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Zusammenfassung
Der Artikel behandelt schwerpunktmäßig die historischen und aktuellen Erscheinungsformen der
italienischen Mafia vor dem Hintergrund einer anhaltenden wissenschaftlichen Debatte über Art und
Inhalt der Definition organisierter Kriminalität.
Nach einer Einführung über die verschiedenen Darstellungen der Mafia in der Literatur und Wis-
senschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden Kultur, Struktur und Handlungsmuster der zwei be-
deutendsten Mafia-Vereinigungen beschrieben: die sizilianische Cosa Nostra und die kalabresische
‘Ndrangheta. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt behandelt die aktuelle Krise und die Reaktio-
nen beider Mafia-Vereinigungen auf die konsequenteren staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen in den
letzten fünf Jahren.
Welchen Platz haben Cosa Nostra und ‘Ndrangheta in der internationalen Debatte um organisierte
Kriminalität? Können sie als universal gültiges Paradigma der organisierten Kriminalität gelten oder
stellen sie nur einen Spezialfall respektive eine Ausnahme im Panorama des internationalen Ver-
brechens dar? Der Artikel zeigt auf, daß die zwei Mafia-Vereinigungen nur dann allgemeingültige Pa-
radigmen organisierter Kriminalität sind, wenn man darunter eine Ansammlung krimineller Organi-
sationen versteht. Wenn aber der Ausdruck »organisierte Kriminalität« auf illegale Märkte und ihre
Akteure bezogen wird, gibt es keinen Grund dafür, in der Cosa Nostra und der ‘Ndrangheta ein uni-
verselles Vorbild zu sehen. Im Gegenteil: Sie sind Spezialfälle, das Produkt bestimmter historischer,
sozialer und kultureller Konditionen, welche nicht einfach wiederholt werden können.
2 Der Ausdruck »cosca« (im sizilianischen Dialekt Artischocke) ist heute zum Synonym für Mafia-
Gruppierungen geworden und symbolisiert den starken Zusammenhalt.
Paoli, Die italienische Mafia 4
dungen nicht immer respektiert. Auch ist ihr Einfluß auf die ökonomischen Aktivitäten
der einzelnen Familien gewöhnlich sehr niedrig und läßt ihnen eine hohe Autonomie
(Paoli 1997; Paoli 1999 a).
Ungeachtet des geringen Alters und der Schwäche der kollegialen Entscheidungsgre-
mien kann die strukturelle und organisatorische Geschlossenheit sowohl der Cosa Nostra
als auch der ‘Ndrangheta nicht bezweifelt werden. Das haben bisher alle Pentiti überein-
stimmend bestätigt. Wie in vielen vormodernen »segmentierten« Gesellschaften (Durk-
heim [1893, 1902] 1964, 176-177; Smith 1974, 98 ff.) wird die innere Geschlossenheit die-
ser beiden Mafia-Vereinigungen durch gemeinsame innere Strukturen, eine gemeinsame
Kultur und gemeinsame Normen gewährt. Das gilt besonders für die Zeit vor der Einfüh-
rung kollegialer Entscheidungsgremien.
Folgende Elemente stärken die innere Geschlossenheit und Einheit sowohl der Cosa
Nostra als auch der ‘Ndrangheta:
– Rituale und Symbole;
– Organisationsstruktur;
– Werte und Normen.
einer Religion. So wie man nie aufhört, Priester zu sein, hört man nie auf, Mafioso zu sein«
(1991, 97).
Gleichzeitig wird der Neuling durch die Zeremonie der Initiation aufgefordert, den
anderen Mitgliedern ein Bruder zu werden und ihnen gegebenenfalls ohne Aussicht auf
Gegenleistung zu helfen. Mit anderen Worten, er wird aufgefordert, Mitglied einer Fami-
lie zu werden, und nicht von ungefähr nennen die Mafiosi ihre Gruppen »Familien«. Der
Status-Kontrakt ist gleichzeitig ein »Verbrüderungsvertrag« (Weber 1972, 402).
3 Zum Thema Ehre im Mittelmeerraum hat sich in den letzten 40 Jahren eine große Debatte in
Anthropologie und Soziologie entwickelt, welche im Rahmen dieses Beitrages nicht zusammen-
gefaßt werden kann. Vgl. u.a. Pitt-Rivers 1968 a; Davis 1977; Herzfeld 1980; 1987; Fiume 1989.
Paoli, Die italienische Mafia 6
tersagt die Inanspruchnahme des Staates selbst dann, wenn man Opfer eines Verbrechens
wird (Paoli 1997, 137 ff.; Paoli 1999 a).
Historisch gesehen förderten diese beiden Grundwerte die Akzeptanz und Legitima-
tion der Mafia gegenüber der lokalen Bevölkerung, welche diese auch pflegte. Noch heute
spielen sie deshalb eine wichtige Funktion in der Mafia. Omertà, das Schweigegelöbnis, ist
die absolut notwendige Voraussetzung für jede kriminelle Gruppe, die per definitionem
auf der falschen Seite des Gesetzes überleben will. So muß jedes neue Mitglied einen
Schwur zur totalen Verschwiegenheit leisten. Omertà bleibt die erste und wichtigste
Norm, die ein Mafioso sein ganzes Leben lang unbedingt beachten muß.
Der Ehrenkodex dagegen sichert die Andersartigkeit des ganzen Mafia-Systems gegen-
über dem Staat. So berichtet der sizilianische Pentito Vincenzo Calcara folgende Worte
vom Tag seiner rituellen Aufnahme: »Die Cosa Nostra erkennt die Autorität des Staates
nicht an, zu dem sie immer im Gegensatz stand und stehen wird. Wir kümmern uns nicht
um den Staat. Unsere Heimat ist die Mafia-Familie, die wir bis zum letzten Blutstropfen
verteidigen müssen« (Bettini 1994, 86–88).
Ehre und Omertà haben mehrere andere konkrete Verpflichtungen zur Folge. Zu-
sammen mit den Aufnahmekriterien und -prozeduren bilden sie ein normatives System,
das – obwohl ungeschrieben und rudimentär – als eine Alternative zum staatlichen Nor-
mensystem gesehen wird. Die eigentlichen Instanzen für Sanktionen sind die capifamiglia
(Familienführer), deren Zusammenkünfte oder neuerdings vor allem die schon erwähnten
Kommissionen. Sie alle können darüber entscheiden, ob jemand gegen ein Gesetz oder
gegen eine Norm verstoßen hat und was dann eventuell mit dem Schuldigen zu tun ist
(Paoli 1997, 202–240; Romano [1917] 1977; Fiandaca 1994).
lichen Entwicklung und der Gesellschaft insgesamt auch die von den Mafiosi bevorzugten
Waren änderten. Soweit die illegalen Märkte betroffen sind, kam es in Bezug auf die Art
der Waren und den Umfang des Mafia-Engagements zu plötzlichen und großen Verände-
rungen – natürlich immer in Abhängigkeit von den Trends der internationalen illegalen
Wirtschaft und der Fähigkeit der sizilianischen und kalabresischen Mafiosi, mit den neuen
Herausforderungen erfolgreich fertig zu werden (Paoli 1997).
In diesem Zusammenhang müssen auch die politischen Aktivitäten der Mafia stärker
als bisher üblich hervorgehoben werden. Besonders durch die Anwendung von Gewalt
versuchen Cosa Nostra- und ‘Ndrangheta-Familien, ihrer Umgebung den eigenen Willen
und den Respekt vor ihren Regeln aufzuzwingen. Mit Max Weber kann man deshalb diese
beiden Mafia-Vereinigungen als »politische Verbände« betrachten (1972, 29): D. h., es
handelt sich um solche Organisationen, die durch Gewaltandrohung oder Gewaltanwen-
dung ihre mafiose Rechtsordnung in einem bestimmten Territorium sicherstellen. Diese
politische Dimension zeigt sich darüber hinaus durch ihre Beteiligung an mindestens drei
geplanten Staatsstreichen in Italien in den letzten 50 Jahren, in der Ermordung zahlreicher
Repräsentanten des Staates und durch terroristische Anschläge im Jahre 1993 (Stille 1995).
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Macht der Mafia geradezu äquivalent zur
Schwäche der staatlichen Institutionen. Wenigstens bis zur Herrschaft der Faschisten war
der Staat nie in der Lage, sein Machtmonopol überall im Mezzogiorno durchzusetzen und
sich gegenüber der lokalen Bevölkerung als rechtmäßig auszuweisen. Die Folge war eine
de facto-Machtteilung zwischen Staat und Mafia. Da die Chefs und Mitglieder der Mafia
eine Reihe von sozialen Integrationsfunktionen erfüllten, hielt man in der Bevölkerung
ihre auf allgemeingültige kulturelle Werte und Normen gegründete Macht für legitim.
Nach den 60er Jahren veränderte sich diese Machtteilung zwischen Staat und Mafia. Im
Zuge der Industrialisierung und Modernisierung verloren die Mafiosi nach dem Krieg
einige ihrer sozialen Integrationsfunktionen. Gleichzeitig schwächte sich das kulturelle
und normative Wertesystem ab, welches bislang den Mafia-Familien ihre kollektive Iden-
tität und die Rechtfertigung zur Ausübung politischer Macht lieferte.
Um den Verlust ihrer Vorrangstellung in der Bevölkerung zu verhindern, verwendeten
seit den 50er Jahren immer mehr Mafiosi ihre Verbindungen zur Mafia primär für die An-
häufung von Wohlstand. Dieser Anpassungsprozeß wurde besonders durch zwei überge-
ordnete Faktoren begünstigt, durch die es vor allem Mafia-Gruppen in Sizilien und
Kalabrien zu bislang unvorstellbarem Reichtum bringen sollten:
a) die globale Expansion illegaler Märkte vor allem für Tabak und Drogen (Paoli 1998 b;
TrPA 1986, Bd. V);
b) die enorm steigenden Staatsausgaben für den Mezzogiorno (Paoli 1997; TrPA 1991;
1993b; 1997; PrRC 1995).
Heute sieht sich die Cosa Nostra mit der ernsthaftesten Krise der letzten 50 Jahre
konfrontiert. Mit einigen Ausnahmen sind die meisten ihrer Führer zu langjährigen Haft-
strafen verurteilt. Die Geschäfte laufen ebenfalls nicht mehr gut. So hat die Rolle, die die
Cosa Nostra im internationalen Drogenhandel seit den späten 80er Jahren gespielt hat,
immer mehr an Bedeutung verloren. Seit dieser Zeit wurden Bauaufträge des Staates zur
Haupteinnahmequelle. Bedingt durch die Mani-Pulite-Untersuchungen zur Korruption
und die starke Reduzierung von Staatsausgaben für den Mezzogiorno ist aber auch diese
Quelle seit Anfang der 90er Jahre fast versiegt. Zudem ist seit 1992 das politische und
institutionelle Beziehungsnetz der Cosa Nostra zur Zielscheibe der Mafia-Ermittler ge-
worden. Selbst der frühere Premierminister Giulio Andreotti steht wegen Mafia-Mitglied-
schaft vor Gericht (PrPA 1995 a; Arlacchi 1995; Lupo 1996; vgl. aber auch Andreotti 1994).
Die ‘Ndrangheta ist hingegen in einer besseren Position. Ihr stärkerer Rückgriff auf
Verwandtschaftsbindungen im nichtfiktiven Sinne hat die Zahl der Pentiti klein gehalten.
Da keine hochrangigen Mitglieder Kronzeugen wurden, blieben ihre politischen Verbin-
dungen bisher meist unaufgedeckt. Auch ist die kalabresische Anti-Mafia-Bewegung eher
schwach. Im Großen und Ganzen erhalten die ‘Ndrangheta-Familien mehr Zustimmung
aus der Bevölkerung als ihre sizilianischen Pendants. Durch ihre weite Verzweigung im
nördlichen Italien spielt die ‘Ndrangheta immer noch eine wichtige Rolle bei Import und
Großhandel von illegalen Drogen (Paoli 1997; 1998b).
Doch auch die ‘Ndrangheta-Familien sind unter starkem Druck. Vor allem im Norden,
aber auch in Kalabrien selbst, haben die Strafverfolger in den letzten Jahren wichtige
Erfolge erzielt (PrRC 1995). Ganze Mafia-Familien wurden ausgehoben und ihre Mitglie-
der verurteilt. Zudem müssen beide Organisationen sich heute der Konkurrenz einer
wachsenden Zahl ausländischer Gruppen stellen, die sehr gewaltbereit sind und von ihren
direkten Verbindungen zu den drogenproduzierenden und -handelnden Ländern profitie-
ren.
Institutionen vor der weltweiten Ausbreitung illegaler Märkte, die steigende grenzüber-
schreitende Mobilität Krimineller und deren negative Folgen für den legalen Wirtschafts-
sektor und die Politik.
In der neueren Debatte verliert auch das italienische Wort Mafia seine Herkunftsbe-
deutung und wird vielmehr zum Synonym für eine große Bandbreite krimineller Grup-
pierungen und Personen: In der Presse sowie in speziellen Reportagen wird heutzutage
häufig etwa von der russischen, der albanischen, der polnischen Mafia gesprochen.
Gleichzeitig werden Cosa Nostra und ‘Ndrangheta häufig als Modelle für organisierte
Kriminalität gesehen. Ist diese Darstellung korrekt? Kann man Cosa Nostra und
‘Ndrangheta wirklich als Paradigmen für das globale Phänomen der organisierten Krimi-
nalität verwenden? Oder sollten sie nicht eher als ein Spezialfall in der großen Bandbreite
der organisierten Kriminalität betrachtet werden? Dies hängt davon ab, wie man organi-
sierte Kriminalität auffaßt: ein sehr vieldeutiger Begriff, der in den letzten 40 Jahren ganz
unterschiedlich definiert wurde.
Meistens hat man aber organized crime mit der Verbreitung illegaler Waren und
Dienstleistungen gleichgesetzt. So auch Alan Block und William Chambliss: »Organisierte
Kriminalität sollte definiert werden als (oder besser begrenzt werden auf) illegale Aktivi-
täten, die das Management und die Koordination von illegalen Geschäften und Verhalten
betreffen« (1981, 13). Organized crime ist so zum Synonym für illegale Unternehmen ge-
worden.
Diese letzte Position wird heute von den meisten nordamerikanischen Wissenschaft-
lern vertreten. Nach einer von Frank Hagan (1983) zusammengestellten Übersicht
herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß von organisierter Kriminalität dann
gesprochen wird, wenn 1. ein dauerhaft angelegtes und 2. rational operierendes Unter-
nehmen darauf ausgerichtet ist, 3. Gewinne durch illegale Betätigungen zu erzielen. In den
meisten dieser Definitionen gibt es allerdings keine Kriterien für die Größe, die interne
Organisation und die Lebensdauer der illegalen Unternehmen.
Die US-amerikanische Debatte bewegte sich in den letzen 20 Jahren zwischen zwei
Polen: 1. organized crime verstanden als eine Reihe krimineller Vereinigungen und
2. organized crime als Bezeichnung für illegale unternehmerische Aktivitäten. Beide Defi-
nitionen wurden in die internationale Debatte eingebracht, so vor allem in die Vereinten
Nationen und in EU-Institutionen.
Die Verwendung beider Definitionen – oft sogar im gleichen Text – verwirrt unnöti-
gerweise die wissenschaftliche und politische Debatte. Um ein Beispiel zu nennen: Sogar
die Verhandlungen für die »UN Convention against Transnational Organized Crime«
wurden durch dieses Definitionsproblem nachhaltig belastet. Bis Anfang 1999 war es nicht
möglich, eine alle Parteien befriedigende Definition von organized crime zu finden
(United Nations 1998).
falls sie sich zusammentun, um eine unbestimmte Zahl von Verbrechen zu begehen
(Schönke & Schröder 1997, 1738; Pütter 1998).
Der Straftatbestand »kriminelle Vereinigung« wird aber in der Praxis kaum benutzt,
zum einen wegen der geringen Strafandrohung, zum anderen wegen der schwierigen
Nachweisbarkeit, sofern es sich nicht um terroristische Gruppen handelt. Zumindest in
den letzten 10 Jahren wurde er selten angewandt. Laut Statistik wurden wegen dieses
Straftatbestandes zwischen 1987 und 1996 62 Personen abgeurteilt und 42 verurteilt
(Strafverfolgungsstatistiken 1987-1996). Obwohl es keine eindeutigen Erkenntnisse gibt,
schätzt man, daß die meisten Angeklagten Mitglieder der PKK gewesen sind.
Andererseits sieht die von Polizei und Justiz seit 1990 benutzte halb-offizielle Defini-
tion keine feste Organisation als Charakteristikum vor und ist stark beeinflußt von der
nordamerikanischen »illegal enterprise«-Theorie. Die Definition der sog. »Gemeinsamen
Richtlinien«4 aus dem Jahr 1990 stellt nicht nur auf die großen kriminellen Organisationen
ab und verlangt lediglich »mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer«.
Sie betont die Gewinnerzielung als primäres Ziel organisierter Kriminalität und spricht
von »der von Gewinn oder Machtstreben bestimmten planmäßigen Begehung von Straf-
taten«. Ferner sieht diese Definition das Vorliegen »gewerblicher oder geschäftsähnlicher
Strukturen« als eine von drei alternativen Zusatzvoraussetzungen vor (BKA 1997).
Diesen Einfluß des »illegal enterprise«-Paradigmas auf die deutsche Auffassung der or-
ganisierten Kriminalität bestätigen auch Strafverfolgungsbeamte. So erklärte der Frank-
furter Staatsanwalt Peter Korneck in einem Interview mit dem Journalisten Werner Raith:
»Experten ... gehen davon aus, daß es sich [bei organisiertem Verbrechen] um die Tä-
tigkeit von Personen handelt, die mit vorausgreifender Planung arbeitsteilig und dauerhaft
in Gewinnerzielungsabsicht schwere Straftaten begehen. Wenn Sie aus dieser Definition
das Merkmal der ‚ schweren Straftaten’ weglassen, kommen Sie zu einer Beschreibung der
Tätigkeit, die in Deutschland und in der ganzen westlichen Welt als unternehmerische
Tätigkeit beschrieben wird« (Raith 1989, 267).
Das bedeutet, daß man diese Definition von organisierter Kriminalität nicht nur auf die
Mitglieder von dauerhaften kriminellen Organisationen im strikten Sinn des Wortes
anwenden kann, sondern auch auf solche relativ kleinen und losen Partnerschaften und
Teams, die zum Zweck profitorientierter Verbrechen entstehen. Das belegen die Daten,
die das BKA seit 1991 jährlich über die entsprechenden Ermittlungsverfahren in allen
Bundesländern sammelt. In 56 % aller zwischen 1991 und 1997 liegenden Untersuchun-
gen sind weniger als 10 Verdächtigte verwickelt. In 38 % liegt die Zahl zwischen 11 und
49. Lediglich in 6 % der Ermittlungsverfahren sind mehr als 50 Verdächtigte involviert
(Paoli 1999 b).
Weder Cosa Nostra noch ‘Ndrangheta sind moderne, hierarchische und »rational ge-
plante« Bürokratien à la Max Weber. Sie sind statt dessen ziemlich dezentralisierte Ge-
bilde, sozusagen das Produkt einer jahrzehntelangen, sozialen und kulturellen Entwick-
lung und haben im Laufe ihrer Existenz verschiedene Funktionen ausgeübt.
Selbst die zweite Voraussetzung der »alien conspiracy«-Theorie wird nicht erfüllt, der-
zufolge die amerikanische Mafia die lukrativsten illegalen Märkte in den Vereinigten
Staaten kontrolliert. Auch gibt es keinen Grund anzunehmen, daß Cosa Nostra und
‘Ndrangheta jemals die illegalen Märkte in Italien monopolisiert haben, auch nicht den
Drogenmarkt. Lediglich in ihren Hochburgen – den Provinzen Reggio Calabria und
Palermo – kontrollieren beide die wichtigsten illegalen Märkte (mit Ausnahme der Pro-
stitution). Und in Kalabrien monopolisierten Mafia-Familien einige Märkte für legale Wa-
ren wie beispielsweise die Fleisch- und die Automärkte in Reggio Calabria (PrRC 1995,
6318–6405; TrRC 1994 a, 124–126; Paoli 1997, 288–296). Aber nicht einmal in ihren Hei-
matregionen ist die Vorherrschaft der Cosa Nostra- und ‘Ndrangheta-Familien unange-
fochten. In Süd- und Ostsizilien sowie in Nord-Kalabrien müssen sich beide Mafia-Ver-
einigungen dem harten Wettbewerb zahlreicher anderer illegaler Konkurrenten stellen,
von denen einige bereits unter Beweis gestellt haben, daß sie gefährliche und hartnäckige
Rivalen sind: so die »Stidda« in den Provinzen Agrigento, Trapani und Ragusa und krimi-
nelle Gangs in den Provinzen Catania und Siracusa (TrPA 1993 a; Ministero dell’Interno
1994, 202–211; 1995, 37–39; PrCT 1993).
Cosa Nostra und ‘Ndrangheta stellen sozusagen eine entmythologisierte Version der
Definition von organisierter Kriminalität dar, die seit den fünfziger Jahren von den US-
Behörden in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaften und Massenmedien entwickelt
wurde.
Wenn man aber unter organisierter Kriminalität eine Reihe von illegalen Unterneh-
mungen wirtschaftlicher Art versteht, so können die zwei größten süditalienischen Mafia-
Organisationen nicht als ein Paradigma gesehen werden. Dies ist festzuhalten. Erst seit
etwa 15 Jahren versteht man Mafia-Gruppen und ihre Mitglieder im Sinne von Wirt-
schaftsunternehmen. Seither rückten die von den Mafiosi ausgeführten legalen und illega-
len ökonomischen Aktivitäten in den Brennpunkt der meisten wissenschaftlichen Analy-
sen (Arlacchi 1983; Centorrino 1986; Santino 1986; Pizzorno 1987; Catanzaro 1988;
Santino & La Fiura 1990). Es gibt in der Tat keine Zweifel mehr, daß die Mitglieder der
Cosa Nostra und ‘Ndrangheta heute in eine Vielzahl illegaler Geschäfte verwickelt sind.
Trotzdem ist es falsch, wenn man sie nur als Firmen sieht und ihre Bedeutung und Ge-
fährlichkeit auf die illegalen Märkte reduziert. Cosa Nostra und ‘Ndrangheta sind multi-
funktionale Organisationen, und im Laufe ihrer Geschichte haben sie neben ihren Ge-
schäften mit illegalen Waren viele andere Aktivitäten getätigt.
Cosa Nostra und ‘Ndrangheta stellen keinesfalls ein allgemeingültiges Modell für Ak-
teure in den illegalen Märkten dar. In Deutschland hört man von Strafverfolgern häufig
das Argument: »Organisierte Kriminalität, die auffällt, ist schlecht organisierte Krimina-
lität«. Das impliziert, daß große hierarchische Organisationen Produktion und Vertrieb
illegaler Waren regeln. Das stimmt nicht unbedingt mit der Wirklichkeit überein. Wenn
man den Ausdruck »organisierte Kriminalität« benutzt, um auf illegale Märkte und ihre
Akteure hinzuweisen, dann sollten keine Zweifel bestehen: In diesen Märkten gibt es
keine Tendenz hin zu großen kriminellen Unternehmen. Um noch einmal Peter Reuter zu
zitieren: Vieles, was im illegalen Markt geschieht, sei »disorganized crime« (1983; 1985).
Oder besser gesagt, es ist in dem Sinne organisiert, daß es geplant ist, und daß die Aufga-
ben unter verschiedenen Personen verteilt sind. Aber es gibt kaum große »Firmen«, die
Paoli, Die italienische Mafia 14
mit illegalen Gütern und Dienstleistungen Geschäfte machen und mit entsprechenden
Firmen auf dem legalen Markt verglichen werden können. Genau genommen ist es der
illegale Status der Produkte, der die Produktion und den Vertrieb dieser Waren stark
nachteilig beeinflußt und der bis jetzt verhindert hat, daß sich große kriminelle Unter-
nehmen dauerhaft konsolidieren konnten.
Wie mehrere Studien in verschiedenen Teilen der Welt zeigen, werden städtische ille-
gale Märkte normalerweise von zahlreichen relativ kleinen und oft nur kurzlebigen Un-
ternehmen bevölkert. Bei einigen handelt es sich um Gruppen, welche um einen (charis-
matischen) Anführer entstanden sind, ein gewisses Maß an Stabilität erreichten und rudi-
mentäre Formen von Arbeitsteilung entwickelten. Allerdings läßt sich die Mehrheit dieser
Unternehmen besser als Crews beschreiben: lose Verbindungen zwischen Menschen, die
sich bilden, zerbrechen und wieder entstehen, wenn sich erneut eine Gelegenheit dazu er-
gibt. In diesen Crews sind die Aufgaben und Positionen gewöhnlich austauschbar, und
Exklusivität ist nicht notwendig. Tatsächlich sind manche Crew-Mitglieder in mehreren
kriminellen Unternehmen engagiert5.
Für außenstehende Betrachter erscheinen illegale Unternehmen oft als ein Netzwerk.
So sind es Ketten aus Einzelpersonen, Crews und kleinen Gruppen, die illegale Produkte
von einem Land in das andere bringen. Der Netzwerkbegriff ist durchaus nützlich, um das
Verteilungssystem illegaler Waren zu beschreiben. Jedoch sollten die Stärke und der
Zusammenhalt der meisten illegalen Netzwerke nicht überbewertet werden. Obwohl zwi-
schen den einzelnen Mitgliedern eines Netzwerkes auch Langzeitbeziehungen entstehen
können, sind die meisten doch sehr eng begrenzte Käufer-Verkäufer-Beziehungen, die
weder exklusiv noch zentral organisiert sind (Paoli 1999 c).
Im Gegensatz zu den illegalen Unternehmen sind Cosa Nostra und ‘Ndrangheta nicht
das Ergebnis der Dynamik der modernen illegalen Märkte. Wie schon gezeigt wurde, ging
ihre Entstehung den zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich entwickelnden Märkten voraus.
Beide Vereinigungen sind beim Handel mit illegalen Produkten deren charakteristi-
schen Zwängen und Nachteilen unterworfen. Weder Cosa Nostra noch ‘Ndrangheta ope-
rieren als eine geschlossene, hierarchisch strukturierte Organisation bei der Planung und
Durchführung ihrer Geschäfte. Jede ihrer vielen Mafia-Familien ist vollkommen unab-
hängig und selbst deren höherrangige Mitglieder dürfen eigene illegale Aktivitäten aus-
führen. Und alle Mafiosi ungeachtet ihres Ranges sind im legalen Sektor der Wirtschaft
vollkommen autonom (Paoli 1997, 306–330). Daher ist es völlig verfehlt, die Entschei-
dungsgremien der Mafia mit den Verwaltungs- oder Aufsichtsräten großer Firmen zu ver-
gleichen, oder gar anzunehmen, Cosa Nostra und ‘Ndrangheta funktionierten wie multi-
nationale Konzerne.
Abschließend läßt sich feststellen, daß Cosa Nostra und ‘Ndrangheta nur dann allge-
meingültige Paradigmen organisierter Kriminalität sind, wenn man darunter eine An-
sammlung krimineller Organisationen versteht. Wenn aber der Ausdruck »organisierte
Kriminalität« auf illegale Märkte und ihre Akteure bezogen wird, wäre es vollkommen
falsch, in der Cosa Nostra und der ‘Ndrangheta ein universelles Vorbild zu sehen. Sie sind
im Gegenteil Spezialfälle, das Produkt bestimmter historischer, sozialer und kultureller
Konditionen, welche nicht einfach wiederholt werden können. Die Annahme, daß alle
Akteure des illegalen Marktes wie die süditalienische Mafia organisiert sind oder in diese
Richtung tendieren, kann zu Schwierigkeiten bei der Analyse und Bekämpfung der orga-
nisierten Kriminalität führen. Das muß nicht der Fall sein.
5 Reuter 1983; 1985; Reuter & Haaga 1989; Adler [1988] 1993; Lewis 1994; Chin 1996; Rebscher &
Vahlenkamp 1988; Korf & Kort 1990; Fijnaut 1997; Becchi 1996; Arlacchi & Lewis 1990.
Paoli, Die italienische Mafia 15
Summary
The paper analyses the historical and current manifestations of the Italian mafia phenomenon in the
context of the on-going international debate about organized crime. In particular, after a brief
synthesis of the different conceptions of the mafia proposed from the mid-19th century, the article
focuses on the culture, structure, and action of the two largest and most stable Italian mafia
associations: the Sicilian Cosa Nostra and the Calabrian ‘Ndrangheta. Their contemporary
legitimation crisis and their reaction to the law enforcement efforts of the early 1990s are also
investigated.
Which is the position of the Italian mafia associations in the international debate about organized
crime? Can they be considered as a universally valid paradigm or are they a special case – if not an
exception – in the panorama of international crime? The paper argues that Cosa Nostra and
‘Ndrangheta represent a paradigm only if organized crime is understood as a set of criminal
organizations. If the expression is instead used to focus on illegal markets and their actors, there are
no reasons to regard Cosa Nostra and ‘Ndrangheta as an universal model. They are special cases, the
product of specific historical, social, and cultural conditions that cannot be easily replicated.
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1996, Sentenza nella causa penale contro Caliskan, Hilmi + 9, 15 giugno. – TrPA (Tribunale di
Palermo) 1984, Ufficio Istruzione Processi Penali, Verbali di interrogatorio reso dal collaboratore di
giustizia, Tommaso Buscetta. – TrPA 1986, Ufficio Istruzione Processi Penali, Ordinanza-sentenza di
rinvio a giudizio nei confronti di Abbate Giovanni + 706, novembre. – TrPA 1991, Ufficio del
Giudice per le Indagini Preliminari, Ordinanza di custodia cautelare in carcere nei confronti di Morici
Serafino + 4, 9 luglio. – TrPA 1993 a, Ufficio del Giudice per le Indagini Preliminari, Ordinanza di
custodia cautelare in carcere nei confronti di Puzzangaro Gaetano + 52, 8 marzo. – TrPA 1993 b,
Ufficio del Giudice per le Indagini Preliminari, Ordinanza di custodia cautelare in carcere nei
confronti di Riina Salvatore + 24, 18 maggio. – TrPA 1997, Ufficio del Giudice per le Indagini
Preliminari, Ordinanza di custodia cautelare in carcere nei confronti di Buscemi Antonino + 9, 2
ottobre. – TrRC (Tribunale di Reggio Calabria) 1994 a, Ufficio del Giudice per le Indagini
Preliminari, Ordinanza di custodia cautelare in carcere nei confronti di Labate Pietro + 17, 7 gennaio.
– United Nations, Ad Hoc Committee on the Elaboration of a Convention against Transnational
Organized Crime 1998, Revised Draft United Nations Convention against Transnational Organized
Crime, A/AC.254/4, 15 December. – U.S. Senate 1951, Third Interim Report of the Special
st
Committee to Investigate Organized Crime in Interstate Commerce (Kefauver Committee), 81
nd
Congress, 2 session. – U.S. Senate 1957, Judiciary Committee, Investigations on Improper Activities
in the Labor or Management Field, Hearings. – U.S. Senate 1963, Committee on Government
Operations, Hearings of Joseph Valachi before the Permanent Subcommittee on Investigations of the
Committee on Government Operations. – Weber, M. [1921] 1972, Wirtschaft und Gesellschaft:
Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen: J.C.B. Mohr. – Weschke, E. & K. Heine-Heiß 1990,
Organisierte Kriminalität als Netzstrukturkriminalität, Berlin, FH für Verwaltung und Rechtspflege.
(Anschr. d. Verf.: Dr. Letizia Paoli, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht, Günterstalstr. 73, 79100 Freiburg i.Br.)