Anstoß für die vorliegende Arbeit sind die Zusammenarbeit und Fachgespräche der bei-
den Autorinnen im Rahmen eines DaF-Praktikums von Judith Schoßböck am Lehrstuhl
für Sprachpraxis und Fachdidaktik am Germanistischen Institut der ELTE Universität
Budapest, das von Dr. Ilona Feld-Knapp betreut und von der Aktion Österreich-Ungarn
gefördert wurde.
Traditionell ist das Ziel dieses Programms, dass DaF-PraktikantInnen der Universität
Wien möglichst viele Aspekte des DaF-Unterrichts im Ausland kennen lernen sowie
kulturelle Fremderfahrungen sammeln. Unter anderem entstand in diesem Kontext eine
Projektarbeit, die sowohl in Lehrveranstaltungen zur Fachdidaktik an der Universität als
auch an der zugehörigen Musterschule, dem Trefort Ágoston Gymnasium Budapest,
durchgeführt wurde.
Dabei wurde eine Auswahl von aktuellen österreichischen Texten an Studierenden,
aber auch an Deutschlernenden einer 11. Klasse anhand von jeweils 2 Unterrichts-
schwerpunkten erprobt. Die SchülerInnen sollten sich nach Ende des Schuljahres
ungefähr auf Niveau B2 des europäischen Referenzrahmens befinden.
Für dieses Projekt und diesen Beitrag war die Situation einer Auslandsgermanistik
und die möglichen Probleme, die sich beim Verstehen von komplexen, aktuellen
österreichischen Texten von Lehrer- und Lernerseite ergeben, unser Ausgangspunkt.
Dieser Artikel versteht sich als Ergebnis und Fazit unserer Überlegungen und bietet
weiterführende Empfehlungen sowie Vorschläge, welche aktuellen Texte unserer
Erfahrung nach produktiv im DaF-Unterricht eingesetzt werden können.
2. Vorüberlegungen
3. Textpotential erkennen
Auswahlkriterien für geeignete Texte zu kennen, ist für Lehrende bedeutsam und hilf-
reich. Vorzuziehen sind nach Krumm Texte, die Elemente über die Zielkultur transpor-
tieren (vgl. Krumm 1991, 98). Für die meisten der im Rahmen dieses Projektes ausge-
wählten literarischen Texte trifft dies nachdrücklich zu, da sie Elemente österreichischer
Alltagskultur beinhalten. Ausgewählt wurden einerseits besonders aktuelle Texte der
österreichischen Gegenwartsliteratur, die in Form von Kolumnen bereits in Zeitschriften
oder in Buchform erschienen sind und Merkmale dieser Textsorte aufweisen. Anderer-
seits lag der Fokus auf literarischen Texten, die für eine Begegnung mit österreichischen
AutorInnen aufgrund ihrer inhaltlichen Relevanz für die Zielgruppe als besonders ge-
eignet eingeschätzt wurden.
In diesem Zusammenhang ist auch der Kontext der Textarbeit wichtig, d. h., in
welchem Maße sich SchülerInnen mit der Arbeit der Lehrerin/des Lehrers identifizieren
können und ihre/seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen teilen. Noch vor der
Einschätzung der sprachlichen und unterrichtlichen Angemessenheit (z. B. Schwierig-
keitsgrad und Länge) ist dabei die Voraussetzung relevant, dass Lehrende selbst mit
literarischen Texten umgehen können und diese im Hinblick auf die Bedürfnisse der
SchülerInnen anwenden können.
Neben dieser Identifikationsmöglichkeit und der Repräsentativität der Texte stellt die
Ergiebigkeit für die Entwicklung von Rezeptions- oder Produktionsstrategien ein weite-
res Kriterium dar. Inwieweit sind Texte also geeignet, Emotionen und Probleme zur
Sprache zu bringen und diesbezügliche Sprechanlässe zu schaffen?
Ehlers (2003, 53) nennt vier Entscheidungsfelder, die bei der Auswahl von litera-
rischen Texten in didaktischer Perspektive von Bedeutung sind. Dazu gehören
Bildungsziele, Lernziele (z. B. Fremderfahrung und Auseinandersetzung mit der
Wirklichkeit), die sozialisatorische Funktion (z. B. Selbstfindung) und der Verstehens-
horizont (d. h. inwieweit Texte SchülerInnen einen Einstieg ermöglichen, um sich einen
Text und seine Strukturen anzueignen).
Die Verwendung von authentischen Texten hängt auch mit der Motivation der
SchülerInnen zusammen. Wie Krumm bemerkt, sind bei dem Kriterium „Authentizität“
die Grenzen fließend geworden. Der Grundgedanke ist aber, dass die im Unterricht be-
nutzten Texte in ihrem Kontextbezug, in ihrer Textstruktur etc. „authentisch“ die Ziel-
sprache und Zielkultur widerspiegeln. Nur so wird ein realitätsbezogenes Interesse der
SchülerInnen geschaffen. Veröffentlichte literarische Texte mit österreichischen Bezü-
gen bieten diese Möglichkeit an. In Ungarn ist aufgrund dessen Nähe zum Zielland die
Beschäftigung mit der österreichischen Kultur besonders motivierend. Dieser interkultu-
relle Reiz ist besonders dann vorhanden, wenn die Texte Anknüpfungsmöglichkeiten
für die eigene Text- und Lebenserfahrung der Lernenden bieten. Da die SchülerInnen in
diesem Projekt mit österreichischer Literatur nicht vertraut waren, sollte der Anreiz über
die Thematik und die Textsorte erfolgen. Ausgewählt wurden einerseits aktuelle
Kolumnen, die auf witzige Weise österreichische Alltagsmentalitäten kommentieren,
sowie eine besondere Form eines Romans, ein E-Mail-Roman, der das Thema „Internet-
Beziehung“ thematisiert (vgl. Glattauer 2009a).
Der plurizentrische Ansatz stellt einen weiteren Aspekt der Auswahl dar. Im Sinne
der Abkehr von einer monozentrischen Sprachauffassung, die oft unbewusst vertreten
wird (vgl. de Cillia 2006, 57), nimmt die Integration von verschiedenen Varianten einer
Sprache im Unterricht eine wichtige Funktion ein. Die Berücksichtigung der Plu-
rizentrik kann zum Aufbau von Normtoleranz, zum kritischen Umgang mit der Norm
und sprachlichen Stereotypen beitragen. Besonders motivierend wirkt das Kennenlernen
von Varietäten, wenn Lernende mit dem Unterrichtsmaterial eigene Erfahrungen ver-
binden können. Je eher SchülerInnen bemerken „Das kommt mir bekannt vor!“ und je
öfter subjektive Eindrücke zum Unterrichtsgegenstand werden, desto besser kann der
Lehrende die Motivation und das Interesse der Lernenden aufrechterhalten.
Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Texte war Textsortenvielfalt. Es wurden
die Textsorten „Kolumne“ bzw. „Kurzgeschichte“ sowie „Roman“ und „E-Mail-
Roman“ behandelt. Bei der Beschäftigung mit dem Thema „Textsorten“ ging es vor
allem um eine Sensibilisierung der Lernenden für unterschiedliche Textmuster und eine
Erweiterung ihres Textsortenwissens. Eine neue Textsorte wie die des E-Mail-Romans
kann dabei helfen, moderne Textwelten zu verstehen.
Die im Rahmen der Unterrichtseinheiten eingesetzten Texte stammen allesamt aus
dem 21. Jahrhundert und sollten ein Angebot sein, SchülerInnen und StudentInnen bzw.
zukünftige LehrerInnen mit aktueller österreichischer Literatur bekannt zu machen. Die
Texte waren nicht nur sprachlich, sondern auch im Hinblick auf die sachliche Komple-
xität sehr schwierig, da – im Gegensatz zu Sachtexten – auch viele ironische Elemente
zu finden waren. Es bietet sich an, einzelne Einheiten zu einem bestimmten Text zu
konzipieren oder mehrere thematisch ähnliche Texte in einer Einheit zu verwenden.
Zu den verwendeten Kolumnen zählten Texte aus dem Buch der Falter-Kolumnistin
Andrea Maria Dusl Die österreichische Oberfläche, wobei insbesondere Das Einkaufen
(S. 27–30), Die Zeit im Bild (S. 226–229) und Tschulligen, stegen Sie aus? (S. 71, aus:
Vokabular des oberflächlichen Begegnens) verwendet wurden. Weitere Kolumnen
stammten aus Daniel Glattauers aktueller Sammlung Schauma mal, darin: Wir schauen
(S. 11–12), Scheidung auf Klick (S. 34), Wie man Kellner ruft (S. 37), Verbotene Fräu-
leins (S. 38), Man trifft sich (107–108). Darüber hinaus wurde ein Text von Franzobl
(Der Hutfahrer) aus einem österreichischen Lesebuch verwendet, der ebenfalls Merk-
male der Textsorte trägt und thematisch zum Thema „österreichische Alltagsbesonder-
heiten“ passte. Hier wurden Mentalitäten und sprachliche Aspekte behandelt.
Bei den Prosatexten wurde mit Romananfängen gearbeitet. Es handelte sich um
einen E-Mail-Roman von Daniel Glattauer (Alle sieben Wellen, 2009) sowie um den
Roman Die Arbeit der Nacht (2006) von Thomas Glavinic, bei dem ein junger Mann
inmitten von Wien plötzlich feststellen muss, dass er sich alleine auf der Welt befindet.
Bei diesen Texten stand die thematische Anknüpfung an die Lebenswelt und die
Meinungen der Lernenden im Vordergrund.
In diesem Kapitel werden beispielhaft zwei der eingesetzten Texte vorgestellt und im
Hinblick auf die Erfahrungen in den Unterrichtseinheiten kommentiert und reflektiert.
In der praktischen Arbeit ist es empfehlenswert, bei der Planung der sprachlichen und
inhaltlichen Arbeit und bei den Arbeitsaufgaben dem Schema Einstiegs- und Motivati-
onsphase, Arbeit am Text sowie weiterführende Aufgaben zu folgen.
In den Gaststätten Österreichs ist das Bestellen schwieriger geworden. Es gibt immer weniger Personal,
weil die Zeiten schlechter sind, als der Chef es verdient haben will.
Die wenigen Servierkräfte tauchen selten auf. Und wenn, dann verschwinden sie rasch wieder, weil sie zu
viel zu tun haben, um sich um Einzelfälle zu kümmern. Sind sie einmal da, schauen sie so traurig, dass
man es oft nicht übers Herz bringt, etwas zu bestellen. Denn das könnte sie endgültig aus der Bahn
werfen.
Manchmal erwischt man sie von hinten, schemenhaft, über einen fernen Tisch gebeugt, wo sie gerade
abkassieren. – Das ist die große Chance. Jetzt muss man sie herrufen. Aber wie sagt man? Wie nennt man
sie? Bei Männern geht’s leichter:
- Klassisches Kaffeehaus, steifer Herr in Schwarzweiß mit Silbertablett. Ganz klar: Herr Ober, bitte!
- Bürgerliches Restaurant, der Mann im grünen Gilet, das nach Schnitzel duftet: Herr Kellner, bitt
schön!
- Einfacher Wirtsbetrieb, berühmt für sein saftiges Freitag-Beuschel, serviert vom feschen Kurti:
Meister, gengan S’!
- Vorstädtisches Stambula-Espresso mit speckig-rotem Plüsch-Interieur, zuletzt geputzt bei der
Eröffnung 1974. Einsame männliche Gestalt, mitten im entscheidenden Darts-Wurf: Herr Cheeeef,
kumman S’!
Verbotene Fräuleins
An unserer Theorie, dass es für den Gast immer schwieriger wird, in Restaurants oder Cafés etwas zu
bestellen, hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Kürzlich bemühten wir uns von dieser Stelle aus,
nach männlichem Personal zu rufen (Ober, Kellner, Meister, Chef).
Nun erhöhen wir den Schwierigkeitsgrad und versuchen, weibliche Servierkräfte, die uns den Rücken
zukehren, an den Tisch zu bekommen. Zum Beispiel mit:
- Frau Ober! Wenn sich nichts rührt, versuchen wir es mit „Schwester Oberin“.
- Frau Chefin! Die wenigsten sind es, die meisten leiden darunter.
- Kollegin! Im schlimmsten Fall lässt man Sie dafür Tische abservieren.
- Frau äh! Der Geheimtipp. Man muss sich nur drübertrauen.
- Entschuldigen! Devote Gäste sind beim Personal sehr beliebt. Sie zeichnet die Qualität des Wartens
aus.
- Gnädigste! Wem Gnade gebührt. Resches Personal neigt zur Gnadenlosigkeit.
- Fräulein! Jahrzehntelang durften wir. Es hatte Charme und Pfiff. Über fünfzig freuten sie sich und
den Jungen schadete es nicht. Doch die Frauen wollen nicht mehr. Sie drohen uns „Männlein“ an. Da
schon lieber hungrig nach Hause gehen.
Kommentar
Der Text eignet sich sowohl für die Vorstellung sprachlicher Besonderheiten als auch
für die Reflexion österreichischer Mentalitäten, die in einer Alltagssituation im Zielland
eine Rolle spielen könnten. Neue Informationen werden durch einen humorvollen Zu-
gang eingeführt und lassen sich so im Rahmen der Thematik „Essen und trinken gehen“
in mehrere Unterrichtseinheiten integrieren. Durch den Alltagsbezug können die Ler-
nenden leicht an ihre eigenen Lebenswelten anknüpfen und Meinungen und Erfahrun-
gen austauschen. Kulturvergleichende Aufgaben sind ebenfalls möglich, da Gepflogen-
heiten in Restaurants und Cafés in den einzelnen Ländern meist unterschiedlich sind.
Dies kann entweder im Plenum oder durch spezifische interkulturelle Aufgaben oder
auch Schreibaufgaben ausgehandelt werden. Die zwei Texte können in mehreren Grup-
pen, in zwei Etappen oder unmittelbar nacheinander eingesetzt werden.
30 Sekunden später
RE:
Hört das nie auf?
30 Sekunden später
RE:
Darf ich leise Kritik anbringen? Sie sind wenig abwechslungsreich. Angenehmen Nachtdienst, Emmi
Rothner.
6. Erfahrungen reflektieren
Literatur