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Bittersüßes oder Saures

WILLKOMMEN!

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166,6
KUHN
Krystyna Kuhn

BITTERSÜßES
ODER SAURES

Bearbeitet von: Iris Felter


Illustrationen: Birgitte Frier

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Biografie

Krystyna Kuhn, 1960 in Würzburg geboren, studierte


Slawistik, Germanistik und Kunstgeschichte, zeitweise
in Moskau und Krakau.
Sie arbeitete als Redakteurin und Herausgeberin und
schrieb EDV-Fachbücher, Gedichte und Kurzgeschich­
ten.
Seit 1998 ist sie freischaffende Autorin und schreibt vor
allem Thriller und Krimis. Krystyna Kuhn lebt mit Mann
und Tochter in der Nähe von Frankfurt am Main.

Andere Werke

Fische können schweigen. 2001.


Die vierte Tochter. 2003.
Engelshaar. 2004.
Schneewittchenfalle. 2007.
Dornröschengift. 2008.
Totenkind. 2009.
Der Engel kann fliegen 2010.
Das Haus liegt direkt am See. Es ist ganz neu und
einfach perfekt.
Schöner Garten, edle Gardinen. Wie in einem
I lochglanz-Magazin.
Am Wochenende sind auf dem See Boote unter­
wegs. Und bei jedem Sonnenschein liegen junge,
schöne Menschen auf dem Deck.
Ich finde alles merkwürdig.

Mein Zimmer ist so groß


wie unsere frühere Woh­ 10
nung. Wenn Kim es sieht,
bleibt ihm die Sprache
weg, denke ich.
Der Kleiderschrank ist viel
zu groß für meine Klamotten. Auf 15
dem Schreibtisch steht ein neuer Laptop. Nur für
mich.
Alles ist wie in einem Märchen.

Früher... Dabei ist es gar nicht lange h e r...


Ich muss an Mami denken. Ganz allein lag sie in 20
der dunklen Wohnung.
Auf der Klassenfahrt habe ich nicht an sie gedacht.
Nach der Klassenfahrt habe ich sie nicht wiederge­
sehen.
Nicht lebendig, nicht tot. 25

Nein, ich bin noch nicht wirklich angekommen.

die Klamotten, Kleidung

5
Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Dass ich
eine Familie habe. Einen Vater, eine Schwester...
Erst seit Kurzem weiß ich: Ich (15 ) bin die älteste
Tochter meines Vaters. Laura (13 ) ist die Tochter von
meinem Vater und Stephanie. Jo (18 ) ist der Sohn
5 von Stephanie.
Ja, ist alles ein bisschen kompliziert.

Heute ist Halloween. Kinder ziehen durch die Stra­


ßen.
»Was Schönes her, sonst hexen wir!« rufen sie.
10 »Trick oder treat. Was Schönes her, sonst hexen
wir!«
Dann werden ihre Stimmen schwächer.
Es ist dunkel geworden.

Ich hasse diese Stille. Sie macht mir Angst.


15 Ich muss an die alte Wohnung denken. Meine
Mutter schlief immer im Wohnzimmer. Ich hatte
mein kleines Zimmer. Eine Matratze auf dem Boden
war mein Bett. Ein Campingtisch war mein Schreib­
tisch.
20 Und nun sitze ich hier in diesem Luxus.

Halloween, Brauch aus Irland und den USA, auch in Deutschland


verbreitet: Kinder und Jugendliche verkleiden sich und feiern
Gruselpartys in der Nacht vom 31.10 - 1.11
trick oder treat, verkleidete Kinder ziehen von Haus zu Haus und
bitten um etwas Schönes, z. B. Süßigkeiten (treat). Bekommen sie
nichts, droht etwas Saures, z. B. ein Streich (trick)

6
7
Laura steht vor mir und dreht sich im Kreis.
»Wie sehe ich aus?«
»Gut!«
Sie ist ein hübsches Mädchen mit blonden Haa-
5 ren. Ihre Augen sind groß und blau. Sie ähnelt Ste­
phanie. Alles an ihr ist zart.

Laura hat sich für die Halloweenparty umgezogen.


Der schwarze Rock rauscht bei jedem Schritt. Die
hohen Stiefel glänzen. Ihre Fingernägel sind schwarz
10 lackiert.
»Du hast Papas Augen«, sagt sie.
»Grün wie Wackelpudding?«,frageich.
»Genau!«
Wir lachen - etwas verlegen, aber es ist ein An­
is fang.

Im nächsten Augenblick langweilt Laura sich wie­


der. Sie schaut hin zu den Pappkartons: die ganzen
Sachen aus meinem früheren Leben.
Die Kartons stapeln sich hinter meiner Tür.
20 »Soll ich dir nicht helfen?«, fragt sie.
»Nein. Sollst du nicht. Lass die Finger von meinen
Sachen.«
»Willst du sie überhaupt nicht auspacken?«
»Doch. Aber nicht heute.«

zart, fein und schmal


rauschen, so wie die Blätter eines Baumes, die sich im Wind
bewegen
der Wackelpudding, grün - oder gelb oder rot - gefärbte Süßspeise
aus Gelatine
verlegen, hilflos und ein bisschen unsicher
sich stapeln>,siehe Zeichnung auf Seite 7

8
Sie springt auf mein Bett.
»Papa musste eure Wohnung auflösen. Er hat ge­
sagt, deine Mutter hat keine Miete mehr bezahlt.
Seit Wochen nicht. Und du hast gar nicht gewusst,
dass sie so krank war?« 5
»Nein! Nein! Das hast du mich schon hundert
Mal gefragt.«
Sie spielt an meinem alten Kassettenrekorder her­
um, der auf dem Nachttisch steht.
»Sie haben das Zimmer extra neu für dich einge- 10
richtet.«

Ich denke wieder an die Wohnung, in der ich mit


meiner Mutter gelebt habe. Schließe die Augen, will
nicht weinen.
Auf keinen Fall will ich zurück ins Heim! 15

»Hast du schon den Laptop ausprobiert? Wenn du Jo


bittest, spielt er dir vielleicht >Gothic 3 < drauf...«
»Ich hasse Computerspiele!«
»Ich nicht.«

Laura dreht sich auf die Seite. Sie stützt den Kopf in 20
die Hände und betrachtet mich.
»Findest du es nicht aufregend, eine neue Schwe­
ster und einen neuen Bruder zu haben? Na ja. Ein
Bruder ist einfach nicht dasselbe. Jo ist so ... «
»Was?«, frage ich. 25
»Anstrengend, sagt Mama. Weil Jo immer alles
besser weiß. Er steckt seine Nase in Sachen hinein,

die Miete, Geld, das man jeden Monat für eine Wohnung zahlt

9
die ihn nichts angehen. Wirst du noch merken. Oh,
manchmal ist er so gemein!«
»Mein Bruder ist er ja nicht!«, antworte ich kühl.

»Und deine Mutter hat wirklich von uns gewusst?


5 Wie wir heißen, wie alt wir sind, wo wir wohnen?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
»Und sie hat nie über uns gesprochen?« Laura
blickt mir direkt ins Gesicht.
»Nein!«
10 »Also, als Papa Mama von dir erzählt hat, da war
erst mal die Hölle los.
>Wer weiß, wo die herkommt! Wer weiß, welche
Probleme die mitbringt!< Das hat Mama gesagt!«
Ich sage kein Wort. Seit ich hier wohne, kann Ste-
15 phanie mir nicht in die Augen sehen. Sie rennt den
ganzen Tag mit dem Staubsauger durchs Haus. Oder
sie fährt mit den Fingern über die Möbel und jam­
mert über schmutzige Fenster.

Laura flüstert: »Ich habe gelauscht, als sie abends


20 über dich gesprochen haben. Ich habe es Jo erzählt.
Er meinte, da wo du herkommst, sei jeder Zweite
ein Assi.«
Sie springt von meinem Bettauf, geht zum Schrank
und öffnet ihn. Ohne zu fragen, holt sie meine Le-
25 derjacke heraus und zieht sie an.
Die Jacke steht ihr.
»Ich bin vielleicht asozial, aber ich öffne nicht
einfach fremde Schränke«, sage ich.

der Assi, jemand, der auf Kosten anderer lebt

10
»Aber die ist so cool! Bitte, bitte, darf ich sie heu­
te Abend anziehen?«
»Nein, die gehört mir nicht.«
»Wem denn?«
»Einem Freund.«
»Aha.« Sie lacht kurz. »Sag mal, wer ist eigentlich
Kim? Eine Freundin?«
Dann lässt sie die Jacke einfach zu Boden fallen.

Woher weiß sie von Kim? Hier weiß niemand von


Kim.
Es ist höchste Zeit, dass ich sie loswerde. Kleine
Schwestern fallen einem nicht nur in Büchern auf
die Nerven. Sie tun es auch in der Realität.
*

In diesem Moment steckt Stephanie den Kopf zur


Tür herein.
»Laura, wir müssen los!«
Sie wendet sich zu mir. Schaut aber an mir vorbei,
hebt die Lederjacke vom Boden auf und streicht sie
glatt.
Ich will gerade sagen, >das war nicht ich, sondern
Laurae Aber ich sage nichts. Da, wo ich herkomme,
ist Verrat so etwas wie eine Todessünde.

»Und du willst wirklich nicht mit mir auf die Hallo-


weenparty?«, bettelt Laura.

der Verrat, Weitergabe von einem Geheimnis


die Todessünde, sehr großer Fehler
betteln, mit Nachdruck um etwas bitten
»Nein!«
Ich habe keine Lust, mit Dreizehnjährigen zu
spielen und Gruselgeschichten zu hören. Und bei
Halloween geht es um Geister und Skelette. Ehrlich,
5 mir ist nicht nach einem Totenfest - nach allem, was
passiert ist.
»Schade«, sagt Laura. »Fabienne plant was richtig
Gruseliges. Und sie will unbedingt meine große
Schwester kennenlernen. Fabienne ... sie ist meine
10 allerallerbeste Freundin.«
»Wenn du mich fragst, sie ist ein Monster«, höre
ich Jo sagen. Er steht in der Tür.
»Und du bist so gemein!« Laura streckt ihrem
Bruder die Zunge heraus.

15 »Laura schläft bei Fabienne, aber ich bin spätestens


um elf zurück«, erklärt Stephanie mit Blick auf die
Uhr. »Jo bleibt hier. Ich habe beim Lieferservice an­
gerufen und für euch Pizza bestellt. Dein Vater
kommt erst morgen früh von seiner Geschäftsreise
20 zurück.«
Es ist komisch. Ich habe meinen Vater fünfzehn
Jahre nicht gekannt, aber jetzt vermisse ich ihn.

Nach und nach werden die Stimmen im Haus


schwächer. Dann fällt die Tür ins Schloss.
25 Als die Drei weg sind, kommt wieder diese Stille.
Diese unheimliche Stille.

Gruselgeschichten, Geschichten, die so unheimlich sind, dass man


Angst bekommt
der Geist, überirdisches Wesen, das gut oder böse zu den Menschen ist
das Monster; Wesen, das einem Angst macht, weil es groß, hässlich
oder böse ist

12
Ich greife nach der Lederjacke, vergrabe mein Ge­
sicht darin. Mein Herz klopft vor eSch
I sch
ße die Augen und lasse die Tränen einfach kommen.
Ich erinnere mich an alles.
Es war ein schrecklicher Tag! 5

Wir sind von einer Klassenfahrt zurück. Kims Mutter


Conni erwartet uns am Hauptbahnhof. Das ist schon
merkwürdig. Wir brauchen seit der zweiten Klasse
keinen Aufpasser mehr.
»Du kommst erst mal zu uns«, sagt Conni. Sie hält 10
eine Schnapsflasche in der Hand.
»Warum?«, frage ich verwirrt.
Kim stoßt mir in die Seite und sagt leise: »Frag
nicht so blöd, Lena!«

Kim und ich haben immer fest zusammengehalten. 15


Wir haben beide nur eine Mutter. Und in unserer
Geburtsurkunde steht dasselbe: >Vater: unbekannte

Als ich Conni so vor mir sehe, in ihrer gelben Jog­


ginghose, weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Sie
geht so gut wie nie aus dem Haus. Wenn, dann um 20
Schnaps zu kaufen.
Aber ich will gar nicht wissen, was los ist. Ich bin
gerade von einer Klassenfahrt zurück. Eine Klassen­
fahrt, die mein Leben verändert hat.

die Sehnsucht, starkes Verlangen nach jemandem


die Geburtsurkunde, amtliches Dokument mit Angabe von Ort und
Tag der Geburt einer Person sowie mit Namen der Eltern

13
In der U-Bahn sagt Conni die ganze Zeit kein einzi­
ges Wort. Kim und ich sehen uns an. Sie braucht ei­
nen Schnaps, denke ich. Hoffentlich hält sie durch.
Wir sind ja bald zu Hause.
5 Connis Augen sind feucht. Komisch!
Noch komischer ist es, als wir vor dem Wohnblock
stehen: Sie nimmt mir die Reisetasche ab! Ausgerech­
net Conni! Sonst tragen ihr sogar die alten Omas die
Tasche mit den Flaschen hoch.
10 Weil sie es selbst nicht mehr kann.

»Vielleicht sollte ich doch erst mal nach Hause ... «,


sage ich vorsichtig. Aber Conni schüttelt den Kopf.
Da ist mir klar: Etwas stimmt nicht.
Nur was?

15 Im Wohnzimmer lässt Conni sich auf das alte Sofa


fallen. Sie gießt sich einen Schnaps ein. Gleich da­
nach fängt sie an zu weinen.
Kim und ich stehen in der Tür.
Wir starren sie an.
20 Aus verschiedenen Gründen: Kim, weil seine Mut­
ter so was von peinlich ist. Ich, weil sich ein Ring
immer fester um mein Herz zusammenzieht.

»Mann«, murmelt Kim. »Die heult. Deiner Mutter


muss was passiert sein!«
25 Conni sieht mich nicht an, als sie sagt: »Du wirst
gleich abgeholt.« Ihre Stimme ist dunkler als sonst.
»Das Jugendamt bringt dich ins Heim. Ich habe
das Jugendamt; Behörde, die sich um die Probleme junger Menschen
kümmert
das Heim, Einrichtung, wo Kinder ohne Eltern leben und betreut werden

14
deinen Koffer schon gepackt. Deine Mutter ... «
Mehr kann sie nicht sagen. Sie nimmt noch einen
Schluck und putzt sich die Nase.
So habe ich erfahren, dass Mami tot ist.

Conni hatte sie gefunden. 5


Sie hatte den Krankenwagen gerufen. Aber es war
zu spät.
Ich habe Mami nicht wiedergesehen.

Und an dem Abend im Heim habe ich zum ersten


Mal gebetet. An den lieben Gott. Dass er mir mei- 10
nen unbekannten Vater schickt.

Ich liege auf dem Bett und höre Kims Musik. Er hat
sie mir auf Kassette aufgenommen.
Papa hat mir einen iPod geschenkt. Ich habe aber
das Ding noch nie benutzt. Auch nicht den Laptop. 15
Ich bin noch nicht so weit.

Draußen ist es dunkel. Der Mond ist hinter den Wol­


ken verschwunden.
Immer noch ziehen Kinder durch die Straßen und
rufen »Trick oder treat. Was Schönes her, sonst he- 20
xen wir!«

Wie lange liege ich schon hier? Keine Ahnung!


Habe ich geschlafen? Sind das Schritte im Flur?
Ich halte den Atem an. Ist das Jo? Kommt er in
mein Zimmer? Nein, ich höre nichts mehr. 25

15
Gut, dass er nicht versucht, mit mir zu reden.
Meistens sagt er sehr wenig. Dann wieder kommen­
tiert er alles mit einem ironischen Grinsen.
Das stört auch Papa. Das habe ich schon ge-
5 merkt.

Papa tut mir leid. Nicht nur Jo als Stiefsohn, jetzt


auch mich, das Kuckuckskind.
Nur ein Satz von Mama - vor sechzehn Jahren!
Und alles wäre anders gelaufen. Wie es wohl gewe-
10 sen wäre, in einer normalen Familie zu leben? Papa,
Mami und ich?
Nein, ich will nicht an Mami denken. Nicht jetzt.
Vor dem Abendessen will ich noch duschen.

Im Badezimmer ist es warm. Ich ziehe mich aus.


15 Lege die Kleider ordentlich auf den Wäschekorb.
Dann steige ich in die Duschkabine.
Von dem heißen Wasser brennen meine Narben
am Arm und leuchten rot. Ich halte das Gesicht un­
ter dem dampfenden Wasser.
20 Alle meine Sorgen fließen von mir ab.

So schlecht läuft es gar nicht, finde ich. Hier ist es


besser als im Heim.
Und ich habe einen Vater, der jede Menge Geld
verdient.

das Kuckuckskindhier: fremdes Kind, das in der Familie aufgenom­


men wird
die Narbe, siehe Zeichnung auf Seite 21

16
Ein totaler Kontrast!
Er kümmert sich wirklich um mich. Er gibt sich viel
Mühe. Ich kann ihn auch ganz gut leiden!
Okay, aus Stephanie werde ich nicht klug. Sie ist
nervös. Aber das kann man verstehen. Sie hat erfahren,
dass ihr Mann schon ein Kind mit einer anderen Frau
hat. Und dieses Kind zieht nun einfach bei ihr ein.
Laura kann einen nerven - aber ich glaube, dass
sie mich mag.
Nur Jo - da weiß ich nicht recht.

Ist da jemand? Öffnet jemand die Tür?


Ich drehe den Wasserhahn zu. Ein kalter Luftzug
streift meinen Rücken.
Kommt jemand herein? Oder tropft nur die Dusche?
Mit der Hand wische ich die Seiten der Kabine ab.
Aber alles ist normal.
»Jo, bist du das?«
Keine Antwort.

Das Gefühl von Angst bleibt.


Dann rast mein Herz plötzlich los. Ich kann die
Tür der Duschkabine nicht öffnen. Ich werfe mich
dagegen - und falle heraus.
Einige Sekunden - zwei, drei? - sitze ich am Bo­
den. Versuche mich zu beruhigen.
>Hier ist niemandb, sage ich laut.
Doch die Angst geht nicht weg.
*

Von Weitem höre ich das Telefon.


Ich warte auf Jos Schritte. Rechne damit, dass er

2 Bittersüßes oder Saures 17


abnimmt. Doch nichts passiert. Das Telefon hört
nicht auf zu klingeln.
Vielleicht ist es ja Papa?
Ich greife nach meinen Kleidern, aber... wo sind
5 sie?
Wieder diese kalte Luft.
Ich drehe mich um und sehe, dass die Tür ein we­
nig offen steht.
Aber ich habe sie doch zugemacht!
10 Und ich habe mich doch auch hier ausgezogen.
Habe doch die Jeans und die frische Unterwäsche
auf den Wäschekorb gelegt.
Es muss doch alles noch hier sein!

Panisch schaue ich mich um. Nichts!


15 Mit einem Badetuch um meinen nassen Körper
renne ich in mein Zimmer.
Das Telefon klingelt immer noch.

In meinem Zimmer sind meine Kleider auch nicht.


Drehe ich jetzt total durch?
20 Hat das heiße Wasser meinen Verstand ruiniert?
Jeans, T-Shirt, Jacke, Strümpfe, , BH. Alles weg!

Das Klingeln hört nicht auf. Ich renne die Treppe


hinunter. Von Jo ist nichts zu sehen. Keine Spur.
Ich nehme ab. »Hallo?«
25 Niemand antwortet.
»Hallo«, sage ich noch einmal.
Aber das Telefon bleibt stumm. Dabei bin ich mir

der Slip, kleine, enge Unterhose


der BH, Büstenhalter

18
fast sicher, dass am anderen Ende jemand war.
Mein Blick fällt auf die Fotos auf der Kommode.
Da steht auch eins von mir, sehe ich plötzlich. Von
mir und Mami.
Ich drehe mich schnell weg. Mein Herz klopft 5
heftig.

In diesem Moment öffnet sich die Haustür. Jo steht


vor mir.
Erschrocken starre ich ihn an.
»Was ist los?«, fragt er. 10
»Wo warst du?«
»Pizza holen.« Er hat zwei Pizzakartons in den
Händen.
»Aber...«
Komisch. Hatte Stephanie nicht irgendetwas von 15
Lieferservice gesagt? Ich bin total durcheinander.
»Bei uns rennt man nicht nackt durchs Haus«,
sagt Jo und geht an mir vorbei. »Wir können jetzt
gleich essen. Oder hast du keinen Hunger?«
»Doch ... aber meine Kleider... « 20
»Was ist damit?«
»Nichts!« Ich renne nach oben.
Zuerst ins Badezimmer. Meine Jeans und die an­
deren Sachen liegen da. Genau dort, wo ich sie hin­
gelegt hatte. Auf dem Wäschekorb. 25
Ich zittere am ganzen Körper, als ich mich anzie­
he. Was ist nur los mit mir? Hat Mamis Tod mich
total verunsichert?

zittern, vor Angst schnelle, kleine, unkontrollierte Bewegungen machen

19
Ich muss endlich aufhören, so viel nachzuden­
ken. Mein Leben ist nun hier. Hier, in diesem Haus,
mit meiner neuen Familie.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Kaltes Was-
5 ser in das blasse Gesicht tut gut.
»Bleib ruhig, Lena! Nur nichts anmerken lassen!«

Unten ist der Tisch gedeckt. Weingläser, Blumen,


Servietten mit Monstern drauf. Jo hat sich schon
Mühe gegeben.
10 »Du auch?« Er zeigt mir eine Flasche Rotwein.
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Kim und ich ha­
ben uns versprochen, die Finger vom Alkohol zu
lassen. Nicht gerade cool, aber wir haben jahrelang
Conni miterlebt.
15 »Cola?«
Ich nicke.
»Ananas oder Champignon«?
»Was?«
»Ananas oder Champignon«?
20 »Ach so! Die Pizza. Ananas!«

Jo setzt sich, öffnet einen der Kartons und schiebt


den zweiten Karton in meine Richtung.
»Fang an! Oder hast du doch keinen Hunger?«
Als ich das Messer nehme, sagt er: »Bitte kein
25 Blutbad!«
»Was?«
»Ich hoffe, du ritzt dich nicht!«
sich ritzen, sich die Haut mit einem scharfen oder spitzen Gegen­
stand blutig zu verletzen

20
die Narbe

21
Schockiert sitze ich da. Warum sagt er das. Er weiß
also Bescheid. Aber wer hat es ihm erzählt?
»Zeig doch mal die Narben.« Er schaut auf mei­
nen Unterarm. Ich schaue auch, erst auf ihn, dann
5 auf meinen Arm. Die Narben leuchten noch rot.
Aber es ist vorbei. Es ist ganz bestimmt vorbei!

»Die Narben sind ja perfekt.« Seine Stimme ist kalt.


Ich werde nicht schlau aus ihm. Immer wieder macht
er mich unsicher. Als ob er etwas über mich weiß.
10 Meistens behandelt er mich wie Laura, wie eine
kleine Schwester also. Und dann wieder so wie
jetzt. Wie eine Fremde.
»Sie meinen, wir sollen ganz normal mit dir um­
gehen«, sagt er.

15 Der Wind draußen tobt. Ich höre den Regen immer


stärker gegen die Fenster schlagen. Auch in mir steigt
die Wut.
Verärgert schaue ich Jo an.
»Du kannst mir ja das nächste Mal Plastikbesteck
20 hinlegen, wenn du Angst hast«, sage ich mit ruhiger
Stimme.
Er lacht.
»Warum machst du nur so einen Mist?«

Da, wo ich mit Mami gewohnt habe, haben viele


25 Leute Mist gebaut. Mit oder ohne Grund.
Ich weiß nicht, warum ich mich im Heim zum

toben, in starker Bewegung sein

22
ersten Mal ritzte. Es war so eine Art der Panik. Es
wiederholte sich ein paar Mal.
Ich war - so nennt man das wohl - traumatisiert.
Meine Mutter war tot.
Ich hatte kein Zuhause mehr. 5
Vielleicht musste ich jahrelang im Heim bleiben.
Ich vermisste auch Kim ganz schrecklich.

Meine Angst war total. Als ob jemand mein Herz in


der Hand hielt und es ganz langsam zerdrückte.
Ich war wütend auf alle: meine Mutter, die ande- 10
ren, mich selbst. War es da nicht besser, ich ging mit
dem Messer los auf mich als auf ein anderes Mäd­
chen im Heim?
Niemand sah die Schnitte. Bis eines Tages, als ich
Totenkreuze in meinen linken Arm ritzte. Klar kam 15
da Blut!
>lst doch nicht schlimm - hatte ich Kim geschrie­
ben - ein paar Kratzer. Nicht zu vergleichen mit dem,
was Mami durchgemacht hat.<
Die Folge: totale Kontrolle und Gespräche mit ei- 20
ner Psychologin.

In dieser Zeit versuchte mein Vater, das Sorgerecht


für mich zu bekommen. Das dauerte ewig. Lag wohl
an Stephanie.
Schließlich musste ich einen Vertrag unterschrei- 25
ben: Ich durfte es nie wieder tun.

traumatisiertunter Schock stehen


der Kratzer: Verletzung auf der Haut mit einem spitzen Gegenstand
das Sorgerecht, das Recht eines Elternteils, das Kind bei sich zu
haben und zu erziehen
der Vertrag, Dokument, worin steht, was man verabredet hat

23
Seitdem habe ich mich unter Kontrolle.

»Ich hab dich was gefragt!« Jo hat seine ganze Pizza


gegessen. Meine liegt noch vor mir.
»Was?«
5 »Hast du gewusst, dass du einen Vater hast?«
»Na ja«, antworte ich. »Es ist nicht so, dass ich
dachte, ich sei im Labor entstanden. Mir war schon
klar, dass ich einen biologischen Vater habe.«
Er lacht. Eigentlich hört sich das ganz sympathisch
10 an. Aber warum weiß ich nie, was er wirklich denkt.
»Und wie hast du ihn dir vorgestellt?«
»Single, Mietwohnung, Kühlschrank leer, überall
Bierflaschen.«
»Und bist du jetzt enttäuscht?«
15 Ich antworte nicht. Aber ich fühle mich etwas bes­
ser. Vielleicht ist Jo doch nett. Vielleicht ist es gut, einen
Bruder zu haben. Einen, mit dem man reden kann.
»Weißt du, dass deine Mutter ihm geschrieben
hat, kurz vor ihrem Tod.«

20 Ich muss cool bleiben! Aber mein Herz rast. Ich


springe auf. Muss hier raus.
Warum hat sie ihm geschrieben und mir nichts
gesagt?
Ich reiße die Haustür auf und laufe ins Freie. Der
25 Regen peitscht in mein Gesicht, als ich mich auf die
kalte, nasse Treppe vor dem Haus setze.

peitschen, hier, wenn Wind und Regen mit großer Kraft gegen etwas
schlagen

24
Lange sitze ich da. Bewege mich nicht. Starre hin­
aus in die dunkle Nacht.

Der Morgen auf dem Friedhof, als meine Mutter be­


erdigt wurde.
5 Plötzlich steht ein Mann in schwarzem Anzug vor
mir und sagt, dass er mein Vater sei.
Ich habe ihm geglaubt. Denn er sieht aus wie ich.
Ich sehe aus wie er.
Und er hat den Brief bei sich, von dem Jo eben
10 gesprochen hat. Der Brief, in dem Mami ihm von
mir erzählt, und dass sie sterben würde.
Sie hatte alles geplant.
Sogar die Beerdigung war schon bezahlt. Die Be­
erdigung und die Klassenfahrt. Ihr ganzes Geld.

15 Es tut weh, daran zu denken. Warum hat sie mir


nichts gesagt? Ich schiebe den Ärmel hoch und
schaue auf die Narben.
Mami. Erst seit sie tot ist, nenne ich sie wieder so.
Im letzten Jahr habe ich nie Mami zu ihr gesagt. Ich
20 weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Vielleicht
nur >du<?
Jetzt höre ich manchmal nachts ihre Stimme. Ma-
mis Stimme. Aber ich sehe sie nicht.

Ich muss endlich aufhören, so viel nachzudenken. Au-


25 ßerdem ist es kalt. Ich stehe auf - und stoße gegen Jo.

beerdigen, einen Toten auf einem Friedhof begraben

26
Plötzlich ist er da. Plötzlich kommt er aus der
Dunkelheit.
Oder steht er schon lange hinter mir?
»Mann, hast du mich erschreckt!«
»Sorry, aber ich wohne hier.« Er hält seine Auto- 5
Schlüssel in der Hand.
»Fährst du weg?«
»Brauchst du einen Babysitter oder was?« Er lä­
chelt.
»Quatsch!« io
»Dann ist ja gut.«
»Wo gehst du hin?«
»Ich hab was vor«, ruft er.
Ich sehe ihm nach. Sehe, wie er das Auto auf­
schließt, wie er einsteigt. Wie er ohne ein weiteres 15
Wort losfährt.
Ich bleibe zurück, allein.

Es ist so still hier. Zu still. In der alten Wohnung gab


es immer Geräusche.
Türen schlugen zu, Nachbarn brüllten sich an, 20
Kinder weinten, Musik ...
Alles konnte man hören. Und das war auch gut
so. Man war sicher, dass jemand im Haus war. Nicht
so wie hier.
Ich bin es einfach nicht gewohnt, alleine zu sein. 25
Zurück im Wohnzimmer setze ich mich aufs Sofa.
Als ich mir eine Decke über den Kopf ziehen will,
klingelt das Telefon wieder.

27
Im Hörer rauscht es. Die Stimme ist weit weg.
»Anna-Lena?«
Ein Stich in meiner Brust. Die Stimme kenne ich
doch.
5 »Ja?«, flüstere ich.
»Anna-Lena?«
Immer wieder dieses Rauschen. Und dann: »Ich
hab dich so lieb!«

Wer kennt diese Telefonnummer?


10 Wer weiß, dass ich hier wohne?
Wer nennt mich bei meinem vollen Namen?

»Ich hab dich so lieb!«


»Mama, bist du das?«
Die Verbindung ist weg. Zitternd lege ich auf. Ich
15 kann mich nicht bewegen.
Ist das wirklich ihre Stimme?
Ich denke an das letzte Mal, als ich sie gesehen
habe.

»Du musst nicht mit zur Bahn kommen«, sage ich. Es


20 ist vor der Klassenfahrt. Ich kann nur an eines den­
ken: fünf Tage mit ihm. Fünf Tage! Tag und Nacht!
Sie sieht mich traurig an. »Bist du sicher?«
Ich sehe ihre Tränen und schaue schnell weg.
Gehe einfach. Ich will auf diese Klassenfahrt. Mir ist
25 alles andere egal.
Ich bin verliebt!

28
Bei der Erinnerung wird mir schlecht.
Warum habe ich geglaubt, dass sie tot ist? Ich
habe sie doch nie tot gesehen. Warum bin ich nicht
auf die Idee gekommen, sie anzurufen?
Ich wähle ihre Nummer.
Warte.
Presse das Telefon fest ans Ohr. Nichts ist zu hö­
ren. Nicht einmal ein Rauschen.

Ich stelle mir vor, wie das Handy in Mamis Sarg


klingelt.
Was ist los mit mir? Werde ich jetzt total verrückt?
Ich muss mit jemandem reden!
Ich muss zurück in die Wirklichkeit.
Kim!
Wir haben uns seit der Beerdigung nicht mehr ge­
sehen. Damals konnte ich nicht reden. Nicht über
Mami, nicht über mein neues Leben.

»Hi«, sage ich, als Kim abnimmt.


»Lena!«
»Kim ...«
»Wie geht's dir denn, in deiner neuen Familie?«
»Ganz gut.«
»Dein Alter hat einfach eure Wohnung ausge­
räumt. Deine Sachen abgeholt.«
»Er ist okay, wirklich.«
»Er hat sich vorher nie um dich gekümmert.«
»Er wusste nichts von mir.«
»Na klar, Väter wollen nie etwas von uns wissen.«

der Sarg, siehe Zeichnung auf Seite 25


Was ist los mit Kim? Er ist verändert.
»Sie adoptieren dich, hat dein Super-Daddy ge­
sagt. Du lebst jetzt auf einem anderen Planeten, ver­
stehst du? Ich bin immer noch ein Ghettokid.«
5 Red keinen Unsinn, will ich sagen. Ich muss mit
dir reden. Über meinen Vater, über Mami, über die
Klassenfahrt, über die Liebe ...

»Kim ...«
»Was denn?«
10 »Da war ein Anruf... und ich glaube ... ich glau­
be, es war Mama!«
Kim sagt nichts.
Hat er mich verstanden?
»Lena, deine Mutter ist tot!«
15 »Ich weiß, dass sie tot ist. Aber es war ihre Stim­
me. Sie hat meinen Namen gesagt. Kim, kannst du
kommen? Ich brauche deine Hilfe.«
»Mann, ist ganz schön weit bis zu dir raus ... «
Ein Knacken in der Leitung.
20 »Hallo? Kim? Bist du noch dran?«
Keine Antwort.
»Kim?«
Ist das Telefon tot? Hat der Wind ...? Oder hat je­
mand die Leitung durchgeschnitten?
25 Nein, Kim hat aufgelegt.

Ich starre aus dem Fenster. Der Wind jagt die dunk-

Chettokid, Kind, das in einem armen Stadtviertel lebt

30
len Wolken über den Himmel. Hört der Regen nie­
mals auf?
Denk an etwas anderes, Lena!
Die Stille im Haus. Kann man Stille hören?
Von der Stille kann man verrückt werden. Und 5
offenbar bin ich auf dem besten Wege dorthin.

Plötzlich wird es laut. Merkwürdige Geräusche


kommen aus den Wänden. Wie bei einem Konzert.
Dann ist wieder Stille.
Ich warte. Mein Herz schlägt schnell. 10

Etwas schlägt gegen ein Fenster.


Ich laufe in den Flur und bleibe stehen. Die Haus­
tür steht weit offen.
Wind und Regen peitschen durch das Haus. Tote
Blätter fliegen herein. Ich sehe den Wind. Er hat die 15
Farbe von Nebel. Weiß wie eine Tote.

Überall liegen Glas Scherben.


Die Bilder auf der Kommode sind umgefallen. Ei­
nes liegt auf dem Boden. Ich drehe es um. Es ist das
mit Mama und mir. 20
Im nächsten Moment merke ich etwas Warmes an
meiner Hand herunterlaufen. Blut. Das Glas hat mir
die Hand aufgeritzt.
Doch es schmerzt nicht.
Unter dem Foto liegt ein Messer. 25

Wer hat die Haustür geöffnet?


Wer hat das Messer dahingelegt?

dieScherbe, siehe Zeichnung auf Seite 32

31
32
Wer kann meine Gedanken lesen?
Wer ist im Haus?

Auf dem Boden ist jetzt ein roter Fleck. Mein Blut!
Bald ist der ganze Flur voller Blut. Blut aus meinem
Körper.
Ich zittere. Meine Zähne schlagen laut aufeinander.
Ich kann nichts tun.
*

Noch immer weht der Wind Blätter und Regen ins


Haus. Ich muss Türen und Fenster schließen. Aber
ich kann mich nicht bewegen. Ich starre nur hinaus
ins Dunkle.
Ich will davonlaufen. Hinaus in die Nacht. Ein­
fach nur weg und zurück nach Hause.
Nach Hause?
Ein Zuhause gibt es nicht mehr. Ich lebe hier in
diesem Monsterhaus.
»Wir sind jetzt deine Familie, Lena«, hat mein Va­
ter gesagt. »Du bist meine Tochter.«

Ich höre Schritte von oben. Oder nicht? Bald werde


ich wahnsinnig vor Angst.
Das Messer. Ich hebe es auf. Will nach oben ge­
hen.
Egal, was dort auf mich wartet.

Im Flur höre ich wieder die Stimme. Die Stimme


meiner Mutter. Sie ruft meinen Namen.
»Lena! Wenn du mich jetzt hörst, dann musst du
wissen, dass ich dich sehr, sehr lieb habe.«

3 Bittersüßes oder Saures 33


Ich will das nicht hören, denke ich. Sei doch
still!
Mein Herz schlägt heftig gegen meine Brust. Ich
kann die Tränen nicht zurückhalten.

5Wo kommt diese Stimme her? Bin ich wirklich ver­


rückt geworden?
Es ist doch Mamis Stimme!
»Dein Vater... ich habe ihn geliebt. Aber er sollte
nicht nur bei mir bleiben, weil ich schwanger war.«
10 Ich halte die Luft an. Der Wind tobt draußen.
Nein, die Stimme kommt von oben, oder?
»... er wusste nichts von dir ... «

Ich stehe immer noch im Flur. Schließe die Augen.


Hoffe, es geht vorüber.
15 Mein Körper ist steif vor Angst. Es ist total ver­
rückt.
Ist alles nur ein Traum?

Langsam gehe ich die Treppen hoch. Das Messer


halte ich in der Hand.
20 »Ich habe dir nicht erzählt, wie krank ich war. Ich
wollte dich nicht belasten ... «
Die Stimme kommt aus meinem Zimmer.

Meine Hand legt sich auf den Türgriff. Langsam


drücke ich ihn nach unten. Die Tür öffnet sich.
25 Im Zimmer ist ein schwaches Licht.
»Aber ich habe ihm geschrieben. Und nun kann
ich sterben. Denn er wird sich um dich kümmern.
Du wirst eine richtige Familie haben ...«

34
Ich stoße die Tür ganz auf.
»Ich spreche das auf Tonband. Damit du meine
Stimme nicht vergisst.«
Mitten im Raum stehen die Pappkartons. Die Kar­
tons mit meinen Sachen, die mein Vater aus der 5
Wohnung geholt hat.
Sie sind alle geöffnet.
Von der Tür her erkenne ich Dinge, Kleidungs­
stücke aus meinem alten Leben. Da ist der Schal,
den Mami gestrickt hat. Da ein Foto von Kim und 10
mir. Und die vielen Kassetten.
Mami - sie hat mir nie Zettel geschrieben. Sie hat
mir immer auf Band gesprochen.
Ich starre auf den Kassettenrekorder.

Deshalb gibt es keinen Abschiedsbrief an mich! 15


Mami hat ihre letzte Nachricht auf Band gespro­
chen.

Der Kassettenrekorder schaltet sich mit lautem Knak-


ken aus.
Im gleichen Moment steht ein Mädchen in einem 20
schwarzen Anzug vor mir.
Wer ist sie?
»Wer bist du?«
Das Mädchen lacht. Es klingt gruselig.
»Du hast dich wirklich gefürchtet, nicht wahr?« 25
»Wer bist du? Was hast du in meinem Zimmer zu
suchen?«
Meine Angst ist weg. Aber meine Wut steigt.

35
Der Blick des Mädchens fliegt über meine Schulter
in Richtung Tür.
Schnell drehe ich mich um.
Laura! Sie steht da, ein Handy in der Hand.
5 »Was macht ihr hier? Wer hat euch erlaubt, in
meinen Sachen ü«,
n
zsch
m
eru ? schreie ich
wütend.
Laura sagt kein Wort. Sie sieht ängstlich aus.

Plötzlich verstehe ich.


10 »Du bist Fabienne«, sage ich zu dem Mädchen.
Sie schaut mich langsam von oben bis unten an.
»Wir wissen alles über dich!«
Vor ihren Füßen liegt mein Tagebuch. Als ich es
aufheben will, stellt sie ihren Fuß darauf.
15 »Oh, ich liebe ihn so sehr. Seine Lippen auf mei­
ne ...«
Genau das hatte ich am Abend vor der Klassen­
fahrt in mein Tagebuch geschrieben.

»Dass deine Mutter krank war, das war dir wohl


20 egal. Davon steht nichts in deinem Tagebuch.« Fabi-
ennes Stimme ist scharf.
»Das geht dich überhaupt nichts an«, sage ich.
Für einen kurzen Moment fühle ich keine Wut.
Dann drehe ich mich zu Laura um. Ihre Augen
25 sind voller Angst.

»Ich dachte, du magst mich«, sage ich.


»Ich dachte, du magst mich«, wiederholt Fabien-

herumschnüffeln, aus Neugier etwas, das einem nicht gehört,


durchsuchen

36
ne spöttisch. »Mann, war das gruselig, oder, Laura?
Die Stimme einer toten Mutter am Telefon. Ich lach
mich tot!«
Und sie lacht laut. »Das ist das Beste, was ich er­
lebt habe!«

Laura steht immer noch bewegungslos vor meinem


Schreibtisch. Ich schiebe sie zur Seite.
Ich kann nicht glauben, was ich sehe! Ein Mäd­
chen, das Gesicht weiß wie die Wand, dünn, frie­
rend. In der Hand ein Messer. 10
Ich erkenne mich!

Die beiden haben meinen Laptop eingeschaltet. Sie


haben die Webcam laufen lassen.
Alles ist aufgezeichnet. Alles gibt es nun als V i­
deoclip. 15
Sie können jetzt zeigen, wie gut sie sich an Hallo­
ween amüsiert haben. Welche Streiche sie mir ge­
spielt haben.
Trick oder treat, trick oder treat, was Schönes her,
sonst hexen wir! 20

»Meinetwegen könnt ihr das an alle eure Freunde


verschicken! Mir doch egal!«, rufe ich.
»Werden wir auch!« Fabienne kommt ganz dicht
an mich heran.
Sie greift meine Hand. »Na los!«, schreit sie. »Ritz 25
dich doch!«
Mit einem Ruck ziehe ich meine Hand zurück. In
meinem Kopf höre ich Lauras und Jos Worte: »Die
ist garantiert asozial ... Sie haben gesagt, wir sollen
ganz normal mit dir umgehen ...« 30

37
Laura hat also alles ihrer Freundin erzählt.

Ich sehe sie an, Laura, meine kleine Schwester. Doch


sie schaut weg.
Das Messer! Vielleicht soll ich es tun? Und diesmal
5 richtig, nicht nur ein bisschen ritzen. Vielleicht...?

Dass Mami tot ist, ist hart. Aber ich bin auch wütend
auf sie. Immer noch. Warum hat sie mir nicht er­
zählt, wie krank sie war? Warum habe ich nicht ge­
sehen, wie schlecht es ihr ging? Nach der Chemo.
10 Von der Klassenfahrt aus habe ich zu Hause ange­
rufen. Aber sie hat nicht abgenommen. Vielleicht ist
sie einkaufen, habe ich gedacht.

Einkäufen? Aber sie konnte ja kaum noch alleine ge­


hen.
15 Wenn ich mich jetzt mit dem Messer ritze ...?
»Mach das nicht, Lena!« ruft Laura. »Bitte, du
musst mir glauben. Ich wollte das nicht!«

Ich höre Schritte im Flur. Höre den Wind.


Jemand ruft: »Was ist denn hier los? Warum steht
20 die Haustür offen?«
Jo ist zurück. Gott sei Dank!
Dann eine andere Stimme. »Lena?«
Die Stimme ... Das ist doch nicht möglich!

38
39
»Wer ist das?«, fragt Laura.
»Lena, wo bist du? Geht es dir gut?«
Ich lasse das Messer fallen, laufe aus dem Zim­
mer, die Treppe hinunter, durch den Flur.
5 Dann lande ich direkt in seinen Armen.
Arme, in denen ich mich sicher fühle.
Kim.

Er hält mich fest. Küsst mich. Nichts anderes zählt.


Alles andere verschwindet.
10 Alles ist gut.

»Was machst du hier?«


»Du solltest nicht allein sein, wenn du Stimmen
hörst. Und es wird Zeit, dass ich meine Lederjacke
hole.«
15 »Aber wie bist du so schnell ... Und warum warst
du am Telefon so komisch?«
Kim dreht sich um und schaut zur Tür.
Da steht Jo. »Du warst so ... Ich weiß nicht ...
Und dann hat Kim angerufen ...«
20 »Kim hat dich angerufen?«
»Wir kennen uns. Seit damals, als wir eure Woh­
nung ausräumten. Ich musste Kim versprechen, dass
ich ihn hole ...«
Dann bricht Jo ab und starrt an mir vorbei.

25 Ich drehe mich um. Oben an der Treppe steht Lau­


ra.
»Laura? Wieso bist du zu Hause? Ist die Party
schon vorbei?«
Tränen laufen ihr übers Gesicht. Sie weint laut.

40
»Ich wollte das nicht, ehrlich. Ich wollte das nicht.«
»Was denn? Hat es keinen Spaß gemacht?«, fragt
Jo.
»Nein!«
»Warum denn nicht?« 5

Jetzt starrt Laura mich an. Ihre Augen bitten mich


um etwas.
Sie sagt nichts.
Ich weiß schon, was sie sagen möchte. >Sag nichts.
Bitte sag nichts.< 10
Ohne Worte sprechen wir miteinander:
>Du warst gemein.<
>Es tut mir leid.<
>Du hast mich zu Tode erschreckte
>Bitte sag nichts. Ich bin doch deine kleine Schwe- 15
ster.<

Fabienne kommt. Sie geht an Laura vorbei die Trep­


pe hinunter.
»Was machst du denn hier?«, fragt Jo erstaunt.
»Wollte nur Lauras neue Schwester kennenler- 20
nen«, antwortet Fabienne.
Sie hebt die Hand. »Tschüss, Lena. War nett dich
kennenzulernen. Laura kann echt froh sein, dass du
ihre Schwester bist.«
Dann ist sie durch die Tür verschwunden. 25

»Ist alles in Ordnung?«, höre ich Kim fragen.


Ich hole tief Luft. Es ist Halloween und ... na ja ...
da, wo ich herkomme, ist Verrat so etwas wie eine
Todsünde.

41
»Ja«, sage ich mit fester Stimme, »oder was meinst
du, Laura?«
Mit ganz dünner Stimme murmelt sie: »Ja, alles in
Ordnung!«
***

42
Sprachübungen

A. Setze die richtige Form von >haben<


oder >sein< ein:
1 . Wer du?
2 . Du Papas Augen,
3 . Du so gemein!
4 . Wo meine Kleider?
5 . Wir beide nur eine Mutter,
6. Das doch Mamis Stimme,
7 . Ich einen Vater,
8. Wir jetzt deine Familie,
9 . Er eine neue Frau,
10 . Ich doch deine Schwester.

B. Was gehört zusammen?


1. Warum hat sie mir nicht erzählt,
2. Da, wo ich herkomme,
3 . Er sollte nicht bei mir bleiben,
4 . Du sollst nicht allein sein,
5 . Ich weiß nicht,

a. wenn du Stimmen hörst.


b. nur weil ich schwanger war.
c. warum ich mich im Heim ritzte.
d. wie krank sie war?
e. ist Verrat so etwas wie eine Todessünde.

43
C. Jedes Wort an seinen Platz!
1 . hatte - ich - kein - mehr-Zuhause
2 . das - immer - klingelt - noch - Telefon
3 . auf - er - meinen - schaut - Unterarm
4 . ab - alle - fließen - meine - mir - Sorgen - von
5 . auf- Bett- dem - höre- ich - Kims -liege-
Musik - und

D. Wie heißt das Wort im Plural?


a. Es war ein schrecklicher Kim und Lena
hatten fünf schöne....................
b. Lena hat eine neue Familie. Viele ...................
bauen Mist.
c. Lena hört die Stimme ihrer Mutter. Die
...................der Kinder werden schwächer.
d. Jo hält eine Flasche in der Hand. Conni kann
d ie .................... nicht hochtragen.
e. Der Mond verschwindet hinter einer Wolke.
Der Wind jagt d ie ................... über den Him­
mel.

44
Fragen

Was sieht Lena, wenn sie aus dem Fenster


schaut?
Wer wohnt auch in dem Haus ihres Vaters?
Was rufen die Kinder in den Straßen?
Was soll geschehen, wenn die Kinder nichts
Schönes bekommen?
Warum hat Lena ihre Sachen noch nicht ausge­
packt?
Was will Laura alles von ihr wissen?
Wie hat Lena früher gelebt?
Was denkt Lena über ihren Vater?
Wie findet sie Stephanie?
Wozu hat Lena keine Lust?
Woran denkt Lena, als sie allein im Haus ist?
Was war während der Klassenfahrt geschehen?
Wie erfährt Lenas Vater, dass Lena seine Toch­
ter ist?
Was glaubt Lena zu hören, als sie duscht?
Warum hat sie Angst?
Worüber spricht Jo mit ihr, als sie am Esstisch
sitzen?
Aus welchem Grund hatte Lena sich in den
Arm geritzt?
Was geschieht im Haus, als Jo weggefahren
ist?
Wie reagiert Lena, als sie die Stimme ihrer Mut­
ter hört?
Weshalb ist Lena immer noch wütend auf sie?
Was sieht Lena, als sie in ihr Zimmer kommt?

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2 2 . Warum hatte ihre Mutter ihr keinen Brief ge­
schrieben?
23. Was haben Laura und ihre Freundin gemacht?
24 . Warum haben sie das getan?
25 . Woher kennt Jo Kim?
26 . Weshalb weint Laura?
27. Warum verrät Lena nichts?

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