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Im Rahmen einer Publikation, die sich den unterschiedlichen Perspektiven des Phänomens
›Klang‹ widmet, mag sich die Musiktheorie in erster Linie für die ›Organisation‹ des Klangs
zuständig fühlen. Der Begriff ›Klangorganisation‹ kann zunächst – obschon vor allem in
der Theorie elektronischer Musik geläufig2 – als allgemeiner Terminus für intentional syste-
matisierte oder zumindest ›geordnete‹ musikalische Strukturen gesehen werden und somit
tendenziell synonym mit kompositionstechnischen Vorgangsweisen erscheinen, die das Phä-
nomen ›Klang‹ betreffen. Für unsere hier vorgestellte Methode wesentlich ist allerdings die
Voraussetzung, dass auch die musikalische Wahrnehmung, ja die auditive Wahrnehmung
insgesamt auf einer (kognitiven) ›Organisation‹ von Klangereignissen beruht, die methodisch
letztlich nicht schlüssig von kompositionspraktischer ›Organisation‹ getrennt werden kann.
Nicht nur sind Komponist/innen in der Regel die ersten und häufig auch genauesten Hö-
rer/innen ihrer eigenen Klänge, auch entstehen kompositionstechnische Strukturen histo-
risch gesehen aus einer komplexen zyklischen Wechselwirkung von künstlerischer Intention,
kompositionstechnischer Umsetzung, aufführungspraktischer Interpretation und kognitiver
sowie soziokultureller Rezeption. So problematisch die im Bereich der neuen Musik weitge-
hend unhinterfragt gebliebene Autorität der Autorposition sein mag3, so darf nicht übersehen
werden, dass viele der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts ganz bewusst über das
eigene Werk hinaus grundsätzliche Überlegungen zur musikalischen Wahrnehmung ange-
stellt haben, deren kulturhistorische Kontextualisierung von der Musiktheorie und Musik-
wissenschaft noch keineswegs hinreichend geleistet wurde und die in jedem Fall auch über
den ›Tod des Autors‹ hinaus im Dialog mit Erkenntnissen der Musikpsychologie und der
kognitiv orientierten Musiktheorie fruchtbar gemacht werden können.
Theorien der Klangstrukturen der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts wurden traditionell
meist unter dem Begriff ›Harmonik‹ bzw. ›Harmonielehre‹ zusammengefasst. Trotz der offen-
1 Eine zum vorliegenden Beitrag komplementäre Studie wird von den Autoren veröffentlicht als Klangorga-
nisation. Zur Systematik und Analyse einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik. Dort wird eine
systematische Erörterung der Morphologie und Syntax von Klangereignissen im post-tonalen Kontext
vorgenommen. Im vorliegenden Beitrag steht dagegen die Frage im Vordergrund, wie in der analytischen
Praxis verschriftlichte Struktur und Klangwahrnehmung miteinander in einen sinnfälligen Dialog ge-
bracht werden können.
2 Die von Oxford University Press herausgegebene Fachzeitschrift Organised Sound befasst sich schwer-
punktmäßig mit elektronischer Musik, allerdings auch allgemeiner mit den kognitiven und neurobiologi-
schen Voraussetzungen der musikalischen Wahrnehmung. Vgl. daneben für die Anwendung des Begriffs
auf elektronische Musik auch Landy, Understanding the Art of Sound Organization. Die Begriffsprägung
und Anwendung auf elektronische Musik scheint auf Edgard Varèse zurück zu gehen (vgl. Anm. 6).
3 Vgl. dazu insbesondere Utz, Musik von einem fremden Planeten?, S. 378–382.
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sichtlichen Verbindung dieser Begriffe mit der Dur-Moll-Tonalität, nicht zufällig häufig auch
als ›harmonische Tonalität‹ bezeichnet, wurde weiterhin von der »Harmonik in der Musik
des 20. Jahrhunderts«, der »harmonischen Organisation des Rite of Spring« etc. gesprochen.4
Wenn nun auch kaum ein Zweifel daran bestehen kann, dass post-tonale Musik im Sinne
einer »Anamnese«5 der Tonalität Aspekte harmonischen Denkens bewahrt, weiterentwickelt
und transformiert, so scheint ›Harmonik‹ als analytisches Konzept doch zumindest für die
Musik jener Komponisten irreführend, die einen rigoroseren Bruch mit dem tonalen System
anstrebten, unter ihnen Edgard Varèse und John Cage, die beide konsequenterweise auch den
Begriff ›Musik‹ für ihre eigenen künstlerischen Hervorbringungen nicht mehr in Anspruch
nehmen wollten und mit »organized sound« bzw. »organization of sound« ersetzten.6
Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass ›Harmonik‹ erst im 19. Jahrhun-
dert als paradigmatisches musiktheoretisches Konzept etabliert wurde. Die dauerhafte und
weitreichende Prägung, die es der Theoriebildung tonaler Musik bis heute verleiht, war auch
Resultat der Bestrebung, musiktheoretisches Denken als Bestandteil der Musikwissenschaft
4 Vgl. etwa Gieseler, Harmonik in der Musik des 20. Jahrhunderts sowie Forte, The Harmonic Organization
of the »Rite of Spring«. Walter Gieseler behandelt das Phänomen Harmonik aus einer rein produktionsäs-
thetischen Perspektive (»alles an gewollten und damit verantworteten Einzelakkorden, Akkordfolgen und
Akkorden in größerem Zusammenhang«) und klammert serielle Musik aus seinen Überlegungen aus, da
diese »das Thema Harmonik an den Rand gedrängt hat« (Gieseler, Harmonik in der Musik des 20. Jahr-
hunderts, S. 6, 16). Tonalität ist für Gieseler »wie Modalität ein historisch zu verstehender Sonderfall der
Harmonik«. Schon Carl Dahlhaus hatte dagegen auf den inflationären und oft unangemessenen Gebrauch
des Begriffs ›Harmonik‹ in Analysen neuerer Musik hingewiesen: »[W]enn atonale Zusammenklangser-
scheinungen unter dem Stichwort Harmonik analysiert oder klassifiziert werden, ist sogar die Grundbe-
deutung, die das Wort Harmonie in der Umgangssprache bewahrt, ausgelöscht oder in den Hintergrund
gedrängt« (Dahlhaus, Relationes harmonicae, S. 209).
5 Wir setzen hier eine Definition post-tonaler Musik voraus, in der analog zu Jean-François Lyotards Defi-
nition von Postmoderne als »Redigieren« im Sinn einer »Anamnese« bzw. einer »Durcharbeitung der Mo-
derne« (vgl. Lyotard, Das Inhumane, S. 41, 67) nicht von einer kategorischen Gegensätzlichkeit zwischen
tonaler und post-tonaler Musik, sondern von einem vielgliedrigen Beziehungsnetz zwischen beiden Syste-
men ausgegangen wird. Lyotard übernimmt diese Denkfiguren von Sigmund Freud und Walter Benjamin
(vgl. Vielhaber, Die Präfixe der Postmoderne, S. 60ff.).
6 Vgl. dazu genauer Utz/Kleinrath, Klangorganisation, Exkurs 1: Zur Wahl des Begriffs ›Klangorganisation‹.
Edgard Varèse bezeichnete mit »son organisé« / »organized sound« sowohl im engeren Sinn elektroaku-
stisch erzeugte Klänge, etwa die Interpolationen (1953–61) zu Déserts (1949–54) oder den Poème électro-
nique (1958), verstand diesen Begriff aber spätestens seit 1936 auch als Synonym für Musik insgesamt (die
umfangreichste Diskussion dazu bietet Jostkleigrewe, »The Ear of Imagination«, S. 67–70). Ihm liegt in
Verbindung mit der von Joseph Maria Hoëné Wronski (1778–1853) übernommenen Vorstellung einer in
den Klängen angelegten ›Intelligenz‹ ein autopoietisches Grundkonzept zugrunde (vgl. Varèse, Musik als
ars scientia, S. 14). Damit ist bei Varèse die Rezeptionsperspektive stets implizit mitbedacht. John Cage
hat die ähnliche Bezeichnung »organization of sound« gleichfalls häufig als Synonym bzw. als Alternative
für ›Musik‹ verwendet. Es ist nicht endgültig geklärt, ob Cage den Begriff von Varèse übernahm oder
unabhängig von Varèse zu dieser erstmals in seinem Essay The Future of Music (1940) dokumentierten For-
mulierung gelangte (vgl. Miller, John Cage in Seattle, S. 56, 76, Anm. 40). In jedem Fall musste spätestens
in der zwischen den Jahren 1952 und 1958 erfolgten Wende zur Ästhetik der Unbestimmtheit gerade eine
solche ›Organisation‹ von Klängen für Cage zur Negativfolie werden, vor der sich sein utopischer Entwurf
von für Komponist wie für Hörer nicht-intentionalen Klangfolgen abhob (vgl. Utz/Kleinrath, Klangorga-
nisation, Exkurs 2). – Im deutschsprachigen Raum wurde in jüngerer Zeit ›Klangorganisation‹ auch als
übergeordneter Terminus für das Zusammenwirken von Form und Struktur verwendet, insbesondere von
John Leigh, und dabei gleichzeitig explizit auf die produktionsästhetische Perspektive eingegrenzt (vgl.
Kühn/Leigh, Was ist Form?, S. 127f.).
7 Es scheint dabei nicht unwesentlich, daran zu erinnern (vgl. Riethmüller, Musik zwischen Hellenismus und
Spätantike, S. 249f.), dass Aristoxenos keineswegs die rationale Fundierung der Musiktheorie zugunsten
der auditiven Wahrnehmung gänzlich verworfen hat, wie es oft in grober Vereinfachung dargestellt wur-
de. Diese Vereinfachung scheint zumindest zum Teil das Erbe Boethius’ gewesen zu sein, der Aristoxenos
mit dem sensus-Prinzip, dem iudicium aurium assoziierte und diesem das pythagoräische ratio-Prinzip, das
iudicium rationis gegenüberstellt, das von Boethius und seinen Nachfolgern für allein gültig erklärt wurde.
8 Dazu genauer Utz, Musik von einem fremden Planeten?
9 Das Projekt wurde seit Anfang 2009 von den Autoren an der Kunstuniversität Graz entwickelt, eine Reihe
von Beiträgen sind in diesem Zusammenhang seither bereits entstanden. Im Jahr 2011 wird das Projekt
mit der Beantragung einer zweijährigen Forschungsförderung sowie der Organisation eines internationa-
len Symposions an der Kunstuniversität Graz weiter ausgebaut.
10 Gérard Grisey hat versucht diesen Bereich vor allem durch die drei zentralen Begriffe ›differentielle‹,
›transitoire‹ und ›liminale‹ zu fassen. Vgl. Grisey, La musique, le devenir des sons, und die sehr über-
sichtliche und konzise Darstellung in Haselböck, Gérard Grisey: Unhörbares hörbar machen, S. 54–59 und
passim.
11 Schering, Nationale und historische Klangstile. Schering interpretierte die Musikgeschichte hier als ständi-
gen Wechsel zwischen dem Ideal des Verschmelzungsklangs (Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhun-
derts, Symphonik von Haydn bis Mahler) und des Spaltklangs (Musik des Mittelalters, linearer barocker
Kontrapunkt, Musik der Moderne). In der Diskussion der Musik Wagners wurde davon ausgehend u.a.
zwischen »Verschmelzung« (als allgemeinem Charakteristikum symphonischer Musik) und »Mischung«
(dem Zusammenfließen von Klangfarben zu synthetischen Mischfarben) unterschieden (vgl. Janz, Klang-
dramaturgie, S. 130f.).
12 Lachenmann, Klangtypen der Neuen Musik.
13 Intégrales als ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne insgesamt sowie einer die Integration von Ton-
höhen- und Klangfarbenstrukturen anstrebenden Tendenz post-tonalen Komponierens im Besonderen zu
bezeichnen, bedarf kaum der Rechtfertigung (vgl. dazu u.a. Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts,
S. 125–127). Scelsis Viertes Streichquartett wiederum wurde nicht nur vom Komponisten selbst, sondern
auch von vielen seiner Interpreten als »zentral und herausragend« eingestuft (vgl. dazu Helbing, Zyklizität
und Drama(turgie) in Scelsis viertem Streichquartett, Anm. 4). Lachenmanns Concertini bildet nicht nur
von der Dauer und dem ästhetischen Anspruch, sondern auch von der kompositorischen Konzeption her
einen wesentlichen Pfeiler seines Œuvres, in dem zahlreiche Fäden, insbesondere der Werkzentren des
Ensemblewerks Mouvement … vor der Erstarrung (1982–84) und der »Musik mit Bildern« Das Mädchen
mit den Schwefelhölzern (1990–96/2001) zusammenlaufen.
14 Vgl. Varèse, Music als ars scientia. Auch wenn sich das Konzept der Art-Science hier vorrangig auf die
Erzeugung bislang ungehörter Klänge durch eine ›Klangerzeugungsmaschine‹ bezieht, scheint es doch
legitim, es auch auf die ›Organisation der Klänge‹ in seinen instrumentalen Werken auszudehnen.
15 Vgl. dazu insbesondere die erste Vermutung in Zender, Intuition. Zeit. Archaik, S. 18: »Scelsi hat auf radi-
kale Weise ein Konzept ›intuitiver Musik‹ realisiert.«
16 Als einer der ersten wies Wolfgang Thein (Botschaft und Konstruktion) auf die Bedeutung solcher kon-
struktiven Elemente in Scelsis Musik hin und erklärte diese dadurch, dass diese Konstruktion »ihre
Berechtigung […] in der von Scelsi referierten okkulten Vorstellung [finde], daß der Ton drei ›Leiber‹
besitze: einen physischen […], einen psychischen […], und einen vom Logos geprägten […]« (S. 57). Zum
aktuellen Forschungsstand in Bezug auf den Entstehungsprozess von Scelsis Werken vgl. Jaecker, »Der
Dilettant und die Profis«.
17 Die detaillierte Analyse in Helbing, Zyklizität und Drama(turgie) in Scelsis viertem Streichquartett hat dies
nachhaltig bekräftigt.
18 Die folgende Analyse von Varèses Intégrales ist im anfangs genannten komplementären Artikel (Utz/
Kleinrath, Klangorganisation) bereits entworfen, wird hier aber detaillierter ausgearbeitet.
19 Utz, Immanenz und Kontext.
20 Chou, Converging Lives, S. 357.
21 »The form of the work results from the density of the content. […] Timbres and their combinations ...
become part of the form. […] Sounds […] are an intrinsic part of the structure« (Varèse zitiert nach David
Ewen, American Composers Today, New York 1949, in: Flechtner, Die Schriften von Edgard Varèse, S. 291).
»Indem ich Form als eine Resultante […] begriff, war ich durch das frappiert, was mir eine Analogie
zwischen meiner kompositorischen Gestaltung und dem Phänomen der Kristallisation zu sein scheint«
(Varèse, Rhythmus, Form und Inhalt, S. 18). »[…] L’intellectualisation de l’intervalle est un facteur qui,
pour moi, n’a rien à faire avec notre époque et ses nouveaux concepts« (Varèse, Écrits, S. 125).
22 Hier und in weiterer Folge findet die aus der pitch class set-Theorie bekannte Bezeichnung von Intervallen
nach der Anzahl ihrer Halbtöne Verwendung.
Ganz ohne Zweifel handelt es sich bei dieser Skizze um ein ›Klangmodell‹, um eine paradig-
matische Konstellation von Intervallen, der in Hinblick auf die Klangbildungen in Varèses
Werken große Relevanz zukommt. Natürlich ist dieses Modell auch musikhistorisch im Rah-
men der etwa von Strawinsky, Bartók, Berg und anderen Komponisten der Moderne unter-
nommenen Versuche zu verstehen, symmetrische und sonstige distanzharmonische Ordnun-
gen im zwölftönigen System als Alternativen zur tonalen Dreiklangsharmonik aufzuspüren.23
Wesentlicher in unserem Zusammenhang ist jedoch, dass sich verwandte Intervallstruktu-
ren auch in den Klangspektren der Stimmgabeln, Glocken und Membranophone finden,
die Helmholtz in seiner Lehre von den Tonempfindungen beschreibt 24, ein Buch, das Varèse
23 Vgl. dazu unter zahllosen Darstellungen u.a. Perle, Berg’s Master Array of the Interval Cycles und Antoko-
letz, The Music of Béla Bartók sowie Gervink, Die Strukturierung des Tonraums. Varèse, der in den Jahren
1907 bis 1913 in Berlin lebte, dürfte am ehesten durch den Kontakt mit Ferrucio Busoni und das Studium
der Partituren Skrjabins, Debussys und Schönbergs (vor allem opera 11 und 16) zu dieser Darstellung
gelangt sein. Das Skizzenblatt fand sich in Varèses Partitur von Skrjabins Poème de l’Extase (Chou, Con-
verging Lives, S. 356).
24 Vgl. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 120–127 und S. 290–324. Das Spektrum der
gespannten Membran c-as-cis1-d1-g1-b1 (Intervallfolge 8–5–1–5–3) findet sich auf S. 126, die Diskussion von
Schwebungen in Bezug auf die Rauigkeit der Intervalle nimmt vor allem die Abschnitte 8, 10 und 11 der
»Zweiten Abtheilung« des Buchs ein. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch Beschreibungen
von Glocken und außereuropäischen Instrumenten, die in Varèses Atelier standen (vgl. Die Tagebücher der
Anaïs Nin 3 [1939–43], hg. v. Gunther Stuhlmann, München: dtv 1976, S. 183f.; Chou, Converging Lives,
S. 351).
25 Vgl. dazu u.a. la Motte-Haber, Aufbruch in das Klanguniversum, S. 49: »Eine radikale Annäherung der
Melodieinstrumente an das Schlagzeug zeigt sich […] nur in der Musik von Varèse, wobei […] die voll-
ständige Gleichbehandlung typisch ist. […] Die Aufhebung der Differenz zwischen Instrumenten mit
bestimmter und unbestimmter Tonhöhe weist bereits darauf hin, daß es Töne in dem abstrakten Sinn, wie
ihn die abendländische Musik hervorgebracht hat, nicht mehr gibt. Tönen wird die Qualität des Klangs
wiedergegeben«.
26 Varèse, Musik als ars scientia, S. 16.
27 Zu allgemeinen Fragen der Methodik der Analyse von Varèses Werken vgl. Utz, Immanenz und Kontext.
Eine dem vorliegenden Ansatz verwandte Methodik verfolgt, ebenfalls in Bezug auf Intégrales, Lalitte,
Varèse’s Architecture of Timbre (dazu genauer Anm. 28, 30, 36, 43). Die zahllosen weiteren vorliegenden
Analysen von Intégrales stoßen nur selten in die hier anvisierten klanglichen Detailstrukturen vor. Vgl.
dazu u.a. Strawn, The Intégrales of Edgard Varèse; Stenzl, Varèsiana; Clayton, Varèse, the Chamber Works of
the 1920s; Bernard, The Music of Edgard Varèse; Danuser, Musik jenseits der Narrativität?; Decroupet, Via
Varèse; la Motte-Haber, Die Musik von Edgard Varèse, S. 148–158, 202–205, u.a.; Ballstaedt, Zur Figur in
Edgard Varèses Intégrales; Mäkelä, ›Melodic totality‹ and textural form in Edgard Varèse’s Intégrales; Mâche,
Méthodes linguistiques et musicologie; Authier, Intégrales d’Edgard Varèse.
28 Vgl. Lalitte, Varèse’s Architecture of Timbre, S. 1: »[…] analyser cette musique seulement en termes de
matériaux thématiques, de texture ou de constructions intervalliques, sans prendre en compte réellement
le timbre, peut conduire à des impasses et, en tout cas, ne permet pas dégager l’essence du son organisé tel
que l’a pensé Varèse«.
29 Decroupet, Via Varèse, S. 33–36; Lalitte, Varèse’s Architecture of Timbre, S. 5, 9. Decroupet schränkt al-
lerdings ein, dass Varèse, der eine »resolut moderne und atonale Musik« schreiben wollte, in Helmholtz’
Forschungen möglicherweise eher eine »negative Projektionsfläche« erkannt und »gewisse Grundideen
aus der Lehre in eine ihnen fremde Umgebung« transponiert habe (S. 34).
30 Lalitte (Varèse’s Architecture of Timbre, S. 5) geht von folgender Beschreibung Helmholtz’ aus: »Am leich-
testen sind [Differenztöne zwischen zwei Grundtönen] zu hören, wenn die beiden primären Töne um
weniger als eine Octave von einander abstehen, dann ist der Differenzton der Grundtöne tiefer, als beide
primären Töne. Um ihn zuerst zu hören, wähle man zwei Klänge, welche stark und anhaltend hervorgebracht
werden können und ein rein gestimmtes harmonisches Intervall bilden, das enger als eine Octave ist. Man lasse
erst den tieferen von beiden angeben, dann auch den höheren. Bei gehöriger Aufmerksamkeit wird man be-
merken, dass in dem Augenblicke, wo die höhere Note hinzukommt, auch ein schwacher tieferer Ton hör-
bar wird, der eben der gesuchte Combinationston ist« (Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen,
S. 228f.) Es ist allerdings letztlich fragwürdig, ob sich Varèses komplexe Klanganordnungen tatsächlich
mit einem so schlichten psychoakustischen Experiment vergleichen lassen. Auch Lalittes Ableitung der
Differenz- und Summentöne aus den Klangaggregaten des Beginns von Intégrales bietet zwar grundsätz-
lich einige interessante Erkenntnisse, zugleich steht man aber vor dem Problem, dass sieben- oder elftö-
nige Klänge eine derartige Fülle an Differenztönen produzieren, dass mit ihnen nahezu jeglicher Ton des
Zwölftontotals ›erklärt‹ werden kann (vgl. Lalitte, Varèse’s Architecture of Timbre, S. 9). Der Erkenntnis-
wert der Kombinationstontheorie für die Wahrnehmung der Klänge bei Varèse muss also als eher gering
eingestuft werden.
31 Ballstaedt, Zur Figur in Edgard Varèses Intégrales, S. 471–476, listet insgesamt 49 Varianten der Figur über
den gesamten Verlauf des Werkes auf.
32 Der Beginn einer Figur wird durch den Vorschlag d2-as2 jeweils eindeutig markiert.
33 Vgl. dazu Utz, Immanenz und Kontext sowie Cox, Geometric Structures in Varèse’s Arcana. Umfang und
Ausmaß von Varèses geometrisch gestalteten Zeitstrecken bleiben freilich umstritten. Cox differenziert,
dass geometrische Proportionen für Varèse keine vorab festgelegte Formel waren, sondern »used with
freedom and imagination to generate form without recourse to exact repetitions of formal solutions. The
use of these techniques offered Varèse the satisfaction of an integral conception coupled with flexibility
and control over the realization of his design« (ebd., S. 253).
Abb. 2: Varèse, Intégrales (1924/25) für elf Bläser und vier Schlagzeuger, T. 22–29; © 1961 Universal Music
Publishing Ricordi S.R.L. Milano
34 Bernard hat diese Passage und vergleichbare Klangbildungen bei Varèse als »frozen music« bezeichnet
(Bernard, The Music of Edgard Varèse, S. 134–162).
Abb. 3: Varèse, Intégrales, T. 1–29: Klänge A und B: Spreizung (oben), Tonraum und 13-Ketten (unten links),
Instrumentalgruppen (unten rechts)
35 Varèse zog diesen Begriff aus der Alchimie heran, um seine prozessorientierten kompositorischen Verfah-
ren allgemein zu beschreiben. Vgl. Varèse, Neue Instrumente und Neue Musik, S. 12.
36 Analysen Varèsescher Werke haben bis auf einige allgemeine Ansätze dazu bislang wenig beigetragen.
Trotz in dieser Hinsicht vielversprechender methodischer Voraussetzungen verbleibt Philippe Lalittes
Analyse (Varèse’s Architecture of Timbre) sehr im Allgemeinen. Abgesehen von metaphorischen Charak-
terisierungen der sonographischen Darstellung wie »frottements d’harmoniques« oder »jaillissement
d’harmoniques« (in Bezug auf Klang a, S. 7) und der methodisch fragwürdigen Reduktion der Klangkom-
plexe auf eine Zentralfrequenz (»centroid«), die die räumliche Wirkung der Klangmassen erklären soll
(je lauter der Klang, desto »höher« werde er empfunden, S. 9–11), werden alle wesentlichen analytischen
Erkenntnisse am Ende doch aus einer Analyse der Partitur abgeleitet. (Auch andere methodische Schritte
bleiben unkommentiert, etwa die problematische Reduktion der Schlaginstrumente auf jeweils ein Fre-
quenzband innerhalb des Sonagramms in Fig. 3, S. 8). Lalittes dennoch insgesamt wertvoller Beitrag zeigt
so nicht zuletzt die Schwierigkeiten, die sich einer Analyse der »klanglichen Evidenz« (»l’évidence sono-
re«, S. 1) von Varèses Musik entgegenstellen.
37 Pierre Boulez, Ensemble InterContemporain [1984], Sony SMK 45844, 1990; Riccardo Chailly, ASKO
Ensemble, Decca 00289 460 2082, 1998.
38 Sone ist als Einheit der Empfindungsgröße Lautheit ein genormtes Maß unserer subjektiven Lautstärke-
empfindung. Die Lautheit eines Tones gibt im Wesentlichen an, wie laut ein Ton im Verhältnis zu einem
anderen Ton empfunden wird, die doppelte Lautheit eines Tones entspricht dabei dem doppelten Laut-
stärkeempfinden – ein Ton mit 4 Sone wird also als viermal so laut empfunden wie ein Ton mit 1 Sone,
wobei diese Werte ausgehend von einem Referenzton (1000 Hz / 40 dB) anhand von Hörversuchen er-
mittelt wurden (vgl. Zwicker / Feldtkeller, Das Ohr als Nachrichtenempfänger, S. 42–45). Der wesentliche
Vorteil eines Sone-Filters im Vergleich zu dem üblicherweise für Sonagramme zur Verfügung gestellten
Dezibel-Filter ist, dass das Ergebnis des Filterungsprozesses der menschlichen Klangwahrnehmung sehr
viel näher kommt. Insbesondere bei rauscharmen Klängen mit relativ klaren Tonhöhenverläufen lässt sich
auf diese Weise die Anzahl der Sinuskomponenten eines Signals oft auf eine kleine Auswahl der wesent-
lichen Bestandteile reduzieren. Bei der technischen Umsetzung der Sone-Berechnung folgt MUSE der im
ISO-Standard ISO 226:2003 empfohlenen Implementierung, bei der zwischen »Kurven gleicher Lautheit«
(ebd., S. 129) interpoliert wird. Auch wenn durch die Soneberechnung eine bessere Näherung an die sub-
jektive Lautstärke-Empfindung erreicht werden kann als mit Decibel-Werten, so muss doch berücksichtigt
werden, dass bei einer hohen klanglichen Komplexität wie in Varèses Klängen allgemeingültige Aussagen
über die Gewichtung einzelner Spektralkomponenten nur mit großer Vorsicht getroffen werden können.
In weiterer Folge wären solche Messungen also durch Versuche mit Hörern zu ergänzen, die etwa die für
ihr Empfinden jeweils am deutlichsten hervortretenden Tonhöhen im Rahmen von Hörversuchen iden-
tifizieren müssten. Im Rahmen eines Ausbaus unseres Forschungsprojektes sind auch solche empirische
Forschungen vorgesehen.
39 Die Notendarstellung erfolgt über eine Konvertierung des internen Datenformats von MUSE in das For-
mat des freien Notensatzprogramms LilyPond (http://lilypond.org), mit dessen Hilfe anschließend ein
pdf-Dokument erstellt wird. In der Folge wird allerdings nur die leichter erfassbare grafische Darstellung
wiedergegeben.
40 Die zeitliche Auflösung eines Klangs beträgt bei MUSE üblicherweise 10 Millisekunden, also 100 Analy-
sefenster pro Sekunde. Die von MUSE analysierten Spektraldaten werden nicht mittels einer reinen Fou-
rieranalyse ermittelt, sondern auf Grundlage der sogenannten ›Time-Frequency Reassignment‹-Methode.
Diese hat im Vergleich zur üblichen Fourieranalyse den Vorteil, dass die Unschärfe zwischen Frequenz-
und Zeitauflösung stark reduziert wird und die Spektraldaten in Form von Sinusverläufen der Hauptfre-
quenzen für die weitere Analyse zur Verfügung stehen (vgl. dazu Kelly R. Fitz / Sean A. Fulop, A Unified
Theory of Time-Frequency Reassignment). Die Analyse selbst geschieht dabei über das externe Programm
Spear (http://www.klingbeil.com/spear) oder die Softwarebibliothek Loris (http://www.hakenaudio.com/
Loris).
Abb. 5: Varèse, Intégrales, T. 28 (Aufnahme Boulez): Nach Sonewerten gefilterte Analyse der 30 stärksten
Spektralkomponenten. Signaldauer: 3,651 Sekunden. Centabweichungen werden hier ausgehend vom Kam-
merton a1 = 440 Hz berechnet.
41 Virtuelle Grundtöne oder Residualtöne (auch: Residua) entstehen durch die Hinzufügung fehlender tie-
fer Spektralkomponenten durch das menschliche Gehör, sodass beispielsweise am Telefon die Stimme
des Gesprächspartners erkannt werden kann, obwohl das Telefon die tiefen Grundfrequenzen gar nicht
überträgt. Mindestens drei Spektralkomponenten müssen vorhanden sein, um die Wahrnehmung eines
virtuellen Grundtons zu ermöglichen. Seine Tonhöhe kann mathematisch durch den größten gemeinsa-
men Teiler berechnet werden. Vgl. Fricke, Psychoakustik des Musikhörens, S. 140–149.
42 Vgl. Gieseler / Lombardi / Weyer, Instrumentation in der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 76f.
3. M O R P H O L O G I E IM KON T I N U U M: GI AC I N TO S C E L SI S ST R E IC HQUA RT E T T NR . 4
Varèses Intégrales bietet wenig Schwierigkeiten für die ›Segmentierung‹, die Abgrenzung
klanglicher Einheiten für die Analyse – obgleich man auch hier die Problematik der ›Trenn-
schärfe‹ (vertikal wie horizontal) produktiv zuspitzen kann. Eine ganz andere Problemstel-
lung allerdings stellen jene in der neuen Musik seit den 1960er Jahren so häufigen Verfahren
dar, in denen sich von Anfang bis Ende ein Klangkontinuum ausbreitet. Ist im so betitelten
Klassiker György Ligetis, Continuum für Cembalo (1968), noch relativ leicht eine schlüssige
Abgrenzung in großformale Felder zu treffen, so ist dies in vielen anderen Fällen, etwa im
Vierten Streichquartett Giacinto Scelsis – wie in vielen anderen Werken des Komponisten44 –
nahezu unmöglich. Das Quartett entwirft einen ununterbrochenen 14-minütigen Klangpro-
zess, der anhand der Strukturanalyse als kontinuierliches Ansteigen von c2 zu h2 beschrieben
werden kann. Alle vier Instrumente tragen gleichermaßen zur heterophonen und ständig mi-
krotonal inflektierten Gestaltung dieses Anstiegs bei. Dennoch lassen sich Schlüsselmomente
ausmachen, die für die Gesamtanlage der Zeitgestalt entscheidend sind. Dazu gehört vor
allem der Ausbruch in Takt 158, in dem erstmals das Bassregister in dynamisch exponierter
Weise eingeführt wird.45 Der Ausbruch führt zu einem bemerkenswert stabilen Klangband
von ca. einer Minute Dauer (20 Takte, T. 158–177, Abb. 7), nach dem das tiefe Register wie-
46 Vgl. die Hinweise zur ›dramatischen‹ Deutung der Großform in Helbing, Zyklizität und Drama(turgie) in
Scelsis viertem Streichquartett.
47 Giacinto Scelsi: Streichquartett Nr. 4, Streichquartett des Klangforum Wien [1997], Kairos 0012162KAI,
2001.
48 Der Ton b1 erscheint in der grafischen Wiedergabe in Abb. 7 nicht, da hier der Spektralfilter über die
gesamte Dauer von über einer Minute gelegt wurde und daher Spektralkomponenten von kurzer Dauer
auch dann ausgefiltert werden, wenn sie relativ deutlich hervortreten. In der detaillierteren Darstellung in
Abbildung 8 ist das b1 enthalten.
Insgesamt führen die hohe dynamische Intensität und die raffinierte Instrumentation auf
der Basis einer komplizierten Skordatur zu einer großen Dichte im Obertonbereich, wäh-
rend die nur gelegentlich ergänzten Töne im tiefen Register tendenziell in den Hintergrund
treten und vor allem mittelbar durch die Veränderung des Spektrums auf den Formprozess
einwirken.
Als weiteres Detail kann die Spektralanalyse der vier Takte 165–168 (Abb. 8) herangezo-
gen werden, in denen sichtbar wird, wie fließend Teiltöne und Grundtöne ineinander über-
gehen: So tritt etwa das f1 in Takt 165 als zweiter Teilton von Viola und Cello prominent
hervor und wird in Takt 166 von der Viola als neuer Grundton aufgegriffen. Insgesamt zeigt
die Spektralanalyse dieses Abschnitts deutlich die Bedeutung der Teiltonreihen auf d und f,
die den ständigen mikrotonalen Abweichungen einen Rahmen bieten und dem Klang seine
Brillanz und Stabilität verleihen (Abb. 8 unten). Ein hoher Grad an Rauigkeit kommt durch
die Schwebungen zwischen den beiden Teiltonspektren zustande: So treten die Reibungen
zwischen f3/f4 (Teiltöne von f) und (fis3)/fis4 (Teiltöne von d) ebenso prominent hervor wie zwi-
schen den unterschiedlichen Varianten von c4 bzw. c5, die zugleich (erniedrigt) als siebenter
Teilton von d/d1 und als dritter bzw. sechster Teilton von f/f1 erscheinen.
Das Beispiel kann verdeutlichen, wie ungenügend eine rein strukturelle Analyse auf der
Grundlage der in der Partitur angegebenen Grundtöne in vielen Fällen sein kann. Scelsis
Quartett steht dabei paradigmatisch für eine Fülle von prozesshaften Formen in der post-to-
nalen Musik seit den 1960er Jahren, die sehr bewusst psychoakustische Phänomene ausloten
(neben Spektralwirkungen, spektralen Verstärkungseffekten, Schwebungen, Differenztönen
und virtuellen Tönen gehören dazu etwa auch die verschiedenen Arten des ›auditory strea-
ming‹ bzw. der ›inherent patterns‹) und musikalische Strukturen entsprechend disponieren.
Zahlreiche Werke György Ligetis, Steve Reichs oder Gérard Griseys können stellvertretend
für diese Tendenz genannt werden. Die Spektralanalyse kann dabei freilich stets nur eines
von mehreren Hilfsmitteln sein, die notwendig sind, um Spannungsbogen und Logik solcher
erst im Wahrnehmungsapparat aufgehender Klangprozesse schlüssig beschreiben zu können.
4 . S PA LT K L A N G UND ST RU K T U R K L A NG: H E L M U T L AC H E N M A N N S CO N C E RT I N I
In seinen Werken seit den 1980er Jahren hat Helmut Lachenmann mit wachsendem Nach-
druck kompositorische Methoden umgesetzt, die den ›Totalitätsanspruch‹ des Tonalitätsbe-
griffs kompositionstechnisch dadurch thematisieren, dass sie – analog zu den institutionellen
Kontexten seines Komponierens – sich gleichsam in die ›Höhle des Löwen‹ begeben und
Gattungen, Stilcharakteristika, Satzmodelle und musiktheoretische Grundlagen tonaler Mu-
sik aufgreifen, dekonstruieren und neu erfinden. (Der Komponist hat allerdings betont, dass
die kompositorischen Grundtechniken eines solchen Spiels mit kulturell vertrauten Material-
Abb. 9: Die drei Achsenklänge im Schlussabschnitt von Helmut Lachenmanns Concertini (2005) für Ensem-
ble und der Tonvorrat der japanischen Mundorgel shō
Abb. 11: Spektralanalyse des traditionellen shō-Akkords bō, geordnet nach Lautheit der Spektralkomponen-
ten (Dauer des Klanges: 5,532 Sekunden; Quelle: Beilage-CD zu Miki Minoru, Nihon gakki hō, Tokyo 1996).
Werte über den Tönen bezeichnen die Lautheit in Sone (Durchschnittswert über die gesamte Dauer des
Klangs)
Die Spektralanalyse von Lachenmanns Schlussakkord basiert auf einem Vergleich zweier un-
terschiedlicher Aufnahmen des Werkes durch das Ensemble Modern und das Klangforum
Wien53 (Abb. 12). Beide enthüllen – im Gegensatz zum bō-Akkord – ein von den tieferen
Fundamentaltönen des Akkords h1, d2, e2, g2 dominiertes Spektrum, während Lautstärke und
53 Helmut Lachenmann, Concertini: Ensemble Modern, Leitung: Brad Lubman, EMSACD 001 (2006);
Klangforum Wien, Leitung: Johannes Kalitzke, Kairos 0012652KAI (2009).
Intonation der restlichen Töne in den beiden Einspielungen stark variieren. Die Präsenz der
restlichen Grundtöne ist in der Klangforum-Einspielung signifikant größer, was zusammen
mit insgesamt deutlich geringeren mikrotonalen Abweichungen der einzelnen Spektralkom-
ponenten auf eine präzisere Intonation hinzuweisen scheint. Zudem sind die stärkeren dy-
namischen Kontraste innerhalb des Akkords in der Klangforum-Aufnahme auffallend und
tragen ebenfalls zu einem stärkeren morphologischen Profil bei: Bereits die in der Lautheits-
skala an siebenter Stelle stehende Komponente (a2) ist nur noch ca. halb so laut wie der lau-
teste Ton (h1), in der Ensemble Modern-Einspielung steht der entsprechende Ton erst an 14.
Stelle, die Töne sind hier insgesamt dynamisch sehr ausgeglichen.
Lachenmann erreicht die Konzentration auf die Fundamentaltöne dadurch, dass die un-
teren acht Töne des Bläserklangs durchweg von tiefen Blasinstrumenten in (teils sehr) hoher
Lage gespielt werden (zwei Hörner, zwei Bassklarinetten, zwei Bassflöten, Basstrompete, Po-
saune). Auch die Oboen fokussieren in der hohen Lage die Grundtöne. Dabei kommt es – wie
bei der shō – zu Maskierungseffekten: in beiden Fällen wird der höchste Ton (fis3) weitgehend
von den angrenzenden Sinuskomponenten verdeckt.
Wenn wir nun versuchen die Ergebnisse der Spektralanalyse mit einiger Vorsicht aus Sicht
der Ästhetik des Komponisten zu bewerten, dann erscheint die vielleicht überraschende Tat-
sache, dass trotz der großen spektralen Komplexität die einzelnen (Grund-)Töne des Klangs
im Spektrum bestmöglich differenzierbar bleiben, in einem neuen Licht, nicht zuletzt dann,
wenn Lachenmanns Klang in einem Gegensatz zu den spektralen Charakteristika des tradi-
Es muss darauf hingewiesen werden, dass die durch die Spektralanalyse ›verschärfte‹ Tech-
nizität der analytischen Methodik alleine freilich niemals ausreichen kann, um den Konno-
tationsreichtum, die impliziten Bedeutungen der Klänge zu beschreiben, mit denen Kompo-
nisten wie Varèse, Scelsi oder Lachenmann arbeiten. So wurde Varèses Komponieren etwa
treffend als »konkret metaphorisches«57 beschrieben – »konkret« in dem Sinne, dass es ver-
sucht, die von Helmholtz beschriebenen ›impliziten‹ Klangdimensionen offen zu legen; »me-
taphorisch«, da es – nicht zuletzt auch in Ermangelung ausgereifter technischer Hilfsmittel
– wesentlich von der Schlüsselmetaphorik der Klangmassen als sich anziehende oder absto-
ßende Kräfte geprägt ist. Diese Metaphorik ist Teil eines antimetaphysisch-rationalen Klang-
konzepts, das sich, wie bei Ernst Kurth, hauptsächlich aus der Physik ableitet. Lachenmanns
und Scelsis Überzeugung, dass musikalischer Klang in erheblichem Maße ›Magie‹ entfalten
und zu einer hochgradigen Identifikation und Verschmelzung von Hörer und Klang führen
kann, lässt sich unschwer mit Varèses rationaler formuliertem Ideal in Beziehung setzen. Im
Gegensatz zu Scelsis post-vitalistischem und transzendentalistischem Klangbegriff, in der die
Utopie einer Verschmelzung von Interpret, Klang und Hörer ungebrochen aufrechterhalten
wird, kann für Lachenmann eine solche Magie heute nur im Kontext ihrer Negation, als
›gebrochene Magie‹ existieren. Auch hierin mag man den Gegensatz zwischen dem diffusen
Texturcharakter des traditionellen bō-Akkords und dem ›strukturalistischen‹ Grundtoncha-
rakter von Lachenmanns Concertini-Akkord begründet sehen.
54 Natürlich sollen hier Scherings ›Spaltklang‹ und Lachenmanns ›Strukturklang‹ nicht schlicht gleichge-
setzt werden; eine differenziertere Diskussion müsste Gemeinsamkeiten und Differenzen der Begriffe
abwägen. Signifikant könnte dabei sein, dass beiden Begriffen ein konsequent polyphones Modell zu
Grunde zu liegen scheint.
55 Lachenmann, Klangtypen, S. 20.
56 Bregman, Auditory Scene Analysis, S. 459f.: »›natural‹ assignment« und »›chimeric‹ assignment«.
57 Decroupet, Via Varèse, S. 34.
Die drei hier diskutierten Beispiele haben gezeigt, dass der angemessene Einsatz von Spek-
tralanalysen Erkenntnisse der konventionellen, partiturbasierten Analyse in wenigstens drei
wichtigen Bereichen ergänzen kann:
1. Aus der Partitur gewonnene Annahmen über die Intervallstruktur einer Komposition
können mit Hilfe der Spektralanalyse hinterfragt und erweitert werden. Die Erkenntnisse aus
der Struktur des Spektrums ergänzen dabei Erkenntnisse von Notentextanalysen und ermög-
lichen so einen umfassenderen Einblick in die Struktur und Wahrnehmung musikalischer
Ereignisse und Prozesse.
2. Eine detaillierte Beschreibung der spektralen Tonhöhenverhältnisse sowie deren zeitli-
che Veränderung kann die musikalische Analyse insbesondere dort bereichern, wo, wie z.B.
in der Musik Scelsis, eine Beschreibung von Tonhöhenprozessen aufgrund der in der Partitur
angegebenen Grundtöne kaum den tatsächlichen klanglichen Prozessen entspricht, die in
hohem Maße auf der Interaktion unterschiedlicher Teiltonspektren und deren Veränderung
in der Zeit aufbauen.
3. Spektralanalysen können zu unserem Verständnis von subtilen Ähnlichkeiten und Un-
terschieden zwischen Klängen vergleichbarer Tonhöhenstruktur beitragen. Solche Detailver-
gleiche klanglicher Substrukturen erlauben auch, wie im Falle Lachenmanns demonstriert,
eine vertiefte Diskussion metaphorischer und ästhetischer Assoziationen mit diesen Klängen
durch Komponisten, Theoretiker und Rezipienten.
Es ist zweifellos irreführend anzunehmen, dass Spektralanalyse alle Probleme zu ›lösen‹ ver-
mag, die andere Analyseansätze offen lassen. Zugleich sollte man die durch sie gewonnenen
Erkenntnisse aber auch nicht auf offenkundige Aspekte musikalischer Wahrnehmung be-
schränken (wie es gelegentlich in der Psychoakustik und Musikpsychologie der Fall ist). Eine
ausgeglichene und methodisch stringente Integration breit gefächerter ›Klangperspektiven‹
bleibt häufig ein uneingelöstes Versprechen der musikalischen Analyse.
LI T E R AT U R
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