DIEZEIT
Das neue Heft.
Jetzt im Handel!
Oder hier gratis testen:
www.zeit.de/zw-neu
108441_ANZ_10844100021820_26205685_X4_ONP26
PREIS DEUTSCHLAND 5,50 €
22.04.20 1 14:42
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Titelillustration: Golden Cosmos für DIE ZEIT
Wie eine anarchische Kinderbuch-Heldin Generationen von Menschen stark
gemacht hat. Und warum sie heute noch ein systemsprengendes Vorbild ist
DISKUSSION UM CORONA-MASSNAHMEN
Ein anderes Virus
Zweifel am Kurs der Politik müssen sein – aber der zunehmend giftige
Ton der Debatte wird der Lage nicht gerecht  VON GIOVANNI DI LORENZO
N D
eben Corona macht sich gerade
ein Virus breit, das zwar nicht
tötet, aber eine ganze Gesell-
schaft in Mitleidenschaft ziehen
könnte. Es ist das Gift der Ver-
harmlosung der Pandemie als
kollektive Hysterie und der Verunglimpfung aller
Maßnahmen zum Schutz vor Corona als eine Art
Virus-Diktatur. Daran beteiligen sich seit Anbe-
ginn Verschwörungstheoretiker, aber auch bis
dahin unauffälligere Wutbürger, neuerdings zudem
Kommentatoren sowie Politiker, die offenbar dem
nächsten Karrieresprung entgegenfiebern.
Mit jeder Woche, die der Lockdown andau-
ert, sind Zweifel und Kritik zwar nötiger denn je,
zu auffällig sind die Widersprüche der Corona-
Politik: Egal, ob es sich um die Schließung von
Kitas und Schulen, die Maskenpflicht oder die
Kontrolle von Grenzen handelt – Virologen, die
das anfänglich forderten, wurden von Politik
und Medizinerkollegen als profilsüchtige Panik-
macher diskreditiert, bevor dann eben genau
diese Maßnahmen doch verabschiedet wurden.
Und warum es für einen Menschen risikoreicher
sein soll, eine Kirche zu betreten als einen Bau-
markt, oder warum ein Bekleidungsladen mit
800 Quadratmeter Grundfläche gefährlicher
sein soll als ein wuseliger Gemüseladen, ist in der
Tat kaum jemandem zu vermitteln. In weiser
Voraussicht hat der umständehalber besonders
aktive Gesundheitsminister Jens Spahn gerade
verkündet: »Wir werden in ein paar Monaten
wahrscheinlich ein­an­der viel verzeihen müssen.«
Die Bürgerinnen und Bürger demonstrieren
alles andere als Untertanendenken
Alles in allem aber hat Deutschland keinen
Sonderweg beschritten, und seine Bürgerinnen
und Bürger, die die Maßnahmen mit enorm
hoher Zustimmung mittragen, demonstrieren
alles ­andere als Untertanendenken, wie ihnen
schon unterstellt wurde. Fast alle vergleichbaren
Länder haben ähnliche oder sogar noch stren­
gere Einschränkungen beschlossen, und dort,
wo am Anfang kleingeredet oder geleugnet wur-
de, wie in den USA oder Brasilien, ist das Desas-
ter groß. Deutschland hingegen hat sich bislang
in der Corona-Krise so verhalten, dass alle Welt
ungläubig auf die Zahlen schaut. Die Internatio-
nale der Quartalsirren mutmaßt bereits, bei uns
würden Leichen einfach versteckt oder ­umde­kla­
Pippi Langstrumpf wird 75
Keine Angst
vor niemand!
Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN UND KINDERSEITE
riert, die hochseriöse New York T ­ imes fragt ­an­
erken­nend, wie Deutschland es wohl geschafft
hat, eine so geringe Todesrate zu haben.
Tatsächlich hat das Land leicht verspätet, aber
dann doch effizient reagiert (von der Beschaffung
der Masken und der überfälligen Einführung einer
Corona-App einmal abgesehen), die Menschen sind
diszipliniert, das Gesundheitssystem hat sich als
besser erwiesen als sein Ruf. Doch nun läuft Psy-
chologie gegen Mathematik. Die Psychologie lässt
einen sagen: Ich kann nicht mehr! Oder: Ich brau-
che mehr Unterstützung als andere! Die Mathe-
matik hingegen misst Erkrankungskurven und
definiert Linien, unter denen die Ansteckungs-
quote bleiben muss, damit sich die Zahl der Infi-
zierten erst stabilisiert und dann verringert – und
mit ihr die Todesraten. Die Trends kann man leider
immer erst mit wochenlangem Abstand erkennen,
deshalb mahnen die meisten Mediziner und die
mathematikaffine Kanzlerin zur Vorsicht.
In diese explosive Gemengelage platzte dann
noch ein Interview von Wolfgang Schäuble im
Tagesspiegel. Sein Wort, dass nicht alles vor dem
Schutz von Leben zurücktreten müsse, hat zwar
sein Wahres: Schließlich verbietet der Staat auch
nicht das Rauchen, das Autofahren oder das­
Arbeiten im Haushalt, was allein mehr als
10.000 Tote im Jahr verursacht. Der Unterschied
zu den Corona-Toten aber ist: Kaum ein Mensch
nimmt freiwillig in Kauf, sich mit dem Virus zu
infizieren. Und in der Abwägung, was für das
Wohlergehen eines Landes maßgebend ist, darf
niemals das Kriterium eine Rolle spielen, dass
etwa das Leben von Menschen über 80 oder das
von Vorerkrankten nicht ganz so wichtig sei.
Aber man kann sehr wohl besonders Gefähr-
dete besser schützen, ohne sie in Pflegeheimen zu
isolieren. Man kann anderen, die kein größeres
Risiko eingehen, Freiheiten zurückgeben, ohne die
keine Gesellschaft auf Dauer leben kann, auch und
vor allem, wenn es darum geht, den eigenen­
Lebensunterhalt bestreiten zu können. Man kann
mehr testen und mehr tracken. Man kann und
muss auch mehr streiten. Was wir nicht ändern
können, ist eine Politik, die nach dem Prinzip Ver-
such und Irrtum agieren muss, ob es uns gefällt oder
nicht. Doch sie kann sehr wohl ihren Kurs ändern,
manchmal muss sie es auch. Und sie kann den
Thesenrittern vom Orden der Corona mit Nüch-
ternheit und Geduld begegnen.
AA www.zeit.de/audi
29. APRIL 2020 N o 19
108441_ANZ_10844100021820_26205685_X4_ONP26
22.04.20 2 13:23
Yesterday
Ex-Beatle Paul
McCartney spricht
über sich und
seine verstorbene
erste Frau Linda
Magazin
Ein
Supergauner
Der Betrüger Mike
Wappler erzählt, wie
er seine reichen
Opfer blendete
Dossier, Seite 13
Wo bleiben
die Frauen?
Julia Jäkel schlägt
Alarm: Wieso
dominieren in
der Krise plötz-
lich wieder
die Männer?
Streit, Seite 11
STAATLICHE MILLIARDENHILFEN
Was wirklich lohnt
Es ist an der Zeit, dem Retten eine Richtung zu geben und die
Wirtschaft grüner und digitaler zu gestalten  VON UWE JEAN HEUSER
PROMINENT IGNORIERT
eutschland wird weltweit be- Klimafrage zu verzahnen. Das Retten soll eine zu-
neidet, weil es sich riesige Ret-
kunftsgewandte Richtung, ja überhaupt einen
tungspakete leisten kann. Dochgreifbaren und vorzeigbaren Inhalt bekommen.
diese Großzügigkeit muss ein- Das spricht nicht gegen den »Corona-Schutz-
malig bleiben und darf nicht schild« der Bundesregierung. Nicht gegen die­
zum neuen Normal werden. Soforthilfe, die Kredite, die möglichen Staatsbetei-
Gerade die Deutschen haben ja in den vergange- ligungen, die vielen ihr Auskommen retten und das
nen zehn Jahren die Erfahrung gemacht, dass es Vertrauen ins Land stärken. Doch statt diese Pro-
sich lohnt, sich einen Aufschwung zu erarbeiten gramme erst einmal wirken zu lassen, kommen
und dann zu sparen – um später im Krisenfall aus täglich neue Forderungen hinzu. Für Groß und
dem Vollen schöpfen zu können. Umso mehr Klein, für die Gastronomie oder die Autoindustrie,
sollte man jetzt, da das Staatsgeld fließt, fragen,
ganz egal. Nur ist Wirtschaft schon zu normalen
Schicksal
wie eine leistungsfähige Wirtschaft nach der Kri- Zeiten ein Prozess von Schöpfung und Zerstörung. Während der Löscharbeiten an ei-
se aussehen soll. Will man da wirklich alle alten Strukturen retten nem Brand in Neuberg-Ravolz-
Die erste Antwort lautet: am besten nicht wie – oder nicht besser neuen Wohlstand schaffen? hausen (Hessen), bei dem bloß
vorher! Das Allgemeine beweist sich im Konkreten. Die Sachschaden entstand, wurde ein
Schon bevor die Viruskrise ausbrach, offen- Autoindustrie verlangt nach staatlichen Kaufprä- Feuerwehrmann wegen mutmaßli-
barte die hiesige Wirtschaft ungewohnte Schwä- mien für ihre Autos – gerne, aber doch nicht für cher Brandstiftung verhaftet. In Max
chen. Die Erfolgsmasche, der Welt immer mehr CO₂-Schleudern. Wenn schon, sollte Deutschland Frischs Drama Biedermann und die
Autos und Maschinen zu liefern, stieß an ihre den Kauf von Öko-Autos mit Strom-, Wasserstoff- Brandstifter heißt es: »Feuergefähr-
Grenzen. Das liegt nicht nur am wachsenden­ oder wenigstens Hybridantrieb unterstützen und lich ist viel, / Aber nicht alles, was
Widerstand gegen das deutsche Exportmodell in gleichzeitig mehr Ladestellen aufbauen und Wind- feuert, ist Schicksal ...« Schicksal zu
Washington oder Paris, sondern auch daran, dass und Sonnenkraft forcieren. Das Land würde einen spielen steht selbst einem Feuer-
die Weltwirtschaft in schnellen Schritten digitaler
Modernisierungsschub erleben. wehrmann nicht zu.  GRN.
und grüner wird. Man sieht es am relativ kleinen Ungleich größer ist das Beispiel des europäi-
kalifornischen E-Auto-Bauer Tesla, der inzwischen schen Konjunkturpakets, das vielleicht eine Bil­lion Kleine Bilder (v. o.): Watford/Mirrorpix/Getty
Images; allezhopp Studio für DIE ZEIT;
an der Börse alle deutschen Auto-Riesen überholt Euro vor allem in die Krisenländer des Südens Westend61/Getty Images
hat. Elon Musks Firma produziert keine klassischenspülen wird. Statt x-beliebige Ausgaben in Italien
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
oder Frankreich zu ermöglichen, sollte die EU­
Autos, sondern eine Art ­iPhone auf Rädern, digital 20079 Hamburg
vernetzt und elektrisch angetrieben. damit bevorzugt die Infrastruktur für schnelles Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
Internet und grüne Energie finanzieren. DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Die Lehre der Krise: Das Digitale läuft Und doch jagt der Klimaschutz vielen Ange- ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
weiter, wenn Geschäfte und Büros schließen stellten und Unternehmern Angst ein. Jetzt nicht ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
auch noch das, rufen sie, wir haben genug Proble-
Die Deutschen haben da einiges nachzuholen, sie me. Bestärkt werden sie in ihrer Furcht durch­ ABONNENTENSERVICE:
brauchen Glasfasernetze fürs Internet genauso wie Kapitalismusgegner, die nun – die Krise als ­Chance Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
Stromtrassen für Wind- und Sonnenenergie. Und für alles, was man eh schon immer wollte – eine E-Mail: abo@zeit.de
sie machen gerade eine überraschende Erfahrung: Abkehr vom Wachstum verlangen. Doch Wachs-
So abgründig die digitale Wirtschaft mit ihren tum fehlt den Menschen nie so sehr wie zu Zeiten, PREISE IM AUSLAND:
Fake-­News und Datenschutzverletzungen zuletzt in denen es in weite Ferne rückt. Deshalb muss klar DK 58,00/FIN 8,00/E 6,80/
CAN 7,30/F 6,80/NL 6,00/
erschien, sichert sie in der jetzigen Krise doch­ sein: Klimaschutz ist ebenso wie die Digitalisierung A 5,70/CH 7.90/I 6,80/GR 7,30/
Arbeit. Das Digitale läuft einfach weiter, wenn ein Innovationsprogramm für mehr und nicht B 6,00/P 7,10/L 6,00/H 2560,00
Geschäfte und Büros schließen müssen – im weniger Wohlstand. Der Staat gibt den Anstoß,
o
N 19
Home­office oder bei Amazon. damit die Wirtschaft sich modernisiert und neue
Wer erst einmal an die Sicherung unserer Welt Arbeit schafft. Davon zeugen boomende Städte wie
denkt, kommt um die Abwehr der Klima­be­ Kopenhagen oder Zürich, die in Richtung Klima-
drohung kaum herum. Wenn Greta Thunberg vor neutralität vorneweg marschieren. 7 5. J A H RG A N G C 7 45 1 C
Corona recht hatte, dann jetzt keinen Deut weni- Es ist an der Zeit, dem Retten eine Richtung
ger, denn die Klimakrise geht weiter, wie Bauern zu geben, weil es nur dann am Ende auch gelin-
gerade lebhaft berichten können. Sechzig deutsche gen kann. 19
Unternehmen riefen diese Woche die Bundesregie-
rung zu Recht auf, die Corona-Rettung und die AA www.zeit.de/audi 4 190745 105507
2 POLITIK 29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19

Gescheitert?
Inkompetenz, Verschwörungstheorien und Wunderheilmittel: Wie die Pandemie den Amerikanern zeigt, dass sie unter einem korrupten Regime leben  VON GEORGE PACKER
Foto: Thomas Höpker/Magnum Photos/Agentur Focus

Die Anschläge vom 11. September 2001 brachten die Amerikaner zusammen. Die Corona-Krise trennt sie voneinander

A
ls das Virus in den USA ein­ Wirtschaftskrise, Weltkrieg und Kalter Krieg in der Wie ein ungezogener Junge, der brennende siert. Stattdessen teilte sich die öffentliche Meinung Teststationen zu schaffen. Dazu kam es nie. Er
traf, fand es ein Land mit Erinnerung sehr präsent waren. Damals betrachteten Streichhölzer auf eine ausgetrocknete Wiese wirft, selbst dann, als das Virus sich vom Demokraten- auf machte inkompetente Gouverneure für den­
schweren Vorerkrankungen vor die Menschen im ländlichen Kernland New York begann Trump, das zu opfern, was vom staatsbürger­ das Republikaner-Terrain ausbreitete, entlang der Mangel an Ausrüstung und Schutzkleidung ver­
und nutzte sie skrupellos aus. noch nicht als fremdartige Ansammlung von Ein­ lichen Leben im Lande noch übrig war. Er hat nie bekannten parteipolitischen Fronten. antwortlich.
Chronische Leiden – eine kor­ wanderern und Liberalen, die ihr Schicksal verdient auch nur so getan, als wäre er der Präsident des ganzen Das Virus hätte auch ein starker Gleichmacher Das Hereinschneien dieses blassen Dilettanten im
rupte politische Klasse, eine er­ hatten, sondern als großartige amerikanische Stadt, Landes. Stattdessen hat er uns entlang der Grenzen sein müssen, doch von Anfang an wurden seine Aus­ schmalen Anzug mitten in eine tödliche Krise si­gna­
starrte Bürokratie, eine herzlose die im Namen des ganzen Landes einen schweren von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Religion, wirkungen durch die Ungleichheit verzerrt, die wir li­siert den Zusammenbruch eines ganzen Regierungs­
Wirtschaft, eine gespaltene, abgelenkte Bevölke­ Schlag erlitten hatte. Feuerwehrleute aus Indiana Bildungsgrad, Region und parteipolitischer Präferenz schon so lange hinnehmen. Als Testkits nicht aufzu­ modus – mag er auch noch so sehr mit Ausdrücken
rung – waren seit Jahren nicht behandelt worden. legten über 1200 Kilometer zurück, um sich an den ge­gen­ein­an­der ausgespielt. Sein wichtigstes Werkzeug treiben waren, gelang es den Reichen und gut Ver­ aus dem BWL-Studium um sich werfen, um das
Wie schwerwiegend sie waren, offenbarte sich erst Rettungsmaßnahmen am Ground Zero zu beteiligen. beim Regieren war die Lüge. Ein Drittel des Landes netzten – Model und Reality-TV-Moderatorin Heidi eklatante Versagen der Regierung seines Schwieger­
durch die direkte Erfahrung einer Pandemie. Sie Unsere spontane Re­ak­tion als Bürger bestand darin, schloss sich in einem Spiegelkabinett ein, das es für Klum, sämtlichen Spielern der Basketball-Mannschaft vaters zu verschleiern. Wie sich zeigt, sind wissen­
erschütterte uns Amerikaner mit der Erkenntnis, zu trauern und uns gemeinsam stark zu machen. die Realität hielt; ein Drittel verlor bei dem Versuch, Brooklyn Nets, den konservativen Verbündeten des schaftliche Sachverständige und andere Staatsbeamte
dass wir zur Hochrisikogruppe gehören. Durch parteipolitisches Kalkül und katastrophale an der Vorstellung einer erfassbaren Wahrheit fest­ Präsidenten – irgendwie dennoch, sich testen zu las­ keine verräterischen Mitglieder eines deep ­state,
Die Krise erforderte rasches, rationales, gemein­ politische Entscheidungen, insbesondere zum Irak- zuhalten, fast den Verstand; und ein Drittel gab sogar sen, und das, obwohl viele von ihnen gar keine Symp­ sondern unverzichtbare Arbeitskräfte. Werden sie
sames Handeln. Stattdessen reagierten die Vereinig­ Krieg, wurde das Gefühl der nationalen Einheit aus­ diesen Versuch auf. tome hatten. Normale Bürger mit Fieber und Schüt­ zugunsten von Ideologen und Hofierern ausgegrenzt,
ten Staaten wie Pakistan oder Weißrussland – wie ein gelöscht und eine Verbitterung gegenüber der poli­ Trump übernahm eine Regierung, die nach jahre­ telfrost mussten in langen Schlangen warten, um am gefährdet das die Gesundheit der Bevölkerung. Wie
Land mit minderwertiger Infrastruktur und einer tischen Klasse gefördert, die nie ganz abgeklungen langen rechtsgerichteten ideologischen Angriffen, Ende doch abgewiesen zu werden. Im Internet kur­ sich zeigt, sind »agile« Unternehmen nicht in der
dysfunktionalen Regierung, deren Chefs zu korrupt ist. Durch die zweite Krise – den Zusammenbruch einer Politisierung durch beide Parteien und stetigem sierte der Witz, man könne nur auf eine Weise heraus­ Lage, sich auf eine Katastrophe vorzubereiten oder
oder zu dumm waren, um massenhaftes Leid abzu­ des Finanzsystems im Jahr 2008 – wurde sie noch Zusammenstreichen der Mittel gelähmt war. Er finden, ob man an dem Virus erkrankt sei: indem man lebensrettende Güter zu verteilen – das schafft nur
wenden. Die US-Regierung vergeudete zwei un­ verstärkt. Die verantwortlichen Spitzenbanker wur­ machte sich daran, die Sache zu Ende zu bringen und einem reichen Menschen ins Gesicht niese. eine kompetente Regierung. Wie sich zeigt, hat alles
wiederbringliche Monate, die sie zur Vorbereitung den öffentlich angeprangert, aber nicht strafrechtlichden Staatsapparat vollends zu zerstören. Er verjagte seinen Preis, und die jahrelangen Attacken auf den
hätte nutzen können. Der Präsident zeichnete sich verfolgt. Die meisten konnten ihr Vermögen behal­ einige der erfahrensten Beamten, ließ entscheidende Die jahrelangen Attacken auf den Staatsapparat, der ausgehöhlt und in seiner Moral
durch vorsätzliche Blindheit, Schuldzuweisungen, ten, einige auch ihre Stelle. Schon bald waren sie Stellen unbesetzt und setzte den eingeschüchterten Staatsapparat haben einen tödlichen Preis geschwächt wurde, bezahlt die Bevölkerung nun mit
Prahlereien und Lügen aus, seine Sprachrohre ver­ wieder voll dabei. Überlebenden loyale Anhänger vor die Nase – mit Menschenleben.
breiteten Verschwörungstheorien und priesen Wun­ All das dauerhafte Leid bekamen Amerikaner in einem einzigen Ziel: seinen eigenen Interessen zu In normalen Zeiten fällt den meisten Amerikanern Der Kampf zur Bewältigung der Pandemie muss
derheilmittel. der Mitte und am unteren Rand der Gesellschaft zu dienen. Durch seine legislative Hauptleistung, eine diese Art von Privileg kaum auf, doch in den ersten auch ein Kampf dafür sein, dass die Gesundheit
Den ganzen schier endlosen März über stellten spüren. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Zuhause und ihreder größten Steuersenkungen in der Geschichte des Wochen der Pandemie löste sie Empörung aus. Die unseres Landes wiederhergestellt und es neu aufge­
die Amerikaner jeden Morgen beim Aufwachen fest, Altersvorsorge. Viele erholten sich nie wieder davon. Landes, flossen Unternehmen und Reichen Hunderte­ krasse Ungleichheit unseres Gesundheitssystems trat baut wird. Andernfalls können wir all das Elend und
dass sie in einem gescheiterten Staat lebten. Da es Die Ungleichheit verschärfte sich weiter. Mil­liar­den Dollar zu. Die Nutznießer strömten in angesichts der Leichen-Kühlwagen deutlich zutage, das Leid, das wir jetzt ertragen müssen, niemals
keinen nationalen Plan, keine einheitlichen Anwei­ Scharen in seine Ferienanlagen und ließen ihm Geld die vor staatlichen Krankenhäusern warteten. wiedergutmachen. Unter der jetzigen politischen
sungen gab, mussten Familien, Schulen und Büros Trump hat nie auch nur so getan, als wäre er zukommen, um seine Wiederwahl zu sichern. Waren Am unverfälschtesten verkörpert den politischen Führung wird sich nichts ändern. So wie sich durch
selbst entscheiden, ob sie einen Shutdown durch­ der Präsident des ganzen Landes Lügen sein Mittel bei der Machtausübung, so war Nihilismus Trumps Schwiegersohn und Berater Jared den 11. September und das Jahr 2008 das Vertrauen
führen und Schutz suchen sollten. Als sich heraus­ Korruption sein Ziel. Kushner. Er wurde 1981 in eine wohlhabende Fami­ in die alte politische Klasse abgenutzt hat, so wird das
stellte, dass Tests, Masken, Kittel und Beatmungs­ Diese zweite Krise trieb einen Keil zwischen Ober- Das war die Landschaft, die das Virus in den lie mit Immobilienimperium hineingeboren. Trotz Jahr 2020 der Vorstellung endgültig ein Ende setzen,
geräte knapp waren, baten Gouverneure das Weiße und Unterschicht, Republikaner und Demokraten, USA vorfand: In reichen Städten eine Schicht seiner mäßigen schulischen Leistungen bekam er Anti-Politik sei unsere Rettung. Doch ein Schluss­
Haus um Hilfe. Dieses jedoch zauderte und wandte Städter und Landbewohner, gebürtige Amerikaner weltweit vernetzter, in Büros arbeitender Men­ einen Studienplatz in Harvard, nachdem sein Vater­ strich unter dieses Re­gime, so notwendig und ver­
sich dann an die Wirtschaft, die aber nicht liefern und Einwanderer, gewöhnliche Bürger und politische schen, angewiesen auf eine prekäre Klasse unsicht­ Charles der Universität eine Spende in Höhe von 2,5 dient er auch sein mag, wäre erst der Anfang.
konnte. Die Bürger holten die Nähmaschinen heraus Führungskräfte. Schon seit Jahrzehnten waren die barer Arbeitskräfte im Dienstleistungsbereich. Auf Millionen US-Dollar zugesagt hatte. Der Vater half Die Krise macht unausweichlich klar, dass wir vor
und versuchten, das unzureichend ausgerüstete sozialen Bindungen einer immer stärkeren Belastung dem Land zugrunde gehende Gemeinden, die sich seinem Sohn auch beim Einstieg in das Familien­ einer Wahl stehen. Entweder wir verbarrikadieren
Krankenhauspersonal gesund und dessen Patienten ausgesetzt, nun begannen sie sich aufzulösen. gegen die moderne Welt auflehnten. In den sozia­ unternehmen mit Darlehen in Höhe von zehn Mil­ uns weiter in der Selbstisolation, meiden ein­an­der
am Leben zu halten. Russland, Taiwan und die Ver­ Beide Parteien begriffen erst langsam, wie stark len Medien gegenseitiger Hass und endlose wechsel­ lionen Dollar. Kushner setzte seine elitäre Ausbildung angstvoll und lassen zu, dass das, was uns verbindet,
einten Nationen schickten humanitäre Hilfe ins sie an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Politik seitige Beschimpfungen der verschiedenen Lager. an der New York University fort. Sein Vater hatte der vollends verschwindet.
reichste Land der Welt – in eine Bettlernation im würde von nun an populistisch sein. Die Vorreiterin In der Wirtschaft trotz Vollbeschäftigung eine gro­ Hochschule drei Millionen Dollar zukommen lassen. Oder wir lernen aus diesen furchtbaren Tagen,
heillosen ­Chaos. Donald Trump betrachtete die dieser Entwicklung war S­ arah ­Palin, die absurd un­ ße, wachsende Kluft zwischen triumphierendem Kushner ist als Wolkenkratzer-Besitzer und als dass Dummheit und Ungerechtigkeit lebensgefähr­
Krise nahezu ausschließlich aus persönlicher und vorbereitete Vizepräsidentschaftskandidatin, die für Kapital und Not leitenden Arbeitern. In Washing­ Zeitungsverleger gescheitert, hat aber immer jeman­ lich sind; dass Bürger zu sein Arbeit bedeutet, die für
politischer Perspektive. Aus Angst um seine Wieder­ Fachwissen nur Verachtung übrig hatte und sich am ton eine leere Regierung unter Führung eines den gefunden, der ihn rettete. Als sein Schwiegervater eine Demokratie wesentlich ist; dass die Alternative
wahl erklärte er die Corona-Pandemie zum Krieg und Prominentsein berauschte. Sie war ­Donald Trumps Hochstaplers und seiner geistig bankrotten Partei – Präsident wurde, erlangte er schnell Macht in einer zur Solidarität der Tod ist. Wenn wir alle wieder aus
sich selbst zum Kriegspräsidenten. Johannes der Täufer. und im ganzen Land eine von Zynismus und Er­ Regierung, die Dilettantismus, Vetternwirtschaft und unseren Verstecken aufgetaucht sind und die Schutz­
Trotz zahlloser Beispiele für Mut und Opfer­ Trumps Sieg fußte auf der Verschmähung des schöpfung geprägte Stimmung, ohne jegliche Visi­ Korruption zu Leitprinzipien erhob. Solange er sich masken abgenommen haben, sollten wir nicht ver­
bereitschaft von Menschen überall in den USA republikanischen Establishments. Doch schon bald on einer gemeinsamen Identität oder Zukunft. nur mit dem Frieden im Nahen Osten befasste, gessen, wie es sich anfühlte, allein zu sein.
handelt es sich um ein Scheitern auf nationaler wurden sich die konservative politische Klasse und Wenn es sich bei der Pandemie tatsächlich um konnte­den meisten Amerikanern sein überflüssiges
Ebene. Und dies sollte eine Frage aufwerfen, die der neue Mann an der Spitze einig. Ungeachtet ihrer eine Art Krieg handelt, ist es der erste seit anderthalb Hineinpfuschen egal sein. Doch seit er ein einfluss­ George Packer ist einer der bekanntesten Reporter der
die meisten Amerikaner sich nie stellen mussten: Meinungsverschiedenheiten bei Themen wie Handel Jahrhunderten, der auf diesem Boden ausgetragen reicher Berater des Präsidenten in der Coronavirus- USA. »Die Abwicklung«, sein Buch über die Folgen
Haben wir das nötige Vertrauen zu unserer poli­ und Zuwanderung verfolgten sie ein gemeinsames wird. Invasion und Besetzung bringen die Bruch­ Pandemie ist, ist das Resultat ein Massensterben. der Finanzkrise, gewann 2013 den National Book
tischen Führung und zu­ein­an­der, um gemeinsam Ziel: öffentliche Finanzen und Vermögen zugunsten linien einer Gesellschaft zum Vorschein, verdeut­ In der ersten Woche in dieser neuen Funktion Award. Er schreibt für »The Atlantic«
gegen eine tödliche Bedrohung vorzugehen? Kön­ privater Interessen auszubeuten. Geldgeber und lichen grundlegende Wahrheiten und lassen aus der verfasste Kushner die schlechteste Oval-Office-
nen wir uns noch selbst regieren? Poli­tiker der Republikaner, die wollten, dass die­ Tiefe den Gestank von Verwesung aufsteigen. Rede mit, an die man sich erinnert, er unterbrach Aus dem Englischen von  Bettina Röhricht
Dies ist die dritte große Krise im jungen 21. Jahr­ Regierung so wenig wie möglich für das Gemeinwohl Eigentlich hätte das Virus bewirken müssen, dass die wichtige Arbeit anderer Amtsträger und machte © 2020 The Atlantic Media Co., zuerst veröffentlicht
hundert. Die erste, die sich am 11. September 2001 tat, konnten mit einer Führung leben, die vom Re­ sich die Amerikaner gegen die gemeinsame Bedro­ törichte Versprechungen, die sich schon kurz da­ in »The Atlantic Magazine«
ereignete, kam zu einer Zeit, als die Amerikaner ge­ gieren kaum eine Ahnung hatte. Und sie machten hung zusammenschließen. Und vielleicht wäre das rauf in nichts auflösten. Er erklärte etwa, er werde
danklich noch im vorigen Jahrhundert lebten und sich zu Trumps Lakaien. unter einer anderen politischen Führung auch pas­ seine Beziehungen nutzen, um Drive-through- AA www.zeit.de/audi
29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19 POLITIK 3

Gelungen?
In Wuhan, dem Epizentrum der Corona-Seuche, inszeniert Chinas KP die erfolgreiche Eindämmung des Virus  VON XIFAN YANG
Foto: Hector Retamal/AFP/Getty Images (gr); kl. Fotos (u., v. l.): Stringer/Getty Images (3)

Nach dem Ende des Lockdowns in Wuhan: Bewohner an einem der vielen Seen der Stadt

E
Wuhan Lu fragt sich seither, ob ihr Mann heute noch Wiedereröffnung am 11. Februar« steht an den der Corona-Krise das Fass der Unzufriedenheit lichen Medien war die Lebensmittelversorgung in
ine Glocke aus Nieselregen und am Leben wäre, hätte das Gesundheitssystem die verriegelten Türen von Geschäften. Noch öfter über die politische Führung zum Überlaufen ge- Wuhan zu jedem Zeitpunkt gesichert. Die Wirk-
Dunst hängt über Wuhan, als Lu beiden nicht im Stich gelassen. Sie fragt sich, wa- liest man: »Neue Mieter gesucht«. So schnell wer- bracht sei. Inzwischen, sagt er, habe er jegliches lichkeit sah in den ersten Wochen des Lockdowns
Nan* mit einer Tüte voller Papier- rum sie umgerechnet 1000 Euro in bar für ihre den sich vermutlich keine finden. Die Corona- Gefühl dafür verloren, wie groß der Frust wirklich anders aus, sagt Zhu Hai. Man muss sich den chi-
geld und kleiner Goldbarren aus Behandlung hinlegen musste, obwohl der Staat die Krise wird Wuhan mit seinen elf Millionen Ein- ist – und wie authentisch der Stolz vieler Lands- nesischen Staatsapparat vielleicht vorstellen wie
Pappe zum Grab ihres Mannes Kostenübernahme für alle Corona-Erkrankten ga- wohnern ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung leute, das Virus mit erzwungener und freiwilliger ein Auto, das zwar auf Druck Vollgas geben kann,
aufbricht, Totengeschenke für den rantiert hatte. Und wie sie in Zukunft ihr Leben kosten, schätzen Ökonomen, Privatunternehmen Disziplin weitgehend eingedämmt zu haben. Ge- aber mit kaputtem Scheibenwischer und ohne
Verstorbenen. Sie steigt das ruß- bestreiten soll, falls sie nicht mehr arbeiten kann. gehen bereits reihenweise bankrott. Ladenbesitzer rade für die Mittelschicht habe der Tod des Arztes Licht durch den Regen fährt. Krankenhäuser wur-
schwarze Treppenhaus hinunter in den Hof, wirft Ihre Lunge schmerzt noch immer, ihren rechten fordern in kleinen Protestaktionen auf der Straße Li Wenliang einen Weckruf bedeutet. Doch die den binnen Tagen aus dem Boden gestampft, doch
einen Blick auf einen verblassten Zettel am Ein- Arm kann sie nur mit Mühe heben. Anspruch auf Mietminderung und Soforthilfe. Der Staat hat al- Gesellschaft habe sich wieder in ihrem gewohnten zugleich behinderte ein Dickicht widersinniger
gang, auf dem »Hier leben Bewohner mit Fieber« eine gesetzliche Rente hat sie in Wuhan nicht. lerdings Angst vor einer neuen Schuldenblase und Verdrängungsmodus eingerichtet, sagt Murong Vorschriften und Fahrverbote die Versorgung.
steht, geht vorbei an dem Wärter im Schutzanzug, Schicksale wie das von Lu Nan fallen aus dem geizt mit Unterstützung. Xuecun. Vielen reiche es, dass die Regierung sich So transportierten Behörden Gemüse in Müll-
dem sie einen grünen Gesundheitscode auf ihrem Raster der offiziellen Erzählung der chinesischen Und da sind die Ungewissheit und die Fragen: entschuldigt und die lokalen Verantwortlichen lastern. Bürger schmuggelten Hilfsgüter in Kran-
Handy entgegenstreckt. Er weicht einen Schritt Regierung. Die Menschen, so wünscht es die Wie hoch ist die Zahl der Corona-Toten in Wu- ausgetauscht habe. kenwagen, weil Lkw die Checkpoints nicht passie-
vor ihr zurück, aber winkt sie durchs Tor. Kommunistische Partei, sollen nach vorn blicken: han wirklich, nachdem am 17. April plötzlich die Die staatliche Propaganda dirigiert geschickt ren durften. Zhus Gruppe war eine Art Notfahr-
»Vor Kurzem ist er noch vor mir weggelaufen«, »Wuhan geht zurück an die Arbeit«, »Wuhan hat offizielle Bilanz um 1290 auf 3869 Opfer korrigiert die Fragen nach dem Ursprung der Corona-Epi- dienst. Privatleute aus dem ganzen Land schickten
sagt Lu, keine 1,50 Meter groß, 64 Jahre alt, durchgehalten«, so beglückwünscht die Stadtregie- wurde? Wo kam das Virus her? Wohin ist die kollek- demie. Die verblichenen Poster der Military World Schutzmaterial und Nahrung. Zhu Hai und ande-
schwarze Regenjacke, sanfte Augen hinter der OP- rung ihre Bürger in überlebensgroßen Leuchtbot- tive Wut über den Tod des Arztes Li Wenliang ent- ­Games im Oktober 2019 hängen noch immer in re verteilten sie an Krankenhäuser und Bewohner.
Maske. Mitte März war das. Ihr Gesundheitscode schaften, die jeden Abend über Hochhausfassaden wichen, der für seine frühen Warnungen vor dem der Stadt – ein wenig subtiler Hinweis auf die Ver- Das »Kleine Licht« hatte 80 Mitglieder. Es gab
leuchtete damals gelb. Lu war gerade aus dem flimmern. Der starken Hand der Partei sei es zu Virus von den Behörden gemaßregelt wurde und schwörungstheorie, wonach fünf US-Athleten, die unzählige weitere Gruppen, an die hunderttau-
größten Quarantäne-Lager der Stadt entlassen verdanken, dass 99 Prozent der Bezirke inzwischen schließlich selbst an Covid-19 starb? Was geschah in während der Wettkämpfe wegen Malaria-Fieber send Bürger engagierten sich ehrenamtlich. »Ein-
worden. 28.000 Quadratmeter, 3840 Betten. Ihr frei seien von der Epidemie, loben Staatsmedien. den dunklen Stunden des Lockdowns? behandelt wurden, das Coronavirus in die Stadt mal haben wir zweieinhalb Tonnen Gemüse in
Mann war zu dem Zeitpunkt bereits Asche. Die Nachbarschaftskader wachen, unterstützt von Auf der Suche nach Antworten trifft man auf gebracht haben sollen. Nach einer anderen Variante, eine Wohnanlage gebracht«, erzählt Zhu Hai. Die
Vor vierzig Jahren hatten sie in einem Bauern- Freiwilligen, an Kreuzungen und den Eingängen Schweigen und verwischte Spuren. Die Mitarbeiter die auch Wuhans Taxifahrer gerne aufwärmen, Rentner hätten sich dort um die Ware geprügelt,
dorf nördlich von Wuhan geheiratet, 2001 zogen der über 7000 Wohnanlagen Wuhans, wo überall in den Krematorien, so ist zu hören, wurden ausge- sollen unter den Millionen Grippekranken in weil ihre Kühlschränke seit Tagen leer gewesen
sie in die Großstadt, den Traum von einem besse- blaue Zelte der Katastrophenhilfe als Checkpoints tauscht, um das Personal vor neugierigen Fragen ab- den USA schon im September 2019 zahlreiche seien. Hausverwalter, die wie Kleinfürsten in ihren
ren Leben für sich und ihren Sohn im Gepäck. Ihr postiert sind. Nur Bewohner mit grünem Gesund- zuschirmen. Kritische Blogger sind verschwunden. Corona-­Infizierte gewesen sein. Eine Untersuchung Wohnanlagen regierten, unterschlugen Hilfsliefe-
Mann arbeitete als Wachmann, sie kellnerte hier heitscode dürfen passieren, das gilt auch für das Der berüchtigte Huanan Seafood Market, wo das der Herkunft des Virus durch internationale­ rungen oder verkauften sie an die Höchstbieten-
und da. Vor zwei Jahren heuerte sie als Putzfrau in Betreten von Shoppingmalls, U-Bahn-Stationen Virus auf den Menschen übergesprungen sein soll, Wissenschaftler lehnt Peking ab. den. Zhu Hai führte darum penibel Buch über
einer Zweigstelle des Wuhan Central Hospital an. und dem Nudelimbiss von nebenan. Elektronische ist mit Trennwänden abgesperrt. Geblieben ist ein Zhu Hai*, 22, glaubt der staatlichen Propagan- jede Spende, seine Akten füllen mehrere Ordner.
Lu schrubbte die Böden auf der Chi­rur­gie-­Sta­tion, Displays auf Taxidächern mahnen: »Mundschutz fauler Gestank von Tierkadavern, die offenbar nicht da schon deshalb nicht, weil er zu den Bürgern Das Netz der unsichtbaren Helfer widerlegt die
als die Ärzte im Januar auf den Gängen über ein tragen, Hände waschen, Abstand halten«. rechtzeitig entsorgt wurden. gehört, die die Bevölkerung versorgten, als der These der KP, dass nur sie Ordnung stiften kann.
neues Virus zu tuscheln begannen. Sie legte Son- Ohne die Selbstorganisation der Bürger hätten
derschichten ein, als sich die Intensivbetten füll- arme und ältere Menschen in Wuhan kaum über-
ten. Sie desinfizierte die Schuhe und Uniformen leben können, sagt Zhu Hai.
der Kollegen, als die Schutzanzüge ausgingen und Was wird von dieser Solidarität bleiben? Zhu
Ärzte und Pfleger zu husten begannen. Mehr als zuckt mit den Schultern. »Freiwillige wie wir sind
200 Mitarbeiter im Krankenhaus steckten sich mit Idioten«, sagt er. Er habe seine Ersparnisse, mehr
dem Coronavirus an, auch Lu Nan. als tausend Euro, für die Benzinkosten seiner Mit-
Am 29. Januar bekam sie Fieber. Lu zog in der streiter eingesetzt. Er zeigt auf den Stapel mit den
Patientenaufnahme eine Nummer, aber es waren Spendennachweisen, die er gesammelt hat. »So-
alle Plätze belegt. Angeblich hatte sie nicht die bald ich sie an die Geber verschickt habe, wird
nötigen Papiere, man schickte sie weg. nichts von uns übrig bleiben. Niemand wird sich
Ihre Brust zog sich zusammen, jeder Atemzug an unsere Namen erinnern.« Und wenn die zweite
fühlte sich an wie ein Messerstich. Weil in der Welle kommt? »Sind wir wieder zur Stelle. Wir
Stadt keine Busse mehr fuhren, nahmen sich Lu sind Idioten, sag ich doch.«
und ihr Mann Leihräder, und wo es keine gab, Vor seiner Hütte steht ein schwarzes Elektro­
gingen sie zu Fuß. Vor den Notaufnahmen war Morgensport am Yangtse-Fluss. Eine Mutter mit ihrem Kind. Bauarbeiter auf einem Wolkenkratzer motorrad. Um über die Runden zu kommen, liefert
kein Durchkommen, erzählt sie. Abend um Abend Zhu Hai nun Essen für einen Bestelldienst aus, für
kehrte das Paar wieder heim. Sie legten Beschwerde 60 Cent Lohn pro Auftrag. Nachts, wenn die Stadt
bei ihrem Nachbarschaftskomitee ein. Sie riefen Wuhan ist in diesen Tagen eine Stadt wider- In diesem Nebel des Unwissens versucht Mu- Staat sich nirgends blicken ließ. Er hat zu sich schläft, fährt er die Straßen ab und sucht nach den
die Hotline der Stadtregierung an. sprüchlicher Stimmungen. Da ist neben der ver- rong Xuecun die Wahrheit zu ermitteln. Der nach Hause in einem Altstadtviertel eingeladen: toten Winkeln der Überwachungskameras. Er hat
Am 7. Februar bekam Lus Mann Atemnot. Vier ordneten Freude eine spontane und unverfälschte Name ist das Pseudonym des Pekinger Schriftstel- Ein selbst gezimmerter Verschlag aus Holzbrettern wieder mit dem Sprühen angefangen. An die Mauer
Tage später holte endlich ein Krankenwagen die Erleichterung. Dieser neue Unglücksort der Welt- lers Hao Qun, 46 Jahre alt, ein prominenter Re- und Metallblech, über der Tür hängt das Schild des Krankenhauses, in dem der Arzt Li Wenliang
beiden ab. Lus Zustand besserte sich, ihr Mann wur- geschichte ist an vielen Ecken erstaunlich schön, gimekritiker, der seit Jahren nur noch im Ausland »Diaosi-Dorf«. »Diaosi« bedeutet »Loser«, so be- verstarb, schrieb er: »Es dauert drei Minuten, zu
de an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Am Morgen durchzogen von manikürten Parks und Dutzen- veröffentlichen kann. Seit Anfang April ist er in zeichnet sich Zhu Hai selbst. Er ist ein mittelloser trauern. Es dauert drei Sekunden, zu vergessen.« Am
des 12. Februar schlich sie sich vor Schichtbeginn der den Seen. Die Menschen gehen wieder joggen und Wuhan, um für ein Buch zu recherchieren. »Wir Lebenskünstler: Graffiti-Sprayer, Hobbymusiker, nächsten Morgen war das Graffito verschwunden.
Pfleger in sein Krankenzimmer. Sein Gesicht hatte spielen Federball, Kinder fahren Rollerblades, die Chinesen haben viele Katastrophen erlebt, sie ha- sein Geld verdiente er vor der Corona-Krise mit
eine gelbliche Farbe angenommen, erzählt Lu. Sie Schwertlilien blühen. ben sich in unserer Seele festgesetzt, aber wir sind kleinen Handwerksarbeiten. Als Wuhan abgerie- * Name auf Wunsch der Gesprächspartner geändert
brauche sich nicht zu sorgen, versicherte er. In der- Da sind die Spuren der Schockstarre des Lock- hart im Nehmen und zäh im Erdulden«, sagt er bei gelt wurde, griff er zum Handy und gründete die
selben Nacht starb er an Lungenversagen. downs. »Geschlossen über Chinesisch Neujahr, einem Spaziergang. Er glaubte anfangs, dass mit Freiwilligengruppe »Kleines Licht«. Laut staat­ AA www.zeit.de/audi
4 POLITIK
Immer ungeduldiger wird die Bundesregierung nach dem Zielpunkt ihrer Corona-Strategie gefragt. Aber die Zauberformel gibt es nicht
D
ie Zeit der großen Einmütig-
keit in Deutschland ist vor-
bei. Sie ist einer nie gekann-
ten Ungleichzeitigkeit der
Wahrnehmungen gewichen,
von Panik und Euphorie,
Angstschlottern und Unver-
wundbarkeitsgefühlen. Es ist geradezu eine Achter-
bahnfahrt. Die Kanzlerin sitzt im ersten Waggon
und blickt schon in den Abgrund, während Kriti-
ker der Kontaktbeschränkungen hinter ihr dem
Höhepunkt zujubeln und die Rückkehr der Frei-
heit im Triumph über das Virus feiern. Der Ab-
grund – das ist die Gefahr einer zweiten Welle von
Covid-19-Infektionen, die sich eben nicht mehr
aus wenigen, übersichtlichen Hotspots he-
raus verbreiten, wie das zu Beginn der­
Pandemie etwa während des Karnevals in­
Gangelt im Kreis Heinsberg geschehen war.
Stattdessen schleichen jetzt die Ansteckun-
gen geisterhaft und potenziell überall umher,
bis sie sich im Herbst oder Winter vielleicht
zu einer viel größeren Wucht aufschaukeln
und all das verursachen könnten, was bisher
vermieden wurde: Überlastung der Intensiv-
stationen, heulende Krankenschwestern,
Rationierung der Beatmungsgeräte, Mas-
sensterben. Das stetig wiederholte Kern­
anliegen der Merkelschen Corona-Krisen-
politik ist die Vermeidung des gesellschafts-
politischen Horror-Szenarios schlechthin,
der »Triage«: der Situation, in der Ärzte ge-
zwungen sind, zu entscheiden, wer behan-
delt und wer aufgegeben wird.
Erste Anzeichen für eine zweite Welle
sehen Virologen wie der Charité-Professor
Christian Drosten bereits. Das bisschen
mehr Bewegung und Kontakt, das die Leute
sich zu Ostern genehmigten – also bevor die
ersten Lockerungsmaßnahmen der vergan-
genen Woche in Kraft traten – erhöhte die
Ansteckungsrate in Deutschland auf einen
Wert, der über dem Italiens lag. »Wir ver-
spielen unseren Vorsprung«, fürchtet Dros-
ten, der für seine Warnungen inzwischen
Morddrohungen bekommt.
Kritiker der Regierung dagegen sehen
die Tagesmeldungen und finden nur Grün-
de für Zuversicht: Jedes Mal übersteigt in-
zwischen die Zahl der Genesenen die Zahl
der neu Infizierten. Derzeit sind 39.000
Menschen in Deutschland erkrankt. Das
Robert Koch-Institut gibt die Gesamtzahl
der Infizierten mit 156.200 an (Stand Mon-
tagabend). Von 83 Millionen. Das soll be-
drohlich sein? Und weil es immer mindes-
tens zwei Wochen dauert, bis sich messen
lässt, was man mit einer Entscheidung be-
wirkt hat, läuft jetzt die Wette: War das, was
Bund und Länder am 14. April beschlossen
haben, ein Schritt Richtung Abgrund, oder
der längst fällige Befreiungsschlag? Und
gleich noch eine Frage: Anhand welcher Pa-
rameter wird überhaupt entschieden, wie es
jetzt weitergehen soll?
»Wir haben dauernd die Bedingungen
verändert«, kritisierte NRW-Ministerpräsi-
dent Armin Laschet (CDU) am Wochen-
ende. Erst sei es um die Überforderung des
Gesundheitssystems gegangen. Das habe
man jetzt im Griff, 40 Prozent der Betten
stehen frei. Dann habe man sich auf die
Verdoppelungszahl der Infektionen konzen-
triert. Nachdem die sich prima entwickelt
habe, sei die Reproduktionszahl R ins Spiel
gekommen, also die Zahl derer, die ein Infi-
zierter durchschnittlich ansteckt. Und nun
schließlich müsse die Zahl der Neuinfektio-
nen auf wenige Hundert Fälle täglich ge-
drückt werden. Bei Laschet klingt es, als
suche die Regierung, seine Bundesregie-
rung, nach immer neuen Gründen für eine
»Repression« (Christian Lindner).
Was genau will die Regierung also – das
Virus »austrocknen«, wie es beispielsweise
das Helmholtz-Zentrum für Infektionsfor-
schung anstrebt? Oder eine Art Koexistenz?
In den sozialen Medien wird knapper ge-
fragt: Habt ihr überhaupt einen Plan?
Wo auch immer sich Mitglieder der
Bundesregierung dieser Tage dem Publikum
stellen, sehen sie sich mit einem Paradox
konfrontiert: Es ist gerade der Erfolg der
Kontaktbeschränkungen, der ihnen jetzt
zum Problem wird.
Verblüfft stellte der Vizepräsident des Robert
Koch-Instituts, Lars Schaade, bei einem mor-
gendlichen Corona-Update fest: »Die Tatsache,
dass Deutschland vergleichsweise wenig Anste-
ckungen und Todesfälle im internationalen Ver-
gleich hat, führt nun dazu, dass das Erreichte in-
frage gestellt wird.«
Noch immer genießen die derzeit geltenden
Maßnahmen die stabile Zustimmung einer Mehr-
heit, aber sie wird geringer. Über eine Million Zu-
schauer riefen das YouTube-Video des Hannovera-
ner Finanzwissenschaftlers Stefan Homburg von
der Leibniz Universität auf, in dem er darauf ver-
weist, dass die Reproduktionszahl schon vor dem
Shutdown am 23. März auf einen beherrschbaren
Wert abgesunken sei. Was Homburg nicht er-
Versuch und Irrtum
wähnte: Die Ursache dieses Werts war die aus
den Google-Bewegungsdaten ablesbare freiwillige
Kontakteinschränkung der Bürger unter dem Ein-
druck von Bildern aus Italien und Warnungen aus
dem Kanzleramt. Homburgs Argument fand
trotzdem seinen Weg in den Bundestag.
Eine gereizte Stimmung ist entstanden: Wir
brauchen das alles nicht mehr. Öffentliche In-
tellektuelle wie Alexander Kekulé, Juli Zeh oder
Julian Nida-Rümelin geben der Tendenz ein
Gesicht.
Im Rückblick auf diese Tage werde man sich
schon bald »gegenseitig viel verzeihen müssen«,
hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am
vergangenen Mittwoch im Bundestag gesagt. Viel-
leicht habe man »an der ein oder anderen Stelle
falschgelegen«. Spahn war nicht zu sprechen für
die Frage, ob er damit auch seine Erlaubnis für
Geisterspiele der Bundesliga gemeint hat – eine
Lizenz also für das völlige Aufgeben der Kontakt-
beschränkungen vor Millionenpublikum. Oder
seine Feststellung, die Pandemie sei »beherrschbar
und beherrschbarer« geworden. Man könnte ihm
auch einen erstaunlichen Sinneswandel der Bun-
desregierung – und etlicher Experten – vorhalten:
Erst waren Masken überflüssig, dann waren sie
Virenschleudern und inzwischen sind sie unver-
zichtbar. Was womöglich damit zusammenhing,
dass man lange Zeit einfach nicht genügend Mas-
ken hatte (auch jetzt fehlt vielerorts medizinische
Schutzausrüstung).
VON MARIAM LAU
Man kann das alles als Planlosigkeit empfin-
den. Der SPD-Politiker und Gesundheitsexperte
Karl Lauterbach, der die jetzige Lockerung der
Maßnahmen für ein »gefährliches, verfrühtes Ma-
növer« hält, glaubt, die Bundesregierung habe drei
wechselnde Strategien verfolgt.
Sie habe zunächst, vor allem angesichts der
Särge aus Bergamo und der Kühlwagen in New
York, sich besonders auf den Ausbau der Intensiv-
kapazitäten und Beatmungsplätze konzentriert.
Die Maxime »flatten the curve« zielte in erster Linie
darauf, dass nicht zu viele Patienten gleichzeitig ins
Krankenhaus mussten.
Als sich abzeichnete, dass das Virus auf diese
Weise nicht ausreichend eingehegt wurde, habe
man auf die sogenannte Herdenimmunität ge-
hofft – also darauf, dass etwa 60 Prozent der Be-
völkerung womöglich unbemerkt eine Infektion
durchlaufen könnten, dann gesunden, immun
sind und sich das Virus deswegen nicht mehr ver-
breiten könne. Aber inzwischen zeigen alle ein-
schlägigen Studien, dass die Zahl der Infizierten
bei zwei bis vier Prozent der Bevölkerung liegt. Es
würde also theoretisch etwa 25 Jahre dauern, bis
in Deutschland eine Herdenimmunität erreicht
ist, und außerdem Hunderttausende Todesopfer
fordern. Die Strategie der Herdenimmunität
kommt also auch nicht infrage.
Mittlerweile habe, so sieht es Lauterbach, die
Bundesregierung die Idee der Austrocknung des
Virus vorerst aufgegeben. Die Infektionszahlen sind
derzeit zu hoch, um jeden einzelnen Fall nachzuver-
folgen und zu isolieren. Die Gesundheitsämter, so
schätzt man im Kanzleramt, können etwa 300 Fälle
pro Tag bewältigen, aber es sind derzeit 1500 bis 2000
täglich. Stattdessen jetzt »Mitigation«, also in Schach
halten, moderate Schutzmaßnahmen aufrechterhal-
ten, mit dem Virus leben lernen. Das bedeutet aller-
dings etwas, über das keiner offen spricht, vermutlich
nicht einmal im kleinsten Kreis, und das wohl trotz-
dem unvermeidlich ist: Man nimmt mit dieser Stra-
tegie mehr Infizierte, infolgedessen auch mehr Tote
in Kauf, als wenn man noch länger an den bisherigen
Kontaktbegrenzungen festhalten würde.
Konfrontiert man Mitglieder der Bundesregie-
rung mit dem Eindruck der Planlosigkeit, reagie-
ren alle ähnlich wie CDU-Gesundheitsminister
Jens Spahn im Bundestag: »Es gibt kein Corona-
Lehrbuch, das wir jetzt Seite für Seite abarbeiten.
Wir wissen noch sehr wenig über dieses Virus.«
Oder: »Wir arbeiten nicht unter Laborbedingun-
gen.« Mit anderen Worten: Versuch und Irrtum.
Ein beredtes Beispiel ist die schwere Geburt der
Corona-App, die Kontakte mit Infizierten mittei-
len soll. Alle sind sich einig, dass eine derartige
Technologie unerlässlich ist. Es liegt auch auf der
Hand, dass eine zentrale Sammlung dieser Daten
für die Gesundheitsbehörden ein Riesenfortschritt
wäre. Aber Jens Spahn musste dieses Vorhaben
aufgeben: Es scheitert an datenschutzrechtlichen
Vorbehalten. Diese werden keineswegs nur von
den beteiligten Experten gehegt, sondern auch von
29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19
weiten Teilen der Bevölkerung, die aber dringend
mitmachen muss, wenn das alles klappen soll.
Wenn die Leute eher Google vertrauen als dem
Robert Koch-Institut, kann man diesen Teil der
Seuchenbekämpfung vergessen (siehe auch Wirt-
schaft, Seite 25).
Oder: Für den Virologen mag »Containment«,
Austrocknung, der beste Weg sein, um mit Co-
vid-19 fertigzuwerden. Aber wenn zu viele Alte an
ihrer Einsamkeit verzweifeln, zu viele Kinder in
den Wohnungen durchdrehen oder Schuhverkäu-
fer ihre Existenz verlieren, kann ein Kanzleramt
nicht einfach auf Durchzug stellen.
Keiner der Beteiligten verleugnet die täglichen
Lernprozesse, die dann auch Streitfragen der De-
mokratie betreffen. Dass das Bundesverfas-
sungsgericht nicht nur die zeitliche Befris-
tung von Maßnahmen anmahnt, sondern
ein Demonstrationsverbot dann auch gege-
benenfalls zurückweist, wird im Regierungs-
viertel, so seltsam das klingt, fast mit Er-
leichterung zur Kenntnis genommen. Bitte
sehr, da ist sie doch, die von euch vermisste
demokratische Normalität!
Man tastet sich also voran. Dennoch
gibt es ein paar Leitplanken des Regie-
rungshandelns. Sie seien eigentlich wenig
rätselhaft, so wird in der Koalition argu-
mentiert. Die absoluten Zahlen, die Ver-
doppelungszahlen, die Kurve – alles müsse
runter. So würden doch im Grunde alle
»rationalen Länder« verfahren, von Schwe-
den, dem Mekka der Lockerungsbefürwor-
ter – wo man noch ins Café darf, aber eine
verhältnismäßig höhere Zahl von Toten hat
als die Nachbarländer –, bis Frankreich, wo
das Verlassen des eigenen Hauses nur für
eine Stunde am Tag möglich ist. Man sei
erst »da raus«, wenn es einen Impfstoff
gibt, also wahrscheinlich nicht vor 2021.
Bis dahin werde man einfach besser und
besser werden müssen.
Das gilt auch politisch. Natürlich habe man
mittlerweile ein »Demokratieproblem«, heißt
es aus dem Kabinett, nicht erst seit Merkels
»Öffnungsdiskussionsorgien«. Der Vorwurf,
die Kanzlerin traue den Bürgern nichts zu, ob-
wohl diese doch ganz von allein und auch ohne
Kontaktverbote den Reproduktionsfaktor
unter 1 gedrückt hätten, hat gesessen. Auch
die von Laschet geübte Kritik, Merkel orientie-
re sich zu einseitig an Virologen statt am Ge-
samtbild des menschlichen Elends, scheint im
Kanzleramt Eindruck gemacht zu haben, ob-
wohl Merkel in ihrer Regierungserklärung
noch einmal gegen ein »zu forsches Vorgehen«
der Länder schoss. Diskussion werde keines-
wegs unterbunden, nur nehme sich eben
Merkel die Freiheit, auch eine Meinung zu
äußern. Viel mehr kann sie gegenüber den
Ministerpräsidenten allerdings auch gar
nicht tun.
Entgegen anderslautenden Berichten
war diesmal mit »zu forsch« nicht in erster
Linie Laschet gemeint. Denn er wiederum
hat sich die Kritik aus dem Kanzleramt, er
gefährde mit seiner Öffnungspolitik den
Zusammenhalt unter den Ministerpräsi-
denten, zu Herzen genommen und ver-
suchte im Gespräch mit seinen Amtskolle-
gen, einen Kompromiss zur Regelung der
Ladenöffnungszeiten zu finden. Teilnehmer
der Ministerpräsidentenrunde berichten, es
seien vor allem SPD-geführte Länder wie
Rheinland-Pfalz gewesen, die große Ver-
kaufsflächen und Tierparks wieder aufma-
chen wollten. (Ministerpräsidentin Malu
Dreyer soll gerufen haben: »Mein Streichel-
zoo muss weitermachen.«)
Finanzminister Olaf Scholz soll sich in
der Öffnungsfrage dermaßen liberal gezeigt
haben, dass schon der Gedanke aufkam, er
wolle sich über dieses Thema womöglich
wieder als Kanzlerkandidat in Position
Illustration: Erich Brechbühl für DIE ZEIT
bringen. Jedenfalls habe sich Merkel, als ihr
klar wurde, dass nun große Läden in den
Innenstädten öffnen und damit Menschen-
schlangen entstehen würden, mit einem
Satz gewehrt, der vielen noch aus der
Flüchtlingskrise in abgewandelter Form in
Erinnerung ist: »Wenn wir das so machen,
dann ist das nicht mehr mein Papier!«
Aus einem ursprünglich am Bundesin-
nenministerium angedockten Expertenkreis
gelangte dieser Tage ein anderes Strategie-
papier auf Angela Merkels Schreibtisch, das die
Not der gemeinsamen Achterbahnfahrt zur Tu-
gend der Gemeinschaftlichkeit umdeutet und et­
liche praktische und politische Vorschläge zum
Leben mit Sars-CoV-2 macht. Es liegt der ZEIT
vor. Darin heißt es: »Die deutsche Gesellschaft hat
gelernt, dass wir in der Situation eines drohenden
Kollapses unseres Gemeinwesens alle aufeinander
angewiesen sind. Die Solidarität ist die beste Me-
dizin, die wir haben.« In dem Papier wird unter
anderem eine »Experimentierklausel« für innova-
tive Lösungen gefordert, wie mit der Gastrono-
mie, dem Einzelhandel oder den Gottesdiensten
umzugehen sei.
Ob so etwas im Kanzleramt derzeit auf Sym-
pathie stößt, war nicht herauszufinden.
 29 . A P R I L 20 20
o
D I E Z E I T N 19
Hart an der Grenze
Die Krisenmaßnahmen der Politik treiben die Schulden in die Höhe. Und je länger der wirtschaftliche Stillstand anhält,
desto mehr Unternehmen müssen gerettet werden – wie lange reicht das Geld noch?  VON MARK SCHIERITZ
W
enn man die Politik der
Bundesregierung zur
Rettung der Wirtschaft
auf eine Zahl verdich-
ten wollte, dann wäre es
diese: 453 Mil­liar­den.
Auf 453 Mil­liar­den
Euro belaufen sich nach derzeitigem Stand die
staatlichen Gesamtkosten der bisher geplanten
Krisenmaßnahmen. So steht es in einer Aufstel-
lung der Bundesregierung für die Europäische
Kommission in Brüssel.
Dabei wird es womöglich nicht bleiben. Die
Wirtschaft wird nach den Pro­gno­sen der Regierung
in diesem Jahr so stark einbrechen wie nie zuvor in
der Geschichte der Republik, weil Geschäfte ge-
schlossen sind und die Produktion ruht. Und je
länger der Stillstand andauert, desto teurer werden
die Kompensationsprogramme, die den wirtschaft-
lichen Zusammenbruch abwenden sollen. Erst in
der vergangenen Woche hat die Regierung eine­
Erhöhung des Kurzarbeitergelds beschlossen und
die Mehrwertsteuer für Restaurants gesenkt, die
Lufthansa soll eine Geldspritze erhalten, und hinter
den Kulissen denkt man bereits über ein Hilfspaket
für finanzschwache Kommunen nach.
Was die Frage aufwirft: Wie lange können wir
uns das noch leisten?
Man kann diese Frage nicht letztgültig klä-
ren. Niemand weiß zum Beispiel, inwieweit die
Betriebe die bereitgestellten Gelder auch tatsäch-
lich abrufen werden. Und die Finanzwissen-
schaft ist wie fast alle ökonomischen Disziplinen
keine exakte Wissenschaft. Man kann sich einer
Antwort aber annähern.
Den zusätzlichen Finanzbedarf deckt die­
Regierung durch neue Schulden. Das bedeutet
konkret: Sie leiht sich das Geld. Und zwar bei
den­jenigen, die so viel davon haben, dass sie es
selbst nicht ausgeben können oder wollen. Das
sind vor allem Banken und Versicherungen, die
das Geld ihrer Kunden verwalten. Die Schulden-
aufnahme wandelt gewissermaßen privates Spar-
kapital in öffentliche Leistungen um.
Für einen Staat ist nicht die absolute Höhe seiner
Schulden entscheidend, sondern der Anteil dieser
Schulden an der Wirtschaftsleistung. Warum das so
ist, zeigt die folgende Überlegung: Kredite werden
aus Steuereinnahmen bedient, und wenn ein Staat
viele Steuern einnimmt, dann kann er sich mehr
Schulden leisten. Ein armes Land wie Mali wäre
möglicherweise mit einem Kredit in Höhe von zehn
Mil­liar­den Euro schon überfordert, für das reiche
Deutschland mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP)
von rund 3500 Mil­liar­den Euro sind das Peanuts.
Die Regierung nimmt derzeit an, dass die Staats-
schuldenquote, also der Anteil der Schulden am BIP,
auf etwa 75 Prozent steigt. Dabei ist unterstellt, dass
die Wirtschaft im ersten Halbjahr wieder anläuft.
Geschieht das nicht, wird diese Pro­gno­se nicht zu
halten sein. Ein Grund: Einige der Posten im Kata-
log der Hilfsmaßnahmen sind bislang in der Schul-
denaufstellung nur zum Teil berücksichtigt. Das gilt
etwa für staatliche Bürgschaften. Man geht davon
aus, dass diese nicht gezogen werden müssen. Wenn
sich aber die Lage so sehr verschlechtert, dass das
doch nötig wird, steigt die Verschuldung. Die Öko-
nomen der Deutschen Bank haben ausgerechnet,
dass eine Woche Stillstand die Schuldenquote um
etwa 0,3 Prozentpunkte erhöht. Wenn die Wirt-
schaft bis ins zweite Halbjahr hinein ruht, ergäbe
sich ein Schuldenstand von 86,5 Prozent.
Ist das viel? Das kommt auf die Perspektive an.
Illustration: Erich Brechbühl für DIE ZEIT
Ökonomen haben sich in vielen Stu­dien mit der
Frage befasst, wie hoch sich ein Staat verschulden
kann. Ergebnis: Man weiß es nicht genau. »Ein
abstrak­ter Schwellenwert lässt sich nicht definieren«,
sagt Rüdiger Bachmann, Fachmann für Staats-
schulden an der Notre-­Dame-Universität in den
USA. Was man weiß: In der Finanzkrise ist die
Schuldenquote auf 82 Prozent gestiegen, und das
hat das Land relativ problemlos verkraftet.
Andere Staaten sind deutlich höher verschuldet
als Deutschland. Der amerikanische Schulden-
stand belief sich vor Ausbruch der Pandemie auf
109 Prozent der Wirtschaftsleistung, der ­japanische
sogar auf 237 Prozent. Wenn das amerikanische
Vorkrisenniveau der Maßstab für die maximal
mögliche Staatsverschuldung in Deutschland
wäre, könnte die Regierung über die geplanten
435 Mil­liar­den Euro hinaus noch knapp 1300
Mil­liar­den Euro zusätzlich ausgeben. Das reichte
dann bis ins nächste Jahr hinein.
Die Regierung profitiert dabei von einer finanz-
technischen Mechanik, die allen großen Krisen eigen
ist: Je weniger Geld die Menschen ausgeben, weil
sie verunsichert sind oder weil viele Geschäfte ge-
schlossen sind, desto mehr Sparkapital steht dem
Staat für die Kreditaufnahme zur Verfügung. Das
bedeutet: Die ohnehin schon niedrigen Zinsen
fallen dank des hohen Kapitalangebots noch weiter.
Die Schuldenfrage wird dadurch vom Kopf auf
die Füße gestellt. Staaten existieren zumindest als
rechtliches Konstrukt für die Ewigkeit. Sie müssen
also anders als Privathaushalte ihre Schulden nicht
zurückzahlen, sondern können immer wieder alte
Nach oben
Anteil der deutschen Staatsschulden an
der Wirtschaftsleistung in Prozent
2020 (Prognose der
100 %
Bundesregierung):
75 %
80
1991:
39 %
60
40
20
0
1991 1997 2003 2009 2020
ZEIT- GRAFIK/Quelle: Statistisches Bundesamt
Kredite durch neue ersetzen. Die Vereinigten Staa-
ten waren seit der ersten Präsidentschaftswahl im
Jahr 1789 praktisch nie schuldenfrei; an den Finanz-
märkten werden noch heute britische Staatsanleihen
aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gehandelt.
Durch den faktischen Wegfall der Tilgungsver-
pflichtung wird das Zinsniveau zur entscheidenden
Größe für die Tragfähigkeit der Schulden. Wenn die
Zinsen niedrig sind, dann ist ein Anstieg der Staats-
verschuldung leichter zu verkraften. Ein Beispiel:
Im vergangenen Jahr musste Finanzminister Olaf
Scholz für die Schulden des Bundeshaushalts rund
elf Mil­liar­den Euro an Zinsen ausgeben. Im Jahr
2009 fielen für ungefähr die gleiche nominale Schul-
densumme noch 38 Mil­liar­den an. Bei einem Zins-
satz von null wäre – theoretisch – sogar ein unend-
lich hoher staatlicher Schuldenstand denkbar.
In der Praxis ist das alles natürlich ein wenig
komplizierter. Denn auch wenn die Zinsen im
Moment sehr niedrig sind, folgt daraus nicht, dass
sie nicht wieder steigen können. Dann müsste bei
sehr hohen Schulden womöglich ein großer Teil des
Staatshaushalts für den Schuldendienst aufgewendet
werden. Es bliebe wenig Geld für die Rente, für Glas-
POLITIK 5
ANZEIGE
faserleitungen oder für die Bildung. Schlimmsten-
falls droht eine Spirale aus immer schneller steigen-
den Zinsen und immer höheren Schulden.
Deshalb ist eine zweite Größe in diesem­
Zusammenhang von Bedeutung: das Wirtschafts-
wachstum. Denn je stärker die Wirtschaft wächst,
desto stärker steigen die Steuereinnahmen, aus de-
nen die Zinsen bezahlt werden. Eine ökonomische
Faustregel besagt: Wenn die Wachstumsrate über
dem Zinsniveau liegt, dann sinkt eine gegebene
Schuldenquote im Zeitverlauf auch ohne staatliches
Zutun. Diese Quote ist ja ein Bruch: Im Zähler steht
der Schuldenstand, im Nenner das Bruttoinlands-
produkt. Wenn sich nun der Zähler (die Schulden)
langsamer erhöht als der Nenner (die Wirtschafts-
leistung), dann sinkt der Wert dieses Bruchs. Und
das, obwohl überhaupt keine Schulden zurück­
bezahlt werden. Warten, bis sich alles auswächst –
nach dieser Methode haben Länder wie die USA
oder Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg
ihre Staatsfinanzen saniert.
Im Moment kann aber niemand sagen, ob die
Wirtschaft die früher üblichen Wachstumsraten
erreicht, wenn die Auflagen gelockert werden. Viel-
leicht strömen die Menschen wieder in die Geschäf-
te, weil sie sich endlich etwas gönnen wollen. Viel-
leicht bleiben sie aber auch zu Hause, weil sie sich
Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen, vor allem da
noch nicht absehbar ist, wann in den für die deut-
schen Firmen wichtigen Exportmärkten das Ge-
schäft wieder in Gang kommt.
In diesem Fall könnte die Schuldenquote
doch noch außer Kontrolle geraten. Dann hat der
Staat im Prinzip nur drei Möglichkeiten: höhere
Steuern, niedrigere staatliche Ausgaben oder­
Inflation. Alles eher unangenehme Aussichten. In
der SPD wird bereits über einen Lastenausgleich
diskutiert, eine einmalige Vermögensabgabe, wie
AUF DIE DETAILS
sie in Deutschland nach dem Krieg eingeführt
wurde, um die Kriegsschäden zu bezahlen. Die­
Union hingegen erwägt Sparprogramme.
Die meisten Ökonomen raten deshalb dazu, die
Schulden aus Gründen der Vorsicht nicht zu sehr
steigen zu lassen, zumal die Rettungspolitik noch
aus einem weiteren Grund an ihre Grenzen stoßen
KOMMT ES AN.
könnte: Viele Unternehmen werden vom Staat mit
Krediten über Wasser gehalten. Doch je länger die
Produktion ausfällt, desto schwieriger wird es für
die Firmen werden, diese Darlehen wieder zurück- Der neue XPS 13. Gestaltet mit diamantgeschliffenen
zubezahlen. Nach einer im April durchgeführten Kanten, die Ihren Blick aus jedem Winkel einfangen.
Umfrage des Münchner Ifo-Instituts droht schon
nach drei Monaten Stillstand die erste große Pleite-
welle, nach sechs Monaten die zweite. Das wäre Dell.de/XPS
dann also im Juni beziehungsweise im September. Weitere Informationen erhalten
Das Problem: Je größer die Finanzprobleme der Sie kostenlos unter 0800-000 42 30*.
Unternehmen, desto weniger ist ihnen mit zusätz-
lichen Krediten geholfen. Der Staat müsste also
Zuschüsse vergeben. Aber in welcher Form? Und
wer stellt sicher, dass mit dem Geld kein Unsinn
angefangen wird? Es gibt in Deutschland fast
300.000 Firmen mit mehr als zehn Beschäftigten.
Soll da dann überall der Staat einsteigen? Wird es
lange Diskussionen über Kontrollrechte und Ein-
flussmöglichkeiten geben, wie es jetzt bei der Luft-
hansa der Fall ist? Solche Fragen stellt man sich ge-
rade in der Bundesregierung.
Selbst wenn das alles organisatorisch zu machen
wäre: Wäre die deutsche Wirtschaft dann im Ergeb-
nis noch eine Marktwirtschaft? Und welche Folge
hätte es für den maximal möglichen Schuldenstand?
Denn auch das geht aus den ökonomischen Stu­dien
zum Thema Staatsverschuldung hervor: Hohe
Defizite sind dann weniger problematisch, wenn die Windows 10 ist das sicherste Windows aller Zeiten.
geborgten Beträge sinnvoll – was in diesem Fall Dell empfiehlt Windows 10 Pro für Unternehmen.
heißt: wachstumssteigernd – ausgegeben werden.
Auch wenn der Geldvorrat noch eine Weile reicht,
wird die zielsichere Geldverteilung mit jeder Woche © 2020 Dell Inc. oder Tochtergesellschaften. Alle Rechte vorbehalten. Dell GmbH, Main Airport Center, Unterschweinstiege 10, 60549 Frankfurt am Main. Geschäftsführer:
eine größere Herausforderung. Stéphane Paté, Anne Haschke, Robert Potts. Vorsitzender des Aufsichtsrates: Jörg Twellmeyer. Eingetragen beim AG Frankfurt am Main unter HRB 75453, USt.-ID:
DE 113541 138, WEEE-Reg.-Nr.: DE 49515708. Dell, EMC und andere Marken sind Marken von Dell Inc. oder Tochtergesellschaften. Es gelten die allgemeinen
Wie lange können wir uns das noch leisten? Geschäftsbedingungen der Dell GmbH. Änderungen von Preisen, technischen Daten, Verfügbarkeit und Angebotskonditionen sind ohne Vorankündigung vorbehalten.
Druckfehler und Irrtümer vorbehalten. *Mo-Fr.: 8:30-17:30 Uhr (zum Nulltarif aus dem dt. Fest- und Mobilfunknetz).
Vielleicht lässt sich die Frage so beantworten: Theo-
retisch noch ziemlich lange, in der Realität könnte
es irgendwann im Sommer schwierig werden.
6 POLITIK
W »Man wird Schritt
olfgang Schäuble ist jetzt 77, äl-
ter als die Republik. Jede Heraus-
forderung, die dieses Land erlebt
hat, hat er auch erlebt, an die
meisten kann er sich erinnern,
oft hat er an ihrer Bewältigung als Politiker mit-
gewirkt. Zuletzt wurden die Krisen immer häufi-
ger, gefühlt auch immer größer. Doch wenn man
ihm in den vergangenen Jahren mit der Frage kam,
ob das denn diesmal nicht die bislang schwerste
Krise sei, war seine zuver­läs­si­ge Re­ak­tion: Ach was!
Dann begann Schäuble aufzuzählen, was es schon
so alles zu seinen Lebzeiten gab: Kubakrise, Öl-
krise, RAF, diverse Fluten, 9/11, Finanzkrise, Ban-
kenkrise, Klimakrise. Dazwischen streute Schäuble
reichlich Zitate, Bismarck, Tocque­ville, die Krisen
schrumpften so zu Anekdoten, etwas gut Be-
herrschbarem. Regt euch mal nicht so auf, war die
Botschaft, hatten wir alles schon, werden wir alles
auch überstehen.
»Nein, das geht jetzt nicht mehr«, sagt Schäuble
am vergangenen Sonntag, bei einer Begegnung am
Telefon. Und schon daran merkt man, dass diese
Krise anders ist. Wolfgang Schäuble ist nämlich
jemand, der äußerst ungern etwas zugibt. Nun
sagt er: »Etwas Vergleichbares haben wir zu Leb-
zeiten nicht erlebt.« Das Copyright auf diesen Satz
habe die Kanzlerin, und er stimme ihr da vollum-
fänglich (ausnahmsweise) zu. In dem »wir« denkt
Schäuble übrigens ausdrücklich die Ostdeutschen
mit, die 1989/90 auch schon ziemlich Grundstür-
zendes erlebt haben.
Schäuble ist gerade von der Terrasse ins Innere
seines Hauses in Offenburg gerollt. Gut gehe es
ihm, versichert er, ausgezeichnet, wunderbares
Wetter. Wobei das mit dem wunderbaren Wetter
ja auch so eine Sache ist. Man kann darin nämlich
das nächste Menetekel erblicken, aber dazu kommt
er später noch.
Auch er hat ein bisschen gebraucht, um zu be-
greifen, dass das nun wirklich etwas Neues ist.
Hätte man das gleich verstanden, wär’s ja nichts
Neues, sagt Schäuble lakonisch. Lange habe auch
er im Unterbewusstsein noch die Vorstellung ge-
habt, dass es diesmal vielleicht ein bisschen länger
dauern werde, dass danach aber wieder alles wie
vorher sein werde, normal eben. »Zunehmend
begreifen wir, dass auch das nicht so sicher ist«,
sagt Schäuble nun. Wobei er Wert darauf legt,
dass es nicht unbedingt ausschließlich schlechter
werden müsse.
Was bewirkt diese Erkenntnis für ihn selbst,
was geht ihm momentan durch Kopf und Bauch?
»Man wird Schritt für Schritt kleiner«, entgegnet
Schäuble. Jeden Tag werde das deutlicher: wie
klein der Mensch ist, wie relativ. Und auch, dass
die größte Katastrophe womöglich der Mensch
selbst ist, der mit seinem Raubbau an der Natur
vielleicht gerade im Begriff ist, sich selbst umzu-
bringen. So ungefähr hat er auch seinem Pfarrer
geantwortet, als der vor Ostern eine aufmunternde
SMS geschickt hat.
Auch mit der Angst ist es so eine Sache. Man kann
Angst um sich selbst haben. Die habe er nicht, sagt
Schäuble. Dazu sei er einfach schon zu alt. Man kann
aber auch eine andere Angst haben, eine sehr ele-
mentare, eher metaphysische Angst. Schäuble würde
das natürlich nie so nennen. Er rettet sich nun erst
mal ins Pragmatische: »Wir müssen von Tag zu Tag
denken und politisch das tun, was wir können, was
wir müssen.« Was bleibe auch anderes übrig? Nur ist
das, was getan werden muss, eben nicht unumstritten,
und der Streit geht gerade erst los. Auch hier ist
Schäuble sich mit der Kanzlerin einig: Der Lock-
down, so brutal und unerhört er war, war vergleichs-
weise einfach zu bewerkstelligen. Viel schwerer wird
die Lockerung.
Hatte Wolfgang Schäuble, gläubiger Christ,
Parlamentspräsident und Bundestagsdienstältester,
bei allem Pragmatismus in diesen Tagen manch-
mal auch ein apokalyptisches Gefühl? »Ja.« Die
Antwort kommt schnell und bestimmt. Er hat das
Gefühl immer noch. Denn das gehört ja zum Be-
unruhigenden der Situation: die Ahnung, dass die
Apokalypse nicht an einem Tag passiert, mit einem
großen Knall wie in einer bunten Kinderbibel,
sondern vielleicht über einen Zeitraum von hun-
dert Jahren. Und dass wir womöglich in diesen
hundert Jahren leben.
Schon die Babys erschrecken übrigens nach
seiner festen Überzeugung, wenn sie auf die Welt
In Italien haben sich erschreckend viele Mediziner mit dem Coronavirus infiziert. Einer von ihnen war der Hausarzt Vincenzo Leone  VON ULRICH LADURNER
V
aleria Leone sitzt an der Kante ihres
Wohnzimmersofas. Eine schmale, kleine
Frau, den Rücken hat sie durch ein Kis-
sen gestützt. So kann sie sich leichter ge-
rade halten. Aufrecht sitzen, das ist ihr jetzt wich-
tig, da sie in einem Videogespräch vom Tod ihres
Mannes berichtet. Vincenzo Leone ist an einer
Covid-19-Infektion gestorben.
Leicht fällt es ihr nicht, aber Valeria Leone hat
sich vorgenommen, die Geschichte zu erzählen.
Ihr Mann war niedergelassener Hausarzt in Urnia-
no, einer kleinen Gemeinde unweit von Bergamo
in der Lombardei. Er wurde 65 Jahre alt. Vincenzo
Leone ist einer von bislang 150 italienischen Ärz-
ten, die gestorben sind, weil sie sich mit dem Co-
ronavirus infiziert hatten. Das ist eine erschre-
ckend hohe Zahl. Sie zeigt, dass vieles in Italiens
Kampf gegen das Virus schiefgelaufen ist.
»Mein Mann hat das Virus von Anfang an sehr
ernst genommen«, sagt Valeria Leone. Als in den
ersten Februartagen drei Gemeinden in der Lom-
für Schritt kleiner«
Wolfgang Schäuble hat schon viel erlebt, aber diese
Krise sei anders, sagt er. Ein Gespräch über
Enkelkinder und Apokalypse  VON TINA HILDEBR ANDT
»Die Menschheit muss nicht am Ende sein«,
sagt Wolfgang Schäuble. »Die Menschen sind
eher freundlicher geworden«
Alleingelassen
bardei unter Quarantäne gestellt wurden, begann »Was hätte er tun sollen?«, sagt seine Frau. Er war
Vincenzo Leone Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Arzt, und es kam für ihn nicht infrage, sich aus-
»Er aß zu Hause allein, er wusch sich in einem se- gerechnet jetzt zurückzuziehen. Erst nach Wochen
paraten Bad und desinfizierte alles mit großer lieferten die Gesundheitsbehörden die erste Aus-
Sorgfalt«, berichtet seine Frau. Die Gemeinden, rüstung für Leones Praxis. »Er bekam 13 Schutz-
die als Erstes unter Quarantäne gestellt wurden, masken und einen Wegwerfkittel«, sagt Valeria
liegen nicht weit entfernt von Leones Praxis. Leone bitter.
Trotzdem bekam er von den Gesundheitsbehörden Es half nichts, Vincenzo Leone infizierte sich.
nur wenige Informationen über das Virus. Am 15. März brachte ihn seine Frau ins Galeazzi-
Vincenzo Leone informierte sich selbst, so gut Krankenhaus in Bergamo. »Das liegt in der Nähe
er konnte. In den ersten Wochen gab es auch der Schule, in der ich dreißig Jahre lang unter-
keine Schutzausrüstung, keine Masken, keine richtet habe«, sagt sie, und es klingt, als sei es für
Kittel, nichts. Marco Aghazzi von der Unabhän- sie eine Hilfe gewesen, ihren Mann in einer ver-
gigen Nationalen Ärztegewerkschaft sagt, die trauten Umgebung zu begleiten. Als sie sich am
Ärzte, insbesondere die Hausärzte, seien auf sich Krankenhauseingang von ihm verabschiedete,
allein gestellt gewesen: »Wir mussten uns irgend- wusste sie nicht, dass sie ihn nicht mehr wieder­
wie arrangieren!« So hätten er und seine Kollegen sehen würde. Eine Woche nach seiner Einliefe-
sich anfangs Schutzmasken von einem befreunde- rung, am 22. März, starb Vincenzo Leone.
ten Zahnarzt besorgt. Wenige Tage später wurde der Leichnam ein-
Obwohl Vincenzo Leone das Risiko bewusst geäschert. Seine beiden erwachsenen Söhne Gia-
war, hielt er seine Praxis für die Patienten offen. como und Carlo durften ins Krematorium kom-
Foto: Dominik Butzmann/laif
men, sie wohnen weiter weg. Seine Frau Valeria
musste zu Hause bleiben, in Quarantäne. Erst vier
Wochen später bekam sie die Urne mit der Asche
ihres Mannes. Das Bestattungsunternehmen lie-
fert nicht jede Urne sofort einzeln aus. Es gibt eine
Stelle, an der die Urnen gesammelt werden, von
dort werden sie nach und nach verteilt. »Es gibt
vielleicht so etwas wie Schicksal«, sagt Valeria Leo-
ne. »Aber es gibt auch irgendjemanden, der Ver-
antwortung übernehmen muss.«
Nur wer?
Marco Aghazzi von der Ärztegewerkschaft kri-
tisiert die Mitte-links-Regierung in Rom genauso
wie die regionale Rechtsregierung in der Lombar-
dei. Sie hätten die Provinz Bergamo viel früher
unter Quarantäne stellen müssen. In den regio­
nalen Gesundheitsbehörden, sagt Aghazzi, säßen
viele Beamte nicht aufgrund ihrer Qualifikation,
sondern weil sie das richtige Parteibuch hätten.
Im entscheidenden Moment hätten viele von ih-
nen nicht gewusst, was zu tun sei. »Das Haupt-
29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19
kommen. Die Angst wird dann erst mal ange-
brüllt. Er will sagen: Die Angst gehört zum Leben
dazu. Das Sterben auch.
Dass die Angst bei Schäuble im Lauf des Le-
bens abgenommen hat, liegt auch daran, dass er
ein Überlebender ist, im wahrsten Sinne, seit er
nach einem Attentat im Rollstuhl sitzt. Mit dem
klarzukommen, was man kann, und nicht unzu-
frieden zu sein über das, was man nicht kann, aber
gerne können würde, das habe er sich in den letz-
ten 30 Jahren antrainiert, sagt Schäuble. Insofern
fühlt er sich coronamäßig gut gerüstet.
Sorgen macht er sich um andere. Um seine
Kinder, seine Enkel, die er wie viele andere Bürger
in den vergangenen Wochen vor allem auf dem
Bildschirm gesehen hat. Diejenigen also, die das
Leben noch vor sich haben sollten. Auch das hat er
gemeint, als er in einem Interview mit dem Tages­
spie­gel vor ein paar Tagen gesagt hat, man dürfe
den Schutz von Leben nicht über alles stellen.
Man werde da schnell falsch verstanden oder wirke
zynisch, deshalb habe er seine Worte gut abgewo-
gen, sagt Schäuble, es ist ihm wichtig, an dem
Punkt richtig verstanden zu werden.
Eingeschlagen haben die Sätze trotzdem. Eini-
ge haben sie als Relativierung von Leben verstan-
den, andere als kleinen Beschleuniger einer ohne-
hin schärfer werdenden Debatte. Was er also nicht
gemeint haben will: dass man verschiedene Leben
ge­gen­ein­an­der aufrechnen kann oder soll. Son-
dern: Absolut ist nur die Würde des Menschen,
denn die Grundrechte können konkurrieren, und
jede Maßnahme hat einen Preis. Das alles muss
man, so sieht es Schäuble, ins Verhältnis setzen,
verantwortungsvoll abwägen – und man muss sich
bei alldem auch klarmachen, dass der Staat nicht
allen wird alles garantieren können.
Es kriegt momentan alles leicht etwas Biblisches,
Fundamentales. Artenvielfalt, Globalisierung, Seu-
chen, Klima, das alles hänge eben doch zusam-
men, sagt Schäuble, und wie sehr das der Fall sei,
auch das erlebten wir gerade. Trotzdem sei er
überzeugt: »Die Menschheit muss nicht am Ende
sein.« Womöglich werde einiges besser. Sehr kon-
krete Dinge wie die Bezahlung von Pflegerinnen
und Pflegern. Aber auch abstrakte Dinge wie der
Wert der Familie, der Zusammenhalt. Die globale
Mobilität müsse »ein Stück zurückgefahren wer-
den«, auch die Mi­gra­tion übrigens, allerdings un-
ter der Voraussetzung, »dass wir diesen Ländern
mehr helfen«.
Schäuble hält es sogar für möglich, dass Corona
am Ende den Frauen nützt, weil die Art von Ar-
beit, die sie öfter als Männer machen, nun höher
geschätzt werde – und vielleicht auch vergütet. Er
selbst, kleiner Exkurs, sei in Sachen Geschlechter-
gerechtigkeit von seinen Töchtern weitergebildet
worden. Die Erziehungsbemühungen seiner Frau,
räumt Schäuble ein, »waren nicht so erfolgreich«.
Das alles soll aber nicht so klingen, als halte er
die Situation für etwas Gutes. »Ich hätte mir das
nicht gewünscht. Aber es findet ja statt.« Es gehe
deshalb nicht um Zweckoptimismus, sondern da-
rum, wie man Haltung bewahrt und damit auch
Würde. Schäuble betont das oft: dass er entspannt
sei und grund­opti­mis­tisch. Man ahnt dann, wie
hart diese Entspanntheit errungen ist. Und dass er
deshalb so sehr darauf beharrt.
Nicht gemeint haben will Schäuble seine Be-
merkungen zum Lebensschutz übrigens als Seiten-
hieb auf die Kanzlerin, die gesagt hat, dieser stehe
im Zentrum ihrer Motive. Summa summarum
steht Schäuble in dieser Krise politisch an der Seite
von Merkel. Natürlich, wie immer, ohne Ewig-
keitsgarantie.
Vielleicht kippt die relative Krisenstabilität ganz
schnell um, vielleicht schlägt das momentane Ver-
trauen in die Politik bald in Enttäuschung um.
Schäuble hält das für möglich. Er hält aber auch das
Gegenteil für möglich. Vielleicht, so hofft er, »wächst
mit dem Vertrauen in die Politik auch die Bereit-
schaft, wieder mehr Verantwortung zu übernehmen«.
Er jedenfalls habe bei seinen Hand­bike-­Aus­flü­gen,
die er mit einem Freund unternimmt, das Gefühl:
»Die Menschen sind eher freundlicher geworden.«
Dann will Schäuble wieder hinaus, auf seine
Terrasse, und noch ein bisschen lesen: Spiegel und
Licht, den dritten Teil einer Trilogie von Hilary
Mantel. Das Buch handelt von Heinrich VIII. und
Thomas Cromwell, es spielt im England des
16. Jahrhunderts, eine Geschichte von Macht,
Aufstieg und Niedergang.
problem in Italien ist, dass solche Stellen häufig
nicht nach Eignung besetzt werden!«, sagt Aghazzi.
Das kann, wie die Corona-Krise zeigt, katastro-
phale Folgen haben.
Die Nationale Ärztevereinigung Italiens listet
jeden an Covid-19 gestorbenen Arzt auf. Am An-
fang dieser immer länger werdenden Liste steht ein
Zitat des italienischen Dichters Giuseppe Ungaret-
ti: »Die Toten machen keinen Lärm, sie machen
weniger Lärm als das wachsende Gras.« Die Ärzte-
vereinigung schreibt weiter: »Die Namen unserer
Freunde, unserer Kollegen, die hier schwarz auf
weiß stehen, machen aber einen betäubenden
Lärm (...). Wir können nicht weiter zulassen, dass
unsere Ärzte, unser Krankenhauspersonal mit
nackten Händen gegen das Virus kämpfen müs-
sen. Es ist ein ungleicher Kampf, der uns, den
Bürgern und dem Land schadet.«
Valeria Leone sagt zum Abschluss des Ge-
sprächs: »Manchmal habe ich das Gefühl, mein
Mann sei auf die Schlachtbank geführt worden.«
29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
Erdoğan ruft nicht an: Bürgermeister Ekrem Imamoğlu lange vor Ausbruch der Krise, während seines Wahlkampfs 2019 im Ägyptischen Basar in Istanbul
»Unsere Gesellschaft
braucht Hoffnung«
Ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, über das Virus,
die Pressefreiheit und die Handynummer des Staatspräsidenten
Wie beschreibt man in Zeiten von Corona die­
Stimmung in einer 16-Millionen-Stadt? Einer Stadt,
die nie schläft, in der alles zu haben ist, jederzeit,
zumindest für die, die dafür bezahlen können?
Vielleicht beschreibt man die Atmosphäre am b­ esten
mit einem Bild. Ende März postete der türkische
Gesundheitsminister ein Foto der berühmten Gala-
ta-Brücke. Wo sonst dicht an dicht die Angler ste-
hen, Istanbuler und Touristen spazieren gehen und
verweilen, sieht man: Leere. Der Minister bedankte
sich bei den Menschen, dass sie den Empfehlungen
der Regierung folgten.
Und was sagen die Menschen? Einige sagen: Wie
schön die Stadt plötzlich ist, diese Hauptstadt der
Ellenbogen und der Herzlichkeit. Man kann ihre
Schönheit oft vor lauter Menschen gar nicht er-
kennen. Aber da ist auch Traurigkeit, sie so verlas-
sen zu sehen – jetzt im Frühjahr beginnt Istanbul
sich normalerweise mit Touristen zu füllen. Viele
Menschen leben vom Tourismus. Und so gesellt sich
zur Traurigkeit die Angst, wie es weitergehen soll.
Die Regierung hatte das Zuhausebleiben empfoh-
len, nach und nach verfügte sie Reise- und Kon-
taktbeschränkungen, aber keine Ausgangssperren
wie in Spanien oder Italien. Die gab es zuletzt nur
für unter 20-Jährige und über 65-Jährige. Heißt:
Wer Arbeit hat, soll arbeiten.
Ein Leben im Krisenmodus ist in Istanbul ja nichts
Neues, vielleicht wirken deshalb viele Menschen so
gelassen. Oder sie wollen so wirken. Und sie versu-
chen, das Schöne zu erkennen. Wie etwa, dass nun
wieder häufiger Delfine im Bosporus zu sehen sind,
seit kaum noch Schiffe durch die Meerenge fahren.
Ekrem Imamoğlu, einer der populärsten Oppo­si­tions­
poli­ti­ker, ist seit bald einem Jahr Bürgermeister der
Metropole. Die Wahl hatte er 2019 gleich zwei-
mal gewonnen. Die erste wurde nach einem Ein-
spruch der Regierungspartei AKP von Staatspräsident
Erdoğan annulliert. Beim zweiten Durchgang ge-
wann Imamoğlu noch mehr Stimmen. Das Gespräch
mit ihm findet per S­kype statt, der Bürgermeister
sitzt in seinem Büro, an der Wand hinter ihm hängt
ein großes Porträt des Staatsgründers Atatürk.
DIE ZEIT: Herr Bürgermeister, wie schwer hat
das Coronavirus Istanbul getroffen?
Ekrem Imamoğlu: Keine Frage, Istanbul ist das
Zentrum der Corona-Krise in der Türkei. Aber
wir haben keinerlei Daten über die Lage in unse-
rer Stadt. Ob es um Dia­gno­sen geht, die Zahl der
Behandlungen oder andere Themen – alle Infor-
mationen unterliegen der Kontrolle des Gesund-
heitsministeriums in Ankara. Und das gibt nur
Zahlen für die gesamte Türkei heraus. Wir schät-
zen, dass wenigstens 60 bis 65 Prozent der tür­
kischen Corona-Infizierten in Istanbul leben.
Diese Einschätzung hat auch der Gesundheits-
minister kürzlich bestätigt.
ZEIT: Das eine sind die Daten und die erkrank-
ten Menschen – was macht Ihnen noch Sorge?
Imamoğlu: Dass viele Menschen derzeit ihr Ein-
kommen verlieren. Da der Gesundheitsbereich
komplett dem Ministerium unterliegt, sich also
außerhalb unserer Entscheidungsgewalt befin-
det, konzentrieren wir uns als Stadtregierung auf
die sozialen Folgen der Krise. In normalen Zei-
ten bekommen ungefähr 230.000 Familien in
Istanbul Hilfsleistungen der Kommune. In den
letzten 15 Tagen ist die Zahl der Familien, die
solche Hilfen beantragt haben, auf mehr als
600.000 gestiegen. Das ist eine heftige Zahl.
ZEIT: Als Bürgermeister der wichtigsten Stadt in
der Türkei sprechen Sie wahrscheinlich ständig
mit der Regierung in Ankara. Haben Sie eigent-
lich die Handynummer von Präsident Erdoğan?
Imamoğlu: (lächelt) Nein, die habe ich nicht.
ZEIT: Wie oft konnten Sie ihn seit Beginn der
Corona-Krise sprechen?
Imamoğlu: Gar nicht. Ich habe dreimal um einen
Termin beim Präsidenten gebeten, man hat sich
nicht zurückgemeldet.
ZEIT: Die Krise hat einige Konflikte zwischen
der Zentralregierung und manchen Bürgermeis-
tern offenbart, die der Op-
positionspartei angehören.
Beispielsweise hatten Sie
eine Spendenkampagne für »Istanbul ist
Bedürftige ins Leben geru-
fen – und haben deshalb das Zentrum der
eine behördliche Untersu-
chung am Hals. Präsident
Corona-Krise in
Erdoğan sagte: »Es geht
nicht darum, dem Volk zu
der Türkei«
helfen, sondern eine Show
abzuziehen«, er sprach von
einem »Staat im Staate«. Wie erklären Sie sich
diese Aus­ein­an­der­set­zung?
Imamoğlu: Wir sind als Stadtverwaltung eine In­
sti­tu­tion des Staates, es ist unsere Pflicht, dem
Bürger zu dienen. Unser Handlungsspielraum ist
klar in der Verfassung abgesteckt, und eine unse-
rer Aufgaben ist es, das Wohlstandsniveau der
Bürger hoch zu halten. Zu helfen und dafür zu
sorgen, dass keiner unter die Räder gerät. Des-
halb besteht aus unserer Sicht kein Grund für
eine Aus­ein­an­der­set­zung. Derzeit gibt es eine
Untersuchung, ja, ich habe deshalb beim Innen-
minister und beim Gesundheitsminister angeru-
fen und erklärt, dass das jeder Grundlage ent-
behrt. Aber natürlich konnten sie mir nichts ant-
worten. Auch dürfen Stadtverwaltungen, die von
der Regierungspartei AKP geführt werden, Maß-
nahmen ergreifen, die uns Bürgermeistern der
Opposition verboten werden.
ZEIT: Was tun Sie denn als Bürgermeister, um
die Ausbreitung des Virus einzudämmen?
Imamoğlu: Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass
750 öffentliche Gebäude regelmäßig desinfiziert
werden. Wir tun alles in unserer Macht Stehende,
um unseren Beitrag zum Gesundheitssystem zu
leisten, so bringen wir Pflegekräfte in derzeit leer
stehenden Hotels unter, damit sie nach ihrem
Dienst nicht den oft sehr langen Weg nach Hau-
se antreten müssen. Wir verpflegen sie da auch,
das sind etwa 1500 Menschen. Doch eine der
wichtigsten Maßnahmen wäre eine Ausgangs-
sperre. Wir haben unzählige Male gesagt, dass
wir sie brauchen. Aber darüber entscheidet allein
die Regierung. Es gab zwar Ausgangssperren,
aber bislang nur an zwei Wochenenden. Beim
ersten Mal verlief es sehr unglücklich ...
ZEIT: ... das Innenministerium hatte sie mit nur
zwei Stunden Vorlauf verkündet. Die Menschen
stürmten daraufhin in die Supermärkte und Bä-
ckereien, es bildeten sich lange Schlangen ...
Imamoğlu: ... dabei ist es fraglich, ob zwei Tage
überhaupt etwas bringen. Die Stadt Istanbul hat
einen eigenen Wissenschaftsrat zu Corona ein-
berufen. Diese Experten sagen uns, die Men-
schen sollten wenigstens zwei Wochen zu Hause
bleiben. Wir wiederholen daher unsere Forde-
rung nach einer Ausgangs-
sperre. Solange es nur eine
Empfehlung gibt, zu Hause
zu bleiben, sehen wir etwa
15 Prozent der Istanbuler
draußen. Das bedeutet 2,5
bis 3 Millionen Menschen.
ZEIT: Warum verfügt An-
kara keine Ausgangssperre?
Imamoğlu: Mir wurde kein
Grund genannt.
ZEIT: Wie, meinen Sie,
wird es weitergehen?
Imamoğlu: Nach allen uns zugänglichen Daten
würde ich vorsichtig vermuten, dass sich die Lage
Mitte oder Ende Juni bessert. Als Bürgermeister
sorge ich mich nicht nur um die Gesundheit der
Bürger, sondern auch um die Zukunft der Stadt.
Ich denke, wir werden ein bis anderthalb Jahre
mit den wirtschaftlichen Folgen zu kämpfen ha-
ben. Die Welt wird nicht mehr die alte sein.
ZEIT: Teilt die Regierung in Ankara dies der
Bevölkerung hinreichend deutlich mit?
Imamoğlu: Natürlich müssen die Regierenden
der Gesellschaft transparent vermitteln, was uns
erwartet. Die Lage zu beschönigen kann am
Ende zu noch mehr Enttäuschung führen. Kri-
senmanagement lebt vom Kompromiss, von ge-
meinsamen Überlegungen, von Transparenz. Da
macht die Regierung leider keine gute Figur.
ZEIT: Der Gesundheitsminister tritt oft vor die
Kameras und teilt neueste Entwicklungen und
Zahlen mit. Das überzeugt Sie nicht?
POLITIK 7
Das politische
Objekt
Der 150-Euro-Computer
Als die Bundesregierung vorige Woche das
Kurzarbeitergeld erhöhte und die Mehrwert-
steuer für die Gastronomie senkte, erhielt noch
eine weitere Gruppe ein, na ja, Geschenk: arme
Kinder. Arme Kinder bekommen jetzt 150
Euro, damit sie sich ein technisches Gerät kau-
fen können, um am digitalen Unterricht teil-
zunehmen. Die Einmalzahlung läuft unter
dem Stichwort »digitale Teilhabe«, auch wenn
das digitale Teil, das man für dieses Budget ha-
ben kann, wahrscheinlich nicht mal bis nach
den Sommerferien hält. Bei einer schnellen
eBay-Suche findet sich etwa das Angebot »Acer
Laptop defekt« für 130 Euro. Nur Abholung.
Foto: Ozan Kose/AFP/Getty Images; kl. Foto (o. r.): ddp
Dass der Staat jetzt überhaupt Geld für Lap-
tops oder Smartphones verschenken muss, ist
ein Eingeständnis. Denn das sogenannte »Digi-
tale« ist schlichtweg gesellschaftliche Normali-
tät. Wer sich in der digitalen Welt nicht zu-
rechtfindet, hat im Leben einen Nachteil. Dass
es Kinder in Deutschland gibt, die kein Gerät
besitzen, mit dem man vernünftig Texte lesen
oder Videoanrufe machen kann, ist ein Beweis
dafür, dass es Kinder in Deutschland gibt, de-
nen es am Nötigsten fehlt. Anstatt aber wäh-
rend der Krise die Umstände zu ändern, in de-
nen diese Kinder leben, verweist man sie auf
Geräte, die sie von diesen Umständen ablenken
sollen. Mit dem Laptop können sie in die
Wohnzimmer ihrer Mitschüler schauen, in de-
nen es Platz gibt, Obstschalen und Eltern, die
bei den Hausaufgaben helfen.
Die Bundesregierung hat noch einmal spezifi-
ziert, dass die 150 Euro eben ein Zuschuss seien.
Dass die Familien also selbst noch etwas zuzahlen
müssten. Tatsächlich sind im Hartz-IV-Satz für
Kinder im Schulalter ganze 55 Cent für »Bil-
dungswesen« vorgesehen. ANNA MAYR
Torten der
Wahrheit
VON K ATJA BERLIN
Imamoğlu: Natürlich ist es in einer Pandemie
unmöglich, alles perfekt zu machen. Die Men-
schen haben aber ein Bedürfnis nach In­for­ma­ Wer schuld daran ist, dass wir
tion und hinterfragen auch einiges. So gibt es gerade nicht in Fitnessstudios gehen
etwa die Einschätzung, dass das Verhältnis von
Infektionszahlen zu geheilten Infizierten und
Todesfällen kaum mit den Vergleichswerten an-
derswo auf der Welt in Einklang zu bringen ist.
ZEIT: Laut New York Times sind im März und
April 2100 Menschen mehr in Istanbul gestor-
ben als sonst üblich.
Imamoğlu: Über unsere Internetseite kann jeder
nachvollziehen, wie viele Menschen sterben. Corona
Und wenn wir uns diese Zahlen anschauen, se-
hen wir, dass es da einen dramatischen Anstieg »Corona«
gibt. Wir erhalten die Totenscheine, aber erfah-
ren nicht, ob dieser oder jener Kranke an Co-
vid-19 gestorben ist. Das sollte das Ministerium Was für Deutsche bei einer
wissen und auch den Grund für den Anstieg der Maskenpflicht im ÖPNV noch
Todeszahlen erklären können. Wir haben dem ungewohnt ist
Gesundheitsminister mitgeteilt, dass wir darüber
informiert werden wollen.
ZEIT: Haben Sie eine Antwort erhalten?
Imamoğlu: Bis jetzt noch nicht.
ZEIT: Als Sie zum Bürgermeister gewählt wur-
den, lautete Ihr Wahlslogan: »Alles wird sehr
schön werden«, man konnte das auch auf die
Stärkung der Grundrechte beziehen, auch auf
die Pressefreiheit. In der Türkei sitzen derzeit
mehr als hundert Journalisten im Gefängnis. die Maske
Nun haben Sie selbst drei regierungsnahe Jour- der ÖPNV
nalisten angezeigt (die Imamoğlus Werben für
eine allgemeine Ausgangssperre mit dem Putsch- ANZEIGE
versuch 2016 gleichgesetzt hatten, Anm. d.
Red.). Ist Journalismus, der Sie kritisiert, ein
Verbrechen?
Imamoğlu: Die Pressefreiheit ist in unseren Au-
gen so wertvoll wie die Luft zum Atmen. Aber
Journalismus bedeutet nicht, einen Menschen
zum Terroristen zu erklären. Wer so etwas macht,
tut nur so, als sei er ein Journalist, dabei tritt er
die Würde eines Menschen mit Füßen. Wie oft
bin ich von anderen Journalisten schon kritisiert
worden und habe niemanden von ihnen ange-
zeigt. Aber ich habe ein Recht darauf, mich ju-
ristisch zu verteidigen.
ZEIT: Wird denn immer noch alles schön wer-
den? Und wenn ja: wann?
Imamoğlu: Nun, »Alles wird sehr schön werden«
ist eine Geisteshaltung, die Hoffnung nährt. Un-
sere Gesellschaft braucht diese Hoffnung. Sie
braucht das Gefühl von Gleichheit, von Gerech- Das Politikteil
tigkeit, von angemessenem Lohn; das Gefühl,
Illustration: Lea Dohle
Am Ende der Woche sprechen
recht bekommen zu können. Sie braucht den wir über Politik. Der neue Podcast
Glauben daran, dass sich die Dinge wirklich än- der ZEIT – jeden Freitag unter:
dern lassen.
www.zeit.de/politikpodcast
Die Fragen stellte Özlem Topçu
 8 POLITIK
Schwarzes Meer
Erdöl war ein Machtmittel. Heute verliert es dramatisch an Wert. Geht die fossile Weltordnung zu Ende?  VON MICHAEL THUMANN
A
m 9. April um 19.55 Uhr
verlässt die Hercules I den
saudischen Ölhafen Ras
Tanura und nimmt Kurs
auf die Straße von Hor-
mus. Der Supertanker
durchpflügt die Meeren-
ge mit 12,1 Knoten, ver-
rät die Internetseite MarineTraffic. Es ist eines
der größten Schiffe der Welt und hat rund zwei
Millionen Fass Rohöl an Bord. Das ist fast so
viel, wie ganz Deutschland an einem Tag ver-
braucht. Es geht weiter in Richtung Kap der
Guten Hoffnung, bei Redaktionsschluss am
Montag fährt der Tanker an der südafrikani-
schen Küste entlang. Ziel ist der amerikanische
Hafen von Galveston-Houston in Texas. Doch
ob die Hercules I ihre Fracht dort wie geplant
am 22. Mai entladen kann, ist völlig unklar.
Denn die Vereinigten Staaten brauchen derzeit
kein Öl aus dem Ausland. So wie die Welt in diesen
Tagen überhaupt wenig davon braucht. Aber das
Öl ist bestellt. Zwanzig solcher Supertanker sind in
diesen Tagen mit rund 40 Million Fass Rohöl aus
Saudi-Arabien unterwegs in die Vereinigten Staa-
ten. Das macht die amerikanische Regierung und
die Behörden in Texas nervös. Denn die Rohöl­
lager der USA mit einer Kapazität von immerhin
650 Millionen Fass drohen überzulaufen. Viele
Schiffe wie die Hercules I werden als Lagerstätte
Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik: Reuters; thebalance.com; www.eia.gov (u.)
gebucht und schwimmen auf den Ozeanen, ohne
Ziel, ohne Auftrag und ohne Ahnung, wann sie
ihre Fracht wieder loswerden können.
Mitte April wurden bereits 160 Millionen Fass
weltweit in Schiffen auf dem Meer gebunkert.
Ernie Barsamian, Vorstandsvorsitzender von Tank
Tiger, einer Lager-Firma, sagt, die großen Schiffe
seien ausgebucht. »Was es jetzt noch gibt, sind
schwimmende Töpfe und Pfannen.« Die Super-
macht USA ersäuft im Öl. Deshalb sieht der repu-
blikanische Senator Ted Cruz aus dem Ölstaat
Texas in zusätzlichen Lieferanten wie der Hercu-
les I eine Bedrohung. Seine Forderung an die Sau-
dis: »Dreht zum Teufel noch mal eure Tanker um!«
Der Schock von letzter Woche sitzt tief. Am 21.
April sank der Ölpreis WTI in den USA kurzfristig
auf minus 40 Dollar, zum ersten Mal in der Ge-
schichte musste der Besitzer eines Fasses Öl beim
Verkauf draufzahlen. Inzwischen pendelt sich welt-
weit der Preis des Rohstoffs bei 15 bis 20 Dollar
pro Fass ein. Nachdem er vor drei Monaten noch
bei dem Vierfachen und vor fünf Jahren bei dem
3 Mrd. Fass haben die westlichen
Industrienationen als strategische Reserve
eingelagert – die 35 Mitgliedsstaaten
der Organization for
Economic Development (OECD)
Zehnfachen davon gelegen hat. Die Coro-
na-Krise hat die USA als größten Öl-Produ-
zenten der Welt hart getroffen. Flugzeuge,
die nicht mehr abheben, Autos, die nicht
mehr fahren, Fabrikschlote, die nicht mehr
rauchen: Das Virus entpuppt sich nicht nur als
Bedrohung der Menschheit, sondern auch als
Feind des Öls. Denn wo die Produktion weit-
gehend stillsteht, sinkt die Nachfrage nicht
nur, sie rauscht ins Bodenlose.
Natürlich, wenn die Weltwirtschaft wieder
anspringt, wird auch kurzfristig mehr Öl ver-
braucht werden. Wohlgemerkt: kurzfristig.
Die Corona-Krise beschleunigt mit Wucht
eine Entwicklung, die bereits vor der Pande-
mie einsetzte und deren Folgen danach in ih-
rer ganzen Dramatik erkennbar werden: Die
Weltordnung, in der das Verbrennen von Erd-
öl normal war und sich politische Macht auf
fossile Rohstoffe gründete, geht zu Ende. Die Erd-
erwärmung, der Aufschwung erneuerbarer Ener-
gien, die Dekarbonisierung der Wirtschaft – all
dies hatte den Stellenwert des Öls schon vor der
Corona-Krise beschädigt. Nun könnte das Petro-
zeitalter in seine womöglich letzte Phase eintreten.
I
n den vergangenen 150 Jahren richtete sich die
Welt nach dem Öl und seinem Preis. Krisen
und Kriege, Aufschwung und Niedergang,
Konsum und Armut, Reisen und Pendeln –
die industrielle Moderne hing an diesem Stoff.
Diese Ordnung schufen Männer wie die Rockefel-
lers, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA
Ölquellen, Raffinerien und Pipelines zusammen-
rafften. Oder die Rothschilds, die sich mit den
Nobel-Brüdern einen Wettlauf um das Öl am Kau-
kasus lieferten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs
stellte der Erste Lord der Admiralität, Winston
Churchill, die britische Flotte von Kohle auf Öl um,
um sie schlagkräftiger zu machen und die Deut-
schen zu besiegen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs
begründeten US-Präsident Franklin D. Roosevelt
und der saudische König Abdel Asis ibn Saud eine
Petrofreundschaft, die zum Abstieg des britischen
Weltreichs beitrug – und in den 1980er-Jahren auch
die Sowjetunion in den Ruin trieb. Öl befeuerte
ehrgeizige Mächte auf dem Weg nach oben und
trieb andere Staaten ins Verderben. Wer Zugang
zum Öl hatte, gewann Kriege und Hegemonie.
Heute dagegen kämpfen viele Ölunternehmen
um ihr Überleben. Das konnte nur so schnell ge-
hen, weil die großen Ölländer ausgerechnet zu Be-
1. USA
Die zehn größten Ölförderländer der Welt
12,2
2. SAUDIAR ABIEN 11,8
3. RUSSLAND 11,5
4. K ANADA 5,5
5. CHINA 4,9
ginn der Pandemie einen Preiskrieg gegen-
einander führten. Anfang März zerstritten
sich Saudi-Arabien und Russland, die bei-
den größten Ölförderländer nach den USA.
Da Russland seine Produktion nicht begren-
zen wollte, pumpten die Saudis einfach mehr Öl
auf die Märkte, um den Russen das Geschäft zu
verderben. Ein Kampf der Scheichs gegen die Oli-
garchen, in dem beide Milliardensummen verlo-
ren. Als sich Russen und Saudis Mitte April end-
lich auf Produktionskürzungen einigten, war es zu
spät. Da hatte die Corona-Krise die Weltwirtschaft
schon zum Erliegen gebracht – und damit den­
Ölkreislauf.
Die globale Krise trifft die Amerikaner unter
den großen Förderländern in dieser ersten Phase
am härtesten. Die US-Ölindustrie ist privat, sie
kann sich nicht im gleichen Maße auf Subventio-
nen und Staatsfonds verlassen wie die großen rus-
sischen und saudischen Konzerne. Im April ging
einer der größten Produzenten von Schieferöl
pleite, das durch Aufbrechen von Gestein (Fra-
cking) gewonnen wird. Für Donald Trump, der
auch von der Ölindustrie an die Macht gesponsert
wurde und seither im Amt mit der Kündigung des
Pariser Klimaabkommens und Privilegien für die
Ölkonzerne zurückzahlt, ist das eine Katastrophe.
Per Fracking wollte Trump die Weltmärkte er-
obern, jetzt beendet der Weltmarkt das Fracking,
weil es sich nicht mehr rechnet. Die Ölplattformen
verwaisen, die Angestellten werden entlassen, aus-
gerechnet in Bundesstaaten wie North Dakota
oder Texas, die bei der Wahl im Herbst wieder
Donald Trump wählen sollen.
Doch was hier zerbricht, ist größer als eine
Wahlkalkulation oder ein Sponsorenverhältnis.
Eine weltpolitische Konstellation endet, auf die in
den Krisen der letzten 75 Jahre stets Verlass war:
die saudisch-amerikanische Freundschaft. Der Pe-
tropakt bestand im Wesentlichen darin, dass die
Saudis das Öl lieferten und die USA die Waffen.
Dazu spannten sie ihren Sicherheitsschirm am
Golf auf. Zwar wird Saudi-Arabien in den USA
schon seit 2001 von manchen kritisch betrachtet,
weil die meisten Attentäter des 11. September Sau-
dis waren, doch waren es zumeist Demokraten, die
sich an den Menschenrechtsverletzungen und der
streitsüchtigen Außenpolitik des Königreichs stör-
ten. Nun aber fragen sich superrealpolitische Re-
publikaner: Sind es nicht die Saudis, die mit ihrem
Preiskrieg das Fracking zerstört haben? »Die strate-
gische Allianz, die wir hatten, ist kaputt«, sagt Ke-
Angaben in Millionen Fass pro Tag
vin Cramer, der republikanische Senator von
North Dakota. Der Pakt von Roosevelt und
König Saud von 1945 verliert in diesen Tagen
seine letzten Unterstützer.
Saudi-Arabien selbst kann sich mit zwei
Fakten trösten. Erstens geht es seinem ewigen
Rivalen am Golf nicht besser – der Iran steht
unter dem doppelten Druck von US-Sanktio-
nen und niedrigen Ölpreisen. Zweitens verfü-
gen die Saudis über einen gigantischen Staats-
fonds in Höhe von einer halben Billion Dollar,
das Sparbuch der Nation, von dem sie noch
eine Weile zehren können. Doch die Zeit für
die großen Pläne von Kronprinz Mohammed
bin Salman, sein Land zu modernisieren und
unabhängiger vom Öl zu machen, wird knapp.
Viel Geld, das für Investitionen reserviert war,
dürfte bald für die Unterstützung und Einstel-
lung junger Menschen nötig werden. Schon
heute gibt der Staat die Hälfte seines Etats allein
für Gehälter aus. Hinzu kommen die enormen
Kosten des Jemen-Krieges.
Deutlich dramatischer ist die Lage bereits
heute schon im Irak. Neunzig Prozent der
Staatseinnahmen stammen aus Ölverkäufen.
Die Regierung in Bagdad kann das Geld für
Pensionen, Armenhilfen und Staatsgehälter
nicht mehr aufbringen. Wer dem Land in der
Krise beispringt, ist offen. Genauso wie die
Frage, wer nebenan Syrien wiederaufbauen
kann. Der Nachbar Iran hat kein Geld, Saudi-
Arabien immer weniger, Europa muss sich erst
mal selbst retten. Trump hat ohnehin nichts
zu verschenken. Gut möglich also, dass sich
dschihadistische Milizen in der Zukunft wie-
der massiv als Arbeitgeber anbieten.
Das absehbare Ende der fossilen Ordnung
führt zu allererst zu neuer Unordnung, Un-
übersichtlichkeit und Rivalität.
D
iese Gefahr droht auch in Afrika,
wo die Petrogroßmächte Angola
und Nigeria zu neunzig Prozent
vom Öl-Export abhängig sind.
Auch politisch waren es bislang vor allem die
Öleinnahmen, die etwa das 200-Millionen-
Einwohner-Land Nigeria mit über 250 ethni-
schen Gruppen und 500 Sprachen zusammen-
hielten. Bleibt das Geld weg, drohen dem
größten afrikanischen Land zunächst Wohl-
standsverluste, dann Zerfall und der Aufstieg
dschihadistischer Gruppen. Schon heute su-
6. IR AK 4,7
160 Mio.
7. V.A.E. 4,0
8. BR ASILIEN 3,7
9. IR AN 3,2
10. KUWAIT 2,9
29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19
chen Flüchtlinge den Weg nach Europa über die
Sahel-Staaten Mali und Burkina Faso, die von
Dschihadisten- und Bandenkriegen geplagt sind.
Sollte Nigeria in inneren Konflikten zerfallen,
könnte das zu einem geopolitischen Drama wer-
den – mit unmittelbaren Folgen für Europa.
Für viele europäische Staaten jedoch wird die Zu-
kunft der Petrosupermacht im Osten des Kontinents
am wichtigsten sein. Russland ist für sie Rohölquelle
und Bedrohung zugleich. Das Land beliefert viele
EU-Staaten, auch Deutschland, mit Öl und Gas –
und führt mit dem Geld Kriege. Wladimir Putin hat
im vergangenen Jahrzehnt viel von einer Wirtschaft
jenseits des Öls gesprochen, aber nichts dafür getan.
»Die offizielle Doktrin unseres Landes ist die Kon-
zentration auf fossile Energien«, klagt Michail Kru-
tichin von der Beratungsfirma RusEnergy. Ein Drit-
tel der Steuereinnahmen speisten sich direkt aus Öl,
und die fielen bei einem Preis unter 50 Dollar pro
Fass weg. Russland könne das nicht ausgleichen,
sondern nur in die Ersparnisse greifen, in den Staats-
fonds von gut 125 Milliarden Dollar. Der reiche laut
Finanzministerium höchstens noch für zwei Jahre.
»So eine Krise hat Russland seit 1991 nicht er-
lebt«, sagt der angesehene russische Ökonom Ser-
gei Guriev. 1991 zerfiel die Sowjetunion, als Folge
von Misswirtschaft, Nationalismus und einseitiger
Ausrichtung auf das Öl. Der Petrofluch ist heute
zurück. Guriev glaubt nicht, dass Russland seine
aggressive Außenpolitik so weiter fortführen kön-
ne. In der Wirtschaftskrise werde es schwer, der
Bevölkerung anstelle von ausreichenden Renten
und Einkommen »weiter geopolitische Siege zu
verkaufen«, sagt er. Die Russen würden Putin
nicht mehr glauben, dass die Kriege in der Ukraine
und in Syrien sie nichts kosteten. Längst sinkt die
Popularität des Präsidenten, der sich künftig mehr
anstrengen muss, sein Land zusammenhalten.
Was den Petrogroßmächten im Gegensatz zu
früheren Krisen fehlt, ist Hoffnung. Früher verließen
sie sich darauf, dass Preise fallen und steigen. Diesmal
ist es anders. Die Kaffee- und Ölsatz-Leser erwarten
zumindest bis Ende des Jahres extrem niedrige Preise
von rund 20 Dollar pro Fass. Es schwindet die Angst,
dass uns der Rohstoff ausgeht. Aber die Befürchtun-
gen wachsen, was das Ende des Öls auslösen könnte.
Die Corona-Pandemie wird nicht so bald vorbei sein,
die Klimakrise erst recht nicht. Diese Gleichzeitigkeit
dürfte die Umstellung der Wirtschaft beschleunigen.
In der postfossilen Weltordnung werden Supertanker
wie die Hercules I wohl nicht mehr den weiten Weg
von Saudi-Arabien in die USA fahren.
Fass sind derzeit
auf Schiffen unterwegs
29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19 POLITIK 9
DER POLITISCHE FRAGEBOGEN

»Für andere zu leben ...«

1 Welches Tier ist das politischste? 19 Ist der Staat ein Mann oder eine Frau?
Wenn ich unsere Katze betrachte, würde Bitte begründen Sie.
ich sagen, die ist ein Idealbild. Sie ist un­ Der Staat ist weder ein Mann noch eine
abhängig von Zuneigung, auch für das Frau, so wie Vater Rhein in Wirklichkeit
größte Stück Zucker würde die sich nicht kein Vater und keine Mutter ist, sondern
auf die Hinterbeine stellen, im Gegen­ ein Fluss.
satz zum Pferd. Die macht, was sie will,
die lässt sich nicht bestechen. 20 Welche politische Phrase
So sind Politiker? möchten Sie verbieten?
Ich sage ja: Idealbild. Sie hat auch einen ... darin sah Norbert Blüm den Sinn seines Daseins. Ich höre nicht gern »Wir müssen die
Nachteil – sie ist nicht gesellig. Nehmen Wenige Monate vor seinem Tod hat er sich unseren Fragen gestellt. Menschen dort abholen, wo sie sind«.
wir doch was anderes. Die Wildsau. Die Eine Phrase, die nach verlorenen Wahlen
geht immer im Rudel oder gar nicht. Die Wir veröffentlichen seine 30 Antworten anstelle eines Nachrufs gängig ist, sie soll sagen: Die Wahlen
hat aber auch einen Nachteil. wurden nicht wegen falscher Inhalte ver­
Ja? loren, sondern weil man sie nicht rüber­
Die schaut immer nur auf den Boden. bringen konnte. Diese Phrase verwech­
Da wär die Giraffe gut, mit Fernblick. selt Wähler mit Kindergartenkindern.
Also, ich sage: eine Mischung aus Katze,
Wildsau und Giraffe. 21 Finden Sie es richtig, politische
Entscheidungen zu treffen,
2 Welcher politische Moment hat auch wenn Sie wissen, dass die
Sie geprägt – außer dem Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Kniefall von Willy Brandt? Ja. Wenn ich weiß, dass diese Meinung
Ein Augenblick hat mich beeindruckt. verändert werden kann und verändert
Das liegt jetzt fast 40 Jahre zurück. Der werden muss, bleibe ich bei dem, was ich
Fotos: Jens Grossmann/laif (o. l.); Hannes Jung/laif (o. r.); Konrad Rufus Müller/Agentur Focus (u. l.); Thomas Imo/Photothek/Getty Images (M. r.); Jens Grossmann/laif (u. M.); Ulrich Baumgarten/Getty Images (u. r.)

chilenische Diktator Augusto Pinochet
war gestürzt, der neue Präsident war ge­
wählt und wurde im Stadion von Santiago
in der Nacht vereidigt. Ich war da, in dem
Stadion, in dem Pinochet seine Gegner
einst eingesperrt hatte. Da tanzten dann
in der Nacht zwanzig weiß gekleidete älte­
re Frauen Walzer mit ihren ermordeten
Männern. Mit anderen Worten: Sie tanz­
ten, als hätten sie jemanden im Arm, hat­
ten sie aber nicht, sie tanzten ganz allein.
Dann erschien der neue Präsident Patricio
Aylwin im zivilen Anzug an der Hand
seiner Frau und wurde vereidigt. Ich habe
im Herbst seine Witwe getroffen, darf ich
das noch erzählen?
Ja, natürlich.
Ich habe sie gefragt: »Was haben Sie da ei­
gentlich gedacht, in dem Moment?« Da
hat sie gesagt, sie habe gedacht: Hoffent­
lich bleibe ich mit meinen Stöckelschuhen
nicht im Gras stecken. Und dann sagte sie
meinen Lieblingssatz: »Ich glaube, wir
waren sehr glücklich.« Ist doch schön,
oder? Besonders gefällt mir, dass sie sagte:
»Ich glaube«.
3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Ich hab den Wahlabend 1949 schon mit­
bekommen, da war ich 14. Kurt Schu­
macher hat mich beeindruckt, ein Kriegs­
geschädigter, ihm haben ein Arm und ein
Bein gefehlt, er hat in den Reden ge­
schrien, als ginge es um sein Leben. Ich
erinnere mich an Konrad Ade­nau­er, der
immer dastand wie Petrus auf den
Meeres­wellen, unbeeindruckt.
4 Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Ich bin tränenarm, ich kann mich nicht
erinnern.
5 Haben Sie eine Überzeugung,
die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
Im Notfall gönne ich mir, auch gegen
den Strom zu schwimmen, aber nur im
Notfall.
6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Wahrscheinlich im Kindergarten, wenn
ich den Turm meines Nachbarn umge­
worfen hab.
7 Und wann haben Sie sich
besonders ohnmächtig gefühlt?
Och. Öfter. Auf Kundgebungen zum­
Paragrafen 116, dem Streikparagrafen,
hat die tobende Masse mich ausgebuht.
Und ich hatte nicht den Hauch einer­
Chance, ein Argument vorzubringen. Das
wollten sie gar nicht hören. Ihre Argu­
mente waren faule Eier, die mir am Kopf
runtergelaufen sind, was kein schönes
Gefühl ist. Ich weiß noch, wie ich dachte:
Eigentlich müsst ihr euch schämen.
8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Ich würde kurz vor Toresschluss versu­
chen, Frieden zu schließen mit allen, mit
denen ich im Streit liege.
9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Theoretisch immer dafür, praktisch oft
dagegen.
10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Ich finde immer noch, dass man nicht
lügen sollte, aber man muss auch nicht
jedem immer die Wahrheit ins Gesicht
schleudern. Ich versuche inzwischen, die
Wahrheit mit der Klugheit zu verbinden.
Als junger Mann dachte ich, das sei gar
nicht nötig, man könne und müsse je­
dem die volle Wahrheit sagen.
Ein politisches Buch, das man gelesen haben muss? »Die Bibel.« Norbert Blüm beim Besuch einer Schule für gehörlose Kinder in Kabul,
in seiner Bonner Wohnung, mit Kanzler Helmut Kohl im Wahlkampf 1990, bei einer Kampagnenaktion als Arbeits- und Sozialminister,
mit einem einjährigen Jungen im Arm im Irak und in dem Bildband »Licht Gestalten« von Konrad R. Müller (im Uhrzeigersinn)
11 Könnten Sie jemanden küssen, grund, das nicht dazugehört hat. Ich weiß
der aus Ihrer Sicht falsch wählt? also, wie unbarmherzig Kinder sein kön­
Ich will Ihnen ein Geheimnis ver­raten: nen. Ich habe in den zwei Jahren nie die
Wenn ich jemanden küsse, denke ich nie Schulglocke läuten dürfen, obwohl jede
an die Wahl­urne. Woche ein anderer dran war und wir nur
14 Schüler waren. Diese schwere kindliche
12 Haben Sie mal einen Freund oder eine Niederlage habe ich vor ungefähr zehn
Freundin wegen Politik verloren? Jahren ausgeglichen. Da war ich wieder in
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder dem Dorf, beim Bürgermeister, und ich
sie? sagte zu ihm: »Ich möchte ein Mal die
Ich habe Menschen verloren, weil die­ Schulglocke läuten.« Dann sind wir am
politischen Überzeugungen sich unter­ Samstagnachmittag zur Schule, die Glo­
schieden haben, aber nie einen Freund. cke war inzwischen elektrisch. Und ich
Dann wäre er auch kein Freund. Ein habe den Schalter bedienen dürfen.
Freund ist mehr als ein Parteifreund.
15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
13 Welches Gesetz haben Sie mal ­ war Ihnen als Kind peinlich?
gebrochen? Meine Eltern hatten keine politischen
Als Kind habe ich Kohle aus fahrenden Ansichten. Sie waren politisch unbeleckt,
Güterzügen geklaut, weil wir nichts im aber das war mir nie peinlich. Zu einer
Ofen hatten. Das war natürlich Dieb­ Demokratie gehören auch Menschen,
stahl. Aber das würde ich unter den Um­ die unpolitisch sind. Ich hätte nicht gern
ständen wieder tun. eine Gesellschaft, in der jeder politisch
abkommandiert wird.
14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was 16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
haben Sie daraus politisch gelernt? einen bestimmten politischen Gegner.
Ich war ein Stadtkind, das durch den Eine gute Beleidigung ist ein Augen­
Krieg aufs Land verschlagen wurde. Da blickseinfall. Eine lang geplante politi­
war ich das Kind mit Mi­gra­tions­hin­ter­ sche Beleidigung ist eine Intrige. Beleidi­
gung mit Anlauf ist nicht mein Ding, sie
muss aus dem Bauch kommen.
17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Helmut Kohl.
Warum?
Weil er mit sich und der Welt zerstritten
war. Weil er verbittert war. Weil am Ende
sein Abschied unverdient nicht gut war.
18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Das kann ich wie aus der Pistole geschos­
sen sagen!
Bitte.
Olaf Scholz! Es gab vor vielen Jahren
eine Fernsehdebatte über die Riester-
Rente. Da hat er meine Behauptung,
dass der Riester-Faktor das Rentenniveau
senke, als eine Lüge bezeichnet. Und
zwar so überzeugend! Scholzomatisch!
Kaltschnäuzig! Ich bin sicher, die Anwe­
senden und die Leute an den Fernsehern
dachten: Der Scholz hat recht. So über­
zeugend hat er ge­logen!
Und können Sie den nun aus dem Bauch
heraus beleidigen?
Lügner! Aber das ist keine Beleidigung,
das ist eine Beschreibung.
für richtig halte. Dafür gibt’s in der Ge­
schichte gute Beispiele. Adenauers wei­
chenstellende Entscheidungen der Nach­
kriegszeit wären von keiner Meinungs­
umfrage gedeckt gewesen, weder die
Westbindung noch Marktwirtschaft statt
Planwirtschaft. Das hat er alles durchge­
kämpft. Ich bin gegen Politiker, die sich
erst entscheiden, wenn sie mit dem nas­
sen Finger die Windrichtung kontrolliert
haben.
22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Großes Wort: Empathie. Wenn wir diese
Fähigkeit etwas weiter entwickelt hätten,
hätten wir über Flüchtlinge nicht so re­
den können, wie wir über sie geredet ha­
ben. Da hätten wir Männer und Frauen,
die geflüchtet sind, weil ihre Kinder ver­
hungern oder verdursten, nicht als Tou­
risten bezeichnen können.
23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Den Sinn des Lebens enträtseln. Camus’
Frage »Selbstmord – ja oder nein?« ist die
einzige Frage, über die es sich zu streiten
lohnt. Alles andere sind Nebensächlich­
keiten. »Selbstmord – ja oder nein?« ist die
Frage nach dem Sinn des Lebens, und die
beantwortet die Politik nicht. Dafür ist sie
auch nicht zuständig.
Und wie beantworten Sie die Frage?
Selbstmord – ja oder nein?
Nein. Das Leben hat einen Sinn.
Welcher ist das?
Mit anderen und für andere zu leben.
Oder wenn Sie es weniger ausführlich
wollen: Liebe.
24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Ja. Alte Leute sehen die Vergangenheit zu
rosig.
25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Die Bibel.
Die ist politisch?
Das ist das politischste Buch, das ich über­
haupt kenne. Da ist alles drin, was das
Leben zu bieten hat. Kriminalgeschichten.
Utopien. Wahrheitssentenzen. Spannende
Familiengeschichten. Liebeslyrik.
26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Also, die Welt würde ich so bei sieben
einordnen. Und, tja – wie verrückt bin
ich? Bisschen weniger, hoffe ich. Ich­
hoffe, dass ich unterdurchschnittlich ver­
rückt bin.
27 Der beste politische Witz?
Kurt Biedenkopf und Norbert Blüm be­
treten eine Kneipe und sagen: »Zwei
Kurze!« Sagt der Wirt: »Das sehe ich
doch. Und was wollt ihr trinken?«
28 Was sagt Ihnen das bekannte Bild, das
den russischen Präsidenten Wladimir
Putin mit nacktem Oberkörper und Ge-
wehr in der Wildnis zeigt?
Macho und Krieg sind ein Geschwister­
paar. Abscheulich.
29 Wovor haben Sie
Angst – außer dem Tod?
Dass meine Enkel in einer Welt leben, in
der sie ihren eigenen Kopf nicht mehr für
eigene Gedanken gebrauchen, sondern
ein Algorithmus dies für sie übernehmen
wird. Eine Welt glücklicher Idioten.
30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass die menschliche Natur dem wider­
sprechen wird. Dass es ein angeborenes
Bedürfnis gibt, Besitzer des eigenen Kop­
fes zu bleiben.
Die Fragen stellte Britta Stuff

Norbert Blüm wurde 84 Jahre alt. Während der gesamten Regierungszeit von Helmut Kohl, 1982 bis 1998, gehörte er
als Arbeits- und Sozialminister dem Kabinett an. Der Doktor der Philosophie galt als das soziale Gewissen der CDU
10

Kinder lösen sich nicht in Luft auf, weil

STREIT 29. A P R I L 2020 D I E Z E I T N o 1 9

ihre Eltern gerade den Chef anrufen, zum

Glück nicht. Sie brauchen Zeit und
»Das ist
Zuwendung. Natürlich: Das ist der Job von
Eltern. Aber war es nicht jahrzehntelang
seit 30 Jahren so«
gesellschaftliches Ziel, dass beide Eltern Ich bin Ehefrau, Mutter, Putzfrau, Lehrerin,
auch bezahlte Jobs haben können? Kassiererin. Das bin ich gern. Zusammen mit
Der Beschluss, Kitas und Schulen weiter meinem Mann und meinen vier Kindern
geschlossen zu halten, fiel, obwohl Kinder- wohne ich auf 50 Quadratmetern am Münch-
betreuung für doppelt berufstätige Paare ner Stadtrand. Meine 20-jährige Tochter hat
unmöglich ist. Einer muss also im Job ihr eigenes Zimmer. Zwei Söhne, 17 und elf,
zurückstecken – und wer? Meistens die teilen sich eins. Der zweite der elfjährigen
Frauen. Diese Tendenz zeigt auch eine Um- Zwillinge schläft mit meinem Mann und mir
frage des Wissenschaftszentrums Berlin für im Wohnzimmer. Für eine größere Wohnung
Sozialforschung. Waren wir nicht schon viel fehlt das Geld.
weiter? Sieben Frauen geben Einblicke – In meiner Supermarktfiliale arbeiten viele
und die Managerin Julia Jäkel (Seite gegen- Frauen, die meisten von ihnen sind Mütter.
über) beschreibt, was sie als Rückfall erlebt. Seit die Schulen geschlossen sind, haben wir
Kassiererinnen ein Problem: Wer passt auf
unsere Kinder auf? Und: Wie sollen wir das
mit unserer Mehrarbeit vereinbaren? Eigent-
»Hier herrscht der lich bin ich nur 24 Wochenstunden an der
Kasse. Aber wegen der Pandemie kaufen die
reine Irrsinn« Kunden mehr ein, deswegen arbeite ich­
inzwischen mindestens sechs Stunden mehr,
Es gibt sicher Familien, in denen das partner- auch am Wochenende.
schaftlicher abläuft, aber für mich hat die­ Das Homeschooling meiner Söhne bleibt
Corona-Zeit die Frauenemanzipation um an mir hängen. Zwar ist mein Mann daheim,
Jahre zurückgedreht. In unserer Familie bin weil er berufsunfähig ist. Er hat es im Kreuz,
hauptsächlich ich es – nicht mein Mann –, die eine Folge jahrelanger Arbeit auf dem Bau. Aber
darauf achtet, dass unsere Kinder, sechs, elf sein Deutsch ist nicht so gut. Wir sprechen
und 13 Jahre alt, sich morgens an ihre Schreib- Serbokroatisch miteinander. Manchmal ver-
tische setzen, ich mache Essen und Wäsche sucht er, bei den Matheaufgaben zu helfen –
und muss nebenher sieben Stunden arbeiten. ansonsten sind die Kinder mein Job. Genau wie
Das Unternehmen, in dem ich als Juristin Kochen, Putzen und der Rest des Haushalts.
angestellt bin, hat die komplette Belegschaft ins Das ist seit 30 Jahren so. Ich habe damals und
Homeoffice geschickt. Ich war also eh zu Hause, jetzt nicht darüber nachgedacht, dass man es
als die Schulen dichtmachten. Mein Mann, auch aufteilen könnte. Ich bin es so gewohnt. Gele-
Jurist, kann aus Datenschutzgründen nicht im gentlich kaufen wir zusammen ein. Aber meist
Homeoffice arbeiten. Ich habe nicht den Ein- mache ich das, ich bin ja eh im Geschäft.
druck, dass er sich abends sehr beeilt, zu uns zu Meine Jungs sind auf derselben Schule, aber
stoßen. Hier herrscht der reine Irrsinn. Wenn in verschiedenen Klassen. Das ist besser für
ich morgens in die erste Videokonferenz muss, Zwillinge. Wenn der eine Hausaufgaben hatte,
hatten wir schon die erste Brüllerei. Das Corona- voll beschäftigt war, acht Blätter bearbeiten
Maßnahmen-Gesetz hat in meiner Firma zu musste, war es der andere nicht. Das hat mich
vielen neuen Fragen geführt, die wir rechtlich geärgert. Ich habe mich nicht beschwert, ich
prüfen müssen. Es ist enorm viel zu tun. Wenn versuche es nur zu schaffen. Die Kinder ziehen
ich lese, dass sich im Homeschooling keiner um mit. Wenn ich bei der Arbeit bin, müssen sie
Kinder aus sozial schwachen Familien kümmert, jetzt ihre Aufgaben allein machen. Dann wird
Foto: Courtesy by TOILETPAPER Magazine

denke ich: nicht nur die werden abgehängt. gegessen, dann kontrolliert, dann in einem
Unsere Elfjährige hat letztens eine Woche Corona-Tagebuch aufgeschrieben, was sie heu-
lang brav ihre Lateinaufgaben zum Imperativ te gelernt haben. Das habe ich mir ausgedacht,
abgearbeitet und fragt dann am Sonntag: Was sonst verliere ich den Überblick.
ist ein Imperativ? Hat ihr keiner erklärt. Mein
Mann regt sich wie ich darüber auf, dass Lehrer Tomas G., 48, aus München ist Kassiererin
die Kinder nur mit Arbeitsmaterial zuschütten
und die Stoffvermittlung den Eltern überlassen.
Für ihn ist das ein politisches Problem, für mich
ein praktisches – denn ich habe mich schon
immer um Schulsachen gekümmert. Vor Coro- »Es wird immer Mama

Das Patriarchat lebt!

na war ich am späteren Nachmittag zu Hause,
jetzt bin ich immer hier, aber habe nie Zeit. Dass
meine Kinder rückblickend über diese Wochen
gerufen, nie Papa«
denken werden: War ja auch ganz schön, damals »Mama, schnell Pipi!«, rief meine Zweijähri-
mit Mama zu Hause, ist völlig ausgeschlossen. ge, und ich rannte weg vom Computerbild-
schirm, wo in einer Videokonferenz neun
Julia, 45, aus Berlin ist Juristin Mütter darauf warteten, dass ich meiner
Tochter aufs Klo geholfen haben und mit
Die Corona-Krise zwingt Familien, ihre Kinder noch für Monate zu Hause zu betreuen. dem Rückbildungskurs beginnen würde.
Für viele berufstätige Frauen bringt das eine böse Erkenntnis mit sich: Wenn es drauf ankommt, ist es Als Familienbegleiterin berate ich Mütter mit
Baby. Die berufliche Selbstständigkeit habe ich
»Welcher schnell vorbei mit der Emanzipation. Woran liegt das? Berichte aus dem Stresstest Homeoffice mir hart erarbeitet, alle Kurse waren ausgebucht.
Dann kam Corona.
Mülleimer, Mama?« Seit März bin ich mit drei Kindern allein zu
Hause, zwei, neun und elf Jahre alt. Ich koche,
Neulich kam ich vom Einkaufen nach Hause,
da riefen mein Mann und mein 17-jähriger
»So läuft wenigstens »Ich vermisse eine »Sein Arbeitgeber putze, wasche, erkläre Mathe und gebe meine
Kurse online, während meine Jüngste vor der
Sohn vom Balkon: »Hungeeeer!« Der Früh-
stückstisch war nicht gedeckt, die Eier nicht
ein Business« ehrliche Debatte« zeigt kein Verständnis« Webcam turnt. Mein Mann sagt: »Warum tust
du dir das an? Lass die Kurse doch jetzt sein.«
gebraten, der Kaffee nicht gekocht. Seit Coro- Bis vor Kurzem habe ich Yoga und Ayurveda Ich bin Juristin, keine Virologin, ich kann Vor Corona hatte ich mit einer Kollegin ein Aber mein Job ist mir wichtig. Ich will nach
na fühle ich mich wie im Neandertal! »Mama, unterrichtet, neuerdings sind es Mathe und nicht beurteilen, ob es richtig ist, Kitas bis Modelabel, war selbstständige Fotografin und Corona nicht beruflich von vorn anfangen.
mach Essen!«, »Frau, wo sind meine Socken?«. Deutsch für die dritte und fünfte Klasse. Meine Sommer zu schließen. Was mich aber irritiert, Mutter – mein Freund arbeitete in einer Fest­ Als Chirurg gilt mein Mann als system­
Dabei arbeite ich Vollzeit weiter, eine Woche Töchter sind acht und zehn Jahre alt. Mein ist die Selbstverständlichkeit, mit der das ver- anstellung. Seit Corona bin ich noch stärker als relevant, aber so richtig viel zu tun hat er nicht.
zu Hause, eine im Büro. Mein Mann arbeitet Mann hat eine Firma zur Herstellung von Des- kündet wurde. Als hätte dies nicht massive Mutter eingespannt – mein Freund arbeitet Momentan operieren sie nur Notfälle. Trotzdem
sonst im Ausland, jetzt führt er seine Videokon- infektionsgeräten. Er ist jetzt natürlich gefragt. Konsequenzen für Familien. Als hätten wir weiter wie zuvor. Als Selbstständige könne ich ist er in Tag- und Nachtschichten in der Klinik.
ferenzen vom Esstisch aus. Ich bin trotzdem die Bei mir ist es umgekehrt: Meine Jobs bleiben in nicht seit Jahrzehnten auf die Berufstätigkeit mir meine Zeit halt besser einteilen, sagt er. Und ich kümmere mich um die Kinder. Ich bin
Einzige, die kocht, einkauft, die Putzfrau ersetzt der Krise aus, ich muss darum fürchten, alles zu von Müttern hingewirkt. Selbst als der Chef meines Mannes Corona- ja gerade eh zu Hause – normalerweise gebe ich
und die Wäschehilfe. Meine betagte Mutter verlieren, was ich in den vergangenen sieben Ich höre jetzt oft: »Es ist halt gerade für alle positiv getestet wurde und wir in Quarantäne meine Kurse in einem angemieteten Raum.
muss ich auch noch versorgen. Mein Mann Jahren aufgebaut habe. Zuerst habe ich überlegt, hart.« Aber wir reden doch hier nicht über eine waren, habe primär ich unsere Dreijährige be- Wirklich angezweifelt haben wir diese Auftei-
räumt auch mal die Küche auf, aber meist erst auf Online-Kurse umzustellen. Aber wie soll ich Frage des Engagements – sondern über ein Ding treut. Auch wenn ich sie abgebe, sucht sie mich lung bisher nicht. Es war immer klar, dass er
zwei Stunden nach der Mahlzeit. Da muss ich Ruhe und Achtsamkeit vermitteln, wenn meine der Unmöglichkeit! Meine Zwillinge werden im ständig, ich kann nicht konzentriert arbeiten. Hauptverdiener ist, er kann nicht einfach ent-
Protokolle von Miriam Dahlinger, Stefanie Flamm, Sarah Levy, Charlotte Parnack, Stefanie Witterauf

mich zusammenreißen, es nicht vorher zu über- Töchter im Hintergrund wuseln und die Spül- Mai zwei. Wenn sie um mich sind, kann ich Ich müsste gerade mit meiner Kollegin den Um- scheiden, weniger zu arbeiten. Ich habe ihm
nehmen. Mein Sohn ist Meister im Aussitzen. maschine rattert? Stattdessen halte ich meinem keine Sekunde konzentriert arbeiten. zug unseres Lagers organisieren – aber kaum auch nie das Gefühl gegeben, dass er zu Hause
Neulich habe ich ihn fünfmal gebeten, den Müll Mann den Rücken frei. Inzwischen kommt er Mein Mann und ich haben uns schon vor quengelt meine Tochter, bin wieder ich es, die bleiben soll, bisher kriege ich ja alles hin. Wenn
rauszubringen. Irgendwann habe ich ihm den nur noch zum Essen aus dem Kinderzimmer, Corona die Betreuung geteilt. Aktuell wechseln das regeln muss. Es ist, wie wenn das Kind krank er da ist, geht er einkaufen, räumt die Spülma-
vollen Mülleimer vor die Zimmertür gestellt, er wo er sich ein Büro eingerichtet hat. Ich mache wir uns alle 1,5 Stunden ab. Ich weiß, dass das ist: Da kümmern sich auch meist die Mütter. schine aus, saugt zweimal die Woche durch.
ist stundenlang einfach drübergestiegen. »Wel- ihm keinen Vorwurf, ich mache das gern. So noch Luxus ist. Lange nicht alle Familien kön- Über unsere Rollenaufteilung haben mein »Mama, darf ich zocken?«, »Mama, mir ist
cher Mülleimer?«, fragte er. läuft wenigstens ein Business. nen – oder wollen – sich die Betreuung so auf- Freund und ich schon vor Corona viel diskutiert, langweilig!«, »Mama, ich vermisse meine Freun-
Männer sind besser darin, ihren eigenen Die Schulen behaupten, die Kinder könnten teilen. Und doch bleibt die Aufgabe Wahnsinn: weil sie nicht immer fair war. Durch die Krise de«. Es wird immer »Mama« gerufen, nie »Papa«.
Bedürfnissen zu folgen. Sie schieben Aufga- die Aufgaben selbstständig schaffen. Aber ohne Die Zwillinge wachen um 5.30 Uhr auf, ab da hat sich das hochgeschaukelt. Die ersten drei Die Kleine muss ständig umgezogen werden,
ben auf, bis sie jemand anderes erledigt. Die mich würden sie gar nichts machen. Seit wir alle brauchen Sie volle Betreuung durch einen von Jahre habe ich unsere Tochter betreut und nur gefüttert, beschäftigt. Sie akzeptiert den Papa oft
meisten Frauen, die ich kenne, haben es gern zu Hause sind, bin ich nur noch am Putzen, uns, die Arbeit bleibt liegen. Dabei schrumpft gearbeitet, wenn sie geschlafen hat. Seit einem nicht. Diese Woche hat mein Mann Nacht-
schön. Ich auch. Wir kümmern uns wirklich Kochen und Lehrerin-Spielen. Mein Mann ist das Pensum ja nicht. Ich habe Drittmittel- halben Jahr ist sie im Kindergarten. Um sie auch dienst, tagsüber schläft er. Als wir die Schulauf-
um alles. Das geht nach hinten los. Hauptverdiener, die Hausarbeit war schon projekte, außerplanmäßige Lehrveranstaltun- mal abzuholen, müsste mein Freund früher gaben für die nächsten Wochen bekommen
Letztens forderten mein Mann und mein vorher meine Aufgabe. Ich wollte das so. Würde gen, Autorenaufträge und muss digital meine Feierabend machen. Dafür zeigt sein Arbeitgeber haben, war ich erst mal verzweifelt. Jetzt muss
Sohn: »Mach uns einen Plan, was wir am­ ich Vollzeit arbeiten, könnte ich weder dem Job regulären Vorlesungen halten. aber kein Verständnis. Das sehe ich im Bekann- ich neben Job, Betreuung und Haushalt auch
Wochenende so unternehmen können.« Sie noch den Kindern gerecht werden. Weil ich Ich vermisse eine ehrliche Debatte darüber, tenkreis oft: Viele Chefs verstehen nicht, dass noch Lehrerin spielen. Meine Jungs sind gute
fanden alle meine Vorschläge doof. Da bin ich mich entschieden habe, in der Krise beruflich wie das – oder jeder andere Job – mit der Kinder- auch Väter mal daheim bleiben. Dass die Frau Schüler, ich hoffe, dass sie das weitgehend allein
geplatzt. Jetzt habe ich Urlaub und bin zu­ zurückzustecken, bleibt mehr Zeit füreinander. betreuung vereinbar sein soll. Und darüber, dass sich kümmert, wenn das Kind fiebert oder die hinkriegen. Mein Mann sagt: »Wir müssen­
einer Freundin aufs Land geflüchtet. Das hat Abends machen wir jetzt häufig zu viert Spazier- es im Grunde eben nicht vereinbar ist mit dem Kita geschlossen ist, ist gesellschaftlich so ein- gucken, dass wir dich entlasten.« Aber dann
wahrscheinlich meine Ehe gerettet! gänge, das ist der schönste Teil des Tages. emanzipierten Ideal der arbeitenden Mutter. gesessen, da hat sich noch nicht viel geändert. passiert nichts. Wir wissen nicht, wie.

Anne Neuer (Name geändert), 47, aus Frankfurt Sunita Ehlers, 46, aus Hamburg ist Yoga- Elisa Hoven, 37, ist Professorin für Strafrecht Kerstin Rothkopf, 31, aus München ist ­ Sjoukje L., 39, aus Büdingen ist selbstständige
am Main ist Polizistin Lehrerin und Ayurveda-Coach an der Universität Leipzig Mitinhaberin des Modelabels Womom Familienbegleiterin

29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
eit Tagen arbeitet es in mir, ich möchte etwas dazu
schreiben, aber ich traue mich nicht. Schon immer
engagiere ich mich für mehr Frauen in Führung.
Nicht immer laut, vor allem versuche ich mich selbst
darum zu kümmern. Ich trage Verantwortung für
viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; hier fühle
ich mich verpflichtet zu handeln und kann keinem
die Schuld zuschieben. 46 Prozent der 160 Füh-
rungskräfte in unserem Verlagshaus, Gruner + Jahr,
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Fotos (v.o.): Carsten Milbret/kleinespresseteam; Urban Zintel für DIE ZEIT
sind Frauen, die Hälfte unserer Chefredakteure sind
-innen, Stellvertreterinnen nicht eingerechnet.
Wir haben das alle gemeinsam hinbekommen, es
ist genauso das Verdienst meiner männlichen Kolle-
gen. »Unsere« Männer wollen nicht in Monokulturen
arbeiten, sondern erfolgreich sein. Und schlaue Frau-
en ziehen schlaue Männer an und umgekehrt, so ein-
fach kann das manchmal sein.
Ich wollte mich eigentlich nicht zu dem Thema
äußern, denn jetzt ist Krise. Jetzt geht es darum, das
Unternehmen gut durch diese Zeit zu bringen, die
Zukunft unseres Verlages zu sichern und zu gestalten.
Es ist ernst. Alles andere, so dachte ich einige Wo-
chen lang, wirkt daneben wie »Gedöns«. Die Gefahr,
dass man mich missverstehen könnte, schien mir zu
groß. Denn selbstverständlich geht es jetzt in erster
Linie ums Anpacken.
Doch dann las ich diese Meldung im Ticker: Jen-
nifer Morgan, seit Oktober Co-Chefin von SAP und
damit die erste Frau an der Spitze eines Dax-Kon-
zerns, muss gehen. Der Konzern wünsche sich in
dieser besonderen Krisensituation eine »klare Füh-
rungsstruktur«, man brauche »klare Anweisungen«,
so wird Chris­tian Klein zitiert, der mit ihr zusammen
als Doppelspitze inthronisiert worden war und von
nun an alleiniger CEO ist. Die Frau muss gehen, der
Mann bleibt. Ich kenne die Hintergründe nicht und
60
ZEILEN
...
Wenn der DHL-Mann zweimal klingelt: Warum die alltäglichen Videokonferenzen unser Leben bereichern  VON PETER DAUSEND
In dem Film Peeping Tom setzt ein psychisch gestörter
Killer wehrlosen Opfern ein Messer an den Hals und
richtet seine Kamera auf ihr Gesicht. Er will nicht nur
ihre Todesangst, sondern auch den entsetzten letzten
Blick von ihnen einfangen. Nun, manche, die sich zur-
zeit täglich in Videokonferenzen ihrem Chef stellen
müssen, mögen sich ein wenig so fühlen wie die Opfer
in Peeping Tom. Etwa wenn der fünfjährige Sprössling
dazwischenbrabbelt: »Papa, ist das der Vollidiot, von
dem du immer erzählst?« Oder wenn man vergessen
hat, das Plakat mit dem Spruch »Ein Chef ist auch nur
ein Mensch. Er weiß es nur nicht« abzuhängen.
»Eine Demokratie,
in der nicht gestritten wird, ist keine.«
HELMUT SCHMIDT
weiß natürlich, dass die Dinge meist komplizierter
sind als das Faktum per se, es geht aber auch gar nicht
um SAP. Es geht um mich. Die Nachricht war der
letzte kleine Auslöser, der tipping point, der mich
nun doch dazu bewog, diesen Text zu schreiben.
Mir fällt es in den vergangenen Wochen wie
Schuppen von den Augen: Die Corona-Krise, bei der
es um Leben und Tod, um ganze Existenzen von­
Familien und Unternehmen geht, macht offensicht-
lich, wer in Deutschland wirklich, wirklich entschei-
det. Wie die realen Strukturen sind. Und dass das Ge-
bot der Diversität offenbar nur an ruhigen Tagen zählt.
Was passiert da gerade? Mir scheint, dass sich in
Zeiten der Krise neue Führungszirkel formieren. Zu-
erst fiel es mir bei Gruner + Jahr selbst auf. Unser
»Corona-Kreis«, den wir direkt nach Ausbruch der
Krise flugs installiert hatten und der sich bis vor Kur-
zem täglich morgens um zehn Uhr zur Videokonfe-
renz traf, ist weniger weiblich als sonst bei uns üblich.
Ein Drittel der Entscheider sind hier Entscheiderin-
nen. Immerhin, verstecken müssen wir uns nicht.
Aber es sind eben nicht die 50 Prozent, die ich sonst
in unseren Führungszirkeln erlebe.
D
ann nahm ich an einer großen Telefon-
konferenz mit führenden Verlagsvertre-
tern dieses Landes teil. Politiker wollten
hören, wie wir aktuell die Lage er­leben
und uns ihr Ohr schenken. In der Leitung: aus-
schließlich tiefe Männerstimmen. Ich war die einzige
Frau. In solchen Situationen, auch bei geschäftlichen
Kontakten, bin ich es gewohnt, immerhin mit ein
paar anderen Frauen zusammen im Raum zu sein.
Plötzlich, in der Krise, sind alle Frauen weg.
Ähnliches erleben wir in der öffentlichen Erklä-
rung der Krise. Jana Hensel hat dazu klug auf ZEIT
LIEBE
Ich hingegen liebe Videokonferenzen. Da ich
meine Chefs immer nur dann Vollidiot genannt
habe, wenn meine Kinder nicht dabei waren, und
ich Sprüche nicht aufhänge, kann ich mich da völlig
angstfrei dazuschalten. Und wenn bei den anderen
Kleinkinder durchs Bild irren, wenn zwischendurch
der Teekessel pfeift, das Nudelwasser überkocht und
der DHL-Mann zweimal klingelt; wenn die Bude,
die man da erblickt, so chaotisch unaufgeräumt aus-
sieht, als würde man selbst dort wohnen, dann fühlt
man sich seltsam verbunden – der Kollege wird so
zum Menschen. Hätte man gar nicht gedacht.
Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit
Zurück
in der
Männerwelt
Das Virus macht nicht nur die Luft klarer,
sondern auch die Wirklichkeit im Land: Frauen sind viel
weniger weit, als wir gedacht haben  VON JULIA JÄKEL
ONLINE geschrieben und uns erinnert an eine
»männliche Expertendämmerung«. Sie rief uns die
Bilder vor Augen, die die Krise dominieren: Die­
allermeisten Virologen, die Chefs der Kliniken und
Pflege­ein­rich­tun­gen, die vielen Chefärzte, Verbands-
chefs, der übergroße Teil der Ökonomen, der G ­ e­
sundheitsminister, die dominanten Ministerpräsi-
denten, 24 der 26 Mitglieder der Nationalakademie
Leopoldina – alles Männer.
Wo sind nur die Frauen hin? Die Soziologin Jutta
Allmendinger hat kürzlich darauf hingewiesen, dass
es vor allem die Frauen sind, die seit Wochen dafür
sorgen, dass die Kinder im Home­schoo­ling mitkom-
men und der Corona-Alltag mit allen zu Hause­
irgendwie läuft. Die also dem Mann den R ­ ücken frei
halten, damit er seinen Mann stehen kann.
Homeoffice bedeutet für Tausende Frauen gerade
vor allem h­ ome und wenig office. Das ist auch deshalb
bitter, weil jetzt Karrieren gemacht werden. Wer mit der
Krise gut umgeht, wer dem Druck standhält, wer die
richtigen Prioritäten setzt, wer seine Leute mitnimmt
und seine Teams lebendig hält, der kann gerade ganz
besonders auf sich aufmerksam machen. Und diesen
Moment verpassen viele Frauen, weil sie – aus welchen
Gründen auch immer – zurückstecken.
Diese Situation kontrastiert mit einem anderen
Erleben, nämlich wie wohltuend rational und klar
unsere Kanzlerin, nun mal eine Frau, die Krise­
erläutert, die Zusammenhänge erklärt, uns alle be-
hutsam an die ziemlich harten Wahrheiten heran-
führt, etwa was die Dauer der Einschränkungen in
Wirtschaft und Gesellschaft angeht, und zur Beson-
nenheit ermahnt. Ich höre die Familienministerin
Franziska Giffey und höre ihr gern zu, ich nehme ihr
ab, dass sie die Sorgen der Frauen und Familien wirk-
lich im Blick hat und versteht. Das erfrischt mich.
Aus der Menschwerdung des Kollegen ergibt sich
ein Kollateralnutzen: Da es ja nun nicht mehr nur
um berufliche Professionalität geht, kann man die
Wohnungen der anderen ein bisschen genauer scan-
nen. Gab es die Stehlampe dahinten nicht in schön?
Ist das ein Bild, oder schmieren die sich ihre Wände
mit Tomatensoße voll und klecksen dann Senf drauf?
Ist das Ikea, oder kann das weg? Vor allem aber: Sind
das nicht original ­Eames Plastic ­Side Chairs? Und
warum kann der sich eine Wohnung mit Dachterras-
se leisten, während auf meinen Balkon gerade mal
ein Kasten Bier passt? Der gewiefte Teilnehmer einer
STREIT 11
Gleichzeitig wird mir ganz blümerant, wenn ich mir
unsere politischen Strukturen genauer anschaue. Die
Frankfurter Allgemeine Zeitung hat kürzlich der CDU
und ihren nicht vorhandenen Frauen in Führungsposi-
tionen eine ganze kluge Seite gewidmet und gefragt:
Was wird da nur, wenn nun Ursula von der Leyen weg,
AKK weg und absehbar auch die Kanzlerin weg ist?
I
ch erinnere mich noch gut an das berühmte, iko-
nenhafte Foto zur Ernennung von Annegret
Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministe-
rin. Sie links, rechts die Kanzlerin, in der Mitte
eingerahmt von der Leyen. Die taz schrieb dazu einen
ziemlich witzigen Text, die Autorin konnte kaum
glauben, dass ausgerechnet die CDU – die »Christli- Julia Jäkel, 48,
che Damen-Union« – so viel Frauen-Power an die ist die Vorsitzende
Spitze der Politik in Deutschland und Europa ge- der Geschäfts­
bracht hat. Überschrieben war der Artikel mit der ver- führung von
gnüglichen Schlagzeile »So haben wir uns das Ende Gruner + Jahr.
des Patriarchats aber nicht vorgestellt«. Inzwischen Das Verlagshaus
muss man fragen: welches Ende? Die CDU, der ich ist eines der
wie der anderen großen Partei wünsche, dass sie wei- größten Europas,
ter eine Volkspartei bleibe, fehlt es an einem breiten es bringt über
weiblichen Unterbau, aus dem überhaupt erst starke 500 Magazine
Frauen in Führung hineinwachsen könnten. Denn und Digital­
über Nacht geht so was nun mal nicht. angebote heraus,
So komme ich zu einem für mein Gemüt unge- darunter der
wöhnlich düsteren Zwischenfazit nach sieben Wo- »stern«, »Geo«
chen Krise: Wie das Virus plötzlich unsere Luft klarer und »Brigitte«
macht und den Himmel blauer, so werden auch un-
sere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitä-
ten offenbarer. Wir Frauen sind so viel weniger weit,
als wir es dachten.
Siehe auch Wirtschaft, S. 20: Warum musste
SAP-Chefin Jennifer Morgan gehen?
Videokonferenz hört nicht genau hin. Er sammelt
Argumente für die nächste Gehaltsverhandlung.
Auch gescannt zu werden, kann man zu seinem Vor-
teil nutzen. Dafür setzt man sich vor eine Bücherwand.
Bücherwände gehen immer. Im Bildausschnitt platziert
man Passendes: Thomas Mann, die Dark Comedies von
Shakespeare im Original, Bildbände von Goya und
Mondrian, die neuesten Romane von Jonathan Safran Peter Dausend
Foer und Virginie Despentes, so was in der Art. Und ist Politischer
wenn der Chef das alles in der Videoschalte sieht, denkt Korrespondent
er: Mensch, den Kollegen hab ich wohl unterschätzt. im Hauptstadt-
Vielleicht sollte ich den mal Kolumnen schreiben lassen. büro der ZEIT
 29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19 IN DER ZEIT 12
TITELTHEMA
Keine Angst vor niemand! Pippi Langstrumpf wird 75

ZEITNAH
POLITIK WHO  Die Organisation wird zum FEUILLETON

INHALT
Spielfeld der Konkurrenz zwischen den
USA  Der Präsident hat das mächtigste Gesellschaft  Über den gefährlichen
USA und China  Widerspruch von Willkür und Freiheit
Land der Welt in einen gescheiterten Staat
VON CHRI STIANE GRE FE U ND in der Corona-Krise 
verwandelt 
KE RSTIN KOHLE NBE RG A 21 A 41
A2 VON J E N S J ES S E N

VON G EORG E PACKE R

China  Eine Reportage aus Wuhan, wo Otto Group  Der Vorstandschef TV  Eine ARD-Dokumentation
die Corona-Pandemie begann und die Alexander Birken spricht im Interview zeigt überraschende Seiten der einstigen
Kommunistische Partei den Menschen über die Konsumwünsche der Deutschen Kanzlergattin Hannelore Kohl 
Normalität verordnen will  und die Konkurrenz durch Amazon  22 VON ALE X ANDE R CAMMANN 41
VON XIFAN YANG A3 Nachruf  Zum Tod von
Kinderprogramm 
Krisenpolitik  Wie gut wird die Republik Die »Sendung mit der Maus« lief in Sir Peter Jonas, dem früheren Intendanten
regiert?  der Bayerischen Staatsoper 
den vergangenen Wochen täglich im TV.
4 VON CHRI STINE LE MKE- MAT WEY 41
VON MARIAM L AU Das verdient einen Applaus 
VON INGO MALCHE R 22 1. Mai  »Woran arbeiten Sie gerade?«
Finanzen  Die Wirtschaftsrettung wird
Künstlerinnen, Künstler und Kultur­
teuer. Was können wir uns leisten?  Konzertmanagement  Der Unternehmer schaffende erzählen zum Tag der Arbeit
VON MARK SCHIE RITZ 5 Peter Schwenkow im Gespräch darüber, von ihren aktuellen Projekten  42
Corona und die Folgen  Ein Gespräch wie sich privat finanzierte Kultur in Zeiten
Kolumne  Über den Linden 
Foto: Fu Beimeng

mit Wolfgang Schäuble über Epidemie von Corona retten lässt  24

und Apokalypse  6
Italien  Warum der Hausarzt Vincenzo
Leone an Covid-19 starb  VON ANNA MAYR
Dinner für zwei in Wuhan VON U LRICH L ADU RNE R
Türkei  Corona wütet auch in Istanbul.
Als Xifan Yang, China-Korrespondentin der ZEIT, und ihre Mitarbeiterin Jiang Huihui (re.) Aber die Regierung Erdoğan schneidet
vor zwei Wochen in Wuhan ankamen, hatte kaum ein Restaurant geöffnet. Doch inzwischen die Metropole von allen Informationen ab.
Ein Interview mit dem Bürgermeister
sieht es am Ursprungsort der Corona-Pandemie anders aus: Trotz des Verbots, sich zum Essen Ekrem Imamoğlu  7
zu treffen, werden die Bürgersteige zu Gaststätten. Gastronomen stellen Hocker auf Bürgersteige,
Energie  Der Preisverfall beim Öl
von Social Distancing kaum mehr eine Spur. Das sei typisch China, sagt Yang: »Es finden sich kündigt einschneidende weltpolitische
immer tolerierte Wege, Gesetze kreativ zu umgehen«  POLITIK , SEITE 3 Veränderungen an  technische Hilfsmittel  Ausstellung  Das Deutsche Historische
VON MICHAE L TH U MANN
Der politische Fragebogen 
Wenige Monate vor seinem Tod gab der
Politiker Norbert Blüm Auskunft  9
STREIT
Das Patriarchat lebt!  In der Krise
ist es schnell vorbei mit der
Gleichberechtigung. Sieben Protokolle  1
0 VON J EANNETTE OTTO U ND
Die Emanzipation schläft!  Das
Foto: Roderick Aichinger für DIE ZEIT
Corona-App  Warum die Politik so ­
zögerlich handelt  Anthology«
25
6
Gefährdet die App die Demokratie?
Ein Pro und Contra 
von Tom Fischermann und
Jens Tönnesmann 25
Serie: Die Erste (15)  Die Engländerin
Felicity Aston durchquerte als erster Mensch
den Kontinent Antarktika ohne
8 VON U RS WILLMANN 26
WISSEN
Bildung  Die Schulen in Deutschland
öffnen wieder. Und schon entstehen
ungewohnte Herausforderungen: Wann
brauchen Schüler überhaupt einen Lehrer?
Und wozu? 
MARTIN S PIEWAK  A 27
VON MA XIM BILLE R 44
Film  Denis Côtés »Ghost Town
 
VON K ATJA NICODE M U S A 44
Debatte  Der Streit um Achille Mbembe
wirft einen Schatten auf
die Postkolonialismus-Forschung 
VON IJOMA MANGOLD 45
Pop  Das neue Album »Fetch the Bolt
Cutters« der Songwriterin Fiona Apple 
VON J E N S BALZE R 46
Museum ehrt Hannah Arendt 
VON THOMAS E . SCHMIDT 46
Roman  Téa Obreht »Herzland« 
VON SAR AH PINES 47
Sachbuch  Kate Devlin »Turned on.
Intimität und Künstliche Intelligenz« 
VON EVA WE BE R- G U S K AR 48
GLAUBEN & ZWEIFELN 
Nächstenliebe  Die Fotografin

Virus zeigt: In der Wirtschaftswelt sind Johanna-Maria Fritz zeigt ihre Porträts von
Foto: Jonas Wresch für DIE ZEIT

Frühkindliche Pädagogik  In der

Frauen viel weniger weit als gedacht  Obdachlosen  50
Debatte um die Kleinsten wird vergessen,
VON J U LIA JÄKE L 11 Michael Kaib, Vorstandschef der Reemtsma
wie viel sie in der Kita lernen – und
60 Zeilen Liebe  zurzeit eben verpassen. Ein Cigarettenfabriken, im Interview über
VON PETE R DAU S E ND 11 Gespräch mit der Bildungsökonomin seine Hilfsaktion für Wohnungslose  50
C. Katharina Spieß  28

DOSSIER Corona  Mit dem wachsenden Wissen Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN

Am Boden Schule auf – und jetzt? Hochstapelei  Der verurteilte Betrüger

Carsten Spohrs Karriere ging
stets nur aufwärts. Nun wird
der Lufthansa-Chef vom Virus
gebremst  WIRTSCHAFT, SEITE 19
IN DEN REGIONALAUSGABEN
ZEIT:Hamburg
Ein Rektor moderiert in seiner
geschlossenen Schule eine Late-
Night-Show  VO N O S K AR PI EG SA 1
Die Kreuzfahrtbranche boomte
vor Corona – jetzt sucht sie
verzweifelt nach Auswegen  RECHT & UNRECHT
VO N KR I STI NA L ÄS KE R
Foto: Ina Niehoff
Überall werden Abiturklausuren geschrieben, und auch für
die Schüler der unteren Klassen soll nach und nach der
Alltag wieder beginnen. Doch die Lehrer überlegen schon,
in welche Normalität sie eigentlich zurückwollen  WISSEN , S . 27
Bohley – und die Mitschuld des
Westens am Rechtsruck  16
ZEIT Schweiz
Die Corona-Krise wird die Infra-
struktur des Landes verändern  Obsttellerrand hinaus  32
VO N M . DAU M & P. S C H N E E B E RG E R 16
Der Eishockey-Nati-Coach
3 Patrick Fischer ist in Kurzarbeit  Linktipps (Seite 14),
Mike Wappler, genannt Milliarden-Mike,
erklärt, wie er es schaffte, als Analphabet
vermögende, gebildete Menschen zu ­
blenden. Ein Gespräch hinter Gittern  ANNA- LE NA SCHOLZ U ND
VON STE PHAN LE BE RT U ND
STE FAN WILLE KE
GESCHICHTE
A ZUM HÖREN Serie: Zum 8. Mai 1945 (3)  Wie halten
es die Deutschen mit der Erinnerung
Die so gekennzeichneten
Artikel finden Sie an den Nationalsozialismus? Ergebnisse
als Audiodatei einer ZEIT-Umfrage  14. Jahrhundert in Europa die Pest wütete,
im »Premiumbereich« VON CHRI STIAN STA AS 17
unter www.zeit.de/audio
ANZEIGEN IN
DIESER AUSGABE
Serie: Meine Urteile (10)  Ein sadisti-
über die Covid-19-Pandemie tauchen neue
Fragen auf – epidemiologische,
medizinische und soziale. Ein Update  Vorbild für Frauen wurde
VON K ATHARINA ME NNE ,
JAN SCHWE ITZE R 29
13
Raumfahrt  Zur Internationalen Raum-
station ISS gelangten Astronauten
jahrelang allein mit russischer Hilfe. Das
soll nun anders werden  In dieser Woche: Die Klima-Aktivistin
VON STE FAN SCHMITT  31
Infografik  Die Banane ist nach dem
Apfel die Lieblingsfrucht der Deutschen.
Zeit für einen Blick über den
Psychotherapie  Im Irak werden erstmals
Therapeuten an der Universität
Titelthema: Keine Angst vor niemand! 
Warum Pippi Langstrumpf weltweit zum
 
VON NINA PAU E R 51
So verwalten die Nachkommen von
Astrid Lindgren das Pippi-Erbe 
VON KATRIN HÖRNLEIN 53
Hausbesuch  Wir treffen Menschen beim
Videochat in den eigenen vier Wänden.
Luisa Neubauer  55
Das Dekameron-Projekt (6)  Als im
schrieb Giovanni Boccaccio seine
Novellensammlung »Das Dekameron«.
Wir haben zeitgenössische Schriftsteller
um eine Neuauflage gebeten. Diesmal:
EVA MENASSE mit der Erzählung
A 56

Die 13-jährige Buch-­
Bloggerin Mirai Mens
träumt von einer Welt, in
der alle so akzeptiert
werden, wie sie sind
Eine Deutschlandkarte zu
brutalistischer Architektur
»Folgeschäden«
VO N WI LLIAM STE R N 18 Museen und Galerien scher Pensionswirt im Märkischen hält sich ausgebildet. Sie sollen einer Generation
Wie Krankenhäuser versuchen,
(Seite 49), Spielpläne von Traumatisierten helfen und den ­ Wie es wirklich ist ...  sich die
den Ausbruch des Virus auf den ZEIT Österreich einen Spielsüchtigen als Sklaven 
(Seite 49), Bildungsange- Turnschuhe zu teilen 
Stationen zu verhindern  Entsteht in der Krise eine neue VON THOMAS ME LZE R 18 Kreislauf der Gewalt unterbrechen 
bote und Stellenmarkt VON JOHANNES LE HNE N 58
VO N N I KE H E I N E N 5 Form des Theaters im digitalen VON ANNA-THE RESA BACHMANN A 33
(ab Seite 35)
Die Architekten der Elbphilhar- Raum?  VO N TH O MAS M I E S SGAN G 16
WIRTSCHAFT
monie planen den Umbau des FRÜHER
Schwarzarbeiter fallen derzeit RUBRIKEN
Kleinen Grasbrooks in ein durch alle Sicherheitsnetze  INFORMIERT!
Lufthansa  Vorstandschef Carsten Spohr
LEO – DIE SEITE FÜR KINDER
Wohnquartier  VO N C . T WI C KE L 13 18 Die aktuellen Themen Leserbriefe 16
VO N S I M O N E B RU N N E R
der ZEIT schon am kämpft um das Überleben seines Konzerns  Titelthema: Keine Angst vor niemand!  Der Zweifel 27
ZEIT im Osten Stephan Hering-Hagenbeck muss Mittwoch im ZEIT- VON CLA AS TATJ E A 19 Warum es das Buch über Pippi Lang-
Stimmt’s? A 33
Ein Gespräch mit dem DDR- als neuer Direktor des Tiergartens Brief, dem kostenlosen
SAP  Jennifer Morgan war die erste strumpf, das stärkste Mädchen der Welt, Die Position 35
Oppositionellen Klaus Wolfram Schönbrunn den Zoo zusperren   Newsletter
über 1989, seine Freundin Bärbel VO N VE R E NA R AN D O LF 26 www.zeit.de/brief Chefin eines Dax-Unternehmens. Warum beinahe nicht gegeben hätte. Eine Impressum 44
musste sie nach nur sechs Monaten gehen?  fantastische Geschichte  Sachbuch-Bestenliste 48
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. VON ANN - K ATHRIN NEZIK 20 VON ASTRID LINDG RE N 40 Was mein Leben reicher macht 58

ANZEIGE

Holen Sie

So schön. So nah!
sich den Urlaub
nach Hause!

Die neue ZEIT-Edition »Deutschlandreise. 120 besondere Erlebnisse vor unserer Haustür«

Jetzt bestellen: shop.zeit.de/deutschlandreise 040/32 80-101

Bestell-Nr.: 33454 | * zzgl. 4,95 € Versandkosten | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

108419_ANZ_10841900021761_26180855_X4_ONP26 1 09.04.20 09:07

29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
Der Betrüger Mike Wappler sitzt wieder im Gefängnis. Dort sprach er mit  STEPHAN LEBERT UND STEFAN WILLEKE darüber, wie er es schaffte, als Analphabet gebildete Menschen zu blenden
DIE ZEIT: Herr Wappler, Sie sind 64 Jahre alt und
blicken auf ein Leben voller Betrügereien zurück.
Sie haben, mit Unterbrechungen, mehr als 18 Jahre
im Gefängnis gesessen. Bei Ihrer letzten Verurtei-
lung sagte der Richter, Sie wären »ein richtig guter
Unternehmer« geworden, wenn Sie jemals den
Schritt in die Legalität gewagt hätten. Bereuen Sie
Ihre kriminelle Laufbahn manchmal?
Mike Wappler: Ich habe vor Gericht oft erklärt:
Es tut mir nicht leid, was ich getan habe. 99 Pro-
zent der Angeklagten behaupten, dass es ihnen
leidtut, aber diese Leute lügen. Ich bin ein er-
wachsener Mensch, und ich weiß, was ich mache.
Da kann es mir doch hinterher nicht leidtun.
Wenn ich irgendwo einbreche, und dabei kommt
versehentlich ein Mensch um, dann tut es mir
natürlich leid. Aber doch nicht bei einer Sache,
die ich geplant habe, um mich zu bereichern. Ich
wollte hinterher mehr Geld haben als vorher. Ich
verstehe auch nie, wenn ein Mann seine Frau be-
trügt und dann behauptet: Tut mir alles sehr leid.
Das stimmt einfach nicht. Er hat seinen Spaß ge-
habt, er hat sie betrogen, und es tut ihm eben
nicht leid.
ZEIT: Keine Reue, nichts?
Wappler: Nein. Ich würde mein Leben noch mal
ganz genauso leben.
DOSSIER
» D E U T S C H L A N D
I S T
S C H W A R Z G E L D ,
D A S
M E I N
Mike Wappler beim Fotoshooting im Besucherraum der JVA, hinter einer Zimmerpalme sitzend
An diesem ZEIT-Gespräch ist vieles ungewöhnlich.
Es fand im Besuchszentrum der Untersuchungshaft-
anstalt in Hamburg statt. In diesem Gefängnis war
­Mike Wappler vorübergehend untergebracht, dann
saß er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Berlin-Moabit,­
in der das Gespräch fortgesetzt wurde. Inzwischen
wurde er nach Brandenburg verlegt. Im vergangenen
Dezember wurde er wegen gewerbsmäßigen Betrugs
zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Ungewöhnlich ist zudem, dass auch Menschen aus
Wapplers persönlichem Umfeld zu Wort kommen:
eine Anwältin, ein Staatsanwalt, eine zornige Ex-
Partnerin, ein Manager. Einige von ihnen erzählen
mehr von diesem Mann, als er selbst preiszugeben
bereit ist. Um Wapplers Erzählungen zu überprüfen,
haben wir mit vielen Freunden und Nicht-so-sehr-
Freunden gesprochen. Manche dieser Leute sind nicht
unbedingt Kandidaten für das Bundesverdienstkreuz.
Sie sind in einer Welt zu Hause, die weit weg ist von
bürgerlichen Normen, einer Parallelwelt, in der ­Mike
Wappler den Herrscher spielt.
Auf den ersten Weggefährten, der allerdings nicht
so gesprächig ist, treffen wir zufällig für einen kurzen
Moment vor den Panzerglasscheiben der Besucher-
schleuse im Gefängnis. Der Mann hat in einem
blauen Müllsack frische Wäsche für Wappler dabei.
Wappler wird später sagen, dass der Besucher Carlo
V O L L E R
W A R I M M E R
G L Ü C K «
heißt und ein alter Freund ist. Carlo sei früher mal
Wärter in Santa Fu gewesen, dem Gefängnis in Ham-
burg-Fuhlsbüttel. Dort hätten sie sich ken­nen­gelernt.
Wappler gibt uns Carlos Telefonnummer, »rufen Sie
ihn an, der weiß viel über mich«. Aber als wir Carlo
später anrufen, will er nicht reden. Er kenne zu viele
Geheimnisse, sagt er. Und als ehemaliger Bediensteter
eines Gefängnisses dürfe er darüber nicht sprechen.
ZEIT: Herr Wappler, wir wünschen Ihnen natür-
lich ein langes Leben. Aber mal angenommen, Sie
müssten sich über Ihre Beerdigung Gedanken
machen. Glauben Sie, dass an Ihrem Grab viele
Trauernde stehen werden?
Wappler: Das glaube ich schon. Ich habe einen
sehr großen Bekanntenkreis. Ich habe früher viel
geboxt, und mich haben im Gefängnis berühmte
Boxer besucht. Dariusz Michalczewski, Henry
Maske, Regina Halmich, die Klitschko-Brüder.
Auch Peter Maffay war mal da. Und in Ost-
deutschland habe ich eine richtige Fangemeinde,
da gibt es einen Mil­liar­den-­Mike-­Fan­club. In Nor-
derstedt bei Hamburg habe ich mal eine Lesung
veranstaltet. Ich hab sie alle abgezockt, so heißt
mein Buch.
ZEIT: Wir dachten, Sie können weder lesen noch
schreiben.
Foto: Armin Smailovic für DIE ZEIT
Wappler: Das stimmt. Das Buch, das ein Journalist
für mich geschrieben hatte, habe ich öffentlich
vorlesen lassen. Wenn ich mich sehr anstrenge,
kann ich manche Wörter entziffern und vielleicht
auch schreiben. Aber nur sehr kurze Wörter. Es
dauert ewig.
ZEIT: »Ich liebe Dich«, das kriegen Sie hin?
Wappler: Kriege ich hin. Meine Liebesbriefe sind
eben etwas kürzer.
ZEIT: Zahlen bereiten Ihnen keine Mühe?
Wappler: Natürlich nicht! Was glauben Sie denn,
wie ich sonst existieren könnte? Ohne Zahlen zu
kapieren, kann ich niemanden reinlegen. Ich muss
ja auch ständig Geld zählen. Ein Bankauszug ist
für mich kein Problem.
ZEIT: Wissen die Menschen in Ihrem persön­
lichen Umfeld von diesem Defizit?
Wappler: Enge Freunde ja, den Angestellten im
Büro habe ich es nie erzählt. Die bescheißen mich
ja, wenn sie wissen, dass ich Dokumente nicht
lesen kann.
Mike Wapplers Spezialität sind Luftgeschäfte. Er ver-
kauft etwas, das er nicht hat. Dann steht er da mit
seinem gewinnenden Lächeln, das ihn weder vor Ge-
richt noch im Gefängnis verlassen hat, und wickelt
seine Kunden ein. Mit Videorekordern fing es in den
13
Achtzigerjahren an. Wappler versprach seinen Opfern
Ware und kassierte einen Vorschuss, mit dem er dann
verschwand, ohne etwas geliefert zu haben. Er ver-
kaufte auch prächtige Villen, die ihm nicht gehörten.
Das gelang ihm, indem er teure Häuser in einem vor-
nehmen Hamburger Viertel mietete, dem Eigentümer
die üppige Miete sofort für mehrere Monate bar über-
reichte und das Anwesen in der Zeitung inserierte: zu
verkaufen. Den Interessenten, die sich bei ihm vor-
stellten, erzählte er etwas von einem Notverkauf zu
einem Spottpreis, alles müsse sehr schnell gehen. Viele
ließen sich darauf ein, Wappler den gewünschten
Vorschuss bar auszuhändigen, um sich das Objekt
unbedingt zu sichern. Dutzende Male wurde er jede
der Villen auf diese Weise los und setzte sich nach
kurzer Zeit mit dem Geld ab.
Diese Tricks brachten ihm mehrere Haftstrafen ein,
bis er auf eine andere Masche verfiel. Er bot Kunden
an, gegen ein hohes Honorar Schulden einzutreiben. Er
habe, behauptete Wappler, eine Truppe schlagkräftiger
Männer unter seinem Kommando, die angeblich auch
Millionenbeträge zurückholen könnten. So wurde
Wappler zu einem Inkassodienst für Menschen, die viel
Geld auf dem Konto haben und sich betrogen fühlen.
Auch dabei verlangte Wappler sein Honorar im Voraus,
Fortsetzung auf S. 14
14 DOSSIER 29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19

»Deutschland ist voller ...«  Fortsetzung von S. 13
und erstaunlich oft wurde ihm vertraut. Manchmal
ging es um 100.000 Euro, manchmal um 500.000,
manchmal um mehrere Millionen, die er angeblich
eintreiben könne – was er aber nicht tat.
ZEIT: Wie sind Sie als Hochstapler durchs Leben
gekommen, ohne lesen und schreiben zu können?
Wappler: Vor der Führerscheinprüfung habe ich
600 Fragen und Antworten auswendig gelernt. Ich
kann mir Sachen sehr gut merken. Beim Notar
stelle ich mich hin, schaue auf die Papiere, grum­
mele was vor mich hin und unterschreibe.
ZEIT: Grummeln und ein gutes Gedächtnis, das
reicht?
Wappler: Ich habe mich immer mit Menschen
umgeben, die mir helfen. Ich habe enge Freunde,
die mir in vielen Situationen etwas vorlesen und
zum Beispiel am Hotelempfang für mich einche­
cken. Sonst wäre ich aufgeschmissen. Im Restaurant
lasse ich mir vom Kellner die Empfehlung des Tages
nennen und bestelle sie. Oder ich tue so, als hätte
ich meine Brille vergessen. Wenn ich an einem
Haus mit vielen Bewohnern klingeln muss, merke
ich mir, wo die Klingel des Menschen ist, den ich
besuchen will. Auf dem Handy speichere ich meine
Bekannten mit den großen Anfangsbuchstaben
ihrer Namen ab, LL oder ZZ. Im Moment komme
ich aber nicht an mein Handy, nicht hier in der
Haft. Draußen, in Freiheit, ist Whats­App ein
Segen für mich: Damit kann ich Audionach­
richten verschicken. SMS kann ich schreiben, aber
die sind voller Fehler. Dafür kann ich gut zuhören.
Wenn sich am Nebentisch Leute unterhalten,
kriege ich insgeheim jedes Wort mit.
ZEIT: Sie sind Analphabet, haben aber offenbar
vier Ohren.
Wappler: Zwei Ohren für das Gespräch, das ich
führe, außerdem zwei Ohren für den Nebentisch.
Das erleichtert mir die Arbeit. Ich kann mich dann
später in das andere Gespräch einmischen und
sagen: »Entschuldigung, ich habe gerade zufällig
mitbekommen, dass Sie Unterstützung benötigen.
Kann ich helfen?«
ZEIT: Warum haben Sie nie lesen und schreiben
gelernt? Das hätte Ihr Leben einfacher gemacht.
Wappler: Ich wuchs in einer Zigeunersiedlung in
Lübeck auf, auf einem Platz mit vielen Wohn­
wagen. Mein Vater war ein Zigeunerkönig, ja, ein
richtiger König der Zigeuner. Für Bildung hatte
dort niemand was übrig. Schon in der Schule bin
ich in Konflikte geraten, weil ich ein Zigeunerkind
war. Mein größter Feind waren aber die Buch­
staben. Ich konnte sie mir einfach nicht einprägen.
ZEIT: Sie benutzen nicht den Ausdruck Sinti und
Roma, Sie sagen: Zigeuner.
Wappler: Ja, da bin ich nicht so wählerisch. Ich bin
ein deutscher Zigeuner. Ich bin nur ein Jahr zur
Schule gegangen, dann hat mein Vater einen Nach­
hilfelehrer zu uns in die Siedlung bestellt. Das war
so ein Typ mit einer Gitarre, der mir mit einer
komischen Methode Buchstaben beibringen wollte:
Er hat verschiedene Töne auf dem Instrument
gespielt. Ein Alphabet mit Gesang. Mein Vater war
entgeistert und hat diesen Mann sofort rausge­
worfen. Danach war es mit dem Unterricht vorbei,
und wir sind gemeinsam in dem amerikanischen
Straßenkreuzer meines Vaters herumgefahren und
haben Leute überredet, uns wertvolle Sachen billig
zu verkaufen, edle Möbel, Bilder. Diese Sachen hat
mein Vater weiterverkauft. So ging alles los.
Der Manager ganzen Tag zu Hause herumhängen und nichts Wappler: Ich musste das Spiel beenden. Das ging hereingelegt. Dies sagen seine Weggefährten. Ihnen
erleben. Schillernden Figuren wie mir begegnen am Ende nur noch dadurch, dass ich etwas Irres gegenüber gebe er sich verlässlich und jovial. Er wusste:
»Mike ist wie ein Fuchs, der auf Beute aus ist. Er die nie. tue. Ich täusche vor, dass ich bei einem Autounfall Es würde für ihn schnell ungemütlich, wenn er etwa
riecht Geld«, sagt Frank Volkmer, der sich Wapplers ZEIT: Sind das sparsame Leute? in Belgien tödlich verunglückt bin. den Chef einer Rockerbande übers Ohr hauen sollte.
Manager nennt. Der 48-jährige Volkmer hat früher Wappler: Geizige Leute. Die denken ständig da­ ZEIT: Das hat dieser Mann doch nicht geglaubt? Wappler wahre immer die Distanz, sagt der frühere
mit Autos gehandelt und lebt heute von Mieteinnah- rüber nach, wie sie ihr Vermögen verdoppeln Wappler: Doch. Das Problem war allerdings, dass Profiboxer und heutige Trainer Artur Grigoryan.
men. Mit seiner Familie wohnt er in der Lüneburger können. Darauf fahren sie ab, haben es aber gar er mich nach meinem Tod live im Fern­sehen ge­ »Beim Boxen macht ­Mike, was ich sage. Sonst mache
Heide. Fragt man ihn, was es bedeute, Manager von nicht nötig. sehen hat. Ich dachte, der guckt gar kein Fernsehen. ich, was er sagt.« Die bürgerliche Welt, in der Wappler
Mil­liar­den-­Mike zu sein, dann antwortet er: »Wir ZEIT: Einsame Menschen? Dann musste ich mir was Neues ausdenken. Ich nach Opfern sucht, ist eine ganz andere: voller kulti-
machen Hälfte-Hälfte, wenn sich was ergibt.« Wappler: Zum Teil ja. Da taucht so ein Paradies­ bin einfach wiederauferstanden. Ich habe ihn an­ vierter Menschen, die den Staat um Steuer­geld ge-
Wer Wappler verstehen wolle, der müsse sich seine vogel wie ich auf, und ich lade diese Menschen ein. gerufen und so getan, als wäre ich mein eigener bracht haben, aber sich kaum zu helfen wissen, wenn
Herkunft vor Augen führen, meint der Manager. »Er, Ich nehme sie auf eine Angeltour mit, oder wir Zwillingsbruder. Und die Geschäfte liefen noch sie selbst betrogen werden.
der kleine Zigeuner, der sie alle mit seinem Einfalls- gehen gemeinsam zum Boxen. So was haben die eine Weile weiter, weil dieser Zwillingsbruder auch
reichtum rasiert.« Das erfülle Wappler mit Stolz. Auf noch nie erlebt. Sie sehen eine ganz andere Welt. über den Nazi-Schatz Bescheid wusste. ZEIT: Sie hatten vor sechs Jahren auch mal mit
Videos, die Wappler herumschickte, sah ihn der Ich fliege mit ihnen nach Thailand oder nach Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt zu tun, dem
ZEIT: Das klingt absurd. Welcher Mensch, der es
Manager glücklich im Bett liegen, von oben bis unten Gran Canaria, und abends beginnt eine schöne langjährigen Mannschaftsarzt des FC Bayern. Was
zu Vermögen gebracht hat und folglich nicht ganz
mit 500-Euro-Scheinen bedeckt. Party, bei der 20 bestellte Nutten aufkreuzen und wollte er von Ihnen?
einfältig sein kann, fällt auf eine Geschichte von
Wenn Wappler nicht im Gefängnis sitze, dann nachts auf den Tischen tanzen. Die wohlhabenden einem Zwillingsbruder herein?
Wappler: Das lief über seine Frau Karin, die ich
habe er einen Arbeitsrhythmus wie ein Versicherungs- Männer, also meine Kunden, haben meist eine mal bei einem gemeinsamen Auftritt im SWR-
Wappler: So war es aber. Das Gericht wollte es zu­
vertreter. »Halb acht Frühstück«, habe Wappler stets Frau und Kinder zu Hause. Zuerst sind sie noch Nachtcafé kennengelernt hatte. Müller-Wohlfahrt
nächst auch nicht glauben. Ich musste dafür sechs
gesagt, »nicht später. Danach muss ich los, zur Arbeit.« etwas schüchtern, aber dann wollen sie mit mir hatte Außenstände, mehrere Millionen Euro. Sein
Jahre in den Knast. In meinem Buch nenne ich die
Mit seinen Geschäftspartnern habe er sich meist in Geschäfte machen. Steuerberater hatte ihn übers Ohr gehauen. Die
Aktenzeichen der Verfahren, sodass jeder Leser
Hotels getroffen, er sei den ganzen Tag im Auto ZEIT: Wo fanden diese Partys statt? Auch bei Ihnen Ehefrau fragte mich, ob ich das Geld zurückholen
diesen Fall nachprüfen kann.
herumgefahren, bis zu 50.000 Kilometer im Jahr. zu Hause, in dem kleinen Ort Hittfeld südlich von kann, und so bin ich nach München gefahren und
ZEIT: Dieser schwerreiche Unternehmer ist nie
»Zu mir nach Hause kommt keiner mit dem Geld«, Hamburg? habe mir diesen Berater vorgeknöpft.
zur Polizei gegangen. Warum wurden Sie von
habe Wappler gesagt. Wappler: Auch da. Es kamen manchmal 300 oder Ihren Opfern so selten bei der Polizei angezeigt?
ZEIT: Ihre Verbindung zu Müller-Wohlfahrt wurde
Ob Wappler manchmal einsam sei? »In gewisser 400 Leute. Da habe ich auch mal ein Näschen auch in einem Spiegel-Artikel beschrieben.
Wappler: Weil das selber Betrüger sind, Steuer­
Art schon.« Allein zu Hause, das könne er nicht gut. Koks genommen. Auf Alkohol verzichte ich aber betrüger. Das war doch alles Schwarzgeld, das ich
Wappler: Ja. Seine Frau fragte mich, ob ich mir
»›Mensch, Frank, du hast ja deine Kinder bei dir‹, vollständig. von denen bekommen habe.
mal die Akten besorgen und ansehen kann. Die
wusste ja nicht, dass ich nicht lesen und schreiben
kann. So habe ich einen Freund von mir mitge­
nommen. Wir haben good guy und bad guy ge­
spielt. Mein Freund war der Seriöse und Elegante,
» I C H V E R K A U F E A B E N T E U E R « und ich habe zu dem Steuerberater gesagt: »Jetzt
pass mal auf, du Schwanzlutscher, gib die Akten
her.« Wir haben in München auch ein Büro ge­
habt, das Müller-Wohlfahrt für uns gemietet hatte.
hat er manchmal gesagt.« Wappler jedoch habe nur ZEIT: Wohnt nicht auch Dieter Bohlen in der ZEIT: Sie waren immer auf Menschen angewiesen, Er selbst wohnte ja zur Miete. Er ist Arzt, aber
Frauen, die nie dauerhaft blieben. Weil Wappler so Nähe? die viel Schwarzgeld übrig hatten, und ohne saudumm.
oft betrogen habe, traue er auch anderen Menschen Wappler: Der Dieter, natürlich. Den kenne ich gut. Schwarzgeld wäre Ihre Karriere nicht möglich­ ZEIT: Wie kommen Sie darauf?
kaum noch. Angeblich wollten alle nur sein Geld. ZEIT: Der Betrüger Claas Relotius stammt auch gewesen? Wappler: Er wusste nicht mal, wie ein 500-Euro-
Noch heute landen bei dem Manager und auch bei aus der Gegend. Kennen Sie ihn? Wappler: So ist es. Deutschland ist voller Schwarz­ Schein aussieht. Zu Hause hat er immer das Licht
dem Autor Tim Gutke, der für Wappler die Autobio- Wappler: Nicht persönlich. Aber ich habe von ihm geld, das war immer mein größtes Glück. Wenn brennen lassen, Tag und Nacht, und als ich ihn
grafie schrieb und für ihn eine Face­book-­Seite ein- gehört. Sie jemanden betrügen, der Ihnen Schwarzgeld danach gefragt habe, hat er geantwortet: »Ist ja nur
richtete, Tag für Tag fünf bis sechs Nachrichten ZEIT: Er war Redakteur beim Spiegel und hat jahre­ gibt, dann wäre er ja blöd, Sie bei der Polizei an­ eine Mietwohnung.« Ich habe ihm dann erklärt,
fremder Menschen, die Kontakt zu Wappler suchen. lang Geschichten erfunden. zuzeigen. Dann wäre so einer ja selbst fällig. dass ihn das auch Geld kostet.
»Mike, ich brauche Geld.« Wappler: Och, dann hat er das doch gut gemacht. ZEIT: In einem absolut sauberen Land wäre aus ZEIT: Haben Sie denn seine Außenstände be­
»Mike, kannst du mich adoptieren?« Und die haben es nicht gemerkt? Ihnen nichts geworden? schafft? Oder haben Sie ihn reingelegt?
Den Manager rief Wappler an, wenn etwas drohte, ZEIT: Lange Zeit nicht, am Ende schon. Wappler: Genau. Dann hätte ich ja arbeiten müs­ Wappler: Dazu ist es gar nicht gekommen. Er hat
das die beiden »Attacke« nennen: eine Hausdurch- Wappler: Vom Sehen kenne ich ihn bestimmt. Ich sen. Aber ich sage Ihnen was, wovon ich total uns von dem Auftrag abgezogen. Den Grund da­
suchung bei Wappler oder eine Geliebte, die mit Geld kenne alle namhaften Betrüger in Deutschland. überzeugt bin: In jedem Menschen steckt ein­ für kenne ich bis heute nicht.
durchbrennen will. »Bring alles in Sicherheit!«, habe ZEIT: Einem sehr reichen Opfer haben Sie einmal Betrüger. ZEIT: Sie haben im Gefängnis zweimal dieselbe
Wappler befohlen. Dann musste es schnell gehen.­ Diamanten aus einem Nazi-Schatz versprochen, ZEIT: In uns auch? Frau geheiratet und sich von ihr zweimal scheiden
»Mike hat immer gebunkert.« Hier ein S­ afe, dort ein den es natürlich nicht gab. Wappler: Haben Sie schon mal gelogen? lassen, auch im Knast. Nicht anzunehmen, dass
Geheimversteck in einem Schrank. Wappler: Sechs Millionen Euro hat mir das ge­ ZEIT: Na klar. Ihre Verflossenen Sie heute noch besuchen.
bracht. Dem Mann hatte ich eingeredet, dass die­ Wappler: Mit dieser Lüge wollten Sie etwas errei­ Wappler: Ich habe mich nie sehr gerne festgelegt,
ZEIT: Herr Wappler, Sie treffen bei Ihren reichen Safes, an die ich rankomme, voll sind mit Gold, chen, oder? bin aber jetzt verlobt.
Opfern offenbar einen Nerv. Welcher Nerv ist das? Edelsteinen und Kunst aus der Nazi-Zeit. Das hat ZEIT: Ja. ZEIT: Und Sie haben Kinder.
Wappler: Meine Kunden, die oft zurückgezogen der geglaubt, weil er es glauben wollte. Der war Wappler: Sehen Sie, und da geht der Betrug schon Wappler: Zwei Jungs und zwei Mädchen. Jedes
leben, werden von mir geblendet. Da kommt so besessen von der Idee, dass es noch Nazi-Schätze los. Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der Kind hat seine eigene Mutter, da braucht keines
ein Typ wie ich, einer mit einem Porsche und im gibt. Ich habe ihm und seiner Familie aber ver­ nicht betrügt. Das fängt bei Kindern an. »Mama, eifersüchtig zu sein. Die eine Tochter wollte­
weißen Anzug, und redet ihnen eine schöne Story sprochen, dass ich seinen Namen nie nenne. Viele ich habe Bauchweh, ich kann heute nicht in die Polizistin werden. Ich weiß aber nicht, ob das­
ein. Das klappt. Die Gier macht diese Leute Jahre habe ich mit ihm Geschäfte gemacht. Schule.« Eine ältere Dame von der feinen Elb­ geklappt hat.
blind. Wenn sie in feinen Vierteln wohnen, ken­ ZEIT: Wie kann es sein, dass das so lange gut ging? chaussee in Hamburg sagte mal zu mir, dass sie ZEIT: Was dachten Sie, als Sie hörten, dass sich
nen sie so was wie mich gar nicht. Die kennen Wappler: Ich habe diesem reichen Mann erzählt, noch nie in ihrem Leben betrogen hat. »Ach«, Ihre Tochter für den Polizeidienst interessierte?
nur irgendwelche Langweiler. Ich verkaufe ihnen dass er mir ständig Geld nachschießen muss, immer habe ich geantwortet, »haben Sie vielleicht eine Stand sie damit auf der gegnerischen Seite?
Abenteuer. wieder große Beträge, weil mich die Suche nach Putzfrau? Ja? Und haben Sie die Putzfrau auch Wappler: Nein. Das eine hat mit dem anderen
ZEIT: Warum können sich diese Menschen nicht dem Nazi-Schatz ständig vor neue Probleme stellt, angemeldet?« Darauf meinte die Dame: »Dazu nichts zu tun. Ich bin auch mit Polizisten und
auf eigene Faust in Abenteuer stürzen? die wahnsinnige Kosten verschlingen. Ich habe sage ich nichts.« Staatsanwälten befreundet. Ich kann das gut
Wappler: Weil das ideenlose Leute sind. Denen ihm sogar vorgegaukelt, dass ich tot bin. trennen. Ich war mit einem pensionierten Staats­
fällt nichts ein. Die haben nur ihre Arbeit und ihr ZEIT: Man könnte denken, Ihre Opfer seien geistig In seiner Welt, in der sich viele Gestalten aus der anwalt aus Lübeck befreundet, obwohl er mir
Geld im Kopf. Oft sind das Millionäre, die den minderbemittelt. Halbwelt tummeln, habe Wappler selten jemanden sechs Jahre Knast und SV aufbrummen wollte.

ANZEIGE

ZEIT.DE/PINNWAND 
Kontakt für Anzeigenkunden:
www.zeit.de/inserieren · Tel. 030 / 260 68 530 ZEIT.DE/AUKTION  
ZEIT.DE/AUKTION
Ab
Ab
Startpreis: Ab 50% unter Listenpreis
Startpreis: Ab 50% unter Listenpreis
Laufzeit nur 11 Tage
Laufzeit nur 11 Tage

Bauen BIPLANTOL HOMÖOPATHIE

Verzeichnis für Architekten,
Ingenieure + Sachverständige
www.bundesliste.de
Bücher
Das ist Mein Wort A und Ω
Das Evangelium Jesu
Die Wahrheit über Jesus von Nazareth,
Sein Leben und Seine Lehre,
1080 S., ISBN 9783892019602. Euro 29,90
www.gabriele-verlag.com
Delikatessen
FROMAGER D´EXCELLENCE
Wolfram Schreier
www.kaesereich-frankreich.de
Garten
SCHÖNE KLASSISCHE GARTENMÖBEL
stilvoll zeitlos nachhaltig
www.gartenmoebel-klassiker.de
Urban Garden in Hochform:
Vertical Garden XL
EINE Standfläche - FÜNF Pflanzflächen!
Funktional und elegant, made in Germany.
WIR SIND FÜR SIE DA!
040 - 528 62 200
Mit fast 1000 Fotos und Beschreibungen
telefonisch oder auf unserer Homepage.
Wir liefern frei Haus oder Sie holen ab.
www.meyers-muehle-gartenmoebel.de
Hentschke Pflanzgefäße
aus Steinzeugton
Premium Pflanzgefäße und Gartendeko,
deutsches Handwerk, absolut frostfest
großes Sortiment: Blumentöpfe, Pflanz-
schalen, Gartenkugeln, Vögelhäuschen,
Vogeltränken und Zubehör
handgefertigt und einzigartig
Tel.: 0 87 27 / 14 74
Die ganze Auswahl unter:
www.hentschke-keramik.de
Nostalgische Metall-
Pavillons
Edle, massive, handgefertigte Schmuck-
stücke, wertbeständig, wartungsfrei.
Biologische Pflege für
Pflanzen, Bäume & Gemüse
Online Shopping Weine & Spirituosen heute
heute
www.biplantol.de
Kataloge kostenlos bestellen!
Stöbern Sie in Angeboten aus
www
w .Wein-Ankauf.de
Wir kaufen Ihre Weine, Champagner
Mode, Reise, Design&Kulinarik
Geld & Anlage www.zeit.de/kataloge
& Spirituosen zu Höchstpreisen an!
Tel. 02464-9798-355, Fax - 707
Anlegen in Gold, Silber, Platin info@wein-ankauf.de
physisch im Eigentum - Steuerfrei
schrojo@gmx.de, 03605 5489172
9 - GENERATIONEN WEINBAU
Weingut Adam Müller Leimen
Geschenkideen www.weingut-adam-mueller.de
Outdoorsport AUSGESUCHTE WEINE, CHAMPAGNER
Edle Spirituosen & Geschenke.
www.bremer-weinkolleg.de
DIE Online Weinhandlung The RUCKSACK | aus wasserabweisender Bio-Baumwolle
für charakterstarke Weine. Der perfekte Begleiter bei Trekking-Abenteuern in der Wildnis oder im Großstadt-
dschungel. Eine einzigartige Pfc-freie Beschichtung sorgt für Wasserabweisung.
www.bio-wein-online.com Entwickelt in Deutschland und hergestellt in Polen in einem Familienbetrieb.
Einmal notiert – immer KÖSTLICHES AUS DEM SÜDEN
Ladenpreis Startpreis Verfügbarkeit Online-ID
wieder gerne gelesen! mediterrane Weine u. Feinkost
www.bodega-andaluza.com € 139,00 € 69,50 2× 3833
10-Jahre-Kalender für Ihre Tentipi - nordische Tipis
Erlebnisse. Datiert und Himmelszelt...
personalisiert. 02505 9308-0
www.jahresweiser.de
größte Qualität für große Abenteuer, für
Familienurlaub und Extremexpedition.
The RUCKSACK | aus wasserabweisender Bio-Baumwolle
Outdoor-Ausrüstung -> finest equipment.
Der wasserabweisende Roll-Top-Verschluss ermöglicht eine einfache Einstellung
www.absolut-canoe.de
zwischen einem Packvolumen von 25 und 30 Litern. Gesamthöhe: 69cm, Roll Top
Interieur Höhe (geschlossen): 59cm, Breite: 43,5cm. Das Hauptfach enthält eine separate
Tasche für Laptops bis zu einer Größe von 15“. Der Rucksack verfügt über eine 1 cm
Vieböck Leinen, Qualität &
dicke, abnehmbare Rückenpolsterung aus Wollfilz, die in der Natur oder überall dort,
Tradition aus Österreich Reisen wo Sie Ihren Hintern parken, als isolierendes Sitzkissen verwendet werden kann.
Leinen Hemden, Badetücher, Küchen Leinen,
HOOS LONDON GIN
Small Batch Gin & Vermut Ladenpreis Startpreis Verfügbarkeit Online-ID
Rohleinen, auch bio u. GOTS zertifiziert ALLE URLAUBSKATALOGE € 139,00 € 69,50 2× 3831
www.bioella.at Hoos steht für ehrlichen London Dry Gin
gratis frei Haus.
mit Reduzierung auf das Wesentliche
www.kataloghaus.com
Internet und grundehrlichen, ausgefeilten Inhalt
www.hoos-london-gin.de
The Organic LIGHTWEIGHT JACKET
Hilfreiche Tipps im Netz! Sport & Freizeit Mit gerade einmal 490 Gramm trotzt das winddichte und wasserabweisende Leicht-
von A bis Z unter gewicht aus Bio Baumwolle allen Allüren des Sommers, ohne dabei an Atmungsak-
www.zeit.de/pinnwand
Segelnachrichten tivität einzubüßen. Die Jacke kommt wie gewohnt im minimalistischen Design und
verzichtet sowohl auf unnötige Plastikteile an Kapuzen- und Taillenregulierung als
von Seglern für Segler
Musikinstrumente Kontakt für Anzeigenkunden auch auf verspielte Deko-Elemente. Der Schnitt ist gerade, bietet seinem Träger aber
dennoch maximale Bewegungsfreiheit – ob im richtigen oder Großstadtdschungel.
FEINE KLANGGESTALTUNG  030 / 260 68 530 Ladenpreis Startpreis Online-ID Verfügbarkeit
für Flügel und Klaviere
TVM GmbH, Ihr Ansprechpartner € 199,00 € 99,50 3828 3×
www.pianocandle.de
für Beratung und Verkauf.
Naturheilkunde

Ideal für Balkone und Terrassen…
www.bluegreenshop.de
A
Anbieter:
Tel. 0049-(0)7971-22266 AYURVEDA - WELLNESS & MEDIZIN JECKYBENG GmbH
www.gartenpavillon-noller.de Artikel, Videos, Branchenbuch www.jeckybeng.com
www.ayurveda-portal.de
 29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
ZEIT: SV, also Sicherungsverwahrung. Das bedeu­
tet, dass ein Häftling auch nach der Verbüßung
seiner Strafe eingesperrt bleibt, weil er weiterhin
als Gefahr für die Allgemeinheit gilt. Sie waren so
ein Fall. Sie galten als jemand, der nicht zu bekeh­
ren ist und höchstwahrscheinlich rückfällig wird.
Wappler: Wie gesagt: Reue ist nicht mein Ding.
Als Wappler im Jahr 2010 im Gefängnis saß, gab es
das noch: Sicherungsverwahrung bei Vermögens­
delikten. Gegen ihn, den notorischen Hochstapler,
wurde diese drastische Maßnahme verhängt. Aber
Wappler fand einen Ausweg. Einmal, bei einem Fest
seiner Halbschwester, wurde er in Fußfesseln von zwei
Beamten zur Gartenparty nach Lübeck begleitet.
Plötzlich gab er vor, dringend zur Toilette zu müssen.
Er schloss sich ein und ließ sich von einem Kompli­
zen, der dort wartete, die Fesseln mit einem Bolzen­
schneider durchtrennen. Wappler türmte aus dem
Fenster, während der Komplize den Beamten, die vor
der Badezimmertür warteten, vortäuschte, er sei
Wappler. Der echte Wappler rannte draußen zu einem
Flucht­auto, fuhr zum Lübecker Flughafen und setzte
sich nach Portugal ab. Von dort aus rief er stolz seine
damalige Anwältin in Deutschland an und nannte
seine Flucht fröhlich »meine Blitzentlassung«.
Wappler hatte recherchiert. In Portugal gab es keine
Sicherungsverwahrung. Das Land würde diese Maß­
nahme nicht vollstrecken und ihn – so hoffte er – nicht
nach Deutschland ausliefern. Als er in Portugal ge­
fasst, ins Gefängnis gesteckt und am Ende doch aus­
geliefert wurde, hatte Wappler nicht mehr viel zu
befürchten. Der Europäische Gerichtshof für Men­
schenrechte hatte die deutsche Sicherungsverwahrung
gerügt. Der Bundestag stimmte einem Gesetz zur
Neuregelung der Sicherungsverwahrung zu, und das
Hamburger Landgericht entschied, diese Maßnahme
von nun an nicht mehr bei Häftlingen mit­
Vermögensdelikten anzuwenden. Damit war Wapp­
ler, der seine Strafe abgesessen hatte, wieder ein freier
Mensch. Fragt man seine Halbschwester Beate heute,
was sie von ­Mike Wappler hält, antwortet sie: »Mit
dem will ich nichts mehr zu tun haben.«
ZEIT: Sind Sie ein nachtragender Mensch?
Wappler: Nein, überhaupt nicht. In einer Bezie­
hung zu einer Frau bin ich vielleicht nachtragend,
aber nicht gegenüber einem Richter oder einem
Polizisten.
ZEIT: Sie wurden kürzlich erneut verurteilt, weil Sie
gemeinsam mit einem Komplizen, Ihrem Cousin,
fast 400.000 Euro ergaunert hatten. Sie erzählten
Ihrem Opfer, Forderungen eintreiben zu können,
einige Millionen Euro. Sie tischten die erfundene
Geschichte von einer Witwe auf, die mit dem Geld
angeblich nach Moskau geflohen sei, und Ihr
Komplize spielte einen seriösen Rechtsanwalt aus
der Schweiz, der gefälschte Kontoauszüge präsen­
tierte. Ein Märchen reihte sich an das andere. Sie
kassierten von Ihrem Opfer Bargeld und Gold.
Vor Gericht haben Sie alles gestanden. Warum
haben Sie dort nicht getrickst?
Wappler: Das hätte doch keinen Sinn. Diese Leute
verstehen doch was von ihrem Job.
ZEIT: Da trennen Sie wieder, diesmal zwischen
Richtern und Opfern.
Wappler: Einen erfahrenen Richter belügt man
nicht.
ZEIT: Ein Opfer schon?
Wappler: Na klar. Sonst komme ich ja nicht an die
Kohle ran.
ZEIT: Hätten Sie sich selbst auch ins Gefängnis
gesteckt, wenn Sie Richter wären?
Wappler: Natürlich. Ich hätte mir vielleicht sogar
eine höhere Strafe gegeben. Ich habe mit fünf bis
sechs Jahren Knast gerechnet, aber nur dreieinhalb
Jahre bekommen. Glück gehabt. Ich bin zufrieden.
ZEIT: Die jüngsten Ermittlungen der Polizei gegen
Sie begannen, nachdem Ihre frühere Freundin
dort ausgesagt hatte. Sie war fünf Jahre mit Ihnen
zusammen, dann hat sie ausgepackt. Sind Sie ihr
böse?
Wappler: Zuerst ja, ich dachte: Du Miststück.
Aber dann habe ich versucht, mich in diese Frau
hineinzuversetzen. Wir sind im Streit aus­ein­an­der­
ge­gan­gen, und sie wollte sich an mir rächen. Wir
hatten aber auch gute Zeiten. Heute bin ich ihr
nicht mehr böse. Ich versuche immer, mich zu
fragen, ob jemand einen Grund hatte, mich zu
verpfeifen.
Die frühere Freundin
Heike Krüger*, eine gepflegte Frau in den Fünf­
zigern, amüsierte sich über Wappler, als sie ihn
2013 nach einem Boxkampf in Hamburg kennen­
lernte, bei dem sie spontan als Ringsprecherin ein­
gesprungen war. Ein Angeber im weißen Kaschmir­
mantel in der ersten Publikumsreihe, der sich
Milliar­den-­Mike nannte – »das fand ich am A ­ nfang
nur kindisch«, sagt sie heute. Heike Krüger hatte
Gesang studiert, sie hat zwei Kinder und e­inen
Mann, von dem sie sich damals getrennt hatte. Sie
lebte in einem abgeschiedenen Dorf in Ostdeutsch­
land, in dem es nicht einmal einen ­Lebensmittelladen
gibt. »Eine schwere Krankheit hatte mich erwischt.
Ich war beruflich am Ende und habe Bügeleisen
verkauft. Ich fühlte mich komplett zerstört. Dann
kam ­Mike Wappler und hat mich aufgefangen. Er
führte mich in seine Glitzerwelt, voller Partys,
Empfänge, schöner R ­ eisen, interessanter Leute. Er
stellte mich als seine Prinzessin vor.« Gemeinsam
zogen sie in ein gemietetes Haus am Rand der Lüne­
burger Heide.
Zunächst, sagt Heike Krüger, habe sie nicht ge­
ahnt, dass sie mit einem Kriminellen zusammen­
*Name von der Redaktion geändert
lebte. Erst als er sie bat, in einer Buchhandlung aus
seiner Autobiografie vorzulesen, sei ihr alles klar
geworden. Unklar sei ihr selbst bis heute geblieben,
warum sie so schlecht von ihm loskam. In ihr altes
Dorfleben konnte sie nicht zurück, ein neues Leben
ohne Wappler war für sie schwer vorstellbar. Mit
den Geldbündeln, die in Wapplers Jackett steckten,
war es einfach, sich den Alltag zu versüßen. »Ich
DOSSIER 15
anwalt? Ich muss das noch mal prüfen.« Und
schon habe ich einen Fuß in der Tür.
Der Staatsanwalt
» R E U E Harald Pohl sitzt im Wohnzimmer seines hübschen
Häuschens in Lübeck. Ein freundlicher Mann mit
weißen Haaren, seit Jahren Pensionär. 37 Jahre war
er Staatsanwalt, und er musste sich während seines
gesamten Berufslebens immer wieder mit ­ Mike
Wappler beschäftigen. »Einer meiner ersten Fälle
hatte gleich mit ihm zu tun.« Es ging damals auch
schon um Luftgeschäfte, Wapplers Spezialgebiet. Er
wurde verurteilt, saß im Gefängnis und kam wieder
frei. So lief es jahrzehntelang, immer neue Anklagen,
immer neue Verurteilungen. »Ich habe mich manch­
mal gefragt, ob die Justiz irgendwas falsch gemacht
hat bei Wappler. Hätten wir irgendwas tun können,
damit er kein Berufsverbrecher geworden wäre?« Er
macht eine kurze Pause und gibt die Antwort dann
selbst: »Nein. Dieser Mann ist völlig unbelehrbar.«
Man merkt in dem Gespräch, dass sich zwei Seelen
in der Brust von Harald Pohl befinden. Die eine ist
ganz die Seele eines Staatsanwalts: ­Mike Wappler sei
I S T ein Verbrecher, er habe viele, viele Leute betrogen und
ins Unglück gestürzt. Daran sei gar nichts zu beschö­
nigen. Doch da ist noch die andere Seele, und die
muss immer wieder lachen. Zum Beispiel wenn er
erzählt, einmal habe Wappler den Antrag gestellt, er
wolle zwei Hühner in seiner Zelle haben, denn er sei
morgens an sein Frühstücksei gewöhnt. Und der alte
Staatsanwalt kann einfach nicht anders, als zu
schmunzeln, wenn er sich an eines der letzten Ge­
spräche mit Wappler erinnert. Pohl sagte zu ihm, er
werde jetzt bald in Pension gehen, woraufhin Wapp­
ler nach langem Schweigen meinte: »Herr Pohl, das
können Sie mir nicht antun. Wer soll mich denn jetzt
anklagen?«
ZEIT: In Ihren Geschichten sind Sie immer der
Held. Ein Mann, der alle Untiefen des Lebens meis­
tert. Gibt es nichts, wofür Sie sich heute schämen?
Wappler: Was könnte das sein? (überlegt lange) Ich
N I C H T habe mal einer älteren Frau Schmuck verkauft, der
nicht echt war, billiger Modeschmuck. Dafür habe
ich mehrere Tausend Euro bekommen, aber das
Geld habe ich ihr später zurückgegeben. So ein Be­
trug ist normalerweise nicht mein Ding. Ich ma­
che das nicht mit Leuten, die wenig Geld haben.
Ein Facharbeiter, der sein Leben lang für sein
Häuschen gespart hat, und dann komme ich
Arschloch und nehme ihm Geld weg – nee, das ist
mies. Ich war immer spezialisiert auf dicke Fische.
Für 10.000 Euro gehe ich nicht los, nicht für
Pissgroschen.
Wappler erzählt gern die Geschichte vom modernen
Robin Hood, der den Reichen Geld abnehme und es
unter den Armen verteile. Aber der zweite Teil der
Geschichte stimmt nicht. Denn er behält das Geld für
sich. Dass er meist keine Normalverdiener betrogen
hat, liegt vermutlich daran, dass bei denen für ihn
M E I N D I N G « wenig zu holen ist.
ZEIT: Tragen Sie Ihr Geld zur Bank?
Wappler: Um Gottes willen, nein, ich hatte immer
Foto: dpa
nur Schließfächer mit Bargeld, immer auf andere
Namen und nie in Deutschland. Deshalb bin ich
Wappler nennt sich selbst »Milliarden-Mike« und tritt gern in ausgefallenen Anzügen auf noch heute reich. Ein Schließfach in Deutschland
bedeutet, dass man bei der Schufa eingetragen
wird. Dann weiß der Staat das auch.
ZEIT: Aus Ihren Erzählungen kann man den
Schluss ziehen, dass Geld glücklich macht, und sei
es Schwarzgeld. Blicken Sie wirklich auf ein erfülltes
Leben zurück?
habe heute 50.000 gemacht«, habe er manchmal sitzen. Aber wer weiß, vielleicht habe ich noch Baron von Wappler. Aber daraus wurde nichts, denn Wappler: Jedenfalls habe ich mich in meinem
gesagt. »Womit?«, habe sie anfangs noch gefragt. einen Rückfall. die Behörde weigerte sich. »Nichts ist für ihn schlim­ Leben selten gelangweilt. Razzien, Flucht vor der
»Das musst du nicht wissen, Lümmel«, habe Wapp­ ZEIT: Wer kontaktiert Sie hier im Gefängnis? mer, als in der Normalität zu versinken«, sagt die Polizei, Rotlichtmilieu, Boxkämpfe, schöne Reisen,
ler entgegnet. »Lümmel«, so nannte er sie öfter. Die Wappler: Menschen, die meinen Rat suchen. Je­ Anwältin, »das spricht für ein unterentwickeltes mal ein Kaffee mit Freunden im Hotel Adlon, mal
ehemalige Freundin sagt: »Er hat für mich gesorgt. mand will Geld anlegen und fragt mich: Was soll Selbstwertgefühl.« ein Fernsehauftritt: Es war immer was los.
Meine Existenzangst war weg.« ich machen? Es gibt zum Beispiel den Chef eines Halten Sie ihn für einen faszinierenden Men­ ZEIT: Was raten Sie Ihren Kindern für ihr Leben?
Sie habe ihm geglaubt, als er versprach, sich auf Restaurants auf Sylt, der Millionen übrig hat. Im schen? Die Anwältin denkt lange nach. Dann sagt Wappler: Schwierig. Die leben ja anders als ich,
keine krummen Geschäfte mehr einzulassen. Das Moment ruht aber alles. Ich mache nichts. Manche sie: »Er kann etwas, das wenige Menschen können. Er eher bürgerlich, unauffällig.
Internet habe ihm ohnehin alles kaputt gemacht, Leute wollen mich auch betrügen. Ich spüre das kann gute Laune verbreiten. Er macht aus jeder ZEIT: Haben Sie Enkelkinder?
behauptete Wappler. Jeder könne sofort herausfinden, sofort. Das ist eine Gabe von mir. Situation das Beste. Er strahlt von innen. Das kann Wappler: Ja, meinen Enkel Ben. Ein kleiner Dicker.
wer er ist. Erkannte auch sie, wer er wirklich ist? Im ZEIT: Sie saßen allein 18 Jahre in Santa Fu, der man nicht spielen.« Er guckt immer auf die Uhr an meinem Arm, eine
Schlafzimmer sah sie einen Mann neben sich liegen, JVA in Hamburg-Fuhlsbüttel. Sie wirken aber Hecks Kollege Dirk Meinicke, mit dem sie Wapp­ Rolex. Die will er unbedingt haben. Ben ist auch
der oft aus dem Schlaf hochschreckte, der eine Pis­ immer so unbeschwert, als seien Sie ein fröhlicher ler gemeinsam vor Gericht verteidigte, hatte den­ schon ein kleiner Verbrecher. Der kommt ganz
tole und eine Dose Pfefferspray neben sich auf den Frührentner. Wie kommt das? Betrüger erst wenige Monate zuvor kennengelernt und nach mir.
Nachttisch gelegt hatte. Das Haus hatte er mit Wappler: Ich habe diese 18 Jahre gar nicht ge­ war überrascht, wie schnell die Zeit verging, wenn er ZEIT: Wie alt ist er denn?
Alarmanlagen hochgradig gesichert. merkt, weil ich immer was um die Ohren hatte. ihn besuchte. Einmal wollte er nur 20 Minuten im Wappler: Zwei.
Als Heike Krüger mitbekam, dass sich Wappler Ich habe auch in der Haft ständig Geschäfte ge­ Gefängnis bleiben, und als er auf die Uhr schaute,
ungeniert mit anderen Frauen traf, begann das selt­ macht. Früher hatte ich dort einen ausgezeichne­ war schon eine Stunde vorbei. Er erlebte ein Feuer­ Über ein Telefon im Gefängnis spricht Wappler später
same Finale dieser Beziehung. Sie ließ sich von ten Lehrer, Martin Engler, den man den König der werk der Anekdoten. »Vielleicht das unterhaltsamste noch ein paarmal mit der ZEIT. Einmal meldet er
Wappler vorführen und erniedrigen, aber sie blieb Betrüger nannte. Er ist schon lange tot. Martin Mandat meines Lebens« nennt der Anwalt den Fall sich mit »Oberstaatsanwalt Möller« und lacht ver­
lange Zeit bei ihm. Wappler wurde immer unbe­ sagte damals zu mir: ­»Mike, du darfst nie klein Wappler. gnügt. Am Ende eines Telefonats will er unbedingt
herrschter. Einen Mann, den der eifersüchtige Wapp­ denken. Du musst groß denken.« Martin hat aus noch eine Lebensweisheit loswerden. Sie lautet: »Man
ler für einen Nebenbuhler hielt, diffamierte er öffent­ dem Knast heraus Flugzeuge aus dem Libanon ZEIT: Herr Wappler, mit wem machen Sie lieber muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur da­
lich, indem er Flugblätter mit schweren Anschuldi­ verkauft. Einen besseren Lehrer konnte ich gar Geschäfte: mit schlauen oder mit dummen­ rin zurechtfinden.« Nietzsche, lobt Wappler, der große
gungen in dessen Nachbarschaft verteilte. »Ich hatte nicht bekommen. Martin war ein Genie. Der hat Menschen? Friedrich Nietzsche. Der Satz stammt allerdings nicht
plötzlich Angst vor ­Mike«, sagt Heike Krüger heute. sogar Politiker betrogen und seine eigenen Rechts­ Wappler: Mit den Schlauen, eindeutig. Die von Nietzsche, sondern von Albert Einstein. »Auch
Die beiden trennten sich schließlich doch, und Krüger anwälte. Auch denen hat er Geld abgenommen. Schlauen sind die besten. Die haben studiert und gut«, sagt Wappler.
hat wieder einen Job. Deshalb wolle sie nicht mit ih­ Ein Genie hoch drei. Er sagte zu mir: »Achte auf im Beruf viel erreicht. Die halten sich für so schlau,
rem wahren Namen in der Zeitung stehen, sagt sie, die Schuhe. Wenn jemand maßgeschneiderte dass sie schon wieder doof sind. Ein Doofer hat
die frühere Beziehung zu einem Hochstapler schade Schuhe trägt, weißt du: Der hat Geld.« wenig Geld und ist misstrauisch, ein Schlauer ist
ihrem Ruf. Blickt sie auf die Jahre mit ihm zurück, anders. Der Schlaue fällt auf mich rein, weil er
dann sagt sie etwas, das so widersprüchlich ist wie Die Rechtsanwältin meint, er ist mir überlegen. HINTER DER GESCHICHTE
Wappler selbst. »Er ist eiskalt und berechnend. Er be­ Stimmt das, was der Betrüger Wappler im
nutzt jeden.« Das ist das eine. Das andere ist: »Er hat Seit etwa 20 Jahren kennt die Hamburger Rechts­ Eine Vollzugsbeamtin schließt die Tür des Besu­ ZEIT-Interview erzählt? Dieser Frage sind
ein gutes Herz.« anwältin Jutta Heck ihren Mandanten Wappler, cherraums auf, schaut hinein und sagt: »Ich wollte die Autoren nachgegangen, indem sie
mehrmals hat sie ihn vor Gericht verteidigt. Die nur Bescheid geben: Um zehn vor drei ist hier Staatsanwälte und Rechtsanwälte nach ihm
ZEIT: Herr Wappler, warum haben Sie sich nie auf 61-jährige Juristin sagt, er habe ihr so oft Lügen auf­ Schluss.« befragt haben, Freunde, Geschäftspartner
legale Weise unter Beweis gestellt, als Bauunter­ getischt, dass sie viele seiner Märchen schnell durch­ und Weggefährten, außerdem Journalisten,
nehmer zum Beispiel? schaut habe. Sie habe ihn kurz angeraunzt, danach Wappler: Aber gleich kommt noch Herr Ober­ die mit ihm zu tun hatten, sowie ehemalige
Wappler: Bauunternehmer? Alles Gangster. Ich habe Wappler lächelnd eingelenkt. Sie sagt: »Als staatsanwalt Möller. Lebensgefährtinnen – insgesamt etwa
hatte mal eine Model-Agentur und habe Nummern­ Sohn eines Zigeunerkönigs glaubte er sein Leben Die Beamtin: Sie verarschen mich, Herr Wappler, 20 Menschen. Einige von ihnen kommen
girls für Boxveranstaltungen geliefert. Das lief lang, er sei der geborene Nachfolger des Vaters, er sei das geht gar nicht. Hier kommt heute keiner im Text zu Wort, andere wollen unerkannt
super. Aber es war mir zu langweilig. Ich habe der Prinz. Das ist seine Anspruchshaltung. Aber seine mehr. bleiben. Weil Wappler weder lesen noch
mehrere Mietshäuser, davon kann ich super leben. Familie akzeptiert keinen vorbestraften Prinzen als schreiben kann, war es nicht ganz einfach,
Ich muss keine Betrügereien mehr machen. König. Und die Gesellschaft akzeptiert ihn natürlich Die Beamtin schließt verärgert die Tür. seine Interviewpassagen von ihm
ZEIT: Wenn Sie wieder in Freiheit sind, werden auch nicht in dieser Position. Aber Herr Wappler er­ autorisieren zu lassen. Einer der Autoren
Sie also gesetzestreu leben? wartet eine entsprechende Achtung. Diese Haltung Wappler: (lacht) Sehen Sie, mit dieser Frau mache besuchte ihn im Gefängnis und las ihm
Wappler: Das mit dem Betrug geht auf keinen Fall ist bis heute nicht verflogen.« Einmal versuchte er, ich bestimmt keine Geschäfte. Das ist eine Doofe. seine Zitate persönlich vor.
so weiter. Ich will nicht noch mit 80 im Knast sich den Titel »Baron« amtlich eintragen zu lassen, Eine Schlaue hätte geantwortet: »Ein Oberstaats­
16
DAS LESERZITAT ZUM THEMA GEMEINSAME GELDANLEIHEN:
»Sie plädieren für Corona-Bonds, damit sich die notleidenden
Länder billiges Geld leihen können. Fänden Sie es dann in Ordnung,
dass Deutschland diese Schulden tilgt?« Von Gerda Dörfler
Erledigt ist hier
noch gar nichts
Mariam Lau:
»Die Exitstrategen«  ZEIT NR . 17
Das Virus ganz auszumerzen könnte nur ge-
lingen, wenn man über längere Zeit einen
totalen Lockdown verfügen würde. Das ha-
ben noch nicht mal China oder Südkorea ge-
schafft. Es ist also eine ethische Frage, ob man
die Gewichtung mehr in Richtung Verhin-
derung von schweren und tödlichen Ausgän-
gen legt oder ob man die Verhinderung
schwerer wirtschaftlicher Depression – mit all
ihren Folgen für Millionen Bürger – in den
Vordergrund rückt.
Dass es jetzt aus verschiedenen politischen
Richtungen zu Forderungen kommt, einfach
alles wieder zügig zu öffnen, und mancher das
Virus als harmlos, erledigt oder gar als ver-
schwunden betrachten will, ist an Dreistig-
keit nicht zu überbieten. Als Kinder- und
Jugendarzt, der sich über Jahrzehnte täglich
mit Infektiologie beschäftigt hat, fordere ich,
die unsinnigen Diskussionen zu unterlassen
und das Virusgeschehen auf ganz niedriger
Schwelle zu halten.
Dr. Wolfgang Adam, Rahden
Bild und Text sollten sich in der Aussage un-
terstützen und ergänzen. Dies gelingt der
ZEIT in der Regel bestens! Bei diesem Artikel
über die Schwierigkeiten des Ausstiegs aus der
Pandemiebekämpfung aber ist es Ihnen gänz-
lich misslungen. Das Foto von Jens Spahn im
Aufzug mit Mitarbeitern der Uni-Klinik Gie-
ßen – eng gedrängt und ohne jeglichen
Sicherheitsabstand – konterkariert den guten
Text. Es macht die anerkennenswerte Arbeit
der Abgebildeten lächerlich und ist Wasser
auf die Mühlen der Gruppe der Corona-
Ignoranten.
Wolfgang Gehrmann, per E-Mail
Dereinst im Mai
Dossier: »Der Tag,
der die Welt veränderte«  ZEIT NR . 17
Der gut komponierte Beitrag zeigt auf beein-
druckende Weise, mit welch riesigen Heraus-
forderungen die Menschen im und nach dem
Zweiten Weltkrieg fertigwerden mussten, wel-
che Verluste sie zu verkraften hatten und wie sie
unter schwierigsten Bedingungen ihre persön-
liche Existenz wieder aufbauten. Wenn nun
dieser Tage eine Mutter im deutschen Fernsehen
in Tränen ausbricht, weil die häusliche Situation
wegen Corona nervig ist und ihre Kinder auf so
viel verzichten müssen, möchte ich ihr am liebs-
ten diesen Artikel zu lesen geben.
Monika Nolte, Karlsruhe
»Es gibt wenige Tage, an denen die Grundbedin-
gungen der Existenz für Zigmillionen Menschen
zugleich neu definiert werden. An denen wie bei
einem Urknall eine Welt entsteht, in der alles
anders ist als zuvor: Wer ist mächtig, wer ohn-
mächtig? Wer hat eine Zukunft, wer nur eine
Vergangenheit? Wer darf in Freiheit leben, wer
nicht? Es sind Ausnahmetage der Geschichte,
an denen alle spüren, dass etwas Altes vorbei ist
– aber oft wird sich erst Jahre später zeigen, was
genau das Neue ist, das beginnt.« – Dies sind
Zeilen Ihres Berichtes über den 8. Mai 1945, an
dem in Europa der Zweite Weltkrieg endet.
Spontan hatte ich bei der Lektüre die erschre-
ckende Vorstellung, dieser Text könnte exakt
passen zum 8. Mai des, sagen wir, Jahres 2022,
dem fiktiven ersten Tag einer coronafreien Welt.
Vielleicht hätte es aber auch etwas Gutes.
Ulrich Niepenberg, Marienheide
Der Executive Master in Arts Administration der Universität Zürich trauert um seinen Mitbegründer und langjährigen Dozenten
Sir Peter Jonas
Wir verlieren mit Sir Peter Jonas einen leidenschaftlichen Ermöglicher von Sternstunden der Kunst, einen feinsinnigen und humorvollen Dozenten,
der den angehenden IntendantInnen neben seinem unendlichen Erfahrungsschatz und seinem Feuer für das moderne Musiktheater vermittelt hat,
dass die Führung eines Kulturbetriebes „Dienen“ mit Liebe und Hingabe bedeutet.
Die Welt ist ohne ihn ärmer geworden.
Der Leitende Ausschuss
Alumni, Alumnae und Studierende des Executive Masters in Arts Administration
LESERBRIEFE
Corona-Bonds? Niemals!
Bernd Ulrich über Finanzhilfen für Südeuropa: »Außen kalt«  ZEIT NR . 17
N
och jede italienische Regie-
rung hat sich Ratschläge der
europäischen Partner zu ihrer
Haushalts- und Schulden-
politik als Einmischung in
ihre inneren Angelegen­
heiten verbeten. Steht die
Schuldentilgung an, ruft die gleiche italienische
Regierung jedoch nach europäischer Solidarität,
sprich »Einmischung in ihre innere (Zahlungs-)
Angelegenheit«.
Man scheut sich auch nicht, die deutsche Export-
quote zu bemühen, um Deutschland an den Haus-
haltslöchern zu beteiligen. Wo sollte die Grenze
liegen, ab der eine Exportnation wie Deutschland
eine nicht minder exportorientierte Volkswirtschaft
wie Italien zu subventionieren hat?
Der durchschnittliche Privathaushalt in Italien be-
sitzt mehr Vermögen als ein deutscher. Doch der
italienische Staat schätzt die Chance, an das Geld
seiner Bürger zu kommen, offenbar als geringer ein
als die, ans Geld deutscher Steuerzahler zu gelangen.
Ernst Kaffanke, Höchstadt
Das Verständnis der Deutschen für die Italiener
dürfte wesentlich größer sein als umgekehrt. Nur
wird verständlicherweise die Sympathie für den
venezianischen Gondoliere, den neapolitanischen
Tenor oder auch den freundlichen Pizzabäcker
das Handeln deutscher Politiker weniger bestim-
men als ihr Blick auf so manche von den Italie-
nern gewählte Regierung der letzten Jahrzehnte.
Angesichts der im Rahmen der Euro-Krise schon
entstandenen Haftung müsste ein deutscher Poli­
tiker, der nun weiteren Haftungstatbeständen­
zustimmte, sich eine Verletzung seines Amtseids
vorwerfen lassen. Die europäischen Freunde sind
nicht so naiv, das nicht zu wissen. Aber im
Die drei Damen und der Präsident
Zum Streitgespräch über die Abgrenzung der Konservativen nach rechts außen  ZEIT NR . 17
D
en Aufruf der drei ZEIT-Autorinnen
(»Der Präsident und wir«) zu mehr
Zivilcourage und Widerstand gegen
den Rechtsextremismus möchte ich
unterstützen. Wir sollten Beleidigungen jeder Art
unverzüglich als Ordnungswidrigkeit mit einer
angemessenen Geldbuße belegen können!
Ich möchte aber auch Herrn Gauck in seinem
Anliegen unterstützen, dass wir Argumente und
Anschuldigungen der Rechten anhören sollten.
In jedem Fall sollten wir – wie in dem Streitge-
spräch – im moderaten Ton mit­ein­an­der reden!
Heiner Drabiniok, Meerbusch
Die drei Damen sind eine Bereicherung, auch
wenn ich ihre Ansichten nicht teile! Sie haben die
Freiheit unserer Demokratie und unsere gute In-
frastruktur genutzt, um – ich nehme doch an –
ihren Wunschberuf zu erlernen und auszuüben.
Probleme bereiten uns jedoch Clans, Parallel­
gesellschaften in vielen Großstädten und natür-
lich die fortdauernde Immigration aus Vor­der­
asien und Afrika, deren Ende nicht absehbar ist!
Dr. med. Ulrich Pietsch, Nidda-Ulfa
Giovanni di Lorenzo irrt, wenn er sagt, dass man
über die Fehler der Integrationspolitik reden
müsse, um AfD-Wähler zurückzugewinnen.
Ja, diese Fehler gab es, und spätestens nach den
Vorfällen der Kölner Silvesternacht sah eine
Mehrheit nach der Willkommens-Euphorie des
Sommers 2015 die Aufnahme von einer Million
Flüchtenden in einem sehr viel kritischeren Licht.
14. 10. 1946 – 22. 4. 2020
Die Studienleitung
Executive Master in Arts Administration
Zur Ausgabe No 17
Kampf um politische Vorteile mag es Erfolg ver-
sprechen, das alles außer Acht zu lassen, vor al-
lem, wenn es durch German-Bashing von deut-
scher Seite unterstützt wird.
Michael Fritzen, Mülheim a. d. Ruhr
Egal ob geholfen wird oder nicht: Deutschland
wird der ewige Böse sein. Und interessant: Geht
es um Hilfe, wird nur auf Deutschland geschaut,
als ob es kein anderes Land mehr in der EU gäbe.
Steffen Kaufmann, per E-Mail
Vielen Dank für Ihren (mutigen) Artikel.
Ich hoffe, dass viele Menschen ihn lesen und vor
allem verstehen werden. Wenn ich allerdings
manche Leserbriefe in der ZEIT betrachte, habe
ich daran große Zweifel. Jetzt, da die CDU so viel
Zustimmung in den Umfragen erhält, könnte
Frau Merkel über ihren Schatten springen. In
Deutschland ist die Begeisterung für sie plötzlich
so groß, dass man ihr eine Zustimmung zu den
»Corona-Bonds« verzeihen würde.
Robert Camboni, Rastatt
Sie plädieren für Corona-Bonds, damit sich die not-
leidenden Länder billiges Geld leihen können. Was
passiert, wenn die Rückzahlung der Bonds nicht
möglich ist? Fänden Sie es dann in Ordnung, dass
Deutschland diese Schulden tilgt, oder zumindest
einen Großteil? Diese Möglichkeit wird von den
deutschen Befürwortern der Corona-Bonds leider
nie untersucht, obwohl ich die Wahrscheinlichkeit
für groß halte.
Im Übrigen frage ich mich schon, wo sich der ach
so große Reichtum Deutschlands, der ständig an-
geführt wird, versteckt, wenn ich an den Zustand
der Schulen, Straßen und Brücken denke.
Gerda Dörfler, per E-Mail
Diese Mehrheit der »Welcome-Enttäuschten«
wählt jedoch heute nicht AfD! Die AfD hat über-
haupt keine inhaltliche Agenda, es nützt also
nichts, ihr und ihren Wählern inhaltlich – oder
auch nur rhetorisch – entgegenzukommen, weil
das einzige Ziel, das diese Partei wirklich hat, die
Aushöhlung der Demokratie und ihrer Institutio-
nen ist. War es erst der Euro, kamen später die
Flüchtlinge. Inzwischen arbeitet sich die AfD an
der »Gesundheits-Diktatur« ab. Sie wird immer
etwas finden, um die Wut und die Zwietracht an-
zufachen!
Dennoch muss man versuchen, diese Wähler in
ihrer Grundmotivation zu erreichen. Letztlich
fühlen sie sich kulturell oder so­zial abgehängt
und nicht gewürdigt. Nur eine Politik, die gene-
rell sensibel für Benachteiligungen aller Art ist,
kann diese Wähler vielleicht wieder für die Ge-
sellschaft gewinnen.
Dr. Dirk Kerber, Darmstadt
Die AfD punktet bei vielen Bürgern damit, dass
sie den Anschein erweckt, es drohe eine unge­
regelte Masseneinwanderung. Dabei spricht sich
inzwischen jede Partei gegen uneingeschränkte
Einwanderung aus. Aber im Kampf gegen die
AfD wird nicht zugestanden, dass die frühere
Frontlinie »offene Grenzen – ja oder nein« in der
Realität keine Rolle mehr spielt. Diese irreale
Front wird künstlich aufrechterhalten in der Rhe-
torik derer, die Hass schüren, indem sie pauschal
ihre politischen Gegner als rechtsradikal bezie-
hungsweise als Befürworter ungeregelter Einwan-
Es ist vertrackt. Egal ob Finanzkrise, Flüchtlings-
krise oder Corona-Krise – immer ist der Süden
Europas härter getroffen als der Norden. Und jedes
Mal lässt der Norden europäische Solidarität ver-
missen. Reflexartig kommt aus Deutschland immer
die gleiche Reaktion: Ihr wollt nur unser Geld, das
kriegt ihr nicht. Scham und Schande.
Bernd Ulrich konstatiert nun, dass die Deutschen
von den Südeuropäern als äußerst hartherzig wahr-
genommen werden. Er führt die restriktive Haltung
Deutschlands auf den in der Nachkriegszeit er-
lernten Fleiß zurück. Darauf muss man erst mal
kommen. Aber in meiner Enttäuschung über
Deutschland ist mir jeder Strohhalm recht, an den
ich mich immer noch klammern kann.
Friedrich Thimme, Seevetal
Die EZB betreibt seit der Finanzkrise mehr oder
minder unverhohlen eine illegale Staatenfinanzie-
rung nebst Enteignung der nach Meinung des
Autors so kaltherzigen deutschen Sparer.
Der Euro war ein politisch gewolltes, aber öko-
nomisch nicht funktionstüchtiges Experiment,
das seit Jahren künstlich am Leben gehalten wird.
Nun gibt es eine letzte rote Linie, die bislang
noch nicht überschritten wurde: die sogenannten
Eurobonds. Es darf niemals, ich wiederhole: nie-
mals, dazu kommen, dass wir diese letzte Bastion
nun auch noch aufgeben. Vom insolventen Sü-
den und Westen sowie ökonomisch ungebildeten
Linken seit Langem gefordert, sieht man nun die
Chance, uns diese Eurobonds quasi durch die
Hintertür unterzujubeln.
Bezeichnend ist, dass Italien gleichzeitig die an-
gebotenen ESM-Mittel ablehnt – denn dann
müsste man ja plötzlich haushalten und sich auch
noch kontrollieren lassen.
Klaus Bingel, per E-Mail
derung darstellen. Ich habe den Eindruck, dass es
für viele Beteiligte bequemer ist, mit Schlagwor-
ten zu hantieren, als sich die Mühe der Differen-
zierung zu machen. Erst dann besteht aber Aus-
sicht, AfD-Wähler zu den vernünftigen Parteien
zurückzuholen.
Dr. Hans-Joachim Schemel, München
Joachim Gauck ist der Letzte, der für den Zulauf
zur AfD verantwortlich gemacht werden kann.
Dass der Demokratie daran gelegen sein muss,
diese Protestwähler rational zurückzugewinnen,
wie es die Intention des von den drei Damen ge-
scholtenen Gauck-Satzes ist, liegt auf der Hand.
Unter den Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit
Migrationswurzeln, die gerne in Deutschland le-
ben, finden sich ganz großartige Menschen. Sie
sind aus der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr
wegzudenken. Völlig egal, welcher Herkunft, Re-
ligion oder Hautfarbe jemand ist: Wer hier gerne
auf der Basis des Grundgesetzes dieses Land ge-
stalten mag, gehört dazu. Wer Segregation und
Spaltung der Gesellschaft fördert, mag dagegen
womöglich woanders besser leben können.
Jutta Tempel, per E-Mail
Keinesfalls sollten Deutsche mit Migrationshin-
tergrund jetzt eigene Grenzen zu den »Almans«
ziehen. Damit würden sie sich selbst ausgrenzen
und unbewusst der AfD das »Geschäft besorgen«.
Denn Ausgrenzung ist das Geschäft der AfD, sie
beherrscht es meisterlich und lebt geradezu davon.
Regina Stock, Kiel
Was bleibt?
Mein Erbe.
Für unsere
Natur.
Liegt Ihnen auch die Vielfalt der Natur besonders am Herzen?
Helfen Sie mit, bedrohte Tierarten und Lebensräume unserer Heimat
auch für nachfolgende Generationen zu schützen und den Verlust der
Artenvielfalt zu stoppen. Mit einem Testament zu Gunsten der ge-
meinnützigen Heinz Sielmann Stiftung. Ein kostenfreier Ratgeber zum
Thema Testament und Engagement liegt für Sie bereit.
Rufen Sie uns gerne an: Telefon 05527 914 419
www.sielmann-stiftung.de/testament
29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19
IM NETZ
Weitere Leserbriefe
finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
Wer gehört nun
weggesperrt?
Heinrich Wefing:
»In der Altersfalle«  ZEIT NR . 17
Die Schutzdiskussion halte ich für einen Vor-
wand, im Grunde geht es um die Wirtschaft-
lichkeit und Produktivität. Wenn Menschen
über 75 am meisten gefährdet sind, warum
dann die diskutierte Einschränkung ab 65? Es
gibt durchaus sehr viele 65-Jährige, die pro-
duktiv für die Gesellschaft sind, die in Beru-
fen arbeiten, in denen Erfahrungen an die
junge Generation weitergegeben werden,
oder die selbstständig in therapeutischen Be-
rufen tätig sind und Menschen auffangen, die
in dieser Krise psychisch abstürzen. Ist das
nicht produktiv? Sollen auch alle Politiker,
und davon gibt es nicht wenige, die über 65
sind, in den »Käfig« gesperrt werden?
Erika Reineke, Göttingen, 66 Jahre alt,
Diplompädagogin und Therapeutin
Ich habe noch nie einen Leserbrief geschrieben,
aber als zweifacher Mutter bleibt mir beim Lesen
des Artikels »In der Altersfalle« einfach die Luft
weg. Was ist denn mit der Kinderfalle??? Jetzt
geht es um die Öffnung der Schulen, das Abitur,
Entlastung der Eltern – aber fast nie darum, dass
die psychosoziale Entwicklung der Kinder
wichtig ist. Warum diskutieren wir nicht mal
darüber, welche riesigen Opfer die Kinder gera-
de bringen? Es kann doch nicht sein, dass die
Kinder in dieser Krise keine Stimme haben, nur
weil sie keine Wähler sind!
Da fällt Ihnen nichts Besseres ein, als einen ein-
seitigen Artikel zur Isolation der Älteren zu
schreiben? Jede Großmutter, jeder Großvater ist
sofort bereit, auf etwas zu verzichten, oder tut
es sowieso schon, um den Enkeln wieder etwas
mehr Freiheit zu ermöglichen, aber dazu braucht
es eine Stimme, die das auch ausspricht. Denn
die Kinder haben im Gegensatz zu den älteren
Generationen am wenigsten Anteil an dieser
Krise, die auch durch die Feierwut und das
Immer-mehr-Wollen der vorherigen Generatio-
nen entstanden ist.
Kerstin Dahnken, per E-Mail
Die ehemalige Bundesrichterin Lübbe-Wolff
wird mit den Worten zitiert: »Wer krank wird,
(...) nehme Kapazitäten in Anspruch, die die
Allgemeinheit bereitstellt und die auch andere
zum Überleben benötigen.« Sie übersieht, dass
Ältere ebenso wie Jüngere, Kranke ebenso wie
Gesunde zur »Allgemeinheit« gehören. Sie sagt
auch nicht, wer denn diese »anderen« seien,
deren Überleben wertvoller sei. Ihr scheint nicht
klar zu sein, wie gut sich ihre Bemerkungen in
ein Wörterbuch des Unmenschen übernehmen
lassen. Es wird eine Zeit nach Corona geben,
dann werden in der Grippesaison wieder etliche
ältere Menschen einen Teil der Intensivbetten
belegen – wie leicht man das doch im Namen
der Allgemeinheit verhindern kann.
Dr. Dieter Haberstroh, Boren-Lindau
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-­Adresse leserbriefe@zeit.de
Leserbriefe werden von uns nach eigenem
Ermessen in der ZEIT und/oder auf ZEIT
ONLINE veröffentlicht. Für den Inhalt der
Leserbriefe sind die Einsender verantwort-
lich, die sich im Übrigen mit der Nennung
ihres Namens und ihres Wohnorts
einverstanden erklären.
Zusätzlich können Sie die Texte der ZEIT
auf Twitter (@DIEZEIT) diskutieren und
uns auf Face­book folgen.

29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
Differenzen zu 100 Prozent sind rundungsbedingt; Quelle: policy matters; action press
W
ie halten es die Deut-
schen mit der Geschich-
te, 75 Jahre nach dem
8. Mai 1945, nach den
Verheerungen des Welt-
krieges, nach Zusammen-
bruch und Befreiung?
Ein paar Antworten:
53 Prozent der Bundesbürger wollen einen
Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.
77 Prozent halten es für ihre Pflicht, Diktatur und
Holocaust nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
66 Prozent möchten mehr über die Geschichte
des Nationalsozialismus wissen.
59 Prozent finden es übertrieben, dass ihnen das
Thema »fast täglich in den Medien vorgehalten wird«.
Im Auftrag der ZEIT hat das Institut policy­
matters am Anfang dieses Jahres 1044 Frauen und
Männer ab 14 Jahren nach ihren Einstellungen zur
NS-Zeit befragt. Die Ergebnisse könnten, selbst
wenn man sie mit der gebotenen Skepsis betrachtet,
widersprüchlicher kaum sein: Die Deutschen wollen
sich erinnern und wollen es doch nicht.
Historische Fragen sind Identitätsfragen, und seit
je ist die Haltung zur NS-Vergangenheit hierzulande
ein Gradmesser für den Zustand der politischen­
Kultur. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn
die großen Geschichtsdebatten vorbei sein mögen.
Die sogenannte Neue Rechte hat unterdessen der­
Erinnerungskultur selbst den Kampf angesagt, und
spätestens seit die AfD in den Bundestag eingezogen
ist, erfolgen ihre Angriffe auf großer Bühne. Dass
zugleich die letzten Zeugen sterben, ist eine bittere
Koinzidenz: Die kollektive Erinnerung wird schon
bald ohne jene auskommen müssen, die sich noch
erinnern können.
Das Bild, das die Umfragedaten zeichnen, kann
man da, je nach Gemütslage, als beruhigend oder
beunruhigend empfinden. Immerhin sprechen sich
stabile 77 Prozent der Befragten für Erinnern und
Gedenken aus. Aber meinen sie, was sie sagen? Oder
bestätigt sich hier der finstere Verdacht, den der­
Gießener Politologe Samuel Salzborn kürzlich in
seinem Buch Kollektive Unschuld geäußert hat: dass
die Erfolgsstory von der Aufarbeitung eine »Lüge«
sei, ein dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund
von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Anti­semi­tis­mus
auftut wie zuletzt in Halle und Hanau?
Sieht man genauer hin, trifft weder das eine noch
das andere zu: Es gibt nichts zu beschönigen – und
nicht viel zu entlarven. Stattdessen scheinen sich in
den Zahlen diffuse Affekte abzubilden, die durchaus
in einer Brust wohnen können. Es schließt sich nicht
aus, die historische Aus­ein­an­der­set­zung für wichtig
zu halten, eine vage Sehnsucht nach »Normalität« zu
verspüren (56 Prozent meinen »voll und ganz« oder
»eher«, dass ständiges Erinnern »ein gesundes Na-
tionalbewusstsein« verhindere) und, vielleicht aus
Unwissenheit, zu denken: »Die Masse der Deutschen
hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher,
die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht
haben« (insgesamt 53 Prozent Zustimmung).
Womöglich spiegelt sich in solcher Ambivalenz
sogar ein deutscher Normalzustand. Denn sosehr
man, wie jüngst die Philosophin ­Susan Neiman in
Alle Befragten
stimme voll
und ganz zu 18 %
stimme
eher zu 29 %
stimme eher
nicht zu Schlussstrich ziehen?
stimme gar »75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir ­einen ­
nicht zu Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen.«
GESCHICHTE
Z EIT- SER I E Z U M 8 . MAI 19 4 5 , T E I L 3
Das Ende der
Selbstgewissheit
Eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Der Umgang
mit der NS-Vergangenheit ist so umkämpft wie lange nicht.
Und die jüngsten Attacken von rechts treffen auf eine Erinnerungskultur,
die fragiler ist, als es scheint  VON CHRISTIAN STA AS
ihrem Buch Von den Deutschen lernen, die Erinne-
rungskultur dieser Republik als Errungenschaft­
begreifen darf, war und ist sie dies im Wortsinn: ein
unablässiges Ringen der Gesellschaft (und jedes­
Einzelnen) mit sich selbst. Die stolze Gewissheit, es
im »Aufarbeiten« gleichsam zum Weltmeister ge-
bracht zu haben, hat darüber zuletzt recht großzügig
hinweggetäuscht.
Anfechtungen gab es immer wieder: In den Acht-
zigerjahren – die Deutschen lernten gerade das Wort
Holocaust zu buchstabieren, und auch die Konser-
vativen feierten nun den 8. Mai als »Tag der Befrei-
ung« – entbrannte über die relativierenden Thesen
Ernst Noltes der Historikerstreit. In den späten
Neunzigern litt Martin Walser öffentlich unter der
»unaufhörlichen Präsentation unserer Schande«, und
der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein erblickte
im geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin ein von
außen aufgezwungenes »Schandmal«. Die Gleich-
zeitigkeit von Schuldabwehr und dem Bekenntnis
»Nie wieder!« scheint geradezu das Si­gnum der deut-
schen Haltung zur NS-Geschichte zu sein.
Besonders im Familiengedächtnis haben sich die
alten Muster konserviert. Opa ist heute weniger Nazi
denn je: Gerade einmal drei Prozent geben in der
aktuellen Umfrage an, ihre Vorfahren hätten das
Hitler-Regime befürwortet; 30 Prozent dagegen
glauben, aus Familien von Nazi-Gegnern zu stam-
men. Selbst wenn man die Maßstäbe für die An-
hängerschaft sehr eng und die für die Gegnerschaft
sehr weit fasst, stehen diese Zahlen in keinem Ver-
hältnis zur historischen Realität.
Die Schlussstrich-Forderung dagegen hat über
die Jahre an Zugkraft verloren. Während die Akzep-
tanz eines selbstkritischen Geschichtsbildes wuchs,
schrumpfte die Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion nach
Befragungen des Allensbach-Institutes von 66 Pro-
zent im Jahr 1986 auf 48 Prozent 2009.
Deuten die nun ermittelten 53 Prozent eine
Wende an? Dafür fehlt es an validen Daten. Die
Selbstverständigungsdebatte über die NS-Geschich-
te aber, so viel lässt sich sagen, ist nicht dabei, sich
zu harmonisieren. So übertreffen die Rede vom
»Vogelschiss« und die Forderung nach einer »erinne-
rungspolitischen Wende um 180 Grad« frühere Ein-
würfe nicht nur an Grobschlächtigkeit.
Die nach Parteipräferenz aufgeschlüsselten Um-
fragedaten lassen außerdem keinen Zweifel daran,
dass die AfD-Wähler nicht anders denken als die
Partei-Demagogen. 80 Prozent und mehr teilen
folgende Aussagen »ganz und gar« oder »eher«: dass,
»gemessen an der langen Geschichte unseres Landes«,
der Nationalsozialismus einen »viel zu großen« Raum
einnehme; dass man als Deutscher »wegen der NS-
Geschichte nicht mehr offen über bestimmte The-
men diskutieren« könne; dass es Zeit für einen
»Schlussstrich« sei. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Für 39 Prozent ist die Judenverfolgung »sehr weit
weg« und nicht von Interesse. 58 Prozent finden, der
Nationalsozialismus werde zu negativ dargestellt; er
habe »auch positive Seiten« gehabt.
Der rechte Rand hat sicherlich einen polarisieren-
den Effekt auf das Gesamtbild. Gänzlich zu erklären
aber ist das widersprüchliche Umfrageergebnis damit
nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Angriff von rechts
Ambivalenz und Abwehr: Ergebnisse der ZEIT-Umfrage zur Erinnerungskultur
Nur AfD-Wähler
25 % 7% 56 %
13 %
28 % 24 %
kein festgefügtes Bollwerk des »Schuldkults« trifft,
wie die Rechte insinuiert, sondern ein fragiles­
Gebilde, das in stetem Wandel begriffen ist.
Verschoben hat sich in den vergangenen Jahren
nicht nur der politische Rahmen. Auch was 59 Pro-
zent der Befragten beklagen – dass der National­
sozialismus in den Medien übermäßig präsent sei –,
ist kaum mehr der Fall (wenn es denn jemals zutraf).
Der Spiegel etwa, notorisch im Ruf stehend, mit
Hitler Auflage zu machen, hat seit 2016 keine ein-
zige ­NS-Geschichte mehr auf dem Titel gehabt.
»Hitler sells«, spottete der Freiburger Historiker
Ulrich Herbert 2015 in dieser Zeitung. Das stimm-
te schon damals nicht mehr. Bei den großen Ver-
lagen wie S. Fischer und C. H. Beck haben es NS-
Titel seit mindestens zehn Jahren schwer. Selbst im
ZDF, wo Guido Knopp den Zuschnitt sämtlicher
Aspekte auf Hitler bis an die Grenzen der Selbst-
parodie getrieben hat, sind Dokumentationen zum
»Dritten Reich« deutlich seltener geworden. Das
Thema verlagert sich mehr und mehr in Sparten­
kanäle und Mediatheken. Keiner muss mehr »weg-
schauen«, wie Martin Walser es 1998 für sich rekla-
mierte. Es genügt, nicht hinzusehen.
Die erinnerungskulturelle Hochphase zwischen
1990 und 2010, sagt Stefan Brauburger, Knopps
Nachfolger beim ZDF, »wurde maßgeblich durch die
Nächste Woche
In Deutschland vergessen, in Russland
verfemt – das Schicksal der sowjetischen
Kriegsgefangenen nach 1945: Teil 4
unserer Serie zu 75 Jahren Kriegsende
Archivöffnungen in Osteuropa und Russland nach
dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst«. Zu heben
gab es vor allem Quellen über den Krieg und den
Holocaust; nicht zuletzt deshalb hätten diese Themen
viele Jahre lang überwogen. Diese Welle sei gebro-
chen, die Einschaltquoten seien danach zurückgegan-
gen. Von »Müdigkeit« und »Sättigung« sprechen auch
Brauburgers Kollegen in den Buchverlagen.
An anderer Stelle dagegen ist der Zulauf über-
wältigend: in den Gedenkstätten. Bevor sie infolge
der Corona-Pandemie schließen mussten, vermel­
deten sie vielerorts Besucherrekorde.
»Eine Ursache ist der boomende internationale
Tourismus«, sagt Volkhard Knigge, der seit 1994 die
KZ-Gedenk­stätte Buchenwald leitet (nun folgt ihm
Jens-Christian Wagner nach, der bisherige Geschäfts-
führer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten).
Buchenwald und andere ehemalige Lager seien aber
auch mehr denn je Orte der gesellschaftspolitischen
­Debatte – und der Konfrontation.
Mindestens einmal pro Monat haben es Knigges
Mitarbeiter mit rechtsextremen Provokationen,
Schmierereien oder Vandalismus zu tun. Seit 2015
registrieren sie bei der Zahl der Vorfälle dramatische
Ausschläge nach oben (ZEIT Nr. 27/19). Auch das
Schweigen halte wieder Einzug. Nicht das entsetzte,
sprachlose, sondern das kalte, unerschütterbare. Mit-
Alle Befragten Nur AfD-Wähler
8% 39 % 24 %
15 %
38 % 26 %
Nicht vergessen?
»Es ist für uns Deutsche Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschichte des
Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden.«
Jetzt am Kiosk: Beethoven –
Die Revolution der Musik. Das
aktuelle Heft von ZEIT Geschichte
(116 S., 7,50 €, www.zeit.de/zg-heft)
unter trügen es gesamte Schulklassen zur Schau, als
wollten sie sagen: »Wir machen das hier nicht mit.«
An manchen ostdeutschen Schulen, sagt Knigge, do-
minierten rechte Lehrer die Kollegien.
Er sehe allerdings auch eine erstarkende Gegen-
bewegung. Vor allem junge Leute suchten Buchen-
wald als einen »Ort ethischer, politischer und histo­
rischer Vergewisserung« auf und wollten wissen: Was
genau ist geschehen? Was hat das mit heute zu tun?
Eine ähnliche politische Wachheit nimmt ­Florian
Dierl wahr, der das Dokumentationszentrum auf
dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
leitet. Die rechtsextremen Übergriffe seien sogar
rückläufig. »Vermutlich«, sagt er, »ist das Provoka-
tionspotenzial hier einfach geringer als in einer KZ-
Gedenkstätte.«
Diese Beobachtung verrät etwas über die deut-
sche Erinnerungskultur als Ganzes: In den vergan-
genen 40 Jahren hat sie sich gleichsam von Nürnberg
nach Buchenwald verlagert, von der Frage nach dem
Re­gime, nach dessen Aufstieg und Machterhalt, hin
zum millionenfachen Massenmord. Wer den Ge-
schichtsdiskurs an seinem neuralgischen Punkt
treffen will, zeigt daher nicht auf der Zeppelintribüne
den Hitlergruß, sondern ritzt ein Hakenkreuz in die
Leichenwanne eines Lager-Krematoriums.
Über allem, sagt der Jenaer Zeithistoriker Norbert
Frei, stehe seit je die Frage: »Wie konnte es dazu
kommen?« Bis in die Siebzigerjahre habe sie den
30. Januar 1933 gemeint. Seit den Achtziger- und
Neunzigerjahren meine sie den Holocaust.
Diese Verschiebung ging mit der Stabilisierung
der westdeutschen Demokratie einher – und mit
einer allmählichen empathischen Hinwendung der
Täterkinder zu den Opfern des Nazi-Terrors. An die
Stelle der Faschismus-Analysen der 68er trat die Ana-
lyse von Anti­semi­tis­mus und Rassismus; statt die
zwölf NS-Jahre von ihren Anfängen her zu begreifen,
erklärt man sie mehr und mehr von ihrem Ende her,
den Erschießungsgruben und Todeslagern.
So wichtig dieser Wandel war, hat er mitunter zu
einer fragwürdigen Verkürzung des Nationalsozia­
lismus auf den Holocaust geführt. Ein Paradigma,
das heute, da die Erinnerung an Weimar wieder wach
wird, an Grenzen stößt. So lassen sich mit dem­
Fingerzeig auf die deutschen Verbrechen zwar der
Rassismus und Anti­semi­tis­mus der neuen Völ­kischen
als das benennen, was sie sind: eine tödliche Gefahr.
Um die neurechte Attacke auf Demokratie und­
Liberalismus mit historischer Tiefenschärfe zu erfas-
sen, ist der Hinweis auf die Leichenberge von­
Auschwitz jedoch eher ungeeignet.
Der verengte Blick auf Mord und Lagerterror hat
zudem eine Tendenz zur emotionalen Über­­wäl­tigung
begünstigt, die in Reinform wenig dazu taugt, die
historische Urteilskraft zu stärken. Vermutlich liegt
hier auch eine Ursache für das in der Umfrage be-
kundete Unbehagen an einem gewissen erinnerungs-
politischen Konformitätsdruck. »Man kann seine
Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland
nicht ehrlich sagen« – diesem Satz schließen sich
immerhin 42 Prozent der Befragten an. Knapp die­
Hälfte gibt zu Protokoll: »Ich habe den Eindruck,
dass man, wann immer von den Verbrechen des­Na-
tionalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen
Alle Befragten
19 % 13 %
32 % 35 %
»Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige ­
Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben.«
17
Vor 15 Jahren wurde es eingeweiht:
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin
muss, und das nervt mich.« Die oft abwehrend vor-
getragene Selbsteinschätzung, doch schon so viel über
die NS-Zeit zu wissen, könnte ähnliche Gründe­
haben: Die »richtige« Haltung einzunehmen lernen
schon Schüler, ohne sich mit allzu vielen Fakten­
belasten zu müssen. Betroffensein geht schnell.
Vielleicht, sagt Norbert Frei, habe auch der Ruf
nach einem »Schlussstrich« vor diesem Hintergrund
einen anderen Klang als früher. Entspringe er heute
doch nicht mehr dem Bedürfnis der NS-Zeitgenos-
sen, in Ruhe gelassen zu werden, sondern dem Gefühl
der Nachgeborenen, das abverlangte Bewältigungs­
pensum erfolgreich absolviert zu haben. Das Wissen
über die Zerstörung der Weimarer Republik sei in
der Öffentlichkeit unter­dessen weithin verschüttet
worden. Neuere Forschungen dazu? Gibt es kaum.
Im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichs-
parteitagsgelände plant man derzeit eine neue ­Dauer­
aus­stel­lung; in drei bis vier Jahren soll sie fertig sein.
Man wolle sich in Zukunft noch stärker auf den Ort
selbst besinnen, sagt Florian Dierl, und weniger in
der Breite erzählen. Dafür soll, am konkreten Beispiel
Nürnberg, der Zeithorizont erweitert werden – von
den Anfängen der NS-Bewegung in Weimar bis zur
Nachgeschichte in der Bundesrepublik.
Lange Linien ziehen und mehr historische Kon-
kretion wagen, lautet auch Volkhard Knigges Ant-
wort. »Die Politikerreden, wie dieses Jahr zum
Auschwitz­tag«, findet er, »sind in dieser Hinsicht
besser geworden.« Die Zeiten des »selbstgefälligen
Stolzes auf die eigene Aufarbeitungsleistung« seien
jedenfalls vorbei. Es herrsche ein »neuer Ernst«. Seit
die AfD in den Parlamenten sitze, sagt Knigge, sei
die Mahnung, einer Wiederholung der Geschichte
vorzubeugen, keine Floskel mehr.
Ob der rechte Angriff die Ambivalenten, die
Müden, die Selbstgefälligen und Gelangweilten
gleichgültig lassen, wachrütteln oder in ihren Ressen-
timents bestärken wird, ist nicht ausgemacht. An-
zeichen liefert die aktuelle Umfrage für alles zugleich.
Ein vorsichtiger Optimismus ist allerdings er-
laubt: 74 Prozent der Befragten geben an, dass die
Beschäftigung mit der NS-­Diktatur sie für Ausgren-
zung und Ungerechtigkeit sensibilisiert habe. 53
Prozent ziehen aus der Vergangenheit die klare Kon-
sequenz, dass »wir Deutsche eine besondere Verant-
wortung gegenüber Verfolgten aus anderen Ländern«
haben. Auch die Hoffnung, aus der Geschichte lernen
zu können (76 Prozent), scheint ungebrochen.
Bewirkt die Neue Rechte mit ihren Attacken am
Ende das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt?
Wird die Erinnerungskultur aus den gegenwärtigen
Konflikten gestärkt hervorgehen?
Wandeln müssen wird sie sich so oder so – um das
Ende der Zeitzeugenschaft zu verkraften und um
Antworten zu finden für eine neue Generation und
eine politische Welt, die sich von der nach 1945 ge-
schaffenen transnationalen Ordnung schneller ent-
fernt denn je. In der Vergangenheit war das Erinnern
oft in Phasen des Streits besonders lebendig. Dass sich
im deutschen Selbstgespräch die Widersprüche ver-
schärfen, ist so gesehen eine gute Nachricht.
Ein PDF mit allen von policy matters erhobenen
Daten finden Sie unter zeit.de/ns-umfrage
Nur AfD-Wähler
18 % 2% 40 %
14 %
35 % 44 %
Mehrheit ­unschuldig?
29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19
M
öglicherweise haben
die Nachwuchssorgen
der deutschen Justiz
ihren Ursprung ja im
Arbeitskräftepool der
Firma Lego. Dort ste­
hen viele Berufe zu
Einsatz und Identifika­
tion parat, ein Richter aber nicht. In unserem
Kinderzimmer wurde deshalb der schwarzrobige
Feuerwehrmann umgewidmet. Nach dem kind­
lichen Willen hätte es ein Polizist sein sollen, doch
auf die staatliche Gewaltentrennung können El­
tern nicht früh genug achten. Wer schließlich noch
die Lego-Bestrafungsexzesse in geordnete Bahnen
lenken will, findet im abendlichen Vorleseritual
nur unzureichend Stoff (»... da zogen ihn die
schweren Steine hinein, und er musste jämmerlich
ersaufen«). Bei uns verschoben sich die Geschich­
ten deshalb zunehmend ins Reale: »Und, Papa, was
hattest du heute für einen Bösewicht?« Für Kinder
ist es ein Segen, wenn die richterliche Geschäfts­
verteilung die Eltern zum Strafrichter macht. Als
ich eine Zeit lang für Zivilrecht und Zwangsvoll­
streckungen zuständig war, lag mein So­zial­pres­tige
zu Hause am Boden. Hatte ich Verkehrsordnungs­
widrigkeiten zu verhandeln, litt die Familie unter
meiner schlechten Laune. Musste ich als Familien­
richter Ehen scheiden und Kinder verteilen, verbot
es sich, den Grusel abends im Kinderzimmer zu
verbreiten; Harry Potters Dementoren waren ein­
deutig das kleinere Übel.
Der Amtsrichter ist unter den Richtern das,
was der Allgemeinmediziner unter den Ärzten ist:
ein Generalist. Allerdings entwickeln Amtsgerich­
te oft richterliche Besitzstände, in denen ein Voll­
jurist über 25 Jahre nichts anderes praktiziert als
Jugendrecht oder Zivilrecht oder Betreuungsrecht.
Irgendwann genießt er dann Immunität vor einem
unfreiwilligen Wechsel. Seine akkumulierte Er­
fahrung und fachliche Spezialisierung kommen
zweifelsfrei der Entscheidungsqualität und Schnel­
ligkeit der Rechtsprechung zugute. Auf der ande­
ren Seite darf an einem kleinen Gericht nicht
plötzlich der langjährige Nachlassrichter krank
werden – es gibt dann keinen mehr, der sich mit
einer solch anspruchsvollen Materie auskennt.
Dafür, den Beton von den Geschäftsverteilungs­
plänen fernzuhalten, spricht aber vor allem ein
anderes Argument. Der Dresdner Universalgelehrte
Manfred von Ar­denne empfahl einst – und lebte es
selbst vor –, nach spätestens zehn Jahren das Fach­
gebiet zu wechseln, um sich Kreativität und inne­
res Feuer zu bewahren. Vor Burn-out sind auch
Richter nicht gefeit. Bei manchen Kollegen, ver­
mute ich, hätten frische Impulse in ihrem Berufs­
leben sie davor vielleicht bewahrt.
Der Strafrichter ist jedenfalls jener, der seine
Familie am besten mit Geschichten nährt. Nur ein
einziges Mal aber löste mein abendlicher Sitzungs­
bericht den Impuls aus: Wann wird die Verhand­
lung fortgesetzt? Dann kommen wir mit. Am
dritten und letzten Verhandlungstag saßen Frau
und elfjähriger Sohn tatsächlich im Publikum.
Die Beziehung beginnt freundlich,
doch die Abhängigkeit wird zur Hölle
Es ging um einen Straftatbestand, von dem ich
vergessen hatte, dass er im deutschen Strafgesetz­
buch geregelt ist. Mit der »Ausnutzung der
Zwangslage einer Person zum Zwecke der Aus­
beutung der Arbeitskraft« (Paragraf 233 a. F.) hatte
ich nie zuvor (und seitdem nie wieder) zu tun.
Meiner Familie erklärte ich: Es geht um einen
Sklavenhalter und sein Opfer.
Ralf Tannert (Name aus Datenschutzgründen
geändert) war am Ende. Während einer stationä­
ren Therapie zur Behandlung seiner Spielsucht
hatte er zum ersten Mal die Liebe kennengelernt.
Die Warnungen seiner Eltern vor einer Ehe mit
der spiel- und kaufsüchtigen Frau schlug er in den
Wind. Von den 120.000 Euro Abfindung, die er
bei seinem Ausscheiden von den Berliner Ver­
kehrsbetrieben erhalten hatte, beglich er eigene
Schulden und die seiner Frau. Als er feststellte,
dass sie ihn schamlos ausnutzte und hinterging,
verließ er die gemeinsame Wohnung, für deren
Miete er jedoch weiterhin haftete. Ohne Vermieter­
freibrief und Schufa-Segen, ausgestattet nur mit
Hartz IV, sah Tannert keine C ­ hance auf eine ei­
gene Bleibe. Gedemütigt, weil sie mit ihren War­
nungen vor der Frau recht behalten hatten, brach
er den Kontakt zu Eltern und Geschwistern ab. Er
vernachlässigte Hygiene und Kleidung. Was ihm
blieb, war das Asyl in der kleinen Pension »Para­
diese«, vor den Toren der Stadt, bei Rudolf Baum­
bach (Name geändert).
Die körperlichen Konstellationen vor Gericht
bergen die Gefahr, Rollen von der ersten Sekunde
an verteilt zu wissen: Hier das schmächtige,­
verhuschte 37-jährige Opfer. Dort der mächtige,
einen Kopf größere, demonstrativ selbstbewusste
57-jährige Täter. Doch zunächst sind sie nur Zeu­
ge und Angeklagter. Erst am Ende werden wir
wissen, dass in diesem Fall die Täter-Opfer-Kon­
stitution andersherum nicht vorstellbar ist. Ohne
Machtausübung durch schiere körperliche Präsenz
wäre es zu dieser Tatgeschichte nicht gekommen.
Die 350 Euro Miete für das Paradiese-Zimmer
überweist das Jobcenter fortan direkt an Baum­
bach. In dessen Familie findet Tannert schnell An­
schluss und wird zum Essen eingeladen. Mit seiner
uncoolen, freundlichen, oft auch naiven Art gilt er
als kindhafter Sonderling. In einer Drückerkolon­
ne findet er Arbeit, vertreibt Tierfutter im Haus­
türgeschäft. Schikanen und schlechte Bezahlung
RECHT & UNRECHT
Illustration: Jan Hamstra für DIE ZEIT
Aus Todesangst vor seinem Chef machte Tannert alles – auch noch so erniedrigende Arbeiten
Der Sklavenhalter
im Paradiese
Meine Urteile (X): Ein sadistischer Pensionswirt im Märkischen macht sich einen
­Spielsüchtigen untertan – ein monströser Fall, auch für meine Familie  VON THOMAS MELZER
lassen ihn schnell aufgeben. Nun hängt er in der
Pension herum und langweilt sich. Aus Dankbar­
keit für freundliche Gesten der Gastgeber bietet er
ihnen seine Hilfe an.
Dann kündigt die einzige familienfremde Ar­
beitskraft. Die Pension hat 24 Gästebetten. Der
Betrieb beginnt frühmorgens mit einem Früh­
stücksbuffet und endet spätabends mit dem Bier­
ausschank. Die Tochter des verwitweten Chefs er­
ledigt nach der Schule die Büroarbeiten. Seine
Freundin hat ihre eigene Wohnung, sie gibt im
Paradiese nur Gastrollen. Und Baumbach selbst,
mit seinem gewaltigen Bauch und der dicken gol­
denen Kette um den Hals – ist der Chef. Der setzt
seinen Dauermieter nun als Arbeitskraft ein, aus
Freiwilligkeit wird Zwang. Zwischen vier und
fünf Uhr muss er täglich aufstehen, um den Gäs­
ten – viele von ihnen Montagearbeiter – das Früh­
stück zu bereiten. Anschließend reinigt er die Pen­
sionszimmer und die Funktionsräume, führt den
Hund Gassi, pflegt die Grünpflanzen, poliert den
Jeep des Hausherrn. Mit dem Bierausschank endet
sein Arbeitstag selten vor Mitternacht. Tannert sei
»Mädchen für alles« gewesen, wird später ein
Montagearbeiter als Zeuge vor Gericht aussagen.
Lohn erhält er für seine Leistungen nicht. Viel­
mehr war Baumbach bereits nach kurzer Zeit dazu
übergegangen, mit Tannert monatlich zu einem
Geldautomaten zu fahren und sich dessen vom
Jobcenter überwiesene Sozialleistungen aushändi­
gen zu lassen. Kleinere Beträge zahlte er ihm fortan
105310_ANZ_10531000014776_19201187_X4_ONP26 1
als Taschengeld aus; eine Buchführung über Soll bachs Tisch mit, an den Wochentagen sind die
und Haben gibt es nicht. Alle zwei Wochen be­ Reste des Frühstücksbuffets und der zurückgehen­
gleitet Tannert den Chef in einen Großmarkt, wo den Gästeteller seine Hauptnahrungsquelle. In
er sich ein paar Lebensmittel aussuchen darf. An den 24 Monaten seines Lebens im Paradiese ver­
den Wochenenden isst er gelegentlich an Baum­ liert Tannert 27 Kilogramm Körpergewicht.
ANZEIGE Nach ein paar Monaten beginnt Tannert, aus
der Getränkekasse Geld zu entnehmen. Der Ver­
mieter seiner Ehewohnung hat Tannert ausfindig
gemacht und sitzt ihm nun mit den Mietschulden
VERBRECHEN im Nacken. Als Baumbach die Diebstähle ent­
deckt und einen Fehlbetrag von 482 Euro errech­
DER KRIMINALPODCAST net, gibt Tannert ein schriftliches Schuldeinge­
ständnis ab und hinterlegt als Sicherheit seinen
Personalausweis. Nun hat ihn Baumbach vollends
in der Hand.
Die Fugen in den Sanitärräumen muss er jetzt mit
Scheuermilch und kleinen Bürsten säubern. Eine neu
gemauerte Außenwand soll er mit Salpetersäure be­
handeln und verätzt sich dabei die Hände. Vor Be­
endigung der Arbeit darf er nicht ins Bett gehen,
Tannert stellt Scheinwerfer auf und arbeitet bis in die
Nacht. Verlässt Baumbach das Anwesen, nimmt er
Tannert dessen Zimmerschlüssel ab – er solle arbeiten
und nicht abhängen. Ist die Pension ausgebucht,
muss Tannert sein Zimmer räumen und in Baum­
Illustration: Lea Dohle
EIN PODCAST ÜBER VERBRECHEN – bachs Wohnung auf der Couch schlafen. Nachdem
UND WAS SIE ÜBER DIE ein Pensionsgast den Toilettenvorraum mit Kot ver­
MENSCHHEIT ERZÄHLEN unreinigt hat, weist Baumbach Tannert an, den Ver­
JETZT ANHÖREN: ursacher ausfindig zu machen oder die Säuberung
www.zeit.de/verbrechen selber durchzuführen. Tannert wischt den Raum. Ist
Baumbach mit den Arbeitsleistungen unzufrieden,
25.06.18 09:30
18
beschimpft er ihn lautstark als »faule Sau«. Einmal,
ein Gast hatte sich über Schmutz unter der Heizung
beschwert, schleift Baumbach Tannert an den Haaren
in das Gästezimmer und versetzt ihm einen Schlag
in den Bauch. Als Tannert beim Saubermachen eine
Nachttischlampe herunterfällt, die dabei zerbricht,
schlägt ihn Baumbach zu Boden und tritt auf ihn ein.
Tannert ist längst so eingeschüchtert, dass ihm Wi­
derspruch, gar Verweigerung oder Flucht nicht in
den Sinn kommen. Er hat Angst vor Baumbach und
sieht keine Alternative.
Dann schlägt ihm Baumbach eines Morgens
– wieder wegen eines vermeintlich nicht sauberen
Zimmers – so stark an den Kopf, dass ein Ohr an­
schwillt und aus der Nase Blut läuft. Die Schimpf­
kanonaden machen Pensionsgäste aufmerksam, sie
wollen Erste Hilfe leisten und Tannert zum Arzt
fahren. Baumbach beschwichtigt, setzt Tannert in
sein Auto, kauft in einer Apotheke Salbe, fährt
eine Stunde mit Tannert herum und bringt ihn
von seinem Vorhaben ab, die Pension zu verlassen.
Drei Wochen später zerreißt Baumbach einen
Brief des Jobcenters, in dem Tannert zu einem
Vermittlungsgespräch eingeladen wird. Er zwingt
ihn, den Termin wegen angeblicher Krankheit ab­
zusagen. »Du findest sowieso nie wieder Arbeit«,
sagt Baumbach. Zwei Tage später, erneut ist er mit
der Sauberkeit unzufrieden, rastet Baumbach wie­
der aus. Er schlägt Tannert ins Gesicht, gegen das
Ohr und in den Bauch. Weil Tannert jetzt fürch­
tet, totgeschlagen zu werden, setzt er sich auf ein
Fahrrad und flieht zu seinem Bruder. Dieser bringt
den Verletzten in die Rettungsstelle des nächstgele­
genen Krankenhauses, wo er stationär aufgenom­
men wird. Festgestellt werden Schwellungen und
Hämatome unterschiedlichen Alters, verteilt auf
den ganzen Körper. Das geschlagene Ohr weist
kein Relief mehr auf.
Die nächste Instanz milderte das Urteil ab.
Doch bestraft wurde der Täter trotzdem
In der Gerichtsverhandlung bestreitet Baumbach alle
Vorwürfe. Seine Familie habe Tannert in einer Le­
benskrise aufgenommen und Halt gegeben. Als Dank
habe er sich an kleineren Arbeiten in der Pension
beteiligt. Von Zwang und Gewalt könne keine Rede
sein. Vielmehr habe er Tannert, der Country-Musik
liebe, einige Male zu Konzerten mitgenommen. Und
schließlich, der Joker der Verteidigung: Seine Familie
habe Tannert sogar auf eine Urlaubsreise nach Ägyp­
ten mitgenommen. »Hier sind die Fotos, schauen Sie
nur, wie glücklich Tannert aussieht!« – »Und die Ver­
letzungen, im Krankenhaus fotografiert und ärztlich
bescheinigt?« – »Die hat er sich selber beigebracht.«
Es nützt Baumbach nichts. Tannert ist nicht
intelligent genug, komplex und widerspruchsfrei
zu lügen. Tannert war nicht einmal in der Lage,
unbemerkt Geld zu unterschlagen. Als wieder ein­
mal 300 Euro in der Kasse fehlen, zeigt Baumbach
Tannert an. Per Strafbefehl wird dieser zu einer
Geldstrafe verurteilt. Das Gericht wird dies
Baumbach später in seiner Strafzumessung als be­
sonders perfide anlasten. Tannerts Zeugenaussa­
gen sind frei von Ungereimtheiten oder Wider­
sprüchen. Zwar lügen für Baumbach dessen Le­
bensgefährtin und Tochter, gegen die eindrucks­
vollen Aussagen mehrerer Pensionsgäste jedoch
vergeblich. Baumbachs Joker schließlich sind nur
für Menschen ohne Geschichtskenntnisse von Be­
weiskraft. Schon die antiken Sklavenhalter setzten
ihren Sklaven positive Anreize, die die Moral he­
ben, den Teamgeist stärken und die Produktivität
erhöhen sollten. »Zuckerbrot und Peitsche« ist seit
den alten Römern eine erfolgreiche Management­
technik. Und die Country-Musik in einer bran­
denburgischen Pension heute offenbar das, was
der Blues in den Baumwollplantagen des 19. Jahr­
hunderts war.
Das Gericht verurteilt Baumbach zu einer Frei­
heitsstrafe von drei Jahren und einer Schmerzens­
geldzahlung an Tannert in Höhe von 10.000 Euro.
Erwartungsgemäß legt Baumbach gegen das
Urteil Berufung ein. Die Berufungsstrafkammern
an den Landgerichten gehören zu den belastetsten
und bedauernswerten Spruchkörpern der Justiz.
Sie vergeben ihre Verhandlungstermine nicht nach
chronologischem Eingang, sondern nach Priorität.
Baumbach sitzt weder in Untersuchungshaft, noch
ist er ein vorbestrafter Wiederholungstäter. Seine
Berufungsverhandlung findet nach 18 Monaten
statt. Die Zeit spielt für ihn, das Gericht ermäßigt
die Strafe auf zwei Jahre und setzt ihre Vollstre­
ckung zur Bewährung aus.
Gelassenheit ist für den Amtsrichter oberstes
Gebot, wenn sein Urteilsspruch von der Rechts­
mittelinstanz aufgehoben oder abgeändert wird.
Das gelingt mir meist, aber nicht immer. Hier
tröste ich mich, dass Baumbach, drei Jahre Knast
im Nacken, bis zur Berufungsverhandlung keine
gute Zeit gehabt haben wird. Zudem lese ich im
Berufungsurteil, seine Pension ist pleite, seine Le­
bensgefährtin hat ihn verlassen. Das Leben straft
meist härter als das Gericht.
»Hast du die fette Gürtelschnalle gesehen?«,
fragt mich meine Frau am Abend der Urteilsver­
kündung. »Nicht genau«, sage ich, »ein Bullen­
kopf? Oder ein Rottweiler?« – »Und wie er breit­
beinig gesessen hat, als habe er ein urologisches
Problem.« – »So sitzen häufig auch Politiker, meist
Diktatoren. Eine Machtpose.« – »Beeinflusst dich
das?« – »Ich hoffe nicht.«
Thomas Melzer ist Richter in Brandenburg.
In der Reihe »Meine Urteile« schreibt er in
loser Folge über die Geschichten, die hinter
seinen Gerichtsentscheidungen stecken
 GIGA
WIRTSCHAFT
29. A P R I L 2 0 2 0 DIE ZEIT No 19

des Monats
5G geht in

19
die Fläche. S. 23
Fotos: Roderick Aichinger für DIE ZEIT

Carsten Spohr
vergangenen Freitag
im fast menschenleeren
Terminal 2 des
Münchner Flughafens

Plötzlich am Boden
Ein Flugzeugabsturz, epochale Streiks und dann noch die Klimadebatte – Lufthansa-Chef Carsten Spohr glaubte, alles erlebt zu haben,
was einem Manager widerfahren kann. Dann kam Corona und die Frage, wie viel Staatseinfluss ein Konzern verträgt  VON CLA AS TATJE

F
reiheit hat im Leben von Carsten
Spohr eine große Bedeutung – ein
Flugzeug über den Wolken fliegen,
einen weltweit tätigen Konzern
lenken. Diese Art von Freiheit.
Spohr hat sie erreicht, erst wurde er
Pilot, dann Manager der Lufthansa,
seit sechs Jahren ist er deren Vorstandschef. Es wur-
den die wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre der
Konzerngeschichte. Ein Dax-Manager auf dem
Höhepunkt.
Doch innerhalb weniger Monate musste der
53-jährige Spohr gleich zweimal um seine unter-
nehmerische Freiheit fürchten. Im vergangenen
Sommer ging es darum, wie sich Wachstum und
Klimaschutz vertragen, und wie sinnvoll es ist, Flü-
ge von Nürnberg nach München anzubieten. Wie
nur wenige andere Unternehmen wurden Fluggesell-
schaften von der Klimabewegung attackiert.
Schon in diesem Frühjahr klingt das wie ein
Problem aus einer anderen Zeit. Wachstum? Die
Bekämpfung des Coronavirus hat das Wirtschafts-
leben auf der ganzen Welt lahmgelegt, den Flugver-
kehr trifft es besonders heftig. Carsten Spohr droht
seine Freiheit plötzlich in einem Maße zu verlieren,
die ihm vor Kurzem noch undenkbar schien. Um
den Konzern überhaupt am Leben zu halten, braucht
er die Hilfe des Staates. Bis Redaktionsschluss stand
noch nicht fest, welche Gegenleistung die Bundes-
republik für ihre in Aussicht gestellte Finanzhilfe an
Denkbar wäre eine Beteiligung, bei der die Re-
gierung keine aktive Rolle im Unternehmen ein-
nehmen würde. Doch sie könnte auch auf einem
Aufsichtsratsmandat bestehen. Bei der Commerz-
bank, die in der Finanzkrise vor zehn Jahren zum
Teil verstaatlicht wurde, sitzen beispielsweise noch
zwei Vertreter der Regierung im Kontrollgremium.
Für Spohr wäre das der Worst Case. Denn wegen
der Lufthansa-Töchter spielen auch die Regierun-
gen in Wien (Austrian Airlines), Bern (Swiss) und
Brüssel (Brussels Airlines) eine Rolle, soll das­
Unternehmen am Leben gehalten werden. Spohr
sagt: »Wenn die Bundesrepublik zu große Einfluss-
nahme auf operative Geschäftsaufgaben nehmen
wollte, fordert das vielleicht die österreichische
Regierung ebenso ein, dann möglicherweise auch
die Schweiz, Belgien, Bayern oder Hessen. So kön-
nen Sie einen Konzern nur sehr schwer steuern.«
Spohr wird die Staatshilfe wohl akzeptieren müssen,
egal in welcher Form sie kommt.
Noch vor wenigen Monaten waren die Macht-
verhältnisse ganz andere gewesen. Im August 2019
eilt Spohr während der nationalen Luftfahrtkon­
ferenz in einem Leipziger Flugzeughangar zum­
Kuchenbuffet (»Ich brauche
mal was Süßes«). Gerade hat
er Kanzlerin Angela Merkel
zum Hubschrauber beglei-
tet. Auch der Wirtschafts-
minister Peter Altmaier ist
Gäste anstatt wie normalerweise 350.000.« Die
Lufthansa verliere jede Stunde »ungefähr eine
Million Euro« ihrer Liquiditätsreserven.
Und auch die neuesten Zahlen sind düster:
Vergangenen Mittwoch beispielsweise hoben 99
Flüge der Lufthansa ab, am gleichen Tag ein Jahr
zuvor waren es 3215. Ein Minus von 97 Prozent.
Der Verlust im ersten Quartal beträgt bereits über
eine Milliarde Euro, das zweite Quartal wird weit
schlimmer.
Nächsten Dienstag wird Spohr seinen Aktio-
nären auf einer virtuellen Hauptversammlung per
Livestream noch vom Milliardengewinn im ver-
gangenen Jahr berichten. Nur wird das kaum
jemanden mehr interessieren.
Schon seit Anfang des Jahres spürt die Lufthansa
die Auswirkungen des Virus aufs Geschäft. Am
6. Januar informierte der medizinische Dienst des
Konzerns den Vorstand in einem Memo über eine
neue Atemwegsinfektion im chinesischen Wuhan.
Die meisten Deutschen hielten Corona da noch für
ein mexikanisches Bier. Doch die Lufthansa dünnte
ihre Flugpläne aus, erst die nach China, dann die
Routen in ganz Asien, schließlich Amerika.
»In einer wirtschaftlich vernetzten Welt
ist es völlig undenkbar, nicht zu fliegen«
Als Manager zog Spohr offenbar seine ganz­
eigenen Schlüsse aus diesem Prinzip: Wer sich zu
ihm ins Boot setzt, den zieht er mit voran. Aber wer
einen anderen Takt anschlägt, ist früher oder später
weg. Das erfuhren etwa die Lufthansa-Finanzvor-
ständin Simone Menne oder der langjährige Flug-
zeugeinkäufer Nico Buchholz.
Als die Deutschen noch reisen konnten, wohin
sie wollten, kaufte sich der 22-jährige Student
Carsten Spohr ein Flugticket, packte seinen Ruck-
sack und flog mit zwei Freunden nach Los Angeles,
dann weiter nach Papeete in der Südsee, nach Auck-
land, nach Sydney, Bali, Bangkok, zurück nach
Frankfurt. »Ich habe es geliebt, Zeit an den Flug­
häfen zu verbringen«, erinnert er sich. Am Ende der
Reise war der angehende Wirtschaftsingenieur
ziemlich pleite, aber er wusste jetzt, wohin er woll-
te: zur Deutschen Lufthansa.
Spohr beginnt die Pilotenausbildung. Piloten
sind Menschen, die Entscheidungen laufend hin-
terfragen, aber wenn sie getroffen sind, auch durch-
ziehen müssen. So erklärt der damalige Chefpilot
Robert Salzl, was er Spohr beibrachte: »Es darf nichts
Alternativloses geben.« In der Luft ist es so, dass sich
ständig neue Optionen und
Wege auftun, weil der Luft-
raum voll und die Flugsiche-
rungen zahlreich sind. Kaum
ein Flugzeug fliegt deshalb
direkt von A nach B. Wer
Hien, so erinnert er sich heute, will Spohr gesagt haben:
»Ihre Karriere war zu gradlinig. Ihnen fehlen die Brüche
im Lebenslauf.« Spohr habe ihm das nie verziehen. Der
bestreitet nicht, nachtragend zu sein: »Es kann schon
sein, dass mich manchmal Menschen enttäuschen und
ich das so schnell nicht vergesse.«
Seinem Erfolg hat das offenbar nicht geschadet. In
Spohrs Rekordjahr als Vorstandschef 2017 machte die
Lufthansa schließlich Tag für Tag acht Millionen Euro
Gewinn. »Die Firma hat immer versucht, effizienter,
schneller und damit profitabler zu werden«, sagt Spohr.
Doch das genügt im April 2020 nicht mehr. Spohr
arrangiert sich gerade mit der neuen Realität. Er fliegt
nicht mehr mit der A320 zur Arbeit nach Frankfurt, er
fährt nun mit dem Auto ins Lufthansa-Büro an seinem
Wohnort München. Aus dem Homeoffice erzählt er,
dass er seit 20 Jahren nicht so oft zu Hause gewesen sei.
Plötzlich isst er regelmäßig mit seiner Frau und beiden
Kindern zu Abend. Bis vor wenigen Wochen hat er
ständig im Flieger gesessen. Er kam aus Berlin, New York
Fortsetzung auf S. 20
ANZEIGE

GIGA
die Lufthansa erwartet. Fest stand nur so viel: So da. Er erwähnt den Luft- Carsten Spohr, 53, ist seit sechs Jahren Chef von Europas größter Airline von der zunächst festgeleg-
unabhängig wie bislang wird Carsten Spohr künftig hansa-Chef in einer Dis- ten Route abweicht, spart
nicht mehr agieren können. kussionsrunde gleich vier- mitunter wertvolle Minuten
Seit dem vergangenen August hat die ZEIT mal, es geht um das ungeheure Wachstum der Das ist nicht ungewöhnlich. Bei anderen Krank- und Hunderte Liter Treibstoff. So werden Piloten
Spohr immer wieder gesprochen. Im Kreise von Branche. Spohr selbst tritt wenig später auf die heiten wie der Sars-Pandemie hat es das auch gege- zu Managern von Zeit und Geld. Bei einem Vor-

Politikern, Mitarbeitern und zuletzt vergangenen
Mittwoch in einer Videoschalte aus seinem Home-
office in München. Da fordert Spohr noch einmal
klipp und klar unternehmerische Freiheit: »Die Luft-
hansa hat die drei besten Jahre ihrer Konzernge-
schichte hinter sich. Wenn sie auch künftig erfolg-
reich sein soll, muss sie auch weiterhin ihr Schicksal
unternehmerisch gestalten können.«
Nun aber braucht das Unternehmen dringend
Geld, bis zu zehn Milliarden Euro könnten nötig
sein, um durch die Krise zu kommen. Für die Luft-
hansa am bequemsten wäre eine Finanzhilfe, wie sie
gerade der Rivale Condor oder der Reisekonzern
TUI bekommen haben. Der Staat verleiht Geld, die
Krise geht vorüber, später wird der Kredit zurück-
gezahlt. So einfach könnte es sein, schließlich hatte
die Lufthansa ein zuletzt sehr profitables Geschäfts-
modell. Bei Condor ging es um »nur« 500 Millio-
nen, bei TUI um knapp zwei Milliarden Euro.
Bei einer womöglich fünfmal so großen Summe
könnte die Regierung Mitsprache einfordern. Der
Manager Spohr müsste sich dann gegenüber einem
neuen Eigentümer verantworten.
Bühne und erzählt von seinen Telefonaten mit dem
Finanzminister. Während der neben ihm stehende
Verkehrsminister von Drohnen und Flugtaxis
schwärmt, kommt Spohr auf die alltäglichen­
Unzulänglichkeiten der Deutschen Flugsicherung
zu sprechen. Er wäre schon froh, wenn das staats-
eigene Unternehmen »genug Fluglotsen für meine
Jumbos hätte«. Und danach »können wir uns auch
um die Kleinen kümmern«, spottet Spohr.
Spohrs Jumbos und all die anderen Flieger sind
im August 2019 gut gefüllt. 106.794 Lufthansa-
Flüge allein in diesem Monat, 14 Millionen Passa-
giere. In den fünf Minuten, in denen Spohr sein
Stück Kuchen isst, starten irgendwo auf der Welt
zwölf Lufthansa-Maschinen.
Wie ernst die Lage dagegen jetzt ist, erklärte
er seinen 138.000 Mitarbeitern am 8. April in
einer Videobotschaft. Spohr stand für die Auf-
nahme vor einem weiß-blauen Hintergrund, der
wohl nach Himmel, Hoffnung und Freiheit aus-
sehen sollte, und sagte seinen Leuten, warum die
stolze Lufthansa nun sehr bescheiden werden
muss. »Wir ­befördern täglich weniger als 3000
des Monats
ben. Deshalb erkennt Carsten Spohr, der täglich eine standschef ist es nicht anders.
Übersicht mit allen Flugbewegungen des Konzerns Als Spohrs späterer Mentor Jürgen Weber 1991
im Vergleich zum Vorjahr bekommt, erst Anfang Lufthansa-Chef wurde, machte das Unternehmen
April die ganze Tragweite der Corona-Pandemie. über anderthalb Millionen Euro Verlust am Tag.
Inzwischen sagt er: »Ich muss noch akzeptieren, dass Schon damals stand die Zukunft des Unternehmens
ein neues Normal erst möglich ist, wenn es nicht nur auf dem Spiel. Erst eine drohende Massenentlassung
Medikamente, sondern auch einen Impfstoff gibt. überzeugte die Mitarbeiter, teure Pensionsprivilegien
Und das kann Jahre dauern.« zu beschneiden und Kosten zu minimieren. Mit
Mit dem Schicksal der Lufthansa steht auch Webers Idee, sich mit Konkurrenten das Streckennetz 5G geht in
Spohrs Lebenswerk auf dem Spiel. und letztlich auch die Passagiere zu teilen, begann
Spohr stammt aus Wanne-Eickel mitten im eine neue Erfolgsgeschichte. Weber sagt heute über die Fläche. S. 23
Ruhrgebiet. Sein Jugendfreund Thomas Kruse­ seinen einstigen Assistenten Spohr: »Er war mit Ab-
erinnert sich an gemeinsame Gelegenheitsarbeiten, stand der Beste.« Webers Frau nannte ihn »mein
Spohr malochte als Teenager auf Baustellen. »Er war Bub«, und als Spohr 2011 Konzernvorstand der
sich für nichts zu schade«, sagt Kruse. In der Schu- Passagiersparte wurde, zog er in Webers einstiges
le saßen Kinder von Geschäftsführern neben Kin- Büro am Rollfeld in Frankfurt, die im Minutentakt
dern von Lastwagenfahrern oder Hafenarbeitern, startenden und landenden Flugzeuge im Blick, fast
Spohrs Vater war Bauingenieur. Spohr verbrachte jeder Flug brachte der Lufthansa Gewinn.
viele Stunden im Ruderclub, wo er mit Kruse zu- Spohrs geschmeidiger Aufstieg bescherte ihm
sammen im Vierer saß. Eine Lektion, sagt Kruse: auch Kritik. Etwa von Uwe Hien. Der Flugbegleiter
»Wer sich nicht anpasst an die anderen, wer ständig saß für die Gewerkschaft Ufo im Aufsichtsrat und
nur sein eigenes Tempo geht, bringt das ganze Team gab Spohr 2014 zu verstehen, ihn nicht zum Vor-
aus dem Rhythmus.« standschef zu wählen, er enthielt sich der Stimme.
20 WIRTSCHAFT 29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19

Schon wieder weg

G
leich zu Beginn ihrer gemein- Der Analyst Mirko Maier, der den Konzern für
die Landesbank Baden-Württemberg beobachtet,
Nach nur sechs Monaten sonalchef für Deutschland, soll den Eindruck zer- so schildert es Marco Lenck, Chef der deutsch-
samen Zeit an der Spitze des streuen, dass man bei SAP in der Krise lieber e­ inem sprachigen SAP-Anwendergruppe, der DSAG. Die
Softwarekonzerns SAP hät- hält die Begründung des Unternehmens für »nicht wechselt SAP seine Chefin Mann vertraue. »Jennifers Geschlecht hat weder ist ein mächtiger Player, denn sie vertritt die Inte-
ten sie einander ein Verspre- nachvollziehbar«. Schließlich rechne SAP nach­ bei ihrer Berufung noch bei ihrer Ablösung eine ressen von mehr als 3500 SAP-Kunden. Wenn die
chen gegeben, erzählte Jenni- eigenen Angaben damit, vergleichsweise glimpflich
aus. Weil sie eine Frau ist?  Rolle gespielt«, sagt Younosi auf Nachfrage. Dann DSAG einen Termin mit dem Konzernvorstand
fer Morgan Anfang März auf durch die Krise zu kommen. Schon ab dem dritten VON ANN - K ATHRIN NEZIK zählt er auf, was SAP für die Förderung von Frau- möchte, »ist die nächste Lücke im Kalender für uns
der Bühne eines Karrierekon- Quartal soll sich die Lage allmählich verbessern. en tue: Führungspositionen würden standardmä- reserviert«, sagt Lenck. Bei diesen Gesprächen habe
gresses in San Francisco: Sie und ihr Co-CEO Warum Klein – und nicht Morgan – den Kon- ßig auch in Teilzeit ausgeschrieben, für geschlech- Klein »sehr intensiv zugehört«, berichtet Lenck. Im
Christian Klein würden sich von »niemandem aus- zern künftig führen soll, erklärte SAP mit keinem terbedingte Gehaltsunterschiede gebe es null Tole- Februar legte Klein dann ein Strategiepapier vor, in
einanderbringen lassen«. Sie hätten sich vorgenom- Wort. Und so steht das Unternehmen jetzt als­ ranz, als eines von nur zwei Dax-Unternehmen dem er erklärte, wie er die vier zentralen Geschäfts-
men, »wie Eltern« zu sein, die ihre Beziehung als eines da, das die erste Frau an der Spitze bei erst- habe SAP einen zur Hälfte weiblichen Aufsichts- prozesse aus dem SAP-Portfolio künftig verein-
Paar trotz Alltagsstress und Kindergeschrei an erste bester Gelegenheit wieder aussortierte. Dafür muss rat. Der Führungswechsel habe einen ganz ande- heitlichen wolle.
Stelle setzen. Morgan dagegen blieb in dieser Frage blass –
Keine zwei Monate später sind Morgan und obwohl sie nach eigenem Bekunden im Führungs-
Klein geschiedene Leute. Am Montag vor einer tandem für »Kunden und Innovation« zuständig
Woche verkündete SAP kurz vor Mitternacht war. Stattdessen machte sie die Frage, wie ein­

Foto: action press

deutscher Zeit, dass Klein den Konzern künftig
allein führen und Morgan ausscheiden werde. Es
ist das abrupte Ende eines Zweiergespanns, das
erst vor einem halben Jahr angetreten war, um
Deutschlands größten Softwarekonzern zu führen.
Damals war dem Aufsichtsrat um den SAP-Grün-
der Hasso Plattner ein Coup geglückt: Erstmals
stand mit Morgan eine Frau an der Spitze eines
Dax-Konzerns: was für ein Symbol!
Morgan und Klein, so wirkte es, verkörperten
den Aufbruch in eine neue Zeit, den endgültigen
Abschied von der Deutschland AG, dem Zirkel der
immer gleichen Herren, die über Jahrzehnte die Ge-
schicke der wichtigsten deutschen Unternehmen
lenkten und kontrollierten. Die Amerikanerin Mor-
gan verlieh dem Konzern mit Sitz in Walldorf nahe
Heidelberg einen Hauch von internationalem Gla-
mour, schließlich saß sie schon mit Barack Obama
auf einer Bühne und war in US-Wirtschaftskreisen
bestens vernetzt. Aber auch Klein symbolisierte­
einen neuen Typus Manager. Er ist kein Alphatier,
sondern gilt als einer, der zuhören kann. Mit 39
Jahren ist er noch dazu der jüngste Chef im Dax.
Gemeinsam traute Aufsichtsratschef Plattner
den beiden offenbar zu, die Probleme von SAP zu
lösen, die ihr Vorgänger Bill McDermott dem­
Unternehmen hinterlassen hatte. Zwar war SAP an
der Börse so viel wert wie kein anderer Dax-Kon-
zern, aber viele Kunden waren unzufrieden. Unter
McDermott hatte SAP eine Reihe kleinerer und
größerer Software-Firmen übernommen und war
so immer weiter gewachsen. Doch der Amerikaner
hatte es versäumt, die Zukäufe zu integrieren. Ein
Ärgernis für die Kunden, aus deren Sicht die Pro-
gramme von SAP wie ein Flickenteppich wirkten.
Dabei sollen sie Firmen eigentlich dabei helfen,
interne Prozesse wie die Beschaffung oder das Per-
sonalmanagement effizienter zu organisieren.
Morgans und Kleins Aufgabe war also klar: das
Chaos zu beseitigen. Und tatsächlich sah es so aus,
als würde sich das Duo dabei so »perfekt« ergän-
zen, wie es Plattner im Oktober versichert hatte.
Bei internen Veranstaltungen witzelten die beiden
miteinander. In Interviews erzählte Klein, dass er,
nachdem er seinen Sohn ins Bett gebracht habe,
oft noch mit »Jen« telefoniere. Die Fernbeziehung
zwischen Nordbaden und Newtown Square, Penn-
sylvania, wo Morgan lebt und SAP seine US-Zen-
trale hat, sie schien zu funktionieren.
Umso überraschter, ja schockierter sind Mit-
arbeiter und langjährige Beobachter des Unter-
nehmens nun über das schnelle Ende der Doppel-
spitze. Sie verwundert vor allem die offizielle­
Begründung für die Entscheidung: Die Corona-
Krise verlange ein »entschlossenes Handeln und
eine klare, hierbei unterstützende Führungsstruk-
tur«, hieß es in einer Mitteilung von SAP. Morgan
hat sich selbst öffentlich nicht geäußert.
sich SAP viel Kritik gefallen lassen. Morgan »nach
sechs Monaten abzuservieren ist ein Armutszeug-
nis für Plattner, sehr peinlich und nicht zu ent-
schuldigen«, sagt etwa der Personalberater Heiner
Thorborg, der sich für Frauen im Spitzenmanage-
ment einsetzt. Morgan habe als ehemalige Chefin
des USA-Geschäfts einen viel besseren Lebenslauf
als der neun Jahre jüngere Klein, der fast seine­
gesamte Karriere in Walldorf verbracht hat.
Bei SAP ist man nun darum bemüht, das
Imagedesaster zu beheben. Cawa Younosi, der Per-
Im Kreis der 30 Dax-
Unternehmen schaffte es
Jennifer Morgan bislang als
einzige Frau an die Spitze
ren Grund, sagt Younosi: Als sich Klein vergange-
ne Woche den Mitarbeitern erklärte, per Video-
schalte aus dem Homeoffice, habe er von unter-
schiedlichen Auffassungen der beiden über die
Konzernstrategie gesprochen.
Vieles spricht dafür, dass es dabei vor allem um
die Frage ging, wie die zugekauften Firmen ins
Unternehmen zu integrieren seien. Klein hat sich
in den vergangenen Monaten als Macher profi-
liert, der die Klagen der Kunden über das Wirr-
warr der Programme ernst nahm – und handelte,
moderner Führungsstil aussieht, zu ihrem Thema.
Sie sprach öffentlich darüber, dass auch Vorstands-
chefs verletzlich und fehlbar sein dürften. Viele
SAPler rechneten ihr das hoch an.
Während Morgan eher den großen Auftritt
suchte, versäumte sie es wohl, ihre Macht nach
innen abzusichern. Nach dem Abtritt ihres lang-
jährigen Mentors McDermott stand sie ohne­
einen einflussreichen Unterstützer da, ohne enge
Verbindungen in die deutsche Konzernzentrale.
Anders als Klein, der 1999 als Student zu SAP
kam und der auf einen Zirkel von Vertrauten in
Walldorf zählen kann. Dazu gehören Finanzchef
Luka Mucic und Kleins enger Freund Thomas
Saueressig, der seit Ende Oktober im Vorstand für
die Produktentwicklung verantwortlich ist, aber
vor allem Gerhard Oswald. Der Aufsichtsrat und
ehemalige Vorstand gilt bei SAP als mächtiger
Mann im Hintergrund. Er hält die Verbindung
zum Mitgründer Dietmar Hopp und wirke mäßi-
gend auf den mitunter aufbrausenden Hasso
Plattner ein, sagen Beobachter.
Klein wurde von Oswald gefördert. Und auch
außerhalb des Berufs pflegen die beiden eine Ver-
bindung. Die hat – wie so oft bei SAP – mit Fuß-
ball zu tun. Klein stammt aus dem zehn Kilometer
von Walldorf entfernten Mühlhausen, wo er sich
bis heute im örtlichen Fußballverein, dem 1. FC
Mühlhausen, engagiert. Dort ist auch Gerhard
Oswald ein gern gesehener Gast. Als der Verein
2016 sein neues Clubhaus einweihte – ermöglicht
von einer Spende der Dietmar Hopp Stiftung in
Höhe von mehreren Hunderttausend Euro –, war
Oswald vor Ort. Der Kontakt gehe vor allem auf
»den Christian« zurück, erzählt der Vereinsvorsit-
zende Hans-Josef Hotz am Telefon. Aber auch
Christian Kleins Vater Karl Klein, der für die
CDU im Stuttgarter Landtag sitzt – und im Vor-
stand des 1. FC Mühlhausen –, habe schon immer
»gute Beziehungen« zu SAP gehabt.
Über solche und ähnliche Netzwerke gibt es
unter manchen SAPlern Unmut. Frauen wie Män-
ner beklagen, dass Seilschaften im Unternehmen
eine zu große Bedeutung einnähmen. Das Bild des
um Gleichberechtigung und Weltoffenheit be-
mühten Konzerns, das SAP nach außen abgibt,
stimme nicht mit der Realität überein, so die­
internen Kritiker.
Mit dem Weggang von Jennifer Morgan ist
die Führung von SAP jedenfalls nicht nur­
männlicher, sondern auch ein Stück deutscher
geworden. Die Irin Adaire Fox-Martin ist bis auf
Weiteres die einzige Frau im Vorstand des Kon-
zerns – und dort die einzige Managerin mit aus-
ländischem Pass.
Dass es im Leben des Christian Klein seit der
vergangenen Woche eine neue Frau gibt, hat einen
anderen Grund: Er wurde Vater einer Tochter.

Plötzlich am Boden  Fortsetzung von S. 19

oder Brüssel. »In einer wirtschaftlich vernetzten Welt sagt Enders, dem imponierte, wie sich Spohr in jenen Spohrs Befürchtung heute: In der Corona-Krise FOC, Friends of Carsten. Wer sich Spohr in den Corona-Krise erwartete Spohr, dass es im Sommer
ist es undenkbar, völlig auf das Fliegen zu verzichten«, Tagen der Öffentlichkeit stellte. Keine fünf Sekun- könnte der staatliche Eingriff nicht so milde ausfallen Weg stellt, wird nicht alt im Konzern. wieder aufwärts gehe. Nun rechnet er eher mit
sagte er im vergangenen November. Nun sitzt er mit den habe er gezögert, die Verantwortung für das wie bisher beim Klimaschutz. Was passiert, wenn Spohr muss nun Entscheidungen treffen, die für Herbst. Er befürchtet, dass die Geschäftsreisenden
hochgekrempelten Hemdsärmeln vor seinem Com- Unfassbare zu übernehmen, heißt es aus seinem Um- plötzlich Politiker auf die Idee kommen, ihre vielen viele seiner Mitarbeiter Konsequenzen haben. Der sich vermehrt an Videokonferenzen gewöhnen und
puter. Es ist ein Bild mit Seltenheitswert: Spohr im feld. Und Germanwings-Chef Thomas Winkelmann Regionalflughäfen für die heimischen Wähler an- Konzern will den Flugbetrieb verschlanken, viele weniger fliegen, und er hofft, dass die Leute zumin-
Dienst ohne Krawatte. »Man braucht keine Krawat- nicht alleinzulassen. Seitdem wird Spohr auf PR- zufliegen, auch wenn das wirtschaftlicher und klima- eigenständige Marken machen die Organisation dest privat wieder verreisen wollen. Er sagt: »Der
te, um ein Flugzeug zu fliegen, aber wenn Sie nachts Tagungen gefeiert. Als Beispiel für authentische politischer Unsinn ist? Spohr sagt, der Luftverkehr teuer. Ausgerechnet die Tochtergesellschaft German- Wunsch der Menschen, sich frei zu bewegen, den
um drei über dem Südatlantik ins Cockpit eines Krisenkommunikation. sei immer von der Politik beeinflusst gewesen, aber wings wird deshalb dichtgemacht. Die 1400 betrof- spüre ich.« Er selbst will im Herbst einen gerade abge-
Langstreckenflugzeugs schauen würden, sage ich Wenn man mit Spohr über dieses schreckliche »es darf nie eine politisch verordnete Frage werden, fenen Arbeitsplätze sollen möglichst erhalten werden, sagten Urlaubsflug mit seiner Frau und seinen Kin-
Ihnen, unsere Piloten haben sie beide an. Das ist eine Ereignis spricht und über die Herausforderungen ob wir von München oder von Zürich aus nach aber insgesamt wird das Unternehmen mindestens dern nach Los Angeles nachholen.
Frage der Haltung.« heute, dann macht er deutlich, Osaka fliegen«. 10.000 Stellen abbauen müs- Einstweilen steht Carsten
Nur achtmal ist er in den dass der Absturz mit nichts zu Wobei man sagen muss, dass Carsten Spohr sen, vermutet Spohr. »Wir Spohrs Lebenswerk am Bo-
Aktienkurs der Lufthansa Lufthansaflüge am 22. April Aktienkurs
vergangenen Wochen geflo- vergleichen sei: In der Corona- selbst kein unbegabter Politiker war, wenn es um müssenderhandeln,
Lufthansaund es war Lufthansaflüge am 22. April den. Vor einigen Wochen
gen, zweimal Frankfurt und Krise »geht es um im Vergleich
Geld und die Politik im Unternehmen selbst ging, etwa als längst klar, dass Germanwings im Vergleich setzte er sich in seinen Dienst-
zweimal Berlin und zurück. 22. 12. 2017: Arbeitsplätze, aber nicht um Vorstand für das Passagiergeschäft unter dem Vor- 22. 12. keine
2017:Zukunft hat«, sagt er im wagen und fuhr ans Rollfeld
Selbst Gespräche mit Minis- 40 31,03 Euro 150 Menschenleben«. 40 31,03 Euro
standschef Christoph Franz. »Bei Sparprogram- Videogespräch. des Flughafens Frankfurt, um
tern gibt es meist nur noch per 27. 4. 2020: Spohr muss jetzt damit men bremste Spohr Franz regelmäßig aus«, erzählt Also 27.der
handelt 4.Chefpilot,
2020: es zu besichtigen. Da waren
2019: 3215 2019: 3215
Videokonferenz oder Telefon- 30 7,93 Euro umgehen, dass die Zukunft der ein enger Weggefährte der beiden. So30bekam sobald sich die7,93 LageEuro
ändert. sie alle aufgereiht, seine Flie-
schalte. Spohr wäre das per- 20 Lufthansa von politischen Spohr Rückenwind von der Belegschaft und 20 Franz Der ZEIT liegen Unter­ ger, auf Hunderten von Me-
sönliche Treffen lieber. Er sagt: Fragen bestimmt wird, nicht Gegenwind von den Investoren. Ohne Spohrs lagen vor, wonach das Unter- tern. Die A350 und die A380.
»Wir sind gerade in Gesprä- 10 nur von unternehmerischen.
2020: 99 Unterstützung war Franz machtlos, Spohrs10 ­Bereich nehmen im Frühjahr 2018 2020: 99 Spohr drehte die Musik im
chen mit vielen Regierungen Das war auch in den ver- war das kommerzielle Herz des Konzerns. Als mit der Pilotengewerkschaft Auto auf. »Im Büro ging es
in Europa über eine Unter- 0 gangenen Monaten schon so. Franz im September 2013 hinschmiss, lief 0 alles Vereinigung Cockpit eine den ganzen Tag um nichts
stützung unserer Airlines, aber 2018 2019 2020 ZEIT- Wenn auch unter ganz anderen auf Carsten Spohr als Nachfolger hinaus. 2018
GRAFIK/Quellen: eigene Recherchen, Deutsche Börse AG 2019
Grundsatzvereinbarung2020darü-ZEIT-GRAFIK/Quellen: eigene Recherchen, Deutsche Börse AG anderes als den Stillstand,
mir ist das fast unangenehm Vorzeichen für die Lufthansa. Doch was macht der Aufsichtsratschef Wolfgang ber traf, dass die Betriebs­ aber erst am Rollfeld konnte
am Telefon. Ich reise lieber zu jemandem, den ich um Noch im Sommer wuchs der Konzern so schnell, dass Mayrhuber? Er fragt zunächst Manager von außen, genehmigung von Germanwings frühestens Ende ich erfassen, was das wirklich heißt«, erinnert er sich
etwas bitte. Das hat ja auch eine gewisse Symbolik.« er ein Lieblingsgegner der Fridays-for-Future-Bewe- darunter den früheren Telekomchef René Ober- Juni 2022 aufgegeben werden soll. Auch Zusagen für im Videogespräch.
Er weiß um die Bedeutung des angemessenen gung wurde. Die Unternehmenskommunikation mann. Erst als der absagt, kommt Spohr zum Zug. Stationen in sechs deutschen Städten gab das Unter- Es sieht so aus, als bliebe dem Mann, der stets die
Auftritts. Er war es, der Lufthansa mit Ruhe und erfasste im eigenen Newsroom deshalb systematisch Zügig zerschlägt Spohr das Passagiergeschäft in nehmen damals den Gewerkschaften. Darauf ­ besten Wege von A nach B suchte, gerade nur die
Empathie durch die bislang größte Krise lenkte. Nachrichten mit dem Hashtag #Flugscham. Spohr mehrere Einheiten. So kann ihm niemand in die angesprochen, bekräftigt Spohr seine Absicht, die Hoffnung, dass sich irgendein B abzeichnet in dieser
Am 24. März 2015 bringt ein Pilot eine A320 wollte das schlechte Image loswerden. Er stellte in Quere kommen, wie er es selbst bei Franz jederzeit Mitarbeiter an Bord zu halten: »Angesichts der dra- seltsam stillen Welt, zu dem er seinen Konzern führen
der Lufthansa-Tochter Germanwings absichtlich Aussicht, Inlandsverbindungen zu kappen, wenn die konnte. Dazu schart Spohr viele loyale Weggefähr- matischen Lage müssen wir jetzt handeln. Aber wir kann. Bis dahin bleibt ihm nur der Staat.
zum Absturz. 150 Menschen sterben. Airbus-Chef Bahn ihr Netz ausbaue. Er versprach im heute-journal ten um sich. Wie es sich für Einheiten in der Luft- wollen dabei ein sozialer Arbeitgeber bleiben.«
Thomas Enders flog mit Spohr zur Absturzstelle in Investitionen in klimaneutrale Treibstoffe. Voraus- fahrt gehört, haben selbst die Lufthansa-internen Die Frage ist nur: Wo bleibt die Arbeit, die der
die Alpen. »Solche Momente vergisst man nicht«, gesetzt, die Kunden würden den Preis zahlen. Seilschaften eigene Abkürzungen. Eine heißt Arbeitgeber bereitstellen kann? Zu Beginn der­ AA www.zeit.de/audi
 29. A P R I L 2 0 2 0 D I E Z E I T N o 19 WIRTSCHAFT 21

Die USA
zahlen 2020 einen
Pflichtbeitrag
von 107 Mio. Euro In den verpflichtenden
Mitgliedsbeiträgen (Grafik links)
zeigt sich Chinas gewachsener
Einfluss auf die Organisation. Doch
zum WHO-Gesamtbudget gehören
außerdem zahlreiche freiwillige
Programme. Dieses Gesamtbudget
wird über zwei Jahre errechnet, und
für 2018/2019 betrug es
19,36 % Die größten Projekte der WHO

5,1
anhand ihres Anteils am Programm-
budget von rund 4 Mrd. Euro
China zahlt
53 Mio. Euro

WHO
Milliarden Euro.
Die größten Beiträge leisteten dazu: 8,77 %
USA: 14,67 % 7,02 %
Bill & Melinda Gates-Stiftung: 9,76 %
GAVI Impfallianz weltweit: 8,39 % 4,36 %

Angriff auf die

Großbritannien: 7,79 %
Deutschland: 5,68 %
EU-Mittel: 3,3 %
China: 0,21 %

lle
g

e
un r
hr h e

m
un

tro
m
g
nä lic
pf

ra

on
Er it
äm

og
d he

-k
ek

pr
un d

d
g sun
-B

un
pf
lio

Im

g
un e

un
rg u g
Po

ug
so z
e r ng

be
dv g a

or
iev
un Zu

em
id
Ep
Gr
ANZEIGE
Die Weltgesundheitsorganisation wird zum Spielfeld der Konkurrenz zwischen China und
den USA. Ist die Kritik an ihr berechtigt?  VON CHRISTIANE GREFE UND KERSTIN KOHLENBERG

S
ein Job ist es eigentlich, die Welt
vor dem Virus zu schützen. Seit
mehr als vier Monaten diskutiert
Tedros Adhanom Ghebreyesus,
Chef der Weltgesundheitsorgani-
sation (WHO), täglich im Haupt-
quartier in Genf mit Fachleuten
über die Corona-Krise. Virologen, Epidemiologen,
Logistiker, Diplomaten beraten ihn. Dann telefo-
niert der Äthiopier Tedros mit Gesundheitsminis-
tern und Regierungschefs der ganzen Welt über die
bedrohlichste Pandemie seit hundert Jahren.
Doch zunehmend muss sich der WHO-General-
direktor selbst verteidigen. Seit Anfang April wirft
Donald Trump ihm vor, er sei »China-zentriert«.
Statt Kritik daran zu üben, dass China zu Beginn der
Krise Informationen über das Virus zurückgehalten
hätte, habe Tedros sogar die besondere Transparenz
Pekings gelobt. Damit habe er die Chance verspielt,
das Virus früh einzudämmen. Tedros habe also ver-
sagt, wettert Trump, deshalb werde Amerika vorerst
seine Überweisungen nach Genf einstellen. Ein
In Genf kann sich das Notfallkomitee bis zum
Abend des 22. Januar nicht auf ein Votum einigen.
Erst ein Fall außerhalb Chinas ist bekannt. Die
Hälfte der Mitglieder argumentiert daher gegen eine
Katastrophenwarnung. Möglicherweise setze die An-
steckung engen Körperkontakt voraus und verbreite
sich nur innerhalb von Familien oder Partyrunden.
Dann wäre der Ausbruch womöglich innerhalb
Chinas beherrschbar. Die andere Hälfte will eine
Warnung herausgeben, ehe es zu spät ist. Die Ex-
perten vertagen die Entscheidung auf den nächsten
Tag. Doch auch am 23. bleibt es beim Patt. Darauf-
hin bittet der Generaldirektor seine Berater, sich für
eine weitere Sitzung in zehn Tagen bereitzuhalten.
Und er twittert: »Ich danke der chinesischen­
Regierung für ihre Kooperation und Transparenz.«
Diese Freundlichkeit gegenüber den Chinesen
kommt in der Öffentlichkeit nicht gut an. Im Zuge
der Krise wird bekannt werden, dass Chinas Regio-
nalbehörden einen Arzt, der vor dem Virus gewarnt
hatte, zum Schweigen gezwungen haben. China wird
zudem einen großen Teil der amerikanischen Print-
afrikanische Staaten wirtschaftlich stark unterstützt,
wird Tedros’ Unabhängigkeit von seinen Kritikern
infrage gestellt. Der Mikrobiologe wurde allerdings
mit großer Mehrheit gewählt und gilt als fachlich Schule
ausgewiesen; ein erfolgreicher Reformer, der es als
Gesundheitsminister in seinem Heimatland ge- von zu
schafft hat, eine ausgedörrte Bürokratie wiederzu­
beleben und ein lokales Netz aus Gesundheits­ Hause
einrichtungen zu etablieren. Bis 2017 war er Außen-
minister Äthiopiens.
Tedros gibt sich vor der Kamera zahm –
doch ihm gelingt ein diplomatischer Erfolg
In den Tagen nach dem 23. Januar ist Tedros un-
ruhig. So schildert es eine Wissenschaftlerin, die
die WHO berät. Die Zahl der Infizierten und­
Toten nimmt täglich zu, und damit auch die Sor-
ge, zu spät zu kommen. Tedros will sich selbst ein
Bild davon machen, wie die chinesische Elite die
Risiken des Virus einschätzt. Stabschef Schwart-
länder übermittelt den Wunsch, und am 27. Janu-

Tipps und Tools

harter Schlag für die WHO, denn die USA waren
noch im vergangenen Jahr ihr größter Geldgeber.
Der Virus-Jäger Tedros ist mitten zwischen die
konkurrierenden Großmächte USA und China
geraten. Was ist dran an Trumps Vorwürfen gegen
journalisten ausweisen, weil der Regierung deren
kritische Covid-19-Berichterstattung nicht gefällt.
In Genf dagegen präsentiert sich China als ein
verlässlicher Partner. Tedros’ Stabschef Bernhard
Schwartländer kennt China gut, der deutsche Arzt
ar fliegt Tedros mit einer Delegation nach China.
Die Bilder, wie er Präsident Xi Jinping in Peking
die Hände schüttelt, gehen um die Welt. Erneut
lobt der WHO-Chef Chinas »Engagement und
Transparenz, die es demonstriert hat«. In den­

ihn? Um das zu verstehen, muss man sich die Ereig-
nisse in Genf zu Beginn des Jahres anschauen.
Hätte die WHO durch eine frühe Warnung
Schlimmeres verhindern können?
hat lange das WHO-Büro in Peking geleitet. Seit
Beginn der Krise ist er in engem Kontakt mit dem
chinesischen Botschafter. »China hat uns das­
Genom des Virus in Rekordzeit identifiziert und
übermittelt. Das hat die Welt noch nicht gesehen.«
Bei Sars hat es 2003 noch ein Vierteljahr gedauert,
für Lehrkräfte
Augen der Welt ist Tedros damit auf die Größe
eines Feigenblattes geschrumpft.
Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungs-
programms, sieht das anders. »Die WHO muss zu
jeder Zeit die Kooperation mit den Mitgliedsstaaten
aufrechterhalten und sicherstellen, dass ein Land den

und Schulen
Am Nachmittag des 22. Januar ruft Tedros das Not- ehe China die ersten Fälle meldete. Einen Test auf Informationsfluss nicht abbricht«, sagt Deutschlands
fallkomitee in den Keller des WHO-Gebäudes. Dort Sars-CoV-2 dagegen gab es innerhalb von zwei ranghöchster UN-Diplomat. Funktionäre müssten
liegt das Strategic Health Operations Center, die Tagen, und die WHO begann mit der Verteilung. »täglich abwägen, wann Kritik vor der Kamera oder
Kommandozentrale der Virus-Jäger. Hier wird be- Die Machthaber in Peking wissen, dass die in- hinter geschlossener Tür am effektivsten ist«. 
wertet, wie gefährlich das Virus für die Welt ist. Die ternationale Gemeinschaft gerade führungslos ist. Tedros weiß schon vor seinem Treffen mit Xi, dass

entdecken
meisten Komiteemitglieder erscheinen auf Bild- Institutionen, die Amerika nach dem Zweiten Welt- er zwei Tage später erneut sein Notfallkomitee zu-
schirmen, die an den Wänden hängen, andere sind krieg gegründet und lange angeführt hat, sind sammenrufen wird, früher als geplant. In der Nacht
über abhörsichere Telefonleitungen zugeschaltet. Donald Trump ein Klotz am Bein. Aus vielen hat er zum 27. Januar ist bekannt geworden, dass eine
Insgesamt 15 Experten aus der ganzen Welt. Tedros sich zurückgezogen: aus dem Pariser Klimaabkom- Chinesin auf einer Konferenz in Bayern vier deutsche
will von ihnen wissen, ob er eine »gesundheitliche men, dem Menschenrechtsrat, der Unesco. Die Nato Kollegen angesteckt hat. Es ist der fehlende Beweis
Notlage internationaler Tragweite« ausrufen muss. hat er infrage gestellt, und nun eben die WHO. dafür, dass das Virus leichter als gedacht übertragen
Der Informationsstand ist an diesem Nachmittag Während Amerika bei Aids und Ebola den Kampf werden kann. Tedros will die Chinesen darauf vor-
noch schwammig. Am 31. Dezember meldeten die anführte, seien die US-Behörden nun extrem vor- bereiten, dass es diesmal, auch gegen ihren Wider-
Chinesen der WHO Fälle einer unbekannten Lun- sichtig in ihrer internationalen Zusammenarbeit, stand, ernst werden könnte. Am 30. Januar beschließt
generkrankung, so wie es die internationalen Regeln sagt ein WHO-Mitarbeiter. Experten, die einfach
verlangen. Am 12. Januar veröffentlichten sie das fachlich arbeiten wollen, wie der weltweit angese-
das Notfallkomitee, den weltweiten Gesundheitsnot-
stand auszurufen. 16 Tage später reist ein WHO-
g.co/schulevonzuhause
Genom des Coronavirus, das später den Namen Sars- hene Impfspezialist Rick Bright, werden gefeuert. Ärzteteam nach China. Trotz der geopolitischen
CoV-2 erhält. Weltweit beginnt die Entwicklung von China besetzt mit der WHO eine weitere Lücke, Verwerfungen erreicht Tedros, dass zwei Amerikaner
Tests, Arzneien und Impfungen. Doch zu diesem die Amerika hinterlassen hat. Der deutsche UN-Bot- dabei sind. Der beachtliche Sieg verpufft jedoch in
Zeitpunkt hat die WHO noch kein Team nach schafter Christoph Heusgen erlebt das seit Jahren. einer Öffentlichkeit, in der Twitter die Regeln der
Wuhan entsenden können. Lediglich kurze Besuche »Durch gezielte Postenbesetzungen versucht China Diplomatie auf den Kopf zu stellen droht.
aus dem Regionalbüro der WHO sowie aus Anrai- Einfluss zu gewinnen und das multilaterale System Als Trump Tedros Anfang April beschuldigt, ver-
nerstaaten lassen die Chinesen zu. Unter den Augen beispielsweise im Menschenrechtsbereich anzugrei- sagt zu haben, sammeln WHO-Teams in Genf und
eines Regierungsbeamten dürfen die Experten mit fen.« Auch die Kooperation mit den Virus-Jägern 150 Länderbüros schon seit Wochen Daten, beraten
Ärzten und Krankenschwestern in Wuhan sprechen, gehört zu der Strategie. Nachdem Trump verkündet Mitgliedsstaaten, koordinieren Regierungs- und
die die zu diesem Zeitpunkt insgesamt 410 Corona- hatte, künftig die Beitragszahlungen an die WHO Hilfsorganisationen. Dreimal pro Woche gibt Tedros
Patienten behandeln. von jährlich rund 400 Millionen Dollar zu stoppen, in globalen Pressekonferenzen Auskunft. Ein Spen-
Der Mediziner Kenneth Chuang war mit einer erklärte China, 30 Millionen zusätzlich zu zahlen. denfonds ist aufgelegt und mit dem »Solidarity Trial«
Gruppe aus Taiwan vor Ort. Er habe gefragt, ob ein Trump und Chinas Präsident Xi Jinping wissen, eine global koordinierte Forschungsanstrengung für
Überspringen des Virus vom Menschen zum Men- dass die WHO beim Geld sehr verwundbar ist. die beste Therapie ins Leben gerufen worden. Mehr
schen festgestellt worden sei. So erzählt Chuang es Nicht nur Epidemien soll sie bekämpfen, sondern als 1,5 Millionen Testkits, 800.000 Gesichtsmasken,
später am Telefon. Der Beamte habe das zuerst ver- auch Gesundheitsrisiken von Luftschadstoffen oder Schutzkleidung und Informationsmaterial hat Tedros
neint. »Wir haben die Frage noch mehrmals um- Chemikalien prüfen. Auch weil sie damit in die in rund 120 Länder versenden lassen.
formuliert«, sagt Chuang. Schließlich habe der Be- Souveränität von Staaten und Unternehmen ein- Trump dagegen hat den gesamten Februar ver- Mit Inhalten zahlreicher Partner:
amte eingeräumt, ausschließen könne man es nicht. greift, wurden ihre Mittel seit den Neunzigerjahren streichen lassen. Er ordnete in dieser Zeit zur Be-
Auch die WHO-Ärzte kommen mit der­ drastisch beschnitten (siehe Grafik). Für ihre welt- kämpfung des Virus lediglich an, Flüge nach China
Erkenntnis zurück: Es gibt deutliche Hinweise auf weite Arbeit steht der WHO mit rund 2,5 Milliar- und später Europa auszusetzen. Eine der wenigen
eine Ansteckung von Mensch zu Mensch. Wie­ den Euro jährlich kaum mehr Geld zur Verfügung Maßnahmen, die die WHO ausdrücklich nicht
genau sie passiert, ist jedoch unklar. Wissen die als dem Genfer Universitätsklinikum. Nur über ein empfiehlt. Denn das Wichtigste für die Viren-Jäger
Chinesen mehr, als sie sagen? Kein Land möchte die Fünftel davon kann sie frei verfügen. Der Rest fließt ist, dass die Welt zusammenarbeitet. »Man kann das
ZEIT-Grafik: apps.who.int

Ursache für einen weltweiten Katastrophenfall sein. in Programme, über die Unternehmen, Stiftungen Virus nicht allein in seinen eigenen Grenzen­
Das Stigma und die wirtschaftlichen Folgen möch- und Regierungen entscheiden. Auch in dieser­ bekämpfen«, sagt Stabschef Bernhard Schwartlän-
te jeder vermeiden. Hätte die WHO vor dem chine­ Abhängigkeit muss sich Tedros bewegen. der. »Es kommt von außen immer wieder zurück.«
sischen Neujahr eine Reisewarnung herausgeben Seit 2017 ist Tedros Chef der WHO. Er ist der
und Schlimmeres vermeiden können? erste Afrikaner, der den Posten besetzt. Weil China AA www.zeit.de/audi
22 WIRTSCHAFT
»Wir haben nichts dagegen,
wenn weniger gekauft wird«
DIE ZEIT: Herr Birken, wann waren Sie zuletzt
beim Friseur?
Alexander Birken: Vor acht Wochen ungefähr. Al-
lerdings habe ich einen Freund, der Haare schnei-
den kann und Corona schon hinter sich hat. Der
hat das bei uns im Badezimmer gemacht.
ZEIT: Viele Ihrer Kunden mussten sich anders
behelfen, otto.de hat in den letzten Wochen so
viele elektrische Haarschneider verkauft wie nie
zuvor. Waren Sie überrascht, was die Menschen
plötzlich bestellen?
Birken: Bei dem ein oder anderen Produkt schon,
aber vieles ist nachvollziehbar: Spielwaren, digitale
Geräte. Was erstaunlich war: wie groß der Bedarf an
Waschmaschinen, Kühl- und Gefriergeräten ist. Bei
den Gefriergeräten hatten wir ein Plus von 300
Prozent. Fashion und Badekleidung wurden deut-
lich weniger nachgefragt, dafür sehr viel bequeme
Textilprodukte. Die Menschen verschönern jetzt ihr
Haus, davon profitieren Unternehmen wie Otto,
Baur oder Manufactum massiv. Die Gärten in
Deutschland waren wahrscheinlich noch nie so ge-
pflegt wie heute. Allerdings ändern sich die Wün-
sche der Kunden gerade von Woche zu Woche.
ZEIT: Wie gut können Sie darauf reagieren?
Birken: Das ist sehr unterschiedlich. Die meisten
Waren konnten wir stabil liefern. Einzelne Pro-
dukte waren auch mal ausverkauft, und wir kön-
nen sie auch weltweit nicht besorgen, weil Waren-
ströme unterbrochen sind.
ZEIT: Sind Sie ein Corona-Krisengewinner?
Birken: Natürlich waren wir die letzten Wochen
im Vergleich mit rein stationären Händlern privi-
legiert. Aber wir haben weltweit auch etliche La-
dengeschäfte, deren Schließung uns getroffen hat.
Und wenn der Online-Handel nur in einigen
Segmenten gut läuft, in anderen aber gar nicht,
dann trifft uns das ebenfalls. Bei der Saisonmode
etwa müssen wir uns auf hohe Rabatte einstellen.
Hinzu kommen die gestiegenen Kosten durch die
gesundheitliche Vorsorge für Mitarbeiter und
Kunden, die wir sehr ernst nehmen.
ZEIT: Was heißt das unter dem Strich für Ihr Ge-
schäft – gewinnen Sie in dieser Krisenphase dazu?
Birken: Da bin ich vorsichtig optimistisch. Wir
glauben, mittelfristig sogar gestärkt aus der Krise
hervorzugehen.
ZEIT: Warum die Vorsicht?
Birken: Die Konsumkonjunktur ist auf einem his-
torischen Tiefstand. Die Nachfrage wird erst nach
und nach zurückkehren. Und auch auf der Ange-
botsseite bekommen wir Probleme. In China läuft
die Produktion wieder an – aber Indien und Bang­
ladesch etwa sind in einem kompletten Shutdown.
Wir werden in eine kräftige Rezession kommen,
und sie wird nicht auf dieses Jahr beschränkt sein.
ZEIT: Nehmen Sie staatliche Hilfen in Anspruch?
Birken: Für einige wenige Mitarbeiter unserer sta-
tionären Läden hierzulande hatten wir Kurzarbeit
beantragt, etwa bei Frankonia und Manufactum.
ZEIT: Warum brauchen Sie eine Subvention,
wenn etliche Unternehmensbereiche gut laufen?
Birken: Wir nehmen keine Subventionen an, son-
dern haben – wie unsere Konkurrenten – für einige
Kollegen, die durch die sicherlich notwendigen
Maßnahmen derzeit leider keine Beschäftigung
haben, Hilfen in Anspruch genommen. Wir alle
haben kein Geld zu verschenken.
ZEIT: Wollen Sie staatliche Kredite aufnehmen?
Birken: Auch für uns hängt alles davon ab, wie
lange die Krise anhält. Wir haben einen In­ves­ti­
tions- und Einstellungsstopp ausgesprochen, und
ich kann nicht ausschließen, dass wir zu einem
W
issen Sie, warum der Himmel
blau ist? Warum Fußballroboter
nicht zwischen Ball und Man-
darine unterscheiden können?
Wer der Stie­ fel­
olm ist? Nein?
Dann haben Sie wohl nicht gut aufgepasst.
Solche Fragen beantwortet der Westdeutsche
Rundfunk (WDR) in der Sendung mit der Maus
seit bald 50 Jahren. Normalerweise läuft die Maus
am Sonntagmorgen im Ersten, durchschnittlich
zwei Millionen Kinder sitzen dann vor dem Fern-
seher. In Corona-Zeiten gibt es die Maus seit dem
18. März sogar jeden Tag um 11.25 Uhr. Doch
leider soll damit nach dem 30. April wieder Schluss
sein. Der WDR begründet das damit, dass in eini-
gen Ländern die Schule wieder losgeht. Aber eben
nicht für alle, und deshalb ist die Entscheidung ein
Jammer. Denn der öffentlich-rechtliche Sender
verkürzte mit der Maus Eltern wie Kindern die
Alexander Birken, Chef der Otto Group, über die gewissen Zeitpunkt auch ein KfW-Darlehen be-
antragen. Auch dies wäre keine Subvention.
Konsumwünsche der Deutschen, die Konkurrenz mit ZEIT: Zahlen Sie noch Ihre Mieten?
Amazon und die Klimaziele des Unternehmens Birken: Unsere Vermieter kommen uns in vielen
Fällen entgegen und sagen: Wo ihr wirklich kein
Geschäft mehr machen könnt, teilen wir das Leid.
Das ist ein sehr fairer Umgang mit­ein­an­der.
ZEIT: Als Adidas seine Mietzahlungen einstellte,
gab es Empörung. Was ist an Ihrem Fall so anders?
Birken: Das kann ich nicht beurteilen. Aber wir
haben nicht nur unsere Lage im Blick. Vermieter,
deren Existenz an den Einnahmen hängt, bezahlen
wir natürlich vollständig.
ZEIT: Was ist mit Ihren Lieferanten?
Birken: Da übernehmen wir Verantwortung, be-
sonders für unsere Geschäftspartner in Entwick-
lungs- und Schwellenländern. Wir werden bei-
spielsweise keine bestellten Waren stornieren, die
bereits gefertigt wurden. Auch den Arbeiterinnen
in den Produktionsländern wollen wir in der Krise
konkret helfen, es gibt im Entwicklungsministerium
­Ideen für einen Rettungsschirm für Lohnausfälle,
an dem wir uns beteiligen würden. Indische Wan-
derarbeiter und afrikanische Baumwollbauern un-
terstützen wir mit Hilfspaketen. Für diese Men-
schen geht es schlicht ums Überleben.
ZEIT: Lassen Sie uns darüber sprechen, was nach
der Krise bleibt. Verstehen Sie die Wut der Einzel-
händler, die nun noch mehr fürchten, vom On-
line-Handel überrollt zu werden?
Birken: Ich verstehe, dass stationäre Händler derzeit
massiv leiden, ganz besonders, wenn sie noch im-
mer nicht oder nur teilweise öffnen können. Wenig
Verständnis habe ich dafür, wenn die Ladeninhaber
die Schuld nur beim Online-Handel suchen. Wir
haben derzeit tatsächlich viele Neukunden, die frü-
her vor allem in stationären Läden eingekauft ha-
ben. Aber die Menschen ändern ihr Verhalten nicht
erst seit der Corona-Krise. Deshalb sind wir seit
vielen Jahren dabei, unsere Geschäftsmodelle welt-
Foto: Henning Kretschmer für DIE ZEIT; Illustration: Trickstudio Lutterbeck/WDR (u.)
weit zu digitalisieren. Das müssen andere Händler
auch längst tun. Wir bieten mit otto.de auch eine
Plattform an, wo sie zu fairen Bedingungen ihre
Produkte bei uns anbieten ­können.
ZEIT: Damit sind Sie spät dran, Amazon hat das
lange vorgemacht. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Birken: Der Aufbau der Plattform läuft nach Plan,
einiges war technologisch eine Herausforderung,
aber auch kulturell. Plötzlich lassen wir so etwas zu
wie die Konkurrenz mehrerer Händler mit dem
gleichen Produkt auf unserer Seite. Das war ein
großer Schritt im Selbstverständnis. Aber es zahlt
sich aus. Bislang nutzen rund 500 Händler das
Angebot, in diesem Jahr werden wir 1000 zusätz-
lich aufnehmen. Die Kunden nehmen das gut an.
ZEIT: Wie groß ist die Gefahr, dass Sie mit otto.de
dennoch von Amazon verdrängt werden?
Birken: Da habe ich wenig Sorgen. Sieben Millio-
nen Kunden kaufen aktuell bei Otto, seit zehn
Jahren wachsen unsere Umsätze. In einigen Berei-
chen wie Möbel und Wohnaccessoires sind wir
absoluter Marktführer. Hinzu kommt: Wir spü-
»Wir setzen uns nicht erst seit Greta Thunberg ren, dass es für unsere Kunden wichtiger wird, bei
einem persönlichen, fairen und nachhaltigen Un-
mit Nachhaltigkeit auseinander« ternehmen zu kaufen. Und dafür stehen wir.
ZEIT: Starke Worte – dabei ist immer wieder zu
Alexander Birken, 55, ist Vorstandschef der Otto Group – dazu gehören neben Otto, hören, Unternehmen seien gar nicht in der Lage,
dem nach Amazon größten Online-Händler Deutschlands, auch Firmen wie About You, die Bedingungen entlang ihrer Lieferkette zu kon-
Bonprix und Manufactum. Der Konzern erzielte im vergangenen Jahr einen Umsatz von trollieren. Wie stellen Sie das sicher?
rund 14 Milliarden Euro und beschäftigt weltweit mehr als 50.000 Mitarbeiter Birken: Alle unsere Lieferanten durchlaufen eine
umfangreiche Überprüfung; wer mehrfach eine
schlechte Bewertung bekommt, mit dem arbeiten
wir nicht mehr zusammen. Selbstverständlich kön-
Aus die Maus
In den vergangenen Wochen gab es die »Sendung mit der Maus« täglich.
Warum nur kann das nicht noch eine Weile so weitergehen?  VON INGO MALCHER
langen Tage zu Hause und machte beide gleicher- Caspers hat die Antworten. »Wenn man etwas ver- die machen Spucke. Und damit die Zellen auch
maßen ein wenig schlauer. steht«, sagt er, »dann hat man weniger Angst.« wissen, was sie in unserem Körper machen sollen, hat
Als die Krippen, Kitas und Schulen in Deutsch- Wobei Erwachsene, die von Kindern auf jede Ant- jede Zelle eine Anleitung dabei, das ist wie ein Bau-
land geschlossen wurden, fühlte man sich in Köln wort ein neues »Warum?« gehört haben, bis sie selbst plan.« Der Bauplan – das Erbgut – ist bei Caspers ein
»gefordert«, sagt Joachim Lachmuth, der Maus- ratlos waren, wissen, dass es nicht immer leicht ist, roter Zettel. Dann kommt das Virus. Das ist bei
Redakteur. Er fand: »Mit dem, was wir haben und Kinderfragen zufriedenstellend zu beantworten. Wenn Caspers ein zerknülltes Papierblatt, in dem er einen
können, sind wir in der Lage, jetzt zu helfen und es darum geht, wie ein Virus im Körper andere Zellen weiteren roten Zettel versteckt, das Erbgut des Virus.
ein begleitendes Programm anzubieten.« Es gab infiziert, ist das besonders schwer. Caspers hatte bei Wenn das Virus nun den Körper befällt, erklärt Cas-
klassischen Maus-Stoff, den man aus dem Archiv der Antwort auf diese und andere Fragen aber noch pers, tauscht es die beiden roten Zettel. Und auf dem
holte (Wie funktioniert ein Saugbagger? Wie­ ein weiteres Problem. Weil auch WDR-Mitarbeiter Zettel, den das Virus der Zelle dann untergeschoben
werden Croissants gebacken?), und vor der Sen- angehalten sind, nicht ins Büro zu kommen, saß er zu hat, steht jetzt: »Mach Coronaviren!«
dung beantwortete der Moderator Ralph Caspers Hause fest. Also filmte er sich mit dem Mobiltelefon Caspers sagt: »Wir wollen alles, was die Erwach-
21-mal Fragen von Kindern zu dem neuen Virus. und bastelte alle Modelle, die er zum Erklären braucht, senen über Viren wissen, in einer Sprache erzählen,
Er machte das so wunderbar, dass man sich selbst. »Ich habe tatsächlich viel zu Hause rumliegen, die auch jüngere Menschen verstehen können.« In
wünschte, er würde es abends vor der Tagesschau was ich jetzt gut nutzen konnte«, sagt er. der Corona-Zeit haben sich denn auch die Zugriffs-
noch mal für die Erwachsenen wiederholen. Das sieht dann so aus: Um zu zeigen, wie das zahlen der Maus-­Web­site etwa verdreifacht.
Kinder haben viele Fragen. Wie befällt das Virus Virus im Körper wirkt, bastelt Caspers eine Papier- Mit Caspers’ Hilfe verstehen Kindern besser,
den Körper? Was sind Hamsterkäufe? Warum sollte schachtel, das ist die Zelle. Er erklärt: »Es gibt Zellen, warum Händewaschen gegen Viren hilft und wa-
man Oma und Opa gerade nicht besuchen? Und die stellen beispielsweise Haare her, es gibt Zellen, rum sie besser in die Armbeuge niesen sollen. Au-
29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19
nen wir sicherstellen, dass dort unter vernünftigen
Bedingungen gearbeitet wird – und das seit vielen
Jahrzehnten.
ZEIT: Ist das Argument also nur vorgeschoben,
dass dies gar nicht möglich ist?
Birken: Nein. Das ist wirklich anspruchsvoll, und
es kostet Geld, das zu investieren nicht jeder bereit
ist. Und natürlich gibt es eine Grenze, wenn wir an
die Subunternehmer oder die Zulieferer der Sub-
unternehmer unserer Lieferanten denken. Aber
zumindest für unsere direkten Geschäftspartner
können wir das sicherstellen, und wir versuchen
auch, die Ebene darunter zu durchleuchten.
ZEIT: Was ist mit den Produkten der Händler,
denen Sie Ihre Plattform zur Verfügung stellen?
Birken: Auch an sie stellen wir diese Anforderung
und überprüfen diese Dinge.
ZEIT: Sie haben erklärt, bis 2030 klimaneutral
werden zu wollen. Gefährdet die Corona-Krise
Ihre Klimaziele?
Birken: Nein. Den Start zusätzlicher, sehr ehrgeizi-
ger Maßnahmen haben wir für ein paar Monate
verschoben, weil Krisen- und Gesundheitsmanage-
ment kurzfristig Priorität haben. Aber unsere Werte
haben sich durch die Krise nicht geändert, wir se-
hen das seit 1986 als unsere Verantwortung an.
ZEIT: Klimaneutralität haben auch viele andere
Unternehmen in Aussicht gestellt, dahinter ver-
bergen sich dann aber sehr unterschiedliche Rech-
nungen. Wie lautet sie bei Ihnen konkret?
Birken: Unsere Handschrift zeigt sich bei dem,
was wir schon umgesetzt haben: Wir haben un­
sere CO₂-Emissionen von 2006 bis 2020 um
50 Prozent reduziert.
ZEIT: Sind da auch die Emissionen eingerechnet,
die bei der Herstellung der Ware anfallen?
Birken: Nein, das sind sie bei allen Händlern nicht.
Wir haben darüber mit mehreren NGOs diskutiert,
das zu berechnen ist seriös nicht möglich. Wir re-
duzieren dort, wo wir selbst steuern können: bei
den Gebäuden, der Technologie, der Logistik in-
klusive der Fahrzeuge, der Lieferung aus Fernost in
die Lagerstätten nach Amerika und Europa und
beim Verschicken von Produkten an unsere Kun-
den. Dort in den nächsten zehn Jahren auf null
Emissionen zu kommen wird sehr anspruchsvoll.
ZEIT: Welche Rolle spielen Zertifikate für eine
Kompensation dabei?
Birken: Bei den 50 Prozent, die wir schon geschafft
haben: gar keine. Wir planen für die kommenden
zehn Jahre mit echten CO₂-Einsparungen. Aber
wenn wir alles andere ausgeschöpft haben, werden
wir wohl darauf zurückgreifen müssen.
ZEIT: Glauben Sie an die These, dass die Krise die
Menschen zu mehr Genügsamkeit und einem be-
wussteren Konsum führt?
Birken: Ich glaube an diesen Trend und begrüße
ihn. Unser Unternehmen setzt sich nicht erst seit
Greta Thunberg mit Verantwortung und Nach-
haltigkeit aus­ein­an­der, sondern seit Jahrzehnten.
ZEIT: Ist Konsumverzicht nicht bedrohlich für Sie?
Birken: Wir haben nichts dagegen, wenn weniger
gekauft wird, dafür qualitativ hochwertiger. Zu-
dem experimentieren wir in vielen Bereichen zum
Beispiel damit, auch gebrauchte Ware anzubieten.
Deshalb werden die neuesten Fashion-Produkte
nicht verschwinden. Aber auch wer sich gerade
etwas Neues gönnt, wird mehr und mehr erwarten,
dass die Ware unter vernünftigen ökologischen
und sozialen Bedingungen hergestellt wurde. Da-
rin steckt für uns eine ­Chance.
Das Gespräch führte Simon Kerbusk
ßerdem tut es ganz gut, im Restprogramm mal
von was anderem als Corona zu hören. Es kann ja
auch nicht schaden, zu erfahren, wie man Gummi­
stiefel herstellt.
Insofern ist es schwer zu verstehen, dass der WDR
das tägliche Sonderprogramm nun wieder einstellt.
Kita-Kindern und allen Schulkindern, die weiter zu
Hause bleiben müssen, fehlt dann eine feste tägliche
Verabredung, bei der ihnen die Welt begreiflicher
gemacht wird und ihnen ein Kapitän Geschichten
erzählt wie die vom Stie­fel­olm, dem »Schrecken aller
Angler von Rio bis Shanghai«. Auf solche Geschich-
ten müssen sie jetzt bis Sonntag warten.
Und daher holen wir das Ensemble des kleinen
Welterklärtheaters noch einmal vor den Vorhang
für einen dankbaren Applaus: den Elefanten,
Shaun das Schaf, Charlie und Lola, Käpt’n Blaubär
und natürlich Ralph und die Gastgeberin, die
Maus.
ANZEIGE
5G geht in die Fläche. Mit neuen Frequenzen,
die viel weiter reichen als bislang
Hohe Reichweite, starke Versorgung: Vodafone startet als
erster Netzbetreiber in Deutschland den 5G-Ausbau in der Fläche
und bringt bis Ende des Jahres 5G für 10 Millionen Menschen.
Möglich macht das auch die neue Netz-Intelligenz Dynamic
Spectrum Sharing, von der auch 4G|LTE-Kunden profitieren.
Mit 700 MHz
bekommt 5G
mehr Reichweite
vodafone.de/netz
Vodafone GmbH • Ferdinand-Braun-Platz 1 • 40549 Düsseldorf • vodafone.de
D
as Coronavirus hat Deutschland im Griff. Metro-
polen sind zur Sperrzone geworden, das öffentli-
che Leben steht still. Die vergangenen Wochen
haben mehr denn je gezeigt, wie wichtig stabile
Netze sind: Nur so konnten und können Homeoffice, Video-
calls, Streaming und Co problemlos funktionieren. Kein
Zweifel – stabile Netze halten Deutschland am Laufen. Denn
in der Coronakrise rauschen mehr Daten durch die Netze.
Auch in Meschede. Viele Einwohner der Gemeinde im Hoch-
sauerlandkreis standen hier bislang auf dem digitalen Stand-
streifen, klagten lange Zeit über eine geringe Internet-Ge-
schwindigkeit und Funklöcher. Doch nun versorgt eine
Mobilfunkstation von Vodafone die Bevölkerung auf einer
Fläche von 20 Quadratkilometern mit dem neuen Netzstan-
dard 5G. Möglich machen das die 700-Megahertz-Frequen-
zen. Dieses sogenannte ULF-Band (Ultra Low Frequency) ist
aufgrund hoher Reichweite und guter Gebäudeversorgung
optimal für die Versorgung von mobilem Breitband-Internet
in der Fläche geeignet.
In den nächsten zwölf Monaten schaltet Vodafone mithilfe
der 700-Megahertz-Frequenzen mehr als 8.000 Antennen
an ca. 2.800 Standorten in Deutschland für 5G frei. Zum
Vergleich: Eine Mobilfunkstation, die im 3,5-Gigahertz-
Bereich funkt, bringt 5G auf einem Durchmesser von bis zu
einem Kilometer zum Kunden. 5G auf 700 Megahertz be-
sitzt demzufolge eine fünfmal höhere Reichweite als 5G mit
3,5 Gigahertz. „Deutschland braucht den optimalen Mix aus
Bandbreite und Reichweite. Wir bringen 5G in diesem Jahr
für Millionen Menschen in die Städte und aufs Land“, erklär-
te Vodafone-Chef Hannes Ametsreiter beim Start des
5G-Flächenausbaus in Meschede.
Der Flächenausbau ist sowohl für Kunden mit 5G-Smart-
phones als auch Nutzer von 4G-Handys nützlich. Denn:
Vodafone aktiviert als erster Anbieter in Deutschland die
intelligente Mobilfunktechnologie Dynamic Spectrum
Sharing (DSS) im Netz. DSS klingt technisch und sperrig,
bedeutet aber ganz praktisch, dass sich zwei Netzgenerati-
onen ein Frequenzspektrum intelligent nach Bedarf teilen,
GIGA
des Monats
ohne dass die Frequenz für einen Nutzer gesperrt wird. Auf Wir bauen schnelles
diese Weise werden das 4G- und das 5G-Netz gleichzeitig
ausgebaut. Je nach Bedarf stellt die jeweilige Antenne naht- Netz für alle Kunden.
los 4G oder 5G zur Verfügung. Für die Technik-Fans mit
Der Kunde erhält das Netz, das er benötigt. Und 5G wird 5G-Smartphones und für
schneller für mehr Menschen verfügbar. die vielen Menschen, die
Das intelligente Netz bietet vor allem zuhause viele Vortei- aktuell noch LTE-Smart-
le: Die Menschen profitieren, weil das 5G-Signal auf 700 phones nutzen.
Megahertz in Häusern stärker verfügbar ist als bisher. Mit bis
zu 200 Megabit pro Sekunde wird 5G so zum deutlich Gerhard Mack,
schnelleren Ersatz für langsame DSL-Leitungen in ländli- Vodafone-Technik-Chef
chen Regionen, wo bis heute oftmals nur Geschwindigkei-
ten von maximal 6 Megabit pro Sekunde möglich gewesen
sind. Mit dem neuen 5G GigaCube (Vorbestellung ab sofort,
ab 6. Mai verfügbar) bietet Vodafone auch einen neuen,
mobilen Router an, der die neuen Frequenzen unterstützt
und das 5G-Signal in ein offenes WLAN umwandelt.
Der Flächenausbau der neuen Mobilfunkgeneration ist ein
wichtiger Schritt in die Digitalisierung Deutschlands. Denn:
Der 5G-Ausbau ermöglicht künftig minimale Latenz in Mil-
lisekunden und wird deshalb entlang von Landstraßen und
Autobahnen ein wichtiger Baustein für das vernetzte Fahren.
Übrigens: Aufgrund der hohen Reichweite ist bei 5G auf 700
Megahertz kein dicht gedrängter Antennenwald nötig.
In den vergangenen Monaten hat Vodafone als erster Netz-
betreiber das kommerzielle 5G-Netz gestartet und wichtige
Erfahrungen im 3,5-Gigahertz-Bereich gesammelt. 5G funkt
an ersten Stationen in mehr als 50 Städten und Gemeinden.
Die Standorte könnten unterschiedlicher kaum sein: Von
Berlin bis Usedom. Von Düsseldorf bis zum Baunatal. Von
München bis zur Wedermark. Jeder 5G-Standort hat ganz
eigene Herausforderungen. Und ganz unterschiedliche
Nutzergruppen. Deren Wünsche und Bedürfnisse fließen in
den Ausbau von 5G ein. Das mobile Netz der neuesten Ge-
neration geht nun mit neuen Frequenzen in die Fläche – und
zum Start bringt Vodafone neue 5G-Smartphones und
5G-Router für alle auf den Markt.
Lesen Sie mehr unter
vodafone.de/netz
Mehr Netz
für Deutschland
Vodafone treibt den 5G-Ausbau
deutschlandweit voran: Als erster
Anbieter bringen wir 5G in die
Fläche. 700-MHz-Frequenzen sor-
gen für ein stabiles Netz mit hoher
Reichweite – auch in ländlichen
Regionen. Und als erster Betreiber
machen wir mit Dynamic Spec-
trum Sharing unsere Antennen
flexibel für 4G|LTE und 5G nutzbar.
So erreicht unser 5G-Netz bis Ende
des Jahres 10 Millionen Menschen.
Ready?
24 WIRTSCHAFT 29. A P R I L 2020 DIE ZEIT No 19

Live-Unterhaltung
in Deutschland:
27 % aller Umsätze
(1,3 Mrd. Euro)
entfallen auf
Nicht-Musik-Veranstaltungen

Bei vielen Konzerten

und anderen
Großveranstaltungen
ist Abstand
halten unmöglich
73 % aller Umsätze
(3,7 Mrd. Euro)
entfallen auf
Musik-Veranstaltungen

»Wir verkaufen Brot für die Seele«

Konzerte wurden wegen der Corona-Pandemie als Erstes verboten und werden wohl erst als Letztes wieder erlaubt.
Der Veranstalter Peter Schwenkow spricht über die Bedeutung der privat finanzierten Kultur – und darüber, wie sie zu retten ist

DIE ZEIT: Herr Schwenkow, welche Stars werden Künstler verfügbar sind. Vor dem Frühjahr 2021 cket ergattert hatten. Warum sollten sie es zurück- tioniert ganz gut. Darlehen und sonstige KfW-­ tangel. Am Ende wird die Politik aber verstehen,

Fotos: Bartosz Ludwinski; ddp (u.); ZEIT-Grafik/Quelle: BDVK

Sie uns in diesem Jahr nicht präsentieren?
Peter Schwenkow: Wir werden Ihnen Iron Maiden
nicht zeigen, auch nicht Kiss, Simply Red, Anna
Netrebko und Disney on Ice. Bis jetzt haben wir
schon etwa 1100 geplante Veranstaltungen ins
nächste Jahr verschoben. Insgesamt betrifft das
etwa zwei Millionen Besucher.
ZEIT: Kann sich daran noch etwas ändern?
Schwenkow: Es ist noch nicht klar, wie es nach dem
31. August weitergeht. Berlin hat ja die Corona-
Beschränkungen bis zum 24. Oktober verlängert.
ANZEIGE
LESEN SIE IN UNSERER
AKTUELLEN AUSGABE:
wird sich wohl nichts wesentlich ändern.
ZEIT: Sie telefonieren also ständig mit Stars und
Konzerthallen und suchen neue Termine für 2021?
Schwenkow: Viele Künstler auf der ganzen Welt
haben gerade viele freie Termine. Wenn sich einer
eine Europatournee für den März vorstellen kann,
müssen wir eine Zeitspanne suchen, in die 20 Kon-
zerte in Deutschland, Italien, Spanien und Frank-
reich reinpassen. Bei den Konzerthallen wird der
Platz für nächstes Jahr schon langsam eng.
ZEIT: Wie gehen die Künstler mit der Krise um?
Schwenkow: Niemand ist auf andere wütend, weil
ja niemand für Corona verantwortlich gemacht
werden kann. Aber viele Künstler haben gerade
auch Angst ums Überleben. Mit 99,9 Prozent von
ihnen haben wir keine Probleme.
ZEIT: Und wer ist der problematische Rest?
Schwenkow: Die großen Stars sind das eher nicht.
Aber kleinere Künstler, die jetzt mindestens zwölf
geben, wenn das Konzert nur verschoben wird?
ZEIT: Falls es dabei bleibt. Gilt Ihr alter Spruch
noch: »Eine Eintrittskarte ist ein Versprechen«?
Schwenkow: Wir werden unsere Versprechen defi-
nitiv einlösen, nur eben später. Auch weil die
DEAG wahrscheinlich der einzige Veranstalter in
Europa ist, der komplett gegen die finanziellen
Folgen von Konzertausfällen versichert ist, teilweise
ist auch der Gewinnausfall versichert. Gegen alle
Risiken, also auch gegen Pandemien! Das war ganz
schön teuer. Aber uns und unseren Aktionären hat
das ruhigen Schlaf gebracht.
ZEIT: Groß kann Ihr Verlust ja nicht sein, wenn
alle Fans ihre Tickets bezahlt haben, Sie aber vor-
erst nichts von dem Geld an Stars oder Konzert-
häuser weiterreichen müssen.
Schwenkow: Doch! Wir tragen die Marketing­
kosten, die können bei großen Veranstaltungen
schnell sechsstellige Summen erreichen. Auch die
Mittel bringen in unserer Branche nicht viel, denn
die Kosten laufen ja weiter, und im nächsten Jahr
müssen die Konzerte dann stattfinden, und die
Darlehen müssen zurückgezahlt werden. Deswegen
müssen wir uns mit der Regierung noch einmal­
zusammensetzen.
ZEIT: Und das bedeutet?
Schwenkow: Wir sind Kulturunternehmer und ver-
kaufen Brot für die Seele. Aber nun haben wir
Backverbot! Im Jahr geben die Menschen in
Deutschland gut 5 Milliarden Euro für Musik- und
Unterhaltungsveranstaltungen aus. Das reicht von
den Berliner Philharmonikern unter Gustavo Du-
damel bis zu Disney on Ice, von Theatern und Le-
sungen bis hin zu Ed Sheeran. Dabei ist es in den
vergangenen 30 Jahren in der Kulturbranche zu
einer Art Arbeitsteilung gekommen.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Schwenkow: Ein Drittel aller kulturellen Angebote
dass unser Vorschlag besser ist, als die ganze etab-
lierte Struktur des Kulturbetriebs zu opfern. Die
Menschen werden sich irgendwann fragen, warum
sie ihre Konzerte nicht erleben können ...
ZEIT: ... aber zuvor müssten Sie erst mal erklären,
warum die »Mega-Tournee« von Dieter Bohlen
systemrelevant sein soll.
Schwenkow: Einzelne Konzerte sind nicht system-
relevant. Sie sind nur relevant für ihre Besucher.
Wir bieten Veranstaltungen an, die viele Menschen
sehen wollen. Für alles andere gibt es ja die sub-
ventionierte Kultur. Die kann es sich leisten, Thea-
ter auf die halbe Kapazität runterzufahren. Wir
sind systemrelevant, weil wir jenen Teil des deut-
schen Kulturbetriebs erhalten, der große Men-
schenmengen begeistert. Ich bin sicher, dass der
Staat diese Bedeutung erkennen wird.
ZEIT: Schauen wir etwas nach vorn. Wie könnte
ein Neustart in der Konzertbranche ablaufen?

Die Hybr