- Fachbereich II -
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fungsstoff ergibt sich daher ausschließlich aus den in der Vorlesung vermittelten Inhalten. Es
unterliegt ständigen Änderungen und stellt als didaktisches Material somit und im Hinblick
darauf, dass es außerhalb der Vorlesungszeit nicht verfügbar sein wird, keine zitierfähige
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Die Kurzanalysen beschäftigen sich zumeist in bewusster Einseitigkeit mit einem gerade infrage
stehenden, speziellen Aspekt. Sie dürfen daher nicht als Muster für Methodik und Inhalte von
Werkanalysen allgemein verstanden werden.
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© 2020 Manfred Dings. Dieses Skript wurde ausschließlich mit privaten Mitteln erstellt, nicht mit Ressour-
cen der Hochschule für Musik Saar oder des Landes.
Inhaltsverzeichnis
3 Syntaxmodelle 43
3.1 Barocker Fortspinnungstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.2 Die Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.3 Der Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.4 Die Syntaxmodelle im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
i
Inhaltsverzeichnis
4 Liedformen 65
4.1 Liedformen ohne deutliche thematische Korrespondenzen . . . . . . . . 66
4.1.1 Zweiteilige Liedform (AB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
4.1.2 Dreiteilige Liedform (ABA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.1.3 Die Barform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.1.4 Spielarten der Barform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.2 Auf dem Wege zur Sonatenform I: Die Zweiphrasenform . . . . . . . . . 75
4.2.1 Forma bipartita und Kavatinenform . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.3 Auf dem Wege zur Sonatenform II: Die Dreiphrasenform . . . . . . . . 78
4.4 Zusammengesetzte Liedform und Bogenform . . . . . . . . . . . . . . . 80
4.5 Ternäre Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.5.1 Menuett mit Trio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
ii
Inhaltsverzeichnis
iii
Inhaltsverzeichnis
Literatur 221
Sachregister 228
iv
1 Grundbegriffe der Formenlehre und
Grundphänomene der Formbildung
Der Begriff Form meint in der Ästhetik die »Charakterisierung von Gestalt und Gestal-
tung eines Kunstwerks, sowohl die bildnerischen Mittel als auch die kompositionelle
Struktur betreffend« – so definiert es der Brockhaus.1 Bildnerische Mittel verweist in der
Musik tendenziell auf die Materialebene (Ton, Akkord, Motivgestalt), kompositionelle
Struktur vorwiegend auf die Erscheinungsform des Gestalteten. Beides ist jedoch schwer
voneinander zu trennen. Beispielsweise kann ein Akkord zugleich als Grundmaterial
wie als Ergebnis von Gestaltung aufgefasst werden.
Der Begriff Gestalt ist vor dem Hintergrund der Gestalttheorie zu verstehen: Das
Ganze einer Gestalt zeigt Eigenschaften, welche über die Summe der Eigenschaften der
Teile, aus denen sich die Gestalt zusammensetzt, hinausgehen. Bezogen auf die Musik
heißt dies, dass sich bestimme Elemente zu einem Übergeordneten zusammensetzen
können, das Qualitäten aufweist, welche über diejenigen der Bausteine hinausweisen.
So kann z. B. ein Tonhöhenverlauf zu einer »Melodie« geformt werden. Eine Melodie
ist mehr als die bloße Abfolge einer Tonhöhenänderung.
Für Clemens Kühn steht die Betrachtung der Form im Fokus verschiedener Diszipli-
nen:
Musikalische Form ist das Resultat all dessen, was ein Musikwerk aus-
macht und in ihm zusammenwirkt, vom kleinen satztechnischen Detail bis
zum großen Zusammenhang, in der Abfolge, den Übergängen, der Bezie-
hung und der jeweiligen Funktion der musikalischen Vorgänge und Teile.
Beschreibung, Deutung und Lehre der musikalischen Form bilden daher
die krönende und anspruchsvollste musiktheoretische Disziplin, weil sie
sämtliche Teilmomente eines Satzes einschließt und zusammenführt.2
1
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
Tonmaterial: Parameter
2
1.1 Parameter des Tonmaterials
Quer dazu lassen sich auf allen Ebenen der Formbildung Erkenntnisse durch die Be-
trachtung der vertikalen Satzstruktur gewinnen, differenzierbar beispielsweise, indem
homophone und polyphone Strukturen oder verallgemeinert deutlich in Satzschichteen
gegliederte von solchen, die vertikal homogen angelegt, sind unterschieden werden.
3
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
Harmonik und nur noch in Sonderfällen durch eine Klangfarbe. Traditionell wird in
der Formen- und Satzlehre dabei die Tonhöhenstruktur als gegenüber dem Rhyth-
mus substantieller empfunden,1 was ausübende Musiker allerdings zumeist gerade
umgekehrt sehen.
In Werkanalysen werden folglich in erster Linie die primären Parameter zu untersu-
chen sein, allenfalls in Spezialfällen die sekundären, die in traditioneller Musik fast immer
Akzidentielles und eben nicht Substanzielles beitragen. Anders ist dies in bestimmten
Stilen der Avantgarde nach 1945. Die Klangfarbe, jedenfalls das mit bestimmten Instru-
menten verbundene Assoziationsumfeld, kann bereits im 19. Jahrhundert ein primär
wirksames Gestaltungsmittel werden (z. B. das Horn als Chiffre für »Natur« oder – als
Erinnerung an das Posthorn – »Reise«).
Die Harmonik bildet (genau wie Melodik und Rhythmik) ein wichtiges Ausdrucksmittel
tonaler Musik. Für die Formbildung ist die tonale Geschlossenheit, erzeugt durch
die Mittel einer expliziten Harmonik (in mehrstimmiger Musik) oder der einer ein-
stimmigen Melodik eigenen impliziten Harmonik, entscheidend. Es ist ein Problem
atonaler Musik, dass das Mittel tonaler Harmonik für die Gliederung und funktionale
Differenzierung nicht zu Gebote steht und diesbezüglich eigene Wege gefunden werden
müssen, um Formfunktionen wie Eröffnen, Darstellen, Entwickeln und – vor allem –
Schließen zu ermöglichen.
Davon abgesehen ist die Betrachtung der Harmonik für das Verstehen und Ana-
lysieren musikalischer Formen aus zwei Gründen wichtig: 1. Die Gliederung eines
tonalen Werkes durch Zäsuren erfolgt größtenteils durch Mittel der Harmonik. 2. Das
harmonische Aktionstempo, der harmonische Rhythmus weist häufig auf die Funktion
eines Abschnittes hin.
In der Gestalt von mehr oder weniger ausgeprägten Kadenzen kann die Harmonik
einen größeren Abschnitt in Unterabschnitte teilen. Die Qualität einer Zäsur und damit
einer Schlussbildung wird vor allem durch die erreichte harmonische Stufe bestimmt.
Die verschiedenen Schlussarten bildeten auch in der Sichtweise der zeitgenössischen
Theorie, z. B. in Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Komposition,
verschiedene starke Formen von Interpunktionen (Punkt[.], Kolon[:], Semikolon[;],
Komma[,]).2 Schon vor Koch gibt Johann Mattheson im Vollkommenen Kapellmeister ein
Beispiel für eine Gliederung nach dem Vorbild des Satzbaus.3
Die Stärke einer Zäsur misst sich am Grad der Stärke (oder »Vollkommenheit« bzw.
Perfektion) der harmonischen Kadenz. Man unterscheidet Ganzschlüsse (Schlüsse zur
I bzw. i) von Halbschlüssen (Innehalten auf der V) bzw. Trugschlüssen (Tonikaver-
meidung oder Kadenzflucht, meist durch den Akkord auf der Stufe VI). Ganzschlüsse
werden zusätzlich nach der Oberstimmenlage differenziert. Für einen perfekten Ganz-
schluss muss Oktavlage gegeben sein.
1 vergl. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. 223f.
2 Darin artikuliert sich die im Verlauf der Musikgeschichte und bis heute immer wieder postulierte
Sprachähnlichkeit der Musik, die Analogie zwischen sprachlichen und musikalischen Strukturen und
Prozessen.
3 Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 224.
4
1.1 Parameter des Tonmaterials
Zudem kann die metrische Position des Ultimaklanges einer Kadenz die Zäsur-
wirkung abschwächen, wenn sie auf leichter Zeit erfolgt. Letzteres wird traditionell
als weibliche Endung1 (schwer-leicht) bezeichnet, im Gegensatz zur männlichen Endung
(leicht-schwer).
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Für Schlüsse von Teilabsätzen, wie es z. B. Vordersätze von Perioden sind, ist zumeist
eine Schlussart vonnöten, die schwächer als diejenige des Nachsatzes ist. Dies ist
typischerweise ein Halbschluss oder ein unvollkommener Ganzschluss (wenn der
letzte Schluss ein perfekter Ganzschluss ist). Bei Heinrich Christoph Koch2 heißt der
Ganzschluss Grundabsatz, der Halbschluss Quintabsatz.
Klassische Perioden besitzen (wie im Beispiel des ersten Teiles von Mozarts Variations-
thema aus seiner Sonate A-dur, Notenbeispiel 1.2 auf der nächsten Seite) typischerweise
in der Mittelzäsur einen Halbschluss. Liegt kein Halbschluss im Sinne einer Zäsur auf
der V vor, jedoch ein unvollkommener Ganzschluss, so kann man von einem »halben3
Schluss« sprechen.
5
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
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Notenbeispiel 1.2: Mozart, Klaviersonate A-dur, Variationsthema, Schlussarten
Harmoniewechsel (Pendel zwischen I und V). Dann verdoppelt sich das Aktionstempo,
bis schließlich halbtaktige Harmoniewechsel (man kann im letzten Takt auch von der
Beschleunigung auf viertelweisen Wechsel sprechen) eine Bremswirkung hervorbringen
und zu einer gliedernden Kadenz (Zäsur) führen.
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1.2 Formen der Gruppierung und Zusammenhangsbildung
3. Kontrastierung,
4. Verschiedenheit.1
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Die Entscheidung der Frage, ob die Wiederkehr einer Gestalt als Wiederholung
oder Variantenbildung erlebt wird, ist davon abhängig, welche der sie prägenden
Kenngrößen als substantiell empfunden werden. Sind lediglich sekundäre Parameter
bzw. Äußerlichkeiten verändert, im Kern jedoch eine Wiederholung von Substantiellem
erkennbar, spricht man von Substanzgemeinschaft.
Im Beginn der Mozartschen Serenade liegt der erstgenannte Fall vor (eine substanti-
eller Parameter, der Rhythmus, wird beibehalten). Der Abschnitt ab T. 11 kontrastiert
nun in mehrere Hinsicht:
1. Die Dynamik wird ausdrücklich mit piano angegeben, im ggs. zum orchestertut-
tiartigen Anfang, der eher forte zu denken ist.
1 Man kann auch noch ein Verhältnis der »Beziehungslosigkeit« annehmen, vergl. dazu Kühn: Formen-
lehre der Musik, S. 23ff.
7
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
Wiederholung trennt!
Indem ein Element wiederholt wird, beweist es seine Selbständigkeit. Dies gilt
auch für variierte Wiederholung, solange die Variante keine substantielle Veränderung
bedeutet. Die Grenze zwischen Wiederholung und Variantenbildung ist fließend.
Erscheint ein Abschnitt nach dem Einschub heterogener Elemente erneut, spricht
man treffender von Wiederkehr statt von Wiederholung. In der historischen Terminologie
wird die Wiederkehr eines Elements oder Formabschnitts oft als Reprise bezeichnet.
Heutzutage kann dies irreführend sein, weil der Begriff Reprise zumeist für den gleich-
namigen Formabschnitt in der Sonatenhauptsatzform reserviert ist. Die unmittelbare
Wiederholung ließe sich als Repetitio bezeichnen. Beides kann man im Hauptthema aus
Schuberts Symphonie h-moll (Notenbeispiel 1.5) beobachten. Die Takte 1 und 2 werden
in T. 3 und 4 wiederholt. In T. 10ff. kehren sie wieder.
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Wiederkehr von Gedanke und Wiederholung
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1.2 Formen der Gruppierung und Zusammenhangsbildung
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Notenbeispiel 1.6: Lied der Wolgafischer
Die Arbeit mit Kontrasten ist kennzeichnend für den Stil der Wiener Klassiker und die
darauffolgenden Epochen. In der Barockzeit gab es zwar das Stilmittel des Kontrastes,
dies wurde aber fast ausschließlich als Spezialeffekt eingesetzt (z. B. dynamischer
Kontrast als Echoeffekt, Tempokontraste innerhalb einer Arie als rhetorisches Mittel).
Das Ideal der Gestaltung eines Instrumentalsatzes oder einer Arie war die Einheit des
Affekts. Ein Grundaffekt sollte den Satz prägen, typischerweise auch ein Motiv und
dessen Abwandlungen und Fortspinnungen.
Innerhalb eines Satzes oder gar eines Themas mit Kontrasten zu arbeiten, kennzeich-
net nicht nur die Tonsprache der Klassiker, sondern auch deren Kompositionsweise.
Der Musikwissenschaftler Arnold Schmitz (1894–1980) postulierte für Beethovens
Schreibweise ein Verfahren, Themen (weniger einzelne Phrasen oder Motive) auseinan-
der abzuleiten. Er prägte dafür den Begriff der kontrastierenden Ableitung. Tatsächlich
lässt sich feststellen, dass in Beethovens Sonatensätzen häufig zwischen Haupt- und
Seitenthema eine unterschwellig wirksame Substanzgemeinschaft besteht, die jedoch
äußerlich vom Kontrastverhältnis zwischen einzelnen primären oder sekundären Para-
metern dominiert wird.
Zur Veranschaulichung von Schmitz’ Begriff wird oft der Kopfsatz von Beethovens
Klaviersonate op. 2 Nr. 1 zitiert (Notenbeispiel 1.7). Dort gehen das Haupt- und
Seitenthema durch Gegensatzbildung in Form der Umkehrung des (melodischen)
Akkordbrechungselements auseinander hervor. Auch sekundäre Parameter (vor allem
die Artikulation) kontrastieren deutlich.
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9
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
Bei der Analyse von Sonatensätzen nicht nur Beethovens lohnt es sich stets, dem
Phänomen nachzuspüren, das Schmitz mit dem Terminus kontrastierende Ableitung
erfasst hat.
lassen sich als zunehmende Grade der Ausprägung einer musikalischen Logik auffassen.
1.3.1 Reihung
Unter Reihung ist das Nebeneinandersetzen von Elementen zu verstehen, die in gewis-
ser Unabhängigkeit voneinander, sozusagen um ihrer selbst willen, existieren.
In einer gewissen Beliebigkeit (cum grano salis) stehen beispielsweise die textgepräg-
ten Soggetti einer Motette nebeneinander, die Sätze einer Suite, die Elemente einer
zweiteiligen Liedform (AB), eines Kettenrondos (ABACADA. . . ) und auch (und hier
gewissermaßen in Reinkultur) im Potpourri. Die Potpourri-Ouvertüre (siehe Kapitel 5.5.4
auf Seite 100) des 19. Jahrhunderts nimmt die prägenden Themen oder auch zündenden
Schlager der folgenden Oper oder Operette vorweg.
1.3.2 Symmetriebildung
Über eine bloße Reihung hinaus werden heterogene (also dezidiert verschiedene und
allenfalls assoziativ oder hintergründig auseinander abgeleitete) Elemente häufig in ein
Verhältnis formal-architektonischer Symmetrie, Balance und Ausgewogenheit gesetzt.
Dabei sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben:
1. Es ist ein Unterschied, ob ein Element als erstes, als zweites, weiteres oder letztes
erscheint. Mit anderen Worten: die Reihenfolge ist keineswegs beliebig.
2. Elemente werden wiederholt oder kehren wieder und erzeugen damit den Ein-
druck von mehr oder weniger symmetrischer Architektur, von Ausgewogenheit
und Balanciertheit erzeugen.
Der Begriff der Symmetrie ist dabei ein anderer als in der Mathematik bzw. Geometrie
oder der bildenden Kunst. Gemeint ist keine strenge Spielgelsymmetrie, sondern
der geordnete Ablauf von Formabschnitten bzw. dessen klar gegliederte Wiederkehr.
10
1.3 Formen der Zusammenhangsbildung und musikalische Logik
Formabschnitte auf einer mittleren oder größeren Ebene werden in der Formenlehre
meist mit Großbuchstaben (A, B, C . . . ) chiffriert. Eine symmetrische Anlage könnte
beispielsweise die Gestalt ABACDCABA besitzen.
Das Vorhandensein solch regelmäßiger, quasi symmetrischer Gruppierungen bilden
ein wesentliches Merkmal von Liedformen (vergl. Kapitel 4 auf Seite 65). Auf kleinerem
Maßstab treffen wir sie beispielsweise im Syntaxmodell der Periode (siehe Kapitel 3.2 auf
Seite 46) an. Dabei kann die Herstellung von Ausgewogenheit und Voraushörbarkeit
ebenso beabsichtigt sein wie im Gegenteil das Abweichen von der Erwartung einer
ausbalancierten Gruppenbildung.
Wie gesagt handelt es sich bei der so entstehenden Symmetrie keineswegs um Sym-
metrie im mathematischen Sinne. Zum einen erfolgt an der scheinbaren Mittelachse
(ABA) keine echte Spiegelung (die wäre streng krebsgängig), zum anderen sind Re-
prisen (im Falle von ABA also die Wiederkehr von A) häufig verkürzt. Vor allem das
Weglassen von Wiederholungen wird dabei hörspychologisch als stimmig empfunden.
Die musikalische Zeit verläuft subjektiv.
Phänomene wie Symmetriebildung, Gruppierungen, die Wiederkehr von Formab-
schnitten, aber auch Variantenbildungen und Entwicklungen kann nur wahrnehmen,
wer sich an den musikalischen Verlauf und möglichst viele Details erinnert. Es ist daher
wichtig, sich klarzumachen:
In kleinem Maßstab finden wir das Prinzip der Gruppierung in der Periode. Dort
gruppieren sich Taktgruppen oder auch Phrasen (im Sinne der Terminologie Arnold
Schönbergs) als reimartige Anordnung (aba’b’) oder als öffnender (»fragender«) bzw.
schließender (»antwortender«) Teilsatz. Zwischen beiden wird eine Balancierung erwar-
tet (oder diese Erwartung womöglich absichtlich enttäuscht).
Im Seitensatz des Kopfsatzes des Streichquartetts A-dur KV 464 von Mozart beob-
achten wir drei Ebenen der Gruppierung:
Durch die reimartige Gruppierung (aba’b’) und den Zusammenschluss der elementa-
ren Gestalten (Phrasen) zu größeren Einheiten (Gruppen) entsteht eine Voraushörbar-
keit. Allerdings spielt Mozart mit den so aufgebauten Hörerfahrungen, indem er die
Gruppierung auf zwei Weisen durchbricht:
1. Die Wiederholung der Periode wird abgebrochen und mündet in eine Fortspin-
nung; die den Formabschnitt beendende Kadenzwendung wird hinausgezögert.
2. Auf der Ebene der Phrasen werden die Gruppengrenzen bei der Wiederholung der
Periode im Vordersatz durch eine leichte Polyphonisierung (Imitationsvorgang in
der Vl. 1) verwischt.
Die Gruppierung von Formelementen und das Spiel mit dadurch entstehenden
Hörerwartungen ist ein für Mozart charakteristisches Kunstmittel.
11
1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
Eine regelmäßige, quasi symmetrische Anordnung von Formteilen ist typisch für
Liedformen, wie sie im 19. Jahrhundert beispielsweise in der Klaviermusik gebräuchlich
wurden (etwa in der Gattung des Impromptus). Wenn die Gattungskonventionen die
Erwartung einer ausbalancierten, quasi-symmetrischen Form nahelegen, kann eine
bewusst asymmetrische Gruppierung wiederum als Kunstgriff eingesetzt werden. Robert
Schumann hat in seinen Charakterstücken, enthalten in seinen Klavierzyklen (z. B. in
der Kreisleriana), Abweichungen von der Norm einer symmetrischen Gruppierung als
Gestaltungsprinzip verwendet.
Die Wirkung des 5. Satzes Sehr lebhaft aus Schumanns Kreisleriana beruht auf einer
solchen bewusst asymmetrischen Anlage. Die einzelnen Formteile weisen motivisch
allenfalls lockere Bezüge zueinander auf. Das Hörerleben wird hier nicht durch die
Erfüllung einer sinnfälligen, symmetrisch ausgewogenen Liedform bestimmt, sondern
gerade aus der intendierten Abweichung davon: die Elemente werden in einer Wei-
se gruppiert, die den Eindruck einer speziellen, rückläufigen Form entstehen lässt.
Das hervorstechende Gestaltungsmittel ist das einer absichtsvollen Gruppierung der
Formteile.
1.3.3 Fortspinnung
Fortspinnung (eines Einfalls, einer Phrase, eines Vordersatzes usw.) beschreibt ein
Verfahren des assoziativen Weiterführens, dem ähnlich, was sich in der freien Rede
ereignet, wenn ein Gedanke zum nächsten führt. Ein Fortspinnungsabschnitt wirkt
nicht als vorausschauend geplant oder logisch abgeleitet, sondern erzeugt den Eindruck
frei-assoziativen Redens.
Wilhelm Fischer hat den Begriff des Fortspinnungstypus für Formbildungen in der
Barockzeit geprägt.1 Fortspinnung bezeichnet jedoch auch generell eine charakteristische
Art der Verarbeitung eines Initialmotivs. Gebräuchlich ist in diesem Zusammenhang
der Terminus Fortspinnungsmotiv im Gegensatz zum Entwicklungsmotiv.2
Entscheidend für die Klassifizierung eines Motivs als »Entwicklungs-« bzw. »Fortspinnungs-
motiv« sind aber nicht die Eigenschaften des Motivs selbst, sondern die Faktur der Umgebung,
die Art seiner Verarbeitung (nämlich eben fortspinnend oder pseudo-logisch). Bachs Inventionen
sind andererseits Exempel dafür, dass in einem stilistischen Umfeld, für das »Fortspinnungen«
charakterisitsch sind, dennoch der Eindruck von Logik entstehen kann.
Ein Beispiel für den barocken Fortspinnungstypus und Fortspinnungsmotivik gibt
das Ritornell des Kopfsatzes aus Bachs drittem Brandenburgischen Konzert (Notenbei-
spiel 1.8.
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prägnantes Motiv Fortspinnung
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1.3 Formen der Zusammenhangsbildung und musikalische Logik
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1.3.4 Entwicklung
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1 Grundbegriffe der Formenlehre und Grundphänomene der Formbildung
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1.4 Taktgruppengliederung
Die Beobachtung von Verhältnissen der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit ermöglicht
die Gliederung von traditionellen (oder auch neueren) Texturen in Taktgruppen auch
dort, wo keine äußerlichen Merkmale (Zäsuren, Pausen, Wechsel des Satzbildes) dies
erleichtern. Die Taktgruppengliederung bildet ein unverzichtbares Analysewerkzeug
im Kontext homophon strukturierter Musik.1
In Mozarts Serenade Eine kleine Nachtmusik (Notenbeispiel 1.4 auf Seite 7) finden
wird zunächst zwei mal zwei Zweitakter, später halbtaktige Abschnitte und schließlich
eintaktige Einheiten (die durch ihre Wiederholung insgesamt Viertakter bilden). Die
Zweitakter schließen sich zu viertaktigen Einheiten (Einfällen, Gedanken) zusammen.
Die Eintakter entstehen durch die imitatorisch-polyphone Satzstruktur. Die Verkürzung
auf Halbtakter dient der Erzeugung einer Bremswirkung (Zäsur vor T. 11).
Ferner wird durch diese Betrachtungsweise deutlich, dass in T. 18 eine Phrasenver-
schränkung vorliegt: Hier fällt T. 4 einer Taktgruppe mit T. 1 der neuen zusammen.
Die zeitgenössische Theorie bezeichnete solche Phrasenverschänkungen anschaulich
und sachlich klarer als Takterstickung, weil dadurch ein Takt in der Periodenstruktur
scheinbar entfällt.
Die Untersuchung der Taktgruppengliederung deckt auf, wieweit eine Formeinheit
die in der Klassik gültige Periodisierung in Zweierpotenz-Einheiten erfüllt oder ob ein
Komponist diese absichtsvoll erweitert bzw. zerstört (vergl. Tabelle 1.2 auf der nächsten
Seite).
14
1.4 Taktgruppengliederung
15
2 Motiv, Phrase und Thema
In der Musik der klassisch-romantischen Epoche lassen sich verschiedene Ebenen der
Gestaltbildung beobachten: Motive bilden den Baustoff und die Keimzelle selbständiger
Ausdrucks- und Struktureinheiten, der Phrasen, welche sich wiederum zu größeren
syntaktischen Einheiten zusammenschließen. Diesen kann (muss jedoch nicht) die Rolle
von Themen zukommen. Ob etwas als thematisch gelten kann, hängt in der Musik, welche
vom Formprinzip des Sonatenhauptsatzes geprägt ist, vor allem von der Bauweise ab.
Themen (im Sinne der Sonatenhauptsatzform) liegen oft Syntaxmodelle (siehe Kapitel 3)
zugrunde. Sie sind fester gefügt als ihre Umgebung.
Die Idee, dass eine Komposition das Ergebnis eines hierarchischen Aufbaus ist und
den Eindruck eines gewachsenen Organismus erweckt, ist eine Vorstellung, die im
19. Jahrhundert verbreitet war und ihren Niederschlag in der Kompositionslehre Arnold
Schönbergs gefunden hat.1
Der Begriff Thema ist leider problematisch. In der Tradition der deutschen Formenleh-
re wird er auf musikalische Gestalten ganz unterschiedlicher Ausdehnung angewandt:
auf kurze melodische Partikel wie Fugen»themen« ebenso wie auf textgezeugte Soggetti
in Motetten und auf ausgedehnte, syntaktisch feste Gebilde wie Haupt- und Seitenthe-
men in Sonatensätzen. Dies verleitet dazu, auch in Sonatensätzen kurzen, prägnanten
Melodiepartikeln den Rang eines Themas zuzuweisen2 , was eine unzulässige Vermi-
schung von historisch kaum verbundenen Bedeutungen darstellt.3 .
In den gegenwärtig gebräuchlichen Beschreibungen der Form des Sonatensatzes der
klassisch-romantischen Epoche bezeichnet der Begriff Thema vor allem eine Strukturebene
(tendenziell hierarchisch abgestuft gegenüber sekundären Abschnitten). Diese wird
oft, jedoch keineswegs zwangsläufig durch ein mehr oder weniger abgeschlossenes
Gebilde wird. Im landläufigen Sinne spricht man vom ersten oder zweiten Thema eines
Sonatensatzes. Solche Themen innerhalb der Sonatenform lassen sich häufig in der
oben angedeuteten Form hierarchisch gliedern: Die Struktureinheit Thema zerfällt in
Phrasen, die ihrerseits als aus Motiven aufgebaut denkbar sind.
In Falle von Musik aus Epochen vor der Wiener Klassik kann man die Verwendung
des Themenbegriffs umgehen, indem man die Begriffe Soggetto (im Falle sprachgezeug-
ter Gestalten in Motetten) oder (in der Fuge) Subjekt verwendet.
1 Vergl. dazu Diergarten et al.: Formenlehre, S. 16. Verbreitet für diese Sichtweise auf musikalische
Kunstwerke ist der Begriff des Organismusmodells.
2 Es handelt sich dann zumeist um Phrasen oder Teilsätze größerer syntaktischer Gebilde wie Perioden
oder Sätze.
3 Beispielsweise wird der prägnante Dreiklang zu Beginn von Beethovens dritter Symphonie häufig
als das Hauptthema des Kopfsatzes angesprochen, doch gerade in diesem Satz ist es ausgesprochen
schwer, die Strukturebene »Thema« deutlich abzugrenzen, d. h. die Frage zu beantworten, wo die
Aufstellung endet und die Verarbeitung beginnt.
17
2 Motiv, Phrase und Thema
Der Kopfsatz des dritten Brandenburgischen Konzerts von Bach (Notenbeispiel 1.8
auf Seite 12) basiert auf einer einfachen, rhythmischen Figur, die nach einer kurzen
Vorstellung forgesponnen wird, dann in eine durchgehende Sechzehntelbewegung
aufgelöst und schließlich restauriert wird.
Die Forderung nach einer durchgehend einheitlichen Motorik in der Barockzeit ging
Hand in Hand mit der Technik, rhythmische Figuren zu verwenden, die einen Satz
prägen (in mehr oder weniger starken Varianten, Abwandlungen und Fortentwicklun-
gen bzw. Forstpinnungen). Daraus hat sich in der Wiener Klassik eine Schreibweise
entwickelt, die melodisch-rhythmische Keimzellen, sog. Motive, erkennen lässt.
Der Begriff des Motivs wurde erst recht spät, in der Mitte des 19. Jahrhunderts
geprägt, vor allem in Beobachtung der Kompositionsweise Beethovens. Der Begriff geht
in seiner heutigen Verwendung auf Adolf Bernhard Marx zurück:
Eine solche Tongestalt, – eine Gruppe von zwei, drei oder mehreren Tönen,
– um eine größere Tonreihe nach ihrem Vorbilde zu gestalten, die gleichsam
ein Keim oder Trieb ist, aus dem die größere Tonreihe erwächst, nennen wir
Motiv.1
Marx betrachtet Motive als extrem kleine Einheiten. An der zitierten Stelle verdeut-
licht er seinen Motivbegriff anhand zweier Viertelnoten c1 –d1 , welche den Baustein
eines zuvor gegebenen »Melodiebeispiels« bildeten.2 Marx‘ Beispiel (Notenbeispiel 2.1)
mutet denkbar trocken und akademisch an. Doch das Seitenthema des Beethoven-
schen Violinkonzertes beginnt mit einer Phrase, die keineswegs komplexer ist und mit
wenigen Handgriffen aus dem Lehrbuchbeispiel abzuleiten ist.
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Melodie Motiv Beethoven, Violinkonzert D-dur
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Notenbeispiel 2.1: A. B. Marx, Motiv, Beethoven, Violinkonzert D-dur
18
2.1 Das Motiv
some relationship to it, the basic motive is often considered the "germ" of
the idea.1
hebt hervor, dass ein Motiv die Keimzelle für eine Komposition als Ganzes abgeben
kann. Anders als Marx betont Schönberg, dass einem Motiv rhythmische und me-
lodische Prägnanz zukommt. Ein Motiv kann der erste, den Kompositionsprozess
initiierende Einfall sein. Auch eine Zwölftonreihe kann aus einem solchen Primäreinfall
hervorgehen (und entsteht somit eher nach als vor einem aus ihr entwickelten Thema).
Motive werden heutzutage als kleinste formale Einheit in der Musik seit 1750 und in
Ansätzen auch davor betrachtet. Ein Motiv gibt (im Sinne der Definition Schönbergs)
zugleich die Antriebskräfte einer Komposition vor wie auch (im Sinne eines Bausteins)
eine Materialauswahl. Allerdings ist die Reichweite des Motivbegriffs begrenzt. Die
Bedeutung motivischer Arbeit wird in der deutschen Formenlehretradition gerne
überschätzt.
Je nach der Bedeutung einer motivischen Keimzelle für die Entwicklungen in einem
Satz lassen sich Motive verschiedener Prägung unterscheiden:
Vom Rhythmus geprägte Motive: Die Wiedererkennbarkeit und Prägnanz eines Mo-
tivs bemisst sich häufig am Rhythmus. Rhythmische Motive fußen auf der in
der Barockzeit gängigen Affekteinheit, die sich häufig in einer einheitlichen
Bewegungsform niederschlägt.
Melodisch (von der Diastematik) geprägte Motive: Sie bestehen oft aus lediglich einer
Intervallkonstellation, die größere Abschnitte eines Themas oder eines Satzes hin-
tergründig durchziehen kann (wobei die rhythmische Gestalt weniger bedeutend
ist und daher variabel sein kann). Intervallkonstellationen berühren die Ebene
der Struktur stärker als die der Form und sind daher oft schwer nachweisbar.
Konstituierend sind sie in der Zwölftonmusik.2
Generelle Eigenschaften von Motiven (welche sie von Phrasen und Themen unter-
scheiden) sind:
Die letzte Eigenschaft ist entscheidend: ob etwas als Motiv wirksam ist, erweist sich
erst im Verlauf einer Komposition. Einer Gestalt, die nur einmal auftritt, wohnt keine
Motivqualität inne.
Ob etwas als Motiv wirksam ist, erweist sich erst im Verlauf eines Satzes.
Die Bildung von Varianten und damit motivische Arbeit ist charakteristisch für die
Stile und Epochen, die sich des Motivs als musikalischer Keimzelle (im Sinne der
Schönbergschen Definition) bedienten, wobei neben recht leicht hörbaren rhythmischen
Verwandtschaften und Ableitungen auch die Materialeinheitlichkeit auf der Ebene von
Tonhöhenkonstellationen tritt (diastematisch geprägte Motive, im oben dargestellten
1 Schönberg: Fundamentals of Musical Composition, S. 8.
2 Die Zwölftontechnik wurde ihrerseits von Schönberg aus der Tradition motivischer Arbeit von Beetho-
ven bis Brahms entwickelt.
3 Längere Gestalten sind als Phrasen, Gedanken, Einfälle oder gar Themen (vor allem, wenn ihnen ein
Syntaxmodell zugrunde liegt) zu betrachten.
19
2 Motiv, Phrase und Thema
Sinn). In Ansätzen lässt sich letzteres schon im Personalstil Bachs beobachten, welcher
über die für die Barockzeit typischen Einheitlichkeit rhyhtmischer Figuren hinaus auch
diastematische Bezüge herausarbeitet1 .
Charakteristisch ist motivische Arbeit jedoch für die Komponisten der Wiener Klassik
und ihre Nachfolge. In Ansätzen gilt dies bereits für Haydn, deutlicher für Beethoven.
Probleme bereitet die Anwendung des Motivbegriffs häufig im Falle Mozarts. Beetho-
vens motivische Arbeit fand ihre Nachfolger im 19. und 20. Jahrhundert, namentlich im
Werk Johannes Brahms’, während sein Antipode Anton Bruckner häufig Schreibweisen
anwendete, die an barocke Techniken rhythmisch uniformen Klangflächenkomponie-
rens erinnern.
Motive, die geeignet sind, den Techniken der Motivverarbeitung unterworfen zu
werden, was den Eindruck einer musikalischen Logik hervorbringt (vergl. Kapitel 1.3.4
auf Seite 13), werden bisweilen als Entwicklungsmotive bezeichnet. Sie sind typisch
für die Fakturen der klassisch-romantischen Epoche. Den Gegenbegriff dazu bildet
das Fortspinnungsmotiv. Der Begriff zielt auf die bereits mehrfach erwähnte Technik
der Barockzeit, insbesondere des Spätbarock, minimale melodische Partikel mit oft
jedoch prägnantem Bewegungsimpuls fortzuspinnen. Dieses Verfahren mutet eher als
assoziativ an denn als (pseudo-) »logisch«.2
2.2.1 Sequenz
Sequenz bedeutet die Wiederholung einer Tonfolge (ggf. einer Harmoniefolge) auf
einer anderen Tonstufe. Zu unterscheiden sind
reale Sequenz: die Intervallschritte werden in ihrer exakten Größe wiederholt (transpo-
niert). Dabei wird zumeist der diatonische Rahmen der Tonart überschritten.
1 Ein prominentes Beispiel bietet die erste seiner Inventionen (C-dur).
2 Vergl. dazu Kapitel 1.3.3 auf Seite 12.
20
2.2 Techniken der Motivverarbeitung
tonale Sequenz: die Intervallgrößen passen sich den diatonischen Verhältnissen der
Tonart an, werden gewissermaßen modal verschoben (also innerhalb des Modus
bzw. des diatonischen Tonvorrats), nicht transponiert.
Tonale Sequenzen können in thematisch festen Abschnitten eingesetzt werden, eben-
sogut in verarbeitenden bzw. durchführenden. Reale Sequenzen sind in thematischen
Abschnitten überwiegend erst in den Tonsprachen des späten 19. und frühen 20. Jahr-
hunderts anzutreffen, weil sie meist die Tonart destabilisieren.1
Das überaus bekannte Kopfmotiv2 zu Beginn der 5. Symphonie Beethovens (siehe
Notenbeispiel 2.2) wird in T. 3 direkt tonal sequenziert (die große Terz wird zur kleinen).
Selbstverständlich darf die Tonart c-moll (die im Unisono dieser Takte im Übrigen noch
in der Schwebe gehalten ist) hier nicht durch chromatische Töne infrage gestellt werden.
Eine reale Sequenz (f-des) riefe an dieser Stelle, zu Beginn des Satzes, eine groteske
Wirkung hervor. Stilimmanent wäre dieselbe reale Sequenz (g1 -es1 -f1 -des1 ) jedoch
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in Durchführungsabschnitten, die durch schnell aufeinanderfolgende Tonartwechsel
gekennzeichnet sind.
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Die Fuge fis-moll aus Bachs Wohltemperiertem Klavier Bd. I sequenziert das dreitönige
Kopfmotiv zweimal, bemerkenswerterweise in realer Form, was die chromatische
Prägung des Themas hervorruft.Fuge fis-moll
Die erste WK
Sequenz I
ist zugleich diminuiert, die zweite
{
bildet eine Variante aus, und danach wird das Motiv umgekehrt (Notenbeispiel 2.3).
J. S. Bach
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Notenbeispiel 2.3: Bach, Fuge fis-Moll (WK I)
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# # œ das
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ú Unterhaltungsmusik.
Sequenzen (wie überhaupt Wiederholungen)
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úmelodischer nœ œ # œ œ
und harmonischer œ#œ
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harmonische Quintfall-
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sequenz lässt sich in vielen Kassenschlagern antreffen (zum Beispiel in Bart Howards
Fly me to the Moon).
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n œ (z.œ B.œ bei
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œ œ œStrauß) œ œ nœ œ œ ú #œ #œ œ œ œ ú œ
1 Modulation thematisch fester Abschnitte gibt es in der Wiener Klassik kaum, im späten
# œ # œ häufig. œ
œ œ n œ usw.
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2 Kopfmotiv: ein prägnantes Motiv zu Beginn eines Abschnittes, Themas, Soggettos,
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2 Motiv, Phrase und Thema
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Notenbeispiel 2.4: Beethoven, Sonate op. 10 Nr. 3, 3. Satz
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22
2.2 Techniken der Motivverarbeitung
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Streicher & J
2.2.4 Spiegelformen
Auch diese Bearbeitungsformen reichen weit in die Renaissance zurück. Sie werden
in der Barockzeit auf ganze Themen oder Soggetti, aber auch auf Gestalten in der
Ausdehnung von Motiven angewendet. Wenn man die Originalgestalt des Motivs
einbezieht, so ergeben sich vier Formen:
Originalgestalt (O)
Umkehrung (U): Spiegelung an der horizontal-intervallischen Achse
Krebs (K): Spiegelung an der vertikalen, zeitlichen Achse1
Umkehrung des Krebses (UK) bzw. Krebs der Umkehrung (KU): Kombination beider
Spiegelungen.
UK und KU sind im Ergebnis identisch; auf die Reihenfolge der Operationen kommt
es nicht an.2 In Notenbeispiel 2.8 wurde zudem die Umkehrung von der Oberquart-
transposition aus begonnen und es wurde tonal gespiegelt (aus der anfänglichen
großen Sekunde aufwärts wird eine kleine Sekunde abwärts). Wegen der Wichtigkeit
der Spiegelformen für die motivische Arbeit in der Kompositionstechnik der klassisch-
romantischen Epoche und in den polyphonen Stilen seit der Renaissance hat Schönberg
sie in der Zwölftontechnik berücksichtigt. Die Kenntnis dieser Techniken ist schon
allein deshalb unverzichtbar.
Original Umkehrung Krebs Umkehrung des Krebses
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O U K UK/KU
Überdeutlich verwendet Bach in seiner Invention B-dur die Spiegelform der Um-
kehrung (Notenbeispiel 2.9 auf der nächsten Seite). Ebenso deutlich ist der Einsatz
der Krebsform im Soggetto von Bachs Invention d-moll (Notenbeispiel 2.10 auf der
nächsten Seite).
Die krebsgängige Bewegung hieß zur Barockzeit Regressio und zählte zu den musikalisch-
rhetorischen Figuren (siehe Seite 26).
Eine Variante des Hauptmotivs – Auffüllen des Terzsprungs mit einem Durchgang –
erscheint in Beethovens 5. Symphonie zunächst in der originalen Bewegungsrichtung,
dann in Umkehrung (siehe Notenbeispiel 2.11 auf der nächsten Seite).
Der Haupteinfall von George Gershwins I Got Rhythm (Notenbeispiel 2.12 auf der
nächsten Seite) beruht auf dem Konstruktionsprinzip des Krebsgangs.
1 Der Krebs wird nur selten auf größere Gestalten (»Themen«, Soggetti) angewendet.
2 Die Spiegelungen des Buchstabens q sind: q (O) – p (K) – d (U) – b (KU = UK)
23
2 Motiv, Phrase und Thema
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Notenbeispiel 2.9: Bach, Invention B-dur
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Notenbeispiel 2.10: Bach, Soggetto der Invention d-moll
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2.2 Techniken der Motivverarbeitung
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In Béla Bartóks sechstem Streichquartett finden wir eine Phrase, deren zweite Hälfte
durch die Krebsumkehrung der ersten vier Töne abgeleitet wurde (siehe Notenbei-
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spiel 2.14).
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2 Motiv, Phrase und Thema
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Notenbeispiel 2.15: Mozart, Klaviersonate A-dur, Variationsthema
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Allegro
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2.2 Techniken der Motivverarbeitung
Die ersten Takte des Hauptthemas aus dem Finale von Mozarts Jupitersymphonie (No-
tenbeispiel 2.17) bestehen aus einem dreistimmigen Gerüstsatz, dessen Unterstimmen
(in der Violine 2 befindlich) figuriert sind.
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Vl. 1 GERÜSTSATZ FIGURATION
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Vl. 2
Musikalisch-rhetorische Figuren finden sich in der Musik zwischen Schütz und Bach
allenthalben. In der Arie Großer Herr und starker König aus Bachs Weihnachtsoratorium
(Notenbeispiel 2.18) sehen wir die Figur der Syncopatio, des Verstoßes gegen die Takt-
ordnung als Ausdruck der Irritation über das harte Lager des Jesuskindes, unterstützt
durch den Saltus duriusculus, das harte Intervall der verminderten Septime, das zugleich
den Charakter einer Exclamatio, eines Ausrufs besitzt.
Die Termini Motiv und Figur lassen sich (cum grano salis) wie folgt unterscheiden:
ein Motiv motiviert (z. B. thematische Prozesse oder Formverläufe), eine Figur figuriert,
häufig mit überwiegend dekorativer Funktion.1
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(er-) scha fen, muss in har - ten Krip -pen schla - fen;
2.2.7 Variantenbildung
Variante ist ein Terminus, der als Passepartout für alle Ableitungsformen herhalten
kann, die in den bisher genannten Techniken nicht erfasst wurden, weil beispielsweise
mehrere Parameter zugleich verändert wurden.
Man sagt, ein Tonstück sei thematisch gearbeitet, wenn die Ausführung
desselben hauptsächlich in den mannigfaltigen Verbindungen und Zer-
gliederungen des Hauptsatzes, ohne Beymischung von Nebengedanken,
bestehet.2
Der Begriff thematische Arbeit zielt auf eine größere Einheit, eben die Bearbeitung
eines Themas, als Ganzem ab. Themen können zerlegt, ihre Elemente neu kombiniert,
auseinander abgeleitet und weiterentwickelt werden. Es ergibt sich der Eindruck von
systematischer Entwicklung statt bloßer Reihung.
1 Figuren im Sinne der musikalischen Rhetorik kann selbstverständlich thematische Bedeutung zuwach-
sen.
2 Koch: Musikalisches Lexikon, Sp. 1533.
27
2 Motiv, Phrase und Thema
28
2.2 Techniken der Motivverarbeitung
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Allegro vivace assai
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Notenbeispiel 2.20: Paul to start
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2 Motiv, Phrase und Thema
der Paul-Kuhn-Bigband. Das Stück ist aus einem schlichten, zweitaktigen Motiv entwi-
ckelt.
2.3 Imitation
Der Eindruck, dass zwei oder mehrere Stimmen1 einander nachahmen, imitieren, ent-
steht, wenn ein Motiv (oder eine Phrase oder ein Soggetto) im zeitlichen Nacheinander
durch die Stimmen geführt wird. Dies kann in freier oder strenger Form, in unter-
schiedlichem Umfang sowie zeitlichem und intervallischem Abstand (Taktabstand und
Einsatzintervall) geschehen. Sofern das ganz oder teilweise zu imitierende Element
präexistent ist (das ist vor allem bei cantus firmi der Fall, den »festen Gesängen«,
die im Choral- oder Gesangbuch überliefert sind), kann es sogar vor seinem ersten,
vollständigen Auftreten vorimitiert werden.
Man kann zwischen strenger und freier Imitation unterscheiden. Strenge Imitation
meint die Nachahmung unter strenger Beibehaltung des Rhythmus bei prinzipieller
Identität der Intervallqualitäten; dabei kann man jedoch noch reale und tonale Imitation
(im Sinne realer und tonaler Sequenz) unterscheiden (vergl. Kapitel 2.2.1 auf Seite 20).2
Bei freierer Imitation wird im allgemeinen der Rhythmus (der am stärksten motivprä-
gende Parameter) beibehalten, die Intervallgrößen hingegen können frei gehandhabt
(z. B. harmonischen Gegebenheiten angepasst) werden.
Imitiert werden kann auch in Anwendung der bekannten motivverarbeitenden
Techniken. Hauptsächlich betrifft dies die Imitation in Augmentation, Diminution,
Umkehrung und Krebs.
Dieselben Kriterien lassen sich auch zur Beschreibung von Kanons anwenden (mit
Ausnahme des Grades der Imitationsstrenge, denn Kanons werden definitionsgemäß
streng imitiert); siehe dazu Kapitel 8.10 auf Seite 158.
Streng, sogar in realer Sequenz imitiert Samuel Scheidt das Initialmotiv (den antiken
chromatischen Tetrachord zitierend) in der letzten Variation seiner Partita über den
Passionschoral Da Jesus an dem Creutze stund (Notenbeispiel 2.21 auf der nächsten Seite).
Wir finden auch Imitation in der Umkehrung und im Krebs sowie die Ableitung eines
zweiten, durchimitierten »Motivs« in Gestalt des passus duriusculus, den Affekt des
Leidens versinnbildlichend.
1 Bei der Wiederholung oder Wiederkehr (ggf. varriiert) eines Motivs in einer Stimme handelt es sich
selbstverständlich nicht um Imitation.
2 Den Traditionen der Vokalpolyphonie folgend kann ein Soggetto, das bei der ersten (einstimmigen)
Vorstellung volltaktig mit einer Semibrevis (Ganze Note) beginnt, in den anschließenden Nachahmun-
gen im dann mehrstimmigen Satz mit einer auftaktigen Minima beantwortet werden. Dies gilt auch
für Subjekte in Ricercaren oder ricercarartigen Fugen.
30
Da Jesus an dem Kreutze stund
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2.3 Imitation
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Passus duriusculus
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Umkehrung
2.3.1 Vorimitation
Wenn in einer Komposition ein cantus firmus bzw. ein cantus prius factus (eine präexis-
tente Lied- oder Choralweise) bearbeitet wird, können diese vorimitiert werden. Die
Technik der Vorimitation ist in vielen Liedbearbeitungen zu beobachten (die Liedme-
lodie war Allgemeingut) oder auch in instrumentalen Choralvorspielen (vor allem
für die Orgel gedacht). Häufig sind die Imitationen diminuiert (oder umgekehrt: der
cantus firmus, in breiten Notenwerten gehalten, wird als augmentiert empfunden). Die
Imitationszüge in Bachs letzter Choralbearbeitung Vor deinen Thron tret ich hiermit (No-
tenbeispiel 2.22) sind unmittelbar dem cantus firmus entnommen (es handelt sich um
den protestantischen Choral Wenn wir in höchsten Nöten sein). In für Bach ungewöhnli-
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cher Weise wird auch hier (wie schon in Notenbeispiel 2.21) in rectus und inversus-Form
imitiert.
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31
2 Motiv, Phrase und Thema
strumentation kann es sich um Imitation handeln, wenn die Wiederkehr mit einem
Rollenwechsel verbunden ist. Eine bloße Uminstrumentation (die Klangfarbe ist ein
sekundärer Parameter) erzeugt auch noch nicht den Eindruck von Nachahmung, noch
weniger eine entwickelnde Motivarbeit. Die Wiederkehr eines Motivs in einem homo-
genen Satz, in dem keine Rollen erkennbar sind (z. B. die Rolle einer Oberstimme, eines
Basses, einer Mittelstimme etc.) ist ein Moment motivisch-thematischer Arbeit bzw.
Entwicklung.
Imitation ist ein Vorgang, dem etwas gestisches, sprachanaloges anhaftet. Agiert
lediglich ein musikalischer Redner, so handelt es sich mithin um Entwicklung und
motivische Arbeit.
a Dimin./ b Dimin./
b: Augm./Umkehrung Umkehr. Umkehr.
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Wenn Motive so etwas wie unteilbare1 Atome darstellen, so können sie sich zu
Molekülen, nämlich Phrasen zusammenschließen.2 Phrasen sind in dieser Sichtweise
1 »Unteilbar« ist mit einem Fragezeichen zu versehen – vergl. Kapitel 2.2.5 auf Seite 25.
2 Man könnte die Analogie weiterspinnen und Themen mit Eiweißen (komplexen Molekülen) oder
Zellen (kleinste Struktureinheit von Organismen) vergleichen.
32
2.4 Phrase und Thema
strukturelle Einheiten, nicht unbedingt das, was ein Interpret auf einem Bogen spielt
oder singt, auch wenn Arnold Schönberg in seiner Bestimmung des Begriffs Phrase
diesen Aspekt hervorhebt:
The smallest structural unit is the phrase, a kind of molecule consisting of
a number of integrated musical events, possessing a certain completeness,
and well adapted to combination with other similar units. The term phrase
means, structurally, a unit approximating to what one could sing in a single
breath. Its ending suggests a form of punctuation such as a comma.1
Jenseits der Ebene motivischer Korrespondenzen sind die 16 Takte in Beispiel 2.23
auf der vorherigen Seite durch die Mittel harmonischer Zäsur gegliedert: Nach 8
Takten wird ein Halbschluss erreicht (V), nach 16 Takten ein perfekter Ganzschluss (I in
Oktavlage). Dieser Schlusstakt aus Beispiel 2.23 auf der vorherigen Seite zeigt das bereits
erwähnte Phänomen der Phrasenverschränkung bzw. Takterstickung: der schließende Takt
der letzten Phrase (I in der ersten Takthälfte, dann Pendel zur IV) bildet zugleich den
ersten Takt der neuen, regulär in T. 17 erwarteten Phrase.
Nicht-thematisch sind ferner Abschnitte, die konturlos sind und unwichtig erschei-
nendes Material exponieren. Darauf hebt auch Martin Wehnert2 in seinem Versuch, den
Begriff Thema einzugrenzen, ab. Er benennt vier Aspekte, die verwirklicht sein sollten,
wenn man von einem musikalischen Thema sprechen möchte:
1. Ein Thema bildet einen konstitutiven Faktor für ein musikalisches Ganzes. The-
men bleiben im Allgemeinen nicht folgenlos; sie beinhalten eine das Ganze
prägende Substanz.
2. Themen kehren im Laufe eines Satzes wieder (materiell oder ideell).
3. Sie sind abgrenzbar und damit relativ geschlossen.
4. Sie besitzen eine charakteristische Physiognomie, sie sind wiedererkennbar, haben
Gestaltqualität.
1 Schönberg: Fundamentals of Musical Composition, S. 3.
2 vergl. Wehnert: Thema und Motiv, Sp. 289.
33
2 Motiv, Phrase und Thema
Wie bereits dargestellt ist die Verwendung des Begriffes Thema alles andere als
einheitlich. Mit Thema wird sowohl eine Struktureinheit wie eine Funktionsebene (in
der Sonate) bezeichnet. Beides hat miteinander so gut wie nichts zu tun:
• Als selbständige Struktureinheit tritt das Thema als kurze, prägnante Gestalt, als
klare, zusammenhängende Formulierung in der Fuge oder fugenartigen Sätzen
auf. Auch die Soggetti einer Motette lassen sich (allerdings historisch inkorrekt)
so gesehen als Thema ansprechen.1
• In der Sonate stellt ein Thema zumeist eine Funktionsebene dar. Seine Funktion
ist Darstellen, Aufstellen, im Ggs. zu Verarbeiten (z. B. in der Durchführung),
Modulieren (z. B. in der Überleitung), Schließen (in der Schlussgruppe). Das
Thema wird meist identisch mit der Ebene des fest gefügten sein. Es umfasst eine
Größenordnung von 8 (oder 4, 16, bisweilen gar 32) Takten und ist in seiner
Bauweise differenziert gegenüber athematischen (überleitenden, verarbeitenden,
durchführenden, schließenden) und lockerer gefügten Formteilen.
Auf die Bauweise des fest bzw. locker gefügten wird unten noch genauer einzugehen
sein (vergl. Kapitel 2.4.3 auf Seite 37).
Umgangssprachlich wird als Thema oft eine Einheit bezeichnet, die im Sinne von
Erwin Ratz und Arnold Schönberg lediglich ein Motiv oder eine Phrase (oder auch eine
Idee, ein Gedanke usw.) ist. Typischerweise verwirklichen Themen in Sonatensätzen
(oder sonatensatzähnlichen Formen) gewisse Syntaxmodelle (Periode, Satz, barocker
Fortspinnungstypus, s. u. Kapitel 3). Als Themen fungieren bisweilen auch Liedformen
als Ganzes (z. B. zwei- oder dreiteilige Liedformen als Thema eines Variationssatzes
oder als Refrain in einer Rondoform). Man sollte dies bei der Verwendung des Begriffes
Thema im Auge behalten.
Der in der Geschichte häufig verwendete Terminus Hauptsatz ist meist mit dem heute
benutzten Begriff Thema gleichzusetzen. Hauptsatz hat sich allerdings bis heute auch
als Bezeichnung für den ersten thematischen Abschnitt in der Sonatenhauptsatzform
erhalten. In vielen Fällen liefert ein »Thema« einen verwertbaren, wiedererkennbaren
Baustoff, prägt also (definitionsgemäß) einen größeren Zusammenhang, typischerweise
einen ganzen Satz (Sonatensatz, Fuge etc.).
Unter den Begriff des musikalischen Themas werden heute folgende Bedeutungen
und Phänomene gefasst:
1. Ein einstimmiger, relativ kurzer melodischer Vorgang, der einen größeren Zusam-
menhang prägt (als Ganzes oder durch Verarbeitung von Teilen, sprich Motiven),
als
• Soggetto, beispielsweise in der Motette der Renaissance, in verschiedenen
Bildungen in der Barockzeit,
• als Fugenthema (auch Subjekt, Soggetto, Hauptsatz), historisch abhängig
vom Soggetto der Motette
2. Ein komplexes, mehrtaktiges, mehrstimmiges Gebilde (8,12, 16 Takte oder länger,
selten kürzer), das nicht vorrangig durch die Melodik, sondern seine Funktion
und eine Bauweise (feste Fügung) gekennzeichnet ist.
1 Falsch wäre es hingegen, einen Formabschnitt einer Liedform als ihr Thema zu bezeichnen, da es dort
nicht als solches wiederkehrt, sondern als Reprise eines ganzen Formabschnittes. In einer ABA-Form
ist A keinesfalls als »Thema« anzusprechen.
34
2.4 Phrase und Thema
• als Thema in der Sonate, mit der Funktion des Aufstellens und Darstellens
(im Gegensatz zu verarbeitenden Abschnitten), dabei oft auch als Motivvor-
rat für weitere Abschnitte in der Sonatenhauptsatzform dienend, von der
Umgebung unterschieden durch die feste (statt lockere) Bauweise,
• als Rondo- oder Variationsthemen, dann meist als Liedform erscheinend.
3. Soggetti können allerdings auch als mehrstimmige Gefüge auftreten (in der Mo-
tette, in barocken Ritornellen), und dann Eigenschaften von 1. und 2. aufweisend.
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Soggetto 1, textausdeutend: Tonumfang überschreitet den Ambitus des plagalen Lydisch (None c1-d2)
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2 Motiv, Phrase und Thema
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Notenbeispiel 2.25: Bach, Fuge C-dur WK I, Thema und Möglichkeit der Engführung
Fugenthemen lassen sich häufig schwer abgrenzen. Ein Fugenthema hat stets einen
definierten Anfang, aber bisweilen kein klares Ende, wenn es in typisch barocker Manier
in das sich anschließende Kontrasubjekt fortgesponnen wird. Das Subject der Fuge
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g-moll aus dem Wohltemperierten Klavier II (siehe Notenbeispiel 2.26) geht zäsurlos in
das Kontrasubjekt über.
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Sonatenthemen eröffnen einen Satz oder stehen – als zweites, bisweilen auch drittes
Thema – nach einer meist deutlichen Zäsur. Sie sind homophon und schon von daher
metrisch gebunden und relativ lang (8, 16, 32 Takte, selten weniger als 8 Takte), auch von
daher mit Soggetti oder Fugensubjekten vergleichbar. Es ist meist auch verfehlt, lediglich
die thematische Hauptstimme (meist die Oberstimme) als »Thema« zu bezeichnen,
weil Haupt- und Nebenstimmen häufig eine ineinander verflochtene Einheit bilden.
Sonatenthemen sind bis zur Zeit Schuberts meist gut abgrenzbar. Später werden
Themenformulierungen entwickelt, die sich allenfalls graduell von ihrer Umgebung
abheben. Thema und Verarbeitung gehen dann ineinander über.
Um die Ausdehnung des »Themas« in einer Sonate zu bestimmen, wird gerne
zunächst nach Achttakt-Einheiten gesucht. Dies kann in die Irre führen, wie das
Hauptthema des Kopfsatzes aus Beethovens Klaviersonate C-dur op. 53 zeigt Beispiel
(Notenbeispiel 2.27 auf der nächsten Seite). Besser ist es, von Anfang an die zugrun-
deliegende Struktur aufzudecken (hier: auf Korrespondenzen und Zäsuren zu achten)
und das in den meisten Fällen zugrundeliegende Syntaxmodell (Periode oder – hier –
Satz) zu erkennen.
36
2.4 Phrase und Thema
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37
2 Motiv, Phrase und Thema
Elementen. Ihnen liegt eine planvolle Struktur, meist ein Syntaxmodell zugrunde, wo-
mit ihr Verlauf teilweise voraushörbar ist. Die innere Differenzierung wirkt absichtsvoll
geplant. Dies sind die wesentlichen Merkmale derjenigen Bauweise, die Erwin Ratz1
fest gefügt nennt.
Im folgenden Ausschnitt (melodische Oberstimme im Kopfsatz von Haydns Sin-
fonie Nr. 104, Notenbeispiel 2.28) sehen wir zu Beginn einen solchen thematischen,
fest gefügten Abschnitt, ja ein regelrechtes, periodisch2 gebautes Thema. Ein eigenes
Seitenthema gibt es hier allerdings nicht. Nach einer klaren Zäsur kehrt in T. 49 das
Hauptthema in der Oberquinttonart wieder. Es handelt sich, wie oft bei Haydn, um
einen monothematischen Sonatenhauptsatz (vergl. Kapitel 6.2.7).
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Der Abschnitt dazwischen zeigt zwar die Wiederkehr mancher Elemente des Haupt-
themas bzw. ihre Weiterentwicklung. Es kommt aber auch freies, dekoratives Material
zum Einsatz (Tonleitern, Dreiklangsbrechungen, Figuren). Die Tonart wird destabli-
siert; schließlich wird moduliert. Die zuvor feste Taktordnung (8+8 Takte) wird durch
kleinere Gruppierungen (Zwei- und Eintakter) abgelöst. Die Einheiten wirken nicht in
gleichem Maße wie in den thematischen Abschnitten geplant, sondern eher willkürlich.
Dies sind Kennzeichen locker gefügter Abschnitte. In der Sonatenhauptsatzform sind
generell Themen fest gefügt oder zumindest fester als ihre Umgebung. Überleitung,
Schlussgruppe, Durchführung und Coda, oft auch der Seitensatz oder Schlussgruppen-
Themen, sind locker gefügt (oder lockerer als die thematischen Formteile). Locker
gefügte Abschnitte sind eher nicht voraushörbar.
Die Länge von Taktgruppen gibt einen Hinweis darauf, ob Abschnitte als thematisch,
als zwar thematisch aber von geringerer Gravität oder als athematisch zu betrachten
sind:
• Für den festen Zustand sind regelmäßige, mittellange Taktgruppen (2, 4 oder 8
Takte) typisch.
• Für den lockeren Zustand sind unregelmäßige, kleine Einheiten kennzeichnend.
1 Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 25 ff.
2 Zum Syntaxmodell der Periode sie Kapitel 3.2 auf Seite 46
38
2.4 Phrase und Thema
Selbst wenn kein Thema erkennbar ist, dem ein klares Syntaxmodell zugrunde liegt,
lassen sich thematische und nicht thematische Abschnitte in der Sonatenhauptsatzform
folglich anhand der Bauweise unterscheiden. Man kann sich einprägen:
Der Anfang der Exposition (Hauptthema und Überleitung) aus Beethovens Kla-
viersonate d-moll op. 31 Nr. 2 bietet das seltene (und verwirrende) Beispiel für eine
Überleitung, die in mancher Hinsicht fester »erscheint« als das vorangehende Haupt-
thema (das sogar einen Wechsel des Tempos aufweist), weil ihm ein Syntaxmodell (Satz)
zugrundeliegt. Oft wird der Überleitungsabschnitt als das eigentliche Hauptthema
empfunden (was jedoch dadurch widerlegt ist, dass er in der Reprise weggelassen ist).
39
2 Motiv, Phrase und Thema
Dies begründet sich auch in der zeitgenössischen Theorie. Heinrich Christoph Koch
(1749–1816), ein bedeutender Musiktheoretiker der Wiener Klassik und Verfasser eines
wichtigen Musiklexikons, spricht in seiner Kompositionslehre1 davon, dass der erste
Hauptabschnitt einer Sonate (heute: die Exposition), vier »Haupttheile« besitze, welche
durch harmonische Zäsuren abgeschlossen werden.2 Als Kriterium für die Gliederung
wird keineswegs die Motivik bzw. Thematik herangezogen, sondern die harmonischen
Stationen bzw. Interpunktionen. Dies gilt auch für Sonatensätze, die komplexer gebaut
sind als diejenigen, die Koch betrachtet.
Der Beginn des Seitensatzes ist mithin nach derjenigen Zäsur anzusetzen, welche die
Seitensatztonart erreicht hat; das Ende des Seitensatzes frühestens bei Erreichen eines
perfekten Ganzsschlusses in der Seitensatztonart.
In Beethovens Klaviersonate Es-dur op. 81a beginnt der Seitensatz nach einem
Halbschluss in der Oberquinttonart B-dur, allerdings nicht auf der Tonika, sondern
einer prädominantischen Stufe (iio7 in Terzquartstellung). Erscheint also bereits der
Einsatz des Seitenthemas verschleiert, so gilt dies erst recht für sein Ende: die anfangs
relativ feste Struktur verläuft sich, überdies bei Wechsel der herrschenden Motivik,
auf einem Orgelpunkt auf der V. Erst ein Ganzschluss (wenngleich nicht in Oktavlage,
sondern aus Gründen der Motivik phrasenverschränkt in Terzlage) setzt eine Zäsur zur
dann folgenden Schlussgruppe, deren Anfang (bei wiederum wechselnder Motivik)
paradoxerweise deutlich fester erscheint als das Ende des Seitensatzes.3
40
2.5 Bauweise und funktionale Differenzierung von Formabschnitten
1 Nota bene: Der Terminus »Nebensatz« ist in der Formenlehre nicht eingeführt; ihn für den Seitensatz in
der Sonatenhauptsatzform zu verwenden, wäre ein Zeichen von Dilettantismus.
41
3 Syntaxmodelle
Vordersatz – eröffnend: Ein motivisch klarer, prägnanter Gedanke, der den Affekt des
Satzes charakterisiert.
Fortspinnung – typisch für die Gestaltungsweise der Barockzeit: Partikel oder Motive
des Vordersatzes werden sequenziert oder assoziativ fortgesponnen.
Epilog – schließend: führt kadenzierend zu Tonika zurück, bisweilen auch zur Ober-
quinttonart (z. B. in manchen Arienritornellen Bachs).
Die drei Teile unterliegen hinsichtlich ihrer Länge keiner Norm. Insbesondere sind sie
in der Regel keineswegs gleich lang. Meist ist aber die Gesamtlänge einer im barocken
Fortspinnungstypus gehaltenen Form 8-, 12- oder 16-taktig.
Häufig ist in den Leipziger Werken Bachs (Kantaten, Ritornelle in Arien oder Ein-
gangschören) eine Vierteiligkeit zu beobachten, die dadurch entsteht, dass der Fortspin-
nungsteil in sich zweiteilig ist. Beide Teile zeigen fortspinnendes Gepräge, wobei aber
das Sequenzmodell (insbesondere dessen motivischer Gehalt) wechselt.
Vierteiliger Fortspinnungstypus
43
3 Syntaxmodelle
Die beiden Fortspinnungsabschnitte können dabei durch eine Zäsur (schwach inter-
punktierende Kadenz oder kurzer Orgelpunkt oder dergleichen) getrennt werden oder
zäsurlos ineinander übergehen.
Das Ritornell in Bachs Arie Bereite dich, Zion (Notenbeispiel 3.1) zeigt einen typischen
dreiteiligen barocken Fortspinnungstypus. Der Vordersatz ist motivisch aufwendig
gearbeitet. Man kann vielfältige Bezüge und Variantenbildungen in der Oberstimme
und im Bass sehen. Er schließt in Takt 8 mit einer schwachen Interpunktion, etwa der
eines Kommas (Halbschluss). Der Fortspinnungsteil ist einfacher gearbeitet und ergeht
sich in harmonischen Sequenzen (Quintfallsequenz), der Einstieg (Auftakt zu T. 9)
erinnert an das Kopfmotiv. Der im Vordersatz dargestellte Affekt wird nicht infrage
gestellt. Die schließende, kadenzierende Funktion des Epilogs wird am beschleunigten
harmonischen Aktionstempo (ein Mittel zum Bremsen) deutlich.
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Notenbeispiel 3.1: Bach, Bereite dich, Zion, Ritornell
Die gleiche Dreiteiligkeit zeigt auch das Ritornell der Arie Buß und Reu aus Bachs
Matthäuspassion (Notenbeispiel 3.2 auf der nächsten Seite). Hier wird noch deutlicher
das Motivmaterial des Vordersatzes im Fortspinnungsabschnitt aufgegriffen. Sowohl
das Kopfmotiv selbst wie seine spätere Sequenzierung sind abwärtsgerichtet und zeigen
die Figuren der Katabasis (Tonleiterabstieg im Motiv) und der Gradiatio (stufenweise,
treppenartig gestalteter An- oder Abstieg bzw. Sequenz).
Das Ritornell des Eingangschores aus Bachs Kantate 10 Meine Seel erhebt den Herren
(Notenbeispiel 3.3 auf der nächsten Seite) zeigt einen vierteiligen Fortspinnungstypus.
Der motivaufstellende Vordersatz umfasst zwei Takte. Der Fortspinnungsteil wird
durch einen Orgelpunkt in Takt 7 deutlich in zwei Abschnitte gegliedert. Die beiden
Fortspinngsabschnitte lassen sich jeweils nochmals untergliedern: der erste in 2x2 Takte,
in denen das Sequenzmodell wechselt, der zweite vor allem durch die Beobachtung,
dass der Bass nach zwei Takten seine Bewegungsrichtung umkehrt. Die Oberstimme im
zweiten Fortspinnungsteil setzt sich motivisch deutlich von den vorhergehenden Takten
ab, so dass zusammen mit dem Befund des trennenden Orgelpunktes die Annahme
einer Zweiteiligkeit im gesamten fortspinnenden Teil gerechtfertigt erscheint.
44
3.1 Barocker Fortspinnungstypus
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Notenbeispiel 3.3: Bach, Kantate 10, Eingangschor, Ritornell
45
3 Syntaxmodelle
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Die ersten acht Takte des Ritornells aus dem Rondo von Mozarts Klarinettenkonzert
zeigen alle Merkmale der klassischen Periode:
1. Perioden sind tonal geschlossen (beginnen und schließen auf der Tonika).
Es sei nochmals betont, dass der Vorder- und der sich zu ihm reimende Nachsatz
zumindest im idealtypischen Fall jeweils aus zwei Phrasen bestehen, was zum oben
gegeben Schema aba’b’ führt. »ab« bewegt sich von der Tonika zur Dominante (I-V),
»a’b’« von der Dominante zur Tonika zurück (V-I). Für Mozart typisch sind Vordersätze,
46
3.3 Der Satz
die auf die 2̂ zielen (meist als V5̂ ), während die Melodik im Nachsatz zu 1̂ führt. Der
Aufbau einer solchen Periode ist regelmäßig und erinnert an eine Gedichtstrophe
im Kreuzreim. Daneben gibt es wie bereits erwähnt recht oft Perioden mit satzartig
gebauten Teilsätzen.
Selbstverständlich besitzt keineswegs jede Periode sämtliche der oben aufgezählten
Eigenschaften. Im Falle der klassischen, achttaktigen Periode (vergl. Notenbeispiel 3.4
auf der vorherigen Seite) kann man im Idealfall drei Gliederungsebenen feststellen
(vergl. dazu Tabelle 1.2 auf Seite 15):
1. 2 + 2 + 2 + 2 Phrasen,
2. 4 + 4 Halbsätze,
3. 8 Takte insgesamt.
Als vierte (unterste, nach der Zählung oben »nullte«) Ebene kommt die der Motive
infrage.
Die Achttaktigkeit, welche gemeinhin für Perioden postuliert wird, geht auf den
Umstand zurück, dass die dominierende Taktart in der Klassik, der 4/4-Takt, eine
zusammengesetzte Taktart ist. Er ist als Kompositum zweier 2/4-Takte zu verstehen.
So gesehen ist das Grundmaß der Periode die Sechzehntaktigkeit. Tatsächlich weisen
Perioden in Sätzen im 3/4-Takt (wiederum einer elementaren Taktart) meist genau
diesen Umfang auf (8 Takte Vordersatz und 8 Takte Nachsatz). Die zitierten Werke
Mozarts im 6/8-Takt zeigen wiederum Achttaktigkeit. Weil die zusammengesetzten
Taktarten in der Musik der Wiener Klassik überwiegen, kommt es zu dem (falschen)
Eindruck, die Achttaktigkeit bilde so etwas wie eine Norm.
Der Anfang von Mozarts Klaviersonate c-moll KV 457 zeigt den typischen Aufbau
einer achttaktigen Periode (die Taktart ist zusammengesetzt, 4/4). Zwei Phrasen a und
b kontrastieren maximal (Unisono vs. Akkordsatz, Forte vs. Piano, schroffer Gestus vs.
Intimität). Die Harmonik verhält sich quer zur Motivik: I–V–V–I gegenüber a b a’ b’.
Man bezeichnet dies auch als chiastisches Eröffnungsmodell (kreuzweise Verbindung von
Harmonik und Motivik, siehe S. 57).
Die stark kontrastierenden Phrasen dieser Periode verleihen dem Thema Dramatik –
ein typisches Verfahren der Wiener Klassik, die sich damit von der Idee der Affekteinheit
absetzte, die in der Barockzeit herrschte.
Die Regelmäßigkeit der Periode hat ihre Wurzeln in den Tanzsätzen der Renaissance
und des Barock. Dass wir die Gruppierung in Zweierpotenzordnung als »Natur«
empfinden, ist wohl in der Motorik des Tanzschrittes begründet.
47
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3 Syntaxmodelle
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Notenbeispiel 3.5: Mozart, Sonate c-moll KV 457, 1. Satz (Anfang)
• Zweiteiligkeit:
1. Eröffnung durch eine Phrase und ihre Sequenz (darstellend).
2. Fortspinnung, Entwicklung oder sogar Liquidation der Motivik des ersten
Abschnittes (verarbeitend), oft halbschlüssig endend.
• Die beiden Teile eines Satze korrespondieren nicht untereinander; der Satz ist
asymmetrisch.
• Der Satz ist im Gegensatz zur Periode offen, auf Entwicklung hin angelegt,
Das Syntaxmodell Satz ist eher für Beethoven als für Mozart typisch. Das Musterbei-
spiel bildet das bereits mehrfach zitierte Hauptthema des Kopfsatzes von Beethovens
erster Klaviersonate op. 2 Nr. 1 (Notenbeispiel 3.6 auf der nächsten Seite). Es zeigt den
für Beethoven typischen Aufbau aus
Gleichwohl schreibt auch Mozart Themen nach dem Satzprinzip. Der Beginn des
Allegro aus Mozarts Streichquartett C-dur KV 465 (Notenbeispiel 3.7) beginnt mit einer
48
3.4 Die Syntaxmodelle im Vergleich
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zweitaktige Phrase und ihrer Sequenz.1 Daran schließt sich eine wiederum viertaktige
Einheit an, die sich als Fortspinnung oder Entwicklung des Kopfmotives darstellt.
Hier beobachten wir wieder die typische Verkürzung der Taktgruppen auf Eintakter,
Halbtakter und schließlich vielleicht sogar 1/4-Takteinheiten. Die ursprünglich feste
Struktur wird verflüssigt, liquidiert. Der syntaktisch offenen Struktur entspricht wieder
die harmonische Offenheit in Form eines Halbschlusses.
Der Satz ist auf Weiterführung, Entwicklung, Offenheit hin angelegt, nicht nur durch
den meist vorhandenen Halbschluss (Schluss auf der V), sondern auch hinsichtlich
der Motivik: Zur Aufstellung von Motiven oder Phrasen gesellt sich sofort deren
Verarbeitung. Das Modell des »Satzes« wurde von Schönberg und seiner Schule daher
als fortschrittlich und der Periode gegenüber höherwertig betrachtet.2
Die Bezeichnung der beiden Teile als Vorder- und Nachsatz ist durchaus gebräuchlich,
jedoch etwas unglücklich, weil sie an die Symmetrie denken lässt, welche den beiden
Halbsätzen typischer Perioden innewohnt, im Satz aber gerade nicht gegeben ist. Güns-
tiger sind die Begriffe Präsentationsphrase und Fortsetzungsphrase3 , welche Diergarten
und Neuwirth in Anlehnung an die amerikanische Terminologie vorschlagen.4
Vereinfachend gesagt ist die Periode das für Mozarts Themen typische Syntaxmodell.
Der Satz hingegen kommt Beethovens Schreibweise und musikalischem Denken näher.
Eine alternative Terminologie gründet auf die allgemeineren Begriffe Fortspinnungsty-
pus und Liedtypus. Dann gilt:
1 Dieser Viertakter ist in sich periodisch gebaut: es gibt zwei Motive (T. 1 und T. 2), T. 2 endet harmonisch
offen, T. 4 schließend. Es handelt sich hier bereits um zwei ineinander verschachtelte Syntaxmodelle;
siehe dazu unten S. 61.
2 vergl. dazu Eggebrecht: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Artikel »Peri-
odus/Periode«, S. 12f.
3 Der Begriff Phrase deckt sich dabei nicht mit dem Phrasenbegriff Schönbergs. Das sequenzierte Modell
in der Präsentationsphrase bilde im Sinne Schönbergs bereits eine Phrase, eine Struktureinheit, nicht
zuletzt, weil sie typischerweise aus zwei verschiedenen Motiven zusammengesetzt ist.
4 Diergarten et al.: Formenlehre, S. 85.
49
3 Syntaxmodelle
4
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Notenbeispiel 3.7: Mozart, Dissonanzenquartett, Beginn des Kopfsatzes
Man kann die Periode, den Liedtypus Wilhelm Fischers, mit Lyrik vergleichen, den
Fortspinnungstypus (worunter auch der klassische »Satz« fällt) mit »musikalischer Pro-
sa«, ein von Arnold Schönberg geprägter Begriff.1 Schönberg verbindet seine Kritik an
der naiven Periodik gewisser Formen des 19. Jahrhunderts (Charakterstück, Volkslied-
kolorit in symphonischen Formen usw.) mit der Forderung nach kunstvoller, ästhetisch
anspruchsvoller thematisch-motivischer Arbeit in Verbindung mit komplexen Gliede-
rungsformen anstelle einer regelmäßigen (und sich damit dem Publikumsgeschmack
anbiedernden) Periodik, die er in den Nationalstilen des späten 19. Jahrhunderts ver-
wirklicht sah. Mit dem Begriff musikalische Prosa reiht er sich in jene Tradition ein, in
welcher musikalische Strukturen als sprachanalog beschrieben werden.
Das Notenbeispiel 3.8 zeigt die beiden thematisch verwandten Themenanfänge aus
Mozarts später g-moll-Sinfonie (Periode) und Beethovens erster Klaviersonate (Satz, der
Anschaulichkeit halber nach g-moll transponiert), die Erwin Stein gegenübergestellt
hat.2
Das Reimschema einer typischen Periode finden wir im Hauptthema des Kopfsatzes
von Mozarts später Klaviersonate D-dur KV 576 (Notenbeispiel 3.9 auf der nächsten
Seite). Phrase 1 (T. 1 und 2) sowie Phrase 3 (T. 5 und 6) reimen sich deutlich. Die
zweiten Teilphrasen von Vorder- und Nachsatz sind ebenfalls analog gebaut.
Durch wenige Eingriffe lässt sich dieses achttaktige Thema in einen Satz umformen.
Dazu müssten vor allem die Takte 3 und 4 mit den Takten 5 und 6 die Position tauschen:
50
3.4 Die Syntaxmodelle im Vergleich
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Notenbeispiel 3.9: Mozart, Sonate D-dur KV 576, Anfang
51
3 Syntaxmodelle
Das Verhältnis von Vorder- und Nachsatz ist in typischen Perioden das eines Stabreimes:
aba’b‘. Doch auch dann, wenn der Nachsatz keinen Reim zum Vordersatz aufweist,
kann die Ausgewogenheit der Taktgruppierung (4x2 = 2x4 = 8) zusammen mit dem
Eindruck des (auch tonal) Geschlossenen einen Achttakter als periodisch erscheinen
lassen. Üblich sind auch modulierende, gleichwohl gereimte Perioden. Wenn in einer
periodischen Gliederung der Nachsatz den Vordersatz fortspinnt oder entwickelt,
entsteht eine Nähe zum Satz. Zudem gibt es recht häufig den Fall, dass die Teilsätze
von Perioden auf kleinerem Maßstab dem Syntaxmodell des Satzes folgen.
Wie schon Erwin Ratz betonte, bilden der Satz und die Periode ohnehin einen eher
idealisiert gedachten Gegensatz.1 Die Ausprägung einer thematischen Gestalt befindet
sich häufig zwischen diesen Gegenpolen, zeigt selten die Züge des einen oder anderen
in reiner Form. Die terminologische Differenzierung ist methodisch hilfreich: sie schärft
den Blick bei der analytischen Arbeit.
52
3.5 Differenzierung des Periodenbegriffs
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Poco Allegretto e grazioso
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Notenbeispiel 3.10: Beethoven, Rondo aus der Klaviersonate Es-dur op. 7, Anfang
3.5.2 Wiederholungsperiode
In einer Wiederholungsperiode sind die Halbsätze einander stark ähnlich, fast identisch.
Die Abweichungen sind hauptsächlich den unterschiedlichen Schlussarten in der
Periodenmitte und am Schluss geschuldet.
In Beethovens Bagatelle a-moll op. 119 Nr. 9 (Notenbeispiel 3.11) sind der Vorder-
und der Nachsatz nahezu identisch. Es unterscheiden sich lediglich die Kadenztakte in
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T. 3/4 bzw. 7/8 und auch nur in der metrischen Anordnung der Kadenzakkorde.
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Eine extreme Form der Wiederholungsperiode bildet das Seitenthema des Kopfsatzes
in Antonin Dvoráks neunter Symphonie (Notenbeispiel 3.12). Hier kann man schon
beinahe von einem wiederholten Viertakter sprechen. Der Eindruck der Achttaktigkeit
wird im Grunde nur durch die Erwartungshaltung des in der Stilistik des 19. Jahr-
hunderts bewanderten Hörers erzeugt, der beinahe selbstverständlich in achttaktigen
Einheiten gliedert.
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53
3 Syntaxmodelle
3.5.3 Kontrastperiode
Hier fehlt die Korrespondenz zwischen Vorder- und Nachsatz. Sie reimen sich nicht,
ordnen sich aber insofern periodisch an, als die Taktsymmetrie (4+4) sowie die Ge-
schlossenheit des Ganzen erhalten bleiben. Kontrastbildungen als Gestaltungsmittel
einzusetzen, ist eine wichtige Errungenschaft des klassischen Stils. Es überrascht nicht,
dass sich dieses mit der Idee des periodisch Abgemessenen verbindet.1
Im Menuett aus Haydns Quartett op. 64 Nr. 4 ist der Vordersatz in sich satzartig
gebaut, zeigt dadurch aber die für einen Periodenvordersatz typische Struktur aus zwei
Unterabschnitten (Phrasen) a und b. Der Nachsatz greift Motivpartikel des Vordersatzes
auf, reimt sich jedoch nicht, sondern kontrastiert in mancherlei Hinsicht.
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Notenbeispiel 3.13: Haydn, Menuett aus dem Quartett op. 64 Nr. 4
3.5.4 Fortspinnungsperiode
Der Nachsatz spinnt den Vordersatz assoziativ oder logisch-entwickelnd fort. Damit
nähert sich die Periode dem Modell des Satzes (Phrase, Sequenz, Entwicklung). Im
Volkslied findet sich eine solche Gestaltungsweise, wenn die im Nachsatz zu verto-
nenden Verszeilen keinen direkten inhaltlichen Bezug zum Beginn aufweisen. Dies ist
beispielsweise im bekannten »Nachtwächterlied« (Notenbeispiel 3.14) der Fall. Vorder-
und Nachsatz bilden eine perfekte Periode mit je zwei Unterphrasen, Halbschluss in
der Mitte und Ganzschluss am Ende. Die Phrasen im Nachsatz variieren den Rhythmus
und spinnen die Diastematik frei fort.
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Hört, ihr Leut, und laßt euch sa - gen, un - sre Glock' hat zehn ge - schla-gen:
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Zehn Ge - bo - te setzt Gott ein; daß wir sol - len glück-lich sein.
Ein periodisch-symmetrisches Gebilde zeigt der Anfang des Menuetts aus Haydns
Quartett op. 54 Nr. 2. Der Eindruck von Fortspinnung entsteht dadurch, dass der
Nachsatz die kontrastierende b-Phrase des Vordersatzes (fallende Tonleiter nach se-
quenziertem Dreiklangsmotiv in der eröffnenden a-Phrase) unmittelbar aufgreift. Das
1 Oft kontrastieren schon die beiden Phrasen in den Teilsätzen (a und b in Vorder- und Nachsatz).
Darauf bezieht sich der Begriff »Kontrastperiode« jedoch nicht, sondern auf ein Kontrastverhältnis
zwischen Vorder- und Nachsatz.
54
3.5 Differenzierung des Periodenbegriffs
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Notenbeispiel 3.15: Haydn, Menuett aus dem Quartett op. 54 Nr. 2
3.5.5 Steigerungsperiode
Hier hat der Nachsatz ist öheres Gewicht als der Vordersatz, beispielsweise indem
sich dort die melodische Klimax befindet. Damit sind die beiden Periodenhälften nicht
mehr ausbalanciert. Deutlich erkennbar ist dies im langsamen Satz aus Beethovens
erster Klaviersonate (op. 2 Nr. 1).1 Besonders sinnfällig wirkt es, dass Beethoven die
melodische Klimax durch die kurz zuvor erstmals exponierte Subdominantfunktion
stützt.
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1 Diese Gestaltungsform – Dynamisierung der Periode – ist typisch für den jungen Beethoven, dem die
sich selbst genügende Ausgewogenheit einer Periode nicht genügte.
55
3 Syntaxmodelle
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Der Eindruck von Periodizität wird zu einem großen Teil gerade durch die metrischen
Regelmäßigkeit erzeugt, die Tanzformen zu eigen ist (wenn sie denn nicht, wie häufig
in Suitensätzen Bachs, stark stilisiert erscheinen). Das Kriterium tonaler Geschlossenheit
tritt demgegenüber zurück.
Der Anfang des zweiten Satzes aus Beethovens Klaviersonate D-dur op. 28 (Notenbei-
spiel 3.18 ist ebenfalls klar periodisch gegliedert. Die ersten acht Takte sind Bestandteil
{
einer dreiteiligen Liedform und modulieren daher in die sekundäre Tonart, hier (in
d-moll) in die Oberquinttonart (v).
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Andante
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Notenbeispiel 3.18: Beethoven, Klaviersonate D-dur op. 28, 2. Satz
56
3.6 Der Satz bei Beethoven
Beethoven reduziert die Themenbildung hier radikal auf dieses Verfahren und verwirklicht darin die
Idee der Bagatelle, der Belanglosigkeit. Das Satzprinzip wird hier geradezu stereotyp angewendet, auf die
{
Spitze getrieben. Genialisch mutet an, wie in T. 11 das simple Sequenzverfahren durch einen Bruch in der
Oktavlage (Climax der Oberstimme) mit einfachsten Mitteln veredelt wird.
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Das Hauptthema aus Beethovens Sonate op. 2 Nr. 3 zeigt ein zweitaktiges Modell und
seine Sequenz. Beide bilden einen periodisch strukturierten Viertakter, eine Kleinperiode
mit aba’b’-Motivik, in der Harmonik überlagert von einem chiastischen (überkreuzend
angeordneten) I–V–V–I-Pendel (chiastisches Eröffnungsmodell2 ). Anschließend wird das a-
Element abgespalten, somit die Gruppenlänge auf Eintakter, ab T. 7 sogar auf Halbtakter
verkürzt. Es handelt sich also um einen (für Beethovensche »Sätze« typischen) Liquidati-
onsprozess. In T. 8 finden wir einen unvollkommenen Ganzschluss, der das Geschehen
noch in der Schwebe hält. Eine erweiterte Wiederholung des Nachsatzes verlängert das
Thema auf (phrasenverschränkte) 13 Takte. Durch die tonale Geschlossenheit trägt es
(wie schon die ersten 8 Takte) Züge einer Fortspinnungsperiode.
1 16 Takte in einfachen Taktarten wie 2/4 oder 3/4, 8 in zusammengesetzten wie z. B. 4/4
2 vergl. dazu Fladt: Modell und Topos im musiktheoretischen Diskurs, S. 365.
57
3 Syntaxmodelle
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Im Nachsatz wandert die Hauptstimme in den Bass. Vorbild ist hier der Streichquar-
tettsatz.
Wie bereits gesehen können die Teilsätze von Perioden – deren Vorder- und Nachsatz
also – ihrerseits satzartig gebaut sein. Würde man nach Takt 8 die Takte 1-4 einschieben
und die Takte 11 und 12 zusammenziehen, ergäbe sich für das Thema aus op. 2 Nr. 3
ein große, sechzehntaktige Periode. Möglicherweise war dies sogar die ursprüngliche
Gestalt. Notenbeispiel 3.21 zeigt diesen Aufbau.
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Notenbeispiel 3.21: Beethoven, op. 2 Nr. 3, mögliche periodische »Urform«
Im folgenden Satz aus op. 49,1 (1. Satz) wird das eröffnende, zweitaktige Modell nicht
sequenziert, sondern harmonisch neu ausgeleuchtet. Aus der freien Umkehrung des
Kopfmotives wird ein Eintakter gebildet, durch intervallische Augmentation entwickelt
und schließlich (durch die Beschleunigung des harmonischen Aktionstempos) zur
Halbtaktigkeit liquidiert. Die Merkmale, welche dieses achttaktige Thema als Satz
ausweisen, sind
58
3.7 Unregelmäßige Perioden
• asymmetrischer Bau,
• Entwicklung,
• Liquidation
• und offener Halbschluss.
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Notenbeispiel 3.22: Beethoven, Sonate op. 49 Nr. 1, Anfang
Nach diesen 8 Takten scheint sich das Geschehen aus T. 1/2 zu wiederholen. Man
könnte wiederum eine große, sechzehntaktige Periode erwarten, dessen halbschlüssig
endender Vordersatz eben der oben zitierte »Satz« bildet. Allerdings wendet Beetho-
ven das Geschehen anschließend in eine andere Richtung. Dieses Verfahren, in der
Sonatenhauptsatzform in einem Hauptthema den erwarteten Nachsatz einer Periode
zugunsten des Eintritts der modulierenden Überleitung abzubrechen, ist als aufgelöster
Nachsatz1 bekannt, eine häufig verwendete Strategie bei den Wiener Klassikern bis ins
19. Jahrhundert hinein. In Seitensätzen finden sich ebenfalls aufgelöste Nachsätze, die
dann in einen locker gefügten Schluss des Seitensatzes übergehen.
Auch im Spätwerk ist Beethoven denselben Formprinzipien treu geblieben, die für
seine frühen Werke typisch sind. So finden wir auch zu Beginn von op. 106 (Hammer-
klaviersonate) einen achttaktigen Satz. Hier wird das Anfangsmodell nicht harmonisch
verändert, sondern im Gegenteil bei gleichbleibender Harmonie auf einfache Weise,
durch Änderung der Akkordlage, sequenziert.2 Das Versetzungsintervall, die Terz,
reagiert auf das Terzfallmotiv in T. 2. Krebsgängig und im Durchgang aufgefüllt wird
es zur Keimzelle der sich nun anschließenden Entwicklung, die im Übrigen auch den
Sekundschritt in T. 1 aufgreift. Aus beiden Elementen wird ein eintaktiges Modell (T. 9
mit Auftakt) entwickelt, sequenziert und auf 1/2 und 1/4 liquidiert. Der Nachsatz
kontrastiert zu T. 1-4 hinsichtlich Melodik, Rhythmik, Satz (homogene Homophonie vs.
heterogene Polyphonie) und Ausdruck (ff vs. p).
59
3 Syntaxmodelle
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Notenbeispiel 3.23: Beethoven, op. 106 (Hammerklaviersonate), Anfang
Beides kann durch die Wiederholung einzelner Takte geschehen (indem es zum
Beispiel zwei »sechste Takte« gibt) oder durch Dehnung beispielsweise des Kadenzvor-
ganges (also des siebten Taktes) auf zwei Takte.
Die in Notenbeispiel 3.24 dargestellte, achttaktige Periode hat Haydn so nicht kompo-
niert. Vielmehr wird der vierte, dominantische Takt (sinngemäß) wiederholt, wodurch
der Cellopart an der Imitation teilhaben kann. Die Ausdehnung des siebten Taktes
auf zwei Takte erlaubt wiederum, die in T. 4 exponierte Achtelkette wiederkehren
zu lassen und dennoch zur Tonika zu kadenzieren. Beide Erweiterungen sind innere
Erweiterungen.
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Notenbeispiel 3.24: Haydn, Quartett op. 54 Nr. 1, Menuett, auf Achttaktigkeit reduziert
Die abschließenden Takte des Variationsthemas der Klaviersonate A-dur von Mozart
bilden einen Periodennachsatz innerhalb eines dreiteiligen Liedes (vergl. Kapitel 4.1.2).
Dieser Nachsatz ist satzartig gebaut. Die Entwicklung im dritten Takt (nach Modell
und Sequenz) exponiert einen Tonleiterausschnitt. Durch eine äußere Erweiterung
kann diese Entwicklung bis zur melodischen Klimax (Oktave) gesteigert werden. Der
Periodennachsatz wird damit sechs- statt viertaktig. Die strukturelle Erweiterung steht
im Dienste des Ausdruckswillens: sie erzeugt den Eindruck einer abschließenden
Bekräftigung.
60
3.8 Mehrfache Verschachtelung von Periode und Satz
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3 Syntaxmodelle
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62
3.9 Autonomie der Form: Periodik als Gestaltungsmittel
Zweierpotenzen gegliederte Periode des 18. Jahrhunderts stellt dabei ein Beispiel für
ein absolut-musikalisches Gestaltungsmittel dar. Vor dem Hintergrund dieser Norm
waren syntaktische Differenzierungen möglich, nach
• vollständigen, stabilen Perioden,
• unvollständigen, weniger stabilen Perioden,
• eröffnenden (1., 5.) Takten,
• kadenzierenden (6. und 7.) Takten sowie
• schließenden (8., oder schwächer 4.) Takten.
Die Verwendung vollständiger oder unvollständiger Perioden (verglichen mit der
Standardperiode) ermöglicht eine funktionale Differenzierung:
vollständige Perioden erzeugen den Eindruck fest gefügter Themen,
unvollständige Perioden erzeugen den Eindruck locker gefügter Themen oder brem-
sender Kadenzabschnitte.
Auch die Abspaltung einzelner Takte erzeugt eine jeweils charakteristische Wirkung:
• Die Abspaltung sechster und siebter Takte bringt Kadenzen, also Schlusssignale
hervor.
– Sechste Takte sind oft prädominantisch,
– Siebente Takte sind typischerweise dominantisch,
• Achte Takte sind tonikal. Sie erzeugen »Ruhepunkte des Geistes« (wie Heinrich
Christoph Koch1 es nennt) in der Grund- oder Quinttonart.
• Vierte Takte bilden Binnenzäsuren (schwache Interpunktionen).
Wir können dies besonders deutlich an der Mozartschen Ausprägung der Sonaten-
hauptsatzform beobachten (vergl. Kapitel 6.2.8). Die in Kochs Beispiel nachweisbare
Differenzierung der Normperiode erzeugt und charakterisiert dort großformale Ab-
schnitte:
vollständige Perioden bilden Haupt- und Seitensätze,
unvollständige Perioden prägen die Schlussgruppe.
Im 2. Satz der Klaviersonate B-dur KV 281 von Mozart (Notenbeispiel 3.28 auf der
nächsten Seite) finden wir ein regelrechtes Thema. Es folgt einem satzartigen Aufbau,
der für Mozart typisch ist: auf eine Kleinperiode (chiastisch angeordnete 2x2 eröffnende
Takte) folgt ein nachsatzartiger Viertakter, der nach eröffnender Tonika über die Prä-
dominante und Dominante die finale Tonika erreichen könnte. Allerdings wird diese
trugschlüssig umgangen oder ausgespart. Diese harmonisch differenzierte Achttaktig-
keit bildet die Norm, aus der nun Takte mit dem Charakter sechster, siebter, achter
oder auch fünfter Takte herausgegriffen werden. Es erklingen somit Fragmente von
Achttaktern. Diese unvollständigen Achttakter erzeugen den Eindruck des Schließens,
des Nicht-Thematischen, wohingegen die (nahezu) vollständige Syntax des achttaktigen
Satzes zu Beginn den Eindruck thematischer Festigkeit erzeugt.
Es ist typisch für die Sonatenhauptsatzform langsamer Sätze, dass die Schlussgrup-
pe hier extrem knapp gehalten ist (wenn man die letzten vier Takte überhaupt so
bezeichnen möchte).
Die Differenzierung der Taktfunktionen erfolgt bei Mozart meist durch die Mittel
einer funktional differenzierten Harmonik. Im Prinzip kann man die Funktion eines
Taktes in einem Syntaxmodell aber auch durch seine motivische Funktion (aufstellend
vs. rekapitulierend vs. verarbeitend bzw. fortspinnend oder liquidierend) darstellen.
1 Koch: Versuch einer Anleitung zur Komposition.
63
3 Syntaxmodelle
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Notenbeispiel 3.28: Mozart, Klaviersonate B-dur KV 281. 2. Satz, Ende der Reprise
64
4 Liedformen
Mit dem Begriff Liedform werden keineswegs nur, ja nicht einmal vorrangig Formen
der Vokalmusik bezeichnet. Vielmehr versteht man darunter Formgebilde, die sich von
der Sonatenform oder anderen auf Entwicklung oder sogar Dramatik hin angelegten
Großformen durch eine gewisse Statik und Selbstgenügsamkeit unterscheiden, bedingt
durch einen tendenziell den Prinzipien der Symmetriebildung und Gruppierung fol-
genden Aufbau. Adolf Bernhard Marx schreibt im zweiten Band seiner Lehre von der
musikalischen Komposition:
Jedes Tonstück, das nur einen einzigen Gedanken, – oder nur einen Haupt-
gedanken in Satz- – Perioden- – zwei- oder dreiteiliger Form in sich fasst,
bezeichnen wir [. . . ] mit dem Namen Lied, gleichwieviel, ob es für den
Gesang bestimmt ist, oder nicht.1
Marx betont den Aspekt, dass Liedformen gewöhnlich nicht mehrere »Hauptge-
danken« besitzen und daher keinen Themenkontrast ausbilden können. Zwar können
sie innerlich komplex gebaut sein und daher keineswegs banal oder trivial gestaltet
sein. Gleichwohl zielt der Begriff auf Formen, die wenig oder allenfalls hintergründig
Züge von Dynamik und Entwicklung zeigen, die eher statisch, gereiht, balanciert-
ausgewogen (symmetrisch) wirken. Nicht zufällig verficht Arnold Schönberg seine Idee
einer musikalischen Prosa in einem Aufsatz, den er in polemischer Absicht Symphonien
aus Volksliedern2 tituliert.
Liedformen liegen oft barocken Tanzsätzen zugrunde. Darunter finden sich auch Sui-
tensätze, in welchen die Statik der Liedform zugunsten des prozesshaften Denkens in
der Sonatenform aufgeweicht wird. So gesehen sind Suitensätze und Sätze aus den ba-
rocken Sonata da camera und Sonata da chiesa Vorläufer der Sonatenhauptsatzformen der
Wiener Klassik und des 19. Jahrhunderts. Die Funktionsunterschiede zwischen Abschnit-
ten von Suitensätzen werden dabei verstärkt. Es lassen sich darstellend-thematische Ab-
schnitte von überleitenden, schließenden und verarbeitenden Abschnitten zunehmend
deutlich unterscheiden. Bereits der barocke Fortspinnungstypus zeigt eine gewisse
Differenzierung (motivisch fester Vordersatz – verarbeitende Fortspinnung – schluss-
bildender Epilog). Solche Funktionsunterschiede verstärken sich auf dem Weg von
der statischen Liedform zur Dynamik und Prozesshaftigkeit der Form in der Wiener
Klassik.
Die Liedformen lassen sich in einfache und zusammengesetzte Formen untertei-
len. Zu beachten ist, dass der Terminus Liedform gleichermaßen auf Gebilde von eher
geringer Ausdehung (z. B. Suitensätze, Charakterstücke) wie auch umfangreicherer Aus-
dehnung angewendet wird. Zu letzteren zählen langsame Sätze oder Scherzo/Menuett-
Sätze (Menuett–Trio–Menuett als zusammengesetzte Liedform) in Sonate und Sinfonie.
Nicht unter die Liedformen fallen die Rondoformen, weil sie auf einem eigenen Prinzip
1 Marx: Die Lehre von der musikalischen Komposition, Bd. 2, S. 18.
2 Schönberg: Symphonien aus Volksliedern.
65
4 Liedformen
(dem der Wiederkehr) beruhen und oft auch eine Nähe zur Sonatenhauptsatzform
zeigen (und dann auf Entwicklung ausgelegt sind und nicht ausschließlich dem Prinzip
ausbalancierter Reihung folgen).
Der Begriff Liedform steht in der Tradition der deutschen Formenlehre, während in
Amerika Begriffe wie binary und ternary form gebräuchlich sind.1 Die amerikanischen
Termini werden hier für Formen verwendet, die den Übergang zur Sonatenhauptsatz-
form markieren (in eingedeutschter Form als Zwei- und Dreiphrasenform), um eine
differenzierte Betrachtung des Formverlaufes innerhalb dieser Sätze zu ermöglichen.
Auf Statik und Balanciertheit angelegte Formen werden nachfolgend den Begriffen der
deutschen Formenlehre zugeordnet werden.
Der Begriff Liedform beinhaltet
Die Gliederung einer Liedform wird zumeist mit lateinischen Großbuchstaben (A, B,
C . . . ) angegeben. Nota bene: nicht jedes Werk, dass sich als ABA-Form beschreiben
lässt, prägt eine Liedform aus.
Sätze barocker Suiten sind fast immer äußerlich zweiteilig, unabhängig davon, ob man
sie als Liedformen oder anderweitig klassifizieren möchte. Es zeigt sich meistens die
auch für die zweiteilige Liedform typische Zweiteiligkeit, häufig unter Wiederholung
1 Vergl. z. B. Rosen: Sonata Forms.
2 Wie gesagt wird die Rondoform als Ganzes nicht zu den Liedformen gezählt.
66
4.1 Liedformen ohne deutliche thematische Korrespondenzen
der Teile (||: A :||: B :||). Nicht selten sind beide Teile gleich lang (symmetrische
zweiteilige Liedform), was der Regelmäßigkeit von Tanzsätzen entspricht. Ist dies nicht
der Fall (asymmetrische zweiteilige Liedform), so ist so gut wie immer der zweite Teil (nach
dem Doppelstrich, also »B<ïm Schema oben) länger (woraus sich die Zweiphrasenform
entwickelte, vergl. S. 75).
Das Menuett aus Bachs französischer Suite Nr. 4 (Notenbeispiel 4.1) ist als zweiteilige
Liedform gestaltet. Zwar ist der achtaktige B-Abschnitt inhaltlich durchaus an den
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ersten Achttakter angelehnt. Es gibt jedoch keine direkte Wiederkehr von Phrasen.
Einheitlich sind selbstverständlich der Affekt und die Bauweise.
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Der erste Abschnitt ist nach dem Satzprinzip asymmetrisch aufgebaut: das zweitak-
tige Modell der Oberstimme kehrt in der Unterstimme in T. 3 wieder, danach gibt es
zwei Eintakter und Kadenztakte.
Das Trio aus Bachs dritter französischer Suite (Notenbeispiel 4.2) zeigt eine asym-
metrische Dreiteiligkeit. Der zweite Teil hat die doppelte Länge des ersten (8 bzw.
16 Takte). Auch hier gibt es lockere motivische Bezüge (die Oberstimme aus T. 1/2
kehrt in der Unterstimme in T. 9 wieder, in Umkehrung in T. 17). Den Satz prägt ein
einheitlicher Affekt.
In der Wiener Klassik liegen drei- und zweiteilige Liedformen oft Variationsthemen zu-
grunde. Beethoven erfindet vorzugsweise inhaltlich lapidare Variationsthemen, welche
in den Variationssätzen umso stärker entfaltet werden.
Das Variationsthema des Mittelsatzes aus Beethovens Appassionata (Notenbeispiel 4.3
auf Seite 69) zeigt eine zweiteilige Liedform, deren A-Abschnitt eine melodisch und
harmonisch äußerst karge Periode (unvollkommener Ganzschluss in der Mitte, vollkom-
mener Ganzschluss am Ende) darstellt. Der B-Teil kontrastiert, indem die Phrasenlängen
auf Zweitaktigkeit verkürzt sind. Auch die minimalistische Melodik des A-Teils wird
ein wenig belebt. Die Quarte in Takt 10 wird durch Intervallspreizung zur Sexte und
Oktave gesteigert. Sie erschien zunächst als totes Intervall zwischen den Teilsätzen der
67
4 Liedformen
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68
4.1 Liedformen ohne deutliche thematische Korrespondenzen
Periode. Der letzte Zweitakter reimt sich mit dem Ende der Periode in A und exponiert
nochmals die Quarte, die sich damit als das für dieses Thema konstituierendes Intervall
erweist .
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Notenbeispiel 4.3: Beethoven, Sonate f-moll Appassionata, 2. Satz, Variationsthema
Die Akzentuierung der Quarte erfährt in diesen 16 Takten eine Steigerung: war sie
zunächst ein totes Intervall, gemäß Hugo Riemann also ein Intervall zwischen zwei
Motiven (hier: Phrasen) und damit melodisch nicht direkt wirksam1 , wird sie in T. 10
in weiblicher Endung (schwer-leicht) hörbar. Ganz am Schluss tritt sie noch deutlicher
in Erscheinung, nämlich nun in männlicher Endung (leicht-schwer).
Eine wichtige Ausprägung der dreiteiligen Liedform bildet das von Erwin Ratz so
bezeichnete »dreiteilige Lied«, welches er mit Recht als Grundmuster gewisser the-
matischer Bildungen bei Beethoven feststellt. Es zeigt folgendes Schema: 8 Takte A
(als Periode oder Satz) – 4 Takte B (typischerweise als Stehen auf der Dominante) – 4
Takte verkürzte Reprise A’; falls A eine Periode war, wird hier der ganzschlüssige
Periodennachsatz zitiert. Insbesondere wenn A ein Satz ist, kann A’ auch erheblich
ausgedehnt erscheinen.
Häufig werden im dreiteilige Lied die gleichlangen Untergruppen A und BA jede
für sich wiederholt: ||: A :||: B A :||. Die nach wie vor gegebene funktionale
1 Durch die minimalistische Melodik bildet die Quarte in der hier melodisch ereignisarmen Umgebung
gleichwohl einen deutlichen Akzent.
69
4 Liedformen
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Diese überaus bekannte Melodie aus dem Schlusssatz von Beethovens neunte Sym-
phonie zeigt einen periodischen A-Abschnitt, der der wiederholt wird, einen leicht
kontrastierenden B-Teil und die Reprise des Periodennachsatzes von A – ein für Beetho-
ven typischer Aufbau. Der Mittelteil kontrastiert durch die Melodik: Während der
Anfangsteil nur aus Schritten in regelmäßigen Vierteln besteht, zeigen sich die einzigen
Sprünge (in Verbindung mit einer Synkope) am Ende des Mittelteils.
Die beiden Sprünge im Mittelteil wirken in dieser reizarmen Umgebung stark. Dies
führt uns auf einen wichtigen Grundsatz bei der Analyse musikalischer Werke:
Die Wirkung eines Kunstmittels ist stets in Relation zur Umgebung zu sehen.
Der langsame Satz aus Beethovens op. 2 Nr. 1 zeigt im A-Abschnitt (bis T. 8) eine
Steigerungsperiode (vergl. Kapitel 3.5.5 auf Seite 55). Der B-Teil, mit lockerem motivi-
schem Bezug zu A, steht auf der Dominante. Der variierte Nachsatz der Periode bildet
den A’-Teil. Die Idee der Steigerungsperiode wird in B und A’ insofern fortgesetzt, als
auch diese Teile einen jeweils eigenen Spitzenton (d3 und f3 ) erhalten.
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4.1 Liedformen ohne deutliche thematische Korrespondenzen
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Notenbeispiel 4.6: Beethoven, Sonate op. 7, 2. Satz
71
4 Liedformen
Beethovens Bagatelle a-moll op. 119 Nr. 9 stellt insgesamt nichts weiter als ein
dreiteiliges Lied dar, wobei die Teile A und BA’ wiederholt werden. Der B-Abschnitt
ist ein »Stehen auf der Dominante« (Pendel zwischen Dominante und Tonika über
Dominantorgelpunkt). Nun kehren allerdings Periodenvorder- und -nachsatz wieder,
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wodurch sich eine 20-taktige Form (statt einer mit 16 Takten) ergibt.
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In barocken und klassischen Tanzsätzen findet sich häufig das symmetrische dreiteilige
Lied ABA. Im Menuett Johann Kriegers (Notenbeispiel 4.8 auf der nächsten Seite)
kehrt der A-Abschnitt wörtlich wieder. A und B sind locker-assoziativ miteinander
verbunden.
72
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4.1 Liedformen ohne deutliche thematische Korrespondenzen
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Notenbeispiel 4.8: Johann Krieger, Menuett
Dieses Schema aus Modell, Wiederholung und Fortführung erinnert zudem an den
klassischen Satz und an die fortspinnende Gestaltungsweise der Barockzeit.
Der Verbund von Stollen-Stollen-Abgesang (AAB) heißt in der modernen Termino-
logie Bar oder Barform. In der Begrifflichkeit des alten Meistergesanges bildete dies
jedoch ein Gesätz; der Bar war eine Abfolge von drei solchen Gesätzen.
A A A
AAB AAB AAB
Die Heimat der Barform ist (nach dem Meistergesang) das Volks- und Kirchenlied
(Lutherchoral). Viele deutsche Kirchenlieder und selbstverständlich Volkslieder sind in
der Barform oder ihren Spielarten (vergl. Kapitel 4.1.4 auf Seite 75) gehalten.
Der Begriff Barform wird gleichermaßen für die Ausprägung als Liedform wie für
AAB-Bildungen in kleinerem Maßstab verwendet, also für Bildungen, welche dem
Satzprinzip folgen, nach dem Muster [Modell]–[Wiederholung/Sequenz/Variante]–
[Fortführung/Fortspinnung/Entwicklung/Liquidation]. Für solche Bildungen hat Emil
Platen den Terminus Dreischritt geprägt.1
Es bietet sich an, den Begriff Dreischritt für solche Formen zu verwenden, in denen
A halb so lang wie B ist, beides zusammen also eine »quadratische« Form, z. B. einen
1 Weidner: „Interpretation“ – VII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie und 6th European
Music Analysis Conference, Freiburg 11. bis 14. Oktober 2007. S. 334.
73
4 Liedformen
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achttaktigen Satz (2+2 +4 = 8) erzeugt. Die Barform dagegen ist eher ternär unterteilbar:
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Sowohl die Barform wie auch der Dreischritt sind eng verwandt mit dem Satzprinzip.
Satzartige bzw. barformartige Anlagen bilden ein Klischee, das die gesamte Musik-
geschichte durchzieht. Dem liegt das Phänomen zugrunde, dass die Wiederholung
eines Elements (auch als Variante) das Bedürfnis nach irgendeiner Art von Abwechse-
lung und Änderung hervorbringt. Ein Beispiel ist die Gestaltung, die sich in Wagners
»unendlicher Melodie«, etwa im Tristan-Vorspiel findet (vergl. Notenbeispiel 1.9 auf
Seite 13). Die fünftönige Phrase des Violoncellos zu Beginn des zitierten Ausschnitts
wird einen Takt später variiert (ab Notation im Violinschlüssel), anschließend weiterge-
führt. Ein ähnlicher Vorgang findet sich ab T. 5, 2. Hälfte, hier vielleicht als »Gedanke –
Variante – Kontrast« beschreibbar. Eine inhaltliche Nähe zum Satz ist unverkennbar.
Der äußerst erfolgreiche Jazz-Standard The Girl From Ipanema1 von Jobim weist
ebenfalls eine satzartige bzw. dem Dreischritt-Prinzip folgende Anlage auf und zeigt
damit die Sinnfälligkeit dieser Gestaltungsform.
Während der Satz ein Phänomen auf der Ebene von Syntaxmodellen beschreiben,
wird unter Barform oftmals auch ein Vorgang auf der Ebene großformaler Architektur
verstanden. In einem in Barform gehaltenen Lied (für sich genommen sicher keine
Großform) bildet die Dreiteiligkeit des Bar einen Aspekt der größten Gliederungsebene
(oberhalb der Gliederungsebene von Phrasen oder ggf. Motiven). Auch ausgedehntere
Liedformen lassen sich als Barformen verstehen. Ein Beispiel für eine Barform auf
größerem Maßstab bildet der Mittelteil des 6. Satzes von Brahms’ deutschem Requiem
(Denn es wird die Posaune erschallen bis zum Einsatz der Fuge). Auch Bachs Orgeltoccata
F-dur ist dreiteilig-asymmetrisch (A – transponiertes A – Entwicklung) und zeigt damit
die Umrisse einer Barform.
1 Diese Bossa Nova wird oft als heimliche Nationalhymne Brasiliens bezeichnet.
74
4.2 Auf dem Wege zur Sonatenform I: Die Zweiphrasenform
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Ein spätes Beispiel für ein Reprisenbarform (musikalisch und dem Textgehalt nach)
ist Cole Porters Night and Day. Barformartig ist auch die Sprechweise des zwölftaktigen
Blues (These, Wiederholung, Erweiterung bzw. Folgerung). Die erste Strophe des Stormy
Monday-Blues lautet:
Der Stormy Monday-Blues besteht aus insgesamt drei Strophen, die ihrerseits eine
barformartige Struktur aufweisen. Die dritte bildet die Conclusio der beiden voran-
gegangenen (die Ursache für die in den ersten beiden Strophen ausgebreiteten Klage
wird benannt). Insofern weist die Struktur des Textes in diesem Blues auf der Ebene
der Groß- und Kleinform Selbstähnlichkeit auf.
Dem Blues liegt eine zwölftaktige Harmoniefolge (das Blues-Schema) zugrunde, die
im Stormy Monday-Blues folgende Gestalt hat:
75
4 Liedformen
Wie bereits dargestellt sehen wir in vielen Suitensätzen der späten Barockzeit eine
Zweiteiligkeit (zwei in Wiederholungszeichen eingeschlossene Abschnitte). Charles
Rosen bezeichnet solche Formen (AB) generell als binary forms, im Gegensatz zu typisch
dreiteiligen ternary forms (ABA, z. B. in der Da-Capo-Arie1 , vergl. Kapitel 10.3.1).2
Meist sind die beiden Abschnitte einer binary form inhaltlich (also motivisch-thematisch)
deutlich aufeinander bezogen (was eine Chiffrierung als »AB« unangemessen ver-
schleiern würde). Im Falle einer deutlichen Verschiedenheit beider Teile sollte man
schlichtweg von einer zweiteiligen Liedform sprechen. Im ersten Abschnitt einer binary
form wird ein Hauptgedanke oder –motiv eingeführt und entweder fortgesponnen
oder mit einem zweiten Gedanken kombiniert. Der zweite Abschnitt eröffnet wieder
mit dem Hauptmotiv und zeichnet den motivisch-thematischen Gang des ersten mehr
oder weniger getreu nach.
Quer dazu steht jedoch der Modulationsgang. Oft sehen wir im ersten Abschnitt
eine Bewegung von der Tonika in die Oberquinttonart – jedenfalls in Dur-Stücken.
Weil in Moll die Tonart der Oberquinte eher selten das Ziel der ersten Modulation
ist, kann man allgemeiner von einer Bewegung in die sekundäre Tonart sprechen, also
die zweitwichtigste Tonart im Modulationskreis (Tonart der V in Dur, III bzw. v
oder dergl. in Moll). Der zweite Abschnitt bringt nun die Rückmodulation von der
sekundären in die primäre Tonart, allerdings meistens nicht auf direktem Wege, sondern
mit eingeschobenen Zwischenstationen (Ausweichung in tertiäre Tonarten, bevor die
Tonika wieder etabliert wird).
Einer Zweiteiligkeit in motivisch-thematischer Hinsicht ist somit gleichermaßen eine
Zweiteiligkeit des Modulationsganges überlagert: im ersten Teil weg von der Tonika
und im zweiten (indirekt) zurück zu ihr. Wichtig ist die Feststellung, dass die Reprise
der Motivik nicht mit der Reprise der Tonart zusammenfällt. Das Kopfmotiv erscheint
zwar meistens »nach dem Doppelstrich«, jedoch in der sekundären Tonart und nie in
der Tonika.
Diese Form nennt Charles Rosen Two Phrase Binary Form, zu Deutsch Zweiphrasenform.
Man muss sich dabei vor Augen halten, dass »Phrase« hier die Großabschnitte meint,
also nicht mit dem Schönbergschen Phrasenbegriff (vergl. Kapitel 2.4.1) verwechselt
werden darf.
Rosens Modell schließt allerdings auch Sätze ein, in denen im A-Teil nicht moduliert wird, in
denen gleichwohl die sekundäre Tonart unmittelbar zu Beginn des zweiten Teiles erscheint.
In der Sarabande aus Bachs Cellosuite Es-dur (Notenbeispiel 4.11 auf der nächsten
Seite) ist der A-Abschnitt als barocker Fortspinnungstypus gestaltet: Einer viertaktigen
Kleinperiode folgt eine Fortspinnung, die in T. 8 die Dominanttonart erreicht und
anschließend kadenziert. Im zweiten Teil wird der Erfindungskern, das Modell aus
1 Die Da-capo-Arie wird allerdings nicht zu den Liedformen gezählt.
2 Rosen: Sonata Forms, S. 16.
76
4.2 Auf dem Wege zur Sonatenform I: Die Zweiphrasenform
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Der modulierende Abschnitt, der sich regelmäßig zu Beginn der zweiten Phrase (im
Sinne Rosens) findet, gibt das Modell für die sequenzierende und modulierende Arbeit
der späteren Durchführungen ab. Darin zeigt sich bereits die Zweiphrasenform als
ein Vorläufer der Sonatenhauptsatzform. Bisweilen wird dieses Modell auch mit dem
Begriff Scarlatti-Sonatenform belegt.1
Langsame Sätze der Wiener Klassik sind oftmals in einer Sonatenhauptsatzform oh-
ne Durchführung gehalten. Es handelt sich dabei um Sätze mit meist zwei themati-
schen Grundgedanken A und B. Diese werden zunächst mit dem Modulationsgang
Tonika–Oberquinttonart exponiert, dann bei analogem inhaltlichen Ablauf in der Tonika
verbleibend rekapituliert (typischerweise in Dur-Sätzen):
77
4 Liedformen
||: A-B :||: A-B :|| = ||: I-V :||: I-I :||1
Die Zweiphrasenform (vergl. Kapitel 4.2 auf Seite 75) wiederum bildet einen Vorläufer
der Sonatenform des langsamen Satzes (siehe Kapitel 7.1 auf Seite 127).
1 Im Falle von Mollsätzen geht der Weg von der i zur III oder v.
2 Kavatine bezeichnet eigentlich ein lyrisches, schlicht gehaltenes Gesangsstück in der Oper des 18. und
19. Jahrhunderts.
3 Diergarten et al.: Formenlehre, S. 39.
78
4.3 Auf dem Wege zur Sonatenform II: Die Dreiphrasenform
Das Menuett aus Bachs französischer Suite E-dur (Abbildung 4.12) ist wie viele
Menuette der Bach-Zeit in der Dreiphrasenform gehalten. Ein zweitaktiger Gedanke
dominiert den Satz; die Zweitaktigkeit lässt sich durchgehend verfolgen. Ihr überge-
ordnet sind Viertakter und achttaktige Großabschnitte (»Phrasen« im Sinne Charles
Rosens). Der Anfangsgedanke kehrt zweifach wieder: einmal in der Oberquinttonart
nach dem Doppelstrich, dann in der Tonika. Die achttaktigen Großabschnitte der insge-
samt binären Form (three phrase binary form nach Rosen) entsprechen umrisshaft der
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Exposition, der Durchführung und der Reprise der Sonatenhauptsatzform.
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4 Liedformen
Dass der quasi durchführende Mittelabschnitt die Inhalte der (quasi) Exposition ein
weiteres mal durchläuft, also insgesamt drei thematische Durchläufe vorhanden sind,
lässt sich in etlichen Sonatenhauptsätzen der frühen Klassik (Haydn) wiederfinden. In
der Sonatenhauptsatzform ist dafür der Begriff Gegenexposition gebräuchlich.2
Die Termini Zwei- bzw. Dreiphrasenform sollte man dann verwenden, wenn zwischen
den Bestandteilen der binären Form (Rosen: Two bzw. Three Phrase Binary Form) moti-
vische Korrespondenzen bestehen, also eine Wiederkehr oder sogar eine regelrechte
Reprise des oder der Hauptgedanken zu beobachten ist. Fehlen solche Korrespon-
denzen oder sind sie nur schwach ausgeprägt, so ist von einer Liedform (AB bzw.
ABA) zu sprechen. Den Liedformen und den Mehrphrasenformen gemeinsam ist die
noch überschaubare Ausdehnung, die erst mit der Entwicklung zu Sonatensätzen
größere Dimensionen annehmen wird. Beides, schlichte Liedformen und Zwei- bzw.
Dreiphrasenformen, findet sich in spätbarocken Suitensätzen nebeneinander.
Insbesondere die Dreiphrasenform zeigt schon deutlich eine funktionale Differen-
ziertheit der Teile in einen aufstellenden, durchführenden und rekapitulierenden, wie
sie für die Sonatenhauptsatzform kennzeichnend ist (dort als Exposition, Durchführung,
Reprise). Überdies deutet sich in vielen Suitensätzen der Barockzeit ein Nebeneinander
zweier Einfälle oder Gedanken an (noch nicht ein profilierter Themendualismus), der
für die meisten Sonatenhauptsätze charakteristisch sein wird.
80
4.4 Zusammengesetzte Liedform und Bogenform
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81
4 Liedformen
A B A C A B A oder A B A C D C A B A
Es fällt auf, dass der Mittelteil (Paganini, C- und D-Abschnitte) gegenüber dem Walzer
unregelmäßiger gebaut ist: während dieser als regelmäßiges, dreiteiliges Lied gearbeitet
ist, durchbricht die Karikatur des italienischen Geigenvirtuosen die Betulichkeit der
Walzerform.2 Dies korrespondiert mit dem äußeren Kontrast, der durch die unmittelbar
wirksame Gestaltung (Tempo, Gestik usw.) hergestellt wird.
Der Begriff Codetta bezeichnet einen kurzen Schlussabschnitt innerhalb einer Klein-
form, im Gegensatz zur Coda, welche einen ausgewachsenen Formabschnitt innerhalb
der Sonatenhauptsatzform bildet.
Das fünfte Stück aus Schumanns Kreisleriana zeigt hingegen einen asymmetrischen
Aufbau. Ein zunächst dreiteiliges Lied wird zu einer zusammengesetzten Liedform aus
vier Bestandteilen (A-D) erweitert, die balanciert, allerdings gerade nicht symmetrisch
ist. Am Ende wird der Eindruck einer krebsgängigen Rekapitulation erzeugt.
Die Wirkung des Satzes beruht zu einem großen Teil auf der bewusst asymmetrischen
Anlage. Die einzelnen Formteile weisen motivisch allenfalls lockere Bezüge zueinander
auf. Das Hörerleben wird hier nicht durch die Erfüllung einer sinnfälligen, symmetrisch
ausgewogenen Liedform bestimmt, sondern gerade aus der intendierten Abweichung
davon: die Elemente werden in einer Weise gruppiert, die den Eindruck einer speziellen,
rückläufigen Form entstehen lässt. Gruppierung von Formteilen wird hier zum Ge-
staltungsmittel. Dies ist möglich, weil die Formkonventionen der zusammengesetzten
Liedform eine Bogenform der Art ||: A :|| B A ||: C :|| D C A(sic!) B A || erwarten
lassen.
1 Häufig wird bereits die dreiteilige Liedform ABA als Bogenform bezeichnet.
2 Man wird hinter der Konfrontation von deutscher Regelmäßigkeit mit italienischem Teufelsgeigertum
Ironie vermuten dürfen.
82
4.5 Ternäre Formen
Schumann spielt hier mit den Hörerwartungen, indem er die gewöhnliche Regelmä-
ßigkeit der oben aufgeführten Formschemata (zwei- und dreiteilige Liedform, Bogen-
formen) durchbricht.
1 Nicht zu verwechseln mit einer dreiteiligen Liedform ABA, welche eine Kleinform darstellt. Eine
dreiteilige Liedform ||:A:||:BA:|| kann aus der Sicht Charles Rosens durchaus eine Binäre Form
darstellen, insbesondere wegen der zweigliedrigen Wiederholungen.
2 Allerdings rückt der Tanzsatz schon früh (Haydns Streichquartette op. 33; ein prominentes Beispiel
bildet Beethovens neunte Symphonie) und später häufiger an die zweite Position der Satzfolge vor.
3 Hier: nur Streicher, ohne Oboen und Hörner. Oft ist es jedoch gerade umgekehrt so, dass die Trioab-
schnitte von Bläsern dominiert werden.
83
5 Die Suite, die barocke Sonata und die
Ouvertüre
Der französische Begriff Suite meint zunächst nichts anderes als »Folge«, und zwar
eine ungezwungene, im Spätbarock zumindest in Deutschland jedoch standardisierte
Folge von Tanzsätzen. Weitere Bezeichnungen von Tanzsammlungen sind Partita (it.
partire, teilen), Ordre (franz. Reihe, Ordnung) und Ouvertüre (hier in der Bedeutung
»Orchestersuite«, benannt nach dem einleitenden Satz). Auch die Sonata da camera ist
mit der Suite eng verwandt (oft nicht von ihr unterscheidbar) und besteht wie diese
aus einer Folge von meist vier Tanzsätzen. In der Variationssuite variieren die einzelnen
Sätze das Harmonieschema und die Motivik der Allemande. Partita ist daneben auch
eine Bezeichnung für Variationsfolgen über einen weltlichen oder geistlichen cantus
firmus.
In der Barockzeit wurden Suiten für alle Instrumente, insbesondere das Clavier (Cem-
balo, seltener Orgel) und Streichinstrumente geschrieben. Die Orchestersuite entsprang
der Oper, dort als Folge von Balletteinlagen, bevor sie sich zu einer selbständigen
repräsentativen Gattung entwickelte.
Die einzelnen Suitensätze sind typischerweise thematisch unverbunden. Die Gattung
ist ein Beispiel für eine auf dem Prinzip der Reihung beruhenden Form.
Im 19. und 20. Jahrhundert sind Suiten bisweilen auch noch selbständig kompo-
nierte Tanzsuiten, häufiger jedoch Auskopplungen von Satzfolgen aus Balletten oder
Bühnenmusiken.
1 Die einleitenden Sätze wie Ouvertüre oder Präludium unterliegen anderen Formschemata.
2 vergl. Dobretsberger: Formenlehre, S. 161.
85
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
Dreiphrasenform Es gibt drei Großabschnitte, im letzten erfolgt die Reprise der Motivik
bzw. Thematik in der Tonika. Der Mittelabschnitt hat wie in der Zweiphrasenform
schweifende Tonalität und trägt nicht zuletzt deswegen in Ansätzen durchfüh-
rungsartige Züge.
Die Einlagensätze (zwischen Sarabande und Gigue) treten gerne paarweise auf, als
Menuett I und II oder als schlichter Tanz mit sich anschließendem, ausgeziertem Double.
5.3.1 Präludium
Präludien sind zumeist homophon angelegte Stücke, die dem Idiom des jeweiligen
Instrumentes angepasst sind und Spielfreude bzw. Virtuosität in den Vordergrund
stellen. Sie führen in die Tonart der nachfolgenden Suitensätze ein (im Falle des
Werkpaares Präludium und Fuge in diejenige der Fuge). Bachs Präludien realisieren
verschiedenste Formen und Gattungen (vergl. Kapitel 9.1.3 auf Seite 164). Neben rein
akkordischen Stücken (»Harfenpräludium«) gibt es sonatenartige oder konzertierende
86
5.3 Die Charakteristika der wichtigsten Suitensätze
Sätze und Tanzsätze (im Kontext von Suiten natürlich nicht) sowie polyphone Formen
(Inventionen).
In Bachs Suite für Violoncello solo G-dur, deren Sätze nachfolgend vorgestellt wer-
den, finden wir den Typus des Harfenpräludiums verwirklicht (siehe Notenbeispiel 5.1).
Akkordbrechungen werden in einer dem Instrument gemäßen Weise vorgetragen. Nach-
dem durch eine barocke Eröffnungskadenz (I-IV-V7 -I über Orgelpunkt) der Tonartrah-
men abgesteckt wurde, beginnen schweifende Modulationen. Die Figurationsformen
kommen den Möglichkeiten des Cellos entgegen. Ein ausladender Orgelpunkt bereitet
den Schluss vor.
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5.3.2 Allemande
Die Allemande (frz. »deutscher Tanz«) ist in ruhigem 4/4-Takt gehalten, meist mit
einem kurzen Auftakt versehen. Sie verkörpert zu Beginn der Suiten-Satzfolge den
Schreittanz. Mattheson nennt sie »eine gebrochene, ernsthafte und wohl ausgearbeitete
Harmonie, welche das Bild eines zufriedenen Gemüths trägt, das sich an guter Ordnung
und Ruhe ergötzt.«1
Die Allemande aus Bachs französischer Suite E-dur (Notenbeispiel 5.2 auf der nächs-
ten Seite) zeigt eine für diesen Tanz typische Zweiphrasenform. Ein Hauptgedanke aus
zwei Motiven (T. 1., Zzt. 1 und 2), ihrer Wiederholung, Fortspinnung und Kadenzierung
in T. 4 ist als barocker Fortspinnungstypus gestaltet. Er klingt zu Beginn des zweiten
Teils an (in der Oberquinttonart), nicht jedoch bei der Restaurierung der Tonika in
1 Ebd., S. 232.
87
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
T. 24. Zuvor wurden Nebentonarten berührt. Der Anfangsteil (A, T. 1-12) zeigt nach
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Etablierung der Tonart der V neue Motive.
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Allemande
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5.3.3 Courante
Für die Courante (frz. »schneller Tanz«) ist ein schnelles, auftaktiges Dreiermetrum
charakteristisch (siehe Notenbeispiel 5.3 auf der nächsten Seite). Sie steht nach der
schreitenden Allemande für den Springtanz. Mattheson charakterisiert sie wie folgt:
Wenn die Courante getanzt werden soll, findet sie ihre unumstoßliche Regel,
die der Componist genau in Acht nehmen muß [. . . ]. Kein andrer Tact, als
der Dreihalbe 3/2 hat dabey Statt.
§122. Soll aber diese Melodie dem Clavier dienen, so wird ihr mehr Freiheit
vergönnet; auf der Geige (die Viol da Gamba nicht ausgeschlossen) hat sie
88
5.3 Die Charakteristika der wichtigsten Suitensätze
Courante
6
11
15
21
5.3.4 Sarabande
Die Sarabande kommt aus Spanien. Dort war sie im 16. Jahrhundert zunächst ein
schneller, wild erotischer Tanz. Daraus wurde im Laufe der Zeit ein langsamer, im
Dreiertakt gehaltener, stilisierter Tanz. Charakteristisch ist die Betonung der zweiten
Zählzeit des Dreiermetrums.
Die Erinnerung an die Wurzeln in Spanien ist noch in Beethovens Ouvertüre zur Egmont-
Schauspielmusik erkennbar. Dort exponiert das Seitenthema den für die Sarabande typischen
Rhythmus.
Auch die Sarabande in Bachs G-dur-Suite (Notenbeispiel 5.4 auf der nächsten Seite)
zeigt das Rhythmusmodell Viertel – punktierte Viertel – Achtel. Der Satz ist regelmäßig
gegliedert (2x (4+4) Takte). Es handelt sich um eine zweiteilige Liedform.
89
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
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Sarabande
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In Bachs Suite G-dur für Violoncello solo finden wir als eingeschobene Tänze ein
Paar aus Menuett I und II, letzteres als Minore-Satz im gleichnamigen Moll gehalten
(siehe Notenbeispiel 5.5 auf der nächsten Seite). Das Menuett I wird anschließend
da capo ohne die Wiederholungen vorgetragen, so dass sich eine ternäre Form ABA
ergibt. Menuett I ist in einer Zweiphrasenform gehalten. Eine Modulationsperiode
wird in der Tonart der V wiederaufgegriffen und fortgesponnen. Der Aufbau ist
wieder regelmäßig (viertaktige Phrasen, anfangs eine achttaktige Periode). Der letzte
Achttakter berührt wie oft in Suitensätzen die Region der IV. Das Minore-Menuett
II beginnt mit einer einfachen Wiederholungsperiode. Oft sind die zweiten Menuette
(allgemein die Mittelsätze von Einlagentänzen in ABA-Form) schlichter gearbeitet als
die vorangehenden.
Charles Rosen zählt die Anordnung von Menuet I – Menuett II oder auch Menuett –
Trio zu den »ternary forms«, den dreiteiligen Formen.
Auf weitere Modetänze der Bach-Zeit (Gavotte, Bourrée, Air etc.) sei hier nicht
eingegangen.
5.3.6 Gigue
Die Gigue war als Jig ursprünglich ein irisches Tanzlied (altfranz. giguer, tanzen oder
mittelengl. gige, Geige). Im Spätbarock ist die Gigue ein im schnellen Dreier- oder
Sechsertakt gehaltener Tanz. Oft ist sie fugiert angelegt; im zweiten Teil sehen wir dann
häufig eine Umkehrung des fugierten Soggetto. Mattheson charakterisiert die Gigue
wie folgt:
90
5.4 Die Frühgeschichte der Sonate: die barocke Sonata
Menuetto I
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Menuetto I da capo
Notenbeispiel 5.5: Bach, Suite für Violoncello solo G-dur, Menuett I und II
mehrenteils auf eine fließende und keine ungestüme Art: etwa wie der
glattfortschießende Strompfeil eines Bachs.1
Die zweitstimmige Gigue aus Bachs französischer Suite E-dur zeigt den für viele
Sätze dieser Gattung typischen kanonisch-imitatorischen Einsatz der Stimmen (hier
zwei Stimmen in der für diese Gattung gebräuchlichen Oktavbeantwortung, siehe
Notenbeispiel 5.6 auf der nächsten Seite). Das Soggetto wird zu Beginn des zweiten Teils
in freier Form umgekehrt – ebenfalls eine oft geübte Praxis. Einige markante Gedanken
werden im zweiten Abschnitt repliziert; es handelt sich um eine Zweiphrasenform.
91
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
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5.4 Die Frühgeschichte der Sonate: die barocke Sonata
• Die Sonata da camera (Kammersonate), zum Gebrauch bei Hofe, stellt nichts
anderes als eine der Suite verwandte Folge von Tanzsätzen dar.
Erstmals werden die beiden Begriffe in Merulas Canzoni overo sonate concertate per
chiesa e camera im Jahre 1637 erwähnt.1 Hauptvertreter der Gattung ist Arcangelo Corelli
(1653–1713). Von Italien her breitete sich die Sonate in ganz Europa aus. Zu Beginn des
18. Jahrhunderts finden wir drei Besetzungsformen:
1. Sonaten für ein Soloinstrument mit Continuobegleitung,
2. seltener unbegleitete Solosonaten (Bach!)
3. und die zentrale Gattung der Triosonate.
Die Triosonate verdankt ihre Bezeichnung den drei Satzschichten, aus denen sie
besteht:
• den zwei Oberstimmen
• und dem Basso Continuo.
In der gängigen Aufführungspraxis der Gegenwart wird der Continuopart von zwei Spie-
lern (Bassinstrument und Akkordinstrument) ausgeführt. Insofern sind in einer Triosonate
vier Spieler beschäftigt. Historische Quellen sprechen aber zumeist von der Ausführung des
Continuoparts durch Violone (Violoncello) oder Cembalo.2 Auch konnten jede Stimme von
mehreren Spieler ausgeführt werden, wie Johann Mattheson berichtet.3
Charakteristisch ist das Satzbild des Triosonatensatzes, bestehend aus den beiden
Oberstimmen, welche idententische Motivik/Thematik aufweisen und einer davon
abgesetzten Basso-continuo-Stimme, welche sich nur selten an der Motivik der Ober-
stimmen beteiligt.4
93
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
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Preludio, Largo
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Notenbeispiel 5.7: Corelli, Sonata da camera op. 4 Nr. 9, Preludio
Der zweite Satz (Notenbeispiel 5.8 auf der nächsten Seite) ist nun tatsächlich eine
Courante (Corrente). Über einem selbständig durchgehenden Generalbass entwickelt
sich ein fugierend-imitierender Satz in den Oberstimmen (tonale Beantwortung des
Soggettos, das insgesamt dreimal erklingt). Der Satz ist komplementärrhythmisch1 in
zunächst homogener Polyphonie gehalten. In T. 7 tritt ein neuer Gedanke in der ersten
Violine auf, nach wie vor in der Grundtonart. Die zweite Violine erhält eine komplemen-
tärrhythmisch gehaltene Gegenstimme; der Satz wird nun eher heterogen-polyphon.
Das Dreiklangselement des ersten Soggettos wird anschließend fortgesponnen, bei
Hinwendung zur Oberquinttonart. Wir sehen die typische Faktur der Triosonate: zwei
konzertierende Stimmen über selbständigem Continuo. »Konzertieren« leitet sich vom
lateinischen concertare ab und bedeutet hier eher »zusammenwirken« als »Wetteifern«.
Dieses Zusammenwirken zweier polyphoner (also prinzipiell gleichrangiger) Stimmen
bewirkt vor allem die im Fortspinnungsteil durchgängig vorhandene Komplementär-
rhythmik.
Der dritte Satz der Sonate (Notenbeispiel 5.9 auf der nächsten Seite) ist kein Tanzsatz,
sondern ein langsamer, einteiliger Satz, in kantabler, fast vokaler Prägung. Die fallenden
Tonleitern folgen einem simplen und bewährten kontrapunktischen Strickmuster.
Der vierte Satz (Notenbeispiel 5.10 auf Seite 96) ist hier keine Gigue, sondern eine
Gavotte. Wir sehen zu Beginn drei Einfälle, zunächst ein enggeführtes Motiv, den
Charakter der Gavotte ausprägend. Es folgt ein Klangflächenabschnitt, homophon
gesetzt, sequenziert. Die dritte Gestaltungsform ist ein Oberstimmenduo, ebenfalls eher
homophon gehalten.
Während die Sonata da camera eine große Nähe zur Suite zeigt, ist die Sonata da chiesa
freier. Sie ist zumeist viersätzig:
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5.4 Die Frühgeschichte der Sonate: die barocke Sonata
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Notenbeispiel 5.9: Corelli, Sonata da camera op. 4 Nr. 9, Grave
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5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
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Tempo di Gavotta
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Die einzelnen Sätze sind in sich einheitlich bezüglich Affekt und verwendetem Mo-
tivmaterial. Erst die Klassik kennt mehrere Themen mit verschiedenen, zum Teil
kontrastierenden Affekten innerhalb eines Satzes. Der Tonartplan der Sätze gleicht dem
des Suitensatzes:
Grundtonart – Modulation zur sekundären Tonart (in Dur V, in Moll meist III,
seltener v) – ggf. schweifende Modulationen – Rückkehr zur Grundtonart.
Der erste Satz einer Sonata da chiesa (so auch im Notenbeispiel 5.11 auf der nächsten
Seite, Corellis op. 3 Nr. 5) ist oft zweiteilig. Einem langsamen Beginn (hier: Grave), eher
homophon gehalten, häufig durch punktierte Rhythmen geprägt, folgt ein imitatorisch-
polyphoner Satz, gern in der typischen Faktur der Triosonate gesetzt, nämlich einem
Oberstimmenduo mit selbständigem Generalbass.
Der zweite Satz einer Sonata da chiesa kontrastiert demgegenüber durch ein schnelles
Tempo und ist meist fugiert. In Corellis op. 3 Nr. 5 (Notenbeispiel 5.12) sehen wir zu
Beginn eine zweistimmige Fugenexposition, gefolgt von einem Zwischenspiel. Das Con-
tinuo beteiligt sich nicht an der Fugenarbeit. Es liegt also wieder die charakteristische
Triosonatenfaktur vor. Betrachtet man den ersten Satz (langsam, punktierte Rhythmen)
und den zweiten (schnell, fugiert) zusammen, so erinnert dies an das Modell der
französischen Ouvertüre (vergl. Kapitel 5.5.2 auf Seite 99).
Auch der dritte, nun wieder langsame Satz, hier unter Wechsel in das Dreiermetrum,
zeigt erneut das Dessin der Triosonate. Bei einheitlichem Affekt sehen wir abwechselnd
homophon-ariose und polyphone Fakturen (siehe Notenbeispiel 5.13 auf der nächsten
Seite). Man kann so etwas wie ein Motiv (Oberstimmen in T. 1) und gewisse Ableitungen
davon erkennen (Spiegelung, Variantenbildung).
96
5.4 Die Frühgeschichte der Sonate: die barocke Sonata
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97
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
Der vierte Satz ist stets ein schneller Kehraus, oft ein Tanz. Hier (Notenbeispiel 5.14)
ist es eine fugierte Gigue. Nun beteiligen sich alle drei Partien am Fugato. Typisch für
die Sonate ist der zweistimmige Beginn des Fugato: Das Continuo begleitet schon den
ersten Einsatz des fugierten Soggettos.
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Notenbeispiel 5.14: Corelli, Sonata da chiesa op. 3 Nr. 5, 4. Satz, Gigue
Französische Ouvertüre: Seit Lully (ca. 1660), gekennzeichnet durch die Satzfolge
langsam – schnell (fugiert) – langsam; die langsamen Teile sind typischerweise
durch punktierte Rhythmen geprägt. In Deutschland fungiert die französische
Ouvertüre als Einleitungssatz der barocke Orchestersuite.
Italienische Opernsinfonia: Seit Alessandro Scarlatti (ca. 1690) Einleitungsstück in der
italienischen Oper, gekennzeichnet durch die Satzfolge schnell (oft entwickelte
Dreiphrasenform oder dergl.) – langsam – schnell (Tanzcharakter). In Deutschland
wurde die italienische Opernsinfonia das Vorbild für die frühklassische Sinfonia
und damit auch für die klassisch-romantische Sinfonie.
1 Dahlhaus et al. (Hrsg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 3, Sp. 257ff.
98
5.5 Die Ouvertüre
Hinsichtlich der Opernsinfonia bzw. Opernouvertüre folgen erst die Klassiker mit
einigen Jahren Verspätung der von Johann Mattheson in seinem Vollkommenen Cappell-
meister1 1739 aufgestellten Forderung, die Ouvertüre solle die Oper inhaltlich vorberei-
ten.2
Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Ouvertüre einerseits zu einer von der Oper
unabhängigen Gattung (Konzert- und Programmouvertüre). Im Musiktheater wie-
derum entstehen neben der neuen Gattung der Potpourri-Ouvertüre freie Formen des
»Vorspiels« (Musikdrama).
99
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
Die Potpourri-Ouvertüre
In der Operette und im Musical ist die Gattung der Potpourri-Ouvertüre verbreitet. Dort
werden die zündendsten »Nummern« der Operette – den Erwartungen des Publikums
gerecht werdend – vorweg zitiert. Es handelt sich um eine reine Reihungsform.
Ein prominentes Beispiel für eine solche Potpourri-Ouvertüre bildet die Ouvertüre zu Johann
Strauß’ Fledermaus. Sie stellt nichts anderes als eine Abfolge der »Schlager« der Operette dar,
verbunden durch einen einleitenden Abschnitt und kurze, wenn man so will themenfreie
Passagen. Diese sind untereinander in lockerer Form motivisch verbunden. Der Tonartenplan
ist keineswegs sonatensatzartig angelegt: A–D–G–e–E–A. E-moll wirkt in diesem Zusammen
wie eine Terzverwandte der [VII, nicht wie die v von A-dur. Die Abschnitte in D-dur und G-dur
werden allerdings am Ende in der Haupttonart A-dur rekapituliert, so dass man insofern den
Eindruck einer Reprise gewinnen kann, was zusammen mit einer gewissen Motiveinheitlichkeit
der Rahmenteile dem Eindruck einer Beliebigkeit der Reihung entgegenwirkt. Dabei ist die
Reprise des »Walzers« sicher auch dem Umstand geschuldet, dass Strauß die Popularität dieser
»Nummer« aus der Operette vorausgesehen haben wird.
1 Dahlhaus et al. (Hrsg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 3, Sp. 258.
100
5.5 Die Ouvertüre
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Notenbeispiel 5.15: J. S. Bach, Ouvertüre Nr. 3 D-dur, Einleitung, fugierter und konzer-
tierender Teil
101
5 Die Suite, die barocke Sonata und die Ouvertüre
Den Aufzügen seiner Musikdramen stellt Wagner freie, fantasieartige Vorspiele voran,
denen bisweilen eine gewisse Nähe zur Potpourri-Ouvertüre innewohnen kann, insofern
als Themen oder Leitmotive aus den Opern in ihnen zitiert werden (am deutlichsten
im Vorspiel zum ersten Aufzug der Meistersinger).
Die Vorspiele führen in den Inhalt des folgenden Aktes ein, diejenigen zum ersten
Aufzug oft in den Inhalt des gesamten Dramas (so beispielsweise in Tristan, Meistersinger
und Parsifal).
Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners Walküre aus der Ring-Tetralogie
versinnbildlicht durch deutliche Tonmalerei das Irren des Protagonisten (Sigmund) durch eine
stürmische Nacht. Das Satzbild erinnert merklich an Franz Schuberts Erlkönig. Wir hören die
Schilderung eines Gewitters (Donner, Blitze). Bezugnehmend auf den vorangegangenen Teil
der Tetralogie, (Rheingold) erklingt das Leitmotiv des Gottes Thor (bei Wagner »Donner«), eine
Dreiklangs-Fanfare.1 Das Vorspiel führt in einer Art musikalischem Kino die Handlung vor
Beginn der ersten Szene vor Augen und mündet konsequenterweise in den Beginn dieser Szene
(Sigmunds Ausruf »Wes Herd dies auch sei, hier muss ich rasten«). Die Form des Satzes folgt
einer dramatischen Absicht, weniger einer innermusikalischen Logik.
1 Während der Zeit der Nazi-Diktatur war dies eine beliebtes Tonfolge für Autohupen.
102
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Die Sonata da camera ist äußerlich stärker der Suitensatzform verpflichtet als die Sonata
da chiesa. Beide Gattungen verschwinden mit dem Ende des Generalbasszeitalters. In
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im gesamten 19. Jahrhundert und bis in das
20. Jahrhundert hinein dominiert die klassische Sonatenform die Instrumentalmusik.
Dies gilt hinsichtlich der Satzfolge wie auch der Form der einzelnen Sätze, die oft als
Sonatenhauptsatzform bezeichnet wird. Die Sonatenhauptsatzform als zentrales Form-
modell der klassisch-romantischen Eopoche ist von Anfang an als von der Solo- oder
Kammermusikbesetzung losgelöst zu betrachten. Sie prägt ebenso die Symphonik, zu-
mal die Symphonie die Wiener Klassik ihre Wurzeln in der italienischen Opernsinfonia
hat. Sie dringt auch in das Konzert der klassisch-romantischen Epoche und weitere
Gattungen ein, bis in die Vokalmusik.
An dritter, später auch zweiter Position kann ein Menuett stehen.2 Häufig ist dies
in Symphonien und der Kammermusik (Streichquartett) der Fall, auch in Beethovens
Klaviersonaten. Bereits Haydn in seinen Streichquartetten op. 1 und vor allem op. 33
ersetzt das Menuett durch ein Scherzo, das häufig an die zweite Stelle im viersätzigen
Sonatenzyklus rückt.
Der langsame Satz einer Sonate (bzw. Sinfonie usw.) steht in verwandten Tonarten
wie der
1 Die Dreisätzigkeit entsteht dadurch, dass der einleitende, langsame Satz der Sonata da chiesa entfällt. Er
war zumeist im Satztyp durezze e ligature gehalten, einer nach der Barockepoche nur noch in Spezialfäl-
len anzutreffenden, von Vorhalten und Dissonanzen durchsetzen Schreibweise. Vergl. Schmidt-Beste:
Die Sonate – Geschichte, Formen, Ästhetik, S. 59.
2 Dies kann als Relikt aus der Anfangszeit der Sonatengattung (Sonata da camera mit ihrem suitenartigen
Aufbau) betrachtet werden.
103
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Im 19. Jahrhundert steht der letzte Satz eines Moll-Werkes gerne in Dur (selten
umgekehrt wie im Falle des Anfangs des Finales von Haydns Kaiserquartett). Außerdem
wird die Tonartenfolge freier.
Von jeher finden sich auch abweichende Satzfolgen:
• Manche Sonaten beginnen mit einem Variationssatz oder einem langsamen Satz.
• Der späte Beethoven gestaltet viele Sonaten auch hinsichtlich der Satzfolge indivi-
duell. Auffallend ist die Zweisätzigkeit seiner letzten Klaviersonate (op. 111).
• Schon Haydn experimentiert mit Fugen als Sonatensatz (Quartette op. 17); ebenso
Mozart, der mittlere und späte Beethoven sowie Bruckner.
• Seit Beethovens 9. Symphonie werden bisweilen Vokalstimmen im Finale einbezo-
gen.
Letzteres stellen zwei Strategien zur Lösung des Finalpoblems dar: wie kann das
ursprünglich als heiterer Kehraus konzipierte Finale das Hauptgewicht im Zyklus
erhalten? In der neunten Symphonie löst Beethoven dies durch den Einsatz der mensch-
lichen Stimme. Die ersten drei Sätze erscheinen als Vorbereitung auf die Vertonung der
Schillerschen Ode an die Freude. Das 19. Jahrhundert greift dies auf, indem der Finalsatz
besonders umfangreich und komplex angelegt wird, durch den Einsatz kontrapunk-
tischer Formen, z. B. der Fuge bei Bruckner, der Passacaglia bei Brahms oder indem
wiederum Vokalpartien (Mahler) hinzutreten (Mahler).
In der Mitte des 19. Jahrhunderts abstrahiert Adolf Bernhard Marx1 das bis heute tradier-
te Formmodell für erste Sätze von Sonaten, Symphonien und verwandten Gattungen
aus dem einschlägigen Schaffen Beethovens. Dieses Modell heißt Sonatenhauptsatzform,
Sonatensatzform oder (etwas unglücklich) Sonatenform. Weil an die Gegebenheiten des
Beethovenschen Schaffens angepasst, versagt es oft bei früheren Werken (Haydn, Mo-
zart) und auch bei manchen Spielarten des Sonaten- bzw. Symphonieschaffens im
19. Jahrhundert.
Die Sonatenhauptsatzform ist ein Modell, das nicht nur den Kopfsatz einer Sonate
oder Symphonie prägen kann, sondern auch alle übrigen Sätze2 , ja sogar in scheinbar
fremde Gattungen eindringen kann, denn auch der Umriss von Arien oder ganzen
Opernszenen kann der Architektur der Sonatenhauptsatzform folgen.
Der Grundriss der Sonatenhauptsatzform entspricht demjenigen der Dreiphrasen-
form, wie die folgende Tabelle zeigt:
Formabschnitt Tonartenplan Funktion
Exposition Bewegung von der Grundtonart zur se- Aufstellung (des Materials und
kundären Tonart des Tonartkonfliktes)
Durchführung schweifende Modulationen Verarbeitung (motivisch-
thematische Arbeit)
Reprise Reprise des thematischen Verlaufs der Lösung des Tonartenkonflikts
Exposition, jedoch unter Verharren in
der Grundtonart
104
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
Der Hauptsatz
Der Hauptsatz steht in der Tonika. Häufig ist er in seiner Ausdehnung identisch mit
einem Thema. Der Hauptsatz kann in diesem (häufigen) Fall dann auch als »erstes
1 Der Begriff Hauptsatz ist in der Formenlehre – in zeitgenössischen Quellen wie in der aktuell verwen-
deten Terminologie – eingebürgert, wohingegen der Begriff Nebensatz so gut wie ungebräuchlich ist,
und das mit Recht. Der Gegenbegriff zu Hauptsatz ist – Seitensatz!
2 Ein Beispiel für einen Satz als Syntaxmodell für die Überleitung findet sich im Kopfsatz von Beethovens
Sturm-Sonate d-moll op. 31 Nr. 2.
3 Auch diesbezüglich war das Vorbild Beethoven prägend, denn die von ihm bevorzugte Syntaxform,
der »Satz«, zeigt bereits ein Moment des Verarbeitens (Idee – Wiederholung – Verarbeitung) und ist,
weil meist harmonisch offen, auf Dynamik, Fortsetzung, eben auf weitere Verarbeitung hin angelegt.
4 In Spezialfällen (Dreitonartexposition, siehe 6.3.1 auf Seite 125) kann dort eine dritte Tonartebene erreicht
oder/und ein neues Thema eingeführt werden.
105
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Thema« bzw. »Hauptthema« bezeichnet werden. Dieses Thema kann durchaus halb-
schlüssig enden (beispielsweise dann, wenn ihm das Syntaxmodell Satz zugrunde liegt)
und im folgenden Formabschnitt aufgegriffen oder fortgeführt werden. An ein erstes
Thema kann sich auch ein fortspinnender oder verarbeitender Anhang anschließen,
bisweilen auch ein weiteres Thema. Dann, also wenn im Hauptsatz mehrere Themen
oder mehrere unterschiedliche thematische Gedanken auftreten, kann man von einer
Themengruppe oder von einem Themenkomplex sprechen.
Der Hauptsatz ist durch tonale Einheitlichkeit gekennzeichnet (Tonika-Abschnitt der
Exposition). Wenn die Tonart deutlich und ohne Rückkehr verlassen wurde, ist bereits
der Formabschnitt Überleitung erreicht. Das Ende des Hauptsatzes ist daran erkennbar,
dass er meistens durch eine deutliche, kadenziell kräftigte Zäsur begrenzt ist (Ganz-
oder Halbschluss). Die im 19. Jahrhundert zunehmende Komplexität der Harmonik
bringt es mit sich, dass auch im Hauptsatz tendenziell Ausweichungen anzutreffen sind;
dann ist der Hauptsatz hinsichtlich der harmonischen Stabilität jedoch noch graduell
vom folgenden, modulierenden Abschnitt abgestuft.1
Die Überleitung
Die Überleitung vollzieht die Modulation in die sekundäre Tonart. Diese ist in Dur-
Sätzen die Tonart der V (Oberquinttonart), in Moll-Sätzen meist die Tonart der III,
seltener die Molltonart der Oberquinte (v). Der mittlere und späte Beethoven lässt das
Seitenthema nicht selten in einer Medianttonart erscheinen, eine Praxis, die sich im
19. Jahrhundert ausweitet.
Die Überleitungen in den Sonaten der Wiener Klassiker und ihrer Nachfolger zeigen
verschiedene Bauweisen:
1. Motivischer Kontrast: In frühklassischen Sonaten- oder Symphoniesätzen wird
der modulierende Abschnitt nach dem Hauptsatz oft durch neues Material einge-
leitet. Dies hat meist dekorativ-figurativen Charakter und deutet auf diese Weise
an, dass eine thematisch untergeordnete Episode beginnt. Dieses Verfahren ist
für Haydn und Mozart typisch. Die Musik des frühen und mittleren Mozart ist
durch die Fülle seiner Einfälle gekennzeichnet.
2. Verarbeitung von Motiven des Hauptthemas: Beethoven greift in der Überlei-
tung meist auf bereits bekanntes Material zurück, einmal, weil er im Gegensatz
zu Mozart nicht über ein Füllhorn von Einfällen verfügte, zum anderen in kom-
positorischer Absicht (Herstellung von Motiveinheitlichkeit und Sparsamkeit der
aufgewendeten Mittel).2
Wenn man in der Überleitung bereits eine Verarbeitung des Hauptthemas erken-
nen kann, kann es angebracht sein, statt von Überleitung vom Entwicklungsteil des
Hauptsatzes zu sprechen.3
3. angegangene Wiederholung und aufgelöster Nachsatz:4 Häufig setzt die Über-
leitung mit dem Anfang des soeben erklungenen Hauptthemas ein (erzeugt also
1 Dies ist ein Moment dessen, was zu einer zunehmend parataktischen Anlange der Sonatenhauptsatz-
form führt.
2 Eine solche Motiv- oder zumindest Materialeinheitlichkeit und Ökonomie kann man auch bei Mozart
entdecken; sie ist jedoch im Fall seiner Musik schwer intersubjektiv überprüfbar.
3 In diesem Falle zählt die Überleitung eher zum Hauptsatz, so dass sich eine Dreiteiligkeit der Ex-
position ergibt: Hauptsatz mit Entwicklungsteil (modulierend) – Seitensatz – Schlussgruppe (oder
Entwicklungsteil des Seitenstzes oder drittes Thema).
4 Diergarten et al.: Formenlehre, S. 66.
106
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
den Eindruck einer Wiederholung desselben), bricht jedoch dann bald den bekann-
ten Ablauf des Hauptthemas ab, um zumindest harmonisch, oft jedoch auch
thematisch einen neuen Weg einzuschlagen, sprich: die Funktion der Überleitung
anzugehen. Für dieses Verfahren hat sich der Begriff angegangene Wiederholung
(des Themas nämlich) eingebürgert.
Damit eng verwand ist der aufgelöste Nachsatz: Hier besteht das Hauptthema
aus dem Vordersatz einer Periode. Der Nachsatz wird jedoch nicht vollständig
ausgeführt, sondern mehr oder weniger schnell wird wiederum die Modulation
in die sekundäre Tonart begonnen1 und ggf. zugleich eine veränderte Motivik
eingeführt.
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Notenbeispiel 6.1: Mozart, Sonate F-dur KV 332, Anfang
Der Anfang von Beethovens erster Klaviersonate f-moll op. 2 Nr. 1 (Notenbeispiel 6.2
auf der nächsten Seite scheint die Strategie des abgebrochenen Nachsatzes zu verfolgen.
Allerdings wird das Kopfmotiv in der vermollten Oberquinte und in einem anderen
Arrangement (Unter- statt Oberstimme) zitiert. Zusammen mit den folgenden Takten
wirkt dies eher wie eine Motivverarbeitung, so dass hier die zweite der oben erwähnten
Strategien (Verarbeitung des Hauptthemas in der Überleitung) diagnostizieren darf.
1 Häufiger als eine direkt angegangene Modulation ist der Fall, dass die Haupttonart zunächst desta-
blisiert wird. Dies kann eine ganze Weile andauern, bevor die eigentliche Modulation, nämlich die
Etablierung der neuen Tonart, eintritt.
107
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
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V der Seitensatztonart As - dur
Ein Beispiel für die Strategie der Angegangenen Wiederholung bildet der Anfang von
Mozarts Klaviersonate B-dur KV 333 (Notenbeispiel 6.3 auf der nächsten Seite). Dort ist
das Hauptthema satzartig angelegt (eine Kleinperiode bildet die Präsentationsphrase,
in der Fortsetzungsphrase werden die Sechzehntelfiguren und der Achtelvorhalt des
Anfang verarbeitet). Der Satz endet allerdings geschlossen mit einem perfekten Ganz-
schluss. Anschließend wird er scheinbar wiederholt, jedoch unmittelbar nach Erklingen
des prägnanten Anfangstaktes harmonisch und motivisch umgebogen.
Das Verfahren des aufgelösten Nachsatzes zeigt beispielsweise der Anfang von
Mozarts Symphonie C-dur KV 551 (Notenbeispiel 6.4 auf Seite 110), der Jupitersymphonie.
Auch dort wird eine Kleinperiode durch einen Entwicklungsteil ergänzt, so dass sich
ein halbschlüssig endender Satz ergibt, der somit als Vordersatz einer großen Periode
aufgefasst werden kann. Tatsächlich kehrt unmittelbar der Anfang dieses Vordersatzes
wieder (in veränderter Instrumentation), so dass man den Einsatz des Nachsatzes
vermuten wird. Dieser Nachsatz wird jedoch bald abgebrochen.
Für den Modulationsgang von Dursätzen ist es typisch, dass die Überleitung mit
einem Halbschluss in der Oberquinttonart endet (V/V, auch »Doppeldominante« der
Ausgangstonart). Nicht selten findet sich jedoch die Strategie des bifocal close (»doppelte
Optik«):1 Dabei wird am Ende der Überleitung ein Halbschluss in der Grundtonart
ausgeführt (V), der
• in der Exposition in der Oberquinttonart weitergeführt wird (die V wird neue I),
• in der Reprise jedoch im Quintfall in die I weitergeführt wird (V – Quintfall in
die alte I), damit also in der Haupttonart verbleibt.
Mozart bedient sich gerne dieser Strategie des bifocal close, beispielsweise im Kopfsatz
der frühen Klaviersonate G-dur KV 282 (Notenbeispiel 6.5 auf Seite 111).
Der Begriff Überleitung ist festgelegt auf den Formabschnitt in der Sonatenform. Man
sollte ihn nie als allgemeinen Begriff im Kontext von Analysen verwenden, weil sich
immer ein Begriff finden lässt, der den in Frage stehenden Sachverhalt präziserer fasst.
108
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
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Der Seitensatz
In der sekundären Tonart steht anschließend der Seitensatz, der wie der Hauptsatz
zumeist aus nur einem Thema besteht, das dann also auch als zweites Thema oder auch
Seitenthema angesprochen werden kann. Selten gibt es im Seitensatz einen Themen-
komplex oder eine Themengruppe. Der Eintritt des Seitensatzes (also die Abgrenzung
zur Überleitung) definiert sich durch das Erreichen der sekundären Tonart. Typischer-
weise ereignet sich zuvor eine deutliche Zäsur und Kadenzierung. Unabhängig vom
thematisch-motivischen Geschehen ist der Seitensatz also genau dann anzusetzen,
wenn die sekundäre Tonart etabliert ist.1
Sehr häufig sind Seitenthemen lockerer gearbeitet als Hauptthemen, gerade im
Falle Beethovens brechen sie häufig ab und gehen in eine lockere Fügung über, die
virtuose Figuren oder eine breite Kadenzierung (häufig IV–viio –V–I) zeigt. Das Ende
des Seitensatzes (also der Einsatz der Schlussgruppe) gerade in solchen Fällen (aber
im Grunde generell) dann anzusetzen, wenn eine deutliche Ganzschlusskadenz in der
sekundären Tonart erreicht ist. Man beachte:
1 Bei Haydn und bisweilen Beethoven (z. B. im Kopfsatz seiner Sonate Es-dur op. 81a Les Adieux) beginnt
der Seitensatz thematisch indifferent, im Falle der monothematischen Sontenhauptsatzform Haydns
mit der Wiederkehr des Hauptthemas. Es wäre verfehlt, eine im weiteren Verlauf der Exposition
erscheinende, thematisch neue oder stärkere Gestalt als Seitenthema zu betrachten. Die Funktion
»Seitensatz« ist mit dem Modulationsgang verknüpft.)
109
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
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6.2 Die Sonatenhauptsatzform
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Notenbeispiel 6.5: Mozart, Klaviersonate G-dur KV 383, 1. Satz
111
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
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Notenbeispiel 6.6: Mozart, Streichquartett G-dur KV 387, Haupt- und Seitenthema des
ersten Satzes
112
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
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113
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Die Schlussgruppe
An den Seitensatz bzw. das Seitenthema schließt sich zumeist die Schlussgruppe an,
bisweilen mit einem eigenen Thema (seltener mehreren), das dann häufig syntaktisch
unvollständig ist (z. B. als Teilperiode) und von daher den bis dorthin exponierten
Themen untergeordnet erscheint. Typischerweise ist die Schlussgruppe locker gefügt
(wie schon die Überleitung und nciht selten auch der Seitensatz). Neben halben Themen
enthält sie gegen Ende zumeist gehäuft Signale der Schlussbildung, also vor allem
Schlusswendungen und Kadenzen.
Das Vorkommen einer thematischen Episode an Ende der Schlussgruppe ist vor
allem für Beethoven charakteristisch. Er stellt an das Ende seiner Expositionen oft
ein weiteres Thema, bisweilen Epilogthema genannt, das häufig Merkmale des Haupt-
und Seitenthemas kombiniert und sie damit einer ersten Synthese zuführt. Ein solches
Epilog- oder Synthesethema hat von seiner Festigkeit und Ausdehnung her aber
meist den Charakter eines untergeordneten, vielleicht sogar »halben« Themas. Im
19. Jahrhundert (Brahms, Dvorák) findet sich an dieser Stelle oft ein regelrechtes drittes
Thema, oft in einer dritten Tonart. Dann hendelt es sich um eine Dreitonartenexposition
(vergl. 6.3.1 auf Seite 125, z. B. indem der Hauptsatz in der Haupttonart, der Seitensatz
in einer Medianttonart und ein drittes Thema in der regelgerechten sekundären Tonart
steht. Bruckner schreibt in seinen Symphonien regelmäßig drei Themenblöcke in drei
Tonartschattierungen.
Ein Epilog- oder Synthesethema findet sich beispielsweise am Ende der Exposition
des Kopfsatzes der bereits des öfteren zitierten Klaviersonate C-dur op. 53 (Waldstein-
Sonate) von Beethoven (Notenbeispiel 6.8 auf der nächsten Seite). Es handelt sich (was
typisch ist) eher um ein halbes als ein vollständiges, ausgewachsenes Thema. Die beiden
Grundmotive des Satzes (Dreiklang und Tonleitergang) werden hier im Sinne einer
(Pseudo-?) Synthese vereinigt.
Bisweilen wird die Schlussgruppe als Coda oder (besser) Expositionscoda bezeichnet.
Dann heißt die einen Satz (nicht die Reprise) beschließende Coda Satzcoda, eine etwas
umständliche Terminologie.
Von einer Schlussgruppe im besten Sinne des Wortes kann man sprechen, wenn
tatsächlich Taktgruppierungen anzutreffen sind, die schließenden Charakter besitzen.
Besonders typisch ist dies für Mozarts Schlussabschnitte. Solche Taktgruppen zei-
gen meist anfangs längere Ausdehnung (4–8 Takte, die Länge halber Perioden), um
anschließend verkürzt zu werden.
Umfasst die Schlussgruppe hingegen nur wenige, kadenzierende Takte, spricht man
gerne (und angemessen) von einem Epilog.
Nota bene: der Terminus Schlussgruppe ist für den Formteil in der Sonatenhaupt-
satzform reserviert. Man verwende ihn keineswegs im Sinne von »irgendetwas, das
schließt«. Anders gesagt: die Exposition in der Sonatenhauptsatzform schließt nicht
mit »einer Schlussgruppe«, sonder mit der Schlussgruppe.
114
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
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Notenbeispiel 6.8: Beethoven, Klaviersonate C-dur op. 53, 1. Satz, Ende der Schluss-
gruppe
1 Beispiel: Klaviersonate F-dur KV 332, 1. Satz, siehe unten Kapitel 6.2.8 auf Seite 123
115
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
• Einführung eines eigenen, neuen Themas, oder sogar gänzliches Ignorieren des in
der Exposition dargestellten Materials. Die Durchführung wird dann mit komplett
eigener Thematik bestritten. Dies findet sich gelegentlich bei Mozart.1
Typisch für die Durchführung in einer Sonatenhauptsatzform ist, dass dort die
Themen gewissen Transformationstechniken unterworfen werden. Charles Rosen nennt
vier wichtige Techniken der Durchführungsarbeit:2
1. Fragmentierung, Zerteilung (von Themen, Phrasen, sogar Motiven), im Falle
Beethovens häufig bis zur regelrechten Dekonstruktion getrieben,
2. Deformation (von Themen, Phrasen, Motiven),
3. Imitation (von Themen oder Thementeilen) und damit Erzeugen einer polyphon-
kontrapunktischen Textur, oft ausgeweitet bis zu regelrechten Fugati oder Fugen,3
4. Erzeugen von Modellen (aus Themen oder Thementeilen), welche modulierend se-
quenziert werden; dies ist die häufigste, in fast jeder Durchführung anzutreffende
Technik.
Das gängigste Sequenzmodell bildet dabei die Quintfallsequenz, seltener trifft
man die Quintanstiegssequenz, selbstverständlich aber andere im 18. Jahrhundert
gängige Sequenzmodelle (Monte, Fonte, Karussel4 oder dergl.) an.
Nicht selten werden in der Durchführung durchaus gerade nicht die Themen aus
dem Haupt- oder Seitensatz verarbeitet, sondern anfangs eher belanglose anmutende
Elemente aus der Überleitung oder der Schlussgruppe. Die Einführung neue Themen
findet sich wie bereits erwähnt oft in Mozarts Sonatensätzen.
Fragen und Aufgaben, die sich bei der Betrachtung und Analyse von Durchführungen
stellen, sind:
116
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
nun ebenfalls in der Grundtonart. Im Falle von Moll-Sätzen, in denen der Seitensatz
in der Exposition in der Paralleltonart (VI) stand, kann das zweite Thema auch in der
Durvariante erscheinen. Die Schlussgruppe verbleibt selbstverständlich ebenfalls in
der Grundtonart. Es kann sich eine Coda anschließen, die in Beethovens mittleren und
späten Sonatenhauptsätzen die Funktion einer zweiten Durchführung annimmt. Dann
werden dort Aspekte der Themen oder des Themenkonflikts beleuchtet, die in der
Durchführung ausgespart waren. Auch tonartlich kann die Coda ein Gegengewicht
zur eigentlichen Durchführung bieten (beispielsweise, indem die Region der IV betont
wird1 ). Stilistisch lässt sich die Durchführungsarbeit in der Coda von derjenigen im
eigentlichen Formteil durchaus unterscheiden; die Coda besitzt meisten den Charakter
eines Epilogs.
Spätestens in Sonatenformen, welche eine gewichtige Coda enthalten, entfällt die
Wiederholung von Durchführung und Reprise. Im Verlauf des 19. Jahrhundert wird
auch die Exposition als unwiederholbar empfunden,2 insbesondere in Expositionen,
die deutlich prozesshaft angelegt sind. Die Form ist komplett durchkomponiert, eine
für das 19. und erst recht 20. Jahrhundert typische Tendenz.
Mozart wiederholt den Ablauf der Exposition gerne wörtlich (soweit der abgewandel-
te Tonartengang dies zulässt). Im 19. Jahrhundert hingegen verspüren die Komponisten
die Notwendigkeit, die Reprise zu modifizieren und damit auf die Ereignisse zu reagie-
ren, die sich in der Durchführung ereignet hatten. Arnold Schönberg forderte, dass die
Themen in der Reprise modifiziert sein müssten, da sie in der Durchführung einige
»Abenteuer« erlebt hätten:
In Dur-Sätzen setzt die Reprise manchmal nicht in der Tonika, sondern der Un-
terquinttonart (»Subdominante«) ein (Transpositionsreprise). Dann kann der gesamte
Modulationsgang der Exposition erhalten bleiben, weil der Seitensatz dann ohne weite-
res Zutun in der Ebene der I erscheint. Bisweilen steht dabei zwar das Hauptthema
noch in der I, die Überleitung jedoch beginnt von der IV aus.
Im Grunde schon bei Haydn, spätestens aber im 19. Jahrhundert dringt jedoch
die Funktion der Durchführung, nämlich die Verarbeitung, mehr und mehr in die
Überleitung, die Schlussgruppe und sogar in thematische Abschnitte ein. Dann wirken
1 Dies steht in der Tradition des barocken Suitensatzes, wo eine Ausweichung in die Unterquinttonart
gegen Ende der Form ebenfalls oft zu beobachten ist.
2 Beethoven lässt erstmals in op. 57 die Wiederholung der Exposition weg.
3 Schönberg: Fundamentals of Musical Composition, S.209f.
117
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
die Termini Überleitung bzw. Schlussgruppe deplatziert, man spricht treffender von
Entwicklungsteil:
Wie gesagt lässt sich die Coda seit Beethoven als zweite Durchführung auffassen,
jedenfalls in Sätzen, in denen der zweite Großabschnitt1 nicht mehr wiederholt wird.
Dann wird in der Coda gerne Material verarbeitet, welches in der eigentlichen Durch-
führung ausgespart wurde.
In Sonatenrondos (vergl. Kapitel 7.3.3) wird in der Coda häufig das Material des
zweiten (die Durchführung vertretenden) Couplets aufgegriffen. In Mendelssohns
frühem Quartett Es-dur op. 12 wird im Kopfsatz die Durchführungsfunktion der Coda
unterstrichen, indem sie genau wie die eigentliche Durchführung beginnt: dort wurde
ein neuer Gedanke in der Tonart der ii eingeführt. Dieser kehrt zu Beginn der Coda
wieder (ebenfalls in f-moll, daher nicht mehr zur Reprise gehörig).
Langsame Einleitung
III. Stehen auf der Dominante bzw. der V des schellen Satzes.
Die Thematik des schnellen Satzes wird meist nicht vorweggenommen. Im Falle
Beethovens lassen sich jedoch oft verborgene Motivbeziehungen aufdecken.
Haydn stellt manchen Kopfsätzen seiner Quartette ein kurzes Motto, eine Art Devise
voran, die das motivische Grundmaterial andeutet (oft nicht mehr als ein die Thematik
des Sonatenhauptsatzes prägendes Intervall umfassend).
Eine langsame Einleitung ist funktional vom folgenden Satz abgegrenzt und zeigt
immer einen Tempowechsel. Ein gemächlicher Beginn erzeugt keineswegs einen eigenen
Formteil »Langsame Einleitung«. Beethovens letzte Klaviersonate c-moll op. 111 beginnt
mit meiner derartigen, funktional klar dreiteiligen, insofern typischen langsamen
Einleitung. Die doppelten Punktierungen zitieren den Stil der französischen Ouvertüre.
Häufig missverstanden wird der Anfang der zweiten Symphonie D-dur von Johannes Brahms..
Der Satz beginnt unmittelbar mit dem Hauptthema, das komplex gegliedert ist und ohne Tempo-
wechsel (nur mit rhythmischer Intensivierung und freilich nach einer deutlichen Kadenzierung)
in seine Verarbeitung übergeht.
1 Die Sonatenhauptsatzform bildet eine Zwei- und Dreiteiligkeit zugleich aus: Sie ist äußerlich zweiteilig,
durch die Unterteilung des zweiten Großabschnitts aber funktional dreiteilig.
118
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
119
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
lichkeit (der neue Gedanke) den Einsatz der Schlussgruppe markiert. Dann jedenfalls
gehen Seitenthema (Seitensatz) und Schlussgruppe ohne Zäsur ineinander über. Meist
jedoch ist es angemessener, einen neuen Formteil dort anzunehmen, wo eine starke
Schlusswendung (zumeist in Gestalt einer harmonischen Zäsur) anzutreffen ist (ein
perfekter Ganzschluss). Dies ist deutlich erst in T. 41 der Fall. Dann allerdings wäre die
Schlussgruppe recht kurz (8 Takte). Diese Probleme der Formanalyse können an dieser
Stelle nicht weiter diskutiert werden.
Der neue Gedanke in T. 33 formt einen viertaktigen Satz, der Nachsatz einer un-
vollständigen, achttaktigen Periode, der wiederholt wird. Es handelt sich also um ein
Themenfragment, das wie gesagt die beiden prägenden Motive Dreiklang (Mannheimer
Rakete) und Sekundgang (Tonleiter) vereint, eine Gepflogenheit, die sich in vielen
Sonaten Beethovens findet1 .
Mit dem hier als Schlussgruppe bezeichneten Abschnitt (T. 41ff.) ist die Exposition
beendet. Die Durchführungseinleitung beginnt in der Tradition des Suitensatzes (Drei-
phrasenform) mit dem Aufgreifen des Erfindungskerns – bzw. hier des Hauptthemas
(in der Paralleltonart As-dur). In T. 56 beginnt der Durchführungskern. Verarbeitet
werden nunmehr nicht die bereits erklungenen Elemente des Hauptthemas, sondern
die des Seitensatzes. Es wird ein Modell aufgestellt, das modulierend sequenziert wird.
Gegen Ende wird die Phrasen- und Motivstruktur mehr und mehr aufgelöst (Fragmen-
tierung, vergl. oben S. 116). Auffallend lang ist der dritte Durchführungsabschnitt, das
»Stehen auf der Dominante«. Hier wird allmählich das bisher wenig präsente zweite
Motiv aus dem Hauptthema (Triolensechzehntel) restauriert.
Die Reprise erfolgt regelgerecht in der Grundtonart f-moll (T. 102). Die Überleitung
wird modifiziert, damit der Seitensatz ebenfalls in der Molltonika eintreten kann. Die
Schlussgruppe erscheint mit Ausnahme der modifizierten Tonart unverändert. Den
Satz beschließt eine kurze, motivisch eher locker gearbeitete, minimalistische Coda.
Hier noch einmal zusammenfassend die Merkmale, die viele Sonatenhauptsätze
Beethovens auszeichnen:
1 . . . und zwar zumeist eindeutig innerhalb der Schlussgruppe, wovon hier wie bereits diskutiert nicht in
dieser Eindeutigkeit die Rede sein kann
120
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
121
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Periode, deren beider Teilsätze ihrerseits satzartig gebaut sind und die um einen zwei-
ten Nachsatz (mit neuer Faktur) äußerlich auf zwölf Takte erweitert ist. Die Überleitung
(T. 13) verarbeitet in der Begleitschicht das Terzintervall sowie zwei weitere Elemente
des Themas: das Vorhaltselement aus T. 3 und den sich dort anschließenden Tonlei-
tergang. Der Seitensatz (T. 25) ist locker gefügt. Nach festem, periodischem Beginn
schließt sich phrasenverschränkt eine Fortspinnung an. Die Elemente des Hauptsatzes
(Terz, Vorhalt, Gang) werden neu angeordnet. Die Begrenzung nach hinten hinaus ist
fließend (insofern lockere Fügung). In T. 42 setzt die hier dreiteilige Schlussgruppe
ein. Zunächst wird ein zweitaktiges Modell aufgestellt und verarbeitet, dann (T. 53)
das charakteristische Achtel-Terzmotiv und schließlich ein knapper, das Element der
Chromatik hervorhebender Schlussgedanke.
Dieser eröffnet auch die Durchführung, in deren Einleitung er zunächst in ein poly-
phones Satzmodell übergeht (vergl. zu den Möglichkeiten der Durchführungseröffnung
Kapitel 6.2.3 auf Seite 114). Im Durchführungskern (T. 82) wird das Thema in der im
Seitensatz vorgefundenen Ausprägung verarbeitet (Erzeugung eines Sequenzmodells).
In der Mitte (T. 102) gewinnt das Achtel-Dreitonmotiv der Schlussgruppe Bedeutung
(Abspaltung eines Elements, Fragmentierung). In der Rückführung (T. 124) wird es in
das Kopfmotiv des Themas umgewandelt (dabei Verharren auf der Dominante).
Die Reprise zeigt wieder eine modifizierte Überleitung ohne Modulation. Beim
Eintritt des Seitensatzes werden diejenigen Elemente von Haydn als verzichtbar emp-
funden und damit ausgespart, welche in der Hauptsatz-Gestalt des Themas bereits auf
der Tonikaebene wiedergekehrt waren. Die viertaktige Kleinperiode entfällt also, der
Seitensatz beginnt direkt mit dem Fortspinnungsteil.
Dies ist für Haydns monothematische Sätze typisch: Elemente, die in der Reprise
bereits in der Grundtonart erklungen waren, entfallen beim Eintritt des Seitensatzes in
der Tonikatonart. Sie wären dort überflüssig, ja störend. Der Auflösung des Tonarten-
konfliktes hinsichtlich aller motivisch-thematischen Elemente wurde bereits Genüge
getan.
Die Schlussgruppe finden wir im Wesentlichen unverändert. Die umfangreiche Coda
bildet in diesem Sonatensatz tatsächlich eine zweite Durchführung. Dies wird dem
Hörer schon daran deutlich, dass sie analog zum Durchführungsbeginn gestaltet ist
(Aufgreifen des dritten Schlussgruppengedankens). Hier wird vor allem das sekundäre
Material verarbeitet: der Hauptgedanke der Überleitung und, wie erwähnt, der die
Schlussgruppe beendende Gedanke.
122
6.2 Die Sonatenhauptsatzform
Der zuletzt skizzierte Typus soll als für Mozart am eigentümlichsten hier am Beispiel
des Kopfsatzes der bekannten Klaviersonate F-dur KV 332 näher untersucht werden.
Der Hauptsatz besteht aus zwei Themen. Das erste ist eine Kontrastperiode, die in-
nerlich um 4 Takte (in kontrastierend polyphon-imitatorischer Satztechnik) erweitert
ist. Wenn man überhaupt so etwas wie eine Motiveinheitlichkeit erkennen kann, dann
wird sie durch das Dreiklangsmotiv begründet, das sich zu Beginn in der Melodie
wie in der Begleitschicht findet. Es schließt sich eine einfachere Periode an, diesmal
äußerlich erweitert. Auch hier mag man den Dreiklang als hintergründig wirksame
Materialgrundlage sehen. Der Satz kontrastiert durch seine homogene Homophonie.
Die Überleitung zeigt ein neues Motiv, das dem bisher aufgestellten Material allenfalls
locker verwandt ist (Dreiklangsbrechung wie im Kopfmotiv). Wir sehen einen viertak-
tigen Periodenvordersatz, also eine unvollständige Periode. Diese wird sequenziert
und anschließend auf Zwei- und Eintaktigkeit verkürzt (Bremswirkung, Zäsur vor
dem Einsatz des Seitensatzes). Dessen Thema zeigt nun wieder vollständige Periodik
in Gestalt einer großen, 16 Takte umfassenden Periode, phrasenverschränkt mit der
Schlussgruppe. Diese enthält einen eigenen, zweitaktigen, charakteristischen Gedanken,
der sequenziert wird und dabei das gleichnamige Moll berührt. Die Phrasenlänge
wird gegen Ende wieder verkürzt. Dies leitet einen neuen Gedanken ein, der sich
als Nachsatz einer Periode (mit Einsatz auf der IV im Takt 5 einer hypothetischen,
achttaktigen Periode) auffassen lässt. Dieses Periodenfragment wird wiederholt und
äußerlich erweitert. Die Schlussgruppe endet mit kadenzierenden Eintaktern.
Bis hierher war erkennbar, dass das erste Thema des Hauptsatzes als lange, struk-
turierte Periode am weitaus komplexesten gebaut ist. Das zweite Hauptsatzthema
erscheint schon simpler. Gegenüber den thematischen Abschnitten sind die sekun-
dären Teile (Überleitung und Schlussgruppe) syntaktisch differenziert, da diese aus
Periodenfragmenten gebaut sind, jene dagegen vollständige Perioden zeigen. Alle
Formabschnitte besitzen eigenes thematisches Material. Motivische Bezüge sind (wenn
überhaupt) nur schwach ausgeprägt, allenfalls in Gestalt einer Materialeinheitlichkeit,
nicht als dezidierte motivische Ableitungen.
Die Durchführung beginnt mit einem eigenen, neuen Thema, einem Satz (der sich
auch als Fortspinnungsperiode auffassen lässt, weil auf der I schließend). Er wird
wiederholt – oder soll man den gesamten 16-Takter als Wiederholungsperiode (mit
zwei satzartigen Teilsätzen) auffassen? Im weiteren Verlauf beschränkt sich die Durch-
führung auf eine Variation des in in der Exposition durchführungsartig-schweifenden
Schlussgruppenthemas.
123
6 Die Sonate und die Sonatenhauptsatzform
Die Reprise zeigt keine nennenswerten Änderungen am Modell der Exposition – von
der Auflösung des Tonartenkontrastes selbstverständlich abgesehen. Zusammenfassend
lässt sich zu Mozarts Sonatenmodell in der hier untersuchten Ausprägung feststellen:
Tabelle 6.1 gibt einen Überblick über die Eigentümlichkeiten des Personalstils der drei
großen Wiener Klassiker, soweit sie die Gestaltung von Sonatenhauptsätzen betreffen.
Es ist zu beachten, dass in den individuellen Werken aller drei Klassiker deutliche
Abweichungen von der hier skizzierten Grundrichtung auftreten. Dies gilt besonders
im Falle Mozarts. Und selbstverständlich hat Haydn keineswegs nur (nicht einmal
überwiegend) monothematische Sonatensätze verfasst.
124
6.3 Erweiterungen des Satzzyklus und der Sonatenhauptsatzform im 19. Jahrhundert
125
7 Die übrigen Sonatensätze
Auf die Form des Tanzsatzes (Menuett) wurde bereits im Zusammenhang der Lied-
formen eingegangen. Nachfolgend sollen nun die beiden Grundtypen klassischer
langsamer Sätze und das klassische Rondo betrachtet werden. Daneben können auch
langsame Sätze in der Sonatenhauptsatzform gehalten sein. Dann sind die sekundären
Abschnitte (Überleitung, Schlussgruppe) oft knapp gehalten, allerdings finden sich oft
regelrechte Durchführungsteile.
Erwin Ratz1 unterscheidet zwei grundlegende Modelle für langsame Sätze. Er nennt
sie dreiteiliges Adagio und zweiteiliges Adagio. Letzteres bezeichnet Charles Rosen als
Sonatenform des langsamen Satzes. Anders, als man vermuten könnte, ist das zweiteilige
Adagio meist länger als das dreiteilige. Es ist an die Sonatenhauptsatzform angelehnt,
weswegen seine Binnenteile in sich differenziert und daher vergleichsweise umfangreich
sind.
Nicht selten ist der langsame Satz auch als vollständige Sonatenhauptsatzform
gestaltet, dann des langsamen Tempos wegen mit knapp gehaltenen Umfängen der
einzelnen Teile.
Als vierte Möglichkeit kann der langsame Satz als Variationenfolge gestaltet sein.
Dabei kann er an die erste Stelle der Satzfolge rücken.
Wie bereits erwähnt werden die Teile zumindest in langsamen Sätzen meist nicht
wiederholt, weil dies die zeitliche Ausdehnung sprengen würde. Häufig werden die
Themen bzw. deren melodische Hauptstimme beim zweiten Auftreten – also in der
Reprise – verziert oder variiert.
1 Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre.
127
7 Die übrigen Sonatensätze
Ein Beispiel für eine Sonatenform des langsamen Satzes bietet der Mittelsatz von
Mozarts Sonate C-dur KV 332.
A bzw. Hauptsatz – evtl. kurze [Überleitung] – B bzw. Seitensatz – evtl. kurze [Rück-
führung] – A bzw. Hauptsatz – [meist Coda]
Der Seitensatz steht dabei meist in einer kontrastierenden, oft auch das Tongeschlecht
verändernden Tonart und erscheint in Gänze nur einmal. Während die A-Abschnitte
meistens Liedformen zeigen, kann der Mittelteil auch einen formal klar erscheinenden,
fest gefügten Anfang locker fortspinnen, mit schweifenden Modulationen. Die Coda
kann auf den Seitensatz Bezug nehmen, wodurch dann eine Annäherung an die
Sonatenhauptsatzform des langsamen Satzes entsteht (Anordnung ABAB’).
Der Mittelsatz von Mozarts Klaviersonate C-dur KV 330 zeigt ein solches dreiteiliges
Adagio.
Die einzelnen Großabschnitte sind in sich wieder als Liedformen (zweiteilig) angelegt,
sodass wir insgesamt eine große, zusammengesetzte Liedform erleben:
128
7.3 Das Rondo
• Dem klassischen Rondo als wichtiges Formmodell für Finalsätze geht das Rondeau
der französischen Clavecinisten voraus.
• Ebenfalls in der barocken Formenwelt ist die Reihungsform Kettenrondo beheima-
tet (ABACADA . . . ).
• Das Bogenrondo ähnelt der gleichnamigen Liedform (Bogenform, ABACABA oder
ABACDCABA) und entwickelt die schlichte Reihung zu einer formalen Balancie-
rung weiter.
• Eine zentrale Gattung der Wiener Klassik stellt das dem Bogenrondo verwandte
Sonatenrondo dar, das neben der Symmetrie des Bogenrondos eine dem Sona-
tenhauptsatz verwandte Disposition zeigt. Refrain und Couplets vertreten die
Formteile der Sonatenhauptsatzform bzw. übernehmen deren Funktion.
Nicht verwechselt werden darf das Rondo mit Liedformen, die kleinräumig disponiert
sind (Suitensätze) oder für Großformen zu schlicht gestaltet sind. Die Da-capo-Arie
(ABA) beispielsweise ist kein Rondo, obwohl es auch dort ein Ritornell gibt, das
des Öfteren wiederkehrt. Zudem ist das Rondo in der Klassik vom Charakter her
Schlusssätzen des Sonatenzyklus vorbehalten.
129
7 Die übrigen Sonatensätze
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130
7.3 Das Rondo
freie Sequenz
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Entwicklung
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Nachsatz 2 + 2 + 1 + 1 + 1 + 1
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Der äußeren Gestalt nach ist das Sonatenrondo ein Bogenrondo: ABACABA. Hinter
der Rondoform verbirgt sich die Architektur der Sonatenhauptsatzform. Die Reihung
von Refrain und Couplets gewinnt dadurch ein Moment der Entwicklung.
Der Refrain (A) eines klassischen Rondos ist zumeist ein zwei- oder dreiteiliges Lied.
Die Abgeschlossenheit der Liedform ermöglicht es (und lässt es zugleich plausibel
erscheinen), dass er bei jeder Wiederkehr in vollem Umfang erscheint. Der Refrain
übernimmt die Funktion des Hauptthemas bzw. Hauptsatzes der Sonatenhauptsatz-
form. Das erste Couplet (B) vereinigt die Funktionen von Überleitung, Seitenthema bzw.
Seitensatz und Schlussgruppe.1 Es vollzieht daher die Modulation in die sekundäre
Tonart. Wenn der Refrain erstmals wiederkehrt, kann man zunächst noch vermuten,
die Form eines Sonatenhauptsatzes (genauer: die Wiederholung von dessen Exposition)
zu erleben. Gegen diesen Eindruck spricht allerdings die Geschlossenheit der Liedform
des Ritornells, die für Sonatenhauptsätze ungewöhnlich wäre.
Nach der Wiederkehr des Refrains (in der Haupttonart) schließt sich das zweite
Couplet (C) an. Es steht vorzugsweise im gegensätzlichen Tongeschlecht (in Dur häufig
in der Paralleltonart vi). Durch den Tongeschlechtskontrast vertritt es die tonartlich
farbige Durchführung. Oft ist C wiederum als Liedform gestaltet. An das Couplet C
kann sich eine kurze Durchführung anschließen. Oft findet sich auch eine regelrechte,
längere Durchführung anstelle eines Couplets (also eines neuen, in eine Liedform
gekleideten Gedankens).
Die Reprise wird durch die Wiederkehr des Refrains (A) und des ersten Couplets
(B), nun beides in der Grundtonart des Satzes, verkörpert. Ein letztes Auftreten oder
Verarbeiten des Refrains kann die Funktion der Coda übernehmen; es kann sich jedoch
auch noch eine regelrechte Coda als Abschnitt mit schließender Funktion oder als zweite
Durchführung (im Rondo die oft die einzige eigentliche Durchführung) anschließen.
Die folgende Tabelle 7.3 auf der nächsten Seite gibt einen Überblick über den typi-
schen Aufbau eines Sonatenrondos und stellt die Funktionen der einzelnen Abschnitte
in beiden Gattungen (Rondo und Sonatenhauptsatz) einander gegenüber.
1 Zumeist wird der Seitensatz als Entsprechung für Couplet 1 (B) reklamiert (Clemens Kühn legt
sich diesbezüglich nicht eindeutig fest, vergl. dazu Kühn: Formenlehre der Musik, S. 164f.), was
insofern nicht plausibel erscheint, als Seitensätze dergestalt locker gefügt sein können, dass die
Abgrenzung zumindest zur Schlussgruppe schwer fällt. Couplets im Sinne der Rondoform müssten
jedoch die Eigenschaft einer deutlichen Abgrenzbarkeit aufweisen. Daher werden hier die locker
gefügten Abschnitte der Überleitung, des Seitensatzes und der Schlussgruppe insgesamt unter das
»Couplet 1« bzw. »B« subsumiert.
131
7 Die übrigen Sonatensätze
Tabelle 7.3: Aufbau des Sonatenrondos (mit dem Tonartenplan eines Dur-Satzes)
Rondo Funktion in der Sonatenhauptsatzform Tonart
A (Refrain, oft dreitei- Exposition Thema I I
liges Lied)
B I-V
Überleitung, Thema II, Schlussgruppe
A keine I
C (oft Liedform) oft vi
Durchführung
A Thema I I
Reprise
B I
Überleitung, Thema II, Schlussgruppe
A Coda I
Ggf. noch weitere Verarbeitung in einer durchführenden oder schließenden Coda
Beim Rondo aus Beethovens früher Sonate Es-dur op. 7 handelt es sich um ein
solches Sonatenrondo. Der Refrain ist ein dreiteiliges Lied und dessen A-Abschnitt eine
Periode, deren Teilsätze satzartig gebaut sind. Der viertaktige Mittelteil B kontrastiert
und bewegt sich im Umfeld der V. Der Periodennachsatz ergänzt das dreiteilige Lied
zu regelmäßigen 16 Takten (AA’BA’).
Im Couplet B wird in der Überleitung zur Dominanttonart das Kopfmotiv des
Refrains (ein schlichter Vorhalt) verarbeitet. In T. 27 entsteht eine Fortspinnungsperiode:
das zweite Thema, regelgerecht in der Oberquinttonart erscheinend. Die Schlussgruppe
wird durch ein scheinbares, neues Thema in T. 36 eröffnet. Es ist jedoch für ein
eigenständiges Thema recht locker gefügt; der Periodennachsatz ist offen.
Nun kehrt der Refrain in der Haupttonart unverändert wieder. Couplet C ist ein
dreiteiliges Lied, in der Paralleltonart stehend. Es vertritt die Rolle der Durchführung
und kontrastiert nicht nur hinsichtlich des Tongeschlechts, sondern auch motivisch
und satztechnisch (durchgehendes Bewegungsmuster in der Begleitschicht, das später
auch in der Oberstimmenschicht erscheint).
Die leicht variierte Wiederkehr des Refrains eröffnet die Reprise. Couplet B wird
modifiziert und verbleibt in der Haupttonart. Ein letztes Auftreten des Refrains ist
erneut leicht variiert, zeigt vor allem aber eine überraschende Rückung nach E-dur.
Damit beginnt schon Verarbeitung im Sinne einer Coda. Die letzten Takte des Satzes
rekapitulieren das Material von Couplet C unter Festhalten an der Haupttonart Es-dur.
132
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Heinrich Christoph Koch schreibt in seinem musikalischen Lexikon unter dem Artikel
Fuge (Koch, 1802):
Eine Fuge »bestehet aus einem Hauptsatze, welcher durch das ganze Stück
hindurch wechselweise von allen vorhandenen Stimmen ergriffen und von
denselben nach gewissen Regeln vorgetragen, oder nachgeahmt wird. Jede
dieser Stimmen ist dabey so hervorstechend, daß keine der anderen bloß
zur Begleitung dient, sondern jede derselben behauptet den Charakter einer
Hauptstimme mit gleichem Rechte. Dabey ist die immer auf verschiedene
Arten wiederkehrende Nachahmung des Hauptsatzes dergestalt in die
Stimmen verwebt, daß das Ganze ohne merkliche Absätze und Ruhepunkte,
und ohne Absonderung einer Hauptperiode vor der andern, dahin ströme,
bis alle Stimmen sich zum gemeinschaftlichen Schlusse neigen.«1
Die Fuge ist mithin eine Form, in der ein »Hauptsatz« – damit bezeichnet Koch das
Fugenthema – in polyphonem Satz durchgeführt wird und welche tendenziell unge-
gliedert ist (jedenfalls nicht durch zu häufige und klare Zäsuren abgeteilt), kontrastarm
und daher auch nicht vorwiegend zielgerichtet oder dramatisch motiviert verläuft.
Lange bevor die Fuge als eigenständige Gattung etabliert war, bezeichnete der Begriff
Fuga eine Manier bzw. musikalisch-rhetorische Figur (lat. fuga, »Flucht«). Auf die
Herkunft der Fuge aus der Motette verweist Mattheson:
»Fugen sind gerne zu leiden und wol zu hören; aber ein gantzes Werk von
lauter Fugen hat keinen Nachdruck, sondern ist eckelhafft: und aus solchen
Fugen, oder Fugenmäßigen Sätzen bestunden die ehmaligen Moteten, ohne
Instrumente, ohne General Baß«.2
1. Fuga legata: die »gebundene« Fuge. Gemeint ist der Kanon, die strenge Imitation
einer Stimme in einer oder mehreren weiteren Stimmen.
2. Fuga sciolta: die »freie« Fuge, die Imitation lediglich eines Soggettos bzw. Themen-
kopfes.
Aus der Fuga sciolta erwächst die Gattung der eigenständigen Fuge, wie sie zur Zeit
Bachs verbreitet ist und die nachfolgend behandelt wird. Davon zu unterscheiden sind
das Fugato, der fugierte Abschnitt in einem ansonsten nicht fugierten Werk und die Ver-
settenfuge, bisweilen auch als Fughette bezeichnet: fugierte Sätze kleineren Umfangs, die
beispielsweise alternatim mit Chorsätzen (Magnifikat oder dergl.) verwendet wurden.
133
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Unmittelbar aus der vokalen Form der Motette ableitbar ist das Hauptmerkmal der
Fuge: der stimmenweise sukzessiv-imitatorische Einsatz des Themas (oder Soggettos
oder Subjekts1 ) zu Beginn, dabei dem Quintabstand der Vokalgattungen folgend.
Kanons und die zweistimmigen Inventionen Bachs beispielsweise folgen hingegen
meist der Gepflogenheit der Imitation im Oktavabstand.
Abschnitte, in denen das Fugenthema präsent ist, heißen Durchführungen. Dies darf
keinesfalls mit dem Formabschnitt »Durchführung« in der Sonate verwechselt werden.
Die erste Durchführung, das Thema darstellend, wird häufig als Exposition bezeich-
net, ein ebenfalls bereits in der Sonatentheorie anderweitig besetzter Begriff. Eine
Fuge hat mehrere Durchführungen (sonst handelte es sich um ein Fugato). Themen-
freie Abschnitte, die keineswegs in jeder Fuge anzutreffen sind, heißen Zwischenspiele
oder Zwischensätze. Insofern als Durchführungen innere Einheiten bilden, können
themenfreie Takte auch innerhalb einer Durchführung auftreten, sogenannte Binnenzwi-
schenspiele.
Zwischenspiele können konzertierend oder luzid gestaltet sein, oft aber schlichtweg
Bestandteile des Subjekts (Themas) (oder seiner Kontrapunkte bzw. Kontrasubjekte2
verwendet, wohingegen freie Gegenstimmen meist neutraler als Kontrapunkte bezeichnet
werden.) motivisch verarbeiten.
Eine Fugenanalyse wird zumeist auch Aspekte des Kontrapunkthandwerks beleuch-
ten. Dies umfasst neben der Untersuchung der Kontrasubjekte (Gibt es beibehaltene
(obligate) Kontrasubjekte? Sind Subjekt und Kontrasubjekt vertauschbar im Sinne des
doppelten Kontrapunkts?) auch die Betrachtung der sog. kontrapunktischen Künste. In-
sofern als Fugen ganz im Gegensatz zu Sonaten weitgehend zäsurlos und äußerlich
einheitlich, ungerichtet verlaufen, müssen zur Schlussbildung gewisse Kunstmittel
aufgewendet werden.
Jede Fuge ist individuell. Bachs Fuge c-moll aus WK I zeigt
• ein tonal beantwortetes Subjekt,
• zwei obligate Kontrasubjekte,
• neben Durchführungen auch Zwischen- und Binnenzwischenspiele,
• einen Orgelpunkt als Mittel zur Schlussbildung,
• allerdings keine kontrapunktischen Künste.
134
8.1 Das Fugenthema und seine Beantwortung
und wird in breiten Notenwerten notiert, die ein archaisierend wirkendes Notenbild
erzeugen (siehe Notenbeispiel 8.1).
Dass Fugenthemen in der Barockzeit keine allzu große Erfindungshöhe zugeschrieben wurde,
sieht man einerseits daran, dass sie gerne und ohne Skrupel zitiert wurden und andererseits
das Auftreten gewisser Stereotype in Kauf genommen wurde. Die in Notenbeispiel 8.1 wie-
dergegebenen vokalen Fugenthemen zeigen allesamt den Topos der verminderten Septime
zwischen der Stufe 6ˆ und dem Leitton (Stufe ↑7̂).
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Häufig setzen solche vokal geprägten Themen vom Ricercar-Typus beim einstimmi-
gen Fugenbeginn mit einer langen Note (z. B. einer Ganzen) volltaktig ein. Dann kann
diese bei späteren Einsätzen zu einer auftaktigen Note vom halben Wert (z. B. Halbe
statt Ganze) verkürzt werden. Dies ist ein Relikt aus den Konventionen der Vokalpoly-
phonie: Einstimmige Anfänge waren im Falle lateinischer Texte stets volltaktig.
Einen zweiten wichtigen Thementyp bilden tänzerische Themen, Soggetti also, denen
ein Tanz- oder Bewegungsmodell zugrunde liegt. Manche Tanzsätze, allen voran die
Gigue, wurden ohnehin gern fugiert gearbeitet.
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135
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Fugensubjekte des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts beginnen typischerweise
auf dem Grundton oder der Quinte. Beginnen sie auf anderen Stufen, so erfolgt dies
meist auftaktig.1
Das Subjekt in Bachs oben zitierter Fuge c-moll WK I zeigt ein prägnantes Motiv,
das in zwei Teilmotive zerlegbar ist. Es wird zweimal variiert; dabei vergrößert sich
der zentrale Sprung von der Quarte zur Quinte und schließlich zur Sexte. Am Ende
sehen wir die rhetorische Figur der Regressio aufscheinen. Die damit verbundene
Synkope erzeugt den rhythmischen Impuls für die Fortspinnung des Subjekts in das
Kontrasubjekt (Sechzehntelbewegung) hinein. Oft ist die Abgrenzung zwischen dem
Subjekt und dem sich anschließenden Kontrasubjekt nicht eindeutig vorzunehmen.
Zugespitzt lässt sich formulieren:
Ein Fugenthema hat stets einen Anfang, aber bisweilen kein klares Ende.
Das Subjekt der Fuge c-moll entfaltet eine immanente Zweistimmigkeit. Während
die latente Oberstimme den Grundton (in hoher Oktavlage) exponiert, formt die
eingeschlossene Unterstimme eine stufenweise verlaufende Urlinie.
Bisweilen wird behauptet, dass die Wechselnote im Thema dieser Fuge auf das
zugehörige Präludium zurückgeht.
136
8.1 Das Fugenthema und seine Beantwortung
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Notenbeispiel 8.6: Bach, Figuration und Schluss des Präludiums c-moll WK I
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Im Falle realer Beantwortung lassen sich Dux und Comes nur in der Exposition
unterscheiden. Diese steht in der Grundtonart, sodass anhand der Tonartebene (I
oder V, also Oberquintstufe) die Benennung möglich ist. In späteren Durchführungen,
innerhalb derer womöglich die Tonart wechselt, ist eine Bestimmung von Dux und
Comes oft nicht möglich (und auch nicht vonnöten).
In der ersten Durchführung, der Exposition, ist die Einsatzfolge Dux-Comes-Dux-
Comes (usw.) regelgerecht; jede andere Einsatzfolge ist dies nicht. In den älteren, noch
stark von der Vokalmusik (Motette, Chanson) abhängigen polyphonen Gattungen kann
die Einsatzfolge durch den Modus bestimmt sein: Bewegt sich eine hohe Stimme (S, T)
im Ambitus eines authentischen Modus, so erhalten die tiefen (A, B) den plagalen und
umgekehrt. Die irreguläre Einsatzfolge in Bachs Fuge C-dur WK I (reale Beantwortung
in der Folge Dux-Comes-Comes-Dux) erinnert daran (siehe Notenbeispiel 8.8 auf der
nächsten Seite). Das Subjekt ist ein Hexachord-Thema. Die tiefen Stimmen (Alt und Bass)
1 Die Verhältnisse bei kirchentonalen Soggetti sind wesentlich komplizierter. Die hier dargestellten
Regeln gelten nahezu uneingeschränkt für die Fugen des Spätbarock (Bach, Händel und Zeitgenossen)
sowie für die Fugen der späteren Zeit (Klassik, 19. Jahrhundert).
137
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
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138
8.1 Das Fugenthema und seine Beantwortung
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nicht:
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Notenbeispiel 8.10: Tonale bzw. reale Themenbeantwortung in BWV 547
Intervall vor der tonal beantworteten Quinte und jenes danach. In der Fuge b-moll
aus WK I zeigt der Dux die Intervallfolge Quarte-None, die Comes-Form hingegen
Quinte-Dezime, als Resultat einer regelgerechten, tonalen Beantwortung. In Takt 25
sind beide Formen miteinander verquickt. Dort (und später auch) findet sich eine
Intervallfolge aus dem eröffnenden Quartintervall des Dux und der Weiterführung in
der Dezime, welche aus der Comes-Form entlehnt ist (T. 25, Oberstimme).
Weitere Formen irregulärer Einsätze sind:
• Tonal irreguläre Einsätze (frei veränderte Intervalle, keine klar erkennbare Tonart,
vergl. Notenbeispiel 8.12 auf der nächsten Seite, Tenor in T. 17)
• Verkürzte Einsätze
– z. B. wegen Engführungen (wie in 8.12 auf der nächsten Seite)
– oder aber auch ohne äußeren Zwang.
Notenbeispiel 8.12 auf der nächsten Seite zeigt am Beispiel der C-dur aus WKI I:
Intervallisch bzw. tonal irreguläre Einsätze finden wir beispielsweise in der Fuge
E-dur WK II (vergl. die Originalgestalt des Themas in Notenbeispiel 8.7 auf Seite 137).
Im Basseinsatz T. 25 wird eine Durchgangsnote ergänzt, die Tonalität ist unklar (Ais
und His vs. H und A einen Takt später). Die Oberstimme zeigt einen diminuierten
Einsatz mit geänderter Intervallik (Notenbeispiel 8.13 auf der nächsten Seite).
In der Fuge G-dur WK I erscheinen Themeneinsätze aufgrund von Engführungen
verkürzt, bisweilen aber auch ohne äußeren Zwang, also möglicherweise in Gestaltungs-
absicht. Dort erscheint zunächst die Umkehrung des viertaktigen Themas verkürzt,
indem der letzte Takt fehlt (T. 28, Bass). Später (T. 51, Sopran) sehen wir eine Origi-
139
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Dux
9
4 Comes
5 10
25
10
4
Fuga I
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14 regulär
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regulär verkürzt
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verkürzt
regulär
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140
8.1 Das Fugenthema und seine Beantwortung
nalgestalt mit fehlendem dritten Takt, enggeführt mit einer zweitaktigen Form in der
Mittelstimme (Notenbeispiel 8.14).
28
51
Daneben findet sich in Fugen vor allem des jungen Bach von der Fall der Unterquint-
beantwortung. Dies betrifft nur Fugen, in denen im Subjekt die 5̂ dauerhaft eine wichtige
{
Rolle spielt,1 zumeist in der Form eine Liegetones, wie in der bekannten Fuge aus BWV
565 (vermutlich ein für die Violine erfundenes Thema, Notenbeispiel 8.15).
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bœ œ
4
141
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Seitenbewegung ist die für polyphone Sätze wichtigste Bewegungsart. Sie betont die Unab-
hängigkeit der Stimmen stärker als die Gegenbewegung oder gar die Parallelbewegung.
Im folgenden Ausschnitt (Notenbeispiel 8.16) aus Bachs Fuge G-dur WK I finden wir
zu Beginn des ersten und letzten Taktes kurzzeitig Homorhythmik, danach Komple-
{
mentärrhythmen zwischen zwei, später drei Stimmen.
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Notenbeispiel 8.16: Bach, Fuge G-dur WK I, T. 8 ff.
Regelgerecht übernimmt in der bereits zitierten Fuge G-dur die Oberstimme nach
ihrem Themendurchgang die Rolle des Kontrasubjekts. Dieses greift die Figur aus
T. 2, 1. Hälfte auf und zitiert sie krebsgängig (bzw. in Umkehrung), wodurch diese
Motivrang gewinnt. Im fünften Takt wird eine Variante des Themenkopfes zu einer
durchgehenden Sechzehntelbewegung weiterentwickelt.
142
8.2 Das Kontrasubjekt bzw. der Kontrapunkt bzw. der Gegensatz
Fuga XV
BWV 860 J. S. Bach
7
Notenbeispiel 8.17: Fuge G-dur WK I,motivische
Entwicklung
des Contrasubjekts
8.2.2 Beibehaltenes
oder obligates Kontrasubjekt
Wenn die kontrapunktierende(n) Stimme(n) bei jedem oder jedenfalls vielen Themenein-
sätzen
12 das gleiche Gegenstimmenmodell benutzen,
spricht man von einem beibehaltenen
Kontrapunkt
vergleiche das
dazu Gegenstim-
oder obligaten
bzw.
Kontrasubjekt.
Man
menmodell beim Einsatz des Comes und beim zweiten Dux-Einsatz (Notenbeispiel8.18).
In der
zitierten
G-dur
Fuge
aus WK I ist das
obligat.
Kontrasubjekt
zunächst
frei, nach dem
Septsprung im Thema jedoch
BWV 860 Fuga XV J. S. Bach
17
9
16
Notenbeispiel
8.18:
Bach,
Fuge G-dur
WK I, Anfang
tonaler
ImFalle Beantwortungen
muss
entweder
auch
ein obligates
Kontrasubjekt
angepasst
werden, oder es kann erst im Realteil der Beantwortung (nach dem Themenkopf) einsetzen. Der
22
verspätete Einsatz des beibehaltenen Kontrapunkts im Beispiel oben ist allerdings
von Bach frei
denn
gewählt,
die
Themenbeantwortung
dort
erfolgt real.
Oft
muss aus der Satztechnik
Gründen
ein obligates
Kontrasubjekt
bei
enggeführten
Themeneinsätzen (vergl. Kapitel 8.3.1 auf Seite 147) entfallen. Unabhängig davon sollte
28
bei der Analyse einer
Fuge
untersucht
werden, ob tatsächlich alle Themeneintritte mit
beibehaltenen
dem
Kontrasubjekt
versehen
werden oder
dieses entfällt,
gelegentlich
was dann möglicherweise
Um ein konstant
als Gestaltungsmittel
zu
und
betrachten
ist.
gekoppeltes Paar aus Subjekt
obligatem Kontrasubjekt
satztech-
nisch zu ermöglichen, muss die Technik des doppelten Kontrapunktes zur Anwendung
kommen, denn beide Elemente müssen sowohl als Ober- wie auch als Unterstimme
fungieren können.
Doppelter Kontrapunkt: In einem Stimmenpaar können beide Stimmen die Rolle von
Ober- und Unterstimme einnehmen.
143
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Oktave und Duodezime angelegt, so lässt er sich durch Austerzung zur Dreistimmigkeit
erweitern.
Eine Übersicht über die drei wichtigsten Formen des doppelten Kontrapunkts gibt
Tabelle 8.1.
Quinte = dissonant 1 2 3 4 5 6 7 8
8 7 6 5 4 3 2 1
Keine Parallelbewegung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
möglich 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
Sexte = dissonant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1
Neben einem Stimmpaar aus Subjekt und Kontrasubjekt kann auch ein Gefüge aus
drei oder mehr Stimmen beibehalten werden. Dazu ist die Technik des mehrfachen
(dreifachen, vierfachen usw.) Kontrapunkts vonnöten.
Drei-, vier- oder n-facher Kontrapunkt: Freie Vertauschbarkeit von drei bzw. mehr Stim-
men.
Will man einen dreistimmigen Satz beliebig vertauschbar gestalten, so müssten alle
drei Stimmen untereinander in der Technik des doppelten Kontrapunkts gehalten sein.
Dies führt rasch zu Problemen, denn bereits ein einfacher Dreiklang ist nicht mehr
beliebig permutierbar: rückt der Quintton eines Dreiklangs in den Bass, so entsteht
eine dissonierende Quarte (Notenbeispiel 8.19).
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w ẇ
w ˙
5e 6r
Notenbeispiel 8.19: Quartsextakkordbildung durch Stimmtausch
1. Quinten werden stets so gesetzt, dass sie Bestandteile von regelgerechten Disso-
nanzfiguren sind (Vorhalte, Durchgänge, harte Durchgänge, Wechselnoten) oder
zumindest klanglich unauffällig sind (»versteckt« werden), ggf. in Septakkor-
den (denn die Umkehrungen des Septakkordes sind ebenso zulässig wie seine
Grundstellung).
144
8.2 Das Kontrasubjekt bzw. der Kontrapunkt bzw. der Gegensatz
Die Fuge c-moll aus WK I zeigt zwei beibehaltene Kontrasubjekte, die untereinander
vertauschbar sind (siehe Notenbeispiel 8.20). Dieser Satz ist folglich im dreifachen
Kontrapunkt gehalten. Das in T. 7 entwickelte Modell, es ist der dritte Themeneinsatz
in der Exposition, ein Dux-Einsatz, kehrt in T. 15 wieder, dort in Comes-Gestalt (quint-
transponiert). Es kommt die oben zuerst genannte Strategie zum Einsatz (Verstecken
von Quartsexatakkordwirkungen, Einbinden von Quinten in Dissonanzfiguren, hier
Vorhaltsbildung sowie Durchgänge, harte und reguläre).
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Die vierstimmige Fuge As-dur WK II hat drei beibehaltene Subjekte. Es sind dies das
Thema selbst, des weiteren eine erster, durch Chromatik geprägter Kontrapunkt (passus
duriusculus) und schließlich ein von der Motorik (Sechzehntelbewegung) geprägter
zweiter Kontrapunkt. Auch letzterer wird über weite Strecken beibehaltenen, manchmal
jedoch auch freier zitiert. Das in T. 6ff. erstmals komplett vorgestellte, dreistimmige
Modell (auf der Dux-Ebene As-dur) erscheint in der gleichen Tonartebene in T. 22ff.
unter Vertauschung der Außenstimmen. Die Mittelstimme (Sechzehntelbewegungs-
Kontrapunkt) wird dort bemerkenswerterweise um eine Septime abwärts versetzt
(mithin ein Beispiel für den seltenen doppelten Kontrapunkt der Septime).
In vierstimmigen Fugen ist auch der diffizil zu handhabende vierfache Kontrapunkt
möglich. Dies erlaubt gegebenenfalls, ein vorab skizziertes Modell aus dem Subjekt
und drei obligaten Kontrasubjekten beliebig zu vertauschen. Analog zu entsprechenden
Verfahren in der Mathematik heißt die zyklische Vertauschung eines solchen Gefüges
Permutation, eine darauf basierende Fuge Permutationsfuge.
In dem Gefüge von Thema (bzw. Themen) und beibehaltenen Kontrapunkten müs-
sen alle Elemente untereinander vertauschbar sein und daher daher im mehrfachen
1 Näheres dazu in Menke: Kontrapunkt II - Die Musik des Barock, S. 157ff.
145
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
Kontrapunkt gearbeitet sein. Mit einem einzigen Modell lassen sich so sämtliche The-
mendurchführungen bestreiten. Dabei ist eine Unterscheidung zwischen Fugen mit
obligatem Kontrasubjekt und Doppelfugen (siehe Kapitel 8.9 auf Seite 156) bzw. Per-
matutationsfugen und Mehrfachfugen oft nicht sinnvoll möglich. In den historischen
Lehrwerken wird sie auch nicht getroffen.
Permutationsfugen finden sich auffallend häufig in den Fugenstudien der Wiener
Klassiker (Haydn, Mozart, Beethoven), seltener beim Vorbild Bach selbst und dort
überwiegend in Vokalfugen.
In der Fuge d-moll aus WK I sind die Vertauschungsformen des doppelten Kon-
trapunkts der Oktave und Duodezime kombiniert. Ein Beispiel für einen vierfachen
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Stimmtausch: Doppelter Kontrapunkt der Oktave
Kontrapunkt, allerdings außerhalb der Fugenform, bietet die Chorpartie der Arie Ich
will bei meinem Jesu wachen aus Bachs Matthäuspassion (Notenbeispiel 8.22 auf der
nächsten Seite).
146
8.3 Kontrapunktische Künste
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Sopran &b c Œ ‰J J
b j j
Alt & b c Œ ‰ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ nœ œ Œ ‰ œ œ œ nœ œ œ œ œ œ nœ œ
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Baß b
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B. J J
Notenbeispiel 8.22: Bach, Matthäuspassion (Arie Ich will bei meinem Jesu wachen), vierfa-
cher Kontrapunkt
auch als kontrapunktische Künste. Alle diese Formen bilden ein Mittel der Steigerung
und treten daher gerne gegen Ende einer Fuge hinzu.
8.3.1 Engführung
Engführung, bisweilen auch stretta (von lat. restrictio, ital. und engl. stretto), bezeichnet
die Beantwortung eines Themeneinsatzes, bevor die führende Stimme ihre Themen-
form vollständig durchlaufen hat. Beileibe nicht jedes Fugenthema eignet sich zur
Engführung.
Zur Beschreibung einer Engführung sind dieselben Kriterien anzuwenden, die ge-
nerell bei kanonisch-imitatorischen Bildungen maßgeblich sind (vergl. Kapitel 2.3):
horizontaler Einsatzabstand (Taktanzahl zwischen den Einsätzen), vertikaler Abstand
(Imitationsintervall) und ggf. Strenge (innerhalb von Engführungsabschnitten kann
durchaus irregulär beantwortet werden). Engführungen treten typischerweise gegen
Ende einer Fuge auf (als Mittel zur Intensivierung des Geschehens), häufiger als die
anderen kontrapunktischen Künste jedoch auch schon früher; in Bachs Fuge I aus WK I
beispielsweise schon in T. 7 (Notenbeispiel 8.23 auf der nächsten Seite).
8.3.2 Umkehrung
Fugenthemen werden häufig umgekehrt (nur sehr selten jedoch krebsgängig durch-
geführt). Die lateinischen Bezeichnungen für die Originalgestalt und die Umkehrung
eines Subjekts sind rectus bzw. inversus.
In der Fuge G-dur WK I (Notenbeispiel 8.24 auf der nächsten Seite) sehen wir
nach der regelgerechten Exposition der rectus-Form eine ebenfalls fast regelgerechte
Exposition der inversus-Form des Subjekts. Bemerkenswert ist, dass Bach auch das
147
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
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11
usw.
20
25
Notenbeispiel 8.24: Bach, Fuge G-dur WK I, 1. und 2. Durchführung (rectus und inver-
sus)
Weil die Krebsform erheblich in die rhythmische Gestalt eines Fugenthemas eingreift,
ist ihre Verwendung selten und allenfalls bei rhythmisch gleichförmigen Soggetti denk-
bar. Beethoven führt allerdings in der Fuge der Hammerklaviersonate das ausgedehnte
Thema krebsgängig durch (siehe Notenbeispiel 8.25 auf der nächsten Seite).
148
8.4 Mittel zur Schlussbildung
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Notenbeispiel 8.25: Beethoven, Sonate op. 106, krebsgängige Form des Fugenthemas
In Bachs Orgelfuge BWV 547 (Notenbeispiel 8.26 auf der nächsten Seite) sehen wir
drei Themengestalten: rectus, inversus und augmentiertes Subjekt im Orgelpedal (es ist
dies bezeichnenderweise der erste Eintritt der Pedalstimme in der Fuge überhaupt).
Alle Themenformen werden enggeführt. Das augmentierte Subjekt wird später auch
umgekehrt. All dies dient der Schlusssteigerung, zu der auch andere als kontrapunkti-
sche Mittel beitragen: Orgelpunkt, harmonische Intensivierung (einschließlich passus
duriusculus - Bildungen) sowie die Generalpausen kurz vor Eintritt des Orgelpunktes.
Die Fuge E-dur aus WK II (Notenbeispiel 8.27 auf Seite 151) zeigt diminuierte Formen
des in breiten Notenwerten gehaltenen, ricercarartigen Subjekts.
149
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
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150
8.5 Zwischenspiele
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8.5 Zwischenspiele
In den Bachschen Klavierfugen verarbeiten die themenfreien Abschnitte (die Zwischen-
spiele bzw. Binnenzwischenspiele) meistens Partikel (Motive) des Subjekts oder eines
obligaten Kontrasubjekts (eine motivische Verbindung der Zwischenspiele mit dem
Subjekt bzw. Kontrasubjekten fordert bzw. konstatiert auch Marpurg1 ). In den großen
Orgelfugen Bachs wirken Zwischenspiele oft kontrastierend-konzertant oder auch
luzid-spielerisch. Dies mag zur etwas unglücklichen Begriffsprägung Zwischenspiel
beigetragen haben. Man spricht auch von Zwischensätzen oder in der zeitgenössischen
Terminologie von Zwischenharmonien.2 Zwischenspiele zeigen oft eine reduzierte Stim-
menzahl. Am Ende eines Zwischenspiels pausiert gerne diejenige Stimme, die den
nächsten Themeneinsatz übernimmt.
In der Fuge G-dur WK I greift bereits das Binnenzwischenspiel in der Exposition (vor
dem Einsatz der dritten Stimme) zwei Bestandteile des Subjekts auf: die schrittweise fal-
lenden Achtel und den rhythmischen Impuls Fuga XV der Sechzehntel. Die Sechzehntelmotorik
BWV 860zu einem eigenen Modell weiterentwickelt, das auch die übrigen Zwischenspiele
wird J. S. Bach
beherrschen Die
wird. im
Zwischentakt
ersten
(T.
9)
gewonnene
Anordnung
folgenden Takt umgekehrt. In dieser Fuge besteht anscheinend eine Gestaltungsabsicht
im
wird
darin,
die
für
Möglichkeit
alle
Elemente (Subjekt,
der Umkehrung
obligates
Kontrasubjekt
darzustellen.
Ludwig
und
Czaczkes
Zwischenspielmodelle)
3
unterscheidet Binnen-
7
zwischenspiele und Durchführungszwischenspiele (welche also Durchführungen trennen).
1 Marpurg: Abhandlung von der Fuge, S. 96.
2 17 Ebd., S. 95.
3 Czaczkes:
des
Analyse
Wohltemperierten Klaviers.
151
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
1. Alle Stimmen stellen genau einmal das Fugenthema vor. Die Exposition zeigt
daher exakt so viele Themeneinsätze, wie die Fuge Stimmen hat.
2. Aber: eine Fugenexposition kann einen überzähligen Einsatz enthalten.
3. Die Einsätze wechseln in der festgelegten Reihenfolge Dux-Comes-Dux-Comes
(usw.) ab.
4. Themenfreie Takte vor dem Einsatz der letzten Stimme sind in der Exposition stets
als Binnenzwischenspiele (s. u.) anzusehen, denn die Ausdehnung der Exposition
ist durch die Vollzähligkeit der Stimmeneinsätze definiert.
Überzählige Einsätze lässt Bach gern in dreistimmigen Fugen auftreten, indem er eine bis
dahin ausgesparte hohe (Sopran) oder tiefe (Bass) Lage mit einem vierten, also überzähligen
Einsatz bedenkt und damit den Eindruck einer real nicht vorhandenen Vierstimmigkeit erzeugt.
Alle weiteren Durchführungen sind in keiner Hinsicht normierbar! Dies gilt weder für
die Zahl der Stimmeneinsätze, die in einer n-stimmigen Fuge keineswegs n betragen
muss. Ebenso ist die Reihenfolge Dux-Comes in keiner Weise verbindlich. Bei real
beantworteten Themen lässt sich somit außerhalb der Exposition eine Unterscheidung
zwischen Dux- und Comesform nicht oder nur schwer treffen.
Zwischenspiele trennen die Durchführungen. Davon zu unterscheiden sind die bereits
erwähnten Binnenzwischenspiele. Sie befinden sich innerhalb einer Durchführung und
können die Rückmodulation in die Tonart eines Dux-Einsatzes herbeiführen, wenn der
zwischenzeitlich eingetretene Comeseinsatz eine Modulation vollzogen hat. Binnen-
zwischenspiele und Zwischenspiele können auf dem gleichen Motivmaterial beruhen
und sind daher inhaltlich oft nicht unterscheidbar. Es stellt sich nicht erst hier die
Frage, welche Kriterien überhaupt zur Verfügung stehen, um Durchführungen von
ihrer Umgebung abzugrenzen. Handelt es sich bei einem themenfreien Takt um ein
Zwischenspiel innerhalb einer Durchführung (also ein Binnenzwischenspiel), oder
trennt dieser Takt bereits zwei Durchführungen? Die Länge eines Zwischenspiels gibt
darüber keine Auskunft. Binnenzwischenspiele können ebenso lang wie eigentliche
Zwischenspiele werden.
Es bietet sich an, bei der Gliederung einer Fuge vier Kriterien zu bedenken:
152
8.6 Die Gliederung einer Fuge im Überblick
In Bachs Fuge G-dur aus WK I wirken mit Ausnahme von 2. (deutlich Zäsuren fehlen)
zunächst alle Gliederungsmomente zusammen und erlauben daher ein klare Einteilung
der Fuge in Durchführungen und Zwischenspiele. Gegen Ende der Fuge wird die
Gliederung allerdings mehrdeutig.
Wie schon erwähnt, sehen wir anfangs gewissermaßen zwei Expositionen: Die erste
stellt regelgerecht das Subjekt in der originalen Form (rectus) vor, eine zweite in seiner
Umkehrung (inversus). Das beibehaltene Kontrasubjekt wird ebenfalls umgekehrt.
Zwischen erster und zweiter Durchführung liegt ein Zwischenspiel, das wie alle
folgenden motivisch deutlich eigenständig ist (das prägende Motiv erscheint ebenfalls
als rectus und inversus). Beide Durchführungen stehen in der Haupttonart G-dur. Die
dritte Durchführung erscheint auf dreierlei Weise vom Vorhergehenden abgesetzt:
a) durch ein deutliches Zwischenspiel, b) durch die Ausweichung zur Paralleltonart
(vi), c) indem nun die rectus und die inversus - Form des Subjekts kombiniert werden.
Ein Zwischenspiel und die Wendung nach h-moll grenzen die vierte Durchführung ab,
die auffallend kurz ist, zumal das nunmehr erstmals enggeführte Subjekt seinerseits
auch verkürzt erscheint. Die fünfte Durchführung (T. 60) ist tonal verwandt (h-moll und
D-dur sind Paralleltonarten); das Thema setzt erstmals in der Taktmitte ein. Das gleiche
zeigt der Einsatz in T. 69. Insofern gehört dies inhaltlich noch zur fünften Durchführung.
Neu sind die klare G-dur-Tonalität und die Restauration der Themenumkehrung in
voller Länge (siehe Abbildung 8.1).
Manfred Peters gelangt vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zur rhetorischen
Anlage der Bachschen Fugen1 an dieser Stelle zu einer anderen Einteilung, die gleich-
wohl nicht minder schlüssig erscheint (siehe Tabelle 8.3 auf der nächsten Seite).
153
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
1. Analyse des Subjekts: Wie ist die Charakteristik, der Motivaufbau, die Beantwor-
tung?
Anhand dieser Kriterien soll nun die Fuge dis-moll WK I, allerdings in Mozarts
Bearbeitung als Fuge d moll für Streichtrio, in knapper Form analysiert werden.
Das Subjekt gehört dem Ricercar-Typus an. Es zeigt eine ähnliche Kontur wie das
Hauptthema der Kunst der Fuge. Auch ist eine Nähe zu Bachs Orgelcanzona (Noten-
beispiel 8.29 auf der nächsten Seite) in der selben Tonart erkennbar. Zwei Elemente
prägen das Thema: der zweimalige, den Themenkopf begrenzende Quintsprung (d-a
und a-d), der diesem eine gewisse (imperfekte) Symmetrie verleiht. Die zweite Phrase
des Themas zeigt die schrittweise Achtelbewegung des Themenkopfes. Ein Sekundgang
154
8.8 Das Fugato
vom Spitzenton b abwärts zum Grundton fällt auf. Das Thema füllt einen Sextambitus
aus, der an den Topos des Hexachords denken lässt (hexachordum naturale von c bis a mit
b als fa – Wechselnote über la). Der exponierten Quinte wegen beantwortet der Comes
tonal. Im weiteren Verlauf wird das Thema auch verkürzt zitiert sowie in irregulärer
Beantwortung (Intervallfolge Quart und Sekunde im Themenkopf).
Es gibt kein obligates Kontrasubjekt. Die Gegenstimmen verhalten sich in freier Form
gegensätzlich. Einzelne Partikel des Subjekts werden aufgegriffen, welche aber schon
innerhalb des Themas selbst wenig charakteristisch erscheinen (Achtel-Sekundgänge,
Syncopatio-Figur, Quartsprung der Comes-Form).
Auch die Zwischenspiele sind allenfalls frei assoziativ mit dem Thema verbunden.
Eigene Zwischenspielmodelle werden nicht entwickelt. Auffällig (und damit Fragen
provozierend) ist der passus duriusculus, der chromatische Gang also, welcher sich in
T. 12 an den ersten Einsatz der Unterstimme anschließt. In steigender Form kehrt diese
Figur in T. 75 f. und T. 86 wieder.
Bereits in T. 19/2 wird das Subjekt erstmals enggeführt, in T. 30 erstmals umgekehrt.
Eine irreguläre Form der Augmentation tritt zweimal auf, deren Umkehrung einmal.
Regelrechte Augmentationen finden wir je einmal in allen Stimmen ab T. 62. Weniger
der Tonartverlauf als die Anwendung bzw. Kombination der kontrapunktischen Künste
legen die in Abbildung 8.2 dargestellte Gliederung der Fuge nahe.
Manfred Peters gelangt zur gleichen Einteilung (siehe Tabelle 8.4 auf der nächs-
ten Seite).1 Die themenfreien Schlusstakte ab T. 83 (mit der auffallenden, steigenden
Chromatik in T. 86) bilden eine Coda.
155
8 Die Fuge zur Zeit Bachs
bildet. Fugierte Abschnitte sind bisweilen in klassischen Sonaten- bzw. Quartett- oder
Sinfoniesätzen anzutreffen. Im folgenden Ausschnitt (Notenbeispiel 8.30, Anfang des
Andante cantabile con moto aus Beethovens erster Symphonie) ist der dritte Einsatz
irregulär (verkürzter Dux auf der Ebene der Dominante). Das Fugato endet mit dem
vierten Einsatz, einem wieder regulären Dux auf der Tonikaebene, an den sich die
weitere, sonatensatzhafte Gestaltung anschließt.
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Andante cantabile con moto
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