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spe z i A l

A r c h ä o l o g i e · g e s c h i c h t e · K u lt u r

Die geschichte der


Astronomie
spezial archäologie · geschichte · Kultur 3/13

Vom Orakel zum Teleskop

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03

ANTIK y THER A INK A KoSMo lo gIE


4 198306 908901

geheimnis eines reise in die stadt Die neuen Weltbilder


antiken computers der heiligen lamas von Kopernikus und Kepler

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ASTRONOMIE
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Sterne und Weltraum präsentiert 13 überragende astronomische


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Editorial

klaus-dieterLinsmeier
redakteurdieserAusgabe

Götter und glühende Gase

M it immer größeren Teleskopen schauen As­


tronomen von der Erde aus tief in das Uni­
versum, hin zu seinen Anfängen. Andere »Fern­
Von der Erde aus gesehen vollführen Planeten und
Mond seltsame Vorwärts­ und Rückwärtsbewegun­
gen am Himmel – sie zu erklären war zwar mög­
rohre« fliegen an Bord von Satelliten durch das All lich, aber äußerst kompliziert.
und suchen nach fremden Planeten. Astronomie Das rief zwar immer wieder Kritik hervor, doch
heute, das bedeutet Hightech, Computerbildschir­ galt das ptolemäische Weltbild im Mittelalter als
me und Modellrechnungen. Dogma der christlichen Kirche. Andere Vorstellun­
Äonen liegen zwischen unserer Welt und jener gen provozierten gar Gelächter: Wenn sich die Erde
der keltischen Druiden. Weder Luftverschmutzung um die Sonne bewegte, müsste man dann nicht
noch elektrische Beleuchtung trübten ihre Sicht den Fahrtwind spüren? Erst Nikolaus Kopernikus
auf den silberhellen Mond, auf Myriaden von gelang der stimmige Entwurf eines heliozentri­
Lichtpunkten und das weißliche Band der Milch­ schen Kosmos, sein Hauptwerk erschien 1543, kurz
straße. Welchen anderen Schluss ließ dieser gran­ vor seinem Tod.
diose Anblick zu, als dass sich am Firmament das Für diese These einzutreten brachte Galileo Ga­
Wirken der Götter zeigte? Ist es da ein Wunder, lilei 1633 noch vor das Inquisitionsgericht. Doch
wenn Archäologen nun entdeckten, dass die Grab­ der Gelehrte hatte Fernrohre gebaut und sie auf
hügel keltischer Fürsten am Lauf des Mondes aus­ den Nachthimmel gerichtet. Die Menschen staun­
gerichtet waren, genauer gesagt: auf bestimmte, ten, als er von den Kratern des Mondes oder den
offenbar als heilig geltende Zyklen? Trabanten Jupiters erzählte. Johannes Kepler un­
Den Gelehrten Griechenlands im 3. Jahrhundert terlegte um 1600 schließlich Galileis Beobach­
v. Chr. ging es schon weniger um das Wirken ihrer tungen mit einem theoretischen Fundament: der
Götter, sondern um Erkenntnis. Aus jener Zeit mathematischen Beschreibung elliptischer Plane­
stammt der »Mechanismus von Antikythera«, der tenbahnen.
wohl zur Berechnung astronomischer Ereignisse Heute wissen wir, dass die Sterne heiße Gasbälle
diente. Altertumsforscher und Mathematiker ver­ sind, und wir verstehen, wie sie entstanden und
suchen gemeinsam, die Maschine anhand der we­ sich zu Galaxien fügten. Doch mindert das die Fas­
nigen erhaltenen Teile zu rekonstruieren. Eines ist zination, die wir bei ihrem Anblick verspüren? Ich
schon jetzt gewiss: Ihr Konstrukteur war ein Genie, halte es lieber mit Immanuel Kant, der im 18. Jahr­
vielleicht sogar der legendäre Archimedes selbst! hundert formulierte: »Zwei Dinge erfüllen das Ge­
Im 2. Jahrhundert n. Chr. beschrieb Claudius müt mit immer neuer und zunehmender Bewun­
Ptolemäus in einem bis ins Mittelalter hinein gele­ derung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über
senen Werk den damaligen Stand der Forschung. mir und das moralische Gesetz in mir.«
Allerlei Instrumente waren ersonnen worden, um
die Gestirne zu vermessen. Zudem galt das geozen­
trische Weltbild, dem zufolge die Erde im Zentrum
des Kosmos steht und sich alle Himmelskörper auf
Kreisbahnen um sie herum bewegen. Allerdings
gab es Unstimmigkeiten mit den Beobachtungen:

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I N H A LT

6 28 40

Der große Bär Böses Omen Dubiose Rechenkunst


Das Sternbild ist eines der be­ Am 21. Januar 1192 v. Chr. verdunkelte sich Chinesische Astronomen beschrie­
kanntesten. Die dazu gehörigen die Sonne über der Königsstadt Ugarit. ben zwar den Lauf der Gestirne,
Mythen gab es in fast allen Welches Unheil würden die Götter senden, den mathematischen Methoden
frühen Gesellschaften Eurasiens. jetzt, da der Feind vor der Tür stand? trauten sie indes nicht.

ANTIKE JENsEITs vON EuROpA TEcHNIK

MesopotaMien alter orient astronoMische MessMethoDen


6 Wiege der Sternbilder 28 Das Omen von Ugarit 48 Peilen und Messen
Bradley E. Schaefer Joachim Bretschneider / Giorgio Strano
Das babylonische sternsystem Klaus-Dieter Linsmeier auch vor der erfindung des teleskops
inspirierte die Griechen. eine sonnenfinsternis verhieß dem erforschten astronomen die Gestirne.
königreich Ugarit nichts Gutes.
GriechenlanD hiMMelsbeobachtUnG
12 Die Entschlüsselung eines perU 60 Von der Brille zum Fernrohr
antiken Computers 34 Die Stadt der heiligen Lamas Sven Dupré
Tony Freeth Patrice Lecoq lesebrillen gibt es seit dem 13. Jahr-
Wissenschaftler lüfteten das Ge- choqequirao war ein Machtzentrum hundert. noch einmal mehr als
heimnis des »Mechanismus von der inka – und wichtige kultstätte. 300 Jahre dauerte es, bis das teleskop
antikythera«. erfunden war.
china
kelten 40 Mathematik als Provisorium
22 Heiliger Mond Jean-Claude Martzloff
Allard Mees / Bruno Deiss chinesische astronomen hatten
Die »Großen Mondwenden« wenig Vertrauen in die mathemati-
bestimmten das leben der kelten. schen Methoden.

4 SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
48 80

vor dem Teleskop Ein neues Weltbild


Im Mittelalter war der Jakobs­ In der Vorstellung des Ptolemäus stand die Erde im Zentrum
stab, dessen Wurzeln bis Pto­ des Kosmos. Die seltsamen Schleifenbahnen des Mars waren
lemäus zurückreichen, wichtiges damit allerdings nur schwer vereinbar. Kopernikus und Kepler
Werkzeug der Astronomen. erkannten: Alles dreht sich um die Sonne.

MITTELALTER uND NEuzEIT

kUltUreller aUstaUsch 3 Editorial


72 Ex Oriente Lux 58 Impressum
Gotthard Strohmaier
90 Vorschau
Der einfluss arabischer Gelehrte
auf die astronomie zeigt sich etwa
im namen mancher sterne.

MUsikWissenschaft
78 Sphärenharmonien –
Die Welt als Klangbild
Christian Berktold
in der antike bot Musik Zugang zur
grundlegenden ordnung des kosmos.

WeltbilDer
80 Der neue Kosmos
Thomas Bührke
titelmotiv: akG images / De agostini picture library
auch kopernikus und kepler blieben
Galileo Galilei präsentiert sein teleskop der obrigkeit
den antiken lehren treu. von Venedig (fresko von luigi sabatelli, 1841)

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MESoPotAMIEN

Wiege der Sternbilder


Mit Hilfe der über Jahrhunderte bemerkbaren Veränderungen der
Sternenpositionen am Firmament konnten Forscher das Alter as-
tronomischer Tafeln aus dem Zweistromland datieren. Offenbar
war das babylonische Sternsystem Inspiration für die griechischen
Astronomen.

Von Bradley E. Schaefer

A
ls ich ein kleiner Junge war, erklärte mir mein arch um das Jahr 147 n. Chr. einen Kommentar zu diesem
Großvater den Sternhimmel, wobei er mit dem Werk schrieb, behauptete er darin, Aratos hätte vieles in sei-
Großen Bären begann. Allein mit einem alten nem Gedicht aus einem bereits in der Antike verschollenen
Feldstecher ausgerüstet, begann ich anschlie- Werk des Astronomen Eudoxos übernommen.
ßend, im dunklen, weiten Himmel über Colorado andere Auch wenn die »Phainomena« die älteste überlieferte
Sternbilder aufzusuchen – und neue zu erfinden. Damals griechische Darstellung des Sternenhimmels ist, bleibt zu
machte ich mir keine Gedanken über das Alter der überliefer- vermuten, dass viele der erwähnten Sternbilder lange vor der
ten Sternbilder. Doch heute weiß ich, dass sich hinter dem klassischen Zeit des griechischen Altertums entstanden wa-
Ursprung dieser seltsamen Formationen am Himmel ein fas- ren. Wann war das? Und woher kommen sie?
zinierendes wissenschaftliches Rätsel verbirgt.
Als die Internationale Astronomische Union im Jahr 1922 Projizierte Fantasien
offiziell die Namen und Grenzen der 88 Sternbilder des Him- Bevor die Lichtverschmutzung unseren Nachthimmel ein-
mels festlegte, bezog sie sich in den meisten Fällen auf den trübte, gehörte es zum Alltag vieler Menschen, die Sterne zu
»Almagest«, das um das Jahr 128 n. Chr. verfasste astronomi- betrachten. In Zufallsmustern Strukturen zu erkennen liegt
sche Hauptwerk des Klaudios Ptolemaios (auch Claudius in der Natur der menschlichen Wahrnehmung, und so ver-
Ptolemäus). Dieser griechische Gelehrte führte darin die in wundert es nicht, dass die Menschen in allen Kulturen und
seinem Kulturraum populären Sternbilder auf, wobei wiede- zu allen Zeiten eigene Sternbilder erfanden. Blicken wir zum
rum die »Phainomena« des Aratos von Soli seine wichtigste nördlichen Sternenhimmel, fällt besonders der Große Bär
Quelle war, ein astronomisch-meteorologisches Lehrgedicht auf, wissenschaftliche Bezeichnung: Ursa Major. (Dieser
aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Als der große Astronom Hipp- weiblichen Form des lateinischen Namens zufolge müssten
wir genau genommen von der Großen Bärin sprechen.)
auf einen blick Die Gestalt der sieben mittelhellen Sterne wurde unter
verschiedenen Namen bekannt, unter anderem als Großer
Schöpflöffel (Big Dipper), Kürbisflasche, Großer Wagen und
ExorIENtELux–ZurZEItDErSuMErEr
Pflug. Aratos bezeichnete die Gruppe sowohl als Bär als auch

1 Im Jahr 1922 wurden die 88 Sternbilder offiziell benannt.


Grundlage war der »Almagest« des griechischen Gelehrten
Klaudios Ptolemaios (Ptolemäus) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.
als Wagen. Letztere Bezeichnung kann natürlich erst nach der
Erfindung des Rads entstanden sein, ungefähr im 4. vorchrist-
lichen Jahrtausend; der Name Bär dagegen ist sicherlich viel

2 Während prägnante Formationen wie der Große Bär womög-


lich schon in der Eiszeit bekannt waren, stammen die ältesten
schriftlichen Zeugnisse aus Mesopotamien. Sie sind rund 3700
älter. Überall in Eurasien kannten frühe Gesellschaften den
Großen Bären sowie dazugehörige Mythen.
Jahre alt. Populär war etwa, sich unter den vier Kastensternen den
Bären vorzustellen, den drei Jäger verfolgen – die Sterne des
3 In der Zeit von 2300 bis 687 v. Chr. entstanden im Zweistrom-
land drei Tafeln namens »Mul.apin« mit den Positionen und
Bewegungen fast aller bekannten Sterngruppen. Die Tafeln be-
Handgriffs. Doch nicht nur Griechen, Basken, Hebräer sowie
Angehörige mehrerer Kulturen in Sibirien überlieferten die-
weisen, dass sich Ptolemäus und andere griechische Astronomen –
zumindest teilweise – an den Benennungen der Mesopotamier se Kombination aus sichtbaren Sternen und Deutung; auch
orientierten. in Nordamerika ist sie verbreitet. Mit gewissen Variationen
benannten die Indianer der neuen Welt – darunter die Chero-

6 SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
kee, Algonquin, Zuni, Tlingit und Irokesen – einen Bären, Das Bären-Sternbild könnte lange vor dieser Völkerwan-
dem drei Jäger folgen. derung entstanden sein. Europäische Höhlenmalereien,
Wie können wir diese enge Übereinstimmung von Traditi- Kunstwerke und Ansammlungen der Schädel von – heute
onen der Alten und Neuen Welt erklären? Es ist wenig wahr- ausgestorbenen – Höhlenbären reichen mehr als 30 000
scheinlich, dass die Menschen unabhängig voneinander Jahre zurück und legen nahe, dass diese Tiere besonders ver-
über eine so große Region hinweg im Trapez vier heller Ster- ehrt wurden. Vielleicht spiegelt das Motiv die Praxis zeitge-
ne einen Bär erkannten. Ausschließen können wir außerdem, nössischer Rituale wider. Bleibt dies zwar eine Spekulation,
dass die Indianer das Sternbild von Missionaren oder euro- so ist doch sehr wahrscheinlich, dass der Große Bär eine der
päischen Siedlern übernahmen, bevor Ethnologen ihr Vor- ältesten überlieferten Erfindungen der Menschheit ist.
kommen dokumentierten. Diese Forscher zeichneten oft
schon kurz nach ihrem ersten Kontakt mit den Indianern de- Assyrische Anfänge
ren Erzählungen auf; die Mythen weichen jedoch durchaus Die frühesten direkten Beweise für die Existenz der Sternbil-
in Details von den Versionen der europäischen Siedler ab. der stammen von Inschriften auf Steinen sowie Schrifttafeln
Plausibler ist es, dass die ersten Siedler den Mythos in die aus Ton, die in Mesopotamien, dem Gebiet des heutigen Irak,
Neue Welt mitbrachten, als sie vor etwa 14 000 Jahren die Be- entdeckt wurden. Das »Gebet an die Götter der Nacht«, ein
ringstraße überquerten. Altsteinzeitliche Jäger und Sammler Text aus dem alten Babylon der Zeit um 1700 v. Chr., erwähnt
wanderten damals über eine Landbrücke, die in der letzten die Namen von vier Sterngruppen, darunter den Wagen, drei
Eiszeit bei niedrigem Meeresspiegel entstanden war und Sibi- helle Einzelsterne sowie die Plejaden. Inschriften aus der Zeit
rien mit Amerika verband. Ihre Gedanken lebten in ihren
Nachfahren weiter, als diese den Kontinent besiedelten. Man
kann sich leicht eine Kette vieler Generationen vorstellen, die Der Große Bär, hier in einer Darstellung von Johann Elert Bode
vom steinzeitlichen Sibirien bis in die Berge und Ebenen der aus dem Jahr 1782, ist eines der bekanntesten Sternbilder.
Neuen Welt und schließlich in das moderne Colorado der Die drei Sterne im Schwanz des Bären wurden häufig als die drei
1950er Jahre reicht – und vom Bären am Himmel erzählt. Jäger bezeichnet.
STernkArTe grOSSer Bär AuS JOHAnn elerT BOde: VOrSTellung der geSTIrne AuF 34 TAFeln, BerlIn 1782 / puBlIc dOMAIn

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vor 1300 v. Chr. enthalten Symbole, die später auch Sternbil- Seitdem entstanden Inschriften auf Grenzsteinen sowie
der bezeichneten. Damals wurden sie jedoch noch nicht in Siegelzylindern, in denen Sternbildzeichen häufig in Grup-
einem astronomischen Kontext interpretiert und an den pen und immer wieder zusammen mit Symbolen für Sonne,
Himmel projiziert. Zwar lassen die wenigen überlieferten Be- Mond und Planeten abgebildet sind. Dieser enge Zusam-
lege viele Fragen offen, doch können wir daraus schließen, menhang legt nahe, dass mit den Zeichen nun tatsächlich
das die Mesopotamier vor dem Jahr 1300 v. Chr. nur wenige Sternbilder gemeint waren. Nach der Zeit um 1100 v. Chr. ent-
Sternbilder kannten. standen Listen auf Tontäfelchen, die mehr als 30 Sternbilder

Präzession: Die scheinbare Wanderung der Sternbilder


Um Sternbilder datieren zu können, muss Greenwich in England. Die Frühlings-Tag-
man die so genannte Präzession berück- und-Nacht-Gleiche ist der Ort, an dem Wega Polaris
(vor 14 000 Jahren (heutiger nörd-
sichtigen. Diese von den Gezeitenkräften die Sonne den Himmelsäquator von Süd nördlicher Polarstern) licher Polarstern)
des Monds, der Sonne und der Planeten nach Nord passiert (in der Grafik unten
Nordpol der Ekliptik
verursachte Kreiselbewegung der Erde markiert durch den Kreuzungspunkt der
bewirkt, dass sich die Positionen der roten Linien).
Präzession
Sterne am Himmel während der Jahr- Die Präzession bewirkt, dass sich die-
tausende zyklisch verschieben. Entspre- ser Punkt gegen die Sterne im Hinter-
tägliche
chend stehen im Lauf der Zeit unter- grund verschiebt, wodurch sich die Tier- Rotation
schiedliche Sterne in der Nähe der Him- kreissternbilder etwa alle zwei Jahrtau-
melspole und werden von den Menschen sende um ein Zeichen verschieben. In der
als Polarstern betrachtet. Die Sternpositi- griechischen Klassik lag die Tag-und-
onen gleiten entlang der Ekliptik, wobei Nacht-Gleiche im Widder, dann wanderte
sie alle 72 Jahre etwa ein Grad (zwei sie in die Fische und kürzlich in den Was-
Monddurchmesser) zurücklegen. sermann – daher der Ausdruck »Zeitalter
Genau wie Orte auf einem Erdglobus des Wassermanns«.
sind »Sternörter« als Winkelabstände
von bestimmten Großkreisen am Him- Der Astronom Hipparch entdeckte die
mel definiert. Der Himmelsäquator äh- Präzession um das Jahr 128 v. Chr., nach-
nelt dem Erdäquator, während die Kolu- dem ihm aufgefallen war, dass sich die
ren den irdischen Längengraden entspre- Position der Sonne zum Zeitpunkt der
chen, wie etwa dem Nullmeridian durch Tag-und-Nacht-Gleichen gegenüber al-
ten Berichten verändert hatte. Diese er-
staunliche intellektuelle Leistung mach-
te ihn zum wohl bedeutendsten Astrono-
men der Antike.

1100 v. Chr.

Die Position der Sternbilder am Himmel


verschiebt sich allmählich gegenüber
dem Äquator und den Äquinoktialko-
luren – das sind die beiden Großkreise
am Himmel, die gleichzeitig durch die
125 v. Chr. Himmelspole sowie durch den Früh-
Äquator lings- und Herbstpunkt verlaufen. Aus
der Verschiebung gegenüber früheren
Beobachtungen lässt sich auf die Länge
ip tik
Ekl
Äquinoktialkolure

des verstrichenen Zeitintervalls schlie-


ßen. Aus der Lage des Widders auf dem
Himmelsglobus des Atlas von Farnese
InFOgrAFIken: MelISSA THOMAS

200 n. Chr. (siehe Kasten S. 10) folgt, dass dessen


Blick von ursprüngliche Fassung um das Jahr 125 v.
außerhalb der
scheinbaren Chr. entstand, als das Widderhorn
Himmelskugel gerade eben die Kolure berührt hatte.

8 SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
aufzählen, welche über den gesamten Himmel reichen. Eine nördlicher Breite – im Einklang mit dem Ergebnis der Unter-
Serie von drei Tafeln namens »Mul.apin« enthält Beobach- suchung von Hunger und Pingree.
tungen der Örter und Bewegungen fast aller in Mesopota- Unabhängig davon kann man aus der Position der süd-
mien benannten Sterngruppen (siehe Bild S. 11). Der Text lichsten Sternbilder einer bestimmten Liste deren Entste-
»Mul.apin« wurde häufig kopiert und blieb dabei fast unver- hungszeitpunkt sowie den Standort ihrer Autoren abschät-
ändert – offenbar war es ein Lehrbuch oder Almanach. Die zen – vorausgesetzt, diese machten ihre Beobachtungen von
noch heute existierenden Abschriften stammen aus der Zeit derselben geografischen Breite aus. Von dort sind alle noch
zwischen 687 und dem 3. Jahrhundert v. Chr. weiter südlich befindlichen Sterne unsichtbar und markie-
Beim Versuch, das Alter der Sternbilder zu bestimmen, ren eine Kugelkappe um den Himmelssüdpol. Die Südränder
hilft ein Phänomen, das Astronomen als Präzession bezeich- der südlichen Sternbilder stehen an deren Grenze. Ihr Zent-
nen: die stetige, westwärts gerichtete Verschiebung der Stern- rum lag damals auf der Polachse. Deren Abweichung von der
positionen – auch Örter genannt – gegen das Koordinaten- heutigen Polachse verrät uns den seit der Benennung der
netz, das der Himmelsnordpol und die Tag-und-Nacht-Glei- Sternbilder verstrichenen Zeitraum, während wir aus der
chen aufspannen (siehe Kasten links). Demzufolge verschiebt Größe der Kugelkappe die geografische Breite erfahren.
sich der von einem bestimmten Punkt der Erdoberfläche aus
sichtbare Ausschnitt des Sternenhimmels mit einer Periode Vom Pflug zum Dreieck
von etwa 25 850 Jahren. So können wir die Länge verstriche- Aus der Lage der sechs südlichen Sternbilder des »Mul.apin«,
ner Zeiträume wie auf einer Uhr ablesen, wobei die Sterne ei- die den Rand der Kugelkappe definieren, schließe ich, dass
nen sehr langsamen Stundenzeiger darstellen, der sich vor sie zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. auf einer nördlichen
dem Ziffernblatt der Himmelskoordinaten bewegt. Breite von ungefähr 33 Grad benannt wurden. Das passt gut
Die im »Mul.apin« aufgeführten relativen Örter der Sterne zu den archäologischen Befunden und lässt vermuten, die
am Himmel können wir in ungefähre Daten übersetzen. So Sternbilder im »Mul.apin« seien in Assyrien entstanden.
ist den Tafeln zu entnehmen, dass der Frühlingspunkt – als Die Motive dieser Konstellationen bilden eine eigenartige
Ort der Sonne zur Frühjahrs-Tag-und-Nacht-Gleiche – im öst- Mischung. Einige stellen Götter dar, andere Tiere, beim Rest
lichen Teil des Sternbilds lag, das wir heute als Widder ken- handelt es sich um alltägliche Geräte aus der Landwirtschaft.
nen. Das war spät im 2. Jahrtausend v. Chr. der Fall. Darüber Der Text nennt zahlreiche Omen, die auf den Sterngruppen
hinaus verraten uns die Angaben auch etwas über die geogra- basieren, und benutzt Letztere auch für einen Kalender –
fische Breite des Beobachters, so dass die vollständige Analyse lebenswichtig für eine Agrargesellschaft. Omen zu deuten,
der Sternbildliste sowohl das ungefähre Datum als auch die Rituale für die Götter abzuhalten und kalendarische Berech-
Breite des Beobachtungsorts offenbart. nungen anzustellen, waren Aufgaben der assyrischen Pries-
Hermann Hunger (1914 – 2000) von der Universität Wien ter. Vermutlich waren diese auch die Erfinder der Sternbilder.
und David Pingree (1933 – 2005) von der Brown University in Viele der klassischen griechischen Sternbilder enthalten
Providence (Rhode Island) die mesopotamischen Stern-
untersuchten mehrere Lis- gruppen. Muster, welche
ten des »Mul.apin« und ver- in Mesopotamien ausgegrabene die Griechen als Steinbock
glichen sie mit späteren Tontafeln enthalten die ältes- und Zwillinge bezeichneten,
Sterntabellen, unter ande- waren den Assyrern unter
ten datierbaren Hinweise auf die
rem derjenigen des Ptole- ähnlichen Namen bekannt:
mäus. Sie schlossen daraus, Sternbilder Ziegenfisch und Große Zwil-
die Sternenliste des »Mul. linge. 20 Sternbilder über-
apin« müsse um das Jahr 1000 v. Chr. bei einer geografischen nahmen die Griechen unverändert, 10 weitere mit denselben
Breite von 36 Grad entstanden sein – das entspricht Assyrien Sternen tragen jedoch andere Namen. So wurden der assyri-
(dem Nordteil Mesopotamiens). Da das »Mul.apin« fast alle sche Lohnarbeiter zum griechischen Widder und die Schwal-
der jemals in Keilschrifttexten erwähnten Sternbilder auflis- be zu den Fischen.
tet, müssen diese in dem relativ kurzen Intervall von 1300 bis Das Sternbild Dreieck verdeutlicht, wie die Griechen mit
1000 v. Chr. entstanden sein. den mesopotamischen Sterngruppen umgingen. Im »Mul.
Unabhängig von der Arbeit Hungers und Pingrees habe apin« wurden die Sterne des Dreiecks als Pflug bezeichnet,
ich im »Mul.apin« 114 Beschreibungen identifiziert, die auf ein Name, der auch für den Bären verwendet wurde. Obwohl
Datum und Breite der Beobachtungen schließen lassen. Kein die Geometrie den Gelehrten Mesopotamiens und Ägyptens
einziger Datenpunkt ist für diesen Zweck allein ausreichend, wohlbekannt war, galt sie dort allein als weltliches Werkzeug
aber die statistische Auswertung dieses umfangreichen Da- der Ingenieure. Thales von Milet brachte die Geometrie im 6.
tenmaterials lässt recht zuverlässige Schlussfolgerungen zu. Jahrhundert v. Chr. von Ägypten nach Griechenland, wo sie
Also stammen die Berichte im »Mul.apin« mit großer Wahr- aus einigen Faustregeln in ein organisiertes logisches System
scheinlichkeit aus der Zeit zwischen 1180 und 1020 v. Chr. so- von großer Schönheit verwandelt wurde, als deren Gipfel Eu-
wie einer geografischen Breite zwischen 31,5 und 34,5 Grad klids Buch »Die Elemente« gilt, das um 300 v. Chr. entstand.

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Erst nach dieser Verwandlung konnte man auf die Idee gender Art: »Der Kopf (des Drachen) kreist, wo die Grenzen
kommen, das Dreieck – als Symbol der Geometrie – am Him- von Unter- und Aufgang verschwimmen.«
mel zu verewigen. Das Sternbild Dreieck ist deshalb sicher- Das soll vermutlich bedeuten, die Sterne im Drachenkopf
lich das Ergebnis der griechischen Umbenennung einer me- seien vom Himmelsnordpol so weit entfernt, dass sie am
sopotamischen Sterngruppe, die sich irgendwann in der Zeit nördlichen Horizont entlangschrammen. Dieser Zusam-
zwischen Thales und Eudoxos beziehungsweise Aratos voll- menhang gilt unmittelbar nur für eine bestimmte geografi-
zog. In dessen »Phainomena« ist es nämlich enthalten. sche Breite, die sich auf Grund der Präzession mit der Zeit
verändert. Für sich betrachtet schränkt diese Bedingung die
Wenn der Orion flieht geografische Breite und den Zeitpunkt ihrer Entstehung nur
Ob die Griechen vor der Einführung des Dreiecks bereits wenig ein.
mehrere mesopotamische Sternbilder übernommen hatten, Anderswo schreibt Eudoxos: »Beim Aufgang des Skorpi-
wissen wir nicht, doch die vorhandenen Überlieferungen ons im Osten flieht der Orion am westlichen Bannkreis.«
sprechen dagegen. Die beiden ältesten schriftlichen Quellen Beide Sternbilder erscheinen gleichzeitig in entgegenge-
der Griechen, die Epen des Homer und der Bauernalmanach setzten Richtungen über dem Horizont. Allein oder in Kom-
des Hesiod (beide entstanden im 8. Jahrhundert v. Chr.), er- bination mit der ersten Aussage führt uns dies nicht we-
wähnen zwei auffällige Sternbilder (Orion und den Großen sentlich weiter.
Bären), zwei Sternhaufen (die Plejaden und die Hyaden) so- Aufschlussreich wird die Untersuchung erst, wenn wir
wie zwei Einzelsterne (Sirius und Arktur). viele weitere Aussagen aus den »Phainomena« des Aratos he-
Alle anderen griechischen Quellen aus der Zeit vor 500 v. ranziehen. Ich habe 172 solcher Stellen identifiziert, und da-
Chr. schweigen sich über die Sterne gänzlich aus. Das lässt mit schrumpft der Bereich auf 0,9 Grad – das entspricht 100
vermuten, die Griechen der vorklassischen Zeit hätten allein Kilometer in Nord-Süd-Richtung – und 80 Jahren in der Zeit.
die auffälligsten Sternbilder benannt. Daraus folgt, dass die Sternbilder im Jahr 1130 v. Chr. und bei
Die erste Schriftquelle, in der sich der griechische Blick 36 Grad Nord – wieder Assyrien, genau wie im »Mul.apin« –
auf den Nachthimmel umfassend niederschlug, war das entstanden.
Buch des Eudoxos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., von dessen Beim Vergleich der beiden Quellen stellte ich zahlreiche
Inhalt wir jedoch nur dank ausgiebiger Zitate bei Aratos und Übereinstimmungen fest: Sie enthalten im Wesentlichen
Hipparch wissen. Eudoxos’ Buch enthält Beschreibungen fol- dieselben Sternbilder, jedoch unter verschiedenen Namen,

Der Atlas von Farnese


Die älteste bis heute überlieferte Darstel- den Beschreibungen, so entsprechen sie
lung aller griechischen Sternbilder findet nur den Angaben in Hipparchs Kommen-
sich auf einer römischen Statue aus dem tar. Natürlich könnte ein anderer Astro-
2. Jahrhundert v. Chr., die Atlas von Farne- nom ungefähr zur selben Zeit einen wei-
se genannt wird. Kunsthistoriker halten teren Katalog erstellt haben, darauf gibt
sie für die Kopie eines griechischen Origi- es jedoch keinen Hinweis. Mit an Sicher-
nals. Die aus Marmor gemeißelte Statue, heit grenzender Wahrscheinlichkeit ist
die heute in Neapel steht, zeigt Atlas mit Hipparchs Sternkatalog die Quelle.
lInkS: Akg IMAgeS / erIcH leSSIng; recHTS (deTAIl rückAnSIcHT): grIFFITH OBSerVATOry, gerry pIcuS
einem Himmelsglobus auf den Schultern.
Eine detaillierte Analyse der Örter der
Sternbilder auf dem Globus verrät, dass
diese mit einer Abweichung von weniger
als zwei Grad den im Jahr 125 v. Chr. sicht-
baren Sternhimmel zeigen, wobei sich
das Datum bis auf 55 Jahre genau be-
stimmen ließ. Die Originaldaten waren
so systematisch und präzise, dass sie ver-
mutlich einem Sternkatalog entstamm-
Reliefs auf dem Himmelsglobus zeichnen ten. Hipparch war der Einzige, der zu die-
die Sternbilder detailreich nach und ser Zeit einen solchen erstellt hatte.
zeigen auch den Himmelsäquator, die Vergleicht man die Sternbilder auf
Wendekreise sowie die Koluren. dem Globus mit den damals existieren-

10  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
und gehen vermutlich auf die Aufzeichnungen desselben as-
syrischen Beobachters zurück.
Es liegt nahe anzunehmen, die Griechen hätten irgend-
wann zwischen dem Jahr 1100 und 360 v. Chr. von den meso-
potamischen Sterngruppen erfahren. Da es aber aus der Zeit
vor 500 v. Chr. keine Hinweise auf die griechischen Sternbil-
der gibt – von der Erwähnung des Bären und des Orion bei
Homer einmal abgesehen –, können wir den Zeitpunkt der
Überlieferung gut einschränken.
Dazu passt, dass das babylonische System der Tierkreis-
zeichen um das Jahr 400 v. Chr. in Griechenland übernom-
men wurde, wobei der Tierkreis den scheinbaren Jahreslauf Auf diesem

THe TruSTeeS OF THe BrITISH MuSeuM


der Sonne vor dem Sternhimmel markiert, was für astrologi- mesopota-
sche Berechnungen wichtig war. Auf welchem Weg sich das mischen
astronomische und astrologische Wissen damals verbreitete, Grenzstein
wird wohl für immer ungewiss bleiben. aus der Zeit
Nicht alle griechischen Sternbilder sind mesopotami- nach 1300
schen Ursprungs. Die »Phainomena« führen 18 Sterngrup- v. Chr. sind
pen auf, die sich in keiner anderen alten Quelle finden – und Sternbilder
deren Namen sich deutlich auf die griechische Lebens- und symbolisch
Mythenwelt beziehen. So ist von Herkules die Rede, den am dargestellt.
Himmel Tiere begleiten, die dieser große Krieger besiegt hat,
unter anderem Löwe und Drache. Es gibt Ophiuchus, der die
Schlange trägt, sowie den Delfin – was für eine Seefahrerna- den und sich in zahlreichen Kulturen, über lange Zeiten und
tion wie die Griechen passend ist. Sechs Sternbilder beziehen große Entfernungen ausbreiteten – und dabei gelegentlich
sich auf den griechischen Mythos der Rettung Andromedas abgewandelt wurden. Die Sternbilder lassen uns einen Teil
durch Perseus. Das alles deutet darauf hin: Die Griechen er- der Kulturgeschichte erkennen, den uns archäologische
fanden diese Sternbilder selbst. Funde nicht erschließen können. Es ist der Wandel von einer
religiösen Himmelskunde zu einer oftmals praktischen Wis-
Muster im kulturellen Gedächtnis senschaft, vom abstrakten Ritual zum messbaren Phäno-
Im Lauf der Zeit änderte sich die Bedeutung der himmli- men der Präzession.  Ÿ
schen Bilderwelt. Zunächst erzählten die Bilder Geschichten
von legendären Helden und Tieren. Dann dienten sie als
der auTor
Werkzeuge für Kalender und Navigatoren. Später wurde der
Tierkreis zu einem Koordinatensystem für die Beobachtung Bradley E. Schaefer ist professor für Astronomie
von Planeten als Teil der von Babyloniern übernommenen an der louisiana State university in Baton rouge.
er ist Mitherausgeber des »Journal for the
Astrologie.
History of Astronomy« sowie der Zeitschrift
Aus den überlieferten Schriften des Hipparch können wir »Archaeoastronomy«.
erkennen, wie sich der griechische Blick auf die Sterne wandel-
te. Zu Beginn seiner Laufbahn verglich dieser Gelehrte, wie
weit die von Eudoxos überlieferten Sternbilder mit dem über-
einstimmten, was er selbst am Himmel sah. Dabei stieß er auf liTeraTur
zahlreiche Abweichungen.
Als er im Jahr 135 v. Chr. bemerkte, wie ein Stern plötzlich Gibbon,W. B. : Asiatic parallels in north American Star lore: ursa
Major. In: Journal of American Folklore 77, S. 236, 1964
aufleuchtete – vermutlich war es eine Nova oder Supernova –, Hermann, J.: Welcher Stern ist das? kosmos, Stuttgart 2006
kam er auf die Idee, einen Katalog der helleren Sterne zusam- Hunger, H., Pingree, D.: Astral Sciences in Mesopotamia. Brill,
menzustellen. Damit sollte man etwaige neue Sterne besser leiden 1999
Schadewaldt, W.: die Mythologie der Sternbilder. Insel, leipzig
identifizieren können. Leider ist dieses einflussreiche Werk 2002
nicht überliefert. Wir wissen jedoch, dass es dem Gelehrten Schaefer, B. E.: The latitude and epoch for the Origin of the
damit gelang, die Präzession zu entdecken. Das war für die As- Astronomical lore of eudoxus. In: Journal for the History of Astro-
nomy 35, S. 161, 2004
tronomie ein entscheidender Durchbruch und machte die Er-
forschung der Sternbilder zu einer Wissenschaft. Weblink
Zweifellos ist es nicht leicht, die Quellen dieser Himmels-
diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
geschichte zu interpretieren, denn sie sind lückenhaft. Den-
Internet: www.spektrum.de/artikel/864269
noch können wir aus ihnen ablesen, wie Konzepte entstan-

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grIEchENLAND

Die Entschlüsselung
eines antiken Computers
Ein internationales Team von Wissenschaftlern hat das Geheimnis des
»Mechanismus von Antikythera« gelüftet, eines antiken astronomischen
Rechenwerks von erstaunlicher Komplexität.
Von Tony Freeth

FoTo: Tony FREETh; IllusTRATIon: JEAn-FRAnçoIs PodEvIn

F
ür die Besatzung war es eine Katastrophe, für Archäo­ deckten Apparats erstaunte die Experten, und daran hat sich
logen und Technikhistoriker ein Glücksfall: Vor mehr bis heute nichts geändert.
als zwei Jahrtausenden geriet ein römisches Handels­ Vor zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal davon. Damals
schiff in einen Sturm und sank nahe der kleinen Insel arbeitete ich als Dokumentarfilmer. Der Astronom Mike Ed­
Antikythera, zwischen Kreta und dem griechischen Festland munds von der Cardiff University (Wales) rief an, weil er
gelegen (siehe Karte S. 14). Im Jahr 1900 bedrohte schweres glaubte, der Antikythera­Mechanismus sei ein spannendes
Wetter eine Gruppe von Schwammtauchern. Sie flohen auf je­
nes Eiland, erkundeten später die umliegenden Gewässer und auf einen blick
entdeckten den antiken Schatz. Mit einer offiziellen Geneh­
migung ausgestattet bargen sie in den folgenden Monaten
SoNNE,MoNDuNDPLANEtEN
kostbare Bronzen und Gläser, Keramiken und Schmuck.
Das wertvollste Fundstück blieb dabei lange unbeachtet:
ein unscheinbarer, stark verkalkter Klumpen, etwa so groß 1 Der »Mechanismus von Antikythera« ist eine Art astrono-
mischer Taschenrechner aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.
1900 am Meeresgrund vor der Insel Antikythera entdeckt, beschäf-
wie ein Telefonbuch. Erst als er Monate nach der Bergung aus­ tigt er bis heute Wissenschaftler verschiedener Disziplinen.
einanderbrach und die Überreste stark korrodierter, mitei­
nander verbackener Bronzezahnräder zum Vorschein kamen,
kein Zahn länger als etwa eineinhalb Millimeter, dazu Ziffern­
2 Mittels bildgebender Verfahren wurden die inneren Struk-
turen der insgesamt 82 Fragmente in den letzten Jahren auf-
geklärt. Dabei hat man bislang unbekannte Inschriften entdeckt.
blätter mit Skalen und Beschriftungen, war die Sensation per­ Dank dieser neuen Informationen lässt sich nun besser verstehen,
welche Berechnungen der Apparat vornehmen konnte. Dazu
fekt. Man wusste bereits, dass griechische Erfinder mitunter gehören offenbar die Prognose von Mond- und Sonnenfinsternis-
Getriebe genutzt hatten, beispielsweise soll Ktesibios von sen, aber auch die Berechnung der Daten panhellenischer Spiele.
Alexandria (3. Jahrhundert v. Chr.) die Rotation des Zylinders
einer Wasseruhr mittels Zahngetriebe auf einen Stundean­ 3 Einige Beschriftungen deuten auf die griechische Stadt Syrakus
auf Sizilien als Entstehungsort hin.
zeiger übertragen haben. Doch die Komplexität des nun ent­

12  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Thema für das Fernsehen. Also begann ich zu recherchieren, Die Griechen vermochten die sich wiederholenden Intervalle zwi-
was Forscher seit der Entdeckung herausgefunden hatten. schen Mondfinsternissen zu berechnen – dank Jahrhunderten
Offenbar herrschte zwar Einigkeit darüber, dass die Maschi­ der Himmelsbeobachtung in Babylonien. Der Antikythera-Mecha-
ne einst zur Berechnung astronomischer Daten taugte, doch nismus erledigte solche Kalkulationen automatisch. (Das hier
wie genau sie das bewerkstelligt haben sollte, verstand nie­ gezeigte Gerät wie auch alle weiteren in diesem Beitrag basieren
mand so recht. Nicht nur meine Neugier als Filmemacher auf Rekonstruktion des Antikythera-Forschungsteams.)
war geweckt. Von Haus aus Mathematiker, wollte ich mithel­
fen, das Geheimnis des Geräts zu lüften.
Gemeinsam mit Edmunds stellte ich eine internationale Der deutsche Philologe Albert Rehm sprach 1905 als Erster
Arbeitsgruppe aus Historikern, Astronomen und anderen von einer astronomischen Rechenmaschine. Und der ameri­
Experten zusammen. Innerhalb der letzten Jahre konnten kanische Wissenschaftshistoriker Derek J. de Solla Price postu­
wir tatsächlich Aufgaben und Funktionsweisen beinahe aller lierte ein halbes Jahrhundert später in »Scientific American«,
bekannten Komponenten ergründen, nicht zuletzt dank der der Benutzer habe ein Datum mittels einer Kurbel einstellen
engen Zusammenarbeit mit dem Archäologischen National­ können; diese Drehung sei von Getrieben verarbeitet worden,
museum in Athen, das alle Bruchstücke des Artefakts archi­ bis Resultate auf diversen Ziffernblättern angezeigt wurden.
viert. Demnach vermochte der Antikythera­Mechanismus Auf der Vorderseite habe sich zum einen der in der Antike ge­
Mond­ und Sonnenfinsternisse vorauszuberechnen, ebenso bräuchliche ägyptische Kalender befunden, der das Jahr in
die scheinbare Bewegung des Monds am Himmel sowie die 365 Tage einteilte (durch Verdrehen der Metallscheibe ließ
Daten wichtiger panhellenischer Spiele. Hätte jener Sturm sich alle vier Jahre ein Schalttag einfügen), außerdem eine
ihn nicht untergehen lassen, Historiker würden dergleichen 360­Grad­Skala mit den zwölf Tierkreiszeichen. Vor dem Hin­
für das 1. Jahrhundert v. Chr. kategorisch ausschließen, denn tergrund dieser Sternbilder (Zodiakus) beziehungsweise in
andere bekannte, vergleichbar ausgetüftelte Maschinen sind der von ihnen aufgespannten Ebene vollzieht sich der Jahres­
mehr als ein Jahrtausend jünger. lauf der Sonne – für einen irdischen Beobachter, der die Erde

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KIRK CAldWEll
Rom

SELEUKIDISCHES
RÖMISCHE REPUbLIK
PERGaMON KÖNIGREICH

Athen Babylon
Korinth

Syrakus RHODOS
Antikythera

SIzILIEn
KRETA

Die griechische und


römische Welt um 145 v. Chr.
PTOLEMÄISCHES KÖNIGREICH

Woher stammt der Apparat?


Der Antikythera-Mechanismus entstand vermutlich um die gamon nach Rom. Möglicherweise hatte man den Apparat bei
Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., als sich das römische Impe- einem zwischenstopp auf Rhodos an Bord gekommen, denn
rium auf Kosten der hellenistischen Königreiche (braun) im Mit- dort befand sich ein zentrum griechischer Astronomie. Ebenso
telmeerraum ausdehnte. Als Teil der Ladung eines Handels- wahrscheinlich aber wäre, dass der Mechanismus schon eine
schiffs sank er um 65 v. Chr. nahe der Insel Antikythera. wechselvolle Geschichte hinter sich hatte und – darauf verwei-
Schwammtaucher bargen die verwitterten Überreste Anfang sen sprachliche Eigenheiten der Beschriftung – in einer korin-
des 20. Jahrhunderts. Das Schiff war mit griechischen Kunst- thischen Kolonie gefertigt wurde. Dafür käme Syrakus in Frage,
und Gebrauchsgegenständen vermutlich auf der Fahrt von Per- die Heimat des genialen Erfinders Archimedes.

im Zentrum des Kosmos wähnt. De Solla Price vermutete des­ Wie de Solla Price postulierte auch Wright, ein Ziffernblatt
halb, dass ein heute nicht mehr erhaltener Zeiger die Position auf der Rückseite sei ein Mondkalender gewesen, der auf dem
unseres Zentralgestirns bezüglich der scheinbaren Sonnen­ nach dem griechischen Astronomen Meton von Athen (5.
bahn (Ekliptik) zum eingestellten Datum markierte. Jahrhundert v. Chr.) benannten Zyklus basiert habe: 19 Son­
In den erhaltenen Fragmenten konnte er zunächst ein nenjahre entsprechen bis auf zwei Stunden 235 Monaten.
Dutzend Zahnräder ausmachen, fast alle beschädigt und un­ Tatsächlich war dies schon den Babyloniern bekannt. De­
vollständig. Nachdem der griechische Radiologe Charalam­ ren Gelehrte hatten jahrhundertelang den nächtlichen Him­
bos Karakalos das Artefakt durchleuchtet hatte, beschrieb de mel beobachtet, überzeugt davon, in den Gestirnen das Wir­
Solla Price 1974 insgesamt 30 Zahnräder und schätzte die ken der Götter erkennen zu können – und so günstige und
Zahl ihrer Zähne. Demnach hatte das Hauptrad, dessen voll­ gefährliche Wendungen des Geschicks vorherzusehen. Da
ständige Umdrehung einem Jahr entsprach, 64 Zähne, zwei sich der Mond und die Planeten mit geringen Abweichungen
Nebenräder verfügten über je 38. Jede Drehung des Haupt­ in derselben Ebene bewegen wie die Erde, erscheinen sie ei­
rads ließ diese beiden also 64/38­mal rotieren. Und so nem Beobachter stets in der Nähe der Ekliptik. Die Babylo­
pflanzte sich die Bewegung des Hauptrads im Mechanismus nier überzogen daher den Himmel mit einem Gradnetz ver­
fort, stets entsprechend der Zahnverhältnisse übersetzt. Auf gleichbar dem, das Astronomen heute noch benutzen.
diese Weise modellierte die Maschine periodisch wiederkeh­ Die Rolle des Äquators kommt dabei der Ekliptik zu. Die
rende Himmelsereignisse. ekliptische Länge ist durch den so genannten Frühlings­
Michael Wright, Kurator des Science Museum in London, punkt definiert, der Position der Sonne zur Frühlings­Tag­
rekonstruierte gemeinsam mit dem Computerspezialisten und­Nachtgleiche. Der Winkelabstand eines astronomischen
Allan Bromley von der University of Sydney erstmals aus Objekts von der Ekliptik ist seine ekliptische Breite. Als Be­
Röntgendaten räumliche Darstellungen des Apparats. Er zugspunkt diente oft ein Stern mit schon bekannter Position.
korrigierte und ergänzte das Price­Modell. Wright erkannte So notierte ein babylonischer Astronom beispielsweise 419 v.
etwa, dass ein Blech der Rückseite, das nach den bisherigen Chr.: »Erste Nachthälfte, Venus war acht Finger unter Beta
Vorstellungen aus konzentrischen Ringen bestand, in Wirk­ Tauri und bewegte sich vier Finger gen Osten.« Ein Finger
lichkeit eine spiralförmige Struktur hatte. Außerdem ent­ entsprach etwa einem Zwölftel eines Bogengrads, Beta Tauri
deckte er einen Mechanismus für die Mondphasenkalkula­ ist der heute gebräuchliche Name für die zweithellste Sonne
tion auf der Vorderseite. im Sternbild Stier.

14  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Während des 1. Jahrtausends v. Chr. notierten die Babylo­ Produkte, meist von Turbinenschaufeln. Es bedurfte noch
nier Hunderttausende solcher Beobachtungen und versuch­ vier Jahre diplomatischer Bemühungen, bis meine Kollegen
ten, darin Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Sie wussten John Seiradakis von der Aristoteles­Universität in Thessalo­
deshalb, dass der Mond je nach gewähltem Bezugspunkt ver­ niki und Xenophon Moussas von der University of Athens
schieden lange für einen vollen Umlauf benötigt. Beispiels­ alle Genehmigungen in Händen hielten, den höchst fragilen
weise erreicht er nach 27 Tagen, 7 Stunden und 43 Minuten Antikythera­Mechanismus im Museum mit den genannten
dieselbe Position bezüglich des Fixsternhimmels (sideri­ technischen Mitteln analysieren zu dürfen. Nun musste nur
scher Monat), benötigt etwa 5,5 Stunden länger zwischen noch der Transport der Geräte organisiert werden.
zwei Durchgängen durch den erdnächsten Punkt (anomalis­ Unsere Aufregung war groß, umso mehr, als uns ein An­
tischer Monat), aber 29 Tage, 12 Stunden und 44 Minuten zwi­ ruf von Mary Zafeiropoulou, Kuratorin der Bronzen­Samm­
schen gleichen Mondphasen (mittlerer synodischer Monat). lung des Museums, erreichte: Sie hatte im Kellerarchiv Kis­
Dank »Data Mining« entdeckten sie selbst lang dauernde Pe­ ten mit der Beschriftung »Antikythera« entdeckt. Deren In­
rioden wie den erwähnten Meton­Zyklus – der genauer ge­ halt war eine Sensation: Die Zahl der zu untersuchenden
sagt 235 synodische beziehungsweise 254 siderische Monate Fragmente hatte sich mit einem Mal von gut 20 auf 82 er­
umfasst – und die Saros­Periode, auf die ich noch zu spre­ höht, nämlich 7 große und 75 kleine Stücke.
chen kommen werde. Auf dieses Wissen konnten griechische Wissenschaftler von Hewlett­Packard hatten ein Verfah­
Astronomen wie der Konstrukteur des Antikythera­Mecha­ ren entwickelt, Oberflächen sehr viel plastischer und detail­
nismus zurückgreifen. reicher abzubilden als bisher möglich. Dazu errichtete das
Team unter der Leitung von Tom Malzbender zunächst eine
Neue Funde in alten Kisten Kuppel von 1,5 Meter Durchmesser und stattete diese so mit
Die Datenlage unserer Forschungen war zu Beginn des Unter­ elektronisch gesteuerten Blitzlichtern aus, dass sich jedes
nehmens weit schlechter, denn wir verfügten weder über noch so kleine Fragment aus unterschiedlichen Winkeln aus­
gute Fotografien der Fragmente noch über die bereits ge­ leuchten ließ. Die so gewonnenen Aufnahmen wurden zu so
machten Röntgenbilder; es bestand auch keine Möglichkeit, genannten Polynomial Texture Maps (PTM) verarbeitet. Die­
diese Quellen zu erschließen. Deshalb suchten wir Experten se Dateien enthalten für jeden Bildpunkt außer den
in Sachen Bildgebung und kontaktierten das amerikanische Werten der drei Grundfarben Rot, Grün und
Unternehmen Hewlett­Packard sowie die britische Firma X­ Blau auch Informationen zur Beleuchtungs­
Tek. Bei HP fanden wir Spezialisten für die Oberflächenfoto­ situation, so dass sich die Aufnahmen
grafie, X­Tek erstellt 3­D­Röntgenaufnahmen technischer später verschieden ausgeleuchtet

Der Nachbau: Anatomie eines Relikts


Mittels Computertomografie (CT) erhielt das Antikythera-Team Einblick in das Innere der Fragmen-
te. nicht anders als in der medizinischen Diagnostik wurden virtuelle Schnitte aus dem Datensatz
berechnet, hier durch das Hauptfragment. Solche Informationen lieferten Anhaltspunkte dafür,
welche zahnräder zu einem Getriebe gehörten und wie viele zähne sie jeweils trugen. Auf Grund-
lage aller Informationen rekonstruierten die Forscher die räumliche Gestalt der Räderwerke – und
was mit ihnen zu berechnen war (rechts und auf den nächsten Seiten).
CT-sCAns: © 2005 AnTIKyThERA MEChAnIsM REsEARCh PRoJECT / X-TEK sysTEMs (dATEn) / voluME
GRAPhICs (soFTWARE); REKonsTRuKTIon obEn: GRIFF WAson und Tony FREETh

www.SPEKtruM.DE 15
betrachten und analysieren lassen. Dank des größeren De­ Im Inneren des
tailreichtums der Oberflächendarstellung konnte unser
Team auf diese Weise Inschriften auf den äußeren Platten le­
Antikythera-Mechanismus:
sen, die frühere Forscher nur schwer bis gar nicht entziffern Ein astronomisches Uhrwerk
konnten (siehe Bild S. 19). Im Wesentlichen handelte es sich
um eine Bedienungsanleitung.
Einen Monat später sperrte die Polizei die Straßen im Zen­
Die zwölf
trum Athens für den BladeRunner, einen acht Tonnen schwe­ Tierkreiszeichen
ren X­Tek­Computertomografen. Roger Hadland und sein dienten als Bezugs-
system; sie definie- Ein ägyptischer Kalender
Team erhöhten die Strahlleistung des Geräts, das normaler­ ren die Ebene der zeigte die 365 Tage
weise in der industriellen Materialprüfung und Qualitäts­ Ekliptik, auf der die eines Jahres an.
Sonne über den
kontrolle eingesetzt wird, um die bronzenen Artefakte voll­ Himmel wandert.
ständig zu durchleuchten. Wie in der medizinischen Diag­
nostik machte das Gerät Röntgenaufnahmen der Artefakte
in verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichen Blick­
winkeln, um daraus räumliche Ansichten des Innenlebens zu
konstruieren. Wo andere nur miteinander verbackene Zahn­
räder gesehen hatten, vermochten wir nun einzelne Elemen­
te deutlich zu unterscheiden und feine Details zu erkennen.
Dazu gehörten auch gut 2000 Buchstaben, die über 2000
Jahre verborgen geblieben waren (bekannt waren bereits
15 000). Moussas und Yanis Bitsakis von der University of
Athens sowie Agamemnon Tselikas, Direktor des Center for
History and Palaeography in Athen, begannen sogleich mit
der Übersetzung. Ein Text lautet »spiralförmige Unterein­
teilungen 235 …«, was Prices und Wrights Annahme unter­ Datumszeiger
stützt, jenes Ziffernblatt im oberen Bereich der Rückseite Sonnenzeiger
habe den Meton­Zyklus mit seinen 235 synodischen Mona­
ten abgebildet.

Eine Uhr für heilige Spiele Kurbel


Zu den Überraschungen gehörte auch die Entdeckung einer
kleinen Nebenuhr innerhalb dieses Ziffernblatts. Sie ist in vier
●●
D
Quadranten unterteilt. »NEMEA« las ich unterhalb eines da­
von. Alexander Jones, Historiker an der New York University,
erklärte mir dazu, im Heiligtum von Nemea seien alle zwei Vermutlich gaben
●●
E zeiger die
Jahre Wettkämpfe ausgetragen worden, die zu den panhelle­ Positionen der
nischen Spielen zählten und jeweils ein Jahr vor beziehungs­ damals
bekannten
weise nach den Olympischen Spielen stattfanden. Und tat­ Planeten auf der
Ekliptik an.
sächlich fanden wir entlang der vier Sektoren noch weitere
solche Hinweise: »ISTHMIA« steht offenbar für Spiele in Ko­
rinth, »PYTHIA« weist auf Delphi hin, »NAA« auf kleinere
GRIFF WAson unD Tony FREETH

Wettkämpfe im Zeus­Heiligtum von Dodona und natürlich


»OLYMPIA« für die wichtigste Veranstaltung. Das verlieh dem
Apparat eine unerwartete, gesellschaftliche Funktionalität.
Wieder zurück in London, machte ich mich ebenfalls an
die Analyse der Röntgenaufnahmen. Ich erkannte einige
Bruchstücke, die fraglos zu einem weiteren spiralförmigen
Ziffernblatt der Rückseite gehörten. Seine vier Windungen
trugen Unterteilungen, deren Zahl ich auf 220 bis 225 schätz­
te. Die Primzahl 223 war ein naheliegender Kandidat, denn Ein Mondzeiger
verortete den Auf- und Untergänge
sie spielt bei der Voraussage von Sonnen­ und Mondfinster­ Erdtrabanten wichtiger Sterne
nissen (Eklipsen) eine große Rolle. Das Zusammenspiel der auf der Ekliptik. im Lauf eines Jahres wurden
auf der vorderen
Himmelskörper ist sehr komplex, und deshalb unterschei­ Abdeckplatte aufgelistet.
den sich Finsternisse je nach der genauen Konstellation,

16  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Die Explosionszeichnung zeigt bis auf eines alle der 30 erhaltenen lender (ein solcher zyklus dauerte 235 synodische Monate). Die ver-
zahnräder – die in 7 große und 75 kleinere Fragmente zerbrochen schiedenen Räderwerke errechneten daraus die zugehörigen ast-
waren – sowie einige weitere, die den Forschern notwendig er- ronomischen Ereignisse und stellten sie auf anderen ziffernblät-
scheinen, um alle angenommenen Funktionen zu erfüllen. Drehen tern dar, beispielsweise Position und Phase des Monds. Umgekehrt
der seitlichen Kurbel setzte alle Räderwerke in Bewegung (farbige konnte der Benutzer mit der Kurbel auch ein solches Ereignis an-
Pfeile veranschaulichen die Bewegungsketten der verschiedenen wählen, um dessen Datum zu ermitteln. Vermutlich dienten weite-
Getriebe). Der Benutzer stellte ein Datum entweder auf der Vorder- re, leider nicht erhaltene zahnräder dazu, die Position der Sonne
seite ein, nämlich auf dem ägyptischen Kalender des Sonnenjahrs, und der in der Antike bekannten fünf Planeten relativ zu den Stern-
oder an der Meton-zyklus-Uhr auf der Rückseite, einem Mondka- bildern des Tierkreises anzuzeigen.

Das Räderwerk des Meton-Zyklus


berechnete den jeweiligen Monat im Meton-zyklus, der 235 synodische Monate umfasste.
zeiger ● A zeigte das Resultat auf der Rückseite des Apparats an. Die nadel ●
B an seiner Spitze
lief in einem Schlitz auf dem spiralförmigen ziffernblatt und zog den zeiger so auf die
erforderliche Länge aus. Hilfszahnräder ● C bewegten einen kleineren zeiger ● D entlang einer
zweiten Skala, die dem vierjährigen zyklus der Olympischen Spiele und anderer antiker
Spiele entsprach. Wieder andere zahnräder waren für die Uhr ● E zuständig, die vermutlich
einem 76-jährigen zyklus folgte.

Das von der Kurbel angetriebene Hauptrad


setzte alle anderen zahnräder in Bewegung und Meton-Zyklus-
stellte über einen zeiger das Datum auf dem ●
E ●
A Uhr
ägyptischen Kalender ein. Eine vollständige Um- Anzeige der
drehung entsprach einem Jahr. Das ziffern- Olympiaden
blatt des Kalenders war zudem drehbar, um und anderer
Schalttage einzufügen. ●
E Spiele der Antike

D

Olympiaden-
Uhr

C
Auf diesem

D ziffernblatt
waren die

A
Jahre ablesbar,

B in denen
panhellenische
Spiele wie die
Olympiaden
stattfanden.


C


A
Schlitz

D ●
A

B

nadel
Finsternis-
Uhr nach der

B
Saros-Periode

Das Mond-Uhrwerk
erfasste mit epizyklischen zahnrädern die
Geschwindigkeits- und Richtungsänderungen,
die der Mond für den Beobachter auf der Erde
am Firmament scheinbar vollzieht. Ihre Lager
befanden sich auf dem zahnrad ● A . Ein Rad
bewegte mittels der Vorrichtung ● B – eine in
einem Schlitz laufende nadel – ein zweites. ●
A
Von weiteren Rädern in den vorderen Bereich
des Apparats übertragen, drehte vermutlich ●
B
ein weiteres epizyklisches System ● C eine
schwarz-weiße Kugel ● D , um die Phase des
Das Räderwerk zur Berechnung von Sonnen- und Mondfinsternissen
Monds anzugeben; zeiger ● E verwies auf die ermittelte den Monat einer Finsternis (Eklipse) innerhalb einer Saros-Periode,
Position des Monds im Tierkreis. die 223 synodische Monate umfasst. Wie bei der Meton-Uhr war der zeiger ● A
ausziehbar und das ziffernblatt spiralförmig angelegt. zusätzlich bewegten
B auf einer kleinen Uhr. Er vollführte nur eine
Hilfsräder einen weiteren zeiger ●
Drittelumdrehung je Saros-Periode, um anzuzeigen, dass sich die nächste
www.SPEKtruM.DE 17
Finsternis um acht Stunden verschob.
doch schon die Babylonier vermochten Zyklen ausfindig zu Ein Benutzerhandbuch:
machen. Insbesondere wiederholen sich vergleichbare Eklip­
sen im Abstand von 223 synodischen Monaten beziehungs­ Wie man eine Finsternis
weise 18 Jahren – dies ist die schon erwähnte Saros­Periode. vorhersagt
Dass jenes Ziffernblatt damit zu tun hatte, bestätigte ein
weiterer Befund: Zwischen den Skaleneinteilungen waren
Blöcke von Symbolen zu lesen, die fast in allen Fällen die grie­
chischen Buchstaben ∑ (sigma), H (eta) oder beide enthiel­
ten. Ersteres stand wohl für ∑elhnh (selene), griechisch für
Mond, deutete also vermutlich auf eine Eklipse des Erdtra­ Theoretisch verlangte der Antikythera-Mechanismus wohl
banten hin. H war wohl das Kürzel für Hlioς (helios), grie­ nur Grundkenntnisse in der Astronomie seiner zeit. nach einer
chisch für Sonne, mit analoger Bedeutung. Das Symbolmus­ Kalibrierung – für die allerdings ein Experte erforderlich war –
ter lässt sich leicht verstehen: Finsternisse finden innerhalb ließen sich zurückliegende oder künftige Ereignisse innerhalb
einer Saros­Periode nur alle fünf bis sechs synodischen Mo­ eines zeitraums von mehreren Jahrzehnten vorhersagen. Der
nate statt. Berechnung einer Sonnen- oder Mondfinsternis lag zum einen
die so genannte Saros-Periode zu Grunde: Alle 223 synodischen
Die unglaubliche Erfindung der Epizyklen Monate (ein solcher Monat entspricht der zeit zwischen glei-
Wie sah nun das Getriebe aus, das auf dieser Uhr die Eklipsen chen Mondphasen) wiederholt sich eine geeignete Konstella-
berechnete? Karakalos, der die ersten Röntgenbilder des Ap­ tion von Erde, Sonne und Mond. zudem ereignen sich Sonnen-
parats aufgenommen hatte, veranschlagte für ein großes Ex­ finsternisse nur bei neumond, Mondfinsternisse nur bei Voll-
emplar im Konglomerat des Hauptfragments 222 Zähne, mond, was die Kalkulation des genauen Tages ermöglicht. Eine
Wright und Edmunds hingegen 223. Dies war wohl das Anleitung nach Art heutiger »Manuals« hätte wie nebenste-
Hauptrad des Saros­Uhrwerks. Ich überlegte, welche Kompo­ hend lauten können.
nenten ihr Werk noch benötigte, und entdeckte eines nach
dem anderen – bis auf ein kleineres Exemplar, das meinen
Berechnungen nach über 27 Zähne verfügt haben musste.
Doch nun stellte sich ein neues Problem. De Solla Price kleinere Kreise, die ihrerseits auf den großen abrollten und
hatte auf dem großen Saros­Rad zwei Lager für kleinere an denen die Himmelskörper befestigt waren. Während also
Zahnräder identifiziert, die wiederum jedes ein weiteres Rad der Mond gemäß dieser Theorie insgesamt eine große Kreis­
antrieben. Dass die Griechen solche »epizyklischen Mechani­ bewegung um die Erde vollzog, hätte er gleichzeitig auch
ken« ersonnen hatten, wäre schon erstaunlich, denn Ver­ kleinere Umläufe vollführt.
gleichbares wurde erst 1500 Jahre nach dem Untergang des Das Ergebnis hätte den Beobachtungen der antiken Astro­
Schiffs vor Antikythera wieder entwickelt. Nicht minder ver­ nomen durchaus entsprochen: Der Trabant veränderte auf
wunderlich war, dass die vier Räder über jeweils 50 Zähne seiner Bahn kontinuierlich die Geschwindigkeit. Erst Johan­
verfügten. Welchen Sinn aber sollte eine daraus resultieren­ nes Kepler (1571 – 1630) erkannte die wahren Gründe dafür:
de Übersetzung von 1 machen? dass nicht Kreise, sondern Ellipsen unser Sonnensystem be­
Nach Monaten fruchtloser Überlegungen erinnerte ich herrschen (1. keplersches Gesetz) und dass der Fahrstrahl ei­
mich einer Anmerkung Wrights: Eines der beiden auf dem Sa­ nes Himmelskörpers in gleichen Zeiten gleiche Flächen über­
ros­Rad gelagerten, also epizyklischen Räder habe über einen streicht (2. keplersches Gesetz), weshalb sich der Mond in Erd­
Stift in einen Schlitz gegriffen, der sich in einem weiteren Rad nähe (dem Perigäum) schneller auf seiner Bahn bewegt als im
befand. Gesetzt den Fall, die so miteinander gekoppelten erdfernsten Punkt (dem Apogäum). Auch wenn die Astrono­
Zahnräder hätten sich nicht um die gleiche Achse gedreht, men des Altertums solche Zusammenhänge nicht verstehen
sondern um zwei kaum mehr als einen Millimeter gegenein­ konnten, waren ihnen die resultierenden Phänomene be­
ander versetzte. Dann wäre der Drehwinkel des Rads, das kannt. Dem trugen die epizyklischen Zahnräder Rechnung.
nicht direkt, sondern über den Stift angetrieben wurde, nicht Betrachtet man nämlich die Antriebskette des Uhrwerks
konstant gewesen. Oder konkreter: Rotierte das erste Zahnrad vom kurbelbetriebenen Hauptrad, dessen volle Umdrehung
mit konstanter Geschwindigkeit, drehte sich das zweite Mal einem Jahr entspricht, bis zum ersten der epizyklischen
geringfügig schneller, mal etwas langsamer mit. 50­Zähne­Räder, ergibt sich eine Übersetzung von 254/19.
Wright hatte das überlegt, aber wieder verworfen, doch Das aber ist die mittlere Länge eines siderischen Monats im
ich war mir sicher, dass der Erfinder des Antikythera­Mecha­ Meton­Zyklus. Diese Drehzahl wurde nun auf das zweite epi­
nismus auf genau diese Weise eine periodisch variierende zyklische Rad übertragen. Es gab sie an das dritte weiter, je­
Geschwindigkeit erreichen wollte. Sein Ziel war es, gemäß doch variiert durch den Nadel­Schlitz­Mechanismus. Das
der fortschrittlichsten Theorie seiner Zeit die Bewegung des nun mal schneller, mal langsamer rotierende Rad trieb Num­
Monds zu modellieren. Gelehrte wie Hipparch von Nikaia mer vier an, und das verstellte eine Mondphasen­Anzeige so­
postulierten im 2. Jahrhundert v. Chr. so genannte Epizyklen: wie einen Zeiger auf dem Tierkreis­Ziffernblatt der Vorder­

18  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Meton-Uhr
Mondzeiger

Datumsanzeige

Sonnenzeiger

Saros-Uhr

GRIFF WAson und Tony FREETh


Einstellen des Datums Berechnung des Monats Berechnung des Tags
Drehe den Apparat, so dass du auf die Drehe die Kurbel nun so lange, bis der zeiger Um auch den Tag zu ermitteln, richte Mond- und Son-
Rückseite schaust. Wähle den aktuellen des Saros-Uhrwerks laut Beschriftung des nenzeiger mit der Kurbel so aus, dass sie übereinander-
Monat und das Jahr auf dem Meton- ziffernblatts auf eine Finsternis weist. Die stehen (für eine Sonnenfinsternis) oder um 180 Grad
Kalender (oben) mittels Kurbel. Wie Beschriftung gibt Auskunft über Monat und versetzt sind (für eine Mondfinsternis). Der zeiger auf
du siehst, bewegt sich dabei auch der Tageszeit sowie darüber, ob es sich um eine dem ägyptischen Kalender (Vorderseite) dreht sich
zeiger des Saros-Uhrwerks (unten). Sonnen- oder Mondfinsternis handelt. entsprechend mit und gibt den Tag der Finsternis an.

seite. All das erforderte enorme feinmechanische Fertigkei­


ten, zumal manche Achsen mittels Röhren durch andere
Räder hindurchgeführt werden mussten.
Ans Licht gebracht
Doch damit wäre diese Uhr noch nicht korrekt gelaufen,

© 2005 AnTIKyThERA MEChAnIsM REsEARCh PRoJECT / hEWlETT-PACKARd (dATEn)


denn die astronomischen Verhältnisse sind verzwickter: Apo­
gäum und Perigäum bleiben nicht auf ihren Positionen, weil
die Achse des Mondorbits im Schwerefeld der Sonne rotiert.
Die babylonischen und griechischen Astronomen gewahrten
deshalb nicht nur scheinbar Richtungswechsel des Monds,
dieser benötigte offenbar auch etwas länger für einen Umlauf
zwischen zwei Perigäen verglichen mit der Anzahl von Tagen,
Stunden und Minuten, um relativ zum Fixsternhimmel wie­
der dieselbe Position zu erreichen. Der Unterschied zwischen
den Umläufen des längeren »anomalistischen« und des side­
rischen Monats beträgt pro Jahr 0,112579655 Rotationen.

Ein Zahnrad mit 26,5 Zähnen?


Hatte der geniale Konstrukteur auch jenes Phänomen be­ Die »Polynomial Texture Map« ist eine von Hewlett-Packard-
rücksichtigt? Sicher kam es nicht von ungefähr, dass er das Forschern entwickelte Form der Oberflächenfotografie. In-
epizyklische Getriebe auf dem 223­Zähne­Rad der Saros­Peri­ dem ein Objekt aus verschiedenen Richtungen ausgeleuch-
ode montiert hatte. Schließlich entsprechen deren gut 18 Jah­ tet wird und die Richtungsabhängigkeit des sich ergeben-
re 223 synodischen, aber auch 239 anomalistischen Monaten. den Bilds in die Pixelmatrix eingeht, lassen sich auch feinste
Hier bot sich eine Möglichkeit, die verschiedenen Mondperi­ Details sichtbar machen. So wurden auf einem der kleineren
oden zu verknüpfen. Offenbar hatte der Erfinder des Appa­ Fragmente eine Reihe von Inschriften deutlich lesbar: »19
rats Meton­ und Saros­Periodisierung miteinander gekop­ Jahre«, »76 Jahre« und »223«. zwar hatte einer der Pioniere
pelt, doch das Wie bereitete mir Kopfzerbrechen. Denn wenn der Erforschung des Mechanismus, Derek J. de Solla Price, die
mein Modell des Saros­Werks stimmte, bewegte sich das beiden ersten Texte schon erkannt, über den letzten aber
223­Zähne­Rad für das epizyklische Getriebe um genau den herrschte Unsicherheit.
minimalen Unterschied zwischen siderischem und anoma­

www.SPEKtruM.DE 19
Das Räderwerk der fünf Planeten
Linie

Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn – die in der Antike bekann-
ten Planeten werden auf einer 2012 durch den amerikanischen His-
toriker Alexander Jones entzifferten Inschrift genannt (rot unter-
legt: ihre griechischen namen sowie der Begriff Kosmos). Dem Text

©2012 AnTIKyThERA MEChAnIsM REsEARCh PRoJECT / AlEXAndER JonEs


zufolge gab es auf der Vorderseite des Apparats eine entsprechen-
de Uhr. Der Autor nimmt an, dass für die drei großen Planeten die
im Artikel beschriebene epizyklische Getriebetechnik der Mondbe-
rechnung zum Einsatz kam, was tragende Strukturen und Lager
auf dem Hauptrad erklären würde (mittleres Bild). Merkur und Ve-
nus hingegen laufen für einen Beobachter auf der Erde im kons-
tanten Winkelabstand zur Sonne und waren daher wohl direkt auf
dem Hauptrad untergebracht (rechts die modellierte Planetenuhr,
entsprechend antiken Gepflogenheiten könnten Halbedelsteine
und Obsidian für die Kugeln verwendet worden sein).

Dann erinnerte ich mich, dass Wright in seiner Beschrei­


bung des Meton­Getriebes zwei Räder mit je 53 Zähnen er­
Inschriften wähnt hatte. Das hatte für mich damals keinen Sinn ergeben,
mir schienen 54 Zähne wahrscheinlicher. Nun aber verstand
ich: Das Produkt aus 54 und 26,5 entspricht dem Produkt aus
53 und 27. Indem der Konstrukteur Meton­Zyklus und Saros­
Periode über das 27­Zähne­Rad gekoppelt hatte, war es ihm
gelungen, die Drehrate des großen Saros­Rads um genau den
minimalen Betrag zu drosseln, der erforderlich war, um in
dem darauf epizyklischen Getriebe den anomalistischen Mo­
nat zu modellieren.

© 2005 AnTIKyThERA MEChAnIsM REsEARCh PRoJECT /


Elegante Technik
X-TEK sysTEMs (dATEn) / voluME GRAPhICs (soFTWARE)
29 der erhaltenen 30 Zahnräder dienten unseren Forschun­
Mit bloßem Auge war auf diesem Fragment nur das Wort gen nach der Berechnung von Sonnen­ und Mondzyklen, die
»ELIKI« (oben links), griechisch für Spirale, erkennbar. Die Funktion des 30. ist unklar. Es könnte zu einem verloren ge­
Röntgenaufnahme machte weiteren Text sichtbar: »235 Un- gangenen Mechanismus zur Planetenberechnung gehören:
terteilungen der Spirale.« Dies bestätigt die Annahme, dass Inschriften auf der Vorderseite legen nahe, dass der ur­
die betreffende Uhr Berechnungen gemäß des 235 Mond- sprüngliche Apparat wohl auch die Auf­ und Untergänge von
monate umfassenden Meton-zyklus vornehmen sollte und Planeten – Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn waren in
spiralförmig angeordnet war. der Antike schon bekannt – sowie besonderer Sterne kalku­
lierte. Darüber hinaus gibt es auch Überreste von Achslagern
auf dem kurbelgetriebenen Hauptrad (siehe »Das Räderwerk
listischem Monat zu schnell. Nun hatte ich, wie erwähnt, für der fünf Planeten«, oben). Dieses nicht mehr erhaltene epizy­
das Saros­Uhrwerk ein kleines Element mit 27 Zähnen postu­ klische System erfasste vielleicht analog der Mondphasenbe­
liert, welches das große Rad direkt angetrieben haben muss. rechnung die Variationen der Planeten­ und Sonnenbahn
Also verringerte ich die Zahl seiner Zähne auf 26. Nun lief das auf der Ekliptik.
große Rad zu langsam, der Unterschied zwischen sideri­ Wie viele Zahnräder dafür zusätzlich benötigt wurden,
schem und anomalistischem Monat wurde zu groß. Wäh­ lässt sich kaum abschätzen. Schon de Solla Price wusste von
rend eines Flugs nach Athen versuchte ich es spaßeshalber den uns bekannten 30 Stück, zudem identifizierten er und
mit 26,5, auch wenn das keinen Sinn zu machen schien – und Wright ein weiteres in einem der großen Fragmente. Nach
erhielt bis zur neunten Stelle hinter dem Komma die richtige den neuesten Daten handelt es sich dabei aber lediglich um
Zahl. Ich saß aufrecht in meinem Sitz, als hätte mich ein elek­ ein abgebrochenes Stück jenes Rads, dessen Bedeutung sich
trischer Schlag getroffen – das konnte kein Zufall sein! uns noch entzieht. Wright entwarf ein komplettes System für

20  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Jupiter
Mond Mars
Saturn

©2012 AnTIKyThERA MEChAnIsM REsEARCh PRoJECT


Venus

©2012 Tony FREETh, IMAGEs FIRsT


Merkur Sonne

die mutmaßliche Berechnung der fünf Planeten und der An­ Rätsel über Rätsel. Darunter mag dieses das größte sein:
omalien in der Sonnenbahn. Dazu benötigte er aber 40 wei­ Warum wurde eine derart ausgetüftelte Technologie offen­
tere Räder. Angesichts des Einfallsreichtums, mit dem der bar so wenig genutzt, dass sie wieder in Vergessenheit geriet?
unbekannte Konstrukteur die verschiedenen Getriebe aufge­ Einmal ganz abgesehen davon, dass der Mechanismus von An­
baut und verkoppelt hatte, erscheint mir diese Annahme tikythera nicht nur eine raffinierte Konstruktion war, die
aber deutlich zu hoch. Kenntnisse der Astronomie und der Mathematik erforderte,
Unser derzeitiges Modell arbeitet mit 55 Zahnrädern und sondern darüber hinaus auch eine enorm entwickelte Fein­
umfasst neben den beschriebenen Funktionen auch drei Rä­ mechanik voraussetzte. De Solla Price schrieb 1959 in »Sci­
der für eine Variante des Meton­Zyklus. Der eignet sich gut, entific American«: »Es ist ein wenig beängstigend, dass die al­
um die Länge des Sonnenjahrs mit dem Mondmonat ab­ ten Griechen kurz vor dem Fall ihrer großartigen Zivilisation
zugleichen. Der Astronom Kallippos von Kyzikos entdeckte unserer heutigen Zeit so nahe gekommen waren – nicht nur
im 4. vorchristlichen Jahrhundert, dass sich der dabei ent­ in ihrem Denken, sondern auch in ihrer wissenschaftlichen
stehende Fehler verringert, betrachtet man vier Meton­Zyk­ Technik.« Und dabei kannte de Solla Price noch nicht einmal
len, also 76 Jahre, und zieht einen Tag davon ab. Wright hatte die volle Wahrheit.  Ÿ
bereits in dem Fragment, welches das Meton­Ziffernblatt
enthält, noch ein kleineres entdeckt, das in vier Quadranten der autor
eingeteilt war. Zwar konnten wir inzwischen zeigen, dass es
der promovierte Mathematiker und dokumen-
nicht zum Kallipischen Zyklus, sondern zum Olympiade­
tarfilmer Tony Freeth forscht seit vielen Jahren
Uhrwerk gehörte, doch eine Inschrift »76 Jahre« legt die über den Antikythera-Mechanismus. Er ist Ge-
Annahme nahe, dass der Trick des Kallipos tatsächlich im schäftsführer der Film- und Fernsehgesellschaft
Imaging First, die eine dokumentation über den
Antikythera­Mechanismus umgesetzt worden ist.
Mechanismus drehte.
Um auch die Sonnenanomalien sowie die Bahnen von
Merkur, Venus und Mars zu berechnen, benötigt man mei­
nes Erachtens nur acht weitere Zahnräder. Inzwischen ist es literatur
mir gelungen, auf Grundlage der vorliegenden Maschine
auch Kalkulationen zu Jupiter und Saturn auf elegante Weise, Freeth, T., Jones, A.: The Cosmos in the Antikythera Mechanism. In:
IsAW Papers, 2012
also mit wenigen Ergänzungen, zu modellieren (siehe oben). De Solla Price, D. J.: Gears from the Greeks: The Antikythera
Offen bleibt die Frage, woher der Mechanismus eigentlich Mechanism – A Calendar Computer from ca. 80 b.C. In: Transactions
kam und wer ihn entworfen hat (siehe Kasten S. 14). Einige of the American Philosophical society 64, s. 1 – 70, 1974
Monatsnamen des Meton­Kalenders waren nur in Korinth
und seinen Pflanzstädten gebräuchlich. Möglicherweise wur­ Weblink
de der Mechanismus also in Syrakus auf Sizilien gefertigt und diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden sie im
stand in einer von dem griechischen Erfinder Archimedes be­ Internet: www.spektrum.de/artikel/1026691
gründeten Schule des Instrumentenbaus.

www.SPEKtruM.DE 21
KELtEN

Heiliger

museum Keltenwelt am GlauberG


Pavel OdvOdy, mit frdl. Gen. vOm
Mond
astronomie stand bei den alten Kelten
hoch im Kurs. vermutlich beeinflussten
sogar die »Großen mondwenden« die
ausrichtung von Gräbern und Kultanlagen.

Von Allard Mees und Bruno Deiss

»I
hre Hauptlehre ist, die Seele sei nicht sterblich, sondern mern als »Gallia« bezeichneten Raums. Sein Interesse an ih­
gehe von einem Körper nach dem Tod in einen anderen rer Astronomie hatte auch professionelle Gründe: Cäsar be­
über, und sie meinen, diese Lehre sporne besonders zur kleidete damals das Staatsamt des Pontifex maximus und
Tapferkeit an, da man die Todesfurcht verliere. Auch war in dieser Funktion unter anderem für den römischen Ka­
sprechen sie ausführlich über die Gestirne und ihre Bewe­ lender zuständig. Seine Anmerkungen zur Beschäftigung der
gungen, über die Größe der Welt und Länder.« Im sechsten Druiden mit der Astronomie bestätigen aus heutiger Sicht
Buch von »De Bello Gallico«, seinem Rechenschaftsbericht die Notizen anderer römischer und auch griechischer Auto­
für den römischen Senat, befasste sich Gaius Julius Cäsar ren der Antike.
nicht nur mit kriegsrelevanten Themen wie dem gefürchte­ Die Kelten selbst haben kaum Schriftzeugnisse hinterlas­
ten Todesmut gallischer Krieger, sondern er schilderte auch sen. Was durchaus nicht selbstverständlich ist, denn sie stan­
andere Aspekte der spätkeltischen Kultur des von den Rö­ den jahrhundertelang in intensivem kulturellem Austausch
mit den Schriftkulturen des Mittelmeerraums. Dazu liefert
der Feldherr eine mögliche Erklärung: »Es ist nämlich streng
auf einen blick verboten, ihre Lehre aufzuschreiben, während sie in fast al­
len übrigen Dingen, im öffentlichen wie im privaten Verkehr,
SoNNE,MoNDuNDStErNE die griechische Schrift verwenden. Sie wollen ihre Lehre
nicht in der Masse verbreitet sehen und zudem verhindern,
1 Die Beobachtung der Gestirne, insbesondere des Mondes,
spielte in der spätkeltischen Kultur eine wichtige Rolle. Das
berichten römische und griechische Quellen.
dass die Zöglinge im Vertrauen auf die Schrift ihr Gedächtnis
zu wenig üben.«
Tatsächlich fanden keltische Stämme von der spanischen
2 Archäologische Befunde zu frühkeltischen Grabanlagen zeigen,
dass dieses Interesse bereits Jahrhunderte zuvor bestand. So
waren wichtige Achsen auf bestimmte Mondaufgangspunkte am
Halbinsel bis nach Anatolien die griechische und lateinische
Schrift mitunter durchaus passend – für kurze Texte wie
Horizont ausgerichtet worden.
Gesetze oder Grabinschriften. Doch selbst diese Praxis war

3 Archäoastronomen haben experimentell Möglichkeiten ent-


deckt, wie dies ohne aufwändige Mathematik zu bewerk-
stelligen war: mit nicht mehr als einem Brett und astronomischem
vermutlich nicht weit verbreitet, denn es sind nur wenige
Beispiele erhalten.
Grundwissen. Hüter allen Wissens waren die Druiden, die ihre Kennt­
nisse in religiösen Dingen ebenso wie in astronomischen

22  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
rainer sParenberG / westfälische vOlKssternwarte und Planetarium recKlinGhausen
Die Gestirne spielten eine große Rolle in der
Religion der Kelten. Auch die Ausrichtung der
»Prozessionsstraße« am Grabhügel des
Fürsten vom Glauberg (links eine dort gefundene
Steinstatue) war offenbar genau geplant.

Belangen mündlich weitergaben. Nach heutiger Kenntnis Vermutlich stand die Astronomie auch bei den Kelten in
handelte es sich dabei nicht um Misteln schneidende Scha­ einem religiösen Zusammenhang. Ihre Feste feierten sie laut
manen, sondern um speziell ausgebildete Mitglieder der dem im 1. Jahrhundert v. Chr. lebenden Chronisten Diodorus
Oberschicht, die neben ihrer sakralen Funktion auch politi­ Siculus unter anderem in einem 19­Jahres­Rhythmus, immer
sche Ämter innehaben konnten. wenn der Vollmond seinen tiefsten Stand im Süden hatte.
Der griechische Philosoph Poseidonios von Apameia, der Das muss nicht überraschen, denn in der Antike waren
im 2. Jahrhundert v. Chr. keltische Gebiete bereiste, schrieb Mondkalender verbreitet, da sich die Zyklen des Erdtraban­
über sie: »Bei ihnen herrscht die Lehre des Pythagoras, dass ten leicht beobachten ließen. Allerdings ist das zwölf Mond­
die Seelen der Menschen unsterblich seien.« Für diesen Im­ monate umfassende Jahr um elf Tage kürzer als das Sonnen­
port einer griechischen Geistesschule spielte aber wohl nicht jahr, was auf lange Sicht Korrekturen erforderlich macht,
allein ihr Glaube an ein Leben nach dem Tod eine Rolle: »Die weil sich sonst die Jahreszeiten im Kalender verschieben.
Kelten ehren die Druiden als Propheten und Seher, weil sie Für einen Astronomen der Antike stand die Erde im Zen­
ihnen aus Ziffern und Zahlen mittels pythagoräischer Wis­ trum des Kosmos. Über ihm wölbte sich die Himmelskuppel
senschaft manches voraussagen«, überlieferte der Kirchen­ auf einer vom Horizont allseitig begrenzten Scheibe. Auf ihr
vater Hippolyt im 2. Jahrhundert n. Chr. vollzog sich Tag für Tag und Nacht für Nacht ein wunderbares
Schauspiel: Die Sonne, der Mond, die Sternbilder und Plane­
Der heilige Zyklus des Mondes ten gingen am östlichen Horizont auf und wanderten über
Heutzutage mag das überraschen, gilt der im 6. Jahrhundert das Firmament, um dann im Westen wieder unterzugehen
v. Chr. lebende Pythagoras doch eher als Pionier der Mathe­ (siehe Grafik S. 24). Die Gründe dieser Bewegungen erkannten
matik; sein Lehrsatz über rechtwinklige Dreiecke ist aus der erst die Gelehrten der Renaissance: Die Erde dreht sich um
Geometrie nicht wegzudenken. Sehr wahrscheinlich war er die eigene Achse sowie um die Sonne, die Erdachse steht zur
aber auch Begründer einer religionsartigen Weltanschau­ Ebene dieses Umlaufs aber nicht senkrecht, was die Jahreszei­
ung, die Seelenwanderung und Wiedergeburt lehrte. Pytha­ ten hervorruft. Ohne das Warum zu kennen, registrierten die
goras sah darin – so die Legende – Analogien zu den Zyklen frühen Astronomen das Wie: Während jeder Stern und jedes
des Kosmos, die er eingehend erforschte, möglicherweise Sternbild jahrein, jahraus seinen festen Aufgangsort am öst­
sogar anhand jahrhundertealter Aufzeichnungen babyloni­ lichen Horizont hat, variieren die Aufgangsorte von Sonne
scher Priester (siehe Foto S. 24). und Mond innerhalb eines Jahres beziehungsweise Monats.

www.SPEKtruM.DE 23
Ein keltischer Astronom, der um 500 v. Chr.
zur Zeit der Sommersonnenwende den
südlichen Nachthimmel beobachtete, hätte
dieses Sternenmuster gesehen. Planeten,
Sonne und Mond schienen sich von der Erde
p tik ð23,5º
aus betrachtet entlang eines schmalen Ekli
Bands durch die Sternbilder zu bewegen.
r
lsäquato
Dessen Mittellinie – die Ekliptik – entspricht Himme
dem Jahreslauf der Sonne vor dem Fix­
sternhintergrund. Im Sommerhalbjahr liegt O W
sie oberhalb, im Winterhalbjahr unter­ S
halb des Himmelsäquators. Welche Stern­
bilder die Kelten kannten, wissen wir

allard mees
nicht. Die hier dargestellten entsprechen
unseren heutigen Vorstellungen.

Ein aufmerksamer Betrachter erkannte in dieser Bewe­ ler, nach dem heutigen Kalender etwa innerhalb eines Mo­
gung eine gleichmäßige Schwingung entlang des Horizonts nats, doch die genaue Lage der beiden Wendepunkte variiert.
(siehe Grafik rechte Seite). Die Sonne vollführt sie im Jahres­ So gibt es Jahre, in denen sie eng beieinanderbleiben, und an­
rhythmus zwischen Sommer­ und Wintersonnenwende, dere, in denen der Mond noch weiter südlich beziehungswei­
wenn sie die höchste beziehungsweise niedrigste Mittags­ se nördlich aufgeht als die Sonne.
höhe erreicht. Der Aufgangsort des Mondes pendelt schnel­ Aber auch diesem scheinbar unsteten Verhalten des
Mondes liegt ein Rhythmus zu Grunde. Alle 18,61 Jahre – in
der antiken Lehre alle 19 Jahre – wiederholt sich dieser Zyk­
lus, und der Mond erreicht die Aufgangsorte geringster Dis­
tanz, Kleine Mondwenden genannt, beziehungsweise seinen
nördlichsten und südlichsten Aufgangsort, heute als Große
Nördliche und Südliche Mondwende bezeichnet. Diese sind
besonders auffällig, denn in einem solchen Jahr zieht der
Sommervollmond eine auffällig flache Bahn am Nachthim­
mel und scheint nur eine gute Hand breit über dem Horizont
zu stehen. Der Hinweis Diodors über die im 19­Jahres­Takt
stattfindenden Feierlichkeiten bezeugt, dass spätkeltische
Kulturen dies als besonderes Himmelsereignis ansahen.

Mondwenden und Hügelgräber


Galt das auch schon in früherer Zeit, als keltische Höhensied­
lungen im mitteleuropäischen Raum zu »Fürstensitzen«
ausgebaut wurden (siehe Spektrum der Wissenschaft 6/2013,
S. 64)? Da über diese Kulturphase nur wenige, dazu kurze
the trustees Of the british museum

und nicht konsistente Berichte erhalten sind, vermag hier


lediglich die Archäologie Hinweise zu liefern.
Vor zehn Jahren fiel einem von uns (Deiss) die Orientierung
der so genannten Prozessionsstraße auf, die zum Fürstengrab
vom Glauberg bei Frankfurt führt: Angelegt im 4. Jahrhun­
dert v. Chr., ziehen zwei parallele Gräben auf etwa 300 Meter
Länge schnurgerade hinauf zur Grabstätte. Blickt man um­
gekehrt vom Monument entlang dieser Linie zum Horizont,
Astronomische Beobachtungen babylonischer Priester (hier eine trifft ihre Verlängerung den südlichsten Aufgangspunkt des
Tontafel von 687 v. Chr. zur Pendelbewegung des Mondes um Mondes zu Zeiten der Großen Mondwende (siehe Foto rechts).
die Ekliptik) waren griechischen Gelehrten vertraut. Wohl von Auch eine Anlage unterhalb des Fürstensitzes auf dem
diesen gelangte das Wissen bis zu den Kelten. Mont Lassois, einem landschaftsbeherrschenden Bergrücken

24  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Der Aufgangsort von Sonne und
Mond pendelt zwischen extremen
Positionen. So werden die Großen
Mondwenden etwa alle 19 Jahre
erreicht.

N
allard mees und Katja hölzl

Große Nördliche Mondwende Große Südliche Mondwende


Sommersonnenwende Wintersonnenwende
Kleine Nördliche Mondwende Kleine Südliche Mondwende
W

am Oberlauf der Seine, ist so ausgerichtet. Im 6. Jahrhundert Dies ist kein Einzelfall: Dieselben geometrischen Struktu­
v. Chr., während der späten Hallstattzeit, waren dort Gräben ren lassen sich auch bei kleineren Grabanlagen nachweisen.
ausgehoben worden, die ein etwa 24 mal 25 Meter großes So zielten die Tumuli von Courtesoult im Burgund und von
Rechteck bildeten. Darin wurden Teile von zwei Göttersta­ Dattingen beim badischen Kaiserstuhl auf die Großen Mond­
tuen gefunden. Zudem war diese Anlage Teil einer ausge­ wenden, der Grabhügel beim burgundischen Bressey auf die
dehnten Nekropole nahe dem Fluss. Ihr sakraler Charakter ist Kleinen. Ebenfalls auf die Großen Mondwenden orientiert
also sehr wahrscheinlich, daher nennen Forscher sie Heilig­ scheinen die Ecken der Grabkammer des berühmten Fürs­
tum. Nach Untersuchungen von Bruno Deiss weisen Achse tengrabs von Hochdorf nördlich von Stuttgart zu sein.
und die durch den Eingang vorgegebene Blickrichtung wie­ Doch damit nicht genug. Allard Mees hat vor wenigen Jah­
der zum Aufgangsort der Großen Südlichen Mondwende hin. ren die räumliche Anordnung der Gräber im Tumulus von
Dass es sich dabei nicht um Sonderfälle handelt, zeigt eine Villingen­Schwenningen mit dem Sternenhimmel zur Som­
Überprüfung verschiedener Grabhügel von einem von uns mersonnenwende vor 2600 Jahren verglichen, wie er sich
(Mees). Ein markantes Beispiel ist der mehr als 100 Meter mit Hilfe astronomischer Programme berechnen lässt. Zu
durchmessende Magdalenenberg­Tumulus bei Villingen­ dieser Zeit stand der Vollmond tief, wie es Diodorus erwähnt
Schwenningen, der aus dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. hat. Außerdem wären den Berechnungen zufolge Sternbil­
stammt. In den 1970er Jahren haben Archäologen ihn Schicht der, die Autoren der Mittelmeerkulturen namentlich er­
für Schicht abgetragen. Dabei entdeckten sie etliche massive wähnt haben, im Muster der Grablegungen vertreten. Aller­
Holzstangen. Diese waren ursprünglich so aufgestellt wor­ dings nicht mit 100­prozentiger Genauigkeit: Der Drache
den, dass sie nach der Aufschüttung des Grabhügels aus ihm und der Kleine Bär etwa hätten damals im Zenit gestanden,
herausragten. Die Grabungsdokumentation ist hier leider
etwas ungenau, doch anscheinend liefen die Stangenreihen
brunO deiss; Kleines fOtO: vera ruPP

auf die Großen und Kleinen Wendepunkte des Mondes am


Horizont zu.
Im Fluchtpunkt dieser Linien beziehungsweise im Zentrum
des Tumulus hatte man einen Fürsten beigesetzt, erkennbar
an den reichlichen, kostbaren Beigaben, die um das Skelett des
Mannes herum zu Tage kamen. Darüber hinaus enthielt der
künstliche Hügel weitere 126 Gräber, die laut dendrochrono­
logischer Datierung der Holzüberreste von 616 bis 593 v. Chr.
angelegt worden waren. Ihre Ausrichtung überraschte: Die
Körper waren so bestattet worden, dass sie auf konzentrischen
Kreisen um das Zentralgrab lagen, in der einen Hügelhälfte
aber so, dass die Linie Füße­Kopf dem Uhrzeigersinn folgte, in
der anderen umgekehrt. Die Kopfrichtungen definierten also
zwei Halbkreise. Deren Trennlinie traf in der Verlängerung Die »Prozessionsstraße« vom Glauberg (siehe Einklinker) trifft den
den Horizontpunkt der Kleinen Südlichen Mondwende. Aufgangspunkt der Großen Südlichen Mondwende (Sommer 2006).

www.SPEKtruM.DE 25
Experimentelle Archäoastronomie
Wie sicher darf man sein, dass die Erbauer eines prähistori- dernorts wieder anwenden lassen, allerdings je nach Breiten-
schen Monuments wirklich beabsichtigten, es nach einer be- grad mit wachsendem Fehler. Hätten die Planer der Glauberg-
stimmten Himmelsrichtung zu orientieren? Im Einzelfall lässt Prozessionsstraße etwa Beobachtungen aus Südfrankreich
sich eine zufällige Übereinstimmung nur selten ausschließen, übernommen, wäre der von ihnen ermittelte Horizontpunkt
mehrere vergleichbare Befunde sprechen jedoch für ein durch- um knapp drei Grad zu weit nördlich gelegen. Weil ihr Fehler
gängiges Konzept. Eine Abweichung von plus oder minus ei- aber unter einem Grad liegt, wurden die Positionen – falls diese
nem Grad gilt Experten noch als akzeptabel. Methode zum Einsatz kam – offenbar doch vor Ort ermittelt.
Doch wie genau war eine astronomisch bedeutsame Rich-
tung überhaupt mit den Mitteln der Zeit zu bestimmen? Stand Anspruchsvoller hinsichtlich der astronomischen Kenntnisse,
der Sonnenaufgang im Fokus wie etwa vor gut 7000 Jahren jedoch ebenso einfach in der Durchführung wäre eine Methode
bei der Kreisgrabenanlage beim heutigen Goseck in Sachsen- gewesen, welche die so genannte Ekliptik einbezieht. Das ist
Anhalt, war die Aufgabe vergleichsweise einfach: Der entspre- jene Linie, auf der die Sonne während eines Jahres vor dem Fix-
chende Ort am Osthorizont ändert sich von Tag zu Tag nur we- sternhimmel entlangwandert – aus Sicht eines Astronomen
nig, und zur Zeit einer Sonnenwende bleibt er für zirka acht auf der Erde. Den Mond erblickt er zeitweise oberhalb, dann
Tage konstant. wieder unterhalb davon. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert v.
Der Mond aber geht auf Grund seines schnellen Erdumlaufs Chr. wurde dessen Pendelbewegung um die Ekliptik beobach-
von einem zum nächsten Mal an einer um mehrere Grad ver- tet, wie eine Liste in einem assyrischen Tontafelarchiv doku-
schobenen Stelle auf. Deren südlichste Position – der Punkt der mentiert (siehe Bild S. 24). Darin waren jene Sterne notiert wor-
Großen Mondwende – wird nur etwa alle 19 Jahre erreicht, und den, die der Mond dabei erreichte und die somit die Breite der
vielleicht ausgerechnet an diesem Abend bei wolkenverhange- Schwingungszone markierten.
nem Himmel. Experten schätzen, dass die Dokumentation von Nun rührt der Horizontabstand zwischen den Sonnen- und
zehn solcher großen Zyklen, also Beobachtungen aus fast zwei den Mondwendepunkten von ebendieser Pendelbewegung.
Jahrhunderten, erforderlich gewesen wären, um eine Anlage Ein keltischer Astronom, der über entsprechende Kenntnisse
wie den Grabhügel von Villingen-Schwenningen auf die Mond- verfügte, wäre daher zur Wintersonnenwende in der Lage ge-
wenden auszurichten. wesen, auch den Wendepunkt des Mondes zu finden: Die Eklip-
Daher suchen wir derzeit nach Tricks und Kniffen, das Kunst- tik liegt nahe Regulus, dem hellsten Gestirn im Löwen, während
stück auch in einem kürzeren Zeitraum zu vollbringen. So liegt der Stern η in diesem Sternbild die Breite der Schwingungszone
etwa der Aufgangsort des Mondes zum fraglichen Zeitpunkt markiert. Mit Hilfe dieser Entfernung konnte man ein einfaches
ein wenig südlich von einem einfacher zu bestimmenden Auf- Brett entsprechender Breite herstellen. Es hätte nun genügt,
gangsort: dem der Sonne zur Wintersonnenwende (siehe linke die aufgehende Wintersonne anzupeilen und den Horizont-
Grafik unten). Hätte man beide irgendwo in der keltischen Welt punkt der Großen Südlichen Mondwende zu ermitteln (siehe
bestimmt, wäre es leicht gewesen, ihren Abstand auf den rechtes Bild unten). Über mehrere Wintersonnenwenden hin-
Nachthimmel zu projizieren und zwei Sterne in der entspre- weg wäre der so recht genau zu bestimmen gewesen – und das
chenden Distanz zu finden. Dieses Wissen hätte sich dann an- in einer Zeit ohne Teleskope und Winkelmesssysteme.
beide GrafiKen: brunO deiss, allard mees und Katja hölzl

Sch breit bahn

Sonne Leo
Aufgang
w a e de

Aufgang
Mo

Winter-
nku r

Große Südliche
nd

sonnenwende
Mondwende
ng
s-

Regulus

lip tik)
(Ek
b ahn
Praktische Methode zur Bestimmung des Mondaufgangs­ nen
S on
punktes zur Großen Südlichen Mondwende: Mit dem Brett
wird sowohl die aufsteigende Sonne als auch der Winter­ Die Abweichungszone der Mondbahn (grau) von der Ekliptik.
sonnenwendepunkt angepeilt. Dort, wo die untere Ecke den Der Abstand zwischen den Sternen Regulus und η Leonis ist
Horizont berührt, liegt der gesuchte Mondaufgangspunkt. ein Maß für die größtmögliche Abweichung.

26  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
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allard mees, reKOnstruKtiOn nach meyer-Orlac, r.: einiGe erwäGunGen zu den stanGensetzunGen

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im maGdalenenberG. in: archäOlOGische nachrichten aus baden 31, s. 12–21, 1983, abb. 1

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126 Menschen waren um einen keltischen
li c
he
Fürsten im Grabhügel Magdalenenberg
M
bestattet worden – in einer Anordnung ent­ on
dw
sprechend antiken Sternbildern. en
de

wurden aber sozusagen zum Rand hin verschoben (siehe di e autoren


Grafik oben). Das geschah wohl, um das Zentralgrab nicht zu
stören. Exaktheit in unserem modernen Sinn war vermut­ Bruno Deiss (links) lehrt an der
lich ohnehin nicht das Ziel dieser Abbildung des Firmaments, johann wolfgang Goethe-uni-
versität in frankfurt am main
sie hatte eher eine symbolische Funktion. und ist direktor des »Physikali-
Mit dem archäologisch nachweisbaren Austausch von schen vereins – Gesellschaft
Waren zwischen keltischen Stämmen und mediterranen für bildung und wissenschaft«.
Gemeinsam mit dem archäo-
Hochkulturen war sicher auch ein Ideenimport verbunden. logen Allard Mees (rechts) vom
Umgekehrt können griechische und römische Autoren Hin­ römisch-Germanischen zen-
weise darauf geben, welche Vorstellungen die Kelten bei­ tralmuseum in mainz forscht er zu themen der archäoastronomie.
spielsweise mit den Mondwenden verknüpften. Der Astro­
Quellen
nom Ptolemäus etwa beschrieb nicht nur die astronomi­
schen Gegebenheiten, sondern auch ihre astrologische Mees, A. W.: die Kelten und der mond. neue forschungen am
magdalenenberg. in: antike welt 6, s. 47 –54, 2012
Bedeutung. So sollten bestimmte Sternkonstellationen wäh­
Steinrücken, B.: sonnenwenden und mondwenden. astronomische
rend der Mondwenden schuld an der Geburt verkrüppelter Grundlagen der wenden von sonne und mond am horizont und
Kinder sein, andere hingegen für künftige Helden sorgen. ihre bedeutung in der archäoastronomie. vortrag auf der tagung der
Gesellschaft für archäoastronomie, Osnabrück, 19. – 12. märz 2011
Cäsar und viele andere berichteten, dass die Kelten an Wie­
www.sternwarte-recklinghausen.de/archaeoastro/sm_wenden.pdf
dergeburt glaubten. Somit liegt die Vermutung nahe, dass sie diesen artikel finden sie auch im internet: www.spektrum.de/
die zyklisch auftretenden Mondwenden in einem Zusam­ artikel/1201697
menhang mit dem Wiedergeburtsgedanken sahen.   Ÿ

www.SPEKtruM.DE 27
»Im sechsten Abschnitt des Neumondtages des Monats

JoriS SnaEt
Hiyyar ist untergegangen die Sonne, ihr Torhüter ist
Resheph. Zwei Lebern hat man untersucht: Gefahr!«

ALtErorIENt

Das Omen von Ugarit


Eine Sonnenfinsternis verhieß dem von kriegerischen »Seevölkern«
bedrohten Königreich Ugarit nichts Gutes.
Von Joachim Bretschneider und Klaus-Dieter Linsmeier

M
it zitternder Hand schrieb ein Orakelpriester dämonische Mächte Tod und Verderben bringen würden?
vor fast 3200 Jahren die oben zitierte Warnung Eine Massenpanik brach aus, und die Warnung ging noch auf
auf eine Tontafel, dann schickte er sie zum Pa­ der Schwelle des Palasts im Tumult verloren.
last der blühenden Metropole Ugarit. Denn die Eine totale Sonnenfinsternis lässt niemanden unberührt,
totale Sonnenfinsternis, die Anlass zu einer Leberschau an über 20 000 Touristen erlebten beispielsweise 2006 in der
zwei geschlachteten Schafen gewesen war, verdunkelte die Sahara, wie sich der Mond vor die Sonne schiebt, das Licht all­
Stadt und das Reich Ugarit an einem wichtigen Tag des Toten­ mählich diffus wird, sich Dunkelheit und Kälte ausbreiten, bis
kults (darauf verweist auch der Göttername: Resheph war je­ die Sterne am Tag sichtbar werden. Was heutzutage leichten
ner Gott, welcher der Sonne abends das Tor zur Unterwelt öff­ Grusel auslöst, versetzte die Menschen der Späten Bronzezeit
nete). Was anders konnte dieses Omen also bedeuten, als dass in Panik, schien doch die Weltordnung zu zerbrechen. Spätes­

28  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Panik herrschte in den Gassen der Königsstadt Ugarit, als sich field, die Schrifttafel sei die älteste bekannte Beschreibung
am 21. Januar 1192 v. Chr. die Sonne verdunkelte. Welches Unheil einer totalen Sonnenfinsternis und datiere auf den 3. Mai
würden die Götter senden, gerade jetzt, da fremde Krieger 1375 v. Chr. Zwei holländische Wissenschaftler, der Astronom
die Küsten des Alten Orients heimsuchten? Dass sich eine solche Teije de Jong und der Assyriologe Wilfred H. van Soldt, verleg­
Szene tatsächlich abgespielt haben könnte, entnehmen die ten das Ereignis dann auf den 5. März 1223 v. Chr. 1993 schließ­
Altphilologen Manfred Dietrich und Oswald Loretz einer Tontafel, lich publizierten der Altphilologe Dennis Pardee und der
die im Eingangsbereich des Palasts gefunden wurde. inzwischen emeritierte Archäoastronom Noel M. Swerdlow,
beide an der University of Chicago, der Text beziehe sich kei­
neswegs auf eine Sonnenfinsternis, sondern auf eine beson­
tens seit den Stadtkulturen Mesopotamiens beobachteten dere Marskonstellation: Dieser Planet sei im Monat Hiyyar
Priester den Nachthimmel, um Gesetzmäßigkeiten in den nach dem Neumond sechsmal am Abendhimmel aufgegan­
kosmischen Abläufen zu erkennen und daraus Wirken und gen, während die Sonne noch zu sehen war; zwischen 1400
Wollen der Götter zu deuten. und 1200 v. Chr. wäre ein solches Ereignis immerhin etwa
Natürlich werden wir nie erfahren, ob sich die geschilder­ fünfmal aufgetreten, eine genaue Datierung also unmöglich.
te Szene in Ugarit wirklich so abgespielt hat, doch vieles deu­ Dietrich und Loretz hatten KTU 1.78 erneut untersucht,
tet nach Ansicht der namhaften Philologen Manfried Diet­ Fragen zur Lesung von Schriftzeichen geklärt und aus ihrer
rich und Oswald Loretz von der Universität Münster darauf Übersetzung, Merkmalen wie dem Fundort – im Palastein­
hin. Die beiden Forscher publizierten 2003 eine Transkrip­ gang statt wie zu erwarten in einem Archiv – sowie dem Ges­
tion und Übersetzung der Keilschriftdepesche, die seitdem tus der Handschrift das geschilderte Szenario rekonstruiert.
in der Fachwelt diskutiert wird. Gemeinsam mit Grabungen Anhand der astrologischen Angaben datierten sie die Eklipse
im Umland der Königsstadt wie in Gibala (heute Tell Tweini) auf den 21. Januar 1192 v. Chr. Damals traf nach Berechnungen
wirft sie neues Licht auf die Geschichte der Levante in der von Archäoastronomen eine 94­prozentige Sonnenfinster­
Späten Bronzezeit (etwa 1500 – 1200 v. Chr.). nis zwischen 11.45 Uhr und 14.45 Uhr die Küste der Levante.
Die Tontafel, katalogisiert mit der Nummer KTU 1.78, ent­ Dieses Datum passt sehr gut in den historischen Kontext
deckte der französische Ausgräber Claude Schaeffer 1948 im und ebenfalls zum archäologischen Befund: Ugarit wurde
Schutt des Palasts. Die erste Lesung des sechszeiligen Textes wahrscheinlich um das Jahr 1190 von Invasoren zerstört. Sel­
durch seinen Grabungsphilologen Charles Virolleaud erwies ten hat ein überliefertes Omen in so dramatischer Weise mit
sich aber als äußerst schwierig. Denn der Verfasser hatte eine einer Krisensituation korrespondiert.
bereits genutzte Tontafel flüchtig geglättet und überschrie­ »Heil sei über dir! Die Götter mögen zum Wohle dich
ben. Als sicher galt lediglich: Sein Thema war ein astrologi­ schützen! Was du geschrieben hast, dass man feindliche
sches Ereignis. Schiffe auf hoher See gesichtet habe – und sofern in Wahr­
1970 postulierten die britischen Forscher F. Richard Ste­ heit Schiffe gesichtet sind, so mache dich stark nach bestem
phenson, damals Experte für historische Astronomie an der Vermögen! Nunmehr, deine eigenen Soldaten und Streitwa­
Newcastle University in Newcastle upon Tyne, und John F. A. gen – wo halten sie sich denn auf? Im Westen wird dich also
Sawyer, Religionswissenschaftler von der University of Shef­ irgendein Feind angreifen. Umgib deine Städte mit Mauern!
SpEKtrUm dEr WiSSEnSchaft / EmdE-GrafiK

auf einen blick arzes Meer


Schw

AStroNoMISchEDAtIEruNg Hattuscha (Boghazköy)


Troja

1 Gegen Ende der Späten Bronzezeit, um 1200 v. Chr., bedrohten


kriegerische »Seevölker« altorientalische Reiche wie Ugarit an
der Levanteküste. Die Handelsmetropole wurde dabei zerstört.
H AT T I ( H E T H I T E R )

Milet
Mykene KA ANNI
LU K I E N ) MIT

2 Von den dramatischen Ereignissen zeugen Briefwechsel in


( LY K Ugarit
Ti

Mukisch
Keilschriftarchiven, aber auch die Tontafel KTU 1.78. Es (Ras Shamra)
gr

Eup
Äg äis h ra
is

handelt sich dabei um eine Warnung, die vermutlich von einem Ras Ibn Hani Emar t AS
SY R E R
Orakelpriester an den König geschickt worden war. Gibala (Tell Tweini) Assur
K R E TA
ALASHIA Byblos

3 Anlass war vermutlich eine Sonnenfinsternis, die in der aktu- (ZYPERN)


Mi Tyr
ellen Bedrohungslage als Omen verstanden wurde. Forscher
tte lm ee r Babylon
haben das Himmelsereignis und damit den ungefähren Zeitpunkt
B A BY LO
der Zerstörung Ugarits auf das Jahr 1192 v. Chr. datiert. N ER

N
TE
YP
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Im Konzert der antiken Königreiche spielte Ugarit als Handels-
Nil
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N
metropole eine wichtige Rolle. Sie war der Brückenkopf des El-Amarna 0 200 km
Orients zur ägäischen Welt.

www.SPEKtruM.DE 29
Soldaten und Streitwagen bring hinein! Warte den Feind ab, Der König von Alashia nahm die Angelegenheit wohl nicht
so bist du nach bestem Vermögen stark gemacht.« ernst genug – auch Zypern wurde nachweislich überfallen.
Mit diesem Brief antwortete der König von Alashia, dem Hammurapi beklagt in einem anderen, wohl späteren Schrei­
heutigen Zypern, an Ugarits König Hammurapi (1215 bis um ben, seinerseits nicht rechtzeitig gewarnt worden zu sein:
1190 v. Chr.) auf eine Warnung vor einer feindlichen Flotte. »Die Schiffe des Feindes sind gekommen. Er hat meine Städ­
Die Keilschrifttafel gehört also ebenfalls in die Zeit um 1200 te verbrannt und viel Unheil angerichtet. … Wenn wieder
v. Chr., als fremde Heerscharen die reichen Länder des öst­ Schiffe aufkreuzen, teile es mir auf irgendeine Weise mit, da­
lichen Mittelmeers überfielen und Angst und Schrecken mit ich es weiß!«
verbreiteten. Der französische Archäologe Gaston Maspero Nach wie vor ist unklar, wer diese Seevölker wirklich wa­
(1846 – 1916) prägte für die in ägyptischen Texten beschwore­ ren. Wahrscheinlich handelte es sich nicht um ein Phänomen
nen Aggressoren den Begriff »Seevölker«. Mächtige Reiche vom globalen Ausmaß der Völkerwanderung am Ende der An­
wie das der Hethiter verschwanden unter ihrem Ansturm tike, sondern um regional begrenzte und sich über Jahrzehn­
von der Landkarte, ebenso zahlreiche Königshäuser der Le­ te hinziehende Angriffswellen, die im Süden Kleinasiens und
vante. Nur mit Mühe konnte der Pharao Ramses III. etwa im im ägäischen Raum ihren Ausgang nahmen. Von wirtschaft­
Jahr 1177 v. Chr. eine Invasion abwehren. Lange galten die See­ lichen oder politischen Krisen, Klimaverschlechterung, Hun­
völker auch als Ursache des etwa zeitgleichen Zusammen­ gersnöten und anderem mehr getrieben, verließen Völker
bruchs der mykenischen Palaststaaten. ihre Heimat und suchten das Heil in der Ferne. Zu ihnen ge­

Die Keilschriften von Ugarit


Viele Völker des Alten Orients nutzten die von den Sumerern phabet aus 22 Zeichen mit gegenläufiger Leserichtung. Schrift
vor etwa 5000 Jahren entwickelte Keilschrift. Doch diese um- war nun eine etwas weniger exklusive Angelegenheit, auch
fasste oft mehrere hundert Zeichen, sie erforderte deshalb spe- Händler und Verwalter profitierten davon. Im 11. Jahrhundert v.
ziell geschulte Schreiber. In der Handelsmetropole Ugarit aber Chr. entwickelte sich die phönizische Schrift aus dem altkanaa-
gelang eine geradezu revolutionäre Vereinfachung. näischen Linearalphabet und gelangte im Lauf des 1. Jahrtau-
Zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. war im ägyptischen sends weit nach Westen.
Wadi el-Hol nahe Theben und auf dem Sinai ein semitisches Zu den bekanntesten und bedeutendsten literarischen Wer-
Uralphabet auf Grundlage der ägyptischen Hieroglyphen ent- ken des Alten Orients zählen die sechs in Keilschriftalphabet ge-
standen, wie aus Inschriftenfunden zu entnehmen ist. Im Pha- schriebenen Tafeln des Baal-Mythos aus Ugarit. Sie schildern
raonenstaat lebende Kanaanäer nutzten deren Grundprinzip die Lebensgeschichte des Wettergotts Baal, einem der Haupt-
zur Wiedergabe von Fremdwörtern. Die Zeichen stellten nur die götter des syro-mesopotamischen Kulturkreises, der für Vegeta-
Konsonanten dar; zum Beispiel stand das Bildzeichen eines tion und Fruchtbarkeit der Felder während der Regenzeit ver-
Hauses für den Laut »b«, denn dies ist der erste Buchstabe von antwortlich war.
»bet«, dem semitischen Wort für Haus. Diese Konsonanten- »Ich allein bin es, der herrscht als König über die Götter, der
schrift verbreitete sich entlang der bedeutenden Handelsstädte fett macht Götter und Menschen, der sättigt die Mengen der
der Levante nach Palästina, Libanon und Westsyrien. Erde.«
Im spätbronzezeitlichen Ugarit wurde dann unter Einfluss An der Seite Baals regierte seine Schwester, die überaus
der mesopotamischen Keilschriftkultur das älteste Keilschrift- grausame Kriegsgöttin Anat.
alphabet entwickelt. Die meisten in Ugaritisch verfassten Texte »Und siehe! Anat kämpfte in der Ebene, schlug nieder zwi-
sind in einem 30 Zeichen umfassenden System geschrieben, schen den beiden Städten. Sie schlug das Volk am Meeresufer,
das von links nach rechts zu lesen war. Aber es gab auch ein Al- vernichtete die Menschen im Aufgang der Sonne. ... Sie machte
Köpfe fest an ihrem Rücken, sie band Hände an ihren Gürtel. Sie
tauchte mit den Knien ins Blut der Starken, mit den Oberschen-
SpEKtrUm dEr WiSSEnSchaft / EmdE-GrafiK

keln ins Gerinnsel der Soldaten.«


Verschiedene Philologen sehen hier eine Reminiszenz an die
blutigen Opfer oder auch an die rituellen Kämpfe beim Neu-
jahrsfest, selbst über die Tötung von Kriegsgefangenen vor Sta-
tuen der Göttin Anat wurde spekuliert. An der Seite des Wetter-
gotts steht sie aber auch gleichzeitig für Liebe und Fruchtbar-
keit: »Eine Botschaft des allmächtigen Baal, ein Wort des
Die Schreiber Ugarits entwickelten ein sehr effektives Keil- Mächtigsten der Helden: Gib in die Erde Gebäck, lege in den
schriftalphabet. Auch die Warnung des Priesters ist in dieser Grund Liebesfrüchte! Gieße Frieden ins Erdinnere, Liebesfülle
Schrift abgefasst. ins Innere der Felder!«

30  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
antiker
Hafen

anWar abdEl GhafoUr, mit frdl. GEn. dES dirEctEUr Général dES antiqUitéS Et dES mUSéES, dr. baSSam JamoUS,
damaS, SyriE, 2006. aUS: aUx oriGinES dE l‘alphabEt – lE royaUmE oUGarit, 2004, S. 27
Palast
Palast

Ugarit liegt in der fruchtbaren Küstenlandschaft Syriens. Nur tuscha deren Konstruktion erlernt? Ein solcher Austausch
etwa ein Viertel der Anlage ist hier zu sehen, insbesondere der von Spezialisten und Ideen hätte den damals üblichen diplo­
Palast (roter Pfeil) mit dem in der Zeichnung auf S. 28 darge- matischen Usancen durchaus entsprochen. Und das kleine
stellten Vorplatz. Die antike Hafenanlage lag geschützt in einer Königreich Ugarit war in der Späten Bronzezeit ein Vasallen­
Bucht (gelber Pfeil). staat der Hethiter.
Beschützt von ihrer mächtigen Befestigungsanlage lebten
wohl etwa 10 000 Einwohner auf einer Fläche von etwa 600
hörten sehr wahrscheinlich die Philister, die sich später im mal 500 Metern. Viele Wohnhäuser zeugen von einem ho­
westlichen Palästina niederließen. hen Lebensstandard: Arbeits­ und Geschäftsräume lagen um
Auch Ugarit wurde ein Opfer dieser Entwicklung, das einen Schatten spendenden Innenhof, man wohnte in den
schlechte Omen der Sonnenfinsternis sollte in Erfüllung ge­ oberen Stockwerken, auf dem Flachdach boten weinbewach­
hen. Zwar tauchten keine Dämonen auf, doch die Vernich­ sene Lauben Raum für Entspannung. Alabasterkrüge, fein
tung des blühenden Händlerreichs dürfte nicht weniger bemalte mykenische und zyprische Importkeramik in der
schrecklich gewesen sein, als hätten sich die Tore der Unter­ Villa eines Beamten namens Urtenu erzählen von weitläufi­
welt geöffnet. Nur Ruinen blieben von der Metropole und gen Handelsnetzen in der Späten Bronzezeit.
seinen umliegenden Städten.
Unter der Federführung des französischen Archäologen Drehscheibe internationaler Diplomatie
Claude Schaeffer begannen 1929 die Grabungen in Ugarit Doch selbst solcher Luxus verblasst angesichts des fast
selbst; bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges arbeitete dort 10 000 Quadratmeter Fläche einnehmenden Palasts, der
ein syrisch­französisches Team unter der Leitung von Bas­ sich einst über mehrere Etagen erstreckte. Kühle Innenhöfe
sam Jamous, Direktor des Syrischen Antikendienstes, und mit Gärten und steinernen Wasserbecken sowie schattige
Valérie Matoian vom französischen Forschungsverbund Galerien in den Obergeschossen boten Schutz vor der bren­
CNRS. Große Teile der Stadtanlage wurden erforscht. Einige nenden Sommerhitze. Wie in altorientalischen Residenzen
Funde bezeugen, dass Ugarit schon in der ersten Hälfte des 2. üblich, waren manche Gebäudetrakte der Verwaltung vorbe­
Jahrtausends v. Chr. größer gewesen sein muss, doch diese al­ halten, andere dienten als Wirtschaftsräume. Durch eine säu­
ten Schichten sind heute großteils unter jüngeren Bauresten lengestützte Vorhalle (Portikus) gingen Delegationen frem­
begraben – das spätbronzezeitliche Ugarit stand um 1200 v. der Länder in den lang gestreckten Thronsaal.
Chr. auf dem Bauschutt der älteren Siedlungsschichten. Über die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen
Eine gewaltige Mauer aus mächtigen Steinblöcken schütz­ in jener Welt berichten unter anderem Keilschrifttexte des
te die Bewohner. Der Großteil davon ist leider durch Erosion Palastarchivs und des in der Urtenu­Villa gefundenen Ar­
und Wiederverwendung der Steine zerstört. Doch Reste eines chivs. Diplomaten und Kaufleute aus allen Himmelsrichtun­
stark befestigten Torturms blieben erhalten. In unmittelba­ gen kamen nach Ugarit: aus den südlich gelegenen Ländern
rer Nachbarschaft führte eine Poterne, ein etwa zwanzig Me­ Kanaan, Palästina, Amurru, Ägypten und Nubien; aus Assur
ter langer Tunnel, durch die Verteidigungsanlage, um einen und Subartu im Osten; aus Mukisch, Hatti und Mitanni im
Feind durch überraschende Ausfälle in Bedrängnis zu brin­ Norden, aus Alashia, Kreta und sogar Sardinien im Westen.
gen. Poternen waren eine Erfindung der Hethiter. Vielleicht Gehandelt wurde mit zyprischem Kupfer, mit Öl und Weizen
hatten Baumeister aus Ugarit am Hof des Großkönigs in Hat­ aus der Levante, mit libanesischem Zedernholz, das einst die

www.SPEKtruM.DE 31
War diese Goldschale (links, Durchmesser
19 Zentimeter) ein Opfer für den Wetter-
gott Baal? Sie wurde nahe seinem Tempel
entdeckt. Die Hauptszene zeigt wahr-
scheinlich den König bei der Jagd mit
Hunden. Die mit Goldblech überzogene,
14 Zentimeter große Bronzestatuette
(Mitte) stellt wohl El dar, den Hauptgott
des ugaritischen Pantheons und Vater
aller Götter. Aus einer Grabanlage stammt
das 14 Zentimeter große Elfenbeinrelief
(rechts) der Herrin der Tiere. Weil sich hier
mykenische Stilelemente wie die lockige
Frisur und der wallende Rock mit altorien-
talischem Bildgut wie dem Motiv der
corbiS / Gianni daGli orti

Tierfütterung mischen, vermuten Wissen-


schaftler, dass der in Ugarit lebende

aKG imaGES
Künstler aus Mykene stammte.

Decken prunkvoller Paläste schmückte. Auch Luxusgüter aus und Gibala bestätigt eine solche Beschreibung: Wie damals
Gold, Elfenbein, Alabaster und Keramik kamen bei den Gra­ in der Region gebräuchlich, bestattete man die Toten unter
bungen ans Licht. den Wohnhäusern; Könige unter dem Palast. Diese räumli­
Beamte, Priester, Gelehrte, Diplomaten und Händler hin­ che Nähe sollte vermutlich die Kontinuität der Familien und
terließen Schriftzeugnisse in insgesamt acht Sprachen. In Dynastien garantieren. Die Herrscher legitimierten so Macht
Ugarits eigenem, frühkanaanäischem Idiom wurden Hunder­ und Besitz. Auch Bibelforscher zeigen Interesse an den reli­
te von Texten verfasst, doch üblicherweise bediente man sich giösen Texten aus Ugarit. Diese bilden eine der wichtigsten
des Babylonischen, das in dieser Zeit die Diplomatensprache Quellen aus dem Umfeld des Alten Testaments. Zum Beispiel
war. Die Schreiber Ugarits entwickelten sogar ein eigenes erwähnt es mehrfach den Wettergott Baal, gegen dessen Ver­
Alphabet aus dreißig Keilschriftzeichen (siehe Kasten S. 30). ehrung der Prophet Elija ankämpft.
Später griffen die Phönizier dieses Konzept auf und entwi­ Ugarit war also offenbar nicht irgendeine Stadt an der Küs­
ckelten ein Alphabet, das letztlich die Grundlage der lateini­ te, sondern ein wichtiges Zentrum des internationalen Han­
schen Schrift bildete – »ex oriente lux«. dels und eine multikulturelle Metropole. Am Ende genoss
Viele dieser Tontafeln erhellen auch die Glaubenswelt der sein König Hammurapi sogar so viel Autonomie, dass er es
Levante in jener Zeit; vergleichbare Funde sind sehr selten. wagte, sich mit dem Pharaonenreich gut zu stellen. Obgleich
So berichtet zum Beispiel ein Ritualtext, dass beim Begräbnis ein Vasall des hethitischen Großkönigs, beauftragte Ham­
eines Königs die verstorbenen Vorgänger heraufbeschworen murapi ägyptische Steinmetze, eine Statue des Pharaos Mer­
wurden. In sieben Etappen sollte der tote Regent, vom Son­ neptah (1213 – 1203 v. Chr.) zu fertigen, um sie in seiner Stadt
nengott begleitet, in seine Gruft hinabsteigen, um dort in die im Tempel des Wettergotts Baal aufzustellen. Das jedenfalls
Unterwelt einzutreten. Der archäologische Befund in Ugarit erzählt ein Brief aus dem Urtenu­Archiv, der 1994 übersetzt

Den Archäologen war das


Glück in Gibala hold: Ein mit
Steinplatten verschlossenes
Grabgewölbe unter einem
Wohnhaus war unversehrt
und barg mehr als 30 Tote
(links außen). Über Bohrun-
gen in den Abdecksteinen
bEidE fotoS: Joachim brEtSchnEidEr

wurden vielleicht Trankopfer dargebracht. Die runde Installation


neben dem Grufteingang diente vermutlich ebenfalls Opferun-
gen. Aus der phönikischen Zeit um 900 v. Chr. wurden bislang nur
vereinzelt Gräber entdeckt, die nicht mehr unter den Fußböden
lagen (oberes Bild).

32  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
nahe gelegenen Residenz Ras Ibn­Hani zeigen. Die Archäolo­
gen fanden in der Stadt auch zahlreiche Speerspitzen, erstaun­
licherweise aber keine Opfer. Die meisten Einwohner konnten
wohl rechtzeitig fliehen. Einige hatten zuvor noch Gold­ und
Bronzefigurinen vergraben, damit sie dem Feind nicht in die
Hände fielen. Doch warum holten sich die Eigentümer ihren
Besitz nie zurück?
Antwort auf diese und andere Fragen erhofften sich die
Archäologen auch von Grabungen außerhalb der Metropole.
Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges (von 1999 bis 2010)
forschte ein syrisch­belgisches Team unter der Federführung
von Michel Al­Maqdissi von der Generaldirektion des Syri­
schen Antikendienstes und einem von uns (Bretschneider)
auf dem Tell Tweini nahe der modernen Hafenstadt Jabla.
Dort legten die Archäologen Gibala frei, eine Stadt an der
Südgrenze des Reichs von Ugarit, einst fast 350 mal 250 Me­
ter groß. Auch sie wurde um 1200 v. Chr. zerstört, aber im
Gegensatz zu Ugarit dann von den Eindringlingen wieder­
aKG imaGES
besiedelt. Eine im nordsyrischen Aleppo entdeckte Tempel­
inschrift deutet sogar darauf hin, dass im türkisch­syrischen
Grenzgebiet eine regelrechte »Seevölker­Dynastie« aufkam.
wurde. Ansonsten berichtet dieser über eine außergewöhn­ Die Zeit der großen Paläste im östlichen Mittelmeerraum
lich reiche Schiffslieferung von Luxusgütern aus Ägypten. In war vorbei. Doch zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. er­
einem anderen Schreiben tituliert Hammurapi den Pharao blühten griechische Städte in Kleinasien, erstarkte das Assy­
sogar als »Sonne, großen König, König der Könige«. rische Reich und die Phönizier stiegen auf zur Handels­
Doch vielleicht reagierte dieser nicht in gewünschter Wei­ macht. Letztere waren wohl die neuen Herren in Gibala. Erst
se, oder der Großkönig in Hattuscha konnte seinen abtrün­ Mitte des 1. Jahrtausends wurde der Ort endgültig aufgege­
nigen Vasallen zur Räson bringen. Oder war Ugarits Offerte ben, denn die Hafenlagune war versandet. Ugarit hingegen,
lediglich ein heute nur schwer zu deutender Ausdruck ge­ der einst so prächtigen Metropole, war nicht einmal eine sol­
schickten diplomatischen Taktierens? In dem bereits zitier­ che kurze Renaissance vergönnt. Von einem Dorf im 5. Jahr­
ten Schreiben an den König auf Zypern beklagt sich Ham­ hundert v. Chr. abgesehen blieb der Ort jahrtausendelang
murapi jedenfalls nicht nur über die späte Warnung vor einer unbewohnt.  Ÿ
Invasionsflotte: »Weiß denn mein Vater nicht, dass meine
Truppen alle im Land der Hatti festgehalten werden, dass di e autoren
meine Schiffe alle in Lykien aufgehalten werden?« Tatsäch­
Joachim Bretschneider lehrt ar-
lich gibt es ein anderes Schreiben mit ungeklärtem Absender, chäologie des alten orients
das sich vor diesem Hintergrund als Brief des hethitischen an der Katholischen Universität
Hofs an Hammurapi interpretieren lässt: Ugarit musste den von löwen in belgien. Klaus-
Dieter Linsmeier ist redakteur
Hethitern – den Hatti – mit Truppen zu Hilfe eilen. Ohne sei­ bei »Spektrum der Wissen-
ne Streitkräfte war es nun ein leichtes Opfer für die Invasoren. schaft«.

Den Feinden ausgeliefert literatur


All diese Schriftstücke dokumentieren die Not des Landes,
enthalten aber keine Zeitangabe. Ein Keilschriftbrief des Dietrich, M., Loretz, O.: der Untergang von Ugarit am 21. Januar
1192 v. chr. in: Ugarit-forschungen, internationales Jahrbuch für die
ägyptischen Truppenführers Beya an Hammurapi ermög­ altertumskunde Syrien-palästinas 34, 2002, S. 53. Ugarit-Verlag,
licht immerhin eine Eingrenzung: Dieser Beya ist höchst münster 2003
wahrscheinlich der Kanzler Bay, der zwischen 1194 und 1186 Katalog zur Ausstellung des Musée des Beaux-Arts, Lyon: le roy-
aume ougarit. aux origines de l’alphabet. Somogy éditions d’art,
v. Chr. amtierte. Ugarit kann erst nach dessen Amtsantritt paris 2004
zerstört worden sein. Die Neudatierung der Keilschrifttafel Yon, M.: la cité d’ougarit. éditions recherche sur les civilisations,
KTU 1.78 auf 1192 v. Chr. grenzt diesen Zeitraum weiter ein. paris 1997
Hammurapis Schreiben nach Zypern lässt vermuten, dass
Weblink
die Invasoren zunächst das Umland angriffen, der stark befes­
tigten Metropole blieb eine Gnadenfrist. Dann aber wurde sie diesen artikel sowie weiterführende informationen finden Sie im
dem Erdboden gleichgemacht, wie die bis zu zwei Meter di­ internet: www.spektrum.de/artikel/848688
cken Brand­ und Zerstörungsschichten im Palast und in der

www.SPEKtruM.DE 33
PEru

Die Stadt
der heiligen Lamas
Choqequirao, eine kaum erforschte Stadt der Inka, diente nicht allein der
Sicherung eroberter Gebiete, sondern war auch eine wichtige Kultstätte.
Von Patrice Lecoq

34  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
YACANA

Die Inkastadt Choqequirao mit ihren


Terrassen, Tempeln und Plätzen liegt in
3000 Meter Höhe auf einer Bergflanke
in den Anden – von dort beobachteten
Priester den Aufgang des »Sternbilds«
Yacana in der Milchstraße.
InKaStadt: PatrICe LeCoq; MILChStraSSe: eSo / SerGe BrunIer; hIMMeLSLaMa: SPeKtruM der WISSenSChaft

www.SPEKtruM.DE 35
F
ast zwei Tage dauert der Aufstieg vom Andendorf Die peruanische Regierung hat einige größere Gebäude frei-
Cachora zu den Ruinen von Choqequirao. Etwa 160 legen und restaurieren lassen, um einen archäologischen
Kilometer nordwestlich der alten Inka-Hauptstadt Park aufzubauen. Seit gut zehn Jahren unterstützen französi-
Cuzco und 3000 Meter über dem Meeresspiegel er- sche Archäologen die Arbeiten.
streckte sich dort eine mehr als 2000 Hektar große Anlage, Die Inka waren als letzte Andenkultur auf den Plan getre-
die dem berühmten Nachbarn Machu Picchu in ihrer Blüte- ten und hatten im 14. Jahrhundert im Tal von Cuzco einen
zeit an Großartigkeit nur wenig nachstand. bäuerlichen Staat etabliert. Erst nach dem Sieg des Königs
Heute erblickt der Besucher in der »Goldenen Wiege«, so Pachacutec über das Volk der Chanca um 1438 expandierten
die Übersetzung des Namens, von Vegetation überwucherte sie in ganz Peru. Um das Reich zu kontrollieren, ließen Pacha-
Terrassen, Plätze, Tempel, Brunnen und Kanäle; erst 30 bis 40 cutec und seine Nachfolger ein Netz von Städten und Verwal-
Prozent der Stadt sind vom Gestrüpp befreit. Schwer zugäng- tungssitzen erbauen, darunter auch Choqequirao.
lich und fernab größerer Siedlungen, interessierte der in spa- Wie andere Inkastädte auch war der Ort zweigeteilt:
nischen Dokumenten als Silberstadt bezeichnete Ort im 17. Hanan, die Oberstadt, bestand aus Kultbauten um einen
und 18. Jahrhundert vor allem Schatzsucher. Im Jahr 1847 hat- freien Platz, aus zweistöckigen Lagerhäusern und Terrassen
ten die Ruinen dann hohen Besuch: Der französische Diplo- mit Nischen für Kultbilder. In Hurin, der Unterstadt, wohnte
mat Léonce Angrand frönte archäologischen Interessen und vermutlich die Elite in großzügigen Gebäuden um einen
versuchte als Erster, die Grundrisse der Stadt zu zeichnen. Platz und in der Nähe eines Brunnens. Auch Hurin verfügte
Wohl zu Recht hielt er die Siedlung für eines der letzten Wi- über einen Tempel sowie zwei große, längliche Gebäude, die
derstandsnester der Inka gegen die Spanier. Erste Grabungen als Kallankas gedeutet werden, als Hallen für rituelle Tänze
unternahm dort der Amerikaner Hiram Bingham Anfang und Festveranstaltungen. Eine abgeflachte Kuppe überragte
des 20. Jahrhunderts, kurz bevor er Machu Picchu entdeckte. die Unterstadt, vielleicht eine Zeremonialplattform (Ush-

Wohnbezirke,
die 2005
Brunnen erforscht
Oberstadt (Hanan) wurden

Tempel

Platz
Lagerhäuser PE
(Collcas)
Terrassen
RU Kartenausschnitt

Aquädukt

Haupttempel Festhallen
Treppen (Kallankas)
Hauptplatz
Apuri

zum Gipfel
der Berge Quellen
Unterstadt (Hurin)
mac

Sorani und 0 100 km


Quitay Tempel
Choqetacarpo Yanacocha Machu Picchu
Ställe
SPeKtruM der WISSenSChaft / eMde-GrafIK

Sorani
Salkantay
Terrassen mit Quitay (6271 m)
Pam
pa
Lamadekor s Choqequirao
Wohnbezirk, Cuzco
der 2004 Abancay

Zeremonialplattform erforscht Gipfel


wurde moderne Stadt
(Ushnu)
Inka-Stätte

Choqequirao erstreckte sich einst über mehr


als 2000 Hektar. Nur das Zentrum, in
Ober- und Unterstadt gegliedert, sowie
einige Wohn- und Kultbezirke in Randbe-
reichen wurden von den Archäologen bisher
freigelegt. Die größte Überraschung boten
100 m Terrassen, deren Stützmauern Mosaike
0
zierten, darunter einige mit Lamamotiven.

36  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Nischen in den Mauern des großen Tempels der Unterstadt
beherbergten einstmals Kultbilder.

nu), auf der den Göttern geopfert wurde. Ein Netz von Kanä-
len versorgte die Stadt mit Wasser, das über einen Aquädukt
vom 2400 Meter höher gelegenen Gletscher Yanacocha he-
rabfloss.
Dem schwierigen Terrain entsprechend gab es in den
Häusern normalerweise nur einen rechteckigen Raum mit
flachem Boden. Bruchsteine wurden so bearbeitet, dass sie
ohne Mörtel aufzuschichten waren, manchmal wurden sie
aber auch mit Lehm verfugt. Auf diese Weise ließen sich
Mauerzüge dem welligen Boden anpassen. Buckelsteine ver-
liehen ihnen zudem einen Reliefcharakter. Weiterhin ty-
pisch: trapezförmige Türen, Fenster und Nischen.
Am Rand der beiden Stadtteile standen die Wohnhäuser
des einfachen Volks. Von dort war es nicht weit zu tiefer gele-
genen Terrassen, auf denen Mais und der »Inkareis« Quinoa,
vielleicht auch Koka angebaut wurden. Gerade diese einfa-
chen Behausungen, von denen die meisten noch unter dich-
ter Vegetation verborgen liegen, überraschten die Forscher.

Feindliche Übernahme
Erst 2004 legte ein französisch-perunisches Team dort ein
halbes Dutzend Rundhütten frei, die einst mit kegelförmi-
gen Strohdächern gedeckt waren, eine bei den Inka seltene
Bauweise. In den Fundamenten entdeckte das französische
Team außerdem Reste von Keramik aus einer Zeit vor den
Inka – im 12. oder 13. Jahrhundert existierte auf dem Gelände
offenbar schon ein Dorf des Volks der Chanka. Zwar duldeten
die Inka nach ihrem Sieg um 1438 die ursprünglichen Ein-
wohner im Ort, verbannten sie jedoch auf die unterste Stufe
der neuen Gesellschaft.
Eine der Rundhütten ermöglichte eine Datierung der Er-
eignisse, denn sie wurde später als Grab umgenutzt: Dort
fanden die Archäologen das Skelett einer jungen Frau in
Hockstellung. Ihr Kopf war der aufgehenden Sonne und
dem Yanacocha-Massiv sowie dem Salkantay-Gletscher zu-
gewandt, denn die Andenbewohner glaubten – und glauben
auch heute noch – daran, dass auf den Gipfeln Schutzgötter
wohnen. Auch deshalb errichteten die Inka Städte wie Cho-
qequirao oder Machu Picchu hoch oben in den Bergen. Tie-
re, Tongeschirr im örtlichen Inkastil und anderes sollten die
Frau auf ihrer Reise in eine andere Welt begleiten. Mit der
Radiokohlenstoffmethode ließen sich die Knochenreste auf
die Jahre 1440 bis 1460 datieren, also auf die Zeit der Inka-
expansion.
Auf dem Gelände des alten Dorfes zog man neue, recht-
eckige Bauten hoch, vermutlich Textilwerkstätten. Darauf
verweisen tönerne Spinnwirtel – um Garn aus der Wolle von
Lamas und Alpakas zu spinnen, wurden sie den Spindeln als
Schwungräder aufgesetzt. Doch Landwirtschaft und Tex-
PatrICe LeCoq

tilmanufakturen waren nur eine Seite von Choqequirao, in


erster Linie hatte die Stadt wohl eine rituelle Bedeutung: In

www.SPEKtruM.DE 37
den vergangenen Jahren kamen 27 Steinmosaiken zum Vor- Selbst am Sternenhimmel erkannten die Inka dieses wich-
schein, darunter 23 mit Lamadarstellungen. Helle Schiefer- tige Tier. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts notierte der spani-
platten im Mauerwerk bilden jeweils den Körper, Ritzungen sche Priester Francisco de Avila (1573 – 1647), das Sternbild,
skizzieren Mund und Augen. Alle Lamas wenden sich der un- das man mit dem Namen Yacana bezeichne, gelte als Seele
tergehenden Sonne zu. Ein einmaliger Fund: Es gibt aus der der Lamas und ihrer Artverwandten. »Es scheint mitten über
Inkazeit nichts Vergleichbares. Diese Darstellungen fand den Himmel zu ziehen. Die Menschen nehmen es zunächst
man auf 18 Terrassen, deren Ausrichtung für die kultische Be- ganz schwarz kommend wahr. Yacana wandert in einem
deutung spricht: Sie weisen auf die beiden benachbarten Fluss, der Milchstraße.«
Berggipfel Sorani und Quitay und auf den Fluss Apurimac. Der Mythos erzähle auch, dass »Yacana um Mitternacht,
In den Anden sind Lamas ein elementarer Bestandteil des ohne dass es jemand merkt, das ganze Wasser des Meeres
Lebens. Sie liefern Fleisch, Wolle, Knochen für Werkzeuge; ihr austrinkt«. Und das sei ein Glück, andernfalls würden die
Kot dient als Brennmaterial. Vor der Ankunft der Spanier gab Siedlungen der Menschen überflutet.
es außerdem kein anderes Packtier. Dementsprechend ran- Schließlich berichtet die Handschrift weiter, dass »Yacana
ken sich viele Legenden um das Lama. Es sei den Menschen ein kleiner schwarzer Fleck namens Yutu vorausgeht, eine
von Mutter Erde, Pacha Mama, geschenkt worden, um ihnen Wachtel. Yacana hat auch ein Kalb, und es scheint, als ob das
zu helfen, in diesem unwirtlichen Land zu überleben. Wie Kalb sauge.« Für die Inka war die Milchstraße ein heiliger
das Alpaka soll es aus Quellen, Seen und anderen Wasserstel- himmlischer Fluss, der mythische Tiere beherbergte. Anders
len hervorgekommen sein – Ursprungsorten des Lebens. als bei unseren Sternzeichen entsprachen ihnen aber dunkle
Flecken, die – wie wir heute wissen – von interstellaren Staub-
Mythische Tiere in dunklen Wolken wolken erzeugt werden. Yacanas Augen bildeten zwei Sterne,
Starb eine bedeutende Persönlichkeit, tötete man ein Lama, vermutlich Alpha und Beta Centauri. Noch heute verehren
auf dass es die Seele des Verstorbenen ins Jenseits befördere. die Hirten der Andenhochländer das himmlische Lama, das
Auch heute noch, Jahrhunderte nach der christlichen Missio- sie Choque Chinchay nennen, und sein Kind. Und sie glau-
nierung, opfern die Andenbewohner den Göttern bei rituel- ben, dass beide von einem Hirten und dessen Sohn geführt
len Feierlichkeiten Lamas oder Lamaföten. werden, die mit Sternenpfeilen die widerspenstigen Tiere
kontrollieren.
Dieser »negative« Tierkreis half, Schlüsseldaten des bäu-
Eine Lamaherde auf dem Weg zu den Tempeln – die Stein- erlichen Lebens wie Aussaat und Ernte zu bestimmen oder
mosaiken der Stützmauern von Choqequirao sind in der Inka- auch Herden und Karawanen durch die Berge zu führen.
kultur ohnegleichen. Zum Beispiel folgten den Tieren die Plejaden. Der spanische
BeIde fotoS: PatrICe LeCoq

38  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
LInKS: t. GISBert de MeSa; reChtS: PatrICe LeCoq

Priester notierte: »Wenn sie hell erscheinen, sagen die Leute‚ Geometrische Muster zierten zeremonielle Kleidung (links,
dieses Jahr wird es Überfluss geben. Wenn sie aber nur blass auf einem andinen Poncho) und Grabbauten (rechts, Bolivien,
erscheinen, sagen die Leute, wir werden Mangel leiden.« 13. Jahrhundert).
Heute wissen wir, dass diese Vorhersagemethode nicht
schlecht war: Das Klimaphänomen El Niño, das in Peru mit
trockenen Sommern einhergeht, verursacht im Winter eine standardisierten Bildsprache andiner Textilien: Zickzack-
dünne, hoch gelegene Wolkenschicht, welche die Plejaden oder Wellenlinen bedeuteten dort häufig Wege, denen Hirten
blasser wirken lässt. mit ihren Herden folgten, Wasser stand für Flussläufe oder
Offenbar spielte das heilige Lama in Choqequirao eine Schlangen. Die Schachbrettmuster symbolisierten die Augen
große Rolle: Während Steinmosaiken mit »Schachbrettern« der Vorfahren oder die des himmlischen Lamas.
und gebrochenen Linien wie große Bänder die oberen Terras- Auch wenn es sich nicht beweisen lässt – dieser Mythos
sen schmücken, sind es »Herden« erwachsener Lamas auf liegt wohl den Mosaiken von Choqequirao zu Grunde. Wenn
den mittleren Terrassen und kleine Gruppen der Tiere, zum dort die Nacht anbricht, erscheint als Erstes das Kreuz des Sü-
Teil mit Jungen, auf den unteren; es gibt dort sogar die Dar- dens, und die Augen von Yacana gehen über dem Ushnu auf.
stellung eines Menschen. So ergibt sich das Gesamtbild einer Die Milchstraße weist im Dezember von Nordost nach Süd-
Herde oder Karawane, die Hügel aufwärts steigt. west – wie auch die Herde der Steinlamas in dieser Richtung
Die variierenden Motive erinnern an das Design indiani- und auf einen der Tempelbezirke aufzusteigen scheint. Von
scher Textilien, die im vorkolumbischen Peru eine symboli- der Stadt aus gesehen steht die Milchstraße senkrecht über
sche Funktion hatten, die weit über ihren praktischen Zweck dem Apurimac, dem sie scheinbar in Richtung des Pazifi-
hinausreichte. Sie kündeten von Macht und gesellschaftli- schen Ozeans folgt, der Quelle des himmlischen Wassers.
chem Status und waren mit Lebensabschnitten verknüpft. Von der das göttliche Choque Chinchay Nacht für Nacht
Webereien spielten eine wichtige Rolle bei Zeremonien und trinkt, um die Menschen in der harten andinen Lebenswelt
Riten. Schon vor 5000 Jahren war diese Kunst entwickelt zu retten.  Ÿ
worden, lange vor der Töpferei. Bei der Herstellung eines
Wolltuchs verwendet man noch heute Schmuckmotive wie der autor
Module: Aneinandergereiht und nur in der Ausrichtung vari-
Patrice Lecoq lehrt archäologie der anden an
iert, bilden sie parallele Bänder. Auch die Mosaiken Choqe-
der université Paris I. er leitet das Choqequirao-
quiraos zeigen eine solche Anordnung, wobei die Flächen der Projekt des französischen außenministeriums.
Terrassen die einzelnen Muster voneinander abgrenzen. dieser Beitrag ist eine redaktionelle und aktuali-
sierte Bearbeitung seines artikels Choqek’iraw,
Textile Gestaltungsregeln in der Architektur einzusetzen,
le site inca des lamas sacrés« aus Pour la Science
war im alten Peru weit verbreitet. Man findet dergleichen un- 5/2006, S. 66.
ter anderem bei den Fassaden von Kulttempeln der Chavín
(um 900 v. Chr.), der Moche (6. Jahrhundert n. Chr.) und der Weblink
Chimú (13. Jahrhundert), wobei Darstellungen von Göttern
oder mythischen Szenen oft noch durch Farben betont wur- diesen artikel finden Sie unter: www.spektrum.de/artikel/858353
den. Die geometrischen Choqequirao-Mosaiken gehören zur

www.SPEKtruM.DE 39
chINA

Mathematik als Provisorium


Eine sich stetig aber unmerklich verändernde Welt, so glaubten chinesische Astro-
nomen, könne man nicht mit mathematischen Methoden beschreiben. Stattdessen
revidierten sie immer wieder ihre Theorien über die Bewegung der Sterne.
Von Jean-Claude Martzloff

Kaiser Kangxi, der »chinesische Ludwig XIV.« re- zwischen zwei Wintersonnenwenden.) So
gierte von 1662 bis 1723. Seine Amtstracht zeigt erscheint der Kaiser sowohl als Herrscher
nicht nur den kaiserlichen Reichtum und Prunk, über das chinesische Territorium als auch als
sondern auch ein astronomisches Symbol: Die Hals- Meister der Zeit: Er bestimmte den Kalender
kette des Kaisers besteht aus 72 Perlen, von denen und – allgemeiner – die politische Astrologie,
vier für die Sonnenwenden und die Tag-und-Nacht- denn angeblich beeinflussten die Sterne
Gleichen stehen, während die 68 anderen Perlen das Schicksal einzelner Personen,
die Perioden von fünf oder sechs Tagen aber auch ganzer König-
symbolisieren, in die sich das und Kaiser-
Sonnenjahr gemäß dem tradi- reiche.
tionellen chinesischen Luni-
solarkalender einteilt. (In diesem
Kalender ist das Sonnenjahr
definiert als die Zeitspanne

MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

40  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Himmelsnordpol Diese chinesische Himmelssphäre aus
dem Jahr 1680 findet sich in dem
japanischen Werk Juji hatsumei (etwa:
»Erklärung des Sinnes des astrono-
mischen Kanons der Jahreszeiten«) von
Seki Takakazu (um 1642 – 1708). Die
Horizont
kleinen Dreiecke (rot) drücken Größen-
angaben in hundertstel Grad aus (ein
Grad war in 100 Minuten zu je 100
Sekunden unterteilt). Die gestrichelten
der gelbe Weg
(die Ekliptik) Linien (blau) kennzeichnen Größen, die
aus Daten des Äquators und der Ekliptik
zu konstruieren sind. Diese – unge-
wöhnliche – ebene Darstellung der
MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

Himmelssphäre gibt ein System mathe-


matischer Verfahren wieder, das die
der orangefarbene Weg
(Äquator) Aufgaben der sphärischen Trigonome-
trie erfüllt, allerdings nicht mit den
gewohnten Begriffen, sondern mit
einer Kombination aus Näherungs- und
exakten Formeln.

D
ie Gelehrten der meisten alten Hochkulturen Dem intensiven wissenschaftlichen Austausch zum Trotz
nutzten ihre mathematischen Kenntnisse dazu, beharrten die verschiedenen Kulturkreise des Altertums und
Kalender zu berechnen und astronomische Ereig- des Mittelalters auf sehr unterschiedlichen mathematischen
nisse vorherzusagen, aber auch, um in einem Erklärungen für die Welt.
sehr allgemeinen Sinn die Welt zu erklären. So berechneten die Chinesen in der Han-Zeit (206 v.
Die Mittel waren nicht immer dieselben, die Ziele aber sehr Chr. – 220 n. Chr.) die Entfernung von Erde und Sonne mit
wohl. Stets hatten die Menschen das Bedürfnis, ihr soziales, klassischen Mitteln der Dreiecksgeometrie – unter der vor-
ökonomisches und religiöses Leben mit Hilfe einer mathema- läufigen Annahme, die Erde sei flach. In den folgenden Jahr-
tischen Einteilung der Zeit in Tage, Monate und Jahre zu orga- hunderten machte man sich in China kaum konkrete Vorstel-
nisieren. Überall brachte der Wunsch, die Zukunft zu kennen, lungen von der Gestalt des Universums, und wenn über-
mathematische Verfahren hervor, um den Lauf der Gestirne haupt, dann stets ohne mathematische Beschreibungen – so
vorherzusagen – und damit meist auch das eigene Schicksal. wie es in der europäischen Antike die Vorstellung gab, der
Lokale Entwicklungen verbreiteten sich mit der Zeit über
große Entfernungen. In Bezug auf mathematische Ideen ist
die Globalisierung nichts Neues; So reichte der Einfluss der auf einen blick
chinesischen Mathematik bis nach Korea, Vietnam und Ja-
pan (Bild oben) – hier spielte die chinesische Sprache eine
MISStrAuENuNDErfoLg
dem Lateinischen in Europa vergleichbare Rolle.
Indische Astronomen und Mathematiker wurden zur Zeit
der Tang-Dynastie (618 – 907) im offiziellen Büro für Astro- 1 Chinesische Astronomen beschrieben den Lauf von Sonne,
Mond und Sternen zwar mit Hilfe mathematischer Methoden.
Für unfehlbar hielten sie diese jedoch nicht.
nomie Chinas beschäftigt. Gegen 1380 wurde ein ganzes
Werk von astronomischen Tafeln aus dem Arabischen ins
Chinesische übersetzt. Ab 1644 verwendeten die Chinesen
2 Die Gelehrten gingen vielmehr davon aus, dass jedes mathe-
matische System der Astronomie prinzipiell beschränkt sei
und deshalb nach einer kürzeren oder längeren Zeitspanne »außer
für ihre astronomischen Berechnungen europäische Verfah- Dienst gesetzt« werden müsse.
ren – zunächst von Tycho Brahe (Bild S. 42), später von Kepler
und Newton. Jesuitische Missionare drangen ab dem Ende 3 Ihre Überzeugung vom begrenzten Nutzen mathematischer
Vorhersagesysteme hinderte die Chinesen indes nicht daran,
ihre Methoden zu verbessern – und zwar mit Erfolg.
des 16. Jahrhunderts nach China vor; sie unterrichteten auf
Chinesisch, nachdem sie diese Sprache erlernt hatten.

www.SPEKtruM.DE 41
Himmel sei rund und die Erde quadratisch. Manche glaubten, Naturgesetzen in mathematischer Gestalt. Als Kopernikus
das Universum ähnele einem Ei und die Erde sei das Dotter. das alte geozentrische Weltbild umstürzte, indem er die Son-
Andere hielten den Himmel für eine Art Käseglocke, die über ne ins Zentrum der Welt setzte, wurde das System des Ptole-
den immensen Ozean gestülpt sei. Im Gegensatz zu den Euro- mäus nicht ohne heftigen Widerstand aufgegeben; die Idee
päern hielten die Chinesen die Sternenkunde im engeren aber, dass das Universum unveränderlichen mathemati-
Sinn, die Astronomie, streng getrennt von der Kosmologie, schen Gesetzen gehorche, blieb weiterhin in Kraft.
der Theorie vom Aufbau des Universums – dieses sei dem Galilei drückte das in dem klassisch gewordenen Satz aus,
menschlichen Verstand ohnehin unzugänglich. Für die Astro- dass das »Buch des Universums in mathematischer Sprache
nomie dagegen entwickelten sie mathematische Verfahren. geschrieben« sei; erlerne man diese, so könne man alles ver-
stehen. Im 17. und 18. Jahrhundert feierte diese Ansicht mit
Diktat der Mathematik dem allgemeinen Gravitationsgesetz und der Himmelsme-
Dagegen wurde in Europa nie ernsthaft bezweifelt, dass man chanik Newtons einen spektakulären Triumph. Pierre Simon
die Welt durch kosmologische Modelle erkennen könne, die de Laplace (1749 – 1827) behauptete gar, er könne theoretisch
ihrerseits auf Mathematik beruhten. Der griechische Astro- kraft der Mathematik den Zustand des Universums zu einem
nom Klaudios Ptolemaios (Ptolemäus, um 100 – um 160) beliebigen Zeitpunkt der Vergangenheit oder der Zukunft
setzte die Erde ins Zentrum der Welt und ließ die Sterne sie beschreiben.
umkreisen (Bild S. 44); ihre Bewegung in dem so vorgestell- Seit der griechischen Antike lebt also im Abendland die
ten Universum gehorche den Gesetzen der Mathematik. Vorstellung von einer absoluten mathematischen Wahrheit,
Diese Idee hat die Denker des Islam und des Abendlands mit der man die zukünftigen und vergangenen Konstel-
nachhaltig beeinflusst. Zusammen mit der älteren Theorie lationen der Himmelskörper ebenso wie die zukünftigen
des Aristoteles über die Unbeweglichkeit des Himmels un- und vergangenen Zustände der kleinsten Partikel erkennen
termauerte sie die Vorstellung von den unveränderlichen könne.

Auszug aus der »Astronomia Danica« (»Dänische Astronomie«)


des Astronomen Christian Severin, eines Schülers von Tycho
Brahe. Die Bewegung des Mars H wurde noch im 17. Jahrhundert
genau wie zu Zeiten des Ptolemäus mit Kreisen auf Kreisen
(»Epizykeln«) dargestellt. Der Mittelpunkt C des ersten Kreises
liegt auf dem großen Kreis; der Mittelpunkt D des zweiten
Kreises liegt auf dem Umfang des ersten. Der große Kreis wie-
derum hat als Mittelpunkt die Sonne A, die ihrerseits die
Erde M umläuft. Die 1622 publizierte »Astronomia Danica« wurde
bereits 1628 ins Chinesische übertragen. Die Abbildung im
chinesischen Text (rechts) ist dieselbe wie im Original (unten).

M
L N
MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

H
A D

Q
K
C
MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

42  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Auch die Chinesen verwendeten die Mathematik zur Ana- ermitteln, die zwischen ungefähr 722 vor unserer Zeitrech-
lyse astronomischer Phänomene, die ihnen nicht allzu unre- nung und dem Jahr 1280 stattgefunden hatten und in den
gelmäßig erschienen, etwa die Positionen der Sonne, des Annalen verzeichnet waren – eine Zeitspanne von mehr als
Monds und der Planeten, die Mondphasen sowie Sonnen- 2000 Jahren! Der Sieger dieses Wettbewerbs würde mit sei-
und Mondfinsternisse (»Der chinesische Kalender«, S. 45). ner Leistung heute kaum noch Aufsehen erregen; aber da-
Dennoch glaubten sie nie an die Mathematik als Werkzeug mals waren 39 Richtige aus 49 ein unglaublicher Erfolg, wo-
für unfehlbare Voraussagen. Im Gegenteil, sie gingen davon raufhin dieses Verfahren zum offiziellen Berechnungssys-
aus, dass jedes mathematische System der Astronomie prin- tem der Dynastie erkoren wurde.
zipiell beschränkt sei und deshalb nach einer kürzeren oder Auch dieses wurde fortan häufig angefochten, da seine
längeren Zeitspanne »außer Dienst gesetzt« werden müsse. Vorhersagequalität, vor allem für Sonnen- und Mondfinster-
Diese Überzeugung setzte sich allmählich durch, nach- nisse, allmählich nachließ. Nach nur einem knappen Jahr-
dem die Chinesen ab dem 2. vorchristlichen Jahrhundert fest- hundert Laufzeit unterlag es der Konkurrenz in einem neu-
gestellt hatten, dass sich reguläre astronomische Ereignisse en Wettkampf, der von der nachfolgenden Ming-Dynastie
mit ihren mathematischen Verfahren nicht immer korrekt (1368 – 1644) organisiert wurde. Das neue System hielt im-
berechnen ließen – und zwar nicht nur für die Zukunft, son- merhin fast drei Jahrhunderte durch, bis es 1644 zwei ande-
dern auch für Ereignisse der Vergangenheit, deren Daten in ren Berechnungstechniken weichen musste, die auf arabi-
den alten chinesischen Annalen verzeichnet waren. Dabei ist schen beziehungsweise europäischen Tabellen fußten.
ja gerade die zweite Aufgabe einfacher; denn man könnte im- Die beiden genannten Beispiele stammen aus einer rela-
merhin versuchen, ein Berechnungsverfahren so lange zu tiv späten Zeit des Kaiserreichs, sind aber dennoch repräsen-
modifizieren, bis das herauskommt, was man schon weiß. tativ. In den mehr als 2000 Jahren von der ersten gesetzlich
Auf mangelnde Bemühung ist dieser Misserfolg nicht zu- verordneten Reform im Jahr 104 vor unserer Zeitrechnung
rückzuführen: Der Kaiserhof stellte für diese Forschungen bis zur Abschaffung des Kaiserreichs 1912 reformierten die
erhebliche finanzielle Mittel bereit und hielt sich über Jahr- Chinesen ihre Rechentechniken der mathematischen Astro-
hunderte hinweg einen Stab fest angestellter Hofastrono- nomie mehr als fünfzigmal. Das macht im Durchschnitt
men. Die Astrologie war nämlich wichtiges Machtmittel, eine Reform alle 40 Jahre!
weil sie – angeblich – die Kenntnis zukünftiger Ereignisse lie- Man vergleiche diese Reformfreude mit dem Konservatis-
ferte, und die Astronomen konnten ihr mitsamt der zugehö- mus der Europäer, die mehr als 1500 Jahre am ptolemäischen
rigen Mathematik Hilfestellung leisten; folglich galt ihnen System festhielten. In der Tat zeigten die Chinesen eine unge-
eine ganz besondere Aufmerksamkeit. wöhnliche Offenheit für Veränderungen im Bereich der ma-
Nach den damaligen Vorstellungen galt der Kaiser als thematischen Astronomie. In den alten chinesischen Quellen
Mittler, der die Harmonie zwischen Himmel und Erde her- zur Astronomie ist das häufigste Wort xin: Neuerung.
stellte; entsprechend kündeten die Ereignisse am Himmels-
gewölbe dem Kaiser, was die Zukunft an Gutem und Schlech- Expedition quer durch China
tem für ihn bereithielt: Siege und Niederlagen etwa oder Ihre Überzeugung vom begrenzten Nutzen ihrer Vorhersage-
Überschwemmungen und Bauernaufstände. Die geschilder- systeme hindert die Chinesen nicht daran, an ihrer Verbesse-
te Theorie besagte aber auch, dass der Kaiser den Lauf der rung zu arbeiten – mit Erfolg. Die Qualität der chinesischen
Dinge steuern könne, wenn es ihm gelang, von diesen im Vo- Vorhersagen nahm im Verlauf der Geschichte zu, ebenso wie
raus zu wissen: Wenn er zum Beispiel daraufhin seine Politik die der zugehörigen Mathematik.
änderte, würde das auch den Lauf des Himmels beeinflussen. In der Han-Dynastie (206 v. Chr. –220 n. Chr.) und der
Der kaiserliche Hof richtete deshalb ein offizielles Büro nachfolgenden Zeit der Drei Reiche (bis 265) legten die Chi-
für Astronomie ein, dessen Vorhersagen Einfluss auf die kai- nesen ihren Berechnungen die Annahme zu Grunde, Sonne,
serliche Politik hatten – ähnlich wie heute Meinungsum- Mond und Planeten bewegten sich gleichförmig in der Zeit.
fragen. Die Hofastronomen und -mathematiker – Posten, die So glaubten sie beispielsweise, dass die geografische Länge
vom Vater auf den Sohn vererbt wurden – beobachteten den der Sonne (in ekliptikalen Koordinaten) gleichmäßig pro Tag
Himmel, konstruierten Instrumente zur Beobachtung wie um ein Grad zunehme, so dass diese in einem Jahr ebenso
auch zur Zeitmessung, führten Aufzeichnungen und arbei- viele Grade durchlaufen würde, wie das Jahr Tage hat. Sie
teten mathematische Vorhersagesysteme aus. rechneten nach dem Lunisolarzyklus (siehe »Der chinesi-
In dem steten Bemühen um Verbesserung wurden sogar sche Kalender«, S. 45), nach dem 19 tropische Jahre 235 syno-
Wettkämpfe zwischen rivalisierenden astronomischen Schu- dischen Mondmonaten entsprechen. (Ein tropisches Jahr ist
len organisiert. So findet man in den Yuanshi, einem Lehr- die Zeit, nach der die Sonne wieder dieselbe Höhe über dem
buch der astronomischen Berechnungen, das in den Anna- Horizont erreicht; ein synodischer Monat ist die Zeit zwi-
len der mongolischen Yuan-Dynastie (1271 – 1368) reprodu- schen zwei Vollmonden.)
ziert wurde, eine vergleichende statistische Betrachtung Sie arbeiteten mit periodischen Zyklen, um die Mond-
über die Effizienz von sechs Berechnungssystemen. Deren und Sonnenfinsternisse vorherzusagen. Aus einem dieser
Aufgabe war es, die Daten von 49 Wintersonnenwenden zu Zyklen ergab sich die Schätzung, dass es 23 Mond- oder

www.SPEKtruM.DE 43
Claudius Ptolemäus (unten links) unter seinem Weltsystem,
bei dem die Erde im Zentrum des Universums steht. Hier gezeigt
ist das Frontispiz des »Epitome in Ptolemaei almagestum«
(Venedig 1496) des deutschen Astronomen Regiomontanus
(unten rechts abgebildet).

sogar mit 7421 Monaten auf 600 Jahre. Gleichzeitig stellten


sie fest, dass die Bewegungen des Monds und der Sonne
nicht als gleichförmig angesehen werden können, und no-
tierten die Unregelmäßigkeiten in Tabellenwerken. Bezüg-
lich der Finsternisse gaben sie das System der Zyklen auf;
ihre Rechnungen beruhten nun auf wesentlich ausgefeilte-
ren geometrischen Techniken, die denen der mathemati-
schen Astronomie der Griechen ähneln. Sie berechneten so
die Zeitpunkte des ersten und des letzten Kontakts, des Ma-
ximums der Finsternis sowie deren Größe (siehe »Der chine-
sische Kalender«, rechts).
Für die Umrechnung von Himmelskoordinaten (zum Bei-
spiel von äquatorialen in ekliptikale Koordinaten oder um-
gekehrt) arbeiteten die Chinesen gelegentlich mit trigono-
metrischen Methoden griechischen Ursprungs, die sie durch
Vermittlung der Inder, der islamisierten Völker Zentralasiens
MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

und der Europäer kennen gelernt hatten. Meistens verwen-


deten sie allerdings ihre eigenen Näherungsformeln.
Bei aller Verbesserung der Methoden mussten die Chine-
sen doch immer wieder erleben, dass eine vorhergesagte
Finsternis ausblieb oder eine andere »unangemeldet« statt-
fand. Es gelang ihnen auch nicht, die Vorhersagefehler bei
den Positionen der Planeten ausreichend zu verkleinern:
Um das Jahr 1600 nahm ein Planet eine bestimmte Position
Sonnenfinsternisse innerhalb eines Zeitraums von 135 Mo- etwa einen Monat früher oder später ein als berechnet. Im-
naten geben müsse: also etwas weniger als eine Finsternis merhin hatten sie damit größenordnungsmäßig die gleiche
alle sechs Monate. Präzision erreicht wie zur selben Zeit die Europäer.
Da diese Ergebnisse nicht korrekt waren, versuchte man Aus den Fehlern, die trotz unablässiger Verbesserung ihrer
mit Hilfe von langfristigen Beobachtungsprogrammen, die astronomischen Beobachtungen verblieben, schlossen die
astronomischen Phänomene besser zu verstehen. In den Chinesen auf prinzipielle Grenzen in der Mathematik. Der zi-
Jahren 722/723 durchquerten Forscher China von Nord nach tierte Ausspruch Galileis, das Buch der Natur sei in der Spra-
Süd bis nach Vietnam, um die Veränderungen des Sonnen- che der Mathematik geschrieben, wäre für sie schierer Unfug
schattens in Abhängigkeit von der geografischen Breite zu gewesen; ihrer Ansicht nach konnte es keine Naturgesetze in
messen. Sie versuchten auch, die Zeitmessung durch Per- mathematischer Gestalt geben.
fektionierung einer Wasseruhr und durch Einführen eines
Hemmungsmechanismus zu verbessern. Keine Messung ohne Fehler
Im Jahr 1280 gelang es den chinesischen Gelehrten, unter Einige chinesische Gelehrte wie der Astronom Yixing
Verwendung einer Art von Camera obscura die Schattenlän- (683 – 727) dachten, es gebe eine falsche Mathematik, die rich-
ge eines Stabs von großer Höhe (etwa zwölf Meter) zu ver- tige Ergebnisse liefere, und umgekehrt eine richtige Mathe-
messen und hieraus den Zeitpunkt der Wintersonnenwende matik, die zu falschen Resultaten führe. Im ersten Fall hande-
mit einer Genauigkeit von einer halben Stunde zu berech- le es sich um einen Glücksfall; im zweiten könnten die
nen. So verbesserten sie nach und nach die Werte ihrer astro- scheinbaren Regelmäßigkeiten in der Natur unverhofft in
nomischen Parameter – und damit auch ihre mathemati- Unordnung geraten. Um sicher zu sein, dass man korrekte
schen Vorhersageverfahren. Vorhersagen macht, genüge es nicht, dass ein System der ma-
Vom Beginn unserer Zeitrechnung an bis zum Anfang des thematischen Astronomie mit den verifizierbaren experi-
7. Jahrhunderts feilten sie an der Genauigkeit ihres Lunisolar- mentellen Befunden in Übereinstimmung steht.
zyklus, indem sie nicht mehr mit 235 Monaten auf 19 Jahre Andere dachten, es sei unmöglich, astronomische Beob-
rechneten, sondern mit 4836 Monaten auf 391 Jahre, später achtungen vollständig in mathematische Formeln zu über-

44  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
setzen. Jede Beobachtung, und sei sie noch so präzise, ist not- gewinnen zu können, müsste man Millionen, wenn nicht
wendig mit einem Fehler behaftet, der niemals null werden Milliarden von Jahren beobachten.
kann. Ist beispielsweise ein Beobachtungsinstrument in In ihren Berechnungen beherrschten die Chinesen souve-
Grad eingeteilt, so kann man es zwar in Zehntelgrad oder rän große Zeitspannen von mehreren Millionen Jahren. In der
noch feiner unterteilen. Es bleibt aber immer ein Restfehler, Praxis gingen sie davon aus, dass selbst die beste Mathematik
der beliebig anwachsen kann, wenn das System empfindlich nach 300 Jahren das Ende ihrer Gültigkeitsdauer erreicht ha-
von seinen Anfangswerten abhängt. Schließlich, so sagten ben würde. Spätestens dann müsste sie nachgebessert – oder
sie, seien die Beobachtungsinstrumente im Vergleich zum gänzlich aufgegeben und durch eine neue ersetzt – werden.
immensen Himmel stets hoffnungslos zu klein. Die chinesischen Astronomen des Mittelalters glaubten,
In jedem Fall, so waren sich alle Parteien einig, könne sich dass die natürlichen astronomischen Phänomene unmerkli-
die Vorhersage auf der Basis von Beobachtungen nur auf re- chen Veränderungen unterworfen seien, die sich aber auf-
lativ kurze Zeitintervalle erstrecken, während Vergangenheit summierten. Alles scheine zunächst unveränderlich, wandle
und Zukunft selbst unendlich weit reichten. Selbst die Über- sich aber doch, wenn man nur lange genug hinschaue. Das
lieferung alter und zeitgenössischer Beobachtungen in den gelte insbesondere für die Positionen der Sterne, die nach
Archiven ergebe nur eine begrenzte Kenntnis vom Verhalten der griechischen Tradition fest waren – »Fixsterne« eben.
der himmlischen Körper; um wirklich sichere Erkenntnisse Eine Mathematik, die punktuelle Beobachtungen in zeitlich

Der chinesische Kalender


Die ältesten uns bekannten chinesischen Kalender stammen
aus den letzten beiden Jahrhunderten vor unserer Zeitrech­
nung; sie sind auf Bambusstreifen oder Holzplatten geschrie­
ben. Etwa 50 weitere, handgeschrieben oder auf Papier ge­
druckt, stammen aus dem 9. bis 10. Jahrhundert. Die Anfänge
des chinesischen Kalenders sind weitaus älter und gehen auf
die archaische Königsdynastie der Shang (um 1600 – 1100 v.
Chr.) zurück. In dieser Zeit begannen die Chinesen, die Tage in
Zyklen zu 60 zu zählen. Diese Anzahl ergibt sich aus der Kombi­
nation zweier Serien von Symbolen, der »zehn Stämme« und
der »zwölf Äste«, die ab dem 8. Jahrhundert mit den zwölf Tie­
ren (Ratte, Stier, Tiger, …) des chinesischen Tierkreises in Zusam­
menhang gebracht wurden.
Im Lauf des folgenden Jahrtausends wurde dieses System um
eine Jahreszählung erweitert. Das »empirische Lunisolarjahr«
gründete sich zugleich auf den Lauf der Sonne wie des Monds:
Ein Mondjahr mit 12 Monaten zu 29 oder 30 Tagen wird mit dem
Lauf der Sonne synchronisiert, indem bei Bedarf ein dreizehnter
Mondmonat (»Schaltmonat«) eingeschoben wird.
Ab 104 v. Chr. wird der Kalender zum Staatsmonopol und von
mathematischen Berechnungen abhängig gemacht, die immer
wieder reformiert werden. Die ältesten arbeiteten mit luniso­
laren Zyklen (zum Beispiel mit einem Zyklus aus 391 Jahren mit
144 Schaltmonaten). In den meisten Fällen übersteigt die Kom­
MiT frdl. GEn. von JEAn-ClAudE MArTzloff

plexität der Berechnungen unser heutiges Verständnis.


Der chinesische Kalender hat eine sehr unregelmäßige Struk­
tur. So erfordert es längere Berechnungen, die Länge und die
Verteilung der Mondmonate – oder die Position eines Schalt­
monats – des nächsten Jahres zu bestimmen, selbst wenn man
die des aktuellen Jahres kennt. Ähnlich verhält es sich mit den
Vollmonden, die auf den 14., 15. oder 16. eines Monats fallen, und
mit dem Beginn des Mondjahres, das zwischen dem 21. Januar Volkstümliches Bild eines vereinfachten chinesischen
und dem 20. Februar schwankt. Kalenders von 1897

www.SPEKtruM.DE 45
unveränderliche Formeln verwandelt, müsse früher oder Die Nachfolger der Astronomen aus der Mongolenära aller-
später an den Realitäten scheitern. dings verwarfen die Formel für die säkularen Variationen als
In einem Fall haben die chinesischen Astronomen diese nutzlos, denn wenn man diese Variationen nicht berücksich-
Veränderlichkeit sogar quantifiziert, nämlich bei der Länge tigte, änderte sich nichts an den Ergebnissen – zu klein waren
des tropischen Jahres. Nach dem Berechnungssystem, das die Differenzen. Sie blieben jedoch davon überzeugt, dass der
zur Zeit der mongolischen Yuan-Dynastie (1271 – 1368) in Ge- Himmel sich unmerklich verändere und dass die Mathematik
brauch war, wird das Jahr pro Jahrhundert um einen zehn- dieses wegen ihrer Starrheit nicht wiedergeben könne.
tausendstel Tag kürzer. Bei der Einführung dieses Systems Wie der Sinologe Benjamin Elman von der Princeton Uni-
1280 wurde das tropische Jahr mit 365,2524 Tagen angenom- versity im Jahr 2000 nachwies, galt die Frage der Begrenzt-
men, 100 Jahre später mit 365,2523 Tagen, 100 Jahre früher heit der vorhersagenden Mathematik als so wichtig, dass sie
mit 365,2425 Tagen und 200 Jahre früher mit 365,2426 Tagen. in den Bewerbungsprüfungen für zukünftige Beamte ge-
Der korrekte Wert heute beträgt 365,2522 statt 365,2517 Tage; stellt wurde. Damit erweist sich die überkommene Vorstel-
anscheinend haben die chinesischen Astronomen die Ab- lung vom gebildeten Chinesen, der rein literarische Prüfun-
nahme der Jahreslänge ein bisschen überschätzt. gen ohne naturwissenschaftlichen Gehalt absolvierte, als un-
Aber im Prinzip hatten sie Recht: 500 Jahre später fand La- begründet.
place, dass die Schiefe der Ekliptik (der Winkel zwischen der
Äquatorebene der Erde und der Ebene der Erdbahn um die Chinesische und europäische Vorstellungen
Sonne) säkularen Variationen unterworfen ist. Dafür griff La- Verglichen mit den chinesischen Vorstellungen war die Welt
place auf alte Beobachtungen der Chinesen, Griechen und des europäischen Mittelalters räumlich und zeitlich eng be-
Araber zurück. grenzt. Gemäß der Bibel wurde die Welt ungefähr 4000 Jahre

Die Mondfinsternis vom 16. Mai 1631


Dieses Diagramm wurde vom kaiserlichen chinesischen Büro Die Finsternis begann in Peking um 0.30 Uhr und dauerte 2 Stun­
für Astronomie erstellt. Die zugehörigen Texte (nicht abgebil­ den und 40 Minuten. Beide Berechnungen lagen für Anfang wie
det) geben die Daten der Finsternis an, insbesondere den Ein­ Ende der Finsternis um eine knappe Dreiviertelstunde zu spät.
tritt des Monds in den Halbschatten (rechts), die Dauer der Fins­
ternis und den Austritt aus dem Halbschatten (links), und zwar Anders als in diesem Beispiel erwiesen sich die europäischen
sowohl nach der chinesischen als auch nach der europäischen Berechnungsverfahren in der Mehrzahl der Fälle als den chine­
Methode berechnet. sischen überlegen. Aus diesem Grund reformierten die Chine­
Missionare der europäischen Jesuiten hatten zu Beginn des sen ab 1644 ihre Astronomie, indem sie diese auf europäischen
16. Jahrhunderts astronomische Tabellen mitgebracht. Mit ihrer astronomischen Tabellen aufbauten, wie etwa den »Rudolfi­
Hilfe adaptierten die Chinesen die Astronomie des Tycho Brahe. nischen Tafeln« von Johannes Kepler.

Norden Sonne

Bahn
des
Mondes
Mond
AuS: WAnG CHonGMin (HG.), Xu GuAnGqi, AuSGEWäHlTE WErkE von Xu GuAnGqi, Bd. 2

Westen

Eintritt in den
Halbschatten
H or

Osten
iz o n

Maximum
t

der Finsternis
Austritt aus dem
Halbschatten Süden

46  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Die himmlische Planisphäre Tianwen
tu (»Karte des Schicksals des Him-
mels«) hat einen Durchmesser von
85 Zentimetern und ist auf eine Stele
aus dem Jahr 1506 in Suzhou ein-
graviert. Sie zeigt den gesamten in
Zentralchina sichtbaren Himmel.
AuS: Will CArl rufu

Zu erkennen sind die Milchstraße und


die Einteilung des Himmels in 28
Sektoren ungleicher Größe, welche die
S und

28 chinesischen Sternzeichen (xiu)


HSin

begrenzen (der Scheffel, der Ochse, die


G-CH

Schlange, das Leere, das Dach, das


i
HT
iEn

Haus, …). Die Sterne sind je nach


, TH
ES

Helligkeit als Punkte unterschiedlicher


oo
CH
oW

Dicke dargestellt. Einige Sterne sind


AS
Tr
on

durch Linien miteinander verbunden


oM
iC
Al

Ar
und bilden so die Sternzeichen. Die
HC

T,
An
n
Ar
Bo
ru Karte enthält insgesamt 1464 Sterne.
ni
vE
rS
iT yo
fM
Zum Vergleich: Das »Almagest« des
iC H
iGA
n Pr
ESS,
19 4 5
Ptolemäus enthielt 1022 Sterne.

vor unserer Zeitrechnung erschaffen. Und wie der 1964 in Für sie stellte die Mathematik nicht die Wahrheit der
Paris verstorbene Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré Natur in ihrer göttlichen Vollkommenheit dar; sie war nur
nachgewiesen hat, waren nach damaliger Auffassung die Fix- ein vorläufiges und approximatives Werkzeug. Deshalb
sterne auch nur 10- bis 100-mal so weit von der Erde entfernt schätzten sie ihre astronomischen Vorhersagen ungefähr so
wie die Sonne. ein wie wir die Wettervorhersage – im Prinzip unzuverlässig.
In einer solchen zeitlich und räumlich begrenzten Welt ist Sie reformierten ständig ihre Systeme für astronomische
die Existenz von Gesetzen plausibel, da alles stabil zu sein Berechnungen, weil sie von der unergründlichen Komple-
schien. Ab dem 17. Jahrhundert verglichen die Europäer die xität der Natur überzeugt waren. Die Europäer dagegen
Welt mit einem Uhrwerk von übermenschlicher Regelmä- träumten davon, die Natur auf einfache und definitive Ge-
ßigkeit und Perfektion. Dagegen stellten sich die Chinesen setze zu reduzieren und so der Wahrheit letzten Schluss zu
das Universum eher vor wie ein Uhrwerk, das manchmal finden. Ÿ
vor-, manchmal nach- und manchmal überhaupt nicht geht.
Genau wie eine Uhr konnte auch die vorhersagende Mathe-
matik »repariert« werden – oder eben nicht. Diese Sichtweise deR autoR
zieht sich durch die gesamte Geschichte des kaiserlichen
Jean-Claude Martzloff ist forschungsdirektor am
Chinas bis zu seinem Ende 1912. institut des Hautes Etudes Chinoises der
Im 20. Jahrhundert entdeckten selbst die Mathematiker, französischen forschungsgemeinschaft CnrS in
dass die Allmacht ihres Fachs Grenzen hat. Interessanterwei- Paris.

se kamen Kurt Gödel (1906 – 1978) für die Logik, Henri Poin-
caré (1854 – 1912) für die Theorie der dynamischen Systeme
und viele andere mit Hilfe innermathematischer Überlegun-
gen zu dieser Einsicht. Die Europäer glaubten gewisserma- liteRatuR
ßen, man müsse Wasser in den Wein gießen, während die Martzloff, J.-C.: A History of Chinese Mathematics. Springer,
Chinesen der Überzeugung waren, es sei schon immer Was- Heidelberg, 2., korrigierte Auflage 2006
ser im Wein gewesen!

www.SPEKtruM.DE 47
AStroNoMISchEMESSMEthoDEN

Peilen und Messen


Auch vor der Erfindung des Teleskops auf einen blick
erforschten Astronomen die Gestirne und
ExorIENtELux
entwickelten ausgeklügelte Messinstru-
mente, mit denen sie die Koordinaten der 1 Im 2. Jahrhundert veröffentlicht Claudius Ptolemäus mit seiner
»Mathematiké Syntaxis« das erste Standardwerk der Astro­
Sonne, des Mondes, der Planeten und der nomie. Es war rund 1500 Jahre Grundlage der Himmelsforschung.

Fixsterne bestimmen konnten. Von Europa 2 Im Mittelalter wurde das Handbuch ins Arabische übersetzt
und inspirierte die Gelehrten in Bagdad, Damaskus und ande­
gelangte das Wissen in den Orient – und ren Städten zum Bau riesiger Instrumente.

schließlich wieder zurück. 3 Die arabische Welt war Europa weit voraus. Erst im 15. Jahr­
hundert erfuhr die Astronomie hier eine Renaissance.
Tycho Brahe reformierte die Wissenschaft – und erreichte mit
seinen Instrumenten eine nie geahnte Präzision.
Von Giorgio Strano

D
ie Figur des Astronomen ist in unserer idealisier- schiedlichen Messskalen ausgestattet waren. Im Lauf der
ten Vorstellung eng mit dem Teleskop verknüpft. Jahrhunderte haben diese Instrumente wichtige Entdeckun-
Mit dem Auge am Okular des Instruments sucht gen ermöglicht, von der Präzession der Äquinoktien über die
er den Himmel ab, um ihm seine Geheimnisse zu abnehmende Schiefe der Ekliptik und die wichtigsten Un-
entreißen. Seitdem Galileo Galilei vor 400 Jahren den Ver- gleichmäßigkeiten der Mondbahn bis hin zu den drei kepler-
führungen der himmlischen Sensationen erlag, die ihm die schen Gesetzen. Mit dem Aufkommen des Teleskops sind
30-fache Vergrößerung seines Teleskops enthüllte, und ei- diese Instrumente der »freiäugigen« Astronomie nicht
nen Großteil der Nacht am Teleskop zubrachte, haben Astro- gleich verschwunden. Vielmehr verhalf ihnen das Teleskop
nomen den Himmel mit immer leistungsstärkeren Instru- zu noch höherer Präzision.
menten beobachtet. Und es ist noch kein Ende dieser Ent-
wicklung in Sicht. Die alexandrinische Beobachtungstradition
Aber seit der Einführung der Fotografie, insbesondere mit Die erste vollständige Formalisierung der Astronomie ver-
digitalen Detektoren, hat diese Idealvorstellung vom Astro- danken wir einem Menschen, über den wir nur wenig wissen.
nomen mit der Wirklichkeit der Forscher, die heute an ihren An seiner vermuteten Wirkungsstätte im Museum von Ale-
Computern sitzen und mit Hilfe ferngesteuerter, möglicher- xandria hat Claudius Ptolemäus (2. Jahrhundert n. Chr.) die
weise im Weltraum stationierter Teleskope ihre Daten sam- Arbeiten großer Mathematiker wie Apollonios von Perge (3.
meln, nur noch wenig zu tun. Die Idealvorstellung zeichnet Jahrhundert v. Chr.) und Hipparch von Nikaia (2. Jahrhundert
aber auch nicht das Bild der Astronomen vor Galilei, die den v. Chr.) perfektioniert. Insbesondere seine »Mathematiké
Himmel mit Instrumenten beobachteten, die ganz anders Syntaxis« (Mathematische Zusammenstellung) war über
funktionierten als Teleskope. Lange bevor die Astronomen Jahrhunderte hinweg das umfassende, streng geordnete
die Gestalt der Himmelskörper bewunderten und ihre physi- Standardwerk, in dem sich alle zur Lösung eines astronomi-
kalische Natur erforschten, lag ihr Interesse darin, die Koor- schen Problems erforderlichen Theoreme nachschlagen lie-
dinaten von Sternen und Planeten und die wichtigsten Be- ßen. Jedem Theorem war die verwendete empirische Grund-
stimmungsgrößen der Himmelskugel mit der höchstmög- lage vorangestellt, die neben den Beobachtungsdaten die
lichen Präzision zu ermitteln. Ihr Erfolg hing dabei vom Beschreibung der Instrumente umfasste, mit denen sie ge-
Einsatz verschiedener Instrumente ab, die meist mit unter- wonnen wurden. In dieser Hinsicht war die »Syntaxis« auch

48  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
POrTräTSAMMlunG dES nATIOnAlhISTOrISChEn MuSEuMS In SChlOSS FrEdErIKSbOrG
AKG IMAGES (ClAudE PTOléMéE, KuPFErSTICh VOn André ThEVET, 1584) [M]

Claudius Ptolemäus veröffentlichte im 2. Jahrhundert mit seiner Obwohl das Teleskop noch nicht erfunden war, konnte Tycho
»Syntaxis« die erste systematische Darstellung der Astronomie. Brahe (1546 – 1601) die Position der Gestirne bis auf eine Bogen­
Im Arabischen wurde das Werk als »Almagest« bezeichnet. minute genau bestimmen.

ein praktisches Handbuch der Astronomie und ihr Erfolg er- so lange gedreht, bis der Schatten des oberen Zeigers in die
klärt zum Teil, warum die Instrumente zur Himmelsbeob- Mitte des unteren Zeigers fiel.
achtung von der Antike bis zum 17. Jahrhundert mehr oder Dieselbe Beobachtung ließ sich überdies mit einem zwei-
minder dieselben blieben. ten, leichter bedienbaren Instrument durchführen, das in
Den ersten Platz in der Rangordnung der ptolemäischen der italienischen Renaissance »Plinto« genannt wurde. Da-
Theoreme belegte der Lauf der Sonne entlang der Ekliptik, bei handelte es sich um eine Platte aus Holz oder Stein mit
auf welche die Bewegungen aller Planeten bezogen wurden. einer ebenen, quadratischen Stirnseite, auf der ein Viertel-
Aus der gemessenen größten und kleinsten Zenitdistanz, kreis mit Teilstrichen markiert war. Im Kreismittelpunkt
welche die Sonne im Lauf eines Jahres zur Mittagszeit er- diente ein Stift als Ausgangspunkt für die Markierung. Stell-
reicht, das heißt aus dem Unterschied der Höhe der Winter- te man die quadratische Stirnseite der Platte in die Meridian-
und der Sommersonnenwende, konnten der Breitengrad des ebene, so konnte der Beobachter die Zenitdistanz der Sonne
Beobachters und die Neigung der Ekliptik zum Himmels- bestimmen, indem er den Punkt markierte, an dem das Zen-
äquator bestimmt werden. Dabei war der Frühlingspunkt, in trum des Schattens, den der Stift zur Mittagszeit warf, den
dem die Ekliptik den Himmelsäquator schneidet, wenn die Messquadranten schnitt. Aus der halben Summe und der
Sonne von der Süd- in die Nordhalbkugel wandert, der ge- halben Differenz der bei Sonnenwende gemessenen größten
meinsame Bezugspunkt des äquatorialen und des ekliptika- und kleinsten Zenitdistanz ließen sich so jeweils der Breiten-
len Koordinatensystems. grad des Beobachters und die Neigung der Ekliptik ermitteln.
Für die Untersuchung des Sonnenlaufs nannte Ptolemäus Den Durchgang der Sonne durch die Äquinoktialpunkte
drei Instrumente (siehe Bild S. 50). Das erste, die Solstitial-Ar- bestimmte man hingegen mit dem dritten Instrument, der
mille bestand aus einem Bronzering mit quadratischem Äquatorial-Armille. Dieser Ring mit quadratischem Quer-
Querschnitt, der auf einer Säule montiert war. Der Ring, des- schnitt wurde in die Ebene des Himmelsäquators gestellt
sen seitliche Stirnfläche in 360 Grad und entsprechende wei- und hatte keine Skalenteilung. Als Ptolemäus die »Mathema-
tere kleinere Abschnitte unterteilt war, umschloss einen mit tiké Syntaxis« schrieb, waren zwei solcher Äquatorial-Armil-
zwei Schattenzeigern ausgestatteten schmaleren Ring und len an öffentlichen Orten in Alexandria aufgestellt, eine wei-
wurde in die Meridianebene gestellt. Um den Höchststand tere existierte zu Zeiten Hipparchs. Zur Bestimmung der
der Sonne zur Mittagszeit zu messen, wurde der innere Ring Tag-und-Nacht-Gleiche beobachtete man den Schatten, den

www.SPEKtruM.DE 49
Solstitial­Armille Plinto Äquatorial­Armille Astrolab

z
GIOrGIO STrAnO

der obere Teil des Rings warf und der direkt ins Zentrum der ter, weiter innen liegender Ring, der seitlich in 360 Grad und
Innenseite fiel, wenn die Sonne den Himmelsäquator pas- entsprechend feiner unterteilt war, um die Achse der Ekliptik
sierte. Der Ablesefehler lag bei ungefähr sechs Stunden, ließ gedreht, bis sich der Mond in dieser Ringebene befand. Die
sich aber durch Mittelung über die 10- oder 100-fach wieder- ekliptikale Länge des Mondes ließ sich auf der Messskala des
holte Messung der Durchgänge der Sonne durch das Äqui- Ekliptikrings ablesen, der Breitengrad konnte der Beobachter
noktium verringern. Auf dieser Grundlage konnte Ptole- durch Bewegung des sechsten und letzten Rings, der mit
mäus die Jahreslänge bereits bis auf wenige Minuten genau Lochvisieren ausgestattet war, im fünften Messring ablesen.
bestimmen. Ptolemäus benutzte dieses sphärische Astrolab (auch Ar-
Auf die Untersuchung der Sonne folgte die Untersuchung millarsphäre genannt), um die Mondtheorie des Hipparch
des Mondes, die hauptsächlich mit zwei Geräten, dem Astro- weiterzuentwickeln. Um aber den Mond, welcher der Erde ja
lab und dem parallaktischen Instrument durchgeführt wur- viel näher ist als die anderen Gestirne, als Bezugspunkt beim
de. Der Mond vermittelte zwischen dem Tag, wenn die Sonne Wechsel zwischen Tag und Nacht nutzen zu können, muss-
die Lage der Ekliptik anzeigt, und der Nacht, wenn sich die ten die Beobachter die Auswirkungen der Parallaxe auf die
Koordinaten von Sternen und Planeten relativ zur Ekliptik scheinbare Position bestimmen.
bestimmen lassen. Zu diesem Zweck entwarf Ptolemäus ein großes und emp-
findliches »parallaktisches Instrument«, bestehend aus ei-
Geniale Tüftelei: nem vertikalen, hölzernen Lineal, dessen Skala in 60 Haupt-
Die Entfernung zwischen Erde und Mond teile unterteilt war. Die Skala war vier römische Ellen (zirka
Das Astrolab (von astron lambano, griechisch: »Stern-Neh- 160 Zentimeter) lang und an jedem Ende mit einem Zapfen-
mer«, Bild oben), bestand aus sechs Ringen mit quadrati- scharnier ausgestattet. Am oberen Scharnier war ein zweites,
schem Querschnitt. Der äußere Meridianring trug die Achse in der Meridianebene schwenkbares Lineal befestigt, das
der Himmelspole, um die sich alle anderen Ringe drehen ebenfalls vier Ellen lang und mit zwei Lochvisieren ausge-
konnten. Zunächst waren dies zwei gleiche Ringe, die im stattet war. Am unteren Scharnier war ein schmaleres Lineal
Winkel von 90 Grad zueinander angeordnet waren, um den befestigt, das dazu diente, die Position des freien Endes des
die Wendepunkte enthaltenden Kolur (so hieß der durch bei- zweiten Lineals abzulesen. Durch Schließen des Instruments
de Pole verlaufende Großkreis) und die Ekliptik darzustellen. ließ sich die Position auf der Vertikalskala ablesen, die letzt-
Der Längengrad der Sonne, der den entsprechenden Tafeln lich die Länge der von der Zenitdistanz des Mondes aufge-
entnommen wurde, ließ sich auf der Messskala des Ekliptik- spannten Kreissehne anzeigte. Aus dem Vergleich der Meri-
rings mit einem vierten Kollimatorring einstellen, der außen dianmessungen des Mondes in der kleinsten Zenitdistanz
um eine Achse der Ekliptikpole gedreht werden konnte. (fast ohne Parallaxe) und in der größten Zenitdistanz (mit er-
Durch gemeinsames Drehen aller Ringe um die Himmelspo- heblicher Parallaxe) schloss Ptolemäus, dass der Mond unge-
le konnte man den Ekliptikring mit Hilfe der üblichen Me- fähr 60 Erdradien von der Erde entfernt ist.
thode der Schattenprojektion am Kollimatorring mit der Nachdem er seine Mondtheorie definiert hatte, verwen-
Himmelsekliptik synchronisieren. Danach wurde ein fünf- dete Ptolemäus die Armillarsphäre, um die Bewegung der

50  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Ptolemäus beschreibt drei Ins­
parallaktisches Instrument trumente zur Beobachtung Dioptra nach Heron
der Sonne, von links nach rechts:
die Solstitial­Armille, den Plinto
und die Äquatorial­Armille. Es
folgen die beiden Instrumente
zur Mondbeobachtung das
sphärische Astrolab, auch Armil­
larsphäre genannt, und das Dioptra nach Ptolemäus
»parallaktische Instrument«.
A
B
Die »vier Ellen lange Dioptra«
diente nach Ptolemäus zur
Bestimmung des Winkeldurch­
messers der Sonne oder des
Mondes (links). Rechts ist die

GIOrGIO STrAnO
Dioptra des Heron von Alex­
andria dargestellt.

anderen fünf bekannten Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupi-


ter und Saturn zu untersuchen und um Hipparchs Sternka-
talog zu aktualisieren. Die Beobachtung erfolgte analog zu
der tagsüber zur Bestimmung der Mondposition verwende-
ten Technik. Der Kollimator- und der Ekliptikring stellte der
Astronom jedoch nicht auf den Längengrad der Sonne, son-
dern auf den Längengrad des Mondes ein. Nachdem alle Rin-
ge gemeinsam gedreht worden waren, bis der Mond in der
Ebene des Kollimatorrings erschien, ließ sich mit den beiden
innersten Ringen des Astrolabs ein Stern oder Planet anpei-
FOTO lInKS: dAnIEl C. WAuGh, FOTO rEChTS: bErnhArd du MOnT

len und seine Länge und Breite ermitteln.


Aus Interesse für die Finsternisse befasste sich Ptolemäus
zudem mit einem Instrument zur Messung der scheinbaren
Winkeldurchmesser von Sonne und Mond (siehe Bild oben
rechts). Die »vier Ellen lange Dioptra«, die er Hipparch zu-
schreibt, die aber bereits Archimedes von Syrakus (287 – 212 v.
Chr.) eingeführt hatte, war ein Richtscheit mit Längsnut, bei
dem man das Auge an einem Ende anlegte. Am anderen
Ende befand sich ein Stift (nach Archimedes) oder ein Plätt-
chen (nach Ptolemäus), das man in der Nut verschieben
konnte. Den Winkeldurchmesser der Sonne oder des Mondes
erhielt man aus dem Verhältnis zwischen der Länge des be-
deckenden Abschnitts und seinem Abstand vom Auge, wenn
die Scheibe des beobachteten Gestirns genau bedeckt er-
schien.

Ulugh Beg, Herrscher von Samarkand und begeisterter Förderer der


Wissenschaften, ließ im 15. Jahrhundert diesen großen Quadranten
nACh: SKy & TElESCOPE 6, 1986, S. 543

(oder Sextanten) errichten, dessen marmorverkleidete Messskala


einen Radius von gut 40 Metern hatte. Im Bild oben links blickt
man von Süden, im Bild oben rechts von Norden in das Instrument.
Die Skizze illustriert, wie die Beobachtungen an diesem giganti­
schen Instrument mit mobilem Visiergerät durchgeführt wurden.

www.SPEKtruM.DE 51
Im 16. Jahrhundert ließ Sultan Murad III. das Observatorium von
Istanbul errichten, befahl jedoch bald danach dessen Abriss. So sind
von den verwendeten Instrumenten nur deren Darstellungen in
zeitgenössischen Miniaturen verblieben – hier die des sphärischen
Astrolabs.

der Armillarsphäre, auf der die ekliptikalen Koordinaten der


Gestirne direkt abgelesen werden konnten, beseitigte Ptole-
mäus das Problem der Zeitmessung.
Die »Mathematiké Syntaxis« wurde von berühmten Ma-
thematikern aus Alexandria wie Pappos und Theon (4. Jahr-
hundert n. Chr.) gelesen und studiert. In den Beschreibungen
der Instrumente des Ptolemäus entdeckten sie verschiedene
Lücken und Unstimmigkeiten. Theon verspürte das Bedürf-
nis, nützliche Hinweise zur Aufstellung der Instrumente hin-
zuzufügen. In seinem Kommentar zur »Syntaxis«, den er um
das Jahr 360 schrieb, beschäftigte er sich eingehend damit,
wie horizontale Bodenflächen zu realisieren seien und wie
auf diesen die zur Bestimmung der Meridianebene der Beob-
achtung erforderliche Nordsüdrichtung aufgezeichnet wer-
den sollte. Derartiges hatte Ptolemäus nicht behandelt, da er
unIVErSITäTSbIblIOThEK ISTAnbul

es für bekannt oder für eine Aufgabe des Architekten hielt.


Eine Methode zur Markierung der Meridianlinie findet sich
beispielsweise im »De Architectura« des Vitruv (1. Jahrhun-
dert v. Chr.).
Pappos konzentrierte sich in seinem Kommentar zu den
sechs Büchern der »Syntaxis«, den er um das Jahr 320 schrieb,
Ein anderes wichtiges Instrument, den Gnomon, erwähnt auf technologische Aspekte des Instrumentenbaus: Er mach-
Ptolemäus nur kurz. Dabei handelt es sich um einen vertika- te detaillierte Angaben zu den Verbindungselementen, zur
len Stab zur Bestimmung der Zenitdistanz der Sonne aus der Verlötung der Bronzeteile der Armillarsphäre und zu den
Länge seines auf eine horizontale Ebene geworfenen Schat- hölzernen Komponenten des parallaktischen Instruments.
tens. Der Gnomon hatte bei den astronomischen Beobach- Für das Astrolab schlug er vor, den äußersten Ring in einen
tungen der Babylonier, Griechen und Ägypter eine zentrale siebten, koplanaren Skalenring einzupassen, um die Nei-
Rolle gespielt; aber weil sein Schattenende unscharf war und gung der Polachse zum Horizont variieren zu können. Das
nicht das Zentrum der Sonnenscheibe anzeigte, waren seine Astrolab ließ sich so auf die Breite des jeweiligen Beobach-
Möglichkeiten begrenzt. Die anderen in der »Syntaxis« be- tungsorts einstellen. Darauf, dass Pappos an ein tragbares
schriebenen Instrumente überwanden diese Grenzen. Gerät dachte, weist auch der Durchmesser von nur einer Elle
Ptolemäus erwähnt nicht jene Art von Dioptra, die Heron (zirka 40 Zentimeter) hin, den der äußere Ring haben sollte,
von Alexandria im 1. Jahrhundert v. Chr. erfunden hatte (Bild sowie der Hinweis, das Instrument aufzuhängen. Für das pa-
S. 51 oben rechts). Dieses Instrument ließ sich mit Hilfe zwei- rallaktische Instrument stellte Pappos klar, dass die verwen-
er Zahnräder, die durch Schraubvorrichtungen verriegelt deten Lineale oder Richtscheite nicht auf derselben Ebene
werden konnten, auf Azimut und Höhe einstellen; seine Ver- liegen durften, weil sie sich dann nicht übereinander schie-
wendung für astronomische Messungen bei Nacht war aber ben ließen, um auf der Vertikalskala die Position des freien
auf Grund der schwierigen Zeitmessung problematisch. Endes des oberen drehbaren Lineals abzulesen.
Während eine gute Sonnenuhr bis auf wenige Sekunden ge- Proklos (412 – 485), der letzte griechisch sprechende Kom-
nau war, wich eine Wasseruhr (oder Klepshydra) bereits in- mentator der »Syntaxis«, wies sich nicht immer als profun-
nerhalb weniger Stunden einige Minuten ab, egal wie gut sie der Kenner der Astronomie aus. In seiner »Hypotyposis«
gebaut war. Wie jedoch jeder Astronom wusste, war die ex- (Entwurf) schrieb er ausführlich über die Solstitial-Armille,
akte Bestimmung der Zeit grundlegend, um mit Azimutko- die auf einen quadratischen Ständer mit bestimmten Ab-
ordinaten zu arbeiten. Eine Abweichung von nur einer Mi- messungen montiert wurde, einen Durchmesser von nur ei-
nute von der wahren Beobachtungszeit konnte einen Fehler ner halben römischen Elle (rund 20 Zentimeter) hatte und
bis zu einem Viertelgrad bei der Umrechnung von Azimut- dennoch eine Skaleneinteilung von bis zu einer Bogenminu-
und Höhenkoordinaten in Rektaszension und Deklination te zuließ. Seiner Aussage nach ließen sich alle Funktionen
beziehungsweise in Längen- und Breitengrad bedeuten. Mit des Plinto und des parallaktischen Instruments in der Solsti-

52  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Das Torquetum, eine frühmittelalterliche Weiterentwicklung
der Armillarsphäre, diente der Vermessung der ekliptikalen und
äquatorialen Koordinaten der Gestirne.

tial-Armille zusammenfassen, während die Armillarsphäre


das andere für den Astronomen wirklich nützliche Instru-
ment war.
Diese Fülle von Originalbeschreibungen und mehr oder
minder bedeutenden Kommentaren gelangte in die Hände
der islamischen Mathematiker. Die »Syntaxis« des Ptole-
mäus wurde bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Bagdad
auf Wunsch des Kalifen Abd Allah al-Mamun ins Arabische
übersetzt. Nachdem das Werk die Bezeichnung »Al-magisti«
(das Große) erworben hatte, war es fortan als »Almagest« be-
kannt. Dieses Werk gab den Anstoß zu neuen Forschungen in
Theorie und Praxis. Insbesondere der Wunsch, die Ergebnis-
se zu aktualisieren und sie für zivile, religiöse und astro-
logische Zwecke zu nutzen, führte dazu, dass verschiedene

AuS JOhAnnES rEGIOMOnTAnuS: SCrIPTA, 1544


Kalifen die Herstellung von Präzisionsinstrumenten unter-
stützten. Al-Mamun förderte den Bau zweier Observatorien
in Bagdad und Damaskus, um neue Daten zur Aktualisie-
rung der Tafeln zur Sonnenbewegung zu erhalten. Damit
sollten der Kalender, die Tageszeit und die heilige Himmels-
richtung nach Mekka bestimmt werden. Beide Observatori-
en waren mit ptolemäischen Instrumenten ausgestattet, die
deutlich größer waren als in den griechischen Texten über- mille herum wurden zehn Öfen aufgebaut, die mit je zwei
liefert. Beispielsweise befand sich im Observatorium von Da- Paar Blasebälgen ausgerüstet waren; der Guss, der vom Kali-
maskus ein großer Marmorquadrant, der dem Plinto des »Al- fen persönlich überwacht wurde, musste wiederholt werden,
magest« nachempfunden war und dessen Radius zehn Ellen bevor ein befriedigendes Ergebnis erzielt werden konnte.
(etwa vier Meter) betrug. Dennoch zeigten schon die ersten Beobachtungen, dass das
Instrument unter seinem Eigengewicht nachgab, so dass Ab-
Unter der Last des eigenen Gewichts weichungen von mehr als einem Grad auftraten.
Die Tendenz, Instrumente großer Abmessungen zu bauen, Vielleicht gerade auf Grund ihrer Vorliebe für große Inst-
tritt in der islamischen Astronomie beständig auf. Ihre Mess- rumente zeichnete sich in der islamischen Welt die Tendenz
skalen erlaubten feinere Gradeinteilungen, so dass solche ab, astronomische Observatorien einzurichten, die als hoch-
Geräte eine höhere Präzision zu gewährleisten schienen. Ein gradig organisierte Institutionen begriffen wurden. Das
direkter Zusammenhang zwischen Dimension und Präzi- heißt nicht, dass es an privaten Initiativen fehlte, ganz im Ge-
sion war aber nicht selbstverständlich, da größere Instrumen- genteil: Sie wurden von intellektuell fähigen und wirtschaft-
te mit größeren Konstruktionsfehlern behaftet und stärke- lich gut situierten Persönlichkeiten ergriffen. Beispielsweise
ren Verformungen ausgesetzt waren als kleinere Geräte. Dies führte Mohammed al-Battani zwischen 877 und 918 in Rakka,
belegt ein Gnomon aus Eisen, den al-Mamun in Bagdad er- im Norden des heutigen Syrien, Beobachtungen mit einem
richten ließ: Das zehn Ellen hohe Instrument erwies sich als Gnomon, einem Quadranten und einem parallaktischen
untauglich, weil sich seine Maße im Lauf des Tages ständig Instrument durch. Auf der Grundlage seiner Erkenntnisse
mit der Temperatur veränderten. verfasste er eine Abhandlung mit aktualisierten Tafeln der
Bei dem Versuch des Kalifen al-Amir bi-Ahkam Allah, in Planetenbewegungen. Es wurden auch andere Wege zu Pto-
Kairo ein Observatorium zu errichten, traten dieselben Ma- lemäus gesucht. Ibn Sina (980 – 1037), besser bekannt als
terialprobleme auf. Das Prachtstück des Observatoriums, Avicenna, führte Beobachtungen mit einem selbst erfunde-
mit dessen Bau im Jahre 1120 begonnen wurde, sollte eine nen azimutalen Instrument durch, dessen Basis einen
Solstitial-Armille aus Kupfer sein, die so groß war, dass ein Durchmesser von etwa sieben Metern hatte. Allerdings er-
Mann auf seinem Pferd hindurchreiten konnte. Die Konst- zielte dieses Instrument aus denselben Gründen, die zur Auf-
ruktion stellte die technischen Fertigkeiten der beteiligten gabe von Herons Dioptra geführt hatten, keine brauchbaren
Handwerker auf eine harte Probe: Um die Gussform der Ar- Ergebnisse.

www.SPEKtruM.DE 53
AuS: ZWEIhundErT dEuTSChE MännEr. In: ludWIG bEChSTEIn (hG.), lEIPZIG 1854
AuS TyChO brAhE: ASTrOnOMIAE InSTAurATAE MEChAnICA, 1598
Johannes Regiomontanus aus Königsberg führte die astrono­
mische Tradition der Antike fort und belebte sie neu. Die neben­
stehende Darstellung der Armillarsphäre stammt aus seinen
Der mittelalterliche Jakobsstab war eine Weiterentwicklung der eigenen Schriften. Ihm verdankte Kopernikus die Kenntnis der
»vier Ellen langen Dioptra« des Ptolemäus. Beobachtungsdaten aus der Antike.

Angesichts Dutzender selbstständiger Astronomen ka- der Zeit, anvertraut, der ein systematisches Beobachtungs-
men die lokalen Herrscher zu dem Schluss, dass nur eine spe- programm für einen Zeitraum von 30 Jahren vorschlug. Die-
zielle Institution gültige Ergebnisse gewährleisten konnte. ser Zeitraum war unbedingt erforderlich, um mit den gro-
Die Merkmale dieser Art von Institution zeichneten sich ßen ptolemäischen Instrumenten alle Bewegungen der Ge-
etwa im 12. Jahrhundert vollständig ab. Ein Observatorium stirne einschließlich eines vollständigen Saturnumlaufs zu
sollte verfügen über: 1) einen geeigneten Ort für die Beobach- erfassen. Hülägü forderte hingegen, dass die ersten Ergebnis-
tungen; 2) ein Hauptgebäude mit den Großinstrumenten, se, das heißt neue astronomische Tafeln, viel früher zur Ver-
darunter ein Mauerquadrant, eine Solstitial-Armille, eine fügung stehen sollten. So erstellte at-Tusi ein Programm für
Äquatorial-Armille, ein parallaktisches Instrument (so ausge- zwölf Jahre, die Zeit eines vollständigen Jupiterumlaufs. Zwar
führt, dass es sich um seine Vertikalachse drehen ließ) und sollte erst der Sohn von Hülägü die »Zij-i Ilkhani« (Tafeln des
eine Armillarsphäre; 3) ein Nebengebäude oder »kleines Ilkhan) in Empfang nehmen, doch auch vor Ablauf der zwölf
Observatorium« mit Rechengeräten wie Himmelsgloben, Jahre geizte at-Tusi nicht mit astrologischen Ratschlägen
flachen Astrolabien, Schiebern, Zirkeln et cetera; 4) eine Bib- und war bei deren Formulierung derart versiert, dass er dem
liothek mit allen erforderlichen mathematischen Abhand- Khan oft seine eigenen Wünsche unterschob. Unter der Lei-
lungen; 5) eine Forschungsgruppe, geleitet von einem exzel- tung von at-Tusi wurde das Observatorium von Maragheh
lenten Mathematiker; 6) ein langfristiges, auf systemati- ein Begegnungszentrum für bedeutende Mathematiker, die
schen Beobachtungen basierendes Forschungsprogramm. mit Hilfe der gesammelten astronomischen Daten eine erste
Die Abhängigkeit einer solchen Institution von Finanzmit- theoretische Reform der ptolemäischen Astronomie einlei-
teln, die von der Politik bereitgestellt wurden, führte dazu, teten.
dass sich der Forschungszweck oft nach den Interessen der
Machthaber richtete. Hatte man sich zuvor mit den Prob- Ermordet vom eigenen Sohn
lemen beschäftigt, die den religiösen Führern am Herzen Die beiden anderen größeren islamischen Observatorien
lagen, also der Bestimmung des Kalenders, der Zeit sowie der hatten nicht dieselbe Fortune. Um das Jahr 1420 baute und
Richtung nach Mekka, so beschäftigte man sich nun mit der leitete Ulugh Beg (1394 – 1449), Enkel von Tamerlan und all-
Entwicklung der Astrologie, die der Regierung für ihre Ent- gemeiner Förderer der Wissenschaften, das Observatorium
scheidungsfindung sehr nützlich erschien. von Samarkand. Das bemerkenswerteste Ergebnis von Ulugh
Das erste islamische Observatorium, das all diese Merk- Beg und seinen Assistenten war die Erstellung der »Zij-i Sul-
male erfolgreich in sich vereinte, wurde zwischen 1259 und tani« (Tafeln des Sultan), denen ein neuer, originaler Stern-
1263 auf Wunsch von Hülägü Khan, einem Enkel des Dschin- katalog zur Seite gestellt wurde, der zweite nach dem »Al-
gis Khan, auf einem Hügel in der Nähe von Maragheh im magest«. Giyath ad-Din Jamshid ak-Kashi (gestorben 1429)
heutigen Aserbaidschan errichtet. Seine Leitung wurde Nasir war der wichtigste Mathematiker des Observatoriums. Sei-
at-Din at-Tusi (1201 – 1274), einem der größten Mathematiker nen Notizen zufolge war der Katalog das Ergebnis von Beob-

54  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Astronomie von Alexandria. Seit dem 12. Jahrhundert gelang-
ten die ersten lateinischen Fassungen griechischer Werke auf
der Grundlage arabischer Übersetzungen nach Europa. Die
erste war die von Gherardo da Cremona (zirka 1114 – 1187) in
Toledo angefertigte Übersetzung des »Almagest«. Ausgangs-
punkt ihrer Verbreitung war Spanien, wo sich beide Kulturen
begegneten. Hier versammelte König Alfonso X. von Kastilien
(1221 – 1284), genannt »El Sabio« (der Weise), eine Gruppe isla-
mischer, christlicher und jüdischer Astronomen um sich. Als
großer Schirmherr der Wissenschaften förderte Alfonso X. die
mehrbändige Verfassung eines Werks, der »Libros del saber
de astronomia«. Neben neuen Tafeln zu den Planetenbewe-
gungen wurde darin die Verwendung verschiedener Rechen-
geräte islamischen Ursprungs und einiger Beobachtungs-
AuS JOhAnnES rEGIOMOnTAnuS: SCrIPTA, 1544

instrumente der ptolemäischen Schule beschrieben, wie bei-


spielsweise die Armillarsphäre.

Islamische Spitzenforschung
Europäer, die sich mit Astronomie befassten, waren von den
islamischen wie von den ptolemäischen Geräten in doppel-
ter Hinsicht abhängig. Im Jahr 1268 zog Roger Bacon (1214 –
1292) Papst Clemens IV. gegenüber resigniert den Schluss,
dass für die Astronomie Ausgaben in gewaltiger Höhe von
achtungen, die mit einem sphärischen Astrolab aus Kupfer mehr als 200 oder 300 (damaligen) Pfund Sterling erforder-
durchgeführt worden waren. Der Niedergang des Observato- lich seien, um Instrumente aus islamischer Herstellung zu
riums begann mit der Ermordung Ulugh Begs durch seinen erwerben – dabei war er von den geringen örtlich vorhande-
Sohn, der sich mehr für die Politik als für die Sterne interes- nen Kompetenzen überzeugt. Eine andere Ansicht vertrat
sierte. Noch heute sind jedoch Spuren des enormen Mauer- der Abt von St Albans, Richard von Wallingford (1292 – 1336):
quadranten (oder möglicherweise Sextanten) vorhanden, Er versuchte sich durch eigene Neuerfindungen von den isla-
den Ulugh Begh für die Beobachtung der Sonne verwendete. mischen Rechengeräten und den ptolemäischen Beobach-
Seine marmorverkleidete Messskala hat einen Radius von tungsinstrumenten unabhängig zu machen. Zumindest im
gut 40 Metern (siehe Bilder S. 51). Fall der Beobachtungsinstrumente waren die Ergebnisse je-
Ein trauriges Schicksal ereilte auch das Observatorium doch nicht zufrieden stellend. Der von Wallingford im Jahr
von Istanbul, das von 1575 bis 1577 im Auftrag des Sultans 1326 zur Messung der Himmelskoordinaten konstruierte
Murad III. erbaut und von Taki at-Din Mohammed al-Rashid »Rectangulus« erwies sich als Fehlschlag; er bestand aus ver-
ibn Maruf geleitet wurde. Um seine ersten astrologischen schiedenen Messlinealen, die über Scharniere miteinander
Prognosen zu formulieren, wartete Taki ad-Din nicht, bis die verbunden und teils mit Visiervorrichtungen versehen wa-
Positionen aller Gestirne während eines Umlaufs des Saturn ren. Mehrere Senklote dienten dazu, jeweils die Richtung
oder Jupiter erfasst waren. Die Prognosen, insbesondere die und die Neigung der Lineale anzuzeigen.
aus der Kometenerscheinung im Jahre 1577 abgeleitete Prog- Zwei andere Instrumente, die aus der alexandrinischen
nose über den glücklichen Ausgang des Feldzugs, den der Tradition entwickelt wurden, waren erfolgreicher. Das »Tor-
Sultan gegen Persien führte, stellten sich als falsch heraus. quetum« (von torquere, lateinisch: drehen) wurde im 8. Jahr-
Dieser Umstand bekräftigte die von den gegen das Observa- hundert erstmals beschrieben und war Wallingford gut be-
torium eingestellten religiösen Oberhäuptern vorgetragene kannt, denn er nahm es in die Liste der Instrumente am Ende
Verdachtsmomente, dass Taki ad-Din mit dem Planeten seiner Abhandlung über den Rectangulus auf. Es handelte
Saturn im Bunde sei. Im Jahre 1580 befahl der Sultan den Ab- sich um eine Weiterentwicklung der Armillarsphäre von Pto-
riss des Observatoriums »vom Apogäum bis zum Perigäum«, lemäus. Die Bronzeringe waren durch Messingscheiben er-
was mit Zustimmung von Taki ad-Din auch geschah. Wie die setzt worden, dadurch waren die Bauteile des Instruments
großen ptolemäischen Instrumente aussahen, die für das nicht mehr ineinander, sondern übereinander angeordnet
Observatorium gefertigt wurden, ist immerhin durch die (siehe Bild S. 53). Die horizontale Basis fungierte als Träger ei-
Miniaturen einer handschriftlichen Abhandlung belegt, die ner Äquatorebene mit einer ersten drehbaren Messscheibe,
in der Universitätsbibliothek in Istanbul aufbewahrt wird die eine zweite drehbare, entsprechend der Schiefe der Eklip-
(siehe Bild S. 52). tik geneigte Messscheibe trug. Diese Ekliptikscheibe verfüg-
Das lateinsprachige Europa bekam über die islamische Ver- te über einen mit einer Visiervorrichtung ausgestatteten
mittlung Kenntnis von den Ergebnissen der hellenistischen Dreharm, auf dem sich ein weiterer Träger einer dritten, lot-

www.SPEKtruM.DE 55
AuS TyChO brAhE: ASTrOnOMIAE InSTAurATAE MEChAnICA, 1598

Das parallaktische Instrument des Kopernikus gelangte in den Besitz Tycho Brahes, der Die drei größten Instrumente von
es selbst einsetzte und auch beschrieb. Tychos Stjerneborg: Der Sextant ...

recht zur Ekliptik angebrachten Messscheibe befand. Ein (1423 – 1461), Professor der Astronomie in Wien, war er der
zweiter Dreharm mit Visiervorrichtungen, an dem eine Überzeugung, dass Neuerungen in der Sache auf antike ma-
Halbscheibe mit Senklot angebracht war, vervollständigte thematische Werke zu gründen seien. Regiomontanus ver-
das Instrument. Mit Hilfe dieser Konstruktion ließen sich auf folgte diesen Weg, indem er griechische Originaltexte suchte,
dem Torquetum die ekliptikalen Koordinaten der Gestirne Übersetzungen, Kommentare und neue Auflagen herausgab
bestimmen. Stellte man die Ekliptikscheibe auf den Äquator und ein Observatorium in Nürnberg einrichtete. Neben der
ein, so konnte der Beobachter die äquatorialen Koordinaten »Epytoma in Almagestum Ptolomei«, einem um 1462 fertig
vermessen. Stellte man schließlich auch die Äquatorscheibe gestellten Kompendium, in dem zudem alle traditionellen
in die Horizontalebene, ließen sich die azimutalen Koordina- Beobachtungsmittel aufgeführt sind, hinterließ Regiomon-
ten bestimmen. Allerdings ergaben sich beim Einsatz dieses tanus Schriften über das Torquetum, die Armillarsphäre (in
vielseitigen Instruments durch das Überlagern der Drehach- der Tradition der Kommentatoren von Ptolemäus mit sie-
sen und Drehgelenke erhebliche Messfehler. ben Ringen, siehe das Bild S. 55), das parallaktische Ins-
Das zweite Instrument, der Jakobsstab (auch Kreuzstab trument (in der um die senkrechte Achse drehbaren Version
oder Gradstock genannt, siehe Bild S. 54), taucht erstmals im aus der islamischen Tradition) und den Kreuzstab.
14. Jahrhundert in der Beschreibung des jüdischstämmigen Diese Schriften wurden von Johann Schöner (1477 – 1547)
Mathematikers Levi ben Gerson auf. Das Instrument war gesammelt und im Jahre 1544 mit ergänzenden Beobach-
eine Weiterentwicklung der »vier Ellen langen Dioptra« aus tungen aus dem Nürnberger Observatorium posthum veröf-
alexandrinischer Tradition. Es bestand aus einem langen fentlicht. Aus den Daten ist ersichtlich, dass Regiomontanus
Stab, auf dem ein kleinerer Stab als senkrechter Schieber ver- den Kreuzstab und das parallaktische Instrument nutzte,
lief. Der Winkelabstand zwischen zwei Gestirnen wurde ge- während erst sein Schüler und Mäzen Bernard Walther (1430 –
messen, indem man das Auge an ein Ende des langen Stabs 1504) das sphärische Astrolab im Observatorium einführte.
setzte und den Schieber vor- und zurückbewegte. Aus dem Nachdem sein Meister unter ungeklärten Umständen in
Verhältnis zwischen Länge und Abstand des Schiebers vom Rom gestorben war, bestimmte Walther die Positionen der
Auge in der Stellung, in der die mit Visiereinrichtung verse- Sterne und Planeten mit der bis dahin noch nie erreichten
henen Schieberenden die beiden Gestirne berührten, ließ Genauigkeit von fünf Bogenminuten.
sich der gesuchte Winkel bestimmen. Alternativ dazu konnte Die von Regiomontanus innerhalb der ptolemäischen
man zur Messung der Höhe des Gestirns über dem Horizont Tradition eingeleitete Erneuerung beeinflusste unter ande-
das Instrument in der Senkrechten halten. rem Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543). Kopernikus war kein
Die wahre Renaissance der beobachtenden Astronomie in systematischer Beobachter: Zur Eichung seiner in »De Revo-
Europa begann mit Johannes Müller aus Königsberg (1436 – lutionibus Orbium Coelestium« (1543) vorgestellten helio-
1476), bekannt auch unter dem Namen Regiomontanus (sie- zentrischen Planetenmodelle verwendete er Daten der An-
he Bild S. 54). Wie sein Lehrmeister Georg von Peurbach tike, die von Regiomontanus handschriftlich kursierenden

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AuS TyChO brAhE: ASTrOnOMIAE InSTAurATAE MEChAnICA, 1598
Durch die Einführung neuer Visiere und Mess­
skalen verbesserte Tycho Brahe die Leistungs­
fähigkeit seiner Instrumente erheblich: Seine
Positionsbestimmungen waren bis auf eine
... der Quadrant ... ... und die Armillarsphäre. Bogenminute genau. Mit ihm erreichte die vor­
teleskopische Astronomie ihren Höhepunkt.

Daten sowie eigene Daten. Schon im Jahre 1514 hatte er in ei- Hven jagten, wenn die Zeit für Beobachtungen besonders
nem der Türme der Grenzmauer der Kathedrale von From- günstig war, ließen nicht nur die eigens zur Aufstellung der
bork, wo er Domherr war, ein Observatorium mit drei Holz- Instrumente gebauten Terrassen von Uraniborg, sondern
instrumenten eingerichtet. Es gab dort einen Quadranten, auch die zahlreichen dort arbeitenden Assistenten erzittern.
eine Armillarsphäre und ein parallaktisches Instrument (Bil- Im Jahr 1584 begann Tycho unweit der Stadt Uraniborg ei-
der oben), das sich um die Vertikalachse drehen ließ. Nur zu nen neuen, unterirdischen Bau. Es entstand das Observato-
diesem gibt es genaue Angaben, da es glücklicherweise 40 rium von Stjerneborg, das mit zwei Quadranten, einem Sex-
Jahre nach Kopernikus Tod in die Hände des größten Beob- tanten und zwei sphärischen Astrolabien optimal ausgerüs-
achters der gesamten präteleskopischen Astronomie fiel. tet war (siehe Bild oben rechts). Die von Tycho und seinen
Tycho Brahe (1546 – 1601) war ein Adliger aus Dänemark, Assistenten am neuen Observatorium durchgeführten Beob-
der sich schon von Jugend an mit Astronomie befasste und achtungen der Sterne und Planeten erreichten die bis dahin
sich vornahm, sie auf der Grundlage neuer, genauester Beob- unbekannte Präzision von einer Bogenminute.
achtungen zu reformieren. Seit seiner Studienzeit konstru-
ierte Tycho Messinstrumente unterschiedlicher Art. Er war Neuer Bezugspunkt: Venus
profunder Kenner der ptolemäischen Tradition und offen Dieser neue Meilenstein wurde nicht nur dank der allge-
für die Vorschläge, die ihn aus Kassel erreichten. Dort ver- meinen technischen Lösungen erreicht, die Tycho einführte,
suchte Landgraf Wilhelm IV. (1532 – 1592), die Bestimmung um die Konstruktion der Instrumente zu vereinfachen. Auch
der Himmelskoordinaten der Gestirne bei ihrem Meridian- seine technischen Neuerungen, wie etwa die Verwendung
durchgang mit kostspieligen mechanischen Uhren zu per- neuer Visiere oder neue Techniken der Skaleneinteilung, tru-
fektionieren. Vielleicht hatte Tycho auch ein offenes Ohr für gen hierzu bei. Tycho gab schließlich die traditionellen Loch-
die Neuigkeiten aus den großen islamischen Observatorien, visiere auf und verwendete Visiere mit Schlitzen. Bei den
jedenfalls aber hatte er das Glück, in König Friedrich II. von Messskalen war seine Technik, zwischen zwei Hauptteilun-
Dänemark einen einzigartigen Förderer zu finden, der bereit gen eine Reihe von Nebenteilungen anzuordnen, die mit
war, ihn über jedes vernünftige Maß hinaus finanziell zu un- Punkten markiert in Quersegmenten angeordnet waren.
terstützen. Der Schlüssel für die außerordentliche Präzision, die in
Nachdem er 1576 die Insel Hven im Øresund als Lehen er- Hven erreicht wurde, lag jedoch in Tychos Fachwissen, mit
halten hatte, begann Tycho mit der Verwirklichung eines Ob- dem er im Rahmen einer konsolidierten Tradition wohl do-
servatoriums, das er mit selbst konstruierten Instrumenten sierte Innovationen einführte. In den Jahren, in denen er Ura-
ausstattete: mit Azimutalquadranten, Sextanten, Armillar- niborg einrichtete, versuchte er sich von der ptolemäischen
sphären und parallaktischen Instrumenten. Nicht alle diese Praxis zu befreien, die den Mond als Bezugspunkt für den
Geräte erwiesen sich als brauchbar, denn man musste einse- Übergang zwischen Tag und Nacht vorsah. Er wollte den von
hen: Die kalten Winde, die gerade im Winter über die Insel Landgraf Wilhelm IV. eingeführten Versuch weiterentwickeln,

www.SPEKtruM.DE 57
den Meridiandurchgang der Gestirne dafür zu nutzen. Nach- endgültige Aus für die Instrumente der freiäugigen Astrono-
dem er bald gemerkt hatte, dass alle verfügbaren Uhren mie. Viel mehr noch als das Teleskop machten diese Uhren
letztlich immer unzuverlässig waren, gab Tycho diesen Ver- den Traum zur Wirklichkeit, den die Astronomen zwei Jahr-
such auf, die ptolemäische Praxis weiterzuentwickeln. tausende lang geträumt hatten: Jetzt endlich konnte man die
Ihr Schwachpunkt bestand im Mond als Bezugspunkt. Der Himmelskoordinaten eines Gestirns mit nur einem, genau
Mond besaß eine hohe Eigenbewegung (zirka 30 Bogenmi- in der Meridianebene des Beobachtungsorts aufgestellten
nuten pro Stunde) und war tatsächlich schwer anzupeilen. Messkreis – dem klassischen Passageinstrument – und ei-
Tycho fand im Planeten Venus einen neuen Bezugspunkt, nem Chronometer bestimmen.  Ÿ
der nahezu punktförmig war, eine geringere Eigenbewegung
hatte (zirka 2,5 Bogenminuten pro Stunde), und der in selte-
deR autoR
nen Fällen sogar bei vollem Tageslicht zu sehen war. Durch
eine neue Auswertung des überlieferten ptolemäischen Wis- Giorgio Strano ist Kurator der Sammlungen im
sens konnte Tycho Daten mit einer Präzision zusammen- Institut und Museum für Wissenschaftsge-
schichte (IMSS) in Florenz. Er beschäftigt sich vor
stellen, die später die Entdeckung der drei Gesetze über die allem mit der Geschichte der Astronomie von der
Planetenbewegungen erst möglich machte, denn er vererbte Antike bis ins 17. Jahrhundert.
diese Daten seinem brillanten Assistenten Johannes Kepler
(1571 – 1630).

liteRatuR
Das Ende einer Tradition
Die Beobachtungsinstrumente, die Ptolemäus skizziert hatte Astronomie vor Galilei. Spektrum der Wissenschaft dossier 4/2006
und die sich in einem langsamen Prozess von den ersten Kom- du Mont, B.: ulugh beg, Astronom und herrscher in Samarkand.
mentatoren des »Almagest« über die großen islamischen Ma- In: Sterne und Weltraum 9 - 10/2002, S. 38 – 46
Evans, J.: The history and Practice of Ancient Astronomy, Oxford
thematiker bis hin zu Tycho entwickelt hatten, wurden durch
university Press, new york 1998
das Teleskop nicht verdrängt. In allen Observatorien, in denen Price, J. D.: Precision Instruments to 1500, in: Singer, C.: A history
die Präzisionsastronomie gepflegt wurde, überdauerten diese of Technology 3, Oxford university Press, new york 1979, S. 582 – 619
Sayili, A.: The Observatory in Islam, Arno Press, new york 1981
Instrumente neben dem Teleskop noch fast 100 Jahre. Mit der
Schwan, H.: die Tabellen von ulugh begh. In: Sterne und Weltraum
Zeit wurde das Teleskop in diese Instrumente integriert: Es er- 9 - 10/2002, S. 48 – 51
setzte schließlich die Lochvisiere der alexandrinischen Tradi- Strano, G.: l’osservatorio essenziale: fortuna e ricezione degli
tion oder die von Tycho erfundenen Visiervorrichtungen mit strumenti astronomici di Tycho brahe dall’Europa alla Cina: In:
Giornale di Astronomia 33, S. 8 – 15, 2007
Schlitzen und ermöglichte den Astronomen des 18. Jahrhun- Strano, G.: Strumenti alessandrini per l’osservazione astronomica:
derts eine zuvor unerreichbare Präzision. Tolomeo e la »Mathematiké syntaxis«. In: Automata 2, S. 79 – 92,
Erst das Aufkommen wirklich zuverlässiger, über meh- 2007

rere Tage hinweg sekundengenauer Uhren bedeutete das

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Von der Brille


zum Fernrohr
Während die Grundlagen der geometrischen Optik bereits in der Antike bekannt
waren, erscheinen die ersten Lesebrillen erst im 13. Jahrhundert in Italien.
Noch einmal mehr als 300 Jahre dauerte es, bis das Teleskop erfunden war. Warum
hat das so lange gedauert?

Von Sven Dupré

STAATLIche KuNSTSAmmLuNGeN DreSDeN, mAThemATISch-PhySIKALIScher SALON, BILDArchIv mPS

Dieses Fernrohr aus dem


17. Jahrhundert ist 69 Zenti­
meter lang und vergrößert
achtfach. Es wurde wahr­
scheinlich von dem Uhrmacher
Heinrich Stolle aus dem
»Prager Kreis« um Jost Bürgi
und Johannes Kepler gebaut.
Das seltene Exemplar früher
Galileischer oder holländi­
scher Teleskope wurde 1945 in
Dresden zerstört.

60  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
A
m 25. September 1608 reiste der Brillenmacher Die Idee des Teleskops kam nicht im frühen 17. Jahrhun­
Hans Lipperhey vom niederländischen Middel­ dert in Middelburg auf. Schon im 13. Jahrhundert träumte
burg nach Den Haag, um ein Patent für »ein be­ der englische Philosoph Roger Bacon von einem teleskopi­
stimmtes Instrument zum Weitsehen« anzumel­ schen Instrument, in dem »ein Kind wie ein Riese erscheint
den. Lipperhey durfte seine Erfindung dem Oberbefehls­ und ein Mann wie ein Berg«. Ein solches Instrument wäre
haber der holländischen Truppen, Prinz Moritz von nach Bacons Ansicht höchst praktisch, um eine anrückende
Oranien­Nassau, sowie den Räten der Provinzen in der da­ Armee beobachten zu können.
mals im Entstehen begriffenen Republik Holland vorführen. Der erhoffte militärische Nutzen stand bereits im Mittel­
Am 2. Oktober diskutierten die Generalstaaten über Lipper­ punkt der weit verbreiteten Legende des Leuchtturms Pha­
heys Patentanmeldung und forderte ihn daraufhin auf, ein ros im alten Alexandria. An dessen Spitze soll König Ptole­
verbessertes »Spionageglas« anzufertigen, für das er Berg­ maios angeblich einen Hohlspiegel montiert haben lassen,
kristall an Stelle von Glas verwenden sollte. Vielleicht ist dies »um damit feindliche Schiffe sehen zu können, die das Land
ein Hinweis auf eine schlechte Qualität der Linsen. Außer­ erobern und ausplündern wollen«. Das erzählte zumindest
dem sollte er ein Binokular bauen. Man gab ihm 300 Gulden der Neapolitaner Giovanni Battista Della Porta in seinem
und versprach noch mehr Geld, wenn er ein Instrument lie­ 1558 erschienenen Buch »Magia Naturalis«. Interessanter­
fern könne, das den geforderten Ansprüchen genügen wür­ weise wurden in diesen Geschichten die teleskopischen Ei­
de. Das Patent verlieh man ihm jedoch nicht. genschaften Hohlspiegeln zugeschrieben, nicht Linsen.
Der Grund für diese Ablehnung lag darin, dass innerhalb Die Pharos­Legende ist vielleicht die bekannteste Verkör­
von drei Wochen zwei andere Männer auftraten und die Erfin­ perung der teleskopischen Katoptrik, also jener Optik, die
dung des Teleskops – das Wort wurde erst später nach Galileis auf der Reflexion von Licht beruht. Schon lange vor ihrer
Himmelsbeobachtungen geprägt – für sich in Anspruch nah­ Übersetzung ins Lateinische im Jahre 1575 gab es verschiede­
men: Zum einen führte Zacharias Janssen, der vermutlich ein ne mittelalterliche Versionen eines solchen Instruments. Da­
Nachbar von Lipperhey in Middelburg war, den Abgeordneten gegen bestanden die von Lipperhey und Metius vergeblich
der Generalstaaten sein Spionageglas vor; zum anderen bean­ zum Patent angemeldeten Fernrohre (von der Art des links
tragte Jacob Metius aus Alkmaar in einem Brief an die Gene­ Gezeigten) aus einer Konvex­ und einer Konkavlinse.
ralstaaten das Patent für ein Teleskop, das er nach seinen eige­ Wenn die teleskopische Vergrößerung ein uralter Traum
nen Worten in den zwei Jahren zuvor nach intensivem Expe­ der Menschheit war, was verhinderte dann für so lange Zeit
rimentieren mit Linsen erfunden hatte. Den Abgeordneten seine Verwirklichung? Warum beantragte erst im September
wurde sofort klar, dass es unmöglich sein würde, diese Erfin­ 1608 ein Brillenmacher aus Middelburg ein Patent für ein
dung geheim zu halten, und dass ein solches Instrument sehr Fernrohr? Welches waren die konzeptionellen und techni­
einfach zu kopieren sei. Ja, vielleicht kursierten sogar bereits schen Hindernisse bei dessen Entwicklung?
andere Instrumente. Grund genug also für die Generalstaaten, Diese Frage wird vermutlich nicht abschließend zu beant­
Lipperhey das Patent zu verweigern. worten sein. Es ist jedoch möglich, einige entscheidende Ent­
wicklungen in der Theorie der Optik und im Handwerk der
»Ein Kind wie ein Riese« Linsenherstellung insbesondere während der zwei Jahrhun­
Heute gehen Forscher davon aus, dass Zacharias Janssens Pri­ derte vor 1608 zu benennen.
oritätsansprüche, die in jüngster Zeit immer noch Unterstüt­ Im frühen 17. Jahrhundert war die Optik eine etablierte
zer gefunden haben, die Folge von Nationalismus und Lokal­ mathematische Disziplin, deren Tradition bis in die Antike
stolz im 19. Jahrhundert sind. Janssen wurde irrtümlich als in zurückreichte. Die grundlegenden Werke stammen von Eu­
Middelburg gebürtig angesehen, einer Stadt in der Provinz
Zeeland, in die der aus Wesel im heutigen Nordrhein­West­
falen stammende Lipperhey 1594 ausgewandert war. Jeden­
auf einen blick
falls ist das Empfehlungsschreiben der Generalstaaten, das
Lipperhey bei seiner Demonstration am 25. September 1608 ExPErIMENtEMItbrILLENgLäSErN
in Den Haag bei sich trug, der erste dokumentierte Beleg für
die Existenz eines holländischen Fernrohrs. Aber macht das
Lipperhey zum wirklichen Erfinder?
1Der Traum von einem bildvergrößernden optischen Gerät war
bereits Jahrhunderte alt, als Anfang des 17. Jahrhunderts Hans
Lipperhey aus Middelburg für sein Teleskop vergeblich ein Patent
Wir wissen die Antwort auf diese Frage nicht und werden beantragte.
sie vielleicht nie erfahren. Sie wurde im frühen 17. Jahrhundert
ohnehin von den Bewerbern, die mit den damaligen Vorstel­ 2Das liegt vermutlich daran, dass zu jenem Zeitpunkt Brillen-
gläser für Kurz- und Weitsichtige eine gute Qualität und einen
hohen Verbreitungsgrad erreicht hatten. Damit konnte vielerorts
lungen von Patenten und Privilegien vertraut waren, ganz an­ erfolgreich experimentiert werden.
ders aufgefasst als heute. Die Priorität ist zudem kaum der in­
teressanteste Aspekt dieser Geschichte. Viel interessanter ist
die Frage nach den Ursprüngen des theoretischen und prakti­
3Ein theoretisches Verständnis der teleskopischen Optik stellte
sich erst mit der experimentellen Weiterentwicklung der Fern-
rohre ein.
schen Wissens, die zur Geburt dieses Instruments führten.

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SveN DuPré
Der Brennspiegel des Archimedes zerstört die feindlichen Schiffe vor Syrakus. Dieses Fresko von Giulio Parigi (etwa 1600) schmückt
die »Stanzino delle Matematiche« in den Uffizien in Florenz.

klid (4. Jahrhundert v. Chr.) und von Claudius Ptolemäus (2. Man muss sich hierbei vor Augen halten, dass im Gegen­
Jahrhundert n. Chr.). In der Antike sollte mit Hilfe der Optiksatz zur modernen geometrischen Optik das ursprüngliche
vornehmlich unsere Wahrnehmung der Welt erklärt werden. Anliegen der Perspektivisten darin bestand, das Sehen und
Euklids Werk »Optik« war auf das Problem der direkten Wahr­ die visuelle Wahrnehmung zu verstehen. Vor diesem Hinter­
nehmung beschränkt. Ptolemäus behandelte zudem in eini­ grund waren die Perspektivisten bei ihrer Diskussion über
gen Kapiteln seiner »Optik« die Katoptrik (Reflexion an spie­ Reflexion und Brechung nur an der Wahrnehmung von Bil­
gelähnlichen Flächen) sowie die Dioptrik (Brechung an einer dern in Spiegeln und Glaskugeln interessiert. Dies bedeutet
Fläche zwischen zwei transparenten Medien). Im Bereich der jedoch nicht, dass die Vorgänge bei der Reflexion von Licht in
Reflexion bringt man das Gesetz gleicher Einfalls­ und Aus­ Spiegeln oder bei der Brechung in Glaskugeln und Linsen, die
fallswinkel mit Heron von Alexandria (1. Jahrhundert n. Chr.) ab dem späten 13. Jahrhundert als Brillen zum Einsatz kamen,
in Verbindung. Ptolemäus maß außerdem die Brechung in ignoriert wurden. Es gab in der Tat eine lange und ausufernde
unterschiedlichen Medien und erstellte Tafeln, in denen er Tradition im Studium sphärischer und parabolischer Brenn­
Einfallswinkel mit Brechungswinkeln in Verbindung brachte. spiegel (Bild oben), die bis in die Antike zurückreicht.
Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts verlief die Untersuchung
Die »perspektivistische« Tradition von Brennspiegeln und die Festlegung von deren Brennpunkt
Das wohl bedeutendste Werk der vorklassischen Optik na­ überraschenderweise völlig unabhängig von derjenigen des
mens »Kitab al­Manazir« verfasste im 11. Jahrhundert der is­ Auftretens der Bilder in Spiegeln und Glaskugeln.
lamische Mathematiker Ibn al­Haytham, der später im Wes­ Im Lauf des 16. Jahrhunderts wurden die Texte der Perspek­
ten unter seinem latinisierten Namen Alhazen bekannt wur­ tivisten weit gehend in gedruckter Form zugänglich. So ver­
de. Die Übersetzung von Ibn al­Haythams Werk wurde im öffentlichten beispielsweise Georg Tannstetter und Petrus
Abendland rasch zur Grundlage, auf der sich die perspekti­ Apianus die erste Ausgabe von Witelos »Perspectiva« (Bild
vistische Optik im 13. Jahrhundert etablierte. Im Mittelalter rechte Seite, links). Im Jahr 1572 druckte Frederic Risner eine
war die Optik als »Perspectiva« bekannt, weswegen Histori­ Ausgabe von Ibn al­Haythams und Witelos Werken in einem
ker häufig von der »perspektivistischen Tradition« sprechen. Buch. So konnten Querverweise zwischen den beiden Wer­
Der perspektivistische Kanon bestand aus den Werken von ken eingefügt werden.
Roger Bacon (1214 – 1294), der »Perspectiva Communis« von In dieser Zeit lebte auch das Interesse an den optischen
John Peckham (1230 – 1292) und der »Perspectiva« von Witelo Arbeiten aus der Antike wieder auf. Als Erste planten Johan­
(um 1237 – um 1280/1290), einem polnischen Gelehrten. nes Regiomontanus und später Georg Hartmann eine Ausga­

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AuS WITeLO: PerSPecTIvA. IN: GeOrG TANNSTeTTer uND PeTruS APIANuS (hG.): PerSPecTIvA. JOhANNeS PeTreIuS, NürNBerG 1535

BIBLIOTecA rIccArDIANA, FLOreNz


In seinem Werk »Della Prospettiva« erklärt Gio­
vanni Fontana die Funktion der Brille mit einer
Das Frontispiz der von Georg Tannstetter und Petrus Apianus herausgegebenen Analogie zur Vergrößerung eines im Wasser liegen­
»Perspectiva« von Witelo zeigt Probleme und Gegenstände der Optik im den Gegenstands. Dieses Manuskript gehörte
16. Jahrhundert, etwa den ringförmigen Brennspiegel. Diese Ausgabe erschien vorübergehend Giovanni de’ Medici, der wie Galilei
erstmals 1535 bei dem berühmten Verleger Johannes Petreius in Nürnberg. bei Ostilio Ricci Mathematikunterricht nahm.

be der »Optik« von Ptolemäus. Das Vorhaben scheiterte al­ Mitte des 16. Jahrhunderts kam es in Italien zur Einfüh­
lerdings an der Komplexität des nur in fragmentarischen rung neuer optischer Begriffe durch Mathematiker und Na­
Manuskripten vorliegenden Werks. Im Jahr 1542 gelang es turmagier. Sie waren in der perspektivistischen Tradition
Hartmann jedoch, Peckhams »Perspectiva Communis« he­ sehr bewandert, aber auch am Entwurf von Konkavspiegeln
rauszugeben. Diese Ausgabe wurde zur Grundlage für alle interessiert. Der für seine Spiegel berühmte venezianische
folgenden. Die Einführung der linearen Perspektive in die Arzt und Mathematiker Ettore Ausonio (um 1520 – um 1570)
Malerei erneuerte das Interesse an Euklids »Optik«: Im Jahr unternahm als Erster den Versuch, das Problem der Loka­
1557 veröffentlichte Jean Pena eine sehr einflussreiche Aus­ lisierung des Brennpunkts einerseits und der wahrnehm­
gabe dieses Werks zusammen mit der pseudoeuklidischen baren Bilder in einem Konkavspiegel andererseits in einem
»Katoptrik«. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts war die Optik Konzept zu vereinen. Diese beiden Phänomene waren, wie
nicht nur Bestandteil der universitären Lehrpläne – auch au­ gesagt, zuvor völlig getrennt voneinander behandelt worden.
ßerhalb der Universitäten, insbesondere in Italien, waren die
kanonischen Texte der perspektivistischen Tradition allge­ Praktische Kenntnis von
mein zugänglich geworden. Spiegeln und Linsen im 16. Jahrhundert
Mitte des 16. Jahrhunderts rangen Mathematiker, die sich Kurz nachdem Della Porta 1558 die erste Ausgabe der »Magia
mit der Entwicklung optischer Instrumente beschäftigten, Naturalis« herausgegeben hatte, schrieb und zeichnete Au­
mit einer einheitlichen Darstellung der Eigenschaften von sonio eine »Theorica Speculi Concavi Sphaerici«. Im Jahr
Spiegeln, Linsen und der Camera obscura. Einige waren mit 1602 publizierte der in Bologna lebende Astronom Giovanni
der perspektivistischen Tradition sehr vertraut. Ihre Versu­ Antonio Magini dieses Werk in veränderter Form. Ausonios
che, die optischen Gegenstände zu verstehen, ebneten den Manuskript kursierte (ohne Maginis Änderungen) im späten
Weg für begriffliche Innovationen – und Konfusionen. Eine 16. und frühen 17. Jahrhundert. Heute wissen wir dank einer
dieser begrifflichen Innovationen war die Beschreibung eines handgeschriebenen Kopie Galileis davon. In seiner »Theori­
teleskopischen Instruments schon 1580. Die Konstruktion er­ ca« führte Ausonio ein Konzept ein, das später in Della Por­
wies sich jedoch sofort als nicht ausbaufähig, weil sie die tas »De Refractione« (1591) als »punctum inversionis« be­
Grenzen der damaligen Linsenherstellung nicht beachtete. kannt wurde. Ausonio identifizierte den Ort des Brenn­
Verbesserungen in der Technik des Linsenschleifens ermög­ punkts eines konkaven Spiegels mit dem »Inversionspunkt«.
lichten schließlich die Erfindung des holländischen, so ge­ Das ist der Ort, in dem sich die Orientierung des Bilds um­
nannten Galileischen Fernrohrs. kehrt. Außerdem argumentiert Ausonio, dass das Auge an

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AuS reINer GemmA FrISIuS: De rADIO ASTrONOmIcO eT GeOmeTrIcO, 1545;

In seinem Werk »De Radio


Astronomico et Geome­
trico« (1545) erläutert
heNDrIK cONScIeNce BIBLIOTheeK, ANTWerPeN

Reiner Gemma Frisius,


Professor der Mathematik
an der Universität Löwen,
die Projektion der Sonne
in einer Camera obscura
während einer Finsternis
im Jahr 1544.
AuS GIOvANNI FONTANA: DeLLA PrOSPeTTIvA, um 1460; BIBLIOTecA rIccArDIANA, FLOreNz

In seinem Werk »Della


Prospettiva« demonstriert
Giovanni Fontana
(1400 – 1450), an welchem
Ort außerhalb eines
konvexen Spiegels ein
Bild entsteht.

diesem Punkt ein maximal vergrößertes und maximal ver­ matiker Giovanni Fontana zugeschrieben wird, wurden Au­
schwommenes Bild wahrnimmt. Dies wird noch einmal gengläser nach denselben Grundsätzen erklärt, mit denen
wichtig werden, wenn wir auf die Vergrößerung von Telesko­ Ptolemäus die Vergrößerung von Objekten unter Wasser be­
pen zu sprechen kommen. Zunächst halten wir fest, dass die schrieben hatte (Bild S. 63, rechts). Nach diesem Buch unter­
Einführung des »punctum inversionis« der erste Versuch richtete noch Ostilio Ricci, zu dessen Schülern Galilei gehörte.
war, die Untersuchung von Brennspiegeln und der Bildwahr­ Della Portas Verdienst war es, das Konzept des »punctum in­
nehmung in Spiegeln im Rahmen der perspektivistischen versionis« aus den Studien der konkaven auf die konvexen
Tradition zu vereinen. Linsen zu übertragen. In seinem Werk »De Refractione« iden­
Nach der Erfindung von Augengläsern mit konvexen Lin­ tifizierte er den Brennpunkt mit dem Inversionspunkt einer
sen zur Korrektur der Weitsichtigkeit im späten 13. Jahrhun­ konvexen Linse. Er fand zudem heraus, dass dies der Punkt
dert wurde die Untersuchung von Linsen keineswegs igno­ ist, in dem das durch die Linse betrachtete Bild maximal ver­
riert. Aber die Bilder, die man durch eine Brille wahrnahm, größert erscheint.
wurden unabhängig von den lichtsammelnden »Brenneigen­ Das Konzept des »punctum inversionis« verletzte die
schaften« der Konvexlinsen diskutiert. In einem Manuskript Grenzen der optischen Erkenntnis im Rahmen der perspek­
aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, das dem Arzt und Mathe­ tivistischen Tradition. Es sollte als »praktisches optisches

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Wissen« angesehen werden, denn zum einen führten es Ma­
thematiker und Naturmagier ein, die sich für die Konstruk­
tion von Spiegeln interessierten, und zum anderen basierte
es auf empirischer Vertrautheit mit den Brenn­ und Ab­
bildungseigenschaften konkaver Spiegel. Es war darüber hi­
naus sogar möglich, das Konzept des »punctum inversionis«
mit den Brenn­ und Abbildungseigenschaften konkaver
Spiegel und konvexer Linsen zu kombinieren, ohne mit der
perspektivistischen Tradition von Ausonio und Della Porta
vertraut sein zu müssen. Es ist wichtig, diese praktischen
Kenntnisse von dem Materialwissen der Linsenmacher zu
unterscheiden. Während das praktische optische Wissen das
perspektivistische Wissen der optischen Theorie veränderte,
führten neue Materialien der Linsenherstellung zur Erfin­
dung des holländischen Fernrohrs im frühen 17. Jahrhundert.

Die magische Laterne


Es war empirisch bekannt, dass Brenn­ und Inversionspunkt

PAuL K / cc-By-2.0 (hTTP://creATIvecOmmONS.OrG/LIceNSeS/By/2.0/)


eines konkaven Spiegels und einer konvexen Linse ein und
dasselbe waren. Der perspektivistischen Tradition war dies
hingegen fremd, bis Ausonio und Della Porta den »punctum
inversionis« einführten. In ähnlicher Hinsicht war das pro­
jizierte Bild im Innern einer Camera obscura bekannt (siehe
Bild, links oben), der perspektivistischen Tradition aber be­
grifflich fremd. In der Tradition der perspektivistischen Op­
tik interessierten sich die Gelehrten ausschließlich für die
Wahrnehmung von Bildern. Deshalb war es ganz natürlich,
dass projizierte Bilder in der perspektivistischen Tradition
keinen begrifflichen Platz hatten. Eine Laterna magica projiziert im Raum schwebende Dämonen­
Im 15. und 16. Jahrhundert verglichen Mathematiker und bilder, um den Feind zu erschrecken. Darstellung aus »Bellicorum
Naturmagier manchmal projizierte Bilder mit den Bildern in instrumentorum liber« von Giovanni Fontana. Cod. Icon. 242
dem geometrischen (nicht physikalischen) Punkt außerhalb
eines konvexen oder konkaven Spiegels (Bild links unten).
Letzteres folgte aus einer korrekten Anwendung einer geome­ schen Geräten projizierten Bilder häufig Besuchern fürstli­
trischen Konstruktion, um Bilder zu lokalisieren, wie sie in der cher Sammlungen gezeigt. Keplers begriffliche Integration
perspektivistischen Tradition der Optik verwendet wurde. von projizierten Bildern in einer Camera obscura bildete
Dieser Vergleich führte dazu, dass Mathematiker und Natur­ zwar die Grundlage für eine neue, frühmoderne Ära in der
magier auf dem Papier angeblich experimentell Bilder er­ Geschichte der Optik. Aber es waren Änderungen an diesem
zeugten, die auf seltsame Weise in der Luft schwebten. Ein Instrument, die man vornahm, um Gönner und Besucher zu
schönes Beispiel dieser begrifflichen Konfusion findet sich in beeindrucken oder Maler bei der Herstellung topografischer
dem Manuskript »Bellicorum Instrumentorum Liber« von Bilder zu unterstützen, die den Weg für Versuche zur Vergrö­
Giovanni Fontana, dem mutmaßlichen Autor von »Della Pro­ ßerung von Fernrohren ebneten.
spettiva«. Fontana zeichnete eine Art magische Laterne, die In dem Buch »La Pratica della Perspettiva« (1563) be­
angeblich das Bild eines Dämonen in die Luft projizierte, um schreibt Daniele Barbaro die Effekte einer Konvexlinse in der
angreifende Feinde abzuschrecken (Bild rechts). Apertur einer Camera obscura. Er rät seinen Lesern, die bes­
Es war Johannes Keplers Verdienst, dieses begriffliche ten Linsen zu wählen, und »wenn Sie wollen, dann decken Sie
Durcheinander anhand eines Experiments zu klären, das er die Linse so weit ab, dass in der Mitte ein kleiner Umkreis frei
in der Dresdener Kunstkammer sah. Sein Erfolg bei der be­ bleibt, und wenn dieser Teil nicht abgedeckt ist, werden Sie
grifflichen Integration projizierter Bilder war Teil seiner Lö­ einen noch lebhafteren Effekt sehen«. Barbaro beschreibt da­
sung des Puzzles, das ihn zu seiner neuen Theorie der Wahr­ mit die Verwendung eines Diaphragmas. Diese Ringblende
nehmung führte. Er veröffentlichte sie 1604 in seinem Buch war ein wichtiges Konstruktionselement früher Teleskope,
»Paralipomena«, das noch heute die Grundlage unseres Ver­ wie wir später noch sehen werden.
ständnisses dieser Probleme bildet. In der italienischen Übersetzung von Euklid »La Prospetti­
Es war kein Zufall, dass Keplers Experiment in der Kunst­ va« (1573) zeigt der Mathematiker Egnazio Danti, wie ein ebe­
kammer stattfand: Im 16. Jahrhundert wurden die von opti­ ner Spiegel im Innern einer Camera obscura ein Bild wieder

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umkehren kann. In dieser Hinsicht am tüchtigsten aber war naueren Beschreibung eines teleskopischen Instruments
Della Porta, der in seinem Buch »Magia Naturalis« mehrere auf, das sich wahrscheinlich von dem Gerät unterschied, was
Kombinationen von Linsen und Spiegeln beschrieb. Eine Digges seinem Vater zuschrieb.
von Della Portas Camerae obscurae bestand aus der Kombi­ In einem Brief an Lord Burghley, um 1579/80 Staatssekre­
nation einer Konvexlinse (in der Apertur) und eines konka­ tär und Lordschatzmeister von Königin Elisabeth I., schlug
ven Spiegels. Eines bemerkte Della Porta indes nicht: Seine Bourne ein Teleskop vor, das dieselbe Kombination aus einer
Camera obscura war in Wirklichkeit ein Fernrohr. Konvexlinse und einem konkaven Spiegel enthielt, wie Della
Im Jahr 1571 schrieb der englische Mathematiker Thomas Portas Camera obscura. In Bournes Entwurf läuft das Licht
Digges die Erfindung des Fernrohrs seinem Vater Leonard zu. erst durch die Linse und wird anschließend von dem Spiegel
In der »Pantometria« von seinem Vater Leonard Digges (1571) reflektiert. Der Beobachter schaute in den Spiegel, während
schrieb Thomas, dass sein Vater »bei seinen unablässig er die Linse im Rücken hatte. Der Spiegel musste relativ zur
schmerzvollen Praktiken, begleitet von mathematischen De­ Linse leicht gekippt werden, damit der Kopf des Beobachters
monstrationen, nicht nur in der Lage war, aus bequemer nicht das von der Linse kommende Licht abschattete (siehe
Lage diverse Male mit Proportionalgläsern weit entfernte Bild links oben).
Dinge zu entdecken, Briefe zu lesen und Geldstücke zu zäh­ Bourne argumentierte, dass die Konvexlinse und der
len, sondern auch zu erkennen, was sich auf sieben Meilen Hohlspiegel so weit voneinander entfernt sein müssen,
entfernten privaten Plätzen zutrug.« »dass jedes Glas seinen größten Strahl erzeugt.« Interessan­
Diese Schilderung unterscheidet sich kaum von anderen terweise beschrieb Bourne die Eigenschaften von Linse und
legendären Geschichten über teleskopische Instrumente Spiegel mit Begriffen wie Brennstrahlen und Perspektiv­
aus dieser Zeit. Aber 20 Jahre später trat der englische Ma­ strahlen. Der Brennstrahl zeigte den Brennpunkt an, wäh­
thematiker William Bourne mit einer unvergleichlich ge­ rend der Perspektivstrahl jenen Ort angab, in dem das Bild
am größten war, wenn es die gesamte Linsenoberfläche aus­
füllte. Dies geschah nahe am Brennpunkt, wie Bourne sei­
f (l) f (m)
nem potenziellen Förderer erklärte. Bourne beschrieb also
Objektiv die Eigenschaften der Konvexlinse und des konkaven Spie­
gels mit Begriffen, welche die Brenn­ und Abbildungseigen­
Okular
schaften von Spiegeln und Linsen kombinierte. Anders ge­
SPeKTrum Der WISSeNSchAFT / SuW

sagt: Er beschrieb sie mit Worten, die wir mit Ausonios und
Della Portas »punctum inversionis« assoziieren. Und das, ob­
wohl Bourne mit der optischen Theorie der perspektivisti­
schen Tradition kaum oder gar nicht vertraut war.
Bournes Konzept der Vergrößerung ist höchst bedeutsam
im Hinblick auf seine Abhängigkeit von einem praktischen
In einem Brief an seinen Patron Lord Burghley beschrieb der optischen Wissen. In seinem Brief an Lord Burghley schlägt
englische praktische Mathematiker William Bourne um 1579/80 er vor, die Konvexlinse müsse »sehr groß sein, ungefähr ei­
ein Teleskop, bestehend aus einer konvexen Linse (dem Objektiv) nen Fuß oder 14 bis 16 Zoll breit«, also 30 bis 40 Zentimeter.
und einem konkaven Spiegel (dem Okular). In der hier abgebil­ Warum bestand Bourne auf einer so großen Linse, zumal
deten modernen Darstellung ist f (l) die Brennweite der konvexen kleinere genauso stark vergrößern? Basierend auf seinem
Linse und f (m) die Brennweite des konkaven Spiegels. praktischen optischen Wissen erschien es Bourne klar, dass
das vergrößerte Bild die komplette Oberfläche der Linse aus­
füllte, wenn sich das Auge im Brenn­ oder Inversionspunkt
befand. Es war deshalb durchaus vernünftig anzunehmen,
ISTITuTO e muSeO DI STOrIA DeLLe ScIeNzA, FLOreNz

dass die Vergrößerung nicht von der Brennweite, sondern


von der Linsengröße abhängt. »Je größer, desto besser«, war
deshalb Bournes Empfehlung für den Linsendurchmesser.
Sehr zu Bournes Bedauern war dieses Beharren auf dem
Vergrößerungskonzept auch ein Grund, warum seine Erfin­
dung in einer Sackgasse endete. Für die Linsenhersteller war
es zur damaligen Zeit äußerst schwierig, Linsen mit so gro­
ßem Durchmesser herzustellen. Von Bournes Entwurf hörte
Die unregelmäßigen Ränder von Teleskoplinsen des frühen 17. man nie wieder etwas. Ein Misserfolg wie dieser verdeutlicht,
Jahrhunderts zeigen, dass sie im Nachhinein verkleinert wurden – dass beim Bau von Teleskopen das Handwerk der Linsenher­
deutlich sichtbar in dieser Objektivlinse aus einem der beiden stellung eine entscheidende Rolle spielte.
erhaltenen Teleskope Galileis im Istituto e Museo della Storia Während der Regierungszeit von Elisabeth I., Königin von
delle Scienze in Florenz. Gezeigt ist auch die angebrachte Blende. England und Irland von 1558 bis 1603, importierte England

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aus Deutschland, Flandern und der Normandie Brillenlinsen Doch im 15. Jahrhundert musste sich Florenz gegen Kon­
mit typischen Durchmessern von drei Zentimetern in gro­ kurrenz in Nürnberg und Regensburg behaupten. Die dort
ßer Zahl. Die von Bourne geforderte Größe gehörte somit produzierten Augengläser wurden in ganz Europa gehandelt.
nicht zu dem auf dem englischen Markt verfügbaren Stan­ Zu dieser Zeit waren Brillen keinesfalls Luxusgüter der Rei­
dardsortiment. Dennoch war das Problem der außergewöhn­ chen mehr, sondern bereits in den meisten europäischen
lichen Linsendurchmesser, mit dem Bourne die Linsenma­ Ländern für fast jedermann erschwinglich.
cher konfrontierte, im elisabethanischen England gar nicht Gegen Ende des 13. Jahrhunderts entwickelten die Venezia­
so ungewöhnlich. Hätte er den Entwurf in Middelburg vorge­ ner eine neue Glassorte. Sie war viel klarer, besaß eine schwä­
schlagen, so wäre er auf dieselben Probleme gestoßen. Dabei chere Färbung und enthielt weniger Blasen als das typische
muss man bedenken, dass Middelburg nach Amsterdam die grünliche Waldglas der damaligen Zeit. (Waldglas, auch Pott­
bedeutendste Handels­ und Gelehrtenstadt der Holländi­ ascheglas genannt, wurde insbesondere für die Herstellung
schen Republik und auch ein bedeutendes Zentrum der Glas­ von Butzenscheiben verwendet.) Das venezianische Glas wur­
herstellung war. de als »cristallo« berühmt, weil es an Bergkristall erinnerte. In
Die für den Bau von Fernrohren nötige optische Qualität Venedig verwendete man cristallo für Luxusartikel, wie die
ließ sich zur damaligen Zeit nur erreichen, indem man die berühmten venezianischen Spiegel. Als Glasmacher aus Ita­
Linsen zu kleinen Durchmessern schnitt. Spuren dieses Ver­ lien in verschiedene europäische Länder auswanderten und
fahrens lassen sich noch heute an den unebenen Rändern dort neue Werkstätten gründeten, verbreiteten sie die Glas­
von gut erhaltenen Teleskoplinsen aus dem frühen 17. Jahr­ produkte »à la façon de Venise«. Antonio Neri besichtigte ita­
hundert erkennen (siehe Bild links unten). Die Lösung des
Problems bestand in kleineren Durchmessern und Apertu­
ren; aber Bournes Begriff der Vergrößerung zielte genau in
die entgegengesetzte Richtung: Seine Erfindung setzte sich
nicht durch, weil das damalige praktische Wissen nicht in
Rezepte umgesetzt werden konnte, welche sich mit der Lin­
sentechnik jener Zeit realisieren ließen.
Dagegen verbreitete sich das holländische Fernrohr von
Middelburg bis in die letzten Winkel Europas: Sein Erfolg
basierte insbesondere darauf, dass die zwei hierfür notwen­
digen Linsen in jedem Brillenmacherladen zu finden waren.
Bournes Brief an Burghley weist uns auf einen Schatz in­
novativen, praktischen optischen Wissens hin, der sich vom
überlieferten optischen Wissen unterscheidet. Aber dieses
praktische optische Wissen lenkte Bourne in eine Richtung,
die einem Erfolg genau zuwiderlief. Die Materialkenntnisse,
welche die Glasindustrie und die Werkstätten der Linsenher­

AKG ImAGeS (JAN vAN eycK, mADONNA DeS KANONIKuS JOrIS vAN Der PAeLe, 1436; GrOeNINGemuSeum BrüGGe)
steller schon in den Jahrhunderten vor Lipperheys Patent­
antrag angesammelt hatten, waren beim Bau von Fernroh­
ren von größter Bedeutung.

Brillen für Jedermann


Konvexe Augengläser zur Korrektur der Altersweitsichtigkeit
wurden um 1285 in Italien erfunden. Brillen dieser Art gab es
in unterschiedlichen Stärken für Alterskategorien von 30 bis
70 Jahren. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts waren dann auch
konkave Linsen zur Korrektur von Kurzsichtigkeit weit ver­
breitet. Sie waren aber vermutlich nicht so gefragt und ka­
men nur in zwei Kategorien vor. Im 15. Jahrhundert war Flo­
renz eines der Zentren für das Handwerk der Brillenherstel­
lung. In den Archiven lassen sich dort zwischen dem frühen
15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts 52 Brillenhersteller,
einschließlich vier Mönche, nachweisen. Ihre Läden befan­
den sich in den Stadtteilen San Giovanni und Santa Croce.
Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden dann weitere Zentren Dieser Ausschnitt aus einem Andachtsbild von Jan van Eyck
dieses Handwerks, etwa in Venedig, der Heimat der aufblü­ (1436) zeigt den Stifter Van der Paele mit seiner Lesebrille.
henden Glasindustrie.

www.SPEKtruM.DE 67
mIT FrDL. GeN. vOm chAmBer OF cOmmerce OF vAreSe (FreSKO vON GuISePPe BerTINI, 1858; BIumO DI vAreSe, vILLA PONTI, hALL OF hONOr)

Im August 1609 führte Galilei einer Gruppe hochrangiger Personen in Venedig die Funktionsweise seines
verbesserten Teleskops vor – und strich dabei auch dessen militärische Verwendung heraus.

lienische Glasbetriebe in Antwerpen und veröffentlichte dar­ werkern, die konvexe oder konkave Oberfläche besser sphä­
aufhin in Florenz das erste Handbuch der Glasherstellung risch zu schleifen.
»L’ Arte Vetraria« (1612). Allerdings schwiegen sich Handbü­ In Bezug auf die Linsentechnik war der entscheidende
cher dieser Art, auch das von Neri, über die Herstellung von Punkt bei der Erfindung des holländischen Fernrohrs nicht
Spiegelglas oder Brillenlinsen aus. Dies änderte sich erst mit die Verfügbarkeit von konvexen und konkaven Linsen mit ih­
Girolamo Sirtoris »Telescopium« (1618). ren unterschiedlichen Stärken, die in Kombination eine Ver­
größerung ermöglichen. Der entscheidende Faktor war die
Die Kunst der Linsenschleifer Qualitätsverbesserung der Linsen, die mit einer veränderten
Neuere Studien an Linsen aus dem 14. bis 16. Jahrhundert ha­ Herstellungstechnik im späten 15. Jahrhundert einherging.
ben gezeigt, wie die Linsenherstellung verbessert werden Dieser technische Fortschritt ermöglichte prinzipiell ab
konnte. Sie erklären auch, warum die Erfindung des Teles­ etwa 1500 die Erfindung des holländischen Teleskops, insbe­
kops technisch erst gegen Ende dieser Epoche möglich wur­ sondere durch Brillenmacher, die daran dachten, mit einer
de. Erste Augengläser wurden hergestellt, indem man aus ge­ Kombination aus konvexen und konkaven Linsen eine Auflö­
blasenen Glaskugeln Scheiben herausschnitt. Anschließend sung zu erzielen, welche diejenige des bloßen Auges übertraf.
musste eine Seite einer solchen sphärisch gekrümmten Dass die richtige Anordnung dieser beiden Linsenarten ei­
Scheibe plan geschliffen werden: die innere konkave Ober­ nem Beobachter ein vergrößertes Bild liefert, hätten sie mit
fläche für eine Linse zur Korrektur der Altersweitsichtigkeit ihrem praktischen Wissen von Konkav­ und Konvexlinsen
oder die äußere konvexe Oberfläche für kurzsichtige Augen. leicht herausfinden können. Sie kannten die richtige Entfer­
Vermutlich gegen Ende des 15. Jahrhunderts entwickelten nung von der konvexen Linse, bei der man ein maximal ver­
Brillenmacher in Nürnberg eine andere Technik. Sie schnit­ größertes (und maximal verschwommenes) Bild sieht, und
ten Scheiben aus ebenem Scheibenglas heraus – die eine Sei­ sie wussten, dass eine konkave Linse eine »schärfere Sicht«
te ließen sie eben, die andere schliffen sie in eine konkave ermöglicht. Die Kombination eines konvexen Objektivs mit
oder konvexe Form. Diese Technik ermöglichte es den Hand­ einem konkaven Okular ist die natürlichste, weil das konkave

68  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
cher (oder auch ein Teleskopbauer) die besten aussuchen
konnte. Fernrohrlinsen wurden nicht auf Bestellung gefer­
tigt, sondern aus einem breiten Angebot ausgewählt. Das
galt auch für Galileis Fernrohr.
Im Gegensatz zu Bournes unglücklicher Erfindung war
dem holländischen Fernrohr eine rasche Verbreitung in ganz
Europa beschieden. Das betraf sowohl das Instrument selbst
als auch die Nachrichten darüber. Förderlich war hierbei, dass
just zu der Zeit, als Hans Lipperhey in Den Haag eintraf, um
seine Erfindung vorzuführen, dort Prinz Moritz mit dem habs­
burgischen Oberbefehlshaber über einen Waffenstillstand
verhandelte. Der Prinz zeigte es Ambrogio Spinola, dem Kom­
mandanten der Truppen in den Spanischen Niederlanden, der
sofort den militärischen Nutzen dieses Instruments erkannte.
Mit einem Teleskop kehrte Spinola nach Brüssel zurück, wo er
es Erzherzog Albert (dem Gatten von Isabella, Tochter des Kö­
In seinem Werk »Uso nigs von Spanien, Philipp II.) zeigte. Im März 1609 war Albert
AuS BeNITO DAzA De vALDéS: uSO De LOS ANTOJOS PArA TODO GeNerO De vISTAS, SPANIeN 1623

de los antojos para im Besitz eines Fernrohrs. Dank der Dienste Guido Bentivogli­
todo genero de vistas« os, des päpstlichen Nuntius in Brüssel, wurde dasselbe Instru­
(Spanien, 1623) be­ ment im Juli nach Rom geschickt, wo es bald in die Hände des
schreibt Benito Daza de jesuitischen Mathematikers im Collegio Romano geriet.
Valdés anhand dieses
Bilds ein Verfahren zum Das Zögern des Galilei
Test der Krümmung von Das holländische Fernrohr erfreute sich rasch großer Beliebt­
Linsen. Es scheint aber heit. So erwarb Pierre Jeannin, der französische Botschafter
bereits gegen Ende des in Den Haag, von Hans Lipperhey zwei Instrumente für den
16. Jahrhunderts bei König von Frankreich. Schon im November 1608 erreichte
italienischen Brillen­ die Nachricht von Lipperheys Fernrohr Paris. Ein Holländer
machern bekannt ge­ bot im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse ein Instru­
wesen zu sein. ment zum Kauf an; ab April 1609 verkaufte ein Brillenma­
cher in dieser Stadt Fernrohre. Vermutlich reiste im Mai
1609 jener Soldat, der dafür gesorgt hatte, dass Jeannins Brief
Okular dem Beobachter unabhängig vom gegenseitigen Ab­ dem französischen König überbracht wurde, nach Mailand,
stand der beiden Linsen eine scharfe Sicht auf die konvexe wo er das Instrument einem lokalen spanischen Komman­
Linse bietet. Weniger natürlich erscheint dagegen die Kombi­ danten verkaufte.
nation zweier konvexer Linsen im astronomischen oder kep­ In dieser Zeit ging das Fernrohr auch durch die Hände di­
lerschen Fernrohr. verser Diplomaten. Im Oktober 1608 erschien eine Nachricht
Die Entwicklung einer neuen Technik ermöglichte zwar mit dem Titel: »Ambassade du Roy de Siam envoyé à l’ Excel­
die Herstellung von Linsen mit höherer optischer Qualität, lence du Prince Maurice, arrivé à la Haye le 10 septemb(re)
das bedeutete aber noch lange nicht, dass im 16. Jahrhundert 1608«. Sie enthielt einen Bericht über eine diplomatische
Linsen grundsätzlich eine bessere Qualität besaßen, als die Mission von Siam (heute Thailand) in die Niederlande. Doch
aus früheren Jahrhunderten. In Handelszentren, wo das Le­ ein Teil des Berichts widmete sich Lipperheys Demonstra­
sen und Schreiben für die Bevölkerung zunehmend an Be­ tion des Fernrohrs vor Prinz Moritz in Den Haag.
deutung gewann, waren Linsen weithin verfügbar. Wegen Paolo Sarpi, venezianischer Theologe und damaliger en­
der steigenden Nachfrage wurden sie aber auch in Massen­ ger Freund Galileis, las diesen Bericht nach eigenem Bekun­
produktion hergestellt, was sich negativ auf die Qualität aus­ den im November 1608. Doch erst das Eintreffen eines
wirkte. Eine Begutachtung vieler Linsen aus der damaligen »Fremden« in Padua im Juli 1609 – vermutlich des Franzo­
Zeit ergab, dass nicht einmal zehn Prozent eine optische sen, der im Mai mit einem Fernrohr in Mailand angekom­
Qualität besaßen, wie sie für Fernrohre benötigt wurde, um men war – spornte Sarpi und Galilei an, etwas zu unterneh­
dem Beobachter nicht nur eine Vergrößerung, sondern auch men. Warum ließ Galilei so viel Zeit ungenutzt vergehen?
eine erhöhte Auflösung im Vergleich zum bloßen Auge zu Eileen Reeves vermutet, dass Galilei allen Grund hatte, die
bieten. Deshalb darf es uns nicht verwundern, wenn es ein angeblich neue Geschichte für einen alten Hut zu halten. Das
Brillenmacher war, der als Erster ein Patent für ein Fernrohr optische Design des holländischen Fernrohrs erschloss sich
einreichte. In den Geschäften gab es eine Fülle von Linsen jedem Kundigen, der die Gelegenheit hatte, es zu sehen. Das
unterschiedlicher Qualität, unter denen sich ein Brillenma­ galt aber nicht für Galilei und seinen Kreis, deren Wissen

www.SPEKtruM.DE 69
In einem Brief vom 28. August 1609
an den Prinzen Federico Cesi, einen
der Gründer der Accademia dei Lincei,
BIBLIOTecA DeLL‘ AccADemIA DeI LINceI, rOm

zeichnete der Gelehrte Giovanni Battista


Della Porta dieses Teleskop, das er in
Neapel gesehen hatte. Der Kringel am
rechten Ende ist kein Buchstabe (a, b, c, d)
wie die anderen, sondern die kleine
Apertur des Teleskops.

noch Monate, nachdem sie von der Erfindung gehört hatten, oben) ist das Diaphragma deutlich zu erkennen. Offenbar
allein auf Gerüchten basierte. Ohne Kenntnis der techni­ waren zu dieser Zeit bereits andere Fernrohre mit solchen
schen Details konnte Galilei nicht zwischen den aktuellen Blendringen ausgestattet.
Neuigkeiten aus Holland und den Geschichten über reflek­ Hatten auch Lipperheys erste Fernrohre solche Diaphrag­
tierende Optiken, wie die des Pharos, unterscheiden. men? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall hatte Galilei bereits
Doch einmal angespornt, handelte Galilei schnell. Im Au­ bevor das Fernrohr bei ihm ankam, mit Diaphragmen expe­
gust 1609, also weniger als elf Monate nach Lipperheys De­ rimentiert. Noch Jahre nach seinen astronomischen Entde­
monstration des Fernrohrs in Den Haag, konnte Galilei ein ckungen im Jahr 1609 befasste er sich mit ihnen und wurde
verbessertes Instrument vorführen. Die auf dem Markt ver­ mit ihrer Wirkungsweise sowie mit dem Konzept der Strah­
fügbaren holländischen Fernrohre besaßen drei­ bis vierfa­ lung, das in seinem Verständnis eine zentrale Rolle spielte,
che Vergrößerung, während Galileis erstes Fernrohr eine immer vertrauter.
neunfache Vergrößerung aufwies. Wie war es ihm gelungen, Am 21. August 1609 bestieg er in Venedig den Turm von
die Vergrößerung so zu steigern? San Marco, um einigen edlen Herren der Signoria die Wir­
Obwohl er sich mit den Schwierigkeiten der perspektivi­ kungsweise und die militärischen Vorteile seines verbesser­
schen Optik wenig auskannte, war er mit der praktischen Op­ ten Fernrohrs vorzuführen (Bild S. 68) – es waren die ersten
tik sehr vertraut, beispielsweise durch das Lesen und Kopie­ Stufen auf dem Wege zum Ruhm des Galileo Galilei.  Ÿ
ren von Ausonios Werk. Wie das Beispiel von Bournes Erfin­
dung zeigt, hätte dieses Wissen Galilei auch dazu verleiten deR autoR
können, eine stärkere Vergrößerung durch größere Linsen
anstatt durch eine größere Brennweite zu erzielen. Aber Gali­ Sven Dupré erforscht die Geschichte der Optik
lei fand einen anderen Weg. Er gründete auf seiner Erfahrung und die praktischen Anfänge der modernen
Wissenschaft als Fellow der Flämischen For-
mit einer Methode zur Messung der Krümmung konvexer schungsgemeinschaft in Belgien. er ist Grün-
Linsen, die von Brillenmachern verwendet wurde, und die er dungsmitglied des zentrums für Wissenschafts-
später im »Sidereus Nuncius« (1610) als Verfahren zur Mes­ geschichte der universität Gent.
sung der Vergrößerung von Fernrohren beschrieb.

Besser sehen dank Blende liteRatuR


Um die Krümmung von Linsen zu messen, wurden zwei
Claus, R.: Was leisteten Galileis Fernrohre wirklich? In: Sterne und
Kreise mit unterschiedlichem Durchmesser auf ein Blatt Pa­
Weltraum 12/1993, S. 843 – 845
pier gezeichnet. Zwischen diesen beiden Kreisen zeichnete Dupré, S., Van Helden, A., Zuidervaart, H. (Hg.): The Origins of the
man dann eine Skala ein. Anschließend wurde eine Konvex­ Telescope. KNAW Press, Amsterdam 2009
Dupré, S.: Ausonio’s mirrors and Galileo’s Lenses: The Telescope and
linse so auf dieser Skala verschoben, dass die beiden Kreise
Sixteenth-century Practical Optical Knowledge, In: Galilaeana,
gleich groß erschienen, wenn man den kleineren Kreis durch Journal of Galilean Studies 2, S. 145 – 180, 2005
die Linse und den größeren Kreis mit bloßem Auge betrach­ Ilardi, V.: renaissance vision from Spectacles to Telescopes.
tete (Bild S. 69). Dieses Verfahren setzte eine Verbindung zwi­ American Philosophical Society, Philadelphia 2007
Ilardi, V.: renaissance vision from Spectacles to Telescopes.
schen Linsenkrümmung und Vergrößerung voraus – Galilei American Philosophical Society, Philadelphia 2007
griff es für die Vergrößerung bei Fernrohren auf. Jäger, W.: Die Begründung der physiologischen Optik im 17. Jahr-
Ein anderer für die Qualität von Galileis Fernrohren wich­ hundert. In: Sterne und Weltraum 3/1990, S. 42 – 156
Reeves, E.: Galileo’s Glassworks: The Telescope and the mirror.
tiger Faktor war der Einsatz von Diaphragmen (Blendringen) harvard university Press, cambridge (mass.) und London 2008.
auf den Objektivlinsen. Das Diaphragma war allerdings nicht Van Helden, A.: The Invention of the Telescope. The American
Galileis Erfindung: Daniele Barbaro erwähnt es bereits 1567 Philosophical Society, Philadelphia 2008
Willach, R.: Der lange Weg zur erfindung des Fernrohrs. In: hamel,
im Zusammenhang mit einer Camera obscura. Außerdem J., Keil, I. (hg.): Der meister und die Fernrohre, harri Deutsch,
sah Giovanni Battista Della Porta im August 1609 in Neapel Frankfurt am main 2007, S. 34 – 126
ein Fernrohr. Auf seiner Zeichnung für Federico Cesi (Bild

70  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
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Ex Oriente Lux
Arabische Gelehrte bewahrten nicht nur das astronomische Wissen
der Griechen, sie entwickelten das antike Weltbild auch weiter. Ihre
Einflüsse auf die Geschichte der Astronomie sind bedeutsam – und
spiegeln sich noch heute etwa in den Namen der hellen Sterne.

Von Gotthard Strohmaier

I
n der Weite der jordanischen Wüste, etwa 100 Kilometer nen die Umrisse der Sternbilder nach den Anweisungen des
östlich von Amman, liegt ein kleines Jagdschloss na- Ptolemäus verzeichnet waren, der im 2. Jahrhundert im
mens Qasr Amra, auch Qusair Amra genannt. Der Omai- ägyptischen Alexandria wirkte.
jadenkalif al-Walid I., der von 705 bis 715 regierte, hatte Abd ar-Rahman as-Sufi (903 – 986), der größte muslimi-
es zu seinem Vergnügen erbauen lassen. Die Innenwände des sche Experte in der Beschreibung der Fixsterne, hat in einer
Schlösschens sind reich bemalt – dem islamischen Bilderver- seiner Sternbild-Zeichnungen vorgeführt, wie sich die arabi-
bot zum Trotz. Jagd- und Handwerkerszenen, badende Frau- sche Symbolik mit der griechischen überschnitten hat: Ein
en, die Herrscher der umliegenden Reiche und allegorische großer Fisch liegt quer über der Brust der Andromeda (Bild S.
Figuren aus der griechischen Geisteswelt sind hier zu er- 75 oben). Diese Zeichnung enthält übrigens auch die erste be-
blicken. In der Kuppel eines kleinen Baderaumes wölbt sich kannte Darstellung der Andromeda-Galaxie, die mit bloßem
ein künstlicher Nachthimmel über dem Betrachter. Wie Auge als diffuser Fleck am Nachthimmel zu erkennen ist; as-
selbst noch Jahrhunderte später in Europa üblich, wurden Sufi hat sie durch eine Ansammlung von Punkten vor dem
die Sternbilder ihrem mythologischen Sinnbild entspre- Maul des Fisches dargestellt.
chend figürlich dargestellt. Wie exakt as-Sufi in seiner Beschreibung der Sternbilder
Bemerkenswert ist allerdings, dass bei der Namensgebung vorgegangen ist, wird zum Beispiel durch seine Polemik ge-
nicht etwa die den Arabern eigenen mythischen Figuren he- gen einen Kollegen deutlich, der das Bild des Schützen falsch
rangezogen wurden, sondern die der Griechen. Die Kultur gezeichnet hatte, indem er diesen über den Pferdeleib rück-
des Vorderen Orients hatte die Sternbilder der Griechen wärts schießen ließ. Laut Ptolemäus ist nämlich der Stern an
übernommen – die ihrerseits wiederum auf babylonische der Pfeilspitze derjenige, der als Erster über dem Osthorizont
Wurzeln zurückgingen. Als Vorbilder für die künstlerische heraufkommt und folglich der westlichste in diesem Stern-
Ausgestaltung dienten metallene Himmelsgloben, auf de- bild. Eine »falsche« Version des Sternbildes Schütze findet
sich übrigens auch in der Badehauskuppel von Qasr Amra
(Bild S. 73).
Allerdings darf man von der dekorativen Rezeption in
auf einen blick dem fast 1300 Jahre alten Jagdschlösschen kein übertrieben
genaues Abbild des damaligen Kenntnisstandes erwarten.
VoNPtoLEMäuSZuALBIruNI Aber unter den Abbasiden, welche die Omaijaden im Jahr 750
durch einen Staatsstreich abgelöst hatten, übernahmen ara-
1 Als die Araber den den Sternbildern ihre Namen gaben, orien-
tierten sie sich nicht an eigenen mythischen Figuren, sondern
an denen der Griechen.
bische Gelehrte in Bagdad die gesamte griechische Wissen-
schaft sehr gründlich. Sämtliche verfügbare Handschriften

2 Das Wissen der griechischen Gelehrten hatte seine Wurzeln


wiederum bei den Babyloniern. Deren Verehrung der Gestirne
war Nährboden für die Astrologie, die sich im griechisch-römischen
wurden ins Arabische übertragen, Ptolemäus’ Handbuch der
mathematischen Astronomie, der so genannte »Almagest«,
sogar in mehren Versionen. Dieses Standardwerk der Him-
Altertum verbreitete.
melskunde bildete fortan die Grundlage des weiteren astro-
3 Die Einflüsse der arabischen Astronomen zeigen sich bis heu-
te unter anderem in einer Reihe von Sternnamen – wenn-
gleich manche der ursprünglichen arabischen Begriffe im Lauf der
nomischen Beobachtens und Rechnens. Neben weiterer grie-
chischer Literatur fanden zudem auch eine Reihe von Er-
Geschichte verunstaltet und falsch zugeordnet wurden. kenntnissen aus der indischen Astronomie Eingang in den
arabisch-islamischen Kulturkreis.

72  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
GotthArd StrohmAIEr

ForSchuNGSbIblIothEk GothA, mEmb. II 141, bl. 32 r


In der Badehauskuppel von Qasr Amra, Jordanien, ist der Schütze
in »falscher« Haltung porträtiert (oben). Die griechischen
Darstellungen und auch der arabische Astronom as-Sufi zeigen
das Sternbild mit der Pfeilrichtung voran (rechts).

Die griechischen Schriften ließen keinen Zweifel über die des Menschen und zu seiner räumlichen und zeitlichen Ori-
Kugelgestalt der Erde. Der mittelasiatische Universalgelehrte entierung in Dienst gestellt habe. In Sure 41,37 wird ihre Ver-
al-Biruni (987 – 1048) berichtet in seiner »Geodäsie« amü- ehrung verboten.
siert, wie damals in einem Bagdader Diskussionszirkel ein Der christliche Philosophieprofessor Johannes Philopo-
christlicher Aristoteleskenner einen muslimischen Theolo- nus (um 490 – 570), der etwa ein Jahrhundert vor der musli-
gen lächerlich gemacht hat, der an der Scheibenform der mischen Eroberung in Alexandria lehrte, hatte die Konse-
Erde festhalten wollte. quenzen aus seinem biblischen Schöpfungsglauben gezogen
und die terrestrische Physik auf die Himmelssphären aus-
Die obere und die untere Welt gedehnt: Einmal von dem Schöpfer angestoßen, sollten sich
In der Tat setzt der Koran noch das altorientalische Weltbild die Sphären ohne Widerstand bis zum Jüngsten Tage weiter-
voraus, wenngleich seine Formulierungen meist so unbe- drehen. Auch Philoponus’ Schriften waren in arabischer
stimmt sind, dass man zur Not auch alle möglichen neueren Übersetzung zugänglich. Der fundamentale Unterschied
Erkenntnisse hineinlesen kann. Den Suren 13,2 und 21,30 zu- zwischen der oberen und der unteren Welt wurde also nicht
folge habe Gott bei seinem Schöpfungswerk den Himmel erst durch Kopernikus aufgehoben, wie es vor allem in der
von der Erde abgespalten und ihn wie ein Dach ohne tragen- marxistischen Wissenschaftsgeschichte bis zum Überdruss
de Stützen darüber gesetzt. In Sure 18,83–90 erreicht »der wiederholt wurde.
Gehörnte« – gemeint ist Alexander der Große – im äußersten Allerdings gab es Stimmen, die sich mit dieser Tendenz
Osten den Rand der Erdscheibe, wo die Bewohner den Strah- nicht einverstanden erklärten. Diese Kritiker sahen vielmehr
len der aufgehenden Sonne schutzlos ausgeliefert seien, und in der Welt der Gestirne einen anschaulichen Übergang hi-
im äußersten Westen einen schlammigen Quell, in den sie nauf zu der unbewegten, aber alles bewegenden Gottheit der
sich beim Untergang hineinsenke. Zur oft wiederholten Bot- griechischen Philosophie, die in ihrer spätantiken neupla-
schaft des heiligen Buchs, das darin ganz mit der Bibel über- tonischen Ausprägung ebenfalls von den Arabern eifrig auf-
einstimmt, gehört aber auch, dass die Gestirne keine göttli- genommen wurde. Die Verehrung der Sterne als einer Art
chen Wesen seien, sondern Geschöpfe, die Gott zum Wohle von Untergöttern hatte zudem im Zweistromland eine tief

www.SPEKtruM.DE 73
Porträt: Regiomontanus (1436 – 1476)
Wegbereiter der beobachtenden Astronomie
Von Uwe Reichert

Während die Araber eifrig Vorgänge am Himmel beobachteten montanus ein, mit nach Rom zu gehen, um
und Positionen der Gestirne maßen, scheuten die europäischen dort die griechischen Originale zu studieren.
Gelehrten des Mittelalters vor der Praxis zurück: Sie beschränk- Wegen des plötzlichen Todes Peuerbachs muss-

AuS: ZWEIhuNdErt dEutSchE mäNNEr. IN: ludWIG bEchStEIN (hG.), lEIpZIG 1854
ten sich auf theoretische Überlegungen und philosophisch- te Regiomontanus das Vorhaben allein ausführen. Er vollendete
theologische Deutungen. die Übersetzung des »Almagest«, die für mehrere Generationen
Der Mann, der mit diesen Traditionen brach und der beob- zu einem grundlegenden Lehrbuch der Astronomie wurde. Ko-
achtenden Astronomie auch in Europa zu ihrem Recht verhalf, pernikus hat ein Exemplar davon besessen und viel benutzt. Ein
wurde 1436 als Hans Müller im fränkischen Städtchen Königs- weiteres von Regiomontanus in Italien verfasstes Werk, »Über
berg östlich von Schweinfurt geboren. Der Name Regiomon- Dreiecke aller Art«, war das erste Lehrbuch über Trigonometrie,
tanus (lateinisch: »Königsberger«), unter dem ihn die Nachwelt das im Abendland erschien.
kennt, kam erst Jahrzehnte nach seinem Tod in Gebrauch.
Das außergewöhnlich begabte Kind begann im Alter von elf Ab 1468 hatte Regiomontanus die Position eines Hofastrono-
Jahren an der Universität Leipzig zu studieren. Um 1450 wech- men des ungarischen Königs Matthias Corvinus inne. In jener
selte Regiomontanus nach Wien, einer damaligen Hochburg der Zeit schuf er einige astronomische Tafelwerke und konstruierte
Mathematik und Astronomie. Sein Lehrer wurde der angese- neue Messinstrumente. 1471 schließlich ließ sich Regiomonta-
hene Humanist und Mathematiker Georg Peuerbach (1423 – nus in Nürnberg nieder, errichtete dort eine kleine Sternwarte,
1461), der sich während eines mehrjährigen Italienaufenthalts in eine Druckerei und eine Werkstatt für den Instrumentenbau. Die
die Werke der antiken Astronomen eingearbeitet hatte. Diese von ihm errechneten astronomischen Kalender und Ephemeri-
Bücher lagen in Übersetzungen aus dem Arabischen vor, in die den – Tafeln, in denen er für jeden Tag der Jahre 1475 bis 1506 die
sich allerdings zahlreiche Übertragungsfehler eingeschlichen Positionen der Himmelskörper angab – machten ihn im In- und
hatten. Peuerbach machte sich daran, den »Almagest« des Pto- Ausland berühmt.
lemäus neu zu übersetzen. Zudem begann er, nach den Be- Als ausgewiesener Kalenderfachmann wurde Regiomonta-
schreibungen in den griechischen und arabischen Quellen nus 1475 von Papst Sixtus IV. nach Rom gerufen, um eine Reform
astronomische Instrumente zu fertigen und mit ihnen Him- des julianischen Kalenders auszuarbeiten. Doch nach knapp ein-
melsbeobachtungen durchzuführen. In Regiomontanus fand jährigem Aufenthalt dort starb der Astronom – im Alter von nur
Peuerbach einen fähigen Mitarbeiter. 40 Jahren – an der Pest. So sollte noch ein weiteres Jahrhundert
Im Jahr 1461 weilte Kardinal Bessarion in Wien, der als päpst- vergehen, bis die Kalenderreform schließlich unter Papst Gregor
licher Legat Kaiser Friedrich III. für einen Kreuzzug zur Rück- XIII. zu Stande kam.
eroberung des von den Türken besetzten Konstantinopel ge- Zur Verbreitung von Regiomontanus’ »Instrumenten und
winnen wollte. Bessarion, ein Förderer der Wissenschaften und Ephemeriden« trug ein junger Kaufmann aus Nürnberg bei:
Sammler griechischer Handschriften, lud Peuerbach und Regio- Martin Behaim. Auf seinen Handelsreisen brachte er die Kunde
davon bis nach Portugal. Für diese aufstrebende Seefahrer-
nation erwies sich insbesondere der so genannte Jakobsstab als
Mit dem Bau einfacher Messgeräte und dem Errechnen von förderlich. Dies ist ein Winkelmessgerät aus zwei gekreuzten
Gestirnspositionen eröffnete Regiomontanus der Astronomie Stäben, mit dem sich die Abstände der Gestirne vom Horizont
und der Seefahrt eine neue Dimension. bestimmen ließen. Im Gegensatz zu bisherigen Instrumenten
wie etwa den Astrolabien konnte dieses Gerät nicht nur auf fes-
tem Boden, sondern auch auf dem schwankenden Deck eines
Schiffes eingesetzt werden.
Ausgestattet mit dem Jakobsstab und den Ephemeriden des
Regiomontanus vermochten die portugiesischen Seefahrer nun
auch fernab der Küsten zu navigieren – eine unentbehrliche
Grundlage für den Aufstieg Portugals als Seemacht. Auf diese
Weise trugen die Arbeiten des fränkischen Gelehrten zur Welt-
geschichte und zu den Entdeckungsfahrten berühmter See-
fahrer wie Christoph Kolumbus, Vasco da Gama und Amerigo
AkG ImAGES

Vespucci bei.
uwe reichert ist chefredakteur von »Sterne und Weltraum«.

74  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
eingewurzelte Tradition. Der Gestirnkult der so genannten
Sabier in Harran, heute in der südlichen Türkei gelegen, ver-
mochte sich gegen die Angriffe von Christen und Muslimen
noch etwa bis ins 11. Jahrhundert zu behaupten. Die Sabier
hatten für jeden der Planeten besondere Tempel, in denen
sie ihre Opfer und Gebete darbrachten. Ihre Lehren waren
mit griechischer Philosophie verschmolzen und faszinierten
auch manche muslimische Denker.
Die alte babylonische Gestirnverehrung war auch ein
Nährboden für die Astrologie, die sich im griechisch-römi-
schen Altertum verbreitet hatte und der Ptolemäus mit sei-
nem Werk »Tetrabiblos« (»Vierbuch«) seinen Tribut zollte.
Die muslimischen Orthodoxen und die strenger denkenden
Wissenschaftler führten einen vergeblichen Kampf gegen
die Horoskopsteller, die sowohl an den Fürstenhöfen wie auf
den Straßen ihre Dienste anboten.
ForSchuNGSbIblIothEk GothA, mEmb. II 141, bl. 21 v

Kreis oder Elipse?


Die Astrologie gewann ihre Unwiderstehlichkeit auch da-
durch, dass sie mit einem Weltbild verquickt war. So ließen
sich Sonnen- und Mondfinsternisse durch einen Schatten-
wurf erklären und im Voraus berechnen. Auch für die kom-
plizierten Schleifenbahnen der Planeten rund um die Erde,
die Ptolemäus zufolge nur »wie ein Punkt« inmitten der ge-
waltig ausgedehnten Sphären war, gab es ein Modell. Darin
Der arabische Astronom as-Sufi zeigte an einem Beispiel, wie zeigte sich gerade die Überlegenheit der griechischen Astro-
sich die Sternbilder der Griechen und der Araber überschnitten: nomie gegenüber der babylonischen und der indischen: Die
Quer über der Brust der Andromeda, die der griechischen Sage beobachteten Perioden von Sonne, Mond und Planeten wur-
zufolge an einen Felsen gekettet einem Meerungeheuer geopfert den nicht einfach in Listen zusammengestellt, sondern man
werden sollte, liegt ein großer Fisch. Dessen Schwanzspitze versuchte, sich die Erscheinungen kinematisch begreiflich
befindet sich wiederum an derselben Stelle wie diejenige des zu machen.
kleineren, ebenfalls eingezeichneten Fisches, der zum griechi- In der Nachfolge des Ptolemäus bestand die eigentlich un-
schen Sternbild Fische gehört. lösbare Aufgabe darin, die elliptischen und heliozentrischen
Bahnen der fünf bekannten Planeten als Überlagerung von
mehreren Kreisbewegungen zu verstehen. Zu diesem Zweck
wurde ein Punkt auf einem Grundkreis, dem Deferenten,
zum Mittelpunkt eines kleineren Kreises, des Epizykels, ge-
macht, auf dem sich das leuchtende Gestirn befand. Bei Be-
darf aber war der Epizykel wiederum der Deferent für einen
weiteren Epizykel. Auch war es nötig, die Erde nicht genau in
den Mittelpunkt des Grundkreises, sondern exzentrisch zu
setzen. Die der Ellipsenbahn eigene ungleichförmige Ge-
schwindigkeit bekam man dadurch in den Griff, dass in den
Kreis ein imaginärer Punkt, der so genannte Äquant, gesetzt
wurde, von dem aus gesehen die Winkelgeschwindigkeit
gleich blieb. Viele Generationen von arabisch schreibenden
Astronomen mühten sich, die ptolemäischen Modelle zu
verbessern und sie an genauere Beobachtungen anzupassen.
Frontispiz zu Regio- Doch vermochten sie nicht, von der damaligen Grundvo-
montanus’ »Epitome raussetzung loszukommen, nämlich dem Ideal der vollkom-
in Ptolemaei alma- menen Kreisbewegung.
trINIty collEGE cAmbrIdGE

gestum« (»Abriss Aus damaliger Sicht hatte dieses Ideal durchaus seine Be-
des Almagest rechtigung, denn die Astronomen hatten im täglichen Um-
von Ptolemaios«), schwung der Fixsternsphäre am Himmel eine solche ein-
Venedig 1496 fache Kreisbewegung anschaulich vor Augen. Gleichwohl

www.SPEKtruM.DE 75
biet der Optik und im Abendland als Alhazen bekannt – für
die Himmelskörper einen kreuzungsfreien Verkehr inner-
halb ringförmiger Tunnelröhren entworfen.
Unzufrieden mit all den komplizierten Hypothesen wa-
ren die Philosophen im maurischen Spanien. Sie wollten lie-
ber zu dem einfacheren Weltbild des Aristoteles zurück-
kehren, indem sie die Bewegungen nur durch so genannte
homozentrische Sphären geschehen ließen, die wie Zwiebel-
schalen um die Erde herum gelagert waren. Dabei sollten die
Drehachsen der Sphären unterschiedlich ausgerichtet sein,
um so die beobachteten Schleifenbahnen ohne Exzenter und
ForSchuNGSbIblIothEk GothA, mS. orIENt. A 1507, bl. 19 b

Epizykel erklären zu können. Noch der italienische Humanist


und Arzt Girolamo Fracastoro (1470 – 1553), ein Zeitgenosse
des Kopernikus, hat das Gleiche versucht, mit denselben un-
befriedigenden Ergebnissen.

Arabische Sternnamen – verfremdet und verfälscht


Die entscheidenden Durchbrüche gelangen, wie bekannt,
erst in der europäischen Neuzeit. Dabei hatte im Okzident
die astronomische Wissenschaft sehr bescheiden angefan-
Diese Miniaturmalerei in den »Wundern der Schöpfung« von gen. Um die erste Jahrtausendwende lernte man in Spanien
al-Qazwini zeigt die sabischen Planetengötter: oben der von den Arabern den Gebrauch des Astrolabs, eines handli-
Mond in seinem »Haus des Krebses«, danach im Uhrzeigersinn chen Universalinstruments. In Toledo übersetzten Gelehrte
Saturn als ein indischer Greis, Mars mit Pfeil und Bogen be- den »Almagest« aus dem Arabischen ins Lateinische. Noch
waffnet, Jupiter, Venus als Lautenspielerin, Merkur, in der Mitte Kopernikus arbeitete mit einer solchen Version. Die Unzu-
die Sonne. friedenheit mit dem ptolemäischen System artikulierte sich
aber auch in Spanien schon früh: König Alfonso der Weise,
der von 1221 bis 1284 regierte und die Rezeption arabischer
wurde auch der Frage nachgegangen, ob diese Bewegung Wissenschaft entscheidend förderte, soll gesagt haben, die
vielleicht auf einer Täuschung beruhe und stattdessen die komplizierte Maschinerie des ptolemäischen Systems wäre
Erde rotiere. Al-Biruni, der diese Überlegung aus seiner Be- wohl einfacher ausgefallen, wenn ihn der Allmächtige bei der
schäftigung mit der indischen Astronomie kannte, hat sich Weltschöpfung zu Rate gezogen hätte.
dazu in dem Sinn geäußert, dass vom rein mathematischen Bis heute verwenden wir Sternnamen, die aus dem Arabi-
Standpunkt keine Einwände dagegen zu erheben seien. Doch schen entlehnt sind. Allerdings wurden die arabischen Be-
sprächen andere Gründe dagegen. So zum Beispiel, dass von griffe teilweise verunstaltet und falsch zugeordnet. Oft wur-
einer rasend schnellen Bewegung der Erdoberfläche doch et- de sogar die Bezeichnung eines ganzen Sternbilds willkürlich
was zu merken sein müsste. Dass dem eben nicht so ist, de- auf einen Einzelstern verengt. Erst der Arabist Paul Kunitzsch
monstrierte der Franzose Jean Bernard Léon Foucault mit von der Universität München konnte mit seinen Forschun-
seinem berühmten Pendelversuch erst 1851. gen in den fast allen Fällen Klarheit schaffen. Er zeigte vor
Indem die Gelehrten aber – gleichermaßen dem Koran mehr als 50 Jahren, dass ein Teil dieser Namen von den grie-
wie der christlichen Tradition folgend – den gestirnten Him- chischen Sternbildern hergeleitet ist, ein anderer Teil von
mel als eine geschaffene materielle Realität zu begreifen den altarabischen.
suchten, waren sie darauf angewiesen, sich feste und absolut Nur leicht verfremdet ist Algol (der Stern Beta Persei), ara-
durchsichtige rotierende Körper vorzustellen. Diese sollten bisch »al-Ghul«, eine Wüstendämonin, die auch in den Mär-
im Einklang mit der aristotelischen Naturphilosophie aus chen aus Tausendundeiner Nacht ihr Unwesen treibt. Damit
dem Element des Äthers bestehen. Die exakte Kreisbewe- identifizierten die arabischen Übersetzer der griechischen
gung folgte dann nicht mehr einem Ideal göttlicher Sphären- Werke geschickt das Medusenhaupt in der Hand des Perseus.
harmonie, sondern einem mechanischen Zwang. Fomalhaut (Alpha Piscis Austrini) ist eine tadellose Wieder-
Auch Johannes Kepler musste Anfang des 17. Jahrhunderts gabe von »fam al-hut«, »das Maul des (Südlichen) Fisches«.
für seine Ellipsenbahnen eine »mens planetae«, einen »Ver- Rigel (Beta Orionis) ist »ridschl«, der »Fuß« des Orion. Ras Al-
stand des Planeten«, annehmen, der den Himmelskörper gethi (Alpha Herculi) ist »ra’s al-dschathi«, »der Kopf des
durch den leeren Raum steuert. Ptolemaios selbst hatte in Knieenden«, denn so sah man die Gestalt des Herkules auf
seinem Werk »Planetarische Hypothesen« von festen Schei- den Sterngloben. Altarabischen Ursprungs ist hingegen Atair
benformen gesprochen. Diesen Intentionen folgend hat Ibn (Alpha Aquilae), »at-ta’ir«, »der Fliegende«, nämlich ein Ad-
al-Haitham (965 – 1039) – zugleich ein Pionier auf dem Ge- ler, der sich wohl mehr zufällig an der Stelle unseres sitzen-

76  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
keplerschen Ellipsenbahnen, Galileis Beobachtung der Jupi-
termonde und Newtons Gravitationslehre nachträglich si-
chere Stützen untergezogen wurden. Und es ist nun tatsäch-
lich Ausdruck einer tief greifenden geistigen Stagnation, dass
der Orient bis ins 19. Jahrhundert hinein davon keine Notiz
genommen hat.
Heute bedeutet es für arabische und muslimische Intel-
lektuelle eine Anfechtung, dass die Verbindung zu ihrer eige-
nen respektablen Vergangenheit abgerissen ist und sie in
den Wissenschaften vom fremden ungeliebten Westen ab-
hängig sind. Das führt zu seltsamen ideologischen Verren-
kungen. In zahlreichen Publikationen sieht der durchaus
kenntnisreiche persische Wissenschaftshistoriker Seyyed
GotthArd StrohmAIEr

Hossein Nasr in der mit Kopernikus eingeleiteten Entgren-


zung des Kosmos allen Ernstes einen Sündenfall des selbst-
herrlichen europäischen Individuums und in der Beschrän-
kung der muslimischen Gelehrten auf das geschlossene pto-
In der astronomischen Uhr im Chorumgang der Nikolaikirche lemäische Weltbild einen Ausfluss östlicher Weisheit. Ein
in Stralsund findet sich der Einfluss arabischer Astronomen Wissenschaftler wie al-Biruni, der um das Jahr 1000 in einer
wieder. Im linken oberen Zwickelfeld ist Ptolemaios abgebildet, Diskussion mit seinem Kollegen Avicenna schon die Mög-
der von arabischen Astronomen irrtümlich als König aus der lichkeit erwog, dass es außerhalb unseres Kosmos noch an-
ägyptischen Ptolemäerdynastie angesehen wurde. Legitimer- dere Welten geben könne, hätte über solche Gedankengänge
weise trägt eine Krone rechts oben der spanische König Alfonso gelacht.
der Weise. Unten sieht man zwei arabische Astrologen, links Es bleibt anzumerken, dass 1998 eine »Arab Union for As-
vermutlich Ali ibn Ridwan, rechts Abu Ma’shar, der bedeutendste tronomy and Space Sciences« gegründet wurde. Organisato-
astronomische Autor im Islam. rischer Kern ist eine schon seit 1987 bestehende »Jordanian
Astronomical Society«, die Schülergruppen anleitet und mit
ihren Konferenzen und Beobachtungen von Finsternissen
den Adlers befand. Beteigeuze (Alpha Orionis) ist verunstal- und Meteorströmen schon fest in die internationale Zusam-
tet aus »yad al-Dschauza«, »die Hand der Dschauza«, einer menarbeit eingebunden ist. Ÿ
weiblichen Gestalt, die eine Hand bei der rechten Schulter
des Orions hatte. Unsere Wega (Alpha Lyrae) war eigentlich
ein Maskulinum, verkürzt aus »an-nasr al-waqi«, »der herab- der autor
stoßende Adler«.
Unter Wissenschaftshistorikern herrschte lange Zeit die der Autor Gotthard Strohmaier lehrt als honorar-
professor am Seminar für Semitistik und Arabistik
Auffassung vor, zeitgleich mit der Übernahme der arabi- der Freien universität berlin.
schen Astronomie durch die Westeuropäer sei die selbststän-
dige astronomische Arbeit im Islam zum Erliegen gekom-
men. Die Forschungen der letzten 40 Jahre aber haben ge-
zeigt, dass sie sehr wohl weiterging.
literatur
Geistige Stagnation
Green, T. M.: the city of the moon God. religious traditions of
Beachtliche Rechenleistungen vollbrachten Leute, die im harran. leiden, New york, köln 1992
Hauptberuf die Lehren des Propheten Mohammed verbrei- Jori, A.: Artikel »planeten«. In: der Neue pauly 9, metzler, Stuttgart
teten. Ibn ash-Shatir (um 1350) etwa war an der Omaijaden- 2000 (zu den antiken voraussetzungen der arabischen theorien).
Kunitzsch, P.: untersuchungen zur Sternnomenklatur der Araber.
Moschee in Damaskus angestellt, um die genauen Gebets- harrassowitz, Wiesbaden 1961
zeiten auf astronomischer Grundlage zu ermitteln. Einzel- Kunitzsch, P.: Arabische Sternnamen in Europa. harrassowitz,
heiten seines Merkur- und Mondmodells fanden sich Wiesbaden 1959
Kennedy, E. S.: Astronomy and Astrology in the medieval Islamic
überraschenderweise bei Kopernikus wieder, ohne dass man World. Aldershot, hampshire 1998
nach gegenwärtiger Kenntnis zu sagen wüsste, wie die Wege Saliba, G. A.: A history of Arabic Astronomy: planetary theories
der Vermittlung waren. Mit dem heliozentrischen System during the Golden Age of Islam. New york university press, 1994
Savage-Smith, E.: Islamicate celestial Globes: their history, construc-
haben sie übrigens nichts zu tun. Dieses wurde in der geistig
tion and use. Smithsonian Institution press, Washington 1985
ungeheuer angeregten Atmosphäre der europäischen Re- Strohmaier, G.: Al-biruni. Ein Gelehrter, den das Abendland übersah.
naissance geboren. Es war zunächst eine recht windige Hypo- In: Spektrum der Wissenschaft 5/2001, S. 74
these, der aber in den nachfolgenden Generationen mit den

www.SPEKtruM.DE 77
MuSIKwISSENSchAft

Sphärenharmonien –
Die Welt als Klangbild
Mit den Mitteln der Musik glaubten Gelehrte in Antike und
Mittelalter die grundlegende Ordnung des Kosmos zu erkennen.
Von Christian Berktold

D
ass bestimmte Töne und Zusammenklänge ein ordnen? In welcher Reihenfolge folgten die Himmelskörper
Abbild der realen Welt seien, ist vermutlich nicht überhaupt aufeinander? Und welche Tonverhältnisse sollte
erst eine Erfindung der griechischen Antike, doch man zu Grunde legen?
der bedeutende Mathematiker Pythagoras (etwa Die meisten Modelle der »musica mundana« stammten
580 – 500 v. Chr.) schuf erstmals eine theoretische Grundla- aus der griechischen und römischen Antike sowie – darauf
gen solcher »Sphärenharmonie«. Demnach herrsche im Kos- wieder fußend – von spätantiken Gelehrten. An das Mittelal-
mos eine einfache wohlgestaltete Ordnung, eine Harmonie, ter wurden sie insbesondere von Anicius Manlius Severinus
deren Gesetze durch einfache Proportionen ganzer Zahlen Boethius (480 – 524) übermittelt, der aus einer der angesehen-
bestimmt seien. sten römischen Familien stammte und schon in jungen Jah-
Diese Tradition fortsetzend gehörte eine »wissenschaftli- ren höchste Staatsämter bekleidet hatte. Boethius sah seine
che« Musik zu den vier im »Quadrivium« vereinten mathe- vordringliche Aufgabe aber nicht in der politischen Tätigkeit,
matischen Disziplinen des mittelalterlichen Bildungswe- sondern in der Bewahrung des philosophischen Wissens der
sens: Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Diese Antike. So hinterließ er dem Mittelalter neben anderen Wer-
Reihenfolge entsprach auch ihrem Rang, denn die Arithme- ken ein umfassendes musikalisches Kompendium »De Insti-
tik beschäftigte sich nach Ansicht der Gelehrten mit den Zah- tutione Musica«, das vorwiegend aus ins Lateinische übertra-
len an sich und begründete jede Mathematik, während die genen Texten griechischer Musiktheoretiker bestand. Darin
Musik von Proportionen handelte, also die Relationen der ergänzte er auch die Vorstellungen des römischen Staatsman-
Dinge zueinander erschloss. Im System der Töne behandelte nes und Philosophen Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.)
sie an konkreten Modellen harmonische Fügungen, wie sie zur Sphärenharmonie um die eigentlichen musiktheoreti-
nach antiker und mittelalterlicher Anschauung etwa auch schen Komponenten.
die Konstitution des Menschen, das Verhältnis von Körper Im »Traum des Scipio«, enthalten in der Schrift »De Re Pu-
und Seele sowie die Gestirne bestimmten. Eine seit der blica«, schrieb Cicero, dass die Erde unbeweglich in der Mitte
Spätantike geläufige Einteilung dieser mathematischen Mu- der Weltordnung verharre. Um sie herum kreisten in immer
sik umfasste deshalb als Erstes die »musica mundana«, die größeren Bahnen die sieben Planeten Mond, Merkur, Venus,
Harmonie der Sphären, sodann eine mit dem Menschen be- Sonne, Mars, Jupiter und Saturn; da sie in einer Nacht in ei-
fasste »musica humana« sowie eine Musik, die sich auf In- nem gemeinsamen Umschwung ihren Weg zurücklegten,
strumente gründet und die mathematischen Verhältnisse mussten sie mit zunehmender Entfernung dementspre-
der Töne erforscht, später »musica instrumentalis« genannt. chend rascher sein. Zuäußerst befinde sich, am schnellsten
Um in der »musica mundana« die harmonische Ordnung kreisend, der Fixsternhimmel. Boethius übertrug auf dieses
des Kosmos zu unterstreichen, wurden den Sphären der Him- Modell die Oktave A – a, eine der grundlegenden Tonskalen
melskörper einzelne Töne zugeordnet, die den gleichen har- aus der griechischen Musiktheorie. Dabei erzeuge die Erde,
monischen Proportionalitäten folgen sollten, wie Töne in der da unbeweglich, keinen Ton, der Mond als langsamster Him-
von Menschen hervorgebrachten Musik. Dabei galten diese melskörper den tiefsten, der Fixsternhimmel den höchsten
himmlischen Klänge jedoch als unhörbar. Einige Gelehrte er- Ton (siehe Grafik rechts).
klärten dies mit deren »Mächtigkeit«, andere durch einen Ge- Derartige Konzepte wurden im Mittelalter weitergedacht,
wöhnungseffekt: Da der Mensch diesen Tönen seit seiner Ge- häufig aber nur rezipiert. Doch in jedem Fall galt es, sie in das
burt ausgesetzt sei, nähme er sie schlicht nicht mehr wahr. christliche Weltbild mit einzubeziehen. Dass Gott die Welt
Je nach dem gerade geltenden kosmologischen Weltbild nach »Maß, Zahl und Gewicht geordnet« habe, wie es das
und der Ausrichtung eines Gelehrten erfuhr das Grundkon- Buch der Weisheit (11, 20) ausspricht, bildete den zentralen
zept der Sphärenharmonie eine andere Ausprägung. Waren biblischen Anknüpfungspunkt. Von hier aus erschloss sich
den erdnahen Planeten eher höhere oder tiefere Töne zuzu- die Faszination der Zahlenordnung auch für die Kirchenvä-

78  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Unerhörte Harmonien
Der Kosmos mittelalterlicher Gelehrter war bestimmt von einer
nichthörbaren Sphärenharmonie. In seinem Lehrbuch »Practica
musicae« ordnete der oberitalienische Musiktheoretiker und
Komponist Franchinus Gafurius (1451 – 1522) der Erde und den
Himmelskörpern Töne und Intervalle, die acht Kirchentonarten
und die neun Musen zu. Die seinem Holzschnitt nachempfunde-
ne Grafik zeigt die Erde, die aus den vier Elementen Feuer, Luft,
Wasser und Erde zusammengesetzt ist. Die Muse der Letzteren
ist Thaleia.
Weil die Erde im Zentrum des Kosmos ruht, erzeugt sie kei-
nen Ton. Rechts aufsteigend angeordnet stehen die Sphären der
Planeten, mit dem Mond beginnend bis zum Fixsternhimmel.
Der Tonabstand von je zwei Planeten wird als Ganzton- oder
Halbtonintervall verzeichnet. Links finden sich entsprechend
hierzu die Tonnamen (im Original in griechischer Sprache), so-
dass sich die Töne der Oktave A – a auf die Planetensphären ver-
teilen.
SpeKtruM der WiSSenSchAft / MeGAniM, nAch: frAnchinuS GAfuriuS

Unmittelbar rechts von den Tonnamen werden zusätzlich


noch die Kirchentonarten (hier in ihrer heutigen Bezeichnung)
nach ihren Anfangstönen angeführt, und schließlich entspricht
ganz links außerdem die Reihe der Musen der Planetenfolge.
Die Sonne zum Beispiel erhält auf diese Weise den Ton d und
das Dorische als die auf diesem Ton beginnende Kirchentonart
zugewiesen, sowie Melpomene als die zu ihr gehörende Muse.
Das Motto des Spruchbandes zitiert ein Gedicht des Rhetorik-
lehrers und späteren Konsuls Decimus Magnus Ausonius (etwa
310 – 395): »Die Kraft des Apollinischen Geistes bewegt diese
Musen überallhin.«

ter – die Harmonie der Sphären war Abbild einer Schöpfung, und Lehrschriften diskutierten deren Vertreter die Probleme
die in ihrer Wohlbeschaffenheit den Schöpfer selbst pries. der praktischen Musik, etwa der Komposition von Choralge-
Mit wachsender Bedeutung der Empirie für die mittelal- sängen, der musikalischen Notation oder des mehrstimmi-
terliche Weltbetrachtung, insbesondere seit dem Aristotelis- gen Tonsatzes. Den mathematisch gelehrten Musikern (mu-
mus des 13. Jahrhunderts, meldeten sich auch Kritiker zu sici), wie sie im Mittelalter genannt wurden, galten diese Sän-
Wort. Denn aus der Unhörbarkeit der Sphärenharmonie – die ger (cantores) jedoch häufig als bloße Praktiker, deren
weithin außer Frage stand – folgte ihre prinzipielle Unzu- Handwerk eben die musikalische Komposition und deren
gänglichkeit als Naturphänomen. Dies war mit der empiri- Theorie war. An den Wert der wissenschaftlichen Erkenntnis
schen, auf positive Sinnesdaten ausgerichteten Erkenntnis- der sieben freien Künste (septem artes liberales), mit dem
theorie aristotelischer Prägung nicht vereinbar, zumal auch mathematischen »Quadrivium« als Schwerpunkt, reiche der
Aristoteles selbst die Sphärenmusik auf Grund ihrer Nicht- Nutzen dieser handwerklichen Kunstfertigkeit jedenfalls nie
wahrnehmbarkeit als nichtexistent abgelehnt hatte. heran.  Ÿ
Die Zweifler blieben allerdings in der Minderheit, stellten
sie doch letztlich die Musik als mathematische Disziplin an der autor
sich in Frage. Die war aber institutionell über die Universitä-
Christian Berktold studierte Musikwissenschaft,
ten verankert, die als Lehrbuch der Musik einzig »De Institu-
philosophie und Lateinische philologie des Mit-
tione Musica« von Boethius beziehungsweise eine spätere telalters an der Ludwig-Maximilians-universität
Fassung desselben Werkes vorsahen. Gleichwohl entwickelte München, wo er auch promovierte. er ist wissen-
schaftlicher Mitarbeiter der Musikhistorischen
sich neben dieser mathematischen Musiktheorie eine neue
Kommission der Bayerischen Akademie der Wis-
Disziplin, die unserem heutigen Verständnis von Musiklehre senschaften.
und -theorie nahe kommt: In Hunderten von Abhandlungen

www.SPEKtruM.DE 79
wELtbILDEr

Der neue Kosmos


Kopernikus und Kepler warfen manche Lehre aus der Antike über
Bord. Im Detail blieben sie der Tradition aber doch verhaftet.

Von Thomas Bührke

PIerPonT MorgAn LIBrAry / ArT resource / scALA FLorenz, 2013

80  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
AKg IMAges / erIch LessIng

H
eute bezeichnen wir es als Jahrhundertwerk: Ni­ In seinem Observatorium Uraniborg auf der dänischen
kolaus Kopernikus’ »De Revolutionibus Orbium Insel Hven verfügte Tycho Brahe über die besten Messgeräte
Coelestium« (Über den Umschwung der Him­ und Instrumente seiner Zeit.
melskreise). Doch die Wirkung dieser Veröffent­
lichung aus dem Jahr 1543 war zunächst gering. In den ersten
100 Jahren nach dessen Erscheinen haben nur etwa zehn auf einen blick
Gelehrte die weit reichende Wirkung wirklich verstanden,
schätzt der Historiker Owen Gingerich von der Harvard Uni­ uNDSIEDrEhtSIchDoch…
versity.
Zwar hatte Kopernikus die Sonne in das Zentrum der Welt 1 Nikolaus Kopernikus postulierte, dass sich die Erde um die
Sonne drehe – und nicht umgekehrt. Doch kaum jemand ver-
stand sein komplexes heliozentrisches Weltbild.
gestellt und eine Bewegung der Erde um den Stern postuliert.
Doch andererseits blieb er noch ganz in der Tradition des an­
2 Während Kopernikus glaubte, die Welt sei »von dem nach
genauesten Gesetzen zu Werke gehenden Meister« geschaffen
worden, strebte Johannes Kepler erstmals danach, ihre physika-
lischen Gesetzmäßigkeiten zu ergründen.

Im ptolemäischen Weltmodell stand die Erde im Zentrum, doch


manche astronomische Beobachtung war damit nur schwer
3 Galileo Galilei hingegen sann weniger auf die theoretische
Beschreibung der Bewegungen der Himmelskörper. Der
Zeitgenosse Keplers bevorzugte das Experiment und die Beobach-
vereinbar (aus einer deutschen Ausgabe des Werks »De Sphaera« tung mit dem Fernglas.
von Johannes Sacrobosco aus dem Jahr 1230).

www.SPEKtruM.DE 81
Porträt: Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543)

Im Zentrum steht die Sonne nannte. Darin schilderte Kopernikus be-


reits die Grundzüge seines heliozentri-
KopernikusnahmdieErdeausdemZentrum schen Weltsystems: Alle Bahnkreise der
desKosmosundschufsoeinneuesweltbild. Planeten umgeben die Sonne, die den Mittel-

PuBLIc DoMAIn
punkt der Welt bildet. Die beobachteten Bewe-
Auf dem Sterbebett, so wird berichtet, empfing der bedeuten- gungen am Himmel rühren daher, dass sich die Erde einmal pro
de Gelehrte ein Exemplar seines Werks »De revolutionibus or- Jahr um die Sonne und einmal pro Tag um die eigene Achse
bium coelestium« (Über den Umschwung der Himmelskreise). dreht. Und der Abstand Sonne-Erde ist verschwindend gering
Er berührte den Band und starb kurz darauf. gegenüber den Entfernungen der Sterne.
Kopernikus kam in Thorn an der Weichsel als Sohn einer
wohlhabenden Kaufmannsfamilie zur Welt. An eine Karriere als Kopernikus’ Schlussfolgerungen basierten auf rein philosophi-
Astronom dachte niemand. Im Alter von 18 Jahren schrieb sich schen Erwägungen. Das geozentrische System war darauf an-
der junge Mann an der Universität von Krakau ein. Schon drei gewiesen, die Planeten auf einer Vielzahl von Hilfskreisen, so
Jahre später verschaffte ihm sein Onkel Lukas Watzenrode, Theo- genannten Exzentern und Epizykeln, um die Erde laufen zu las-
loge und später der Bischof von Ermland, eine Stellung auf Le- sen, um alle Beobachtungen zu erklären. Damit könne man
benszeit als Domherr beim ermländischen Kapitel Frauenburg. aber laut Kopernikus nicht mehr von wirklich gleichförmigen
Doch der Wissbegierige wollte noch mehr lernen, bevor er das Bewegungen der Planeten sprechen. Die aber waren ihm heilig.
Amt antrat; er immatrikulierte sich an der renommierten Univer- Mit der Sonne im Mittelpunkt war die Harmonie des Kosmos
sität von Bologna. Dort unterwies ihn der Astronom Dominicus gewahrt. Musste das ptolemäische System noch die Sphäre der
Maria di Novara in der mathematischen Himmelskunde des an- Fixsterne einmal pro Tag vollständig rotieren lassen, stand sie im
tiken Gelehrten Ptolemäus, der die Erde in den Mittelpunkt des kopernikanischen still – mit zunehmender Entfernung von der
Kosmos gesetzt hatte. Dieses Weltbild galt als unantastbar, ent- Sonne wurden die Umlaufzeiten größer. Zwar benötigte auch
sprach es doch den Vorstellungen der mittelalterlichen Kirche. Kopernikus noch die komplizierten Epizykel, in seinem System
Im Anschluss an Bologna studierte Kopernikus in Rom, Padua dienten sie aber nur noch dazu, die ungleichmäßige Geschwin-
und Ferrara, bis ihn sein Onkel 1503 als persönlichen Sekretär an digkeit zu erklären, mit denen die Planeten über den Himmel zie-
die fürstbischöfliche Residenz in Heilsberg rief. Nach sieben Jah- hen. Die Schleifenbewegungen der Marsbahn beispielsweise in-
ren gab Kopernikus die Stelle jedoch auf und wechselte endlich, terpretierte der Gelehrte hingegen als Folge der Erdbewegung.
15 Jahre nach der Ernennung zum Domherrn, nach Frauenburg. Um 1529 begann er vermutlich die Arbeit an seinem Haupt-
Neben seinen Alltagspflichten – Kopernikus entwickelte zum werk »De Revolutionibus«. Immer wieder kamen ihm Zweifel,
Beispiel Vorschläge für eine Münzreform und einen neuen Ka- korrigierte er Zahlen und Tabellen. Eine große Hilfe war ihm
lender – fand er Zeit, sich weiterhin mit der Astronomie des Pto- schließlich Georg Joachim Rheticus, ein junger, talentierter Ma-
lemäus auseinanderzusetzen. Um 1514 verteilte er an seine thematiker; er wurde 1539 Assistent des Gelehrten und trug er-
Freunde ein Manuskript, das man später »Commentariolus« heblich dazu bei, das Werk druckreif zu machen.
In der Vorrede schilderte Kopernikus seine Abneigung des
ptolemäischen Systems mit folgenden Worten: »Es erging ih-
AKg IMAges

nen [den Geozentrikern] deshalb wie jemandem, der von ver-


schiedenen Vorlagen die Hände nähme, die Füße, den Kopf und
andere Gliedmaßen, die zwar von bester Beschaffenheit, aber
nicht nach dem Bild eines einzigen Körpers gezeichnet sind
und in keiner Beziehung zueinander passen, weshalb eher ein
Ungeheuer als ein Mensch aus ihnen entstände.«
Obwohl seine Thesen nicht im Einklang mit der Meinung
der Kirche standen, wurde Kopernikus nie angeprangert. Im Ge-
genteil: Hohe Geistliche wie der Kardinal von Capua hatten ihn
sogar zur Veröffentlichung seines großen Werks gedrängt. Eini-
ge Historiker vermuten, dass anfänglich nur wenige »De Revo-
Planeten, die um die Sonne kreisen? Zwar hatten schon in der lutionibus« wirklich verstanden. Kopernikus starb 1543 an den
Antike Gelehrte derlei geäußert, doch seit dem Mittelalter Folgen eines Schlaganfalls. Es sollte noch über ein halbes Jahr-
galt als sicher: Alle Welt dreht sich um die Erde (hier eine Dar- hundert dauern, bis Galilei und Kepler sein Weltsystem in die
stellung aus einer Handschrift des Kopernikus). öffentliche Diskussion brachten.

82  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
tiken »Forschungsprogramms« – nämlich, indem er die am
Himmel unregelmäßig erscheinenden Bewegungen von
Sonne, Mond und Planeten auf gleichförmige, kreisförmige
Bewegungen zurückführte. Und das machte die mathemati­
sche Struktur seines Weltsystems nicht einfacher als die des
geozentrischen.
Der Planet Mars zum Beispiel kann über Monate hinweg
vor dem Sternenhintergrund von West nach Ost über den
Himmel wandern, um dann plötzlich stehen zu bleiben und
wieder zurückzulaufen. Nach einigen Wochen hält er schein­
bar erneut an und nimmt seine ursprüngliche Bewegungs­
richtung wieder auf. Diese Schleifenbewegung ließ sich nicht
mit der einfachen Annahme erklären, der Mars umkreise
die Erde.

Modelle aus Kreisen und Schalen


Um dieses Problem zu lösen, hatte Eudoxos von Knidos
(etwa 408 – 355 v. Chr.) das Modell der homozentrischen
Sphären ersonnen. Demnach war die Erde von kristallenen,
sich drehenden Kugelschalen umgeben, auf deren Äquator
jeweils Sonne, Mond und die Planeten befestigt waren.
Gleichzeitig standen die Achsen dieser Schalen auf einer
noch größeren Sphäre, die ebenfalls langsam rotierte. Weil
sie gegeneinander geneigt waren, wanderten die Pole der Pla­
neten tragenden Sphären langsam durch den Raum. Das Er­
gebnis: Die Planeten schienen von der Erde aus gesehen am
Himmel unregelmäßige Bewegungen auszuführen.
Historisch erlangte dieses Modell ein besonderes Gewicht,
als Aristoteles es unterstützte und erweiterte. Doch obwohl
es immer vielschichtiger und komplexer wurde, vermochte
es einige bekannte Phänomene wie die Helligkeitsvariatio­
nen der Planeten oder die scheinbaren Größenschwankun­
gen von Sonne und Mond nicht zu erklären.
Apollonios von Perge (etwa 262 – 190 v. Chr.) entwickelte
daraufhin sein Epizykelmodell. Wieder war die Erde von Krei­
sen oder Schalen umgeben, den »Deferenten«. Ein Planet

MIT FrDL. gen. Des servIce régIonAL De L’InvenTAIre D’ALsAce, sTrAsBourg; FoTo: JeAn cLAuDe sTAMM
sollte nun aber auf einem kleineren Hilfskreis, dem Epizykel,
reisen, dessen Mittelpunkt auf dem Deferenten wanderte
(siehe Grafik S. 85). Durch richtige Wahl der jeweiligen Ge­
schwindigkeiten erreichte ein Astronom eine zusammenge­
setzte Bewegung, die der Realität schon recht nahe kam: In
dem Modell vollführte der Planet von der Erde aus gesehen
tatsächlich periodische Schleifenbewegungen.
Der griechische Astronom Claudius Ptolemäus (um 100 –
um 160 n. Chr.) perfektionierte die Berechnung der Plane­
tenbahnen und schuf ein Werk, das über nahezu anderthalb
Jahrtausende hinweg die Astronomie beherrschen sollte, die
»Mathematiké Synthaxis«, besser bekannt unter dem Titel
der arabischen Übersetzung: »Almagest«. Er wurde zur Bibel
aller kommenden Astronomen und bestimmte bis zu den
Zeiten des Kopernikus das Weltbild.
Die Möglichkeit, dass die Erde selbst in Bewegung sein Nikolaus Kopernikus mit einem Maiglöckchen in der linken Hand?
könnte, lag den Griechen indes keineswegs fern. Mehrere Ge­ Dies war zu jener Zeit ein Symbol medizinischer Gelehrsamkeit.
lehrte plädierten schon in der Antike für ein geozentrisches Als Vorlage für dieses Bildnis an der astronomischen Uhr des
System, darunter insbesondere Aristarch von Samos (etwa Straßburger Münsters diente möglicherweise ein Selbstporträt.

www.SPEKtruM.DE 83
Porträt: Tycho Brahe (1546 – 1601)

Zwei Zentren für die Welt Im Jahre 1575 – Brahe lehrte an der Uni-
versität Kopenhagen Mathematik – gab
DerAstronomtychobraheversuchte,dasgeo- ihm der dänische König Friedrich II. die zwi-
zentrischeweltbilddesAristotelesmitdem schen Kopenhagen und Helsingör gelegene

PuBLIc DoMAIn
heliozentrischendesKopernikuszuvereinen. Sundinsel Hven zum Lehen sowie Mittel für den
Bau eines Hauses und ein jährliches Einkommen. Brahe begann
Am 14. 12. 1546, also drei Jahre nach dem Erscheinen von Nikolaus sofort mit dem Aufbau einer Sternwarte. 1580 war die Uraniborg
Kopernikus’ epochalem Werk »De Revolutionibus Orbium Coe- (Himmelsburg) fertig gestellt, vier Jahre später ein zweites Ge-
lestium« (»Über die Bewegung der Himmelskörper«), kam Tycho bäude, die Stjerneborg. Ausgestattet mit den leistungsfähigsten
Brahe auf dem Familiensitz Knudstrup südöstlich von Helsing- Instrumenten seiner Zeit, hatte Brahe das astronomische Zen-
borg in der dänischen Provinz Schonen zur Welt. Im Alter von 13 trum Europas geschaffen. Seine Messungen erlangten eine bis
Jahren schickte ihn sein Onkel, der ihn aufzog, an die Kopenha- dahin unerreichte Genauigkeit. 1598 veröffentlichte er einen Ka-
gener Universität. Dort sollte er sich auf eine standesgemäße talog mit 1000 Sternen, deren Positionen bis zu 100-mal exakter
Laufbahn als Staatsmann vorbereiten. Eine partielle Sonnenfins- waren als die im Sternenkatalog des antiken Astronomen Hipp-
ternis am 21. 8. 1560 motivierte den Jungen aber – sehr zum Un- arch (180 – 125 v. Chr.). Brahes Werk diente Astronomen wie Jo-
mut des Onkels –, Mathematik und Astronomie zu studieren. hannes Kepler als unerschöpfliche Fundgrube.
Nachts beobachtete er die Planeten und verglich deren Posi-
tionen mit den Angaben in den damals maßgeblichen Plane- Im Jahr 1577 beschäftigte Brahe ein heller Komet. Er verfolgte
tentafeln. Dabei stieß er auf erhebliche Ungenauigkeiten. In dessen Bahn am Himmel und fand im Vergleich mit den Plane-
Wittenberg und Rostock setzte er sein Studium fort, bis ihn am tenbewegungen heraus, dass der Schweifstern »zwischen der
11. 11. 1572 ein ungewöhnliches Ereignis endgültig in den Bann Mondsphäre und der Venussphäre entstanden ist«. Und er fuhr
der Astronomie zog. Im Sternbild Kassiopeia entdeckte Brahe ei- fort: »Deshalb kann die aristotelische Astronomie nicht richtig
nen hell leuchtenden Stern, den er dort noch nie gesehen hatte. sein, wenn sie lehrt, dass am Himmel nichts Neues entstehen
In den folgenden Monaten vermaß er dessen Position. Anders könne und alle Kometen sich in der oberen Region der Luft be-
als die Planeten oder Kometen blieb dieser unverändert stehen, fänden.« Außerdem musste der Komet die Sphären der Plane-
woraus er folgerte, dass sich seine stella nova (neuer Stern) in ten durchqueren. Damit war auch die Idee kristallener Plane-
der Sphäre der Sterne befand und dort entstanden war. Dies tensphären widerlegt.
aber widersprach dem aristotelischen Weltbild, wonach sich Trotz aller Widersprüche zum aristotelischen System ließ
Veränderungen am Himmel wie Wolken, Meteore oder Kome- Brahe aber nicht von der Vorstellung einer ruhenden Erde ab.
ten nur in der erdnächsten, der sublunaren Sphäre ereigneten. Im Jahr 1588 veröffentlichte er ein neues geoheliozentrisches
System, das einerseits die beobachteten Bahnen der Planeten
erklären sollte, andererseits aber eine Bewegung der Erde im
Kosmos und eine Drehung um die eigene Achse vermied. Hierin
stand die Erde im Zentrum der Fixsternsphäre und wurde von
Mond und Sonne umrundet. Alle anderen Planeten umkreisten
die Sonne. Dadurch ließen sich die Schleifenbahnen der Plane-
ten am Himmel einfacher erklären als im ptolemäischen Welt-
bild. Allerdings führte Brahe sein System nie so genau aus, als
dass er es durch Beobachtungen hätte nachprüfen können.
Im Jahre 1558 starb Brahes Mäzen Friedrich II. Mit dessen
Sohn und Thronfolger, Christian IV., überwarf sich der Astro-
nom, so dass er im Juli 1597 sein Heimatland verlassen musste.
Ein neues Domizil fand er in dem nahe bei Prag gelegenen
Schloss Benatky, das ihm Kaiser Rudolf II. anbot. Zu astronomi-
schen Studien kam Brahe jedoch nicht mehr. Am 24. 10. 1601
corBIs

starb er an den Folgen eines schweren Blasenleidens. Sein


Tycho Brahe modifizierte das ptolemäische Weltbild, da es Nachfolger in Prag wurde Johannes Kepler. Es gab und gibt im-
einigen seiner Beobachtungen widersprach. Bei ihm mer wieder Verschwörungstheorien, die in dem Nutznießer
kreisten zwar alle Planeten um die Sonne, diese jedoch mit auch einen Mörder sehen, doch derlei Theorien fehlt jegliche
dem Mond um die Erde. wissenschaftliche Grundlage.

84  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
320 – 250 v. Chr.). Aristoteles verwarf es jedoch, weil es seiner

Le scIenze / sPeKTruM Der WIssenschAFT


Physik der irdischen Elemente widersprach. Auch Ptolemäus Epizykel

argumentierte gegen eine solche Möglichkeit: So müsse bei­


spielsweise ein vertikal nach oben geworfener Stein westlich Q
vom Ausgangspunkt aufschlagen, wenn sich die Erde wäh­
renddessen um ihre Achse drehe. Kritik dieser Art konnte
erst Galilei mit der Entdeckung des Trägheitsgesetzes wider­
legen.
Die Weltmodelle von Ptolemäus (Deferenten und Epizy­ Mittelpunkt des
keln) und Aristoteles (Sphären) werden meist als gleichwerti­ Trägerkreises
Z P
ge geozentrische Systeme angesehen. Tatsächlich wurden sie
retrograde
in der Vergangenheit, insbesondere gegen Ende des Mittelal­ Bewegung
ters und zu Beginn der frühen Neuzeit, kontrovers diskutiert.
Viele Gelehrte sahen die komplizierte Bewegung der Plane­
ef

D
ten auf den Epizykeln im Widerspruch zur idealen gleich­ er
en
t
förmigen Bewegung, wie sie Aristoteles forderte. Ptolemäus
stellte sich im »Almagest« auf den rein formalen Stand­
punkt, dass seine Aufgabe ausschließlich darin bestehe, die
Bewegungen der Himmelskörper mathematisch möglichst
exakt darzustellen. Mars Fixsternsphäre
Mars M7 7
Fixsternsphäre
Erde 7
M7 M
Der göttliche Kosmos Erde 6
E7 E6 M6
Unabhängig von seinen theoretischen Schwächen galt der E7 E6 E5 M5 3
»Almagest« als Standardwerk, um die Erscheinungen von E5 M5 36
E4 M4 4
6
Sonne, Mond und Planeten relativ genau vorherzusagen. E4 M4 2
4
Auch Abweichungen der angegebenen Werte von Messresul­ E3 M3
52
E1 E2 E3 M3
taten konnten seinen Status nicht erschüttern. Denn letzt­ E1 E2 M2 5
lich herrschte eine eher pragmatische Einstellung, die Tho­ M1
M2
mas von Aquin (1225 – 1274) in einem Kommentar zu Aristo­ 1
M1
(a) 1
teles’ »De Caelo« (Über den Himmel) so ausdrückte: »Die
(a)
Annahmen der Astronomen sind nicht notwendigerweise
wahr. Obwohl die Hypothesen die Phänomene zu retten Fixsternsphäre
scheinen, folgt daraus nicht, dass sie wahr sind. Es ist denk­ Fixsternsphäre 3
bar, dass man die Bewegungen der Planeten auch auf eine 3 2

andere, bisher nicht entdeckte Weise erklären kann.« Erde 2


Venus
Eben solche neuen und besseren Erklärungen suchte Ni­ E1 Erde
Venus
kolaus Kopernikus. Denn das ptolemäische Weltbild passte E2 E1 V2 V1 1
1
so gar nicht zu der in der Antike verankerten Vorstellung ei­ E3E2 V3 V2 V1
nes göttlichen und damit vollkommenen Kosmos. Der römi­ E V
E43 V4 3 4
sche Philosoph Lukrez (etwa 95 – 55 v. Chr.) prägte dafür den E4 V4 4
E5 V5
Begriff »machina mundi«. Die Übersetzung als »Weltmaschi­ E5 V5 V6 V7
ne« weckt heute allerdings falsche Assoziationen – Lukrez E
6 7
V6 V7
E6 E 7
brachte damit die Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit einer 7
E7
von Göttern geschaffenen Welt zum Ausdruck. Der Theologe
Nikolaus von Kues (1401 – 1464) deutete den Begriff im christ­ 6
(b) 5 6
lichen Sinn: Gott habe bei der Erschaffung der Weltmaschine (b) 5
Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie verwandt.
Das komplizierte Modell des Ptolemäus hatte aber wenig Die Epizykel (oben) waren Hilfskreise, mit denen die auf der Erde
von diesem göttlichen Schwung. beobachtete ungleichmäßige Bewegung von Planeten auf eine
In dem 1514 verfassten »Commentariolus« schrieb Koper­ aus gleichförmigen zusammengesetzte zurückzuführen war. Die
nikus: »Als ich dies nun erkannte, dachte ich oft darüber heliozentrische Theorie des Kopernikus erklärt auf einfachere
nach, ob sich vielleicht eine vernünftigere Art von Kreisen Weise diesen scheinbaren Weg der Planeten am Himmel, insbe-
finden ließe, von denen alle sichtbare Ungleichheit abhinge, sondere ihre rückwärtslaufenden Bewegungen, hier dargestellt
wobei sich alle in sich gleichförmig bewegen würden, wie es für Mars (Mitte) und Venus (unten), die zwischen Erde und Fix-
die vollkommene Bewegung an sich verlangt.« Seine Lösung sternen beziehungsweise zwischen Erde und Sonne verlaufen.

www.SPEKtruM.DE 85
Porträt: Johannes Kepler (1571 – 1630)

Das Buch der Weltharmonik Außenkugel, auf der alle Ecken liegen.
Kepler interpretierte nun im »Weltge-
DieAnnahmeelliptischerstattkreisförmiger heimnis« die damals als selbstverständ-
bahnenermöglichteesKepler,diePlanetenbe- lich geltenden Kreisbahnen der Planeten als

PuBLIc DoMAIn
wegungzuberechnen. solche Innen- und Außenkugeln. Dann lag sei-
nes Erachtens beispielsweise zwischen Jupiter und Saturn ein
Johannes Kepler strebte sein Leben lang nach Harmonie. Er Würfel, zwischen Mars und Jupiter das Tetraeder.
fand sie in den Himmelssphären, nicht jedoch in seinem Leben.
Seine Kindheit im schwäbischen Weil der Stadt war geprägt Das Buch weckte das Interesse von Tycho Brahe, der den Autor
durch ein schwieriges Elternhaus und seine schwache körperli- 1600 auf sein Schloss Benatky bei Prag einlud. Als Brahe überra-
che Konstitution. Zeit seines Lebens war der Protestant zudem schend ein Jahr darauf starb, wurde Kepler dessen Nachfolger
auf der Flucht vor den Kämpfern der Gegenreformation. als kaiserlicher Mathematiker. Er nutzte Brahes Aufzeichnun-
Nach dem Besuch der Schule in Leonberg wechselte Kepler gen, um die Planetenbahnen, insbesondere des Mars, zu erklä-
1584 an die Klosterschule in Adelberg und zwei Jahre später an ren. Dabei fand er, dass sich die Planeten auf Ellipsen um die
die höhere Klosterschule Maulbronn. Im Jahr 1589 schrieb er Sonne bewegen. Der Schritt vom Kreis zur Ellipse unterstützte
sich am Tübinger Stift an der Artistenfakultät ein. Hier lernte er Kopernikus’ Weltsystem, denn jetzt waren keinerlei Hilfskonst-
Mathematik und Astronomie bei Michael Mästlin, der Kepler ruktionen wie zusätzliche Kreise (Epizykel) mehr nötig. Einfach-
mit dem kopernikanischen Weltsystem vertraut machte. Der heit und Harmonie waren erreicht. Die neue Erkenntnis veröf-
Junge war tief beeindruckt und schrieb: »Die Natur liebt die fentlichte Kepler 1609 in der »Astronomia nova«.
Einfachheit, sie liebt die Einheit.« Als Galilei 1611 von seinen Himmelsbeobachtungen mit ei-
An der Stiftsschule in Graz, die ihn 1594 als Mathematikleh- nem Fernrohr berichtete, die das heliozentrische System be-
rer anstellte, verdiente er sich zusätzlich Geld mit Horoskopen – stätigten, schrieb ihm Kepler begeistert einen Brief. Soweit
Kepler glaubte an den Einfluss der Gestirne auf das Leben eines bekannt, griff Galilei aber dessen Arbeiten nie auf und bezog
Menschen, war aber auch vom freien Willen überzeugt. Vor- keine Stellung zu den Planetengesetzen, obwohl er sie nach-
nehmlich beschäftigte er sich aber mit Astronomie, wobei sein weislich gekannt hat. Zudem hielt Galilei stets an der Kreisform
oberstes Ziel die Suche nach einer absoluten Harmonie im Uni- der Planetenbahnen fest.
versum war. In seinem 1597 erschienenen Werk »Mysterium Kepler beschäftigte sich nun intensiv mit der Optik von Tele-
Cosmographicum« (Das Weltgeheimnis) ordnete er die Plane- skopen. Die Ergebnisse veröffentlichte er in dem Buch »Diop-
tenbahnen nach dem Muster der platonischen Körper an (siehe trice«, das für den zukünftigen Fernrohrbau wegweisend wur-
Bild). Das sind vieleckige Körper (Polyeder), deren Flächen von de. Im Jahr 1612 musste er wegen heftiger Kriegsgefechte aus
jeweils nur einer Art Vieleck gebildet werden und in deren Prag fliehen und fand in Linz eine Anstellung als Landschafts-
Ecken jeweils gleich viele Kanten zusammenstoßen. Es gibt nur mathematiker. Hier gelang ihm 1619 noch einmal ein großer
fünf davon, die beiden einfachsten sind die Pyramide aus vier Wurf mit dem Werk »Harmonices Mundi« (Weltharmonik). Ver-
Dreiecken und der Würfel aus sechs Quadraten. Jeder Polyeder steckt zwischen der Theorie platonischer Körper und Bezügen
besitzt eine Innenkugel, die alle Flächen berührt, und eine zur Musiklehre findet sich hierin das 3. keplersche Gesetz der
Planetenbewegung, das einen Zusammenhang zwischen der
Umlaufdauer eines Planeten um die Sonne und dessen mittle-
rem Bahnradius herstellt. Kepler fühlte sich hingerissen »von
einem unsäglichen Entzücken über die göttliche Schau der
himmlischen Harmonie«. Für Newton wurde das 3. keplersche
Gesetz 50 Jahre später Grundlage seines Gravitationsgesetzes.
In den folgenden Jahren arbeitete Kepler trotz finanzieller
Nöte und Streit mit der Kirche an seinem Weltgebäude weiter.
In den Jahren 1620 und 1621 erschienen die »Epitome Astrono-
miae Copernicae«, eine Einführung in die heliozentrische Ast-
Für kreisförmige Plane- ronomie. Seine letzte Stelle trat er 1628 als Mathematiker und
tenbahnen entwickelte Astrologe des Feldherrn Wallenstein in Sagan an, einer kleinen
Kepler ein Ordnungs- Stadt im heutigen Polen. Doch schon am 15. 11. 1630 starb er auf
PuBLIc DoMAIn

schema auf Basis plato- einer Reise an einem schweren Fieberanfall. Sein Grab wurde
nischer Körper. verwüstet und bleibt bis heute unauffindbar.

86  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
fasste er in mehreren Lehrsätzen zusammen, von denen die lersche gewesen. Keinesfalls darf man aus dem Uhrwerkver­
wichtigsten lauteten: Alle Bahnkreise umgeben die Sonne, gleich schließen, der protestantisch erzogene Astronom
die auch den Mittelpunkt der Welt bildet. Alle Bewegungen habe Gott gänzlich aus dem Weltgeschehen verbannen wol­
am Himmel rühren daher, dass sich die Erde einmal pro Jahr len. Vielmehr verglich er ihn mit einem menschlichen Bau­
um die Sonne und einmal pro Tag um die eigene Achse dreht. meister. Tatsächlich tauchten in den Vorstellungen Keplers
Und der Abstand Sonne­Erde ist verschwindend gering ge­ sogar noch aristotelische Züge auf, da er die Rotation der
genüber den Abständen der Sterne. Mit dem letzten Punkt Sonne und der Erde doch wieder auf die Wirkung bewegen­
spielte Kopernikus auf die Fixsternparallaxe an, auf die ich der Seelen zurückführte. Kepler verband so auf ganz eigen­
später zurückkommen werde. tümliche Weise eine wissenschaftliche und eine spekulative
Auf den ersten Blick war dieses Modell kaum einfacher als Denkart.
das des Ptolemäus. Kopernikus benötigte lediglich fünf Epi­
zykel weniger. Jedoch dienten diese komplizierten Elemente Galilei schätzte das Experiment
nicht mehr dazu, die Schleifenbewegungen der Planeten zu Aus einem ganz anderen Holz war Galileo Galilei (1564 – 1642)
erklären, denn diese ergaben sich bereits aus der Eigenbewe­ geschnitzt. Nachdem Johannes Kepler ihm 1596 eine Ausga­
gung der Erde. Überholt sie beispielsweise den Mars auf ihrer be seines »Mysterium cosmographicum« (Weltgeheimnis)
weiter innen gelegenen Bahn, scheint sich der Nachbarpla­ geschickt hatte, gratulierte Galilei dem deutschen Gelehrten
net in dieser Phase am Himmel rückwärts zu entfernen. Den­ zu diesem Werk und bekannte sich zu Kopernikus. Die bei­
noch waren weiterhin Epizykel nötig, weil Kopernikus an der den begegneten einander jedoch nie und Galilei griff in sei­
Kreisbewegung festhielt. nen Arbeiten niemals Keplers Theorie elliptischer statt kreis­
Anders als Augustinus sah Kopernikus in seinem System förmiger Planetenbahnen auf. Dem italienischen Freigeist
nicht nur eine mathematische Beschreibung der Welt, son­ missfiel die spekulative bis mystische Denkweise Keplers.
dern eine physikalische Wirklichkeit. Umso größer war die Während dieser versuchte, das Weltgeheimnis auf der Grund­
Überraschung und der Ärger seiner Anhänger, als sie im Erst­ lage allgemeiner philosophischer Prinzipien zu entschlüs­
druck von »De Revolutionibus Orbium Coelestium« ein ano­ seln, basierte Galileis Vorgehensweise auf Experimenten,
nym verfasstes Vorwort lasen: »Allerdings ist es nicht erfor­ aus denen er die Naturgesetze abzuleiten versuchte. »Ich
derlich, dass seine Hypothesen wahr seien; sie brauchen habe Kepler stets wegen seines freien und feinen Verstandes
nicht einmal wahrscheinlich zu sein. Es ist schon vollständig geschätzt; allein, meine Art zu philosophieren ist von der sei­
ausreichend, wenn sie auf eine Rechnung führen, welche nigen durchaus verschieden«, erklärte Galilei nach dem Tod
den Himmelsbeobachtungen entspricht.« Lange Zeit blieb des deutschen Astronomen.
der Verfasser der Vorrede unbekannt. Erst Johannes Kepler Mit Kepler und Galilei setzte auch die fortschreitende
(1571 – 1630) machte 60 Jahre später Andreas Osiander dafür »Entseelung« der Weltmaschine ein. Diese Entwicklung voll­
verantwortlich, einen lutherischen Prediger, der den Druck zog sich parallel zu einer Neuinterpretation des Begriffs
des Werks in der Endphase überwacht hatte. Mechanik. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts verstand man
Während Kopernikus die Weltmaschine noch vor allem darunter den Bau von Werkzeugen, mit denen Handwerker
als theologische Instanz sah, die »unseretwegen von dem gegen die Gesetze der Natur arbeiteten und diese damit
größten und nach genauesten Gesetzen zu Werke gehenden überlisteten. Mit Galilei wurde die Mechanik zur geschickten
Meister geschaffen« worden sei, versuchte Kepler erstmals, Anwendung der Naturgesetze, ja sie wurde selbst zur Natur­
ihre Physik zu ergründen. Die von ihm entdeckten planeta­ wissenschaft. Sir Isaac Newton (1643 – 1727) gelang es schließ­
ren Bewegungsgesetze waren die ersten Naturgesetze im lich, Keplers Planetengesetze im Rahmen seiner universellen
modernen Sinn. In seinem Werk »Astronomia Nova« (Neue Gravitationstheorie zu erklären. Das Uhrwerk­Universum
Astronomie) unternahm er den Versuch, die Planetenläufe funktionierte nun nach wohlbekannten Naturgesetzen.
auf eine physikalische Ursache zurückzuführen, und ersetz­ Mit Kepler war das heliozentrische Weltbild einfach und
te dabei die Vorstellung einer göttlichen Weltenseele als Ur­ harmonisch geworden. Damit verbunden war jedoch ein
sache der zu beobachtenden Bewegungen durch den Begriff Problem, das schon die Griechen kannten und das erst 300
der Kraft. Jahre nach Kopernikus’ Tod gelöst wurde: die Fixsternpa­
Dem befreundeten bayerischen Kanzler Herwart von Ho­ rallaxe.
henburg schrieb er 1605: »Meine Absicht ist es zu zeigen, Sie beschreibt eine perspektivische Positionsverschie­
dass die himmlische Maschine keine Art göttliches Lebewe­ bung, die dadurch zu Stande kommt, dass man die Sterne im
sen, sondern eine Art Uhrwerk ist ..., insofern die ganze Viel­ Lauf eines Jahres von unterschiedlichen Standpunkten auf
falt der Bewegungen von einer einzigen, ganz einfachen kör­ der Erdbahn betrachtet. Als Folge hiervon müsste die Positi­
perlichen magnetischen Kraft ebenso abhängt wie alle Be­ on des Sterns am Himmel in dieser Zeit hin­ und herpendeln.
wegungen einer Uhr von einem sehr einfachen Gewicht.« Dies ist vergleichbar damit, dass man einen Finger seiner
Damit ging Kepler weit über Kopernikus hinaus. Der Kons­ Hand abwechselnd mit dem linken und dem rechten Auge
tanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß meint deswegen, die so betrachtet. Er springt dann vor dem Hintergrund scheinbar
genannte kopernikanische Wende sei in Wahrheit eine kep­ hin und her.

www.SPEKtruM.DE 87
Aus JohAnnIs heveLII: MAcchInA coeLesTIs, 1673

Das Titelblatt der Danziger Ausgabe der »Machina Coelestis« (Himmelsmaschine) von Johannes Hevelius
zeigt 1673 Kopernikus (stehend, links) und Tycho Brahe (rechts) wohl in der Diskussion um ihre konkurrie-
renden Weltbilder.

88  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
Dieses Phänomen ließ sich jedoch nicht nachweisen. Es schaffe. Der unermessliche Raum zwischen den Planeten
war klar, dass die parallaktische Verschiebung umso kleiner und den Sternen schien aber nutzlos und vergeudet. Für Ty­
ist, je weiter ein Stern entfernt ist. Wenn man keine Parallaxe cho Brahe war dieses philosophische Dogma sogar eines der
feststellt und die Messgenauigkeit seines Instruments kennt, entscheidenden Argumente. »Das allein pflegte mir Tycho
lässt sich ein Mindestabstand der Sterne erschließen. entgegenzuhalten«, beklagte sich Kepler 1603: »Er sagte, es
Kopernikus war überzeugt davon, dass die Sterne zu weit gebe in der Natur nirgends etwa Ähnliches, wie dieses unge­
entfernt seien, um eine Parallaxe zu messen. In »De revoluti­ heure, zu nichts dienende Vakuum.«
onibus« schrieb er: »Deshalb scheint es also hinreichend be­ Kepler selbst hatte damit hingegen kein Problem: Der von
wiesen, dass der Himmel unermesslich ist und den Anschein der ganzen Welt eingenommene und von der Fixsternsphäre
einer unendlichen Größe gewinnt und dass sich die Erde begrenzte Raum »scheint wirklich fast unendlich, da ihm ge­
zum Himmel wie ... ein endlich Großes zu einem unendlich genüber der Abstand Sonne­Erde ... unmerklich [klein] ist. Al­
Großen verhält.« Mit diesem Argument konnte Kopernikus lein, es schafft keine geringe Erleichterung, wenn ich beden­
zwar einerseits den Gegnern des heliozentrischen Weltbilds ke, dass wir uns nicht so über die ungeheure, geradezu un­
entgegentreten. Andererseits wäre aber der Nachweis der endliche Weite des äußersten Himmels wundern müssen, als
Fixsternparallaxe der eindeutige Beweis dafür gewesen, dass vielmehr über die Kleinheit von uns Menschen, die Kleinheit
sich die Erde um die Sonne dreht. Aus diesem Grund sahen dieses unseres so winzigen Erdkügelchens.«
die Kopernikaner in der Entdeckung dieses Phänomens eine Eine neue Ära brach an, als die Astronomen um 1667 da­
der zentralen astronomischen Aufgaben. mit begannen, ihre Winkelmessgeräte mit Fernrohren aus­
zustatten, wodurch sie wesentlich genauere Resultate erziel­
Testfall Fixsternparallaxe ten. Namhafte Forscher versuchten sich fortan daran, auch
Kepler betrachtete die Parallaxe zunächst unter dem Aspekt die Parallaxe zu vermessen, doch dies gelang erst Friedrich
der kosmischen Harmonie. Er vermutete, die Fixsternsphäre Wilhelm Bessel (1784 – 1846) im Jahr 1838 an dem Stern 61 Cy­
könnte 100­mal weiter von der Erde entfernt sein als die Son­ gni. Sein Ergebnis: »Die Parallaxe 0,3136 Bogensekunden ent­
ne. Dann ergäben sich für die Sphären der Planeten Erde und spricht einer Entfernung von 657 700 [Erdbahnradien], wel­
Saturn (den man damals für den äußersten Planeten hielt) che das Licht in 10,3 Jahren durchläuft.«
und die der Fixsterne das Abstandsverhältnis 1 : 10 : 100. Bessel versuchte später, diese Distanz zu erläutern. »Wählt
»Wäre dieses Verhältnis richtig«, so schrieb er 1598, »so wür­ man ... eine anschauliche Einheit, zum Beispiel die Ent­
de die Differenz der verschiedenen Höhen des Polarsterns fernung von 200 Meilen, welche ein Dampfwagen täglich
ungefähr ein halbes Grad betragen«, also einem Vollmond­ durchlaufen kann, so muss man 68 000 Millionen solcher
durchmesser entsprechend. So groß sollte die Parallaxe sein. Tagesreisen, oder fast 200 Millionen Jahresreisen, zur Anga­
Mit einem höchst wackeligen und groben Gerät, einem be der Entfernung des Sterns machen. Aber jede Bemühung,
frei aufgehängten Dreieck aus Holz mit Visiervorrichtung, eine Größe zu versinnlichen, welche die auf der Erde zugäng­
versuchte der Gelehrte 1597 den experimentellen Nachweis – lichen weit überschreitet, verfehlt ihren Zweck und artet in
ohne Erfolg. Er schloss daraus, dass die Fixsternsphäre min­ das Kindische aus.«
destens 500­mal weiter von der Sonne entfernt sein müsse Damit hatte Bessel den letzten fehlenden Baustein in
als die Erde. Damals wandte sich Kepler auch an Galilei mit das heliozentrische Weltgebäude eingefügt. Zu diesem Zeit­
der Bitte, die Parallaxe zu messen. Dieser hat, soweit bekannt, punkt aber stand es schon längst nicht mehr in Frage. Ÿ
einen solchen Versuch jedoch nie unternommen.
In Dänemark arbeitete in jener Zeit der bedeutende beob­
achtende Astronom Tycho Brahe. In seinem Observatorium
der autor
Uraniborg (Himmelsburg) verfügte er über die genauesten
Messgeräte seiner Zeit, mit denen er die Positionen heller Thomas Bührke ist promovierter Astrophysiker.
Sterne bis auf etwa eine halbe Bogenminute genau messen seit 1990 arbeitet er als freier Wissenschafts-
journalist und Buchautor.
konnte. Damit war er zehnmal genauer als Kepler. Doch auch
ihm gelang es nicht, eine Parallaxe zu messen. Wie sich spä­
ter zeigte, musste die Messgenauigkeit erst um das Hundert­
fache gesteigert werden, um den winzigen Effekt entdecken
zu können.
Zwar vermochte Kepler die Entfernungen nicht quantita­ literatur
tiv zu bestimmen, doch vermutete er nun, dass sich zwi­ Dick, W. R., Hamel, J. (Hg.): Beiträge zur Astronomiegeschichte 1 – 6.
schen dem vermeintlich äußersten Planeten Saturn und den harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1998 – 2003
Sternen eine ungeheure Kluft auftue. Damit aber lief er den Lombardi, A. M.: Johannes Kepler. spektrum der Wissenschaft,
Biografie, 4/2000
Gegnern eines heliozentrischen Weltsystems in die Falle, die Shea, W.: nikolaus Kopernikus. spektrum der Wissenschaft,
schon gegen Kopernikus das aristotelische Argument ange­ Biografie, 1/2003
führt hatten, dass Gott nichts zwecklos und umsonst er­

www.SPEKtruM.DE 89
VORSCHAU SPEZIAL Archäologie – Geschichte – Kultur 4/2013 ab 20.12. 2013 im Handel

Getty ImAGeS / UnIVerSAl ImAGeS GrOUP / Werner FOrmAn


Gallien: Das vergessene Land
Dichte eichenwälder voller Wildschweine und misteln schneidender
Druiden, dazwischen hier und da ein Dorf mit gleichermaßen rauflustigen
wie trinkfesten Bewohnern – dieses Klischee Galliens, in den Asterix-
Comics karikiert, gilt unter Forschern inzwischen als ziemlich unzutref-
fend. Sie zeichnen ein ganz anderes Bild. Demnach lebten die Gallier in
stadtähnlichen Siedlungen, betrieben intensive landwirtschaft und
exportierten Güter. manche Stämme erprobten gar demokratische regie-
rungsformen. Doch dann kamen die römer und in Gallien war bald nichts
mehr wie es einmal war.

Bibracte, Stadt der Häduer Wortarmes Erbe Von Leben zu Leben


Hier schrieb Julius Cäsar seinen be- Wer die keltischen Sprachen Galliens Griechische Gelehrte mutmaßten,
rühmten Kriegsbericht. Der zentrale rekonstruieren will, tut sich schwer: dass die Kelten aus dem Orient stamm-
Ort seines engsten Verbündeten, des latein hatte sie verdrängt, das heutige ten. Dafür spräche ihr Glaube an die
Stamms der Häduer, steht seit gut Französisch enthält allenfalls 400 Wiedergeburt, mit dem sich die antiken
40 Jahren im Fokus der Archäologen. ursprünglich gallische Ausdrücke. Autoren den todesmut gallischer Krie-
Sie bestätigen die Schilderungen des eine Ausnahme aber gibt es: In Orts- ger erklärten. tatsächlich, so heutige
Feldherrn: Festungsmauern, Straßen- namen und landschaftsbezeich- religionsforscher, durfte, wer auf dem
züge und große Plätze entsprachen nungen finden experten bis heute Schlachtfeld fiel, sogar auf einen Platz
dem Grundmuster keltischer Oppida. Spuren der alten Sprache. bei den Göttern hoffen.

90  SPEZIALArchäoLogIE–gESchIchtE–KuLtur3/2013: DIEgESchIchtEDErAStroNoMIE
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