Die Breitenseer Lichtspiele sind eines der ältesten Kinos der Welt.
Dass es sie noch gibt, liegt nur an einer Frau: der 81-jährigen
Anna Nitsch-Fitz. Von Jonas Vogt
Fotos: xxxx
MITTEL
Deutsch perfekt 2 / 2 019 KULTUR 35
W
das L“chtspiel, -e der Saal, Säle
enn der Projektor läuft, Nationalsozialistischer Arbeiterpartei. , Film , sehr großer, hoher Raum
ist es ein guter Tag für die Das Kino wird deshalb nach dem Krieg
der Ton, ¿e die Leinwand, ¿e
Breitenseer Lichtspiele. vom Staat geführt und Wolfschütz erst , Laut , ≈ große, weiße künst-
Wenn nämlich niemand 1947 zurückgegeben. liche Wand, auf der man
die [brechnung, -en
Filme und Bilder zeigt
kommt, bleibt er aus. Aber an diesem Seitdem wurden immer wieder Dinge , Rechnung, die alle
Abend haben Besucher den Weg in das verändert. Aber vieles in dem Saal wirkt Kosten zeigt ¢ngepolstert
, ohne weiches Material
kleine Wiener Kino gefunden. Im Vor- wie vor 100 Jahren. Eine fünf mal drei Me- der H¶cker, -
zum Sitzen auf einem Stuhl
, Stuhl ohne Lehne
raum ist der Ton von The Florida Project ter große Leinwand, davor 168 ungepols- oder Sofa
zu hören, einem US-Filmdrama. Anna terte Holzsessel, die vor ein paar Jahren (die Lehne, -n
„nno dazumal österr.
, Teil am Stuhl für den
Nitsch-Fitz könnte sich freuen, aber jetzt restauriert wurden. „Ich möchte Leuten , früher
Rücken)
muss die Kinochefin die Abrechnung ma- zeigen, wie Kino anno dazumal war“, sagt die Neuerung, -en
die K„mmer, -n
chen. Die 81-Jährige, die viel kleiner ist als Nitsch-Fitz. Ganz ignorieren konnte sie , ≈ Wechsel von Altem zu
, kleiner Raum
Neuem
die meisten ihrer Gäste, sitzt auf einem die Neuerungen nicht. Während große „m Leben h„lten
„bgespielt
Hocker in einer kleinen, vollen Kammer. Kinos Millionen Euro in Digitalprojek- , hier: ≈ machen, dass
, hier: gezeigt
Die alte Dame trägt auf einem Blatt Pa- toren und 3-D-Filme investieren, werden etwas bleibt
kn„pp
pier Zahlen in Tabellen ein. in den Breitenseer Lichtspielen die Filme der St¶ck, ¿e
, hier: so, dass sie kurz
, langer, dünner Gegen-
Ohne Nitsch-Fitz würde es dieses heute auf DVD und einem kleinen Server vorher geboren wurde
stand aus Holz
Kino, diesen Hocker, diese Papierberge über einen Beamer abgespielt. Die kom- die Kriegsware, -n
h“nnich
schon lange nicht mehr geben. Ganz al- plette Digitalisierung des Kinos würde , österr. kaputt
, hier: Produkt des
Krieges
leine hält die Pensionärin die Breitenseer 100 000 Euro kosten.
schm•cken
Lichtspiele am Leben. Ein Kino, das es Seit sie auf der Welt ist, hat Anna vertreten
, dekorieren
, für kurze Zeit die Aufga-
seit mehr als 100 Jahren gibt – Nitsch-Fitz mit Kinos zu tun, die W“rtschaftskammer, ben eines anderen machen
und das es nach den Regeln des sie wächst in einem auf. Ihre -n
Im Jahr 1905 , Organisation in Öster-
die Kassiererin, -nen
Marktes eigentlich gar nicht Großmutter kommt 1918 , hier: Frau, bei der man
beginnt die reich für die wirtschaftli-
mehr geben sollte. von der norditalienischen chen Interessen von Firmen
eine Eintrittskarte kauft
Familie
„Das ist ja schon fast ein Grenze nach Wien und kauft aussuchen
Guggenberger der ¢nermüdliche Einsatz,
, wählen
Museum hier, oder?“ Nitsch- das Nussdorfer Kino in der ¿e
Filme zu zeigen,
Fitz kommt aus der Kammer Heiligenstätter Straße. Am 22. , hier: dauernde Aktion; weiterführen
in einem Zelt. dauerndes Handeln , weitermachen
und läuft langsam durch ihre Januar 1938 wird ihre Enkelin
Räume. Sie geht am Stock, ihr geboren. „Knapp noch keine d¢rchgängig bespielen „bgeben
, hier: ohne Pause Filme , hier: an andere geben
Fuß ist „hinnich“, wie sie selbst sagt. Im Kriegsware“, sagt Nitsch-Fitz. Die kleine zeigen
Vorraum hängen alte Poster für Filme Anna spielt hinter dem Kino in der Sand- die [blöse
der St¢mmfilm, -e , hier: ≈ Geld, das man an
von Fritz Lang. Eine Vitrine schmücken kiste. Je älter sie wird, desto mehr hilft sie , Film ohne Sprache und einem früheren Besitzer/
Danksagungen der Wirtschaftskammer. mit. Sie kontrolliert die Karten, vertritt Musik Mieter bezahlt
„Für Frau Magister Anna Nitsch-Fitz“, für die Kassiererin, sucht am Ende gemein- verændern der F“lmverleih, -e
ihren „unermüdlichen Einsatz“, für die sam mit ihrer Großmutter die Filme aus. , neu oder anders machen , Firma, bei der ein Kino
Filme leihen kann
Zukunft „das Allerbeste“. Dank bekommt Als die stirbt, führt Nitsch-Fitz das Nuss-
man schnell, mit dem Geld wird es dann dorfer Kino noch zwei Jahre für ihren Va-
kompliziert. ter weiter. 1969 wird es geschlossen.
Die Breitenseer Lichtspiele sind eines Die Frau, die mit dem Kino aufgewach-
der ältesten durchgängig bespielten Ki- sen ist und ohne es nicht leben kann,
nos der Welt. Im Jahr 1905 beginnt die sucht Alternativen. Sie hört, dass die Be-
Familie Guggenberger Filme zu zeigen, sitzerin das Breitenseer Kino abgeben
in einem Zelt, das auf leeren Bauplätzen will. Als sie es zum ersten Mal besucht, ge-
steht – auch an der Breitenseer Straße. fällt es ihr gar nicht. „Ich war das Nussdor-
Fotos: Evelyn Rois & Bruno Stubenrauch/laif
Als dort 1909 das jetzige Gebäude fertig- fer Kino gewohnt mit 483 Plätzen“, sagt
gemacht wird, zieht das Kino ein. Zwei Nitsch-Fitz. Den neuen Saal fand sie sehr
Jahre später wird es an die Familie Grün klein. Am Ende zahlt sie trotzdem 100 000
verkauft. Die letzten Stummfilme wer- Schilling (heute circa 35 000 Euro) Ablöse
den dort gezeigt und die ersten Tonfilme. und mietet das Kino.
Auch in den Kriegsjahren wird es wei- In ihren Geschichten haben die Men-
ter bespielt. Die Besitzerin Anna Wolf- schen immer Namen – der Herr Mo-
schütz-Grün ist Mitglied von Hitlers ser vom Filmverleih Thim, der Herr
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keine Zeit. „Ich hab immer oder nicht mehr ganz aktu-
nur das Kino und die Schule elle Auslandsproduktionen.
gehabt“, sagt sie. Durchschnittlich wollen nur
Nitsch-Fitz hat sehr gerne noch 150 Besucher im Mo-
unterrichtet. Als sie wegen ei- Die Chefin ist nat die Filme sehen. Das Kino
nes Tumors in Pension gehen keine Cineastin: bekommt 12 000 Euro Förde-
muss, ist sie unglücklich. Bis Sie liebt mehr rung im Jahr, das ist überhaupt
ihr Bruder sagt, dass ihr doch ihr Kino, weni- nicht genug. Ihre Pension von
nichts Besseres passieren ger die Filme. 2500 Euro investiert sie fast
kann: mehr Zeit für ihr gelieb- komplett in das Kino, um das
tes Kino, die große Konstante in ihrem Minus auszugleichen. Es stecken ja auch
Leben. Verheiratet war sie nie. Einmal fast 50 Jahre ihres Lebens darin. „Ich dach-
hat sie sich verliebt. In den Franz, mit dem te, ich mach das Kino so lange, bis meine
sie 15 Jahre lang glücklich ist und der als Nichte und die zwei Neffen es weiterfüh-
Filmvorführer in ihrem Kino arbeitet. Vor ren können“, sagt Nitsch-Fitz. Die wären
ein paar Jahren ist er gestorben. auch bereit dazu. Sie haben aber Familie,
Fragt man Nitsch-Fitz nach dem und wenigstens eine schwarze Null muss
schönsten Moment im Kino, sagt sie: schon vor dem Ergebnis stehen, sagen sie.
„Als wir mit einem Peter-Alexander-Film Damit das irgendwann funktioniert, ar-
ausverkauft waren. Ist aber auch schon beitet Nitsch-Fitz noch immer jeden Tag
30 Jahre her.“ Sie liebt mehr ihr Kino, vier bis fünf Stunden in ihrem Kino.
weniger die Filme. Eine Cineastin ist sie Mit Eva Sangiorgi, der neuen Viennale-
nicht. Sie setzt sich zwar immer wieder Chefin, möchte sie es noch mal probieren.
in den Saal und schaut ein wenig zu. Aber Die sei begeistert gewesen von Kino Wien
Foto: picture alliance/APA/picturedesk.com
sie hat noch keinen Film in ihrem Kino Film, einem Film über die Geschichte der
komplett gesehen. Sie muss ja immer die Wiener Kinos, der auf der letzten Vien-
Abrechnung machen, und die ganze Zeit nale lief. In dem kamen die Breitenseer
klingelt das Telefon. Lichtspiele vor. Vielleicht fährt die Vien-
Für ihr Kino hatte Nitsch-Fitz immer nale-Chefin ja mal die acht Stationen mit
wieder Pläne. Hans Hurch, den früheren der U3 hinaus. Nach Breitensee, wo sich
Leiter der Viennale, hat sie mehrmals an- eine alte Frau weigert, ein Kino zu schlie-
gerufen. Ob die Breitenseer Lichtspiele ßen, nur weil es kein Geld bringt.