie
vielen Facetten eines umfassenden In- dienst wird sich heute Gedanken über generell die Bedeutung sozialwissen-
dividualisierungsprozesses, der zu- die Gruppendynamik einer terroristi- schaftlicher Ansätze für die (Gruppen-)
dem immer mehr Anteile der Person, schen Gruppe machen. Phänomene Psychotherapie wurde von Annelise
ihrer Gedanken und Gefühle, Fanta- wie die Unterwerfung des Individu- Heigl-Evers, die vor allem mit dem
sien und Wünsche zum Gegenstand ums unter die Gruppe (bzw. ihren Lei- Göttinger Modell einer psychoanaly-
einer öffentlichen Verhandlung macht, ter), wie es z. B. für Sekten wie Sciento- tisch-interaktionellen Gruppenpsycho-
und sei es auch nur die Öffentlichkeit logy charakteristisch ist, gehören therapie verbunden ist, hoch einge-
einer Selbsterfahrungsgruppe. Die in- ebenso dazu wie die von Konkurrenz schätzt. Ihr Mitherausgeber des ge-
dividuelle Zurechenbarkeit von Hand- und Ausscheidungswettbewerb ge- nannten Handbuches, Horst-Eberhard
lungen und Leistungen, von Verfeh- kennzeichnete Welt von Casting- Richter, steht geradezu beispielhaft für
lungen und diagnosefähigen psychi- Shows im Fernsehen oder der Einsatz die Verknüpfung von (analytischer)
schen Deformierungen usw. macht eines Assessment-Centers in der Aus- Familientherapie und (analytischer)
gerade den Unterschied einer moder- wahl von Führungskräften. Gruppendynamik und ihrer Einbet-
nen Gesellschaft aus gegenüber den tung in die gesellschaftlichen Umbrü-
tatsächlich stärker gruppen-, clan- und che ihrer Zeit (Richter, 1999).
familienorientierten Gesellschaften der Theoretische Gemeinsamkeiten ent-
Vormoderne. D. h. die Gruppenbewe- Zur Entwicklung standen nicht nur aus diesen personel-
gung war und ist Teil einer Entwick- multipersonaler len Überschneidungen, sondern auch
lung, an der sie sich zugleich reibt. Dies aus den Anforderungen selbst, die ein
zeigt sich in vielfältiger Weise. Im Pro- psychosozialer multipersonaler Zusammenhang wie
duktionsbereich an der Unmöglichkeit, Verfahren Gruppe oder Familie jedem aufgab, der
gruppen- und teambezogene Leis- mit ihnen arbeiten wollte bzw. verän-
tungssysteme einzuführen. Im Psycho- Welche Gemeinsamkeiten und Unter- dernd auf diese Systeme einwirken
therapiebereich daran, dass sowohl Fa- schiede, personell, theoretisch und wollte. Weder Medizin noch Psycholo-
milientherapie wie Gruppentherapie praktisch, lassen sich nun zwischen gie stellten hierfür brauchbare Ansätze
nach ihren Glanzzeiten in den 1970er Gruppendynamik als Verfahren sozia- zur Verfügung, der Rückgriff auf die
und 80er Jahren heute ein Randdasein len Lernens und Familientherapie bzw. Sozial- und Kommunikationswissen-
führen. Das ganze Gesundheitssystem den daraus hervorgegangenen syste- schaften, auf Systemtheorie und Ky-
ist auf individuelle Zuschreibungen mischen Vorgehensweisen und Verfah- bernetik lag nahe und erfolgte von
ausgelegt, und dies umso mehr, je stär- ren ausmachen? Beispielhaft für die ge- beiden Seiten gleichermaßen, in Grup-
ker es unter die Hegemonie medizini- meinsamen Anfänge möchte ich das pendynamik und Gruppenpsychothe-

»
schen Denkens gerät. zweibändige Handbuch der Ehe-, Famili- rapie ebenso wie in der Familienthe-
en- und Gruppentherapie (1974) nennen, rapie. Lewin und seine Feldtheorie
eine der ersten umfassenden Veröffent- werden heute selbst als ein Teil system-
Die Gruppenbewegung lichungen dieser Art im deutschspra- theoretischer Entwicklung angesehen.
chigen Raum, in der amerikanischen Feedback als zentrales Arbeitsprinzip
war und ist Teil einer Originalausgabe (1972) herausgegeben der Gruppendynamik ist ein Begriff
Entwicklung, an der sie von Clifford J. Sager und Helen Singer aus der Kybernetik. In allen diesen
sich zugleich reibt Kaplan, in der erweiterten deutschen konzeptionellen Entwicklungen, die
Ausgabe von Annelise Heigl-Evers andernorts nachgelesen werden kön-
und Horst-Eberhard Richter. Zwar ist nen, lässt sich zudem als unterirdisches
Gleichzeitig ragen die Auswirkun- Gruppenpsychotherapie nicht mit Thema die Auseinandersetzung mit
gen des »Prinzips Gruppe« bzw. der Gruppendynamik gleichzusetzen. In dem besonderen Veränderungspoten-
Gruppenbewegung in immer mehr ge- den 1960er und 70er Jahren wurde der zial von Mehrpersonensystemen einer-
sellschaftliche Bereiche hinein, wenn Gruppendynamik jedoch eine zentrale seits wie auch ihrer besonderen Verän-
auch vielfach in trivialisierter und sinn- Stelle in der Entwicklung gruppenpsy- derungsresistenz andererseits heraus-
entleerter Form. Von Teams ist allent- chotherapeutischer Verfahren einge- lesen.
halben die Rede, Beratung von und in räumt, da Gruppe nicht nur als Rah- Die gegenseitige Durchdringung
Gruppen wird überall und von jedem men für therapeutische Arbeit verstan- von Familientherapie und Gruppendy-
angeboten, Talkshows verstopfen das den wurde, sondern als eigenständiger namik findet sich auch im jeweiligen
therapeutischer Faktor. Die Theorie da- Verständnis von Gruppe und Familie
zu und passende Arbeitsmodelle gab
es bei der Gruppendynamik (Majce-

296 35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 Familien


dynamik
FA M ILIE NDY NA M IK UND GRUP P E NDY N AMIK

wieder. Gerade für die Familienthera- pen verstehen müsste, wurde in der eine Präferenz naturwissenschaftlicher
pie mit ihrem durchweg praktischen Bundesrepublik der 1970er und 80er Varianten der Systemtheorie.
Anliegen lag es nahe, Familie als Grup- Jahre, in denen es um die Ausweitung Ähnlich wie die Gruppendynamik
pe eigener Art zu verstehen. Und die ihrer Arbeitsfelder ging, von heftigen weiteten auch die Familientherapie
Gruppendynamik griff häufig, vor ideologischen Kämpfen lahmgelegt. und nochmals mehr die Systemische
allem unter dem Einfluss psychoanaly- Um in den neuen Arbeitsfeldern ak- Therapie ihren Zuständigkeitsan-
tischen Denkens und des Übertra- zeptiert zu werden, aber auch, um dort spruch beständig aus. Immer mehr
gungstheorems, auf familiendyna- überhaupt erfolgreich arbeiten zu kön- Formate außerhalb des therapeuti-
mische Überlegungen zurück, um nen, musste die Nähe zur Psychothera- schen Feldes wurden mit dem Zusatz
Gruppenphänomene zu erklären. Die pie zumindest gelockert, häufig sogar systemisch versehen: Supervision, Or-
Bedeutung von Grenzziehungen, die völlig getilgt werden. Konzeptionell ganisationsberatung und -entwick-
Frage der Mitgliedschaft und Zugehö- hatte dies insofern seine Berechtigung, lung, Beratung allgemein usw. Ermög-
rigkeit, die Vielfalt der möglichen Be- als sich, wie schon in der Gruppen- licht wurde dies einerseits dadurch,
ziehungen, ihre Diffusität, die Unter- soziologie, das Familienmodell von dass die Systemtheorie aufgrund ihres
schiedlichkeit ihrer Intensität und Gruppe als zu reduziert und ideolo- abstrakt-formalen Charakters leicht
Intimität, das Machtgefälle zwischen gisch eingeengt zeigte, um eine allge- auf unterschiedliche Felder und For-
einzelnen Personen (Eltern und Kin- meine Gruppentheorie und eine Praxis mate übertragbar und anwendbar war.
dern, Leitern und Teilnehmern), das in unterschiedlichen gesellschaftlichen Andererseits wurde im systemischen
Verhältnis zur Umwelt, die Rolle von Feldern zu ermöglichen. Der Weg führ- Paradigma eine Fülle von Techniken,
Außenseitern und Sündenböcken, die te theoretisch vorwiegend über die Strategien und Vorgehensweisen for-
Auswirkungen von Geheimnissen und Systemtheorie (Königswieser & Peli- muliert und systematisiert, die nicht
Tabus, die Wichtigkeit von Werten und kan, 1990; Schattenhofer, 1992), prak- immer alle originär systemisch waren,
Normen – zu all diesen Themen finden tisch über pragmatische Arbeitswei- aber in diesem Theoriegebäude schlüs-
sich in Gruppendynamik und Famili- sen, die die Radikalität der frühen sig beschrieben und begründet werden
entherapie Vorstellungen, die sich ge- Gruppendynamik auch für den gesell- konnten. Mit ihrem zunehmenden Er-
genseitig beeinflussten. schaftlichen Mainstream verdaulich folg wurden die Ansprüche der Sys-
Um die weitere konzeptionelle Ent- machten (Edding, 1988; Nellessen, temiker zugleich hegemonialer, sie
wicklung zu verstehen, muss man sich 1987). Ihr anfangs sehr breit angelegter lösten damit – nicht nur in dieser Hin-
nun vergegenwärtigen, wie sich die all- theoretischer wie praktischer An- sicht – die Psychoanalytiker ab. Diese
mähliche Ausweitung der Gruppenbe- spruch schrumpfte dabei zunehmend, Entwicklung ist inzwischen an einem
wegung auf diese selbst auswirkte. übrig blieb nicht viel mehr als eine Me- Punkt angekommen, an dem sich ein-
Zum einen weitete sie ihren Anspruch thode beruflicher Fortbildung, insbe- zelne akademische Vertreter einer kli-
auf immer mehr gesellschaftliche Be- sondere von Führungskräften. nisch orientierten Systemtheorie von
reiche aus, zum anderen rückte sie da- Trotz mancher Gemeinsamkeiten den systemischen Verfahren abzukop-

»
durch vom Rand der Gesellschaft im- nahm die Familientherapie einen ande- peln beginnen, da sie mit ihrem
mer mehr in ihr Zentrum. Dieser Weg ren Weg. In ihrer theore-
führte hinaus aus dem psychosozialen tisch-konzeptionellen Ent-
und akademischen Bereich, in dem sie wicklung erweiterte sie sich Mit ihrem zunehmenden
anfangs schwerpunktmäßig beheima- und ging auf in einem allge- Erfolg wurden die Ansprüche
tet war, hinein in die Welt von »Busi-
ness« und Management, großen Orga-
meinen systemischen An-
satz. Dieser ist allerdings so
der Systemiker zugleich
nisationen in Wirtschaft, Verwaltung breit gefächert, dass die Fra- hegemonialer
und Politik. Mit dieser Ausweitung ge berechtigt ist, wie viel die
ging eine Ausdifferenzierung von Ver- verschiedenen Ausformun-
fahren und Formaten einher, mit gen außer der Systemmetapher über- Zuständigkeitsanspruch über diesen
jeweils unterschiedlichen Auswirkun- haupt gemeinsam haben. Und wäh- Verfahrensbereich hinauszielen und
gen auf Gruppendynamik und Famili- rend Josef Duss-von Werth, zusammen sich dabei ausschließlich naturwissen-
entherapie. mit Helm Stierlin Gründungsheraus- schaftlich verorten, so jüngst Günter
Die Entwicklung der Gruppendyna- geber der Zeitschrift Familiendynamik, Schiepek in der Familiendynamik (2010).
mik, die sich von ihrem Ansatz her ei- in dieser Zeit die »Familientherapie
gentlich als übergreifende Theorie und als angewandte Familiensoziologie«
Praxis von Prozessen in und mit Grup- (1976) bezeichnete, so verliert sich
diese Nähe zu den Sozialwissenschaf-
ten und wird zunehmend ersetzt durch

Familien
dynamik
35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 297
IM F O KU S

Die Familientherapie gelang es interes- schaftlichen Feldern (Soziales, Wirt- rung als ziel- und situationsadäquatem
santerweise trotz dieser unübersehba- schaft, Verwaltung etc.) und Zielgrup- Leiterverhalten (Edding & Schattenho-
ren Erfolge der aus ihr hervorgegange- pen (Mitarbeiter oder Führungskräfte, fer, 2009, bes. S. 358 ff.). Beides ist auf
nen systemischen Verfahren nicht, Teil Klienten oder Professionelle, Benach- das Ziel ausgerichtet, die Selbststeue-
des kassenärztlichen Systems zu wer- teiligte oder Privilegierte) sind wahr- rungskräfte einer Gruppe zu entwi-
den. Das systemische Paradigma selbst scheinlich relevanter als die zwischen ckeln und ein spezifisches Verständnis
sieht sich heute dem Dilemma ausge- Verfahren und wirken zudem auf diese von den notwendigen Prozessen auf
setzt, einen Teil seines Denkens zumin- zurück. Insofern sollte man besser über dem Weg dorthin zu vermitteln. Die
dest relativieren zu müssen, um inner- Problemstellungen und die für sie je- besondere Stärke der Gruppendyna-
halb einer individualdiagnostisch aus- weils passenden Lösungen reden als mik besteht gerade darin, Selbststeue-
gerichteten und medizinisch domi- über Verfahrensunterschiede. Dies rung »live« zu erleben, mit all ihren

»
nierten Logik anerkannt zu werden wird auch verstärkt getan. Höhen und Tiefen. Ihre Schwäche be-
(Schweitzer & von Schlippe, steht darin, dass in manchen Kontexten
2009). Dahinter stehen be- Selbststeuerung nicht die Lösung, son-
rufsständische Interessen Es ist zu bezweifeln, dass dern das Problem ist und hier dann
von Medizinern und Psy-
durch Vergleiche häufig das strukturierende Hand-
chologen, alle anderen mög- werkszeug fehlt, um die angestoßenen
lichen Berufsgruppen aus psychosozialer Verfahren Prozesse wieder einzufangen.
dem Bereich der kassenärzt- relevante Unterschiede Dieses findet sich umfangreich in
lichen Psychotherapie her-
angesprochen werden den systemischen Verfahrensweisen
auszuhalten. Die derart aus- (aber nicht nur dort). Der Erfolg der
geschlossenen Berufsgrup- systemischen Verfahren liegt nicht zu-
pen (SozialpädagogInnen, Sozialar- Interessanter ist es zu untersuchen, letzt in ihren praktischen Vorgehens-
beiterInnen etc.) dominieren heute inwiefern die systemischen Vorgehens- weisen, in deren Zentrum eine aktive
die Familien-, Ehe- und Paartherapie weisen für eine verfahrensübergreifen- Gesprächsführung und ausgefeilte
und -beratung in den Beratungsstellen de Entwicklung innerhalb des psycho- Fragetechniken stehen. »Wer fragt, der
der Kommunen, Wohlfahrtsverbänden sozialen Feldes stehen, die ich abschlie- führt« – dieses Motto aus der Rhetorik
und Kirchen. Darüber hinaus zeigt sich ßend an vier Bereichen wenigstens wurde hier erfolgreich umgesetzt.
nochmals das generelle Problem im skizzieren möchte: dem Umgang mit Schon in der Familientherapie wurde
Umgang mit Mehrpersonensystemen. Strukturierung und der Gestaltung der die Kommunikation mit dem Klienten-
Unser ganzes Denken, unser Verständ- Leitungsrolle und in der Folge davon system häufig in Metaphern des
nis vom Individuum ebenso wie unser dem Umgang mit Angst sowie der Fra- Kampfes beschrieben. Systemische
Rechtssystem sind auf individuelle Zu- ge von Ressourcen- und Problemorien- Verfahren sind durchweg hoch struk-
rechenbarkeit ausgerichtet, eine Orien- tierung. turiert, was sich vor allem in einer ak-
tierung auf Mehrpersonensysteme wie Gruppendynamik als Verfahren ist tiven Leitungsrolle zeigt, und bieten
Gruppe und Familie steht dem entge- zwar genauso wenig einheitlich, wie dadurch ein Kontrastbild zur Grup-
gen und bleibt sperrig. dies für systemische Verfahren gilt. pendynamik. So entsteht die paradoxe
Idealtypisch gesehen, ist sie jedoch Situation, dass der hohe (theoretische)
niedrig strukturiert (König & Schatten- Stellenwert des Selbststeuerungsge-
Paradoxe Praxen – die hofer, 2010), was sich unter anderem in dankens in der systemischen Praxis
einer eher abstinenten Gestaltung der häufig einhergeht mit einer starken
Experten der Selbst- Leiterrolle zeigt. Sie setzt dadurch im- (Fremd-)Steuerung durch einen syste-
steuerung mer auch Ängste und daraus resultie- mischen Experten, der zudem zurück-
rende (innere wie äußere) Konflikte weisen würde, dies zu sein. In vielen
Psychosoziale Verfahren zu verglei- frei, versteht dies aber als einen Motor Kontexten macht dies durchaus Sinn.
chen baut auf der Vorstellung auf, dass von Entwicklung und Veränderung. Ressourcenorientierung ist ohne eine
dadurch relevante Unterschiede ange- Dadurch ist sie immer auch problem- solche Fremdsteuerung durch die Lei-
sprochen würden. Das kann durchaus orientiert. In diesem Sinne steht sie in tung gerade in den Bereichen, in denen
bezweifelt werden, denn die Unter- der Tradition der Psychoanalyse und sie am nötigsten ist, z. B. in der Arbeit
schiede zwischen Formaten (Therapie, der Konflikttheorie innerhalb der Sozi- mit benachteiligten Personengruppen,
Fortbildung, Supervision etc.), gesell- alwissenschaften (Coser, 1965). Unter- kaum anders herstellbar.
schieden werden kann zwischen Kon-
textsteuerung, d. h. der Konstruktion
von Lernsettings, und Prozesssteue-

298 35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 Familien


dynamik
FA M ILIE NDY NA M IK UND GRUP P E NDY N AMIK

Es sind gerade die aktiven Vorge- schnell auf eine natürliche Grenze. Ver- sociological remarks on the relation-
hensweisen, die den systemischen Ver- suchen die so Verunsicherten aufkom- ship between the two social entities fa-
fahren zusammen mit anderen (z. B. mende Ratlosigkeit und Ängste aus- mily and group. As procedures, group
der Verhaltenstherapie im therapeuti- schließlich durch erneuten Rückgriff dynamics and family therapy are then
schen Bereich) in der Professionalisie- auf systemische Strategien zu bewälti- described as part of a movement that
rung der psychosozialen Verfahren gen, so wird bestenfalls dieser dynami- originated in the 1920s. The next sec-
eine derart herausgehobene Stellung sche Untergrund wieder zum Ver- tion outlines a number of person-rela-
eingebracht haben. In der Gruppen- schwinden gebracht. Im schlechtesten ted, theoretical, and practical commo-
psychotherapie zeichnet sich heute Fall werden sie dadurch Teil einer psy- nalities shared by the multi-personal
eine ähnliche Entwicklung ab, weg von chosozialen Expertokratie, wie sie procedures referred to earlier. Finally,
niedrigstrukturierten Verfahren hin zu kennzeichnend ist für eine Gesell- distinctions are made between group
manualisierten und durchstrukturier- schaft, in der Beratung in immer mehr dynamics and systemic procedures
ten Verfahren, in denen Therapiever- Lebensbereiche vordringt. against the background of general
läufe besser plan- und messbar sind. developments in the psychosocial sec-
Auch in Kontexten beruflicher Fortbil- tor.
 Summary
dung wird Gruppendynamik häufig
nur noch in kleinen Portionen zuge- Family Dynamics and Group Dynamics – Keywords: family dynamics, group dy-
mutet. Die Logik von Professionali- Definitions and Distinctions namics, family, group, group move-
sierungsprozessen ebenso wie das The article begins with an examination ment, professionalization of psycho-
Gesundheitssystem und der Markt of the concepts family dynamics and social procedures, self-control, external
drängen auch im Fall der psychosozia- group dynamics. This is followed by control
len Experten auf die individuelle Zu-
schreibung von Leistungen. Das prak-
tische Wissen über Selbststeuerung
und eine darauf bezogene Interventi-
onspraxis, die nicht den Leiter, sondern
die Gruppe in den Mittelpunkt stellt,
verschwindet dadurch zunehmend (O.
König, 2010). Es entsteht die paradoxe
Situation, dass Vorstellungen von
Selbststeuerung in immer mehr gesell- WERKZEUGKASTEN
schaftliche Bereiche vordringen, die »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«, diesen oft zitierten Satz Kurt
Grenzen aber, in denen eine solche Lewins möchte ich dem Werkzeugkasten voranstellen.
stattfinden kann, immer enger bzw.  Die sozialen Gebilde Familie und Gruppe und die auf sie bezogenen psycho-
fremdgesteuerter werden. sozialen Verfahren weisen Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede auf. Das
Die Begründer der systemischen Wissen darum kann einen vor manchen rhetorischen und praktischen Sack-
Verfahren hatten allesamt noch Erfah- gassen und Fallgruben bewahren.
rungen mit niedrig strukturierten Vor-  Während es der Logik von Wissenschaft entspricht, die eigenen Ansichten
gehensweisen, die in den 1960er bis dadurch zu adeln, dass man die »Riesen« ausweist, auf deren Schultern man
70er Jahren das psychosoziale Feld steht, so sind die psychosozialen Verfahren stärker von der Logik eines Mark-
dominiert haben. Sie kamen zum Teil tes beeinflusst, auf dem sie sich gegen andere Verfahren behaupten müssen.
aus diesen Verfahren, z. B. der Psycho- Die Diskussionen zwischen verschiedenen Verfahren werden daher gehalt-
analyse oder der Gruppendynamik, voller, wenn ihre Vertreter diese etwas mehr wissenschaftlich und historisch
selbst wenn sie ihre eigenen Vorstel- kontextualisieren.
lungen im Kontrast dazu entwickelten.  Es zahlt sich aus, wenn man sein Wissen von dem Gegenstand, mit dem man
Jüngere Vertreter systemischer Verfah- arbeitet (z. B. Gruppe oder Familie), nicht auf die Verfahren beschränkt, mit
ren haben aber all diese Erfahrungen denen man arbeitet, sondern sich auch über andere Verfahren und generell
und das durch sie gewonnene Wissen über Wissensbestände schlau macht, die nicht von Verfahrensinteressen ge-
nicht mehr. Mit systemischen Vorge- prägt sind.
hensweisen kann man zwar bis zu  Das Ausmaß von Strukturierung ist in den psychosozialen Verfahren mehr als
einem bestimmten Punkt das Gesche- nur eine methodische Frage erfolgreichen Arbeitens. Sie tangiert zugleich
hen gut kontrollieren, in Gruppen auch die gesellschaftliche Funktion dieser Verfahren, zwischen Expertentum
stößt man aber aufgrund ihres Eigen- und Zurückhaltung eine angemessene Balance zu finden.
sinns und ihrer Veränderungsresistenz

Familien
dynamik
35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 299
IM F O KU S

 Bibliografie König, T., & König, O. (2007). Metalog zur


Familienpolitik. Familiendynamik, 32,
Eine ausführliche Literaturliste zur 131 − 152.
Gruppendynamik findet sich auf der Königswieser, R., & Pelikan, J. (1990). Anders
Homepage der Deutschen Gesellschaft – gleich – beides zugleich. Unterschiede
für Gruppendynamik und Organisati- und Gemeinsamkeiten in Gruppendyna-
onsdynamik (DGGO/Sektion mik und Systemansatz. In O. König
Gruppendynamik im DAGG): (Hrsg.) (2006), Gruppendynamik (S. 95 −
www.gruppendynamik-dagg.de 126) München: Profil.
Kühl, S. (2008). Coaching und Supervision. Zur Anschrift des Verfassers
Coser, L. A. (1965). Theorie sozialer Konflikte. personenorientierten Beratung in Organisa-
Neuwied: Luchterhand (orig. 1956). tionen. Wiesbaden: VS-Verlag. Dr. Oliver König
Duss-von Werth, J. (1976). Familientherapie Luhmann, N. (1988). Sozialsystem Familie. Weyertal 13
als angewandte Familiensoziologie. Ver- System Familie, 1, 75 − 91.
50937 Köln
such einer Problemstellung. In H.-E. Rich- Majce-Egger, M. (Hrsg.) (1999). Gruppenthe-
okoenig@netcologne.de
ter, H. Strotzka & J. Willi (Hrsg.), Familie rapie und Gruppendynamik – Dynamische
und seelische Krankheit (S. 38−47) Reinbek: Gruppenpsychotherapie. Theoretische Grund- www.oliverkoenig-homepage.de
Rowohlt. lagen, Entwicklungen und Methoden. Wien:
Oliver König, Dr. phil. habil., Jg. 1951,
Edding, C. (1988). Die Domestizierung der Facultas.
Gruppendynamik. In O. König (Hrsg.)
Studium der Pädagogik, Soziologie, Psy-
Merton, R. K. (1980). Auf den Schultern von
(2006), Gruppendynamik (S. 77−94) Mün- Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der chologie, Promotion in Soziologie
chen: Profil. Gelehrsamkeit. Frankfurt a. M.: Syndikat (Frankfurt a. M.), Habilitation in ange-
Edding, C., & Schattenhofer, K. (Hrsg.) (orig. 1965). wandter Sozialwissenschaft (Kassel),
(2009). Handbuch Alles über Gruppen. Theo- Neidthardt, F. (1983). Themen und Thesen Privatdozent an der Universität Kassel,
rie, Anwendungen, Praxis. Weinheim/Basel: zur Gruppensoziologie. In ders. (Hrsg.), Arbeit in eigener Praxis in Köln.
Beltz. Gruppensoziologie. Perspektiven und Mate-
1983−1988 Ausbildung in Gruppen-
König, O. (1996). Die Rolle der Familie in der rialien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Soziologie – unter besonderer Berücksich- Sozialpsychologie, Sonderheft 25, 12 – 34.
dynamik (DGGO/DAGG), 1993−1996
tigung der Familiensoziologie René Kö- Nellessen, L. (1987). Der Preis der Konsoli- Ausbildung in Systemischer Therapie
nigs. Familiendynamik, 21, 239 − 267. dierung. In O. König (Hrsg.) (2006), Grup- (IGST), Supervisor (DGSv), Heilprak-
König, O. (2007). Gruppendynamik und die pendynamik (S. 63 – 76) München: Profil. tiker (Psychotherapie). 2000−2007 Mit-
Professionalisierung psychosozialer Berufe. Rechtien, W. (1990). Zur Geschichte der An- herausgeber von Gruppenpsychothera-
Heidelberg: Carl-Auer. gewandten Gruppendynamik. In O. Kö- pie und Gruppendynamik, seit 2004
König, O. (2010). Vom allmählichen Ver- nig (Hrsg.) (2006), Gruppendynamik
Mitglied im Editorial Board der Fami-
schwinden der Gruppenverfahren. In M. (S. 43 – 62) München: Profil.
Macje-Egger (Hrsg.), Gruppenpsychothe- Richter, H.-E. (1999). Die Gruppe im Wandel liendynamik. Mitherausgeber der René
rapie und Gruppendynamik. Festschrift des Zeitgeistes. Gruppenpsychotherapie und König Schriften, Buch- und Aufsatzpub-
zum Jubiläum des ÖAGG 1959 − 2009. Gruppendynamik, 3, 175 – 187. likationen zu den Themenbereichen
Sonderausgabe Feedback, 339, 28 − 44. Sager, C. J., & Kaplan, H. S. (1974). Handbuch Familie, Familienaufstellungen, Ge-
König, O., & Schattenhofer, K. (2010). Einfüh- der Ehe-, Familien- und Gruppentherapie. schlechterbeziehungen, Gruppe,
rung in die Gruppendynamik. Heidelberg: 2 Bde. In der erweiterten deutschen Aus- Gruppendynamik, Körper, Professiona-
Carl-Auer. gabe hrsg. von A. Heigl-Evers & H.-E.
lisierung, Psychotherapie, Qualitative
König, R. (1945). Von der Notwendigkeit ei- Richter. München: Kindler.
ner Familiensoziologie. In R. Nave-Herz Schäfers, B. (Hrsg.) (1999). Einführung in die Sozialforschung, Sexualität.
(Hrsg.), Familiensoziologie. René König Gruppensoziologie. Wiesbaden: Quelle &
Schriften, Bd. 14. (S. 9 − 48) Opladen: Les- Meyer.
ke & Budrich, 2002. Schattenhofer, K. (1992). Selbstorganisation
König, R. (1983). Die analytisch-praktische und Gruppe, Entwicklungs- und Steuerungs-
Doppelbedeutung des Gruppentheorems. prozesse in Gruppen. Opladen: Westdeut-
Ein Blick in die Hintergründe. In F. Neid- scher Verlag.
hardt (Hrsg.), Themen und Thesen zur Grup- Schiepek, G. (2010). Systemische Forschung.
pensoziologie. Gruppensoziologie. Perspekti- Familiendynamik, 1, 60−70.
ven und Materialien. Kölner Zeitschrift für Schweitzer, J., & von Schlippe, A. (2009).
Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Lehrbuch der systemischen Therapie und Bera-
25, 36 – 64. tung II. Göttingen: Vandenhoeck & Rup-
König, T. (2007). Familiale Geschlechterar- recht.
rangements zwischen staatlicher Regulie- Tertilt, H. (1996). Turkish Power Boys. Ethno-
rung und »privater Angelegenheit«. Eine graphie einer Jugendbande. Frankfurt a. M.:
Analyse des medialen Diskurses um die Suhrkamp.
Einführung des Elterngeldes. Zeitschrift Whyte, W. F. (1955). Street Corner Society. Chi-
für Frauenforschung und Geschlechterstu- cago: University Press. 
dien, 25, 55−68.

300 35. JAHRGANG, HEFT 4/2010 Familien


dynamik

Das könnte Ihnen auch gefallen