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Germanistik

Sprachwissenschaft
Literaturwissenschaft
Schlüsselkompetenzen

Heinz Drügh
Susanne Komfort-Hein
Andreas Kraß
Cécile Meier
Gabriele Rohowski
Robert Seidel
Helmut Weiß
(Hrsg.)
Germanistik
Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen

Herausgegeben von
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier,
Gabriele Rohowski, Robert Seidel und Helmut Weiß

Mit Beiträgen von Hans-Heino Ewers, Eric Fuß, Angela Grimm,


Agnes Jäger, Christian Metz, Petra Schulz, Regina Toepfer und Bernd Zegowitz

Mit 140 Abbildungen

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar


Die Herausgeber/innen
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
Robert Seidel und Helmut Weiß lehren am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik
bzw. am Institut für Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main (s. auch S. 493).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-476-02298-1
ISBN 978-3-476-00399-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00399-7
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
Vorwort XI

I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums 1

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder 3


1.1 Lesen 4
1.1.1 Was lesen Studierende? 4
1.1.2 Wissenschaftliche Texte lesen – Texte wissenschaftlich lesen 6
1.1.3 Wie lesen Studierende? 9
1.2 Reden und Präsentieren 11
1.3 Schreiben 13
1.3.1 Kleine Textsorten 14
1.3.2 Literatursuche 16
1.3.3 Die Hausarbeit 19
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen 24

II. Sprachwissenschaft 27

1 Einleitung 29

2 Grammatik 37
2.1 Phonetik und Phonologie 37
2.1.1 Einleitung 37
2.1.2 Phonetik 37
2.1.3 Phonologie 41
2.2 Morphologie 48
2.2.1 Einleitung 48
2.2.2 Grundbegriffe und Teilbereiche 49
2.2.3 Flexion 54
2.2.4 Wortbildung 57
2.3 Syntax 64
2.3.1 Einleitung 64
2.3.2 Satzgliedbau 65
2.3.3 Satzbau 70
2.3.4 Satzarten und komplexe Sätze 76

3 Semantik und Pragmatik 81


3.1 Einleitung 81
3.2 Evidenz für Bedeutungen 81
3.2.1 Paraphrasen 82
3.2.2 Sprecherurteile 83
3.2.3 Funktion von sprachlichen Ausdrücken 83
3.2.4 Was Bedeutungen sind … 84
3.3 Bedeutungsebenen 86
3.3.1 Ausdrucksbedeutung 87
3.3.2 Äußerungsbedeutung 89
3.3.3 Kommunikativer Sinn 94
3.3.4 Expressive und soziale Bedeutung 95

V
Inhaltsverzeichnis

3.3.5 Semantik-Pragmatik-Schnittstelle 96
3.4 Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten 96
3.4.1 Metonymie 97
3.4.2 Metapher 97
3.4.3 Lexikalische Mehrdeutigkeiten 98
3.4.4 Strukturelle Mehrdeutigkeiten 102
3.5 Bedeutungsbeziehungen 104
3.5.1 Bedeutungsbeziehungen zwischen Wörtern 104
3.5.2 Bedeutungsbeziehungen zwischen Sätzen 107
3.5.3 Kollokationen 108
3.6 Regeln der Sprachverwendung 108
3.6.1 Implikaturen 109
3.6.2 Sprechakte 113

4 Sprachgeschichte 121
4.1 Einleitung 121
4.2 Sprachwandel und seine Ursachen 122
4.2.1 Wer ändert Sprachen: Erwachsene, Jugendliche, Kinder? 122
4.2.2 Interne Ursachen 123
4.2.3 Externe Ursachen 123
4.3 Herkunft und Periodisierung des Deutschen 124
4.3.1 Herkunft und Verwandtschaft 124
4.3.2 Periodisierung und Binnengliederung 127
4.4 Phonologischer Wandel 129
4.4.1 Arten von Lautwandel 129
4.4.2 Überblick: Lautentwicklungen zum und im Deutschen 132
4.4.3 Ausgewählte Lautwandelphänomene 133
4.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel 135
4.5.1 Phonologisch bedingter morphologischer Wandel 135
4.5.2 Syntaktisch bedingter morphologischer Wandel 136
4.5.3 Morphologie-intern bedingter morphologischer Wandel 138
4.5.4 Lexikalischer Wandel 141
4.6 Syntaktischer Wandel 143
4.6.1 Wortstellungswandel 143
4.6.2 Verlauf und Ursachen syntaktischen Wandels 146
4.7 Semantischer Wandel 149
4.7.1 Quantitativer semantischer Wandel 149
4.7.2 Qualitativer semantischer Wandel 150
4.7.3 Ursachen semantischen Wandels 151

5 Spracherwerb 155
5.1 Einleitung 155
5.1.1 Einfluss von Anlage und Umwelt 155
5.1.2 Spracherwerbsforschung und Linguistik 157
5.2 Erstspracherwerb 157
5.2.1 Phonologieerwerb 159
5.2.2 Wortschatzerwerb 160
5.2.3 Erwerb der Syntax und Morphologie 161
5.2.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 162
5.3 Früher Zweitspracherwerb 164
5.3.1 Phonologieerwerb 164
5.3.2 Wortschatzerwerb 165
5.3.3 Erwerb der Morphologie und Syntax 166

VI
Inhaltsverzeichnis

5.3.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 166


5.4 Sprachentwicklungsstörungen 167
5.4.1 Phonologische Störungen 167
5.4.2 Lexikalische Störungen 168
5.4.3 Syntaktische und morphologische Störungen 168
5.4.4 Semantische und pragmatische Störungen 169
5.4.5 Mögliche Ursachen von SSES 169
5.4.6 Spezifische Sprachentwicklungsstörung im frühen Zweitspracherwerb 170

III. Literaturwissenschaft 173

1 Literaturtheoretische Grundbegriffe 175


1.1 Text und Textverstehen 175
1.1.1 Text 175
1.1.2 Textverstehen 176
1.2 Literatur/Literarizität und Fiktionalität 180
1.2.1 Was ist Literatur? 180
1.2.2 Fiktionalität 182
1.2.3 Literarizität 183
1.3 Intertextualität 186
1.3.1 Texttheoretischer Ansatz 187
1.3.2 Textdeskriptive Ansätze 188
1.4 Rhetorik und Poetik 190
1.4.1 Rhetorik 191
1.4.2 Poetik 193
1.4.3 Literarische Stilistik 194

2 Medientheoretische Grundbegriffe 197


2.1 Literatur und auditive Medien 197
2.1.1 Stimme und Schrift 197
2.1.2 Akustische Aspekte der Literatur 199
2.1.3 Literarästhetik und Musik 201
2.2 Literatur und Schriftmedien 203
2.2.1 Vom Papyrus zum Papier 203
2.2.2 Von der Handschrift zum Buchdruck 204
2.2.3 Die Entwicklung des Buchmarkts 205
2.2.4 Das Zeitungswesen 207
2.3 Literatur und Bildmedien 209
2.3.1 Text-Bild-Beziehungen 210
2.3.2 Literatur und Bildende Kunst 212
2.3.3 Literatur und Fotografie, Film und Fernsehen 213

3 Kleine Literaturgeschichte 217


3.1 Einleitung 217
3.1.1 Literaturgeschichtsschreibung 217
3.1.2 Zur Problematik literarhistorischer Periodisierung (Epochen) 219
3.2 Mittelalter 223
3.2.1 Althochdeutsche Literatur (770–900) 223
3.2.2 Frühmittelhochdeutsche Literatur (1050–1170) 229
3.2.3 Mittelhochdeutsche Literatur (1170–1220) 234
3.2.4 Spätmittelhochdeutsche Literatur (1220–1450) 245

VII
Inhaltsverzeichnis

3.3 Frühe Neuzeit 254


3.3.1 Humanismus 254
3.3.2 Barock 265
3.3.3 Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 276
3.4 Klassik und Romantik 288
3.4.1 Die Begriffe ›Klassik‹ und ›Romantik‹ 288
3.4.2 Ereignis- und Sozialgeschichte 291
3.4.3 Poetologie und Ästhetik 293
3.4.4 Gattungen 298
3.5 Das 19. Jahrhundert 311
3.5.1 Vormärz 311
3.5.2 Realismus 319
3.5.3 Naturalismus und Jahrhundertwende 327
3.6 Das 20. Jahrhundert 339
3.6.1 Avantgarde und Moderne (1910–1945) 339
3.6.2 Nachkriegsliteratur/Literatur nach 1968 359
3.6.3 Literatur nach 1989/Pop-Literatur 368
3.7 Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur 372
3.7.1 Aufbruch im 18. Jahrhundert 372
3.7.2 Märchenzauber und Moderne 373
3.7.3 Das Kinderbuch im Biedermeier 375
3.7.4 Jahrhundertwende und Weimarer Republik 376
3.7.5 Nachkriegszeit in Westdeutschland und Österreich 377
3.7.6 Die neue Kinder- und Jugendliteratur ab den 1970er Jahren 379
3.7.7 Jüngste Entwicklungstendenzen 380
3.7.8 Plurimedialität und Medienverbund 381

4 Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse 383


4.1 Einleitung 383
4.1.1 Gattung als Ordnungs- und Klassifikationsbegriff 383
4.1.2 Gattungen und (Literatur-)Geschichte 385
4.1.3 Gattungstheorie und (Literatur-)Geschichte: Vor und jenseits der Gattungstrias 386
4.2 Erzählende Literatur 388
4.2.1 Der Akt des Erzählens 388
4.2.2 Gattungen 391
4.2.3 Die Analyse erzählender Texte 394
4.2.4 Discours 394
4.2.5 Histoire 407
4.3 Lyrik 413
4.3.1 Grundlagen: Poetische Sprache 413
4.3.2 Grundbegriffe der Gedichtanalyse 415
4.3.3 Lyrische Einzelgattungen 429
4.4 Drama 433
4.4.1 Das aristotelische Dramenmodell und seine Strukturelemente 433
4.4.2 Modifikationen des aristotelischen Dramenmodells 441
4.4.3 Dramatische Einzelgattungen 450

5 Literatur- und kulturtheoretische Zugänge 453


5.1 Einleitung 453
5.2 Zeichen: Semiologische Zugänge 454
5.2.1 Das Fiktive und das Imaginäre 454
5.2.2 Kultursemiotische Perspektiven 455
5.2.3 Strukturalismus und Dekonstruktion 458

VIII
Inhaltsverzeichnis

5.3 Geschichte: Historiographische Zugänge 463


5.3.1 Kulturelle Erinnerung 463
5.3.2 Diskursgeschichte 466
5.3.3 Literatur und Historiographie 468
5.4 Kultur: Ethnologische Zugänge 471
5.4.1 Literaturwissenschaft und Ethnographie 471
5.4.2 Übergangsriten und Liminalität 473
5.4.3 Fremdheit und Inter-/Transkulturalität 474
5.5 Geschlecht: Gendertheoretische Zugänge 478
5.5.1 Psychoanalytische Grundlagen 478
5.5.2 Geschlechterforschung (Gender Studies) 479
5.5.3 Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) 481

IV. Anhang 483

1 Literaturverzeichnis 485
1.1 Sprachwissenschaft 485
1.2 Literaturwissenschaft 487
1.3 Schlüsselkompetenzen und Praxis 491

2 Abkürzungen 492

3 Die Autorinnen und Autoren 493

4 Abbildungsnachweis 494

5 Personenregister 495

6 Sachregister 501

IX
Vorwort

Vorwort
Diese Einführung in die Germanistik wurde von Zum anderen liegt ein Spezifikum des Bandes
Lehrenden der Johann Wolfgang Goethe-Universi- in der Verknüpfung von relativer systematischer
tät in Frankfurt am Main konzipiert und verfasst. Einheitlichkeit in der Materialdarbietung und er-
Sie richtet sich zunächst an Studierende der B. A.- kennbaren Divergenzen der von den verschiedenen
Studiengänge sowie der Lehramtsstudiengänge Autor/innen verfolgten methodischen und theore-
und ist ausdrücklich nicht nur für den Einstieg in tischen Ansätze. Während die Vergleichbarkeit des
das germanistische Fachstudium gedacht, sondern Aufbaus vor allem innerhalb der epochen- und
soll zur Orientierung, zum Lernen und zum Nach- gattungsgeschichtlichen Kapitel die Orientierung
schlagen idealerweise das ganze Studium beglei- gerade für Studienanfänger/innen erleichtern soll,
ten. Auch M. A.-Studierende und Praktiker wie erfordern die unterschiedlichen methodischen Zu-
Lehrer, Journalisten oder Verlagslektoren dürften gänge und theoretischen Konzepte eine gewisse
den Band mit Gewinn konsultieren, der histori- Flexibilität der Leser/innen. Es hätte jedoch auch
sche und systematische Aspekte der Literatur- und wenig Sinn, hinter diesem Anspruch zurückzu-
Sprachwissenschaft erörtert, Fachbegriffe kontext- bleiben, werden die Studierenden in der akademi-
bezogen erläutert, aktuelle wissenschaftliche Theo- schen Praxis doch ebenfalls vom ersten Semester
rien vorstellt und in die Praxis der akademischen an mit einer erheblichen Vielfalt von Forschungs-
Disziplin ›Germanistik‹ einführt. Gegenüber ande- und Erklärungsansätzen konfrontiert. Anstatt zu
ren neueren Einführungen und Studienbüchern behaupten, dass es einen Königsweg zur letztgül-
zeichnet sich das Buch vor allem durch zwei Be- tigen Erfassung sprach- und literaturwissenschaft-
sonderheiten aus. licher Phänomene gebe, hat das Frankfurter Team
Sprache und Literatur: Zum einen sind die bei- daher einen Mittelweg zwischen der schulmäßi-
den großen Teildisziplinen der Germanistik, näm- gen Normativität üblicher Lehrbücher und einer
lich Linguistik (Sprachwissenschaft) und Litera- die Fachdiskussion bereichernden Diversität der
turwissenschaft, in einem Band vereint. Obwohl tatsächlich vorzufindenden Lehrkonzepte einge-
die beiden Bereiche sich seit den Anfängen der schlagen. Anders formuliert: Die Autor/innen der
disziplinären Institutionalisierung des Faches zu einzelnen Kapitel beanspruchen für ihre Darlegun-
Beginn des 19. Jahrhunderts stark auseinander gen selbstverständlich eine Verbindlichkeit, deren
entwickelt haben und sich in der heutigen Univer- Maßstab nicht persönliche Vorlieben und kurzle-
sitätslandschaft vielfach sogar an verschiedenen bige Trends sind, und sie belegen diesen Anspruch,
Instituten wiederfinden, gehen die Autorinnen indem sie sich auf kanonisches Textmaterial und
und Autoren von einer grundsätzlichen Einheit wissenschaftliche Standardwerke stützen. Sie neh-
der Germanistik aus. Die beiden Fachteile werden men sich jedoch zugleich die Freiheit, in Auswahl
zwar in dem Band getrennt behandelt, doch wird und Darbietung ihrer Gegenstände und im Rück-
auf Berührungen oder divergierende Zugangswei- griff auf neuere Wissenschaftsparadigmen deutli-
sen – etwa im Fall des Metaphernbegriffs oder des che individuelle Akzente zu setzen, die von den
strukturalistischen Paradigmas – ausdrücklich hin- kritischen Studierenden eben nicht, wie es ein Un-
gewiesen. In Fällen, wo traditionell eine Vermi- wort unserer Tage suggeriert, als ›alternativlos‹ auf-
schung von literatur- und sprachwissenschaftlichen genommen werden sollen.
Aspekten beobachtet wird und unterrichtsprak- Die Gliederung des Bandes bedarf keiner aus-
tisch auch gerechtfertigt erscheint, wird hingegen führlichen Erläuterung. In den Einführungsteil
die systematische Trennung hervorgehoben; so ist »Zur Praxis des Germanistik-Studiums« sind auch
in den literarhistorischen Kapiteln zu Mittelalter Lehrerfahrungen eingegangen, die an dem sehr er-
und Früher Neuzeit der sprachliche Aspekt ledig- folgreich arbeitenden disziplinenübergreifenden
lich als medien- und kommunikationsspezifisches »Schreibzentrum« der Frankfurter Goethe-Univer-
Faktum berücksichtigt, während die im engeren sität gewonnen wurden. Überdies reflektieren die-
Sinne sprachhistorischen Befunde im linguisti- se einleitenden Passagen das Selbstverständnis des
schen Teil behandelt werden. Der Einführungsteil Faches sowie dessen Position im gesellschaftlichen
»Zur Praxis des Germanistik-Studiums« stellt wiede- Diskurs und – in Konsequenz daraus – die sich für
rum den disziplinären Zusammenhang des Faches Germanist/innen bietenden beruflichen Optionen.
Germanistik heraus. Die beiden Teile zur Sprach- und zur Literaturwis-

XI
Vorwort

senschaft berücksichtigen die im akademischen ßerlichen Grund der Umfangsbeschränkung auch


Unterricht eingeführten Stoffgebiete in übersicht- eine leicht provokative Note: Die Frage (frei nach
licher und nachvollziehbarer Gliederung. Im litera- Schiller) »Was heißt und zu welchem Ende stu-
turwissenschaftlichen Teil werden die epochen- diert man Germanistik?« wird in unserem Band
und gattungsgeschichtlichen Kapitel von drei nicht umständlich erörtert, sondern mit den ersten
Theorieblöcken eingerahmt. Der Grund hierfür liegt drei Worten des Einleitungskapitels sogleich be-
darin, dass bei einer – denkbaren – sukzessiven Lek- antwortet: »Lesen, reden, schreiben«. Mit diesem
türe des gesamten Bandes die vorgeschalteten text- Rekurs auf die sogenannten ›Schlüsselkompeten-
und medientheoretischen Passagen mit einem in der zen‹ soll nun beileibe nicht einer geistfeindlichen
Schule gewonnenen Alltagswissen über Literatur zu Pragmatisierung des Germanistikstudiums gehul-
bewältigen sind, während das Verständnis der ab- digt werden, aber es gilt doch festzuhalten: Nur
schließenden kulturwissenschaftlichen Teilkapitel wer analytisch zu lesen versteht, wird Literatur als
eine gewisse Kenntnis literarhistorischer Zusam- spezifische Realisationsform des kulturellen Ge-
menhänge erfordert oder durch sie doch maßgeb- dächtnisses begreifen oder (mit Goethe) die litera-
lich erleichtert wird. Im Anhang des Bandes finden rischen Werke »urteilend genießen«; nur wer Texte
sich ausführliche bibliographische Angaben zu grammatisch und rhetorisch zuverlässig beschrei-
Standardwerken des Faches; allerdings wurde auch ben und eigene Stellungnahmen korrekt und ange-
bei den Literaturnachweisen in den einzelnen Ka- messen formulieren kann, besitzt die Grundlage
piteln streng ausgewählt, speziellere Literatur zu dafür, das Medium ›Sprache‹ bis in seine physiolo-
bestimmten Autoren und Werken findet man hier gischen und psychologischen Bedingtheiten hinein
also nicht. verstehen zu lernen.
Das Layout des Buches ist wie in vergleichbaren Ein Wort noch zur generellen Problematik, die
Einführungsbänden des Metzler-Verlags beson- der Übergang vom Deutschunterricht in der Schule
ders leserfreundlich gestaltet. Neben einer farbigen zum akademischen Lehrbetrieb mit sich bringt:
Strukturierung und anderen Hervorhebungsverfah- Angehende Germanist/innen müssen – und hierin
ren dienen vor allem die Kästen mit Definitionen liegt die Eigenverantwortung der Studierenden –
und vertiefenden Informationen dazu, den Lektüre- von Anfang an akzeptieren, dass ihr Fach nicht we-
prozess vorzustrukturieren. Im Einzelnen variieren niger ›wissenschaftlich‹, das heißt durch präzise
die Mittel der Orientierung und Illustration gemäß Fachterminologie, eine breite Basis erforderlicher
den Erfordernissen der jeweiligen Thematik. In den Kenntnisse und ein Arsenal von Theorien bestimmt
literaturwissenschaftlichen Kapiteln bieten sich ist als andere Fächer auch. Germanistik ist nicht
Musterinterpretationen ausgewählter Primärtexte an, ›leicht‹! Wer sich darauf einstellt, dass ein kompe-
die linguistischen Teile arbeiten mit Beispielanaly- tenter Umgang mit deutscher Sprache, Literatur
sen und bedienen sich häufig graphischer Darstel- und Kultur begriffliche Genauigkeit, systemati-
lungstechniken. Bei der Binnengliederung der Kapi- sches und historisches Wissen sowie methodische
tel wird auf Analogie geachtet; so finden sich zu den und theoretische Reflexion verlangt, dem soll mit
einzelnen Epochen der Literaturgeschichte jeweils dieser Einführung in die Germanistik ein zuverläs-
Abschnitte zur Poetik, zur Lyrik, zum Drama und siges, umfassendes und – nicht zuletzt durch die
zur erzählenden Literatur. Zeittafeln und Werklisten ausführlichen Literaturhinweise – weiterführendes
vermitteln einen kompakten Überblick über die je- Arbeitsinstrument zur Verfügung gestellt werden.
weilige Epoche und deren literarische Produktion. Wir danken folgenden Personen, die uns bei
Anders als viele andere Einführungen beginnt der Arbeit an diesem Band geholfen haben: Maria
der vorliegende Band nicht mit einem plakativen Theresa Distler, Lisa Gäbel, Melanie Hobich, Gerrit
Zitat aus den Anfangsjahren der Germanistik, und Kentner, Rosemarie Tracy, Kathrin Würth, Jil Truh-
er enthält auch kein eigenes Kapitel zur Fachge- öl, Ede Zimmermann sowie Nico Dennefleh,
schichte. Dies soll nicht heißen, dass die Verfas- Christiane Dreßler, Katharina Fabel, Frederic Hain,
ser/innen sich nicht der vielfältigen Traditionen, in Ninja Roth, Sandy Scheffler, Andreas Teppe, Su-
denen ihre Disziplin steht, bewusst wären. Auf- sanne Trissler und insbesondere Ute Hechtfischer,
merksame Leser/innen werden an der einen oder die uns als Lektorin sachkundig unterstützte.
anderen Stelle des Buches exemplarische Hinweise
auf Deutungs- und Analyseansätze vergangener Frankfurt am Main, im Februar 2012
Epochen finden. Der Verzicht auf eine dezidierte Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein,
Herleitung des disziplinären Selbstverständnisses Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
aus der Geschichte des Faches hat neben dem äu- Robert Seidel und Helmut Weiß

XII
I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums
1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder


1.1 Lesen
1.2 Reden und Präsentieren
1.3 Schreiben
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen

Lesen, reden, schreiben  – diese drei Fähigkeiten Schlüsselkompetenzen in den Geisteswissenschaf-


sind es, deren Ausbildung und Verfestigung im ten: Neben der Text- und Analysekompetenz
Zentrum des Germanistik-Studiums stehen. Sie kommt der Darstellungskompetenz eine wichtige
sind zugleich für jedes erfolgreiche Studium un- Rolle zu. Sie wird auch als Schreibkompetenz be-
entbehrlich, gleich welcher Fachrichtung. Denn zeichnet. Im Studium überlagern sich dabei stets
der Umgang mit Wissen – seine Aneignung, Ver- fachliche und allgemeine Kompetenzen; es ist
waltung und Anwendung – besteht nicht im bloß kaum möglich, beide Kompetenzbereiche eindeu-
passiven Erwerb und in der unkritischen Repro- tig voneinander zu trennen. Zumal der Erwerb
duktion rein fachlicher Kenntnisse. Studieren er- fachspezifischer Fähigkeiten auch die Aneignung
fordert die Fähigkeit, Zugänge zu Inhalten er- von Schlüsselkompetenzen befördern kann. So
schließen und anderen zu vermitteln, also das kann sich beispielsweise ›trockenes‹ Theoriewis-
Vermögen zur präzisen, analytischen Lektüre, die sen über Rhetorik positiv auf die Moderationskom-
Befähigung zur exakten, gut verständlichen münd- petenz eines Studierenden auswirken.
lichen Präsentation der zentralen Thesen und Ar- N Text- und Analysekompetenz: Die Studieren-
gumente eines Textes sowie zu deren schriftlicher den entwickeln ein Bewusstsein für die epochen-
Dokumentation. Wofür Germanist/innen Experten und gattungsspezifische Struktur und Thematik
sind – lesen, reden, schreiben –, bildet damit eine von Primärtexten. Fachspezifische Lernstrategien
Trias von Fähigkeiten, die den sogenannten und Arbeitstechniken unterstützen die Fähigkeit,
Schlüsselkompetenzen zuzuordnen ist. wissenschaftliche Beiträge kritisch zu reflektieren
und angemessen zu bewerten; zugleich erwerben
die Studierenden Methoden- und Theoriewissen.
Zum Begriff N Darstellungs- und Schreibkompetenz: Die Stu-
dierenden erproben in der Aneignung verschie-
Als   Schlüsselkompetenzen werden im dener Textsorten (z. B. Thesenpapier, Protokoll,
Unterschied zu den studiengangspezifi- Essay und Hausarbeit) Schreibtechniken, die sie
schen fachlichen Kompetenzen verschie- befähigen, Analysen und Thesen argumentativ
dene allgemeine Fähigkeiten bezeichnet, die nachvollziehbar und ›adressatengerecht‹ vorzu-
im Studium und im Beruf wichtig sind. Zu stellen (vgl. Frank u. a. 2007, S. 116 ff.). Wissen-
ihnen zählen praxisbezogene und soziale, schaftliche Texte zu schreiben, erfordert ein ganzes
(inter-)kulturelle Kompetenzen, aber auch Bündel an Einzelkompetenzen: Planungs-, Formu-
Sprachkompetenzen. Die Schlüsselkompe- lierungs- und Überarbeitungskompetenzen sowie
tenzen können entweder integrativ in den syntaktische, lexikalische und textorientierte Kom-
fachbezogenen Veranstaltungen und/oder petenzen (vgl. u. a. Nünning 2008). Viele Universi-
additiv in Tutorien, Übungen, Workshops, täten bieten inzwischen in fachübergreifenden
Praktika und anderen studienbegleitenden Schreibzentren Übungen an, die den Schreibpro-
Lehrangeboten erworben werden. Anders zess begleiten.
als bei den fachlichen Qualifikationen ist es N Moderations- und Präsentationskompetenz:
nicht üblich, sie im Rahmen eines eigenstän- Die Studierenden lernen, Arbeitsgruppen und Se-
digen, formalisierten Verfahrens zu beurtei- minargespräche zu moderieren (Formulieren offe-
len. Sie wirken sich jedoch unmittelbar auf ner Fragen, Paraphrasieren, Zusammenfassen)
die Prüfungsleistungen aus und beeinflus- und Arbeitsergebnisse plausibel und anschaulich
sen deren Bewertung durch die Prüfer. zu vermitteln. Ob Handout oder Thesenpapier so-
wie mediale Hilfsmittel (u. a. Folien, Beamer,

3
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

Overhead-Projektor) das Referat und die Diskus- teln, Arbeitsergebnisse nachvollziehbar und präzi-
sion begleiten, wird mit der Seminarleitung in der se darzustellen.
Vorbereitungsphase abgestimmt (vgl. Händel u. a. Welche Formen und Strategien dabei von Be-
2007, 129 ff.). deutung sind, soll im folgenden Abschnitt veran-
N Informations- und Medienkompetenz: In Tu- schaulicht werden. Eines sei vorweggeschickt:
torien, Übungen und Seminaren wird die fach- Damit dieses Ziel erreicht werden kann, müssen
und themenorientierte Recherche von Informatio- bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Nicht von
nen (z. B. Datenbanken, Online-Fachportale) ein- ungefähr heißt es in vielen Studienordnungen des
geübt. Technische Medienkompetenz ist eine Bachelor-Studiengangs Germanistik, dass die »Be-
wichtige Voraussetzung für die Nutzung von E- reitschaft zu umfangreicher Lektüre« und die
Learning-Angeboten sowie den professionellen »gute Beherrschung der deutschen Sprache in
Umgang mit Geräten, Präsentationsprogrammen Wort und Schrift« wichtige fachspezifische Vor-
(z. B. PowerPoint) oder anderen Hilfsmitteln. aussetzungen sind. Die Studierenden müssen den
Aus dieser Aufstellung geht hervor, was die Anspruch haben, sich Traditionen, Methoden und
Germanistik mit allen anderen (insbesondere geis- Diskurse der Textauslegung kritisch anzueignen
teswissenschaftlichen) Studiengängen verbindet: (s. Kap. III.5). Der souveräne Umgang mit den Re-
Sie zielt darauf, die Studierenden zu verantwort- geln der Orthographie und der Zeichensetzung
lichem wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten wird von den Lehrenden als selbstverständlich vo-
und ihnen die nötigen Kompetenzen zu vermit- rausgesetzt.

Weiterführende Literatur
Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost:
Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über-
Stuttgart/Weimar 2007. zeugen. Stuttgart/Weimar 2007.
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio-
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008.

1.1 | Lesen
1.1.1 | Was lesen Studierende? klassische Prinzip prodesse et delectare (nützen
und erfreuen), vom römischen Dichter Horaz vor
Welche Texte haben Sie im Deutschunterricht in 2000 Jahren in der Ars poetica formuliert, begleitet
der Oberstufe gelesen? Was lesen Sie in den Se- auch die Leseerfahrungen im Studium. Wahr-
mesterferien? – Diese Fragen verweisen schon auf scheinlich haben Sie deshalb Germanistik als Stu-
den Unterschied zwischen der Pflichtlektüre im dienfach gewählt, weil Sie gerne lesen und schon
Studium und den privaten Leseinteressen. Das früh Bücher gelesen haben, die bis heute in Ihrer

Zur Vertiefung

Leseformen
Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) wird vom breiten Lesepublikum als »Doppelbio-
graphie« der beiden Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß gelesen; Literaturkritiker
loben das Buch als »federleichten philosophischen Roman« (Markus Thiel, Münchner Merkur, 20.9.2005) und
»Alterswerk eines jungen Schriftstellers« (Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau, 28.9.2005) oder kritisieren die
»verkopften Intellektuellen […], diese Pappkameraden« (Tilman Spreckelsen, FAZ, 8.3.2009). Den Übergang zu
literaturwissenschaftlichen Aspekten markiert das Resümee des Literaturwissenschaftlers, Literaturredakteurs
und Journalisten André Hille mit der Gattungszuschreibung ›Abenteuerroman‹: »Ein spannender Abenteuerro-
man für Erwachsene, […] aber beileibe kein genialisches Meisterwerk« (literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember
2005). Die Literaturwissenschaft fragt z. B. nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, untersucht die Dialog-
und Redestrukturen (indirekte Rede!) oder die Funktion der Erzählerkommentare.

4
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Was lesen Studierende?

privaten Bibliothek einen Ehrenplatz haben. Vom 570 Seiten. Lesen heißt nicht nur, die im Text ent-
rein genussvollen, identifikatorischen Lesen ge- haltenen Buchstaben zu entziffern oder zu deco-
langen Sie Schritt für Schritt zum kritisch-reflek- dieren: Im Akt des Lesens generieren Sie Deutun-
tierenden Lesen der literarischen Texte und der gen des Textes.
Fülle an begleitenden Texten, die die literarischen
Texte vorstellen und bewerten (Literaturkritik) so- Zur Vertiefung
wie kategorisieren, analysieren und interpretieren
(Forschungsliteratur). Lebenszeit und Lesezeit
Klassiker: Im Idealfall wird ein Roman, den Sie Der Schriftsteller Arno Schmidt, ein passionierter
im Seminar zu den Klassikern der Aufklärung ken- Leser, der sich wiederholt mit der Frage des litera-
nengelernt haben, zu Ihrem neuen Lieblingsbuch. rischen Kanons und der Anzahl der zu lesenden
Sie werden aber nicht nur aufregende und interes- Bücher auseinandergesetzt hat, bietet viele Ant-
sante Texte lesen: Die Meisterwerke glänzen auch worten. Er warnt: »Es gibt noch weit beunruhigen-
deshalb so intensiv, weil sie von einer Fülle eher dere Betrachtungen hier! Setzen wir, daß man vom
durchschnittlicher Texte umgeben sind. Je weiter 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig
Sie im Studium voranschreiten, desto aufmerksa- sei; dann hätte man, bei einem green old age von
mer wird Ihr Blick für die offenen und versteckten 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfü-
Bezüge der Texte zueinander. Was können, was gung. […] Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage
dürfen Autor/innen mit den Texten anderer Auto- 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende
r/innen machen? Oft fragen Studierende: Muss Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000
man diese Spuren entdecken, wie kann man sie Bücher zu lesen vermag! Und selbst wenn man nur
entdecken? »Klassiker«, so Moritz Baßler zu »ka- 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst
nonischen Meistern«, »sind diejenigen Autoren arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwä-
und Werke, auf die die anderen mehr oder weniger gung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und
ausdrücklich, mehr oder weniger selbstverständ- 20 Millionen verschiedene Bücher auf unserem
lich verweisen. Klassiker sind diejenigen Werkstü- Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich
cke, deren Kenntnis die anderen Künstler bei ihren möchte es noch heilsam=schroffer formulieren:
Hörern, Lesern oder Betrachtern stillschweigend Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur
voraussetzen« (Baßler 2005, S. 12). Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem
Kanon: Mit den Begriffen ›Kanon‹ und ›Klassi- Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochlite-
ker‹ stellt sich zugleich die Frage nach den Kriteri- ratur!« (Julianische Tage, 1961, III/4, S. 91–92)
en und Kategorien, die die Auswahl der Lektüre
bestimmen. Gibt es Texte, die unbedingt auf die
studienbegleitende Leseliste zu setzen sind? Die Verbindung mit anderen Geistes- und Kulturwis-
Leseliste des Literaturwissenschaftlers Wulf Sege- senschaften: In der Germanistik stehen nicht nur
brecht (2000), ein kleines Bändchen von etwa 85 die deutschsprachige Literatur und die deutsche
Seiten, stellt die titelgebende Frage »Was sollen Sprache im Zentrum der wissenschaftlichen Ar-
Germanisten lesen?«. Segebrecht beantwortet sie beit, sondern auch die Überschneidungen mit eu-
im Vorwort kühn mit dem Schlagwort »Alles«, um ropäischen und außereuropäischen Literaturen,
anschließend zugleich auf den empfehlenden Cha- Sprachen und Kulturen von der Antike bis zur
rakter der vorgestellten Texte und Anthologien zu Gegenwart. Wer Germanistik als Fach wählt, liest
verweisen (zur literarischen Kanonbildung vgl. voraussichtlich auch die Odyssee von Homer, die
auch Arnold 2002). Metamorphosen von Ovid, Erzählungen aus Tau-
Wie viele Bücher, wie viele Texte werden Sie sendundeine Nacht, biblische Texte, sprachphi-
voraussichtlich im Durchschnitt im Semester für losophische Abhandlungen von Wilhelm von
die Arbeit in den Seminaren, Übungen und Vorle- Humboldt und kulturgeschichtliche Essays. Eng
sungen lesen? Keiner kann alles lesen, auch nicht verbunden ist die Germanistik auch mit den Fä-
die leidenschaftlichen Leser/innen. Ignorieren Sie chern Geschichts-, Kunst-, Musik- und Religions-
jedoch alle Empfehlungen, in denen der Lektüre- wissenschaften. Wir treffen historische Figuren,
Umfang mit Seitenzahlen quantifiziert wird. Ein zum Beispiel den französischen König Heinrich IV.
fünfzeiliges Gedicht von Paul Celan kann Ihnen in Heinrich Manns Romanzyklus Henri Quatre,
ebenso viel Lesezeit und Interpretationsarbeit ab- berühmte Bilder lernen wir in literarischen Be-
verlangen wie Max Frischs Roman Stiller mit ca. schreibungen neu sehen, wir lesen Opernlibretti

5
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

und hören Arien, in Hermann Hesses Zeitschriftentitel informieren zugleich über das
Roman Siddhartha mit dem Unterti- wissenschaftliche Renommee der Publikationen.
tel »Eine indische Dichtung« begeg- Der Umkehrschluss ist jedoch nicht zulässig: Inno-
nen wir der religiösen Gedankenwelt vative Beiträge junger Wissenschaftler/innen fin-
des Hinduismus und des Buddhis- den Sie oft in Publikationen von Verlagen, die sich
mus. Auch prominenten Vertretern abseits des wissenschaftlichen Mainstreams zu
weiterer Fächer begegnen wir in lite- etablieren versuchen.
rarischen Texten: Mit dem Naturfor- Wenn Sie Ältere deutsche Literatur und ihre
scher Alexander von Humboldt rei- Wissenschaft gewählt haben, lesen Sie mittel-
sen wir in den südamerikanischen hochdeutsche Texte (noch eine Fremdsprache, die
Urwald, und wir begleiten den Ma- es zu lernen gilt), Gedichte von Walther von der
thematiker Carl Friedrich Gauß bei Vogelweide und Oswald von Wolkenstein, das Ni-
seinen Vermessungsarbeiten (Daniel belungenlied und Mären des Strickers. Eine der
Kehlmann: Die Vermessung der Welt, ersten Buchempfehlungen ist ein Klassiker: Mat-
2005). thias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch,
Deutsches Wörterbuch: Sie lernen 3 Bände. Leipzig 1872–1878, ein Nachdruck er-
alte und neue Wörter kennen. Wenn schien in Stuttgart 1992. Übersetzen ist eine der
Sie die Bedeutung eines Wortes nicht wichtigsten Übungen: Sie lernen, dass die Wörter
(mehr) kennen, obwohl es offen- »frouwe« und »wîp« keineswegs bedeutungsgleich
sichtlich zur deutschen Sprache ge- mit den Wörtern »Frau« und »Weib« sind, sondern
hört, schlagen Sie im Deutschen »frouwe« für adlige Frauen und »wîp« allgemein
Jacob und Wilhelm Grimm: Wörterbuch der Brüder Grimm nach. für das weibliche Geschlecht bzw. verheiratete
Deutsches Wörterbuch, 1. Band (1854) Begonnen im Jahr 1854, der letzte Frauen verwendet wurde.
Band erschien erst 1960, stellt es in Wenn Sie Neuere deutsche Literaturwissen-
32 Teilbänden die Entwicklung der deutschen schaft studieren, lesen Sie barocke Sonette, philo-
Sprache seit dem 16. Jh. vor, mit einer imponieren- sophische Texte der Frühaufklärung, Georg Büch-
den Fülle an Belegen auch aus früheren Jahrhun- ners Hessischen Landboten und einen Pop-Roman
derten. Es ist eine Fundgrube, die inzwischen von Thomas Meinecke. Begleitend lesen Sie ausge-
auch im Internet frei zugänglich ist (vgl. http:// wählte Beiträge aus der Forschungsliteratur. Neu-
germazope.uni-trier.de/Projects/DWB). gierig schlagen Sie das erste Buch auf. Viele –
literarische und wissenschaftliche – Texte, die Sie
im Studium lesen, verstehen Sie beim ersten Lesen
nicht. Dies ist eine sich wiederholende Erfahrung,
1.1.2 | Wissenschaftliche Texte lesen – nicht nur im Germanistik-Studium. Ursache ist zu-
Texte wissenschaftlich lesen nächst nicht nur die Fülle an fremden Wörtern,
Fachbegriffen, die es auch in der Germanistik zu
Die fachlichen Schwerpunkte in der Germanistik lernen gilt. Die scheinbar so objektive Fachsprache
stellen jeweils zwei Komponenten vor: Sprache ist zudem in den Geisteswissenschaften alles an-
und Wissenschaft, Literatur und Wissenschaft. dere als einheitlich. Schlägt man zum Beispiel den
Wenn Sie Sprachwissenschaft gewählt haben, Gattungsbegriff ›Novelle‹ in verschiedenen Lexika
lesen Sie wissenschaftliche Beiträge, oft in Eng- oder Handbüchern nach, wird man auf divergie-
lisch verfasst, die zum Beispiel folgendes Thema rende Beschreibungen stoßen. Eine intensive und
vorstellen: Frederick J. Newmeyer: Possible and kritische Beschäftigung mit der jeweiligen Fach-
Probable Languages: A Generative Perspective on sprache und ihren Begriffen ist deshalb studienbe-
Linguistic Typology. Oxford University Press 2005. gleitend zu empfehlen.
Oder ein deutscher Titel: Thomas E. Zimmermann: Artikel der Forschungsliteratur dokumentieren
»Zu Risiken und Nebenwirkungen von Bedeutungs- auch die Wissenschaftsgeschichte der Germanis-
postulaten«. In: Linguistische Berichte 146 (1993), tik, zeigen die Konjunkturen alter und neuer Para-
S. 263–282. Erst mit zunehmender Lektürepraxis digmen. Sie werden Texte wiederholt lesen müs-
und Semesterzahl können Sie am Titel ablesen, ob sen, um Schritt für Schritt vom Wortsinn eines
ein Beitrag eine Fragestellung der generativen Textes zu seinen impliziten, abstrakten Aussagen
Grammatik, der formalen Semantik oder der histo- zu gelangen. Forschungsbeiträge sind darüber hi-
rischen Linguistik aufgreift. Ort und Verlag sowie naus auch geprägt von stilistischen Vorlieben,

6
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wissenschaftliche
Texte lesen

akademischen Ritualen und explizitem Adressa- N Studienbücher stellen in der Regel die Ge-
tenbezug. schichte und Entwicklungsschwerpunkte von Teil-
Typen der wissenschaftlichen Literatur sind z. B.: gebieten vor (zum Beispiel Einführung in die Ro-
N Dissertationen und Habilitationen, die beiden mantik, Einführung in die Morphologie); sie geben
klassischen Qualifikationsschriften für die akade- einen Überblick über zentrale Forschungskonzepte
mische Laufbahn, richten sich nicht an einen stu- und Methoden, stellen wichtige Autor/innen so-
dentischen Leserkreis. Sie wollen Experten mit wie Themenschwerpunkte in Detailanalysen vor.
stringenten Thesen überzeugen und einen innova- N Kompendien (lat. compendium: Abkürzung)
tiven Beitrag zu einem Forschungsgebiet leisten. präsentieren ein Fach oder Teilgebiete eines Faches
Über die zunächst fremde Fachsprache hinaus bie- in konzentrierter Form. Sie können als Lehrbuch
ten solche Bücher auch unterschiedliche methodi- und Nachschlagewerk genutzt werden.
sche Zugänge, die es bei der Lektüre zu entdecken N Handbücher erläutern in alphabetischer oder
gilt. Oft geben schon die Titel und Untertitel Hin- systematischer Reihenfolge die wichtigsten Fach-
weise auf den jeweils gewählten methodischen begriffe, Gegenstände und Themen eines Fachge-
Zugang. bietes. Der Umfang kann je nach Tiefe der Darstel-
N Monographien: Dissertationen und Habilitatio- lung erheblich variieren.
nen sind z. B. Monographien, d. h., ein/e Autor/in N Lexika bieten in alphabetischer Reihenfolge
schreibt eine Abhandlung z. B. über ein spezifi- knappe Beschreibungen zentraler Begriffe, The-
sches Thema und/oder ein Werk. Wesentlich um- men und Werke einer Epoche, einer Gattung oder
fangreicher ist das Angebot der unselbständigen allgemein zu den wichtigsten Begriffen von Litera-
Schriften, z. B. Aufsätze in Zeitschriften, Sammel- tur- und Sprachwissenschaft (z. B. Reallexikon des
bänden oder Lexika. Mittelalters, Kindlers Literatur Lexikon, Grimms
N Zeitschriftenaufsätze recherchiert man über die Wörterbuch). Wie das Lexikon ist auch die alle
Kataloge der Universitätsbibliotheken; viele Bei- Fachgebiete umfassende Enzyklopädie zugleich
träge können inzwischen online gelesen und ausge- Nachschlagewerk und Sachwörterbuch. Die Ency-
druckt werden. In Zeitschriftenaufsätzen wird ein clopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des
Thema konzentriert vorgestellt. Oft verweisen die arts et des métiers von Diderot und d’Alembert
Titel der Zeitschriften auf die thematischen Schwer- (1751–1780, 35 Bände) spiegelt den Anspruch der
punkte und die methodische Ausrichtung der Bei- Herausgeber, im umfassenden Sinn zum Projekt
träge (z. B. Arbitrium – Zeitschrift für Rezensionen Aufklärung beizutragen. Im 21. Jh. lösen zuneh-
zur germanistischen Literaturwissenschaft; Daph- mend kostenpflichtige und frei zugängliche On-
nis – Zeitschrift für Mittlere deutsche Literatur; line-Enzyklopädien die gedruckten Vorgänger ab.
IASL – Internationales Archiv für Sozialgeschichte Die Editionswissenschaft, der Arbeitsbereich Textausgaben
der deutschen Literatur; ZGL – Zeitschrift für Ger- der Philologien, der alte und neuere Texte für die
manistische Linguistik; LiLi – Zeitschrift für Litera- wissenschaftliche Arbeit aufbereitet, unterscheidet
turwissenschaft und Linguistik). zwischen verschiedenen Ausgaben: Leseausgabe,
N In einer Herausgeberschrift, z. B. einem Ta- Studienausgabe und historisch-kritische Ausgabe.
gungsband oder einer Festschrift, werden Beiträge Diese Ausgaben differieren vor allem hinsichtlich
mehrerer Autor/innen zu einem Thema oder ver- der Präzision und Tiefe der zur Verfügung ge-
schiedenen Aspekten eines Themas von einem stellten Materialien und Kommentare. Haben Sie
oder mehreren Herausgeber/n zusammengestellt. schon einmal den Hinweis gelesen: »Ausgabe letz-
N Einführungsbände, oft mit dem Titel ›Grund- ter Hand«? Die letzte von Goethe betreute und
lagen‹ oder ›Basiswissen‹, richten sich an Studie- autorisierte Ausgabe seiner Werke (28 Bände,
rende in der ersten Studienphase und informieren 1827–1830) trägt diesen Zusatz. Die Editionswis-
über Grundlagen eines fachlichen Schwerpunk- senschaftlerin Anne Bohnenkamp-Renken, Mit-
tes. Sie bieten einen Überblick über die zentra- herausgeberin der geplanten digitalisierten Faust-
len Arbeitsfelder und Fachbegriffe der jeweiligen Ausgabe, betont die Bedeutung »theoretischer, ja
Teildisziplinen, sei es die Einführung in die Erzähl- ideologischer Grundannahmen über das Wesen
theorie von Matías Martínez und Michael Scheffel, des literarischen Kunstwerks und seine Beziehun-
die Einführung in die Gedichtanalyse von Dieter gen zu zentralen Größen wie Autor und Leser für
Burdorf oder die Einführung in die germanistische das editorische Verfahren«: »Ob ein Kunstwerk
Linguistik von Jörg Meibauer u. a. (Werk) als perfekte, dauerhafte, vollendete Gestalt
oder aber als Prozess von grundsätzlicher Offen-

7
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

heit aufgefasst wird, ob es als Schöpfung eines enthalten, sollten Sie im Studium nicht verwen-
Künstlers oder als Ergebnis verschiedener sozialer den. Interessant und aufschlussreich kann die Un-
Determinanten angesehen wird, hat Konsequen- tersuchung der Marginalien, Änderungen, Aus-
zen für die Anlage einer Edition« (Bohnenkamp- lassungen und Umstellungen in verschiedenen
Renken 2003). Fassungen oder die Analyse der unterschiedlichen
N Die historisch-kritische Ausgabe, die im Auf- Schreibmaterialien (lose Blätter, Notizblöcke,
trag der Großherzogin Sophie von Sachsen in den Hefte verschiedener Größe) sein, wenn Sie eine
Jahren 1887 bis 1919 in Weimar erschien, umfasst rezeptionsgeschichtliche Themenstellung wählen.
143 Bände und 3 Bände mit Nachträgen. Noch Wie hat sich zum Beispiel die Überlieferung eines
nicht enthalten sind die Gespräche und die nach mittelalterlichen Textes von der Handschrift über
Abschluss der Weimarer Ausgabe gefundenen den Buchdruck bis zum 20. Jh. verändert? Wie
Briefe. Die 40-bändige historisch-kritische Aus- wirkt sich der Wechsel von den großen Quarthef-
gabe im Deutschen Klassiker Verlag (seit 1999) ten zu den kleinen Oktavheften auf den Schreib-
richtet sich explizit an Studierende und Wissen- prozess von Kafka aus?
schaftler/innen. Der Verlagsname signalisiert zu- N Faksimile-Edition: Antworten auf diese Frage
dem eine gut begründete Auswahl der edierten finden Sie in der Faksimile-Edition der Historisch-
Texte – die Zugehörigkeit zum Kanon ist garan- Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften,
tiert. In historisch-kritischen Ausgaben werden Drucke und Typoskripte Kafkas, herausgegeben
Entstehungsstufen, Notizen und Arbeitsmateria- von Roland Reuß und Peter Staengle (1995 ff.). Der
lien, Textfassungen und Varianten, Entstehungs-, Nachlassverwalter Max Brod entsprach nicht dem
Rezeptions- und Forschungsgeschichte detailliert Willen des Autors, nach seinem Tod 1924 alle Ma-
vorgestellt. Nicht nur hilfreich, sondern in vielen nuskripte zu verbrennen. Brod begann bereits ein
Fällen unentbehrlich sind darüber hinaus Stel- Jahr später mit der Edition der überlieferten Frag-
lenkommentare, die zum Beispiel inzwischen mente. Die posthum editierte fragmentarische Er-
ungebräuchliche Wörter und Redewendungen er- zählung Der Jäger Gracchus zeigt in den meisten
läutern, kontroverse Lesarten vorstellen und in- Ausgaben noch heute die Spuren der Eingriffe: Aus
tertextuelle Anspielungen enträtseln (vgl. Sittig fragmentarischen Prosastücken im Oktavheft B
2008, S. 22–34). Die Herausgeber dieser großen setzte Brod den Text zusammen, deshalb lesen wir
Ausgaben müssen zudem entscheiden, ob sie die im Gespräch des Jägers Gracchus mit dem Bürger-
Texte nach den Erstdrucken oder nach der »Aus- meister der kleinen Stadt, in deren Hafen die Barke
gabe letzter Hand« edieren. des untoten Jägers angelandet ist, folgenden Satz:
N Lese- und Studienausgabe: Als Klassiker der »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, nie-
zuverlässigen Lese- und Studienausgabe gilt die mand wird kommen, mir zu helfen. […] Der Ge-
14-bändige Hamburger Goethe-Ausgabe, heraus- danke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit
gegeben von Erich Trunz (Taschenbuchausgabe und muß im Bett geheilt werden.« Der Verweis auf
seit 1982 ff.). Für modernisierte Leseausgaben, so die »monologische Schreibsituation« irritiert im
zum Beispiel die 2005 von Harald Fricke heraus- Gespräch; der Blick in die Manuskript-Fragmente
gegebenen und kommentierten Sprüche in Prosa, zeigt, dass Brod aus den überlieferten Fragmenten
die sämtliche Maximen und Reflexionen auf einen Text zusammengefügt hat, der Anlass zu di-
knapp 500 Seiten vorstellen, wirbt der Verlag mit vergierenden Interpretationen bietet (vgl. Martí-
dem Hinweis, dass die Texte vom philologischen nez/Scheffel 2009, S. 105 f.).
Ballast befreit worden seien. Für das begrenzte N Werkausgaben: Die Texte wichtiger Autor/innen
Budget sind auch Studienausgaben akzeptabel, der letzten 50 Jahre stehen inzwischen in Werkaus-
deren Textgestalt an Historisch-Kritischen Ausga- gaben zur Verfügung, zum Beispiel Ilse Aichinger,
ben orientiert ist. Die Reclam-Studienausgabe der Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Thomas Bern-
»romantische[n] Tragödie« Die Jungfrau von Orle- hard und Günter Grass. Der erste Band der Werke
ans folgt der Nationalausgabe von Schillers Wer- von Heinrich Böll, Träger des Nobelpreises für Lite-
ken; in den Anmerkungen wird darauf verwiesen, ratur 1972, erschien 2002; im November 2010 wurde
dass die Orthographie auf der »Grundlage der die Ausgabe mit Band 27, dem Register abgeschlos-
neuen amtlichen Rechtsschreibregeln behutsam sen. Die Ausgabe folgt editionswissenschaftlichen
modernisiert« (2002, S. 139) wurde. Prüfen Sie Kriterien (Textentstehung, Überlieferung, Stellen-
sorgfältig, ob eine Ausgabe über Editionsprinzi- kommentar sowie Bibliographie) und erlaubt mit
pien informiert. Ausgaben, die keinerlei Hinweise dem Registerband eine rasche Orientierung. Die

8
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zur Vertiefung

Lesarten
»[…] Soviele Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere. Damit soll nichts gegen die Arbeit der Philo-
logen gesagt sein und gegen die zuverlässigen, die kritischen, die ›gesicherten‹ Texte, die sie verspricht; ganz im
Gegenteil. Aber ihre Treue ist nur eine unter den vielen Möglichkeiten, die wir haben, einen Autor beim Wort
zu nehmen. Man kann ihn auch nacherzählen, oder rückwärts lesen, oder verspotten, oder bestehlen, oder wei-
terdichten, oder übersetzen … Lesen heißt immer auch: zerstören – wer das nicht glauben will, möge die Ge-
hirnforscher fragen –; zerstören und wieder zusammensetzen. Dabei entsteht allemal etwas Neues. Ein Klassi-
ker ist ein Autor, der das nicht nur verträgt; er verlangt es, er ist nicht totzukriegen durch unsere liebevolle
Roheit, unser grausames Interesse.« (Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte
zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, 1985, S. VII, Vorwort).

Sorge des Verlags und der Herausgeber, dass nach 1.1.3 | Wie lesen Studierende?
dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009
große Teile des dort gelagerten Böll-Nachlasses ver- Was lesen Sie gerne? Historische Romane, roman-
loren seien und somit eine wichtige Grundlage für tische Gedichte, Autobiographien, Reportagen,
die Ausgabe vernichtet sei, hat sich nicht bestätigt, Briefe, Sachbücher, Comics, die Zeitung? Nur we-
auch wenn Verluste zu beklagen sind. nige werden im ersten Semester eine Grammatik,
N Handschriften und frühe Drucke: Stellen schon ein etymologisches Wörterbuch oder das riesige
moderne Texte Studierende häufig vor große Pro- Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften von
bleme, gilt dies umso mehr für alte Texte. Die erste Robert Musil nennen. Auch im Studium werden
Begegnung mit Handschriften und frühen Drucken Sie weiterhin Romane und Erzählungen lesen,
(Inkunabeln, Wiegendrucke genannt) wird zum Le- weil Sie den Stil eines Autors, einer Autorin schät-
seabenteuer, das an die ersten Buchstabierexperi- zen, Interesse an einem Thema haben (Liebe, Na-
mente in der Grundschule erinnert. Auch wenn das tur oder Verbrechen), sich mit der Hauptfigur
Nibelungenlied, die Manessische Liederhandschrift identifizieren, mit ihr leiden. Sie werden diese Tex-
und Das Narrenschiff von Sebastian Brant heute in te zugleich anders lesen lernen. Schon Goethe
zuverlässigen Ausgaben zugänglich sind und zu- wusste: »Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese
dem eine Vielzahl guter Übersetzungen zum Ver- zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und
gleich der Übertragungen herausfordert, ist die ge- Belehrung« (Maximen und Reflexionen). Studie-
legentliche Rückkehr zu den Quellen auch im rende formulieren häufig die Sorge, die präzise
21. Jh. für Studierende ein unverzichtbarer Lern- Analyse eines Textes könne seinen ästhetischen
schritt. Die konkrete Begegnung mit alten Büchern Reiz zerstören. Deshalb muss Goethes Maxime er-
ist auch ein Erlebnis für die Sinne. Zwar dürfen Sie weitert werden: Genuss und Erkenntnis sind im
meist aus konservatorischen Gründen nicht in den Studium der Germanistik keine Gegensätze, son-
Bänden blättern, trotzdem sehen, riechen und hö- dern verbinden sich im Idealfall harmonisch. Das
ren(!) Sie alte Bücher anders als moderne Ausga- Ziel der Erkenntnis kann gleichwohl beim Lesen
ben. Die Archäologen der alten Texte, die Vertreter eines Textes extrem unterschiedlich sein. In den
der Handschriftenkunde (Kodikologie) und der hitzigen Debatten der Nach-68er-Jahre spottete
Inkunabelkunde, haben umfangreiche Informa- Hans Magnus Enzensberger in seiner berühmten
tionen über die materialen Träger der Texte (Papy- Polemik über den Interpretationswahn: »Beschei-
rus, Pergament und Papier) sowie Format und Aus- dener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den
stattung (auch Bilderschmuck) zusammengetragen Erzeugnissen der Poesie«: »Wenn zehn Leute ei-
(vgl. Jakobi-Mirwald 2004). Einen guten Überblick nen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn
bietet das Internetportal »Mediaevum«. Dort finden verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. […]
Sie auch ein Beispiel für ein gelungenes E-Learning- Das Resultat der Lektüre ist mithin durch den Text
Projekt, »Ad fontes – Einführung in den Umgang nicht determiniert und nicht determinierbar. Der
mit Quellen im Archiv«, sowie zahlreiche Facharti- Leser hat in diesem Sinne immer recht. Und es
kel zu vielen Aspekten mittelalter- und frühneuzeit- kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von ei-
licher Buchkunde. nem Text den Gebrauch zu machen, der ihm paßt«

9
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

(Enzensberger 1976/1988, S. 33). Der promovierte sen zu verschaffen; manchmal genügt schon
Germanist Enzensberger wusste gleichwohl, dass ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, um zu er-
es für die Lektüre und den Gebrauch von Texten kennen, ob der Titel hält, was er verspricht.
im Studium nachvollziehbare Regeln und Prämis- N Question: Klären Sie, welche Fragen Sie zum
sen gibt. Beispiel bei der Themenfindung für eine Haus-
Hörbücher: Oft erscheint heute gleichzeitig mit arbeit oder während der Vorbereitung eines Re-
der gedruckten Ausgabe eines Buches die Hörbuch- ferats an den Text haben.
Version, teils gelesen von der Autorin oder vom Au- N Read: Erst wenn Sie annehmen können, dass
tor, und fast alle klassischen Texte können inzwi- das Buch/der Beitrag Antworten auf Ihre Fra-
schen als Hörbuch erworben werden. Es ist völlig gen bieten könnte, beginnen Sie zu lesen, ein
legitim, einen Text zunächst über das auditive Me- erstes orientierendes, analytisches Lesen, ob
dium kennenzulernen. Wer seriös Germanistik mit dem Bleistift oder dem Marker in der
(oder eine andere Philologie) studieren will, kann Hand.
jedoch auf die gedruckte Ausgabe für die detaillier- N Recite: Fassen Sie die wichtigsten Passagen und
te Textarbeit nicht verzichten. Der Lesende kann Thesen mit eigenen Worten zusammen.
Sätze, Abschnitte, ganze Kapitel wiederholen, er N Review: Lesen Sie ausgewählte oder auch bis-
kann vorblättern, zum Anfang zurückkehren. her unklar gebliebene Passagen erneut und er-
Lesetechniken – Lesestrategien: Die Suche nach gänzen oder korrigieren Sie Ihre Notizen.
effizienten Lesetechniken ist kein Phänomen der Realistisch ist die Perspektive, dass Sie nach eini-
Gegenwart. Professionelle Leser/innen haben im- gen Semestern Techniken und Strategien entwi-
mer schon nach Möglichkeiten ge- ckeln werden, die Ihre Lesearbeit unterstützen.
sucht, die Leseeffizienz zu steigern. Unabhängig davon, ob Sie schon in der Oberstufe
Ein anschauliches Beispiel ist das gelernt haben, einen Text präzise zu lesen, oder ob
Bücherrad, ein rotierendes Lesepult, Sie eine der oben genannten Methoden für sich
an dem der Leser ca. zwölf Bücher entdeckt haben: Das orientierende, analysierende
gleichzeitig anschauen kann. Der ita- und strukturierende Lesen ist die Basisarbeit im
lienische Ingenieur Agostino Ramelli gesamten Studium.
stellte es 1588 in seinem Buch Le di- Close reading: Oft werden auch begleitende
verse et artificiose machine del capi- Übungen mit dem Schwerpunkt close reading an-
tano vor. Noch 2008 schreibt die geboten. Diese intensive und konzentrierte Lektü-
»Stiftung Lesen« unter der Schirm- re eines Textes ergänzt zum einen Seminare und
herrschaft der Bundesministerin für Vorlesungen, zum anderen schult sie den Blick für
Bildung und Forschung mit Verweis strukturelle Details und semantische Nuancen.
auf das Bücherrad von Ramelli ei- Auch Lektüre bedarf der Wiederholung: Spätes-
nen Wettbewerb aus, mit dem Ideen tens in der Examensphase lesen Sie ein Buch er-
für lesefördernde Möbel gesucht neut und neu. Umwege und Irrwege werden Ihre
wurden. Lesegeschichte auch im Studium prägen. Ein Ge-
Kurse zum effektiven Lesen wer- dicht, das Sie vor drei Semestern noch begeistert
den inzwischen an vielen Universitä- hat, finden Sie nun missglückt und langweilig.
Rotierendes Lesepult ten angeboten: Quer-Lesen, Schnell- Nicht das Gedicht hat sich verändert, sondern Sie
von Agostino Ramelli, 1588 Lesen, »Improved Reading«, SQ3R- haben im Studium neue ästhetische Präferenzen
Methode. Kurse, die versprechen, entwickelt. Vielleicht erleben Sie beim erneuten
dass Sie in Zukunft beim ausgiebigen Frühstück Lesen aber auch die »Begeisterung entrückter
ein Lektürepensum von 300 Seiten für das Seminar Lesestunden«; so emphatisch beschreibt Hermann
um 14 Uhr spielend bewältigen können, sollten Sie Hesse seine Erfahrungen im Gedicht »Beim Wie-
ignorieren. Unter dem Stichwort »Improved Rea- derlesen des Maler Nolten«, nachdem er Mörikes
ding« finden Sie Angebote, die versprechen, Lese- Roman nach Jahren noch einmal gelesen hat.
tempo und Leseintensität mit gezielten Übungen Medienkompetenz: Wissenschaftliches Lesen
und »speziell entwickelten Geräten« zu optimieren. lernen bedeutet im 21. Jh. auch, Medienkompe-
Die SQ3R-Methode versucht, in fünf Schritten tenz auszubilden und den Umgang mit Medien
Lesetechniken und -strategien zu vermitteln: kritisch zu reflektieren: Dies gilt sowohl für die
N Survey: Im ersten Schritt gilt es, sich einen klassischen Printmedien als auch für das ständig
Überblick über die zentralen Themen und The- wachsende Online-Angebot. Themenhefte der

10
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zeitschrift GEO, Bertelsmann-Universallexika aus sich zum Beispiel über die Virtuelle Fachbibliothek
den 1950er Jahren oder gekürzte und geglättete Germanistik – Germanistik im Netz, die von Exper-
Ausgaben der Klassiker bieten keine soliden ten betreut und regelmäßig aktualisiert wird
Grundlagen für seriöse Studienbeiträge. Ob ein (http://www.germanistik-im-netz.de), oder nut-
Beitrag im Online-Portal Wikipedia verlässliche In- zen Sie das Angebot seriöser Fachportale zu den
formationen bietet, können Studierende in der Re- germanistischen Schwerpunkten (zum Beispiel
gel nicht zuverlässig beurteilen. Informieren Sie LINSE – Linguistik Server Essen).

Weiterführende Literatur
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Literarische Kanonbildung Enzensberger, Hans Magnus: »Bescheidener Vorschlag
(Text + Kritik, Sonderband 9). München 2002. zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der
Baßler, Moritz: »Was blitzt und funkelt, in Reichtum und Poesie« [1976]. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn.
Fülle. Woran erkennt man einen Klassiker? Drei Thesen Frankfurt a. M. 1988, S. 23 ff.
zum Umgang mit kanonischen Meistern«. In: Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch.
Literaturen 1–2 (2005), S. 9–16. Funktion und Ausstattung. Stuttgart 2004.
Bohnenkamp-Renken, Anne: »Neugermanistische Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die
Editionswissenschaft«. In: Hans Walter Gabler/Dies. Erzähltheorie. München 82009.
(Hg.): Kompendium der Editionswissenschaft. Universi- Segebrecht, Wulf: Was sollen Germanisten lesen? Ein
tät München 2003 (online unter: http://www.edkomp. Vorschlag. Berlin 2000.
uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp_AB.html). Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
2008.

1.2 | Reden und Präsentieren


Im Studium dominieren auch im Bachelor-Zeital- Seminare »sind republikanische Veranstaltun-
ter folgende Veranstaltungstypen: Vorlesung, Se- gen; sie leben von der aktiven Mitarbeit aller Teil-
minar und Übung. In der Vorlesung können Sie in nehmer« (Albrecht Koschorke). Studieren bedeu-
der Regel zuhören und mitschreiben, im Seminar tet, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen,
und in der Übung müssen Sie reden, mitreden, re- das im Selbststudium erarbeitete Wissen im Aus-
ferieren, diskutieren, argumentieren, begründen, tausch mit der Seminargruppe auf den Prüfstand
nachfragen, widersprechen, plädieren, analysie- zu stellen. Auch im Seminar ist das analysierende
ren, interpretieren, nachweisen, erörtern und zu- und kritische Lesen Grundlage des Gesprächs. Für
sammenfassen. Teilnehmer und Lehrende sind Sitzungen, in de-
Vorlesungen bieten regelmäßig die Gelegenheit, nen nur wenige gut und viele gar nicht vorbereitet
professionellen Redner/innen zuzuhören. Was sind, unergiebig und quälend. Das Seminar ist
unterscheidet einen guten Redner von einem »der Ort, an dem die generelle Forderung nach ei-
schlechten Redner? Die schon in den Klassikern ner Einheit von Forschung und Lehre ihre fachspe-
der antiken Rhetorik festgelegten vier Redeteile – zifische Verwirklichung findet« (Wegmann 2000,
Einleitung/Redeanfang (exordium), Erzählung/ S. 124). Gute Seminarsitzungen zeichnen sich
Darstellung (narratio), Beweisführung (argumen- nicht dadurch aus, dass am Ende wohlformulierte
tatio) und Redeschluss/Zusammenfassung (pero- Sätze des Lehrenden in der Mitschrift stehen; gute
ratio, conclusio) – bieten auch im heutigen Stu- Seminarsitzungen, an die Sie sich noch lange erin-
dienalltag für Lehrende und Studierende eine nern, sind geprägt von heftigen Diskussionen, die
handwerkliche Orientierung. Bewertungskriterien im besten Fall direkt nach der Sitzung fortgesetzt
sind darüber hinaus u. a. Klarheit und Angemes- werden. Eine auch heute noch aktuelle Empfeh-
senheit von Sprache, Stil und Redeschmuck lung können Sie in einem berühmten Essay von
(s. Kap. III.1.4). Ein Redner, der von Thema zu Heinrich von Kleist nachlesen: »Wenn du etwas
Thema springt, seine Zuhörer/innen ignoriert, wissen willst und es durch Meditation nicht fin-
monoton vom Blatt abliest und am Ende der Vorle- den kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher
sung keine Zeit mehr für eine kurze Zusammenfas- Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir auf-
sung hat, wird sein Publikum nicht fesseln (vgl. stößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben
Händel u. a. 2007). ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich

11
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Reden und Präsentieren

es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: den kommentierten Vorlesungsverzeichnissen ge-
nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst er- gebenen Lektürehinweise, um schon zu Semester-
zählen.« Der Essay, um 1805 entstanden und post- beginn gut informiert und wohlbegründet eine
hum 1878 im Druck erschienen, trägt den Titel Entscheidung für ein Referat treffen zu können.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken Der Vortrag sollte in der Regel nicht länger als 15
beim Reden. Er ist als Brief an einen Freund in- bis 20 Minuten sein; zwei Ziele sind zu erreichen:
szeniert; sein offenes Ende verweist zudem auf die Zum einen wird eine Themenstellung begleitet
Unabschließbarkeit des dialogischen Austauschs von Forschungsbeiträgen und -konzepten vorge-
von Gedanken und sprachlichem Handeln. Im Un- stellt, zum anderen wird auf dieser Basis eine wis-
terschied zu Kleist sind Sie Mitglied einer Gruppe senschaftliche Diskussion geführt. Oft werden Re-
scharf denkender Köpfe, die nach dem aufmerksa- ferate von Handouts begleitet, sie enthalten
men Zuhören sofort nachfragen und diskutieren begleitende Informationen (Gliederung des Vor-
wollen. trags, erste Informationen zu Aufbau und Struktur
Seit der Antike gibt es eine Fülle an Modellen eines Textes, Erläuterungen der Fachbegriffe, Zita-
für die Interaktion im Gespräch: Platon stellt zum te aus der Forschungsliteratur, Literaturverzeich-
Beispiel in den sokratischen Dialogen die Begeg- nis). Prägnanter können Thesenpapiere die Dis-
nung zwischen Lehrer und Schüler als Wechsel- kussion begleiten (s. 1.3.1).
spiel von Frage und Antwort vor. Der bekannteste Präsentationstechniken: Nutzen Sie die Ange-
Dialog, das Symposion (Das Gastmahl, so die bote der modernen Präsentationstechniken, wenn
deutsche Übertragung von Friedrich Schleierma- diese eine sinnvolle Ergänzung zum Vortrag bie-
cher 1807), leiht noch heute wissenschaftlichen ten. Sie können mit Unterstützung des Overhead-
Tagungen seinen Namen. Ebenso wie Lust am Le- Projektors Folien während des Vortrags beschrif-
sen eine wichtige Voraussetzung für Lesekompe- ten, um eine These zu entwickeln, oder Sie stellen
tenz ist, vermitteln Sprach- und Debattier-›Spiele‹ mit dem Beamer eine PowerPoint-Präsentation
Erfahrungen und Routinen, die eine gute Basis für vor. Wiederholungen der Textauszüge, die auf dem
den Erwerb rhetorischer Kompetenzen bilden. Handout stehen oder in den vorbereiteten Texten
»Spiel ist«, so die Definition des Kulturanthropolo- nachzulesen sind, sind überflüssig.
gen Johan Huizinga, »eine freiwillige Handlung Präsentationskompetenz: Mit jedem gelunge-
oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festge- nen Referat stellen Sie auch Ihre Informations- und
setzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig Vermittlungskompetenzen unter Beweis (vgl. Hän-
angenommenen, aber unbedingt bindenden Re- del u. a. 2007). Viele Studierende trauen sich zu-
geln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und nächst nicht, ein Referat zu übernehmen. Die
begleitet wird von einem Gefühl der Spannung Angst, vor einer fremden Gruppe zu sprechen, und
und Freude und einem Bewußtsein des ›Anders- die Sorge, sich vielleicht zu blamieren, sind
seins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹« (1938/2009, ernstzunehmende Gründe. Auch hier hilft nur die
S. 37). ständige Übung. Schon beim zweiten, dritten Refe-
Referat: Der überzeugende Vortrag ist das Er- rat werden Sie merken, dass Sie das Zeitlimit gut
gebnis eines komplexen Arbeitsprozesses. Dies gilt einhalten und die ausgewählten Thesen die Dis-
auch für das Referat. Wenn Sie in einem Seminar kussion anstoßen. Die ersten Semester sollten Sie
ein Referat halten, haben Sie damit in den meisten als universitäre Lehrjahre aktiv nutzen. Spätestens
Fällen eine wichtige Voraussetzung für den Schein- in der Prüfungsphase machen sich die Trainings-
erwerb erfüllt, vor allem signalisieren Sie Ihre Be- einheiten bezahlt.
reitschaft, aktiv und verantwortlich zum Gelingen Falls Gruppenreferate vorgesehen sind, ist dies
der Veranstaltung beizutragen. Ein gelungenes Re- auch als Aufforderung an jedes Mitglied der Grup-
ferat setzt intensive Lektüre voraus, eine gut be- pe zu verstehen, aktiv in allen Phasen der Vor-
gründete Auswahl der im mündlichen Vortrag vor- bereitung mitzuarbeiten und gemeinsam für das
zustellenden Themen und eine plausible Struktur. Gelingen Verantwortung zu übernehmen. Der Hin-
Wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ist ein weis, »Diesen Text kenne ich nicht, den hat XY ge-
grundlegendes Interesse am Thema. Dies mag auf lesen«, ist nicht akzeptabel. Vor allem bei Grup-
den ersten Blick als banale Bemerkung erscheinen; penreferaten wird der vorgesehene Zeitrahmen oft
im Semesteralltag zeigt sich jedoch schnell, dass deutlich überschritten. Zeit für die Diskussion
ein Referat zu einem ›übrig gebliebenen‹ Thema muss jedoch auf jeden Fall bleiben: Deshalb ist es
nur selten überzeugt. Deshalb nutzen Sie die in sinnvoll, schon bei der Planung zu überlegen, wel-

12
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

che Passagen gekürzt oder übersprungen werden ren und zu visualisieren sowie das anschließende
können, ohne dass der Zusammenhang verloren- Seminargespräch zu moderieren. Reden ist eine
geht. Eine gute Vorübung ist, den Vortrag zu pro- sprachliche Handlung, ein performativer Akt. Die
ben, gerade die Gruppe bietet dafür eine gute Ge- ›Performance‹ der Vortragenden beeinflusst un-
legenheit. Wann immer möglich, lesen Sie ein mittelbar den Grad der Aufmerksamkeit der Zuhö-
fertiges Manuskript nicht vor. rer/innen. Alltagssprache ist im Referat und in der
Mit der Übernahme von Referaten im Studium Seminardiskussion nicht angemessen.
lernen Sie Schritt für Schritt, Themen zu präsentie-

Weiterführende Literatur
Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost: Wegmann, Nikolaus: »Im Seminar«. In: Thomas Rathmann
Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über- (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Über epistemologi-
zeugen. Stuttgart/Weimar 2007. sche, wissenschaftspragmatische und kulturpolitische
Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur Aspekte eines Studiums der Germanistik. Berlin 2000,
im Spiel [1938]. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 120–127.

1.3 | Schreiben
Schreibgeräte: Die Geschichte meiner Schreibma- dem eigentlichen Schreiben beginnen, wird etwa
schine lautet der Titel eines Buches des amerikani- ein Drittel der Gesamtzeit vergangen sein. Verzich-
schen Autors Paul Auster: »Es war eine Olympia- ten Sie auf Inhaltsreferate, dafür bleibt keine Zeit.
Reiseschreibmaschine, hergestellt in Westdeutsch- Reservieren Sie auf jeden Fall vor der Abgabe ein
land. Dieses Land gibt es nicht mehr, aber seit wenig Zeit für eine aufmerksame Lektüre der
jenem Tag im Jahre 1974 ist jedes Wort, das ich Klausur. Vor allem im Einführungsbereich oder ab-
geschrieben habe, auf dieser Maschine getippt hängig vom Seminarthema werden auch Multiple-
worden« (2005, S. 12). Die Wahl des richtigen Choice-Klausuren geschrieben. Im Anschluss an
Schreibgeräts ist nicht nur für Auster entscheidend literaturwissenschaftliche Seminare ist die Über-
für die erfolgreiche Schreibarbeit: Bertolt Brecht prüfung der Lernfortschritte mit dem Frage-Ant-
bevorzugte seine »Erika«, Franz Kafka tippte auf wort-Verfahren meist nicht sinnvoll. Sie sollen ja
einer »Oliver 5«. Ob Sie für Ihre Arbeit ein Apple- nicht zeigen, dass Sie gut auswendiglernen kön-
Gerät bevorzugen oder sich für ein Sonderangebot nen, sondern eine Themenstellung problemorien-
aus der breiten Palette der Personal-Computer tiert ohne die üblichen Hilfestellungen aufbereiten
oder Laptops entscheiden, ist zum einen eine fi- und ausformulieren können. In sprachwissen-
nanzielle Frage, hängt zum anderen jedoch auch schaftlichen Klausuren werden Freitext- und
von Status-Zuschreibungen und ästhetischen Vor- Übungsaufgaben sowie Multiple-Choice-Fragen oft
lieben ab. Aber auch im Zeitalter der Textverarbei- gemischt. Die folgenden Beispiele verdeutlichen
tung am PC schreiben wir weiterhin ständig mit die fachspezifischen Klausurthemen in Einfüh-
der Hand, mit Bleistift, Filzstift, Kugelschreiber rungsveranstaltungen:
und Füllfederhalter, auch der Tafelanschrieb ist im
PowerPoint-Zeitalter noch nicht aus der Mode ge-
kommen. Ältere deutsche Literatur Beispiele für
Klausur: Eine B. A.-typische Prüfungsform ist Sprachgeschichte und Grammatik: Geben Sie Klausurthemen
die Klausur. In begrenzter Zeit muss eine zuvor zu den folgenden Wörtern die neuhochdeut-
unbekannte Themenstellung oder Aufgabe bear- sche Entsprechung an und benennen Sie
beitet werden. Zunächst brauchen Sie Zeit, ein (bezüglich des Vokalismus), welche lautliche
Konzept zu entwickeln, die in der Themenstellung Entwicklung vom Mittelhochdeutschen zum
genannten Stichwörter in eine argumentative Neuhochdeutschen stattgefunden hat: gesagen,
Struktur zu übertragen, einen Text sorgfältig und guot, viur.
analytisch zu lesen, Ihr Wissen zu aktivieren und Literaturgeschichte: Nennen Sie zwei Zentren
mit den angeführten Aspekten und Fragen zu ver- mittelalterlicher Literatur und charakterisieren
binden (vgl. Delabar 2009, S. 142 ff.). Bevor Sie mit

13
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

rakter. Sie werden entweder unabhängig von ei-


Sie sie jeweils kurz. Welche Grundvorausset- nem größeren Schreibprojekt für die Diskussion im
zung für den mittelalterlichen Literaturbetrieb Seminar oder als Teil einer größeren Arbeit ge-
muss erfüllt sein? schrieben.
Abstract: In vielen Fachzeitschriften steht vor
Neuere deutsche Literatur oder nach dem eigentlichen Artikel eine knappe
Textanalytische Fragestellung: Beschreiben Zusammenfassung (vgl. zum Beispiel Deutsche
und erläutern Sie den Auszug aus Theodor Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Storms Novelle Im Schloß nach den Kategorien Geistesgeschichte – DVjs). Bei der Recherche nach
der formalen Erzähltextanalyse: Aufbau, Zeit, geeigneter Forschungsliteratur erlauben diese von
Modus und Stimme. den Autoren verfassten Abstracts eine rasche Ori-
Literaturtheoretische Fragestellung: »Machen entierung über Themenstellung, Methode und Er-
von Literatur bedeutet […] in erster Linie Ma- gebnisse. Das Abstract (abgeleitet vom Verb ›ab-
chen aus Literatur, das heißt Weiter-, Wider- strahieren‹: verallgemeinern, auf etwas verzichten)
und Umschreiben« (Renate Lachmann). Erläu- ist auch für die Vorbereitung eines Referats oder
tern Sie bitte diesen Satz im Blick auf den einer Hausarbeit eine nützliche Arbeitsform, um
Begriff der Intertextualität. Was bedeutet das Leseergebnisse konzentriert zusammenzufassen.
für ein Verständnis der Kategorien ›Autor‹ und In der Einleitung eines Referats oder einer Hausar-
›Text‹? beit werden zunächst die wichtigsten Beiträge mit
den zentralen Thesen vorgestellt. Ein Abstract ist
Sprachwissenschaft keine Rezension, d. h. eine wertende Besprechung
Morphologie: Analysieren Sie die Morphem- eines Beitrags oder eines Buches. Gleichwohl zei-
struktur des folgenden Wortes in Form eines gen Sie bereits mit der Vorstellung eines bestimm-
Strukturbaums: Zerstreuung ten Beitrags im Referat oder im Exposé zu Ihrer
Syntax: a) Bestimmen Sie in folgendem Satz Arbeit die Präferenz für einen thematischen
das Prädikat und die Satzglieder (Umfang, Schwerpunkt und eine methodisch-theoretische
Wortart des Kopfes, Funktion, Valenz): »die […] Fragestellung.
dem Bürgermeister aber einen weiteren Monat Thesenpapier: Warum ist ein gelungenes The-
nahezu unbeschwerten Politisierens ermögli- senpapier eine der schwierigsten und zugleich
chen mochte.« wichtigsten Herausforderungen im Semesteralltag?
b) Analysieren Sie den Satz nach dem Felder- Im Unterschied zum Handout (s. 1.2) erfordert das
modell/topologischen Modell. Thesenpapier die konzentrierte Darstellung der
c) Analysieren Sie das unterstrichene Satzglied zentralen, oft auch kontroversen Aussagen der
in Form eines Phrasenstrukturbaums. wissenschaftlichen Beiträge. Mit dem Thesenpa-
pier werden Bewertungen vor- bzw. Behauptun-
gen aufgestellt, die begründet werden müssen.
Thesen sollen die Diskussion anregen, sie können
1.3.1 | Kleine Textsorten provozieren. Die Vortragenden müssen so gut vor-
bereitet sein, dass sie überzeugende Argumente
Viele kleine Textsorten prägen den universitären und Belege vorbringen können. Bei guter Vorberei-
Alltag: die Mitschrift in Vorlesung und Seminar, tung dient es dem Vortragenden als Leitfaden, eine
das Exzerpt, das Abstract und das Thesenpapier ausführliche schriftliche Dokumentation ist (zu-
bei der Vorbereitung von Referaten, Hausarbeiten nächst) überflüssig. Ob eine lineare Abfolge oder
und Prüfungen, der Essay als seminarbegleitende eine kontroverse Vorstellung gewählt wird, ist ab-
Reflexion einer speziellen Fragestellung, das Proto- hängig von der Komplexität der Themenstellung.
koll, eine der unbeliebten Textsorten im Studium, In der ersten Variante werden Thesen zu einer
als Dokumentation einer Diskussion, die Dispositi- wissenschaftlichen Position vorgestellt, die in der
on oder das Exposé am Start zu einer längeren anschließenden Diskussion verteidigt wird. Häufig
schriftlichen Arbeit sowie die Rezension als kriti- liegen zum Beispiel zur Interpretation eines litera-
sche Vorstellung eines Textes. Die Hausarbeit ist rischen Textes kontroverse Beiträge vor. Auf die
die wissenschaftliche Kür im Spektrum der univer- Vorstellung und Diskussion der ersten These folgt
sitären Textsorten. Die kleinen Textsorten haben die Vorstellung und Diskussion der Gegenthese
vor allem rekapitulierenden, resümierenden Cha- (vgl. Sesink 2007, 139 ff.).

14
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Kleine Textsorten

(vgl. Gebhard 2005, S. 283–287; Frank u. a. 2007,


Beispiel: Thesenpapier S. 156 ff.). Protokolle sind in vielen Arbeitsfeldern
Sollen Vor- und Nachteile eines Literaturkanons Standardtexte, die Sie regelmäßig schreiben müs-
in Form von Thesen und Gegenthesen disku- sen. Nutzen Sie also die Lehrzeit im Studium, um
tiert werden, können folgende Thesen die Dis- Ihre Kompetenzen zu trainieren.
kussion einleiten: Essay: Im Unterschied zum Protokoll oder Expo-
1. These: Ein Literaturkanon führt zu breit ge- sé ist der Essay eine akademische Textsorte, für die
fächerten Literaturkenntnissen. verbindliche Regeln zu formulieren (fast) unmög-
1. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu lich ist. Jedes Fach, jeder Lehrende hat seine Vor-
oberflächlichem Lesen und ›Abhaken‹ der Lese- stellungen, wie ein gelungener Essay zu schreiben
liste. ist. Das französische Wort essai erlaubt eine Viel-
2. These: Ein Literaturkanon hebt das Niveau zahl an Übersetzungen: Versuch, Annäherung,
des Studiums. Probe, Prüfung, Test – Begriffe, die die semanti-
2. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu Un- sche Breite vom neutralen Ausprobieren bis zum
selbständigkeit und Fachblindheit. konkreten Prüfen/Geprüftwerden umfassen. Für
die Textsorte ›Essay‹ sollte zu Beginn des Studiums
eine längere Probezeit eingeplant werden. Ent-
Die Seminarteilnehmer sind explizit aufgefordert, scheidend für die argumentative Struktur und die
kritisch zu fragen und die Thesen auf den Prüf- stilistische Gestaltung eines Essays ist die Themen-
stand zu stellen. Auf dem Thesenpapier stehen bzw. Fragestellung, zum Beispiel die pointierte
neben den Angaben zum Seminar und dem Titel Vorstellung eines Textes, die auch persönliche
des Vortrags auch alle Literaturangaben, auf die in Kommentare und Wertungen enthalten kann oder
den Thesen Bezug genommen wird. Die Thesen muss, oder die Diskussion kontroverser Thesen.
werden durchnummeriert, im Durchschnitt sollte Ein Essay überzeugt mit prägnanten Formulierun-
eine These nicht mehr als zwei bis drei Sätze um- gen sowie stichhaltigen Reflexionen und Argumen-
fassen. ten. In der Regel sind Essays in drei Schritten auf-
Protokoll: Ein Protokoll dokumentiert den Ver- gebaut: In der Einleitung wird das Thema knapp
lauf der Diskussion im Seminar. Ob Sie die aus- vorgestellt, das im Hauptteil Schritt für Schritt aus-
führliche Version des Verlaufsprotokolls oder die geführt wird; im Resümee können auch weitere
knappe Version des Ergebnisprotokolls wählen, Perspektiven gebündelt werden (vgl. Stadter 2003,
klären Sie vor dem Schreiben. Das Protokoll ist das S. 65–92). Lesen Sie die ›großen‹ Essays, lernen Sie
Produkt, ihm voraus geht das Protokollieren. Wer mit Vorbildern (imitatio). Michel de Montaignes
ein Protokoll übernimmt, steht vor mehreren Auf- Essay über »Die Kunst des Gesprächs« lohnt auch
gaben: konzentriertes Zuhören, präzises Notieren nach 400 Jahren noch die Lektüre.
wichtiger Aussagen und Positionen, Nachfragen, Exposé: Mit einem Exposé (auch Disposition,
falls Begriffe unklar geblieben sind oder Argumen- Entwurf) geben Sie einen kurzen Überblick über
te in der Diskussion durcheinanderwirbeln, Schrei- Ihr Arbeitsvorhaben. Es ist ein Konzept, das im
ben der ersten Fassung (Korrektur durch die Semi- Prozess des Schreibens präzisiert wird, d. h. even-
narleitung), eventuell Schreiben der zweiten tuell auch revidiert, gekürzt oder erweitert wird.
Fassung (nach der Diskussion im Seminar). Sie Das Exposé informiert den Betreuer über Ihr Vor-
lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterschei- haben, er kann Tipps geben, wie das Thema um-
den. Die Darstellung muss übersichtlich, sachlich strukturiert, präzisiert oder reduziert werden
und neutral sein; persönliche Kommentare und kann. Im Exposé werden Frage- bzw. Themen-
Bewertungen gehören nicht ins Protokoll. stellung skizziert, der Stand der Forschung refe-
Mit den Protokollen liegt am Ende des Semes- riert, das methodische Vorgehen begründet und
ters eine Textsammlung vor, die von Studierenden die vorläufige Auswahl der Primär- und Sekundär-
geschrieben, von der Seminarleitung überprüft texte vorgestellt; ein Zeitplan ist spätestens in der
und der Seminargruppe abgenommen wurde. Pro- Examensphase eine nützliche Orientierung. Auch
tokolle sind die Scharniere zwischen den einzel- wenn das Exposé eine vorläufige Planung skiz-
nen Sitzungen. Sie bieten auch noch nach Semes- ziert, kann es im Prozess des Schreibens dabei hel-
tern und in der Prüfungsphase einen Überblick fen, die Arbeitsfortschritte zu überprüfen und
über die Entwicklung von Themen und Diskussio- Schreibblockaden zu überwinden. Wenn Sie sich
nen, sie dokumentieren Irrwege und Fortschritte für ein Stipendium bewerben wollen oder eine Dis-

15
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

sertation anstreben, ist ein gutes Exposé Voraus- IASL-Beiträge sind von Wissenschaftlern für Wis-
setzung für eine positive Entscheidung. Auch au- senschaftler geschrieben. Gleichwohl bieten sie
ßerhalb der Universität ist das Exposé ein wichtiges auch Studierenden vor allem in der Prüfungsphase
Instrument für die Evaluation von Schreibprojek- eine gute Orientierung. Dies gilt auch für die Be-
ten. Im Literaturbetrieb zum Beispiel ist ein Expo- sprechungen wissenschaftlicher Bücher im Inter-
sé oft Grundlage für die Entscheidung eines Verla- net-Portal literaturkritik.de.
ges, ein geplantes Buchprojekt zu fördern und
seine Publikation in Aussicht zu stellen oder dem
Verfasser eine freundliche Absage zu schicken.
Rezension: In vielen Bachelor-Studiengängen 1.3.2 | Literatursuche
lernen Sie in Übungen, neue Bücher vorzustellen
und sachlich zu bewerten. Rezensionen (lat. re- Planen Sie eine Hausarbeit zu Goethes Werther?
censere: mustern) haben eine wichtige Vermittler- Die Literaturliste, die Sie im Seminar bekommen
rolle zwischen Autor/innen, Verlag, Buchmarkt haben, listet schon 20 Monographien und Aufsätze
und Leser/innen. Besprechungen von Büchern le- auf. In der Bibliographie der Deutschen Sprache
sen und hören Sie in Zeitungen, (Fach-)Zeitschrif- und Literatur (abgekürzt: BDSL, bequem über die
ten, im Internet, im Fernsehen und im Radio. Kri- Online-Kataloge der Universitätsbibliotheken zu
tische Rezensionen eines literarischen Werks erreichen) werden für die Suchanfrage »Goethe,
informieren den Leser über Thema, Aufbau und Werther« für die Jahre 1985 bis 2009 ca. 450 Titel
Inhalt, Sprache und Stil. Ist der Autor bisher kaum aufgelistet. Erweitern Sie die Schlagwörter um den
bekannt, kann er mit einem kleinen biographi- Begriff »Brief«, erhalten Sie fünf Einträge. Eine prä-
schen Porträt vorgestellt werden; ein neues Werk zise Fragestellung ist also unbedingt nötig, um aus
eines bekannten Autors erlaubt Hinweise auf die der Vielzahl der Artikel und Bücher gezielt auszu-
bisherige Entwicklung. Die Bewertung schließ- wählen. Möchten Sie hingegen einen neu erschie-
lich sollte sich nicht mit rhetorischen Floskeln nenen Roman vorstellen, werden Sie noch keine
begnügen, sondern nachvollziehbare und plausi- wissenschaftliche Literatur finden. Sie sind ange-
ble Argumente anführen (vgl. Anz/Baasner 2004, wiesen auf die aktuellen Besprechungen in den
S. 226 ff.). Vor allem vor den großen Buchmessen Tages- und Wochenzeitungen oder im Internet. Vor
in Leipzig und Frankfurt finden Sie in vielen Zei- allem dort werden Sie in spezialisierten Online-
tungen (FAZ, FR, SZ, TAZ, NZZ etc.) und Zeit- Portalen wie zum Beispiel literaturkritik.de fündig
schriften (DIE ZEIT, DER SPIEGEL etc.) sowie in (vgl. Franke u. a. 2010).
Magazinen (Literaturen etc.) Extraseiten oder Bei- Nehmen Sie an den Führungen und Schulun-
lagen, in denen die wichtigsten Neuerscheinungen gen der Universitäts- und Institutsbibliotheken zu
vorgestellt werden: Belletristik, Kinder- und Ju- Beginn des Studiums und bei Bedarf teil: Auch die
gendliteratur, Sach- und Fachbücher. Nutzung des Online-Katalogs und der schnelle Zu-
Die Rezension einer wissenschaftlichen Veröf- griff auf die Datenbanken wird in kleinen Gruppen
fentlichung stellt Aufbau, Thesen, Argumentation geübt, Probleme können sofort besprochen, Strate-
und Ergebnisse vor; im Resümee werden Stärken gien der Recherche erprobt werden. Mit Literatur-
und Schwächen eines Beitrages sachlich abgewo- verwaltungsprogrammen (LiteRat, Citavi, Litlink,
gen. Die Internationale Bibliographie der Rezensio- Bibliographix etc.), die von vielen Bibliotheken
nen wissenschaftlicher Literatur (IBR, erscheint inzwischen kostenlos angeboten werden, können
seit 1971, monatliche Aktualisierung) verzeichnet Sie recherchieren, Literaturangaben ohne den Um-
ca. 1,2 Millionen Nachweise, vor allem für die weg Kopie oder Notizzettel direkt erfassen, Kom-
Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Online- mentare einfügen, Querverbindungen markieren
Portal IASL (IASLonline.de), seit 1998 Nachfolger und Fachbegriffe verbinden, so dass die Arbeitser-
des gedruckten Internationalen Archivs für die gebnisse auch für weitere Projekte genutzt werden
Sozialgeschichte der Literatur, stellt kostenfrei Re- können. Die Programme versprechen Wissens-
zensionen wissenschaftlicher Neuerscheinungen und Projektmanagement; ob sie diese Versprechen
vor. Die Besprechungen werden, so können Sie einlösen, müssen Sie im Praxistest herausfinden.
auf der Homepage lesen, kritisch begutachtet, Bibliographieren/Recherchieren: Im Seminar
»sachhaltige Information und theoretische Reflexi- werden schon erste Hinweise auf wichtige For-
on« charakterisieren die Beiträge. Nicht auf An- schungsbeiträge gegeben, die für eine Hausarbeit
hieb werden Sie alle Besprechungen verstehen: überprüft und evtl. ergänzt werden. Die Texte sind

16
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Literatursuche

oft schnell ausgewählt, als nächste Schritte folgen gister) die systematischen Bände. Online ist die
Suche, Auswahl und Beschaffung der begleitenden Bibliographie noch nicht erreichbar; seit 2002 kön-
Forschungsliteratur. Hilfestellungen bei der auto- nen Sie in den Jahrgängen 1998 ff. auf CD-ROM
ren-, themen- oder epochenbezogenen Recherche recherchieren.
gibt zum Beispiel das Handbuch von Hansjürgen N MLA – Modern Language Association (www.
Blinn (2005). Die Online-Angebote der Universitä- mla.org/bibliography): Die internationale Biblio-
ten sind in den letzten Jahren systematisch ausge- graphie der Modern Language Association ver-
baut worden. Die klassischen Karteikästen, diffe- zeichnet Monographien und unselbständig er-
renziert nach alphabetischem und systematischem schienene Beiträge zu Literatur und Sprache,
Katalog, werden in der Regel nicht mehr aktuali- Literatur- und Sprachwissenschaft der Germanis-
siert. Über den OPAC (Online Public Access Cata- tik (auch: Anglistik/Amerikanistik, Romanistik,
logue) der Bibliotheken sind viele Datenbanken Klassische Philologien etc.) seit 1926. Seit 2004
bequem und kostenfrei zu erreichen. Einen Über- stellt die MLA auch Abstracts zu einzelnen Beiträ-
blick gibt das Online-Portal der Deutschen Natio- gen vor.
nalbibliothek (http://www.d-nb.de): Sie ist »die N BLLDB – Bibliography of Linguistic Literature
zentrale Archivbibliothek und das nationalbiogra- Database: Sprachwissenschaftler können online
fische Zentrum der Bundesrepublik Deutschland«. auf diese Bibliographie zugreifen – http://www.
Dort finden Sie alle seit 1913 in Deutschland pu- blldb-online.de (vgl. Delabar 2009, S. 37 ff.).
blizierten deutschsprachigen Bücher und Medien, Die Fachbibliographien bieten mit ihren diffe-
in zunehmendem Umfang auch Tonträger, elektro- renzierten Suchfunktionen zuverlässige Arbeits-
nische Datenträger und Netzpublikationen. Der instrumente. Wenn Sie als Suchbegriffe über
Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK), angesiedelt an Google »Franz Kafka« eingeben, erhalten Sie ca.
der Universitätsbibliothek Karlsruhe, ist als Meta- 2 880 000 Einträge (Stand: Februar 2012), einge-
katalog konzipiert, der in Bibliotheks- und Buch- grenzt auf Seiten aus Deutschland. Wenn Sie viel-
handelskatalogen weltweit mehr als 500 Millionen sprachig oder mutig sind und die Option »Das
Bücher und Zeitschriften nachweist. Web« wählen, also die weltweite Suche, stellt
Folgende Fachbibliographien, die gedruckt Google 10 400 000 Einträge vor. Es überrascht, wie
und/oder online zur Verfügung stehen, haben sich oft dieser Einstieg zum Bibliographieren genutzt
bewährt: wird. Ein Register, d. h. eine Suchfunktion mit hie-
N BDSL – Bibliographie der Deutschen Sprache rarchischen Subkategorien, in zuverlässigen und
und Literatur (www.bdsl-online.de): Die Deut- anspruchsvollen Büchern noch vorhanden, bieten
sche Forschungsgemeinschaft unterstützt das viele Suchmaschinen nicht. Sie sind aufgefordert,
»Sondersammelgebiet Germanistik: Deutsche Spra- eine Hierarchie zu entwickeln. Das Netz ist ver-
che und Literatur« der Universitätsbibliothek gleichbar mit einem unterirdischen Wurzelwerk,
Frankfurt finanziell. Erstellt wird die Bibliographie einem Rhizom, das eine Überfülle an nicht ge-
von der Redaktion der Bibliothek durch Autopsie, wichteten Zufallsfunden liefert.
das heißt, die bibliographischen Angaben der Bü- Auswahl: Auch wenn Sie beim Bibliographieren
cher und Zeitschriften werden vor Ort überprüft in den Fachportalen vielversprechend klingende
und ›nach Augenschein‹ erstellt. Seit 2004 ist die Titel gefunden haben, bedeutet dies nicht, dass
BDSL online zu erreichen; inzwischen sind viele Sie in den nächsten Tagen mit dem Lesen begin-
Bibliotheken über Lizenzen angeschlossen, so nen können. Oft sind die Bücher ausgeliehen oder
dass Sie auch als Erasmus-Student/in in Rom Zu- müssen über Fernleihe bestellt werden. Dies muss
griff auf die BDSL haben und über Fernleihe und bei der Zeitplanung berücksichtigt werden. Eine
International Library Loan (ILL) Aufsätze bestel- umfangreiche Literaturliste belegt zunächst nur
len können. die Quantität der Beschäftigung; entscheidend ist
N Germanistik: In der zweiten großen Fach- die überzeugende und methodisch reflektierte
Bibliographie, der gedruckten Zeitschrift Germa- Auswahl und ihre Begründung im Exposé. Wenn
nistik, werden zudem viele Monographien und der zu bewältigende Bücherstapel zu groß wird,
Sammelbände mit kleinen Referaten vorgestellt, in ist dies häufig der Grund, der als Entschuldigung
denen Themenstellung und Durchführung knapp für die verspätete Abgabe oder gar den Abbruch
skizziert und bewertet werden. Jährlich erschei- einer Arbeit genannt wird. Für Recherche, Aus-
nen zwei Bände, im Abstand von vier bis fünf Jah- wahl und Lektüre der Beiträge sollte insgesamt
ren ergänzen Registerbände (Namen- und Sachre- nicht mehr als ein Drittel der Arbeitszeit einge-

17
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

plant werden. Unabhängig davon, ob Sie die ers- funktionen anbieten, mit denen Sie in großen Text-
ten Ergebnisse der Lesearbeit konventionell auf ausgaben schnell recherchieren können.
Zetteln/Karteikarten vermerken oder direkt in eine Der Zitationsindex ist im Wissenschaftsbetrieb
Textdatei eingeben, wichtig ist, Zitate korrekt zu ein Instrument, das mit quantitativen Mitteln Aus-
notieren, Auslassungen zu markieren und die nö- sagen über die Qualität eines Beitrags treffen will.
tigen bibliographischen Angaben sorgfältig zu ver- Vor allem in den Naturwissenschaften gilt die Häu-
merken. Wenn Sie in der Schlussphase der Arbeit figkeit des Zitiertwerdens als Indikator für die
auf ein inzwischen wieder ausgeliehenes Buch Reputation und Qualität der wissenschaftlichen
warten müssen, um Angaben zu ergänzen oder zu Beiträge. Auch in den geisteswissenschaftlichen
korrigieren, verpassen Sie eventuell die Frist für Fächern gibt es sogenannte Zitier-Stars, die in vie-
die Abgabe. len Beiträgen anzutreffen sind. Sie spiegeln zu-
Zitieren/Belegen: Zitieren heißt belegen, heißt gleich – zumindest für eine bestimmte Zeit – aktu-
Teilhabe an Texten und Diskursen. Zitate knüpfen elle Diskussionen und theoretische Präferenzen.
Verbindungen, die die eigene Argumentation un- Mit zunehmend geschultem Blick erkennen Sie
terstützen und auf andere Forschungen verweisen. schon an den Titelstichwörtern, zu welcher wis-
Die Anführungszeichen markieren die fremden senschaftlichen Schule ein Beitrag gehört.
Stimmen, sie signalisieren dem Leser ›direkte Systematik der Nachweise: In vielen Ratgebern
Rede‹. Auch beim direkten Zitieren bleibt die eige- zum wissenschaftlichen Schreiben finden Sie Vor-
ne Stimme dominant, sie wählt aus, kürzt, stellt schläge für die Systematik der Nachweise. Sinnvoll
um, bewertet. Unabhängig davon, welche Form ist es, vor Beginn des Schreibens nachzufragen, ob
des Zitats gewählt wird, wörtliche Wiedergabe und welche Vorgaben es an Ihrem Institut gibt. Die
oder sinngemäßes Zitat, gelten die Regeln der gewählte Form muss im Prozess des Schreibens
Überprüfbarkeit durch einen korrekten Nachweis beibehalten werden. Sie können die Kurzform mit
und der korrekten Wiedergabe des Zitierten. Verfassername, Jahreszahl und Seitenangabe (Har-
Nicht die Quantität der Zitate, Belege und Ver- vard-Systematik) wählen und die vollständigen
weise garantiert die Qualität des Geschriebenen, bibliographischen Angaben nur im Literaturver-
sondern die plausible Auswahl der Texte. Der ame- zeichnis anführen oder diese auch in der ersten
rikanische Historiker Anthony Grafton hat in sei- Fußnote vorstellen (vgl. Sittig 2008, S. 73–86; Dela-
ner Untersuchung mit dem pointierten Titel Die bar 2009, S. 126–131).
tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote dieses Systematik des Zitierens: In den Ratgebern von
Problem prägnant beschrieben: »In Wirklichkeit Sittig und Delabar finden Sie auch viele Beispiele,
kann selbstverständlich niemand je das Spektrum wie Sie Zitate kürzen, umstellen und in den eige-
von Quellen ausschöpfen, die für ein wichtiges nen Text integrieren können. Vor allem beim indi-
Problem relevant sind – und viel weniger noch alle rekten Zitieren ist die Fehlerquote hoch: Die For-
in einer Anmerkung zitieren. […] Nur die richti- men des Konjunktiv I sind zum Beispiel problema-
gen Fußnoten, nicht eine beliebige Ansammlung tisch, wenn sie identisch mit den Indikativformen
von Verweisen, ließen einen Text eine kritische sind. Der Konjunktiv sollte nicht übermäßig einge-
Nachprüfung mit Glanz bestehen« (Grafton 1995, setzt werden; die Texte bekommen eine auffällige
S. 30 f., 59 f.). Künstlichkeit. Problematisch ist, wenn ein Zitat
Zitierfähigkeit ist ein zentrales Kriterium für die im Zitat nicht als solches erkannt und markiert
Auswahl. Dies gilt sowohl für die Ausgaben der wird. Dies führt dazu, dass ein Zitat dem ›fal-
literarischen Texte (s. 1.1.2) als auch für die wis- schen‹ Autor zugewiesen wird. Ein typischer An-
senschaftliche Literatur, unabhängig davon, ob die fängerfehler ist auch der sog. Zitatenmix: In einem
Zitate aus Büchern stammen oder im Netz zu fin- Abschnitt von ca. 10 Zeilen wird aus drei For-
den sind. Beiträge aus Wikipedia sind nicht zitier- schungsbeiträgen zitiert, die sich hinsichtlich der
fähig, da sie wissenschaftlichen Standards meist theoretischen Basis, der argumentativen Struktur
nicht genügen. Jeder – auch ein völlig Fachfrem- und der sprachlichen Gestaltung extrem unter-
der – kann hier einen Beitrag schreiben oder einen scheiden. Es entsteht ein rhetorisch-argumentati-
bereits vorhandenen Beitrag verändern. Digitali- ves Pastiche im Wortsinn (ital. pasticcio: Eintopf),
sierte Texte und Textausgaben sollten wann immer gemischt aus oft divergierenden, methodisch un-
möglich mit Studienausgaben bzw. historisch- verträglichen und wissenschaftshistorisch entlege-
kritischen Ausgaben verglichen werden. Nützlich nen Positionen, begleitet von einigen wenigen ei-
sind digitalisierte Studienausgaben, da sie Such- genen Sätzen. Das Verhältnis von Eigenem und

18
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Fremdem ist für jede Form wissenschaftlicher Tex- ten eine rechtsverbindliche Erklärung abzugeben.
te angemessen zu gewichten. Auch die Möglich- Der Wissenschaftstheoretiker Gerhard Fröhlich
keit, die Argumentation in den Fußnoten fortzu- stellt in seinem Beitrag »Plagiate und unethische
setzen und zu vertiefen, sollte zunächst nur be- Autorenschaften« Varianten vor: das Totalplagiat,
dingt genutzt werden. Alle wichtigen Argumente das Übersetzungsplagiat, das Teilplagiat als »wis-
gehören in den Haupttext. senschaftliches Cuvée«, das Ideenplagiat, »altruis-
Zitat und Urheberrecht: Was hat Zitieren mit tische Plagiate«, Autoplagiate, Verbal- und Bildpla-
dem deutschen Urheberrecht zu tun? In der Regel giate (Fröhlich 2006, S. 81–82). Im Semesteralltag
gelten geisteswissenschaftliche Seminararbeiten – sind all diese Formen regelmäßig zu finden. Be-
im Unterschied zu den oft standardisierten The- sonders beliebt ist das »wissenschaftliche Cuvée«,
men in den Naturwissenschaften – als individuelle ein Zusammenschnitt von Texten, die das Aufspü-
Leistung. Die Pflicht zu zitieren, bedeutet auch, ren der Quellen der Einzeltexte im Unterschied zu
die Autorität des fremden Textes anzuerkennen. einem Totalplagiat komplizierter machen. Cuvées
Im Urheberrecht werden die Begriffe ›Bearbeiten‹, fallen trotzdem schnell auf, weil Argumentation
›Umgestalten‹, ›Benutzen‹ und ›Zitieren‹ (§§ 3, 23, und sprachliche Gestaltung einzelner Passagen
24 und 51) angeführt, um die verschiedenen Stu- überhaupt nicht zusammenpassen. Die Zeit, die
fen zu präzisieren. Für die wissenschaftliche Ar- mit ›Copy and Paste‹ (Ausschneiden und Einfü-
beit ist vor allem Paragraph 51: »Zitate« wichtig. Er gen) vertan wird, kann und sollte in jedem Fall
schützt den ›Urheber‹ und formuliert Regeln für effizienter und rechtlich unbedenklich für eigene
den ›Benutzer‹: gedankliche Arbeit genutzt werden.

Zur Vertiefung

Gesetz über Urheberecht und verwandte 1.3.3 | Die Hausarbeit


Schutzrechte, 1966, § 51 Zitate
»Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und Vor allem in Pro- und Hauptseminaren ist das Ver-
öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Wer- fassen einer Hausarbeit die Voraussetzung für das
kes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in Bestehen der Modulprüfung bzw. für den Erwerb
ihrem Umfang durch den besonderen Zweck ge- eines qualifizierten Leistungsnachweises. Mit der
rechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn Hausarbeit zeigen Sie, dass Sie eine Themenstel-
1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein lung in einem begrenzten zeitlichen Rahmen wis-
selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläute- senschaftlich angemessen und sprachlich korrekt
rung des Inhalts aufgenommen werden, bearbeiten können. Da Sie in den modularisierten
2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung Studiengängen oft enge Zeitvorgaben für die Abga-
in einem selbständigen Sprachwerk angeführt wer- be haben, ist eine gute Planung und Abstimmung
den, […].« der einzelnen Arbeitsschritte umso wichtiger. Für
eine Hausarbeit erhalten Sie je nach Modulvorga-
ben bis zu vier Kreditpunkte. Vier Kreditpunkte
Auch für studentische Arbeiten gilt das Urheber- bedeuten 120 Arbeitsstunden, d. h. ca. 4 bis 6 Wo-
recht: Lesen Sie bitte das Kleingedruckte auf der chen. Diese Zeit gilt es zu planen. Versuchen Sie,
Homepage von Hausarbeiten.de. Kopien und Aus- bei der Abwägung zwischen Wunschthema und
drucke dürfen nur für den privaten und sonstigen Arbeitsbedingungen einen realistischen Mittelweg
eigenen Gebrauch angefertigt werden (§ 53 Urhe- zu finden.
berrecht). Als Benutzer/in sind Sie verantwortlich Themenstellung suchen und eingrenzen (inven-
für die Einhaltung der juristischen Vorschriften. tio): Was interessiert Sie an einem Text? Welches
Plagiate: Im Studium werden Sie ständig aufge- Erkenntnisinteresse haben Sie? Ein vorgegebenes
fordert, Auskunft zu geben über Ihre Quellen und Thema lässt wenig Spielraum für eigene Ideen.
den Gebrauch, den Sie von ihnen machen. Die Wenn möglich, formulieren Sie ein eigenes The-
Zahl der Teil- und vollständigen Plagiate nimmt ma. In der Regel wird eine Themen- oder Frage-
dramatisch zu. Das Angebot an frei verfügbaren stellung nicht isoliert am häuslichen Schreibtisch
und käuflichen Hausarbeiten wächst im Netz täg- entwickelt, sondern entsteht in der Diskussion im
lich. Alle Universitäten fordern ihre Studierenden Seminar, in der intensiven Beschäftigung mit lite-
inzwischen auf, bei größeren schriftlichen Arbei- rarischen und wissenschaftlichen Texten. Die The-

19
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

menstellung sollte so präzise wie möglich und so Titelformulierung und den Kapitelüberschriften –
eng wie nötig formuliert werden: »Eine Arbeit, die mit der Netzwerk-Technik oder dem Mind-Map-
mehr hält, als ihr Titel verspricht, überrascht den ping visualisieren und strukturieren (vgl. Stary/
Leser auf positive Weise. Eine Arbeit, die die Er- Kretschmer 2004, S. 121 ff.; Frank u. a. 2007,
wartungen enttäuscht, die ihr Titel weckt, er- S. 84 ff.). Wählen Sie die Netzwerk-Technik, ver-
scheint womöglich in einem schlechteren Lichte, binden Sie die ausgewählten Begriffe mit Relatio-
als sie eigentlich verdiente« (Sesink 2007, S. 94). nen, die die thematischen, methodischen oder
Überlegen Sie deshalb schon in dieser ersten Ar- logischen Beziehungen zwischen den Begriffen
beitsphase, wie Sie ein Thema vorstellen möchten: präzisieren: Sie können Eigenschaften benennen,
Haben Sie im ersten Schritt einen Autor und/oder Bedingungen formulieren, Begründungen geben,
Texte ausgewählt, werden Sie im zweiten Schritt – vergleichen, Schlussfolgerungen ziehen etc. Wenn
in Auseinandersetzung mit den Forschungsbeiträ- Sie ein Mind-Map entwickeln, gehen Sie von ei-
gen – entscheiden, ob Sie eine literaturhistorische, nem zentralen Begriff aus und stellen jeden neuen
eine literaturtheoretische oder eine textanalytische Aspekt in einer vom Zentrum ausgehenden Linie
Untersuchung planen. In der Sprachwissenschaft dar. Ob Sie im ersten Arbeitsschritt die klassische
können Sie eine sprachgeschichtliche oder syste- Form des Baumdiagramms oder eine andere grafi-
matische Perspektive wählen. Die Arbeitsschritte sche Form für die Visualisierung wählen, sollten
der Themenwahl, der Recherche und der Argu- Sie vom Stand der Vorarbeiten abhängig machen.
mentation sind nicht zu trennen; erst wenn Sie die Die Baumstruktur mit Stamm, Ästen und Zweigen
ausgewählten Texte und Bücher aufmerksam gele- bildet schon eine hierarchische Systematik ab. Im
sen haben, werden Sie erkennen, ob ein Text die zweiten Arbeitsschritt übertragen Sie Begriffe
im Titel vorgestellten Aspekte auch so ausführt, (und Relationen) in eine chronologische, lineare
wie Sie dies in Bezug auf Ihr Thema erwartet ha- oder hierarchische Struktur (vgl. Stary 2009). Mit
ben. Enttäuscht sind Sie, wenn Sie große Probleme diesem Arbeitsschritt legen Sie das weitere Vorge-
haben, den Text zu verstehen, sei es, weil seine hen verbindlich fest: Sie haben Methoden, Theo-
Thesen auf theoretischen Prämissen basieren, die rien und Thesen im Hinblick auf das Untersu-
Sie (noch) nicht kennen, oder weil er in einem chungsziel ausgewählt und kennen nun den Weg
Wissenschaftsjargon verfasst ist, der (zunächst) von der Titelformulierung bis zum Resümee.
völlig unverständlich ist. Wählen Sie einen der Themenstellung angemesse-
Strukturieren und gliedern (dispositio): Spätes- nen Grad der Untergliederung. In einer Arbeit von
tens jetzt sollte die Themenstellung präzisiert und 15 Seiten ist die Unterteilung des Hauptteils in
fixiert werden. Die Titelformulierung kann infor- fünf Subkapitel mit jeweils drei weiteren Subkapi-
mieren über Autor, Werk, Gattungsreferenz, Me- teln zu kleinteilig.
thodik oder Forschungsfeld. Die gelungene Formu- Einleitung: Nur Umberto Eco, der prominente
lierung des Titels ist die Visitenkarte der Arbeit, italienische Semiotiker und Bestseller-Autor,
die neugierig macht und zum Weiterlesen verlockt. kann es sich leisten, Studierenden in seinem
Im Semesteralltag landen auf den Schreibtischen auch in Deutschland wiederholt aufgelegten Rat-
der Lehrenden Dutzende Arbeiten. Mit einer rhe- geber Wie man eine wissenschaftliche Abschluß-
torisch-prägnanten und thematisch präzisen For- arbeit schreibt folgenden Rat zu geben: »Eine
mulierung gewinnen Sie auf jeden Fall schon ein- gute, endgültige Fassung der Einleitung soll errei-
mal ihre Aufmerksamkeit. Ein gut strukturiertes chen, daß der Leser sich mit ihr begnügt, alles
und formuliertes Inhaltsverzeichnis signalisiert versteht und den Rest der Arbeit nicht mehr liest«
dem Leser eine wohldurchdachte Abfolge der ein- (Eco 2010, S. 145). Eine gut strukturierte Einlei-
zelnen Kapitel und begriffliche Präzision. Wie ist tung verstärkt vielmehr das Interesse, Ihre im
die Themenstellung auf dem Titelblatt mit den Hauptteil vorgestellten Analysen und Diskussio-
Formulierungen und Fachbegriffen der einzelnen nen intensiv zu lesen. In der Einleitung werden
Kapitelüberschriften verknüpft? Wechseln Sie Fragestellung, Arbeitsthesen, die die Diskussion
nicht ständig die sprachliche Form: Eine Mischung begleitenden Forschungsbeiträge, Kriterien der
aus Frage- und Aussagesätzen sowie Nominalkon- Auswahl der Forschungsliteratur, der methodi-
struktionen verweist nicht auf ein durchdachtes sche Zugriff und die Textgrundlage vorgestellt.
Konzept. Abschließend werden die einzelnen Arbeits-
Die gesammelten Informationen und Ideen schritte, orientiert an der Struktur des Inhaltsver-
können Sie – ausgehend von den Begriffen in der zeichnisses, skizziert.

20
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Hauptteil: Im Hauptteil führen Sie das in der Darstellung von Thesen und Antithesen eine Syn-
Einleitung angekündigte Arbeitsprojekt aus. Oft these entwickelt wird.
wollen Studierende als erstes Kapitel ein Inhalts- Beschreibungen, Definitionen und Thesen/Hy-
referat der literarischen Texte schreiben; dies ist pothesen prägen das argumentative Profil eines
überflüssig. Die genaue Kenntnis der Texte kön- Textes. Definitionen sind dann wichtig, wenn ein
nen Sie voraussetzen. Zeigen Sie am Text an ex- Begriff in der Forschungsliteratur nicht einheitlich
emplarischen Stellen auf, wie Ihre Hauptthese zu beschrieben wird, Sie also eine Arbeitsdefinition
belegen ist. Sie müssen nicht alle Textstellen an- vorstellen müssen. Der Begriff ›Groteske‹ wird
führen, entscheidend ist die plausible Auswahl zum Beispiel einerseits als literarische Subgattung
der ausgewählten Passagen. Dies gilt auch für definiert, andererseits als eine dem Text immanen-
die Forschungsliteratur. Verzichten Sie auf Para- te Schreibstrategie charakterisiert. Thesen/Hypo-
phrasierungen, wählen Sie präzise Verben für thesen bedürfen der Überprüfung, ob die zugrun-
die Vorstellung der zentralen Thesen. Mit der Ar- deliegenden Aussagen und Annahmen plausibel
beit zeigen Sie, dass Sie literarische Texte oder sind. Verweise auf Allgemeinwissen oder morali-
sprachwissenschaftliche Fragen in Auseinander- sche Schlüsse sind nicht zulässig.
setzung mit Forschungsliteratur kritisch lesen Formulieren: Satzverknüpfungen, Konjunkti-
und argumentativ überzeugend beschreiben kön- onen, Prädikate, Tempora und Wiederholungen
nen. beeinflussen die Lesbarkeit eines Textes. In kom-
Zusammenfassung: Nennen Sie das abschlie- plizierten, überlangen Satzkonstruktionen ver-
ßende Kapitel nicht einfach ›Schluss‹, sondern schwinden leicht die wichtigen Aussagen. Mit den
deuten Sie mit der Überschrift an, welche Perspek- passenden Konjunktionen geben Sie eine Lesehilfe
tive Sie wählen: Zusammenfassung, Resümee, und legen fest, wie die Aussagen der einzelnen Satz-
Ausblick. Das letzte Kapitel korrespondiert mit der teile aufeinander bezogen sind. Mit einer kausalen
Einleitung: Wird in der Einleitung die Themenstel- Konjunktion wird eine Begründung eingeleitet,
lung zunächst vom Allgemeinen (Seminarthema) disjunktive Konjunktionen verweisen auf Alternati-
zum Spezifischen (Thema der Hausarbeit) entwi- ven: entweder – oder; mit modalen Konjunktionen
ckelt, sollten Sie nun ausgehend von den Detail- werden Bedingungen bzw. Einschränkungen ein-
ergebnissen der Untersuchung wieder zu abstrak- geleitet. Mit dem Wechsel von komplexen Satzgefü-
teren, generalisierenden Aussagen kommen. Mit gen (unterordnende Konjunktionen) zur Satzreihe
einem Ausblick verweisen Sie auf mögliche weite- (nebenordnende Konjunktionen) gönnen Sie dem
re Fragestellungen und Perspektiven. Leser zudem eine kleine Verschnaufpause. Falls Sie
Argumentieren heißt begründen, Synonyme zum letzten Mal in der 8. Klasse Grammatikunter-
sind »veranschaulichen«, »verdeutlichen«, »ausle- richt hatten, sollten Sie spätestens in dieser Arbeits-
gen« und »nachweisen«. Die Argumentations- phase Ihre Handbibliothek um eine gute Gramma-
theorie und ihre Praxis sind in der Rhetorik den tik erweitern. Eine Garantie für gut formulierte und
Produktionsstufen der Erfindung (inventio) und präzise Aussagen ist damit nicht verbunden.
der Gliederung (dispositio) zugeordnet (vgl. Ott- Aktiv formulieren: Die deutsche Sprache bietet
mers 2007). Deduktion und Induktion sind die eine große Fülle an Verben, die gedankliche Tätig-
wichtigsten Grundformen wissenschaftlichen Ar- keiten beschreiben. Viele Arbeitsschritte können
gumentierens. Beim deduktiven Vorgehen werden mit Verben charakterisiert werden. In der Einlei-
auf der Basis einer detaillierten Analyse allgemei- tung werden Sie zunächst beschreiben, referieren,
ne Schlüsse gezogen. Wählen Sie hingegen einen erläutern, definieren und vorstellen, im Hauptteil
induktiven Zugang, gehen Sie von einer bestimm- vor allem dokumentieren, analysieren, hervorhe-
ten These, einer theoretischen Fragestellung aus, ben, konkretisieren, präzisieren, illustrieren, argu-
die Sie Schritt für Schritt am Text belegen. Sowohl mentieren, kommentieren, kritisieren, im Resümee
bei stärker literaturgeschichtlich ausgerichteten rekapitulieren, pointieren, abstrahieren. Wenn auf
als auch bei gattungs- oder epochenbezogenen einer Seite fünfmal die Formulierung zu lesen ist:
Themenstellungen können Sie beide Perspektiven »Der Autor sagt«, ist dies nicht nur ein Hinweis auf
wählen oder auch verbinden. Darüber hinaus die noch wenig geschulte Schreibpraxis, sondern
müssen Sie entscheiden, ob Sie die Themenstel- verweist auch auf die unzureichende analytische
lung in einer chronologischen, systematischen Lektüre der Forschungsbeiträge.
oder komparatistischen Struktur anordnen. Eine Metaphern: Auch die Wissenschaftssprache
dialektische Gliederung verlangt, dass nach der kommt nicht ohne Metaphern aus. Lexikalisierte

21
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

Metaphern benutzen wir in vielen Bereichen: wohnheiten kritisch zu überprüfen. Den Tele-
graue Theorie, tote Sprache, Eselsohr, Bücherberg grammstil wiederum sollten Sie den Nachrichten-
etc. In den Naturwissenschaften, z. B. in der Gene- agenturen überlassen. Lesen Sie die Sätze laut vor,
tik, helfen kognitive Metaphern, komplexe und zu Hause nach dem Abendessen oder in der Ar-
unsichtbare Sachverhalte und Vorgänge anschau- beitsgruppe. Planen Sie ein paar Tage Zeit ein, in
lich zu machen. Neutral sind diese Metaphern denen Sie den Text nicht lesen und korrigieren.
nicht: Sie stellen Denkmodelle vor, interpretieren Diese Auszeit hilft, die beim Schreiben entstande-
und bewerten. Wenn Sie im Referat einen ›Black- ne Textblindheit zu neutralisieren. Dies gilt nicht
out‹ haben und darauf hinweisen, dass Ihr Ge- nur für Orthographie und Interpunktion, sondern
dächtnis wie eine Festplatte nach einer Virusatta- auch für die Übergänge zwischen den einzelnen
cke gelöscht ist, verwenden Sie Metaphern aus Kapiteln und Zusammenfassungen. Gründen Sie
technischen Bereichen. Formulierungen wie: »Die schon im ersten Semester eine Redaktions- und
These des Beitrags hat sich als Eintagsfliege erwie- Editionsgruppe. Lesen und korrigieren Sie fremde
sen« oder: »Der Verfasser hatte einen guten Rie- Texte; diese Arbeit schärft den Blick für eigene und
cher für den Text« sind indiskutabel. Wenn Sie mit fremde Texte, eine Kompetenz, die Sie in vielen
einer falschen Metapher ›Schiffbruch‹ erleiden, Berufsfeldern unbedingt brauchen.
sind Sie bei der Formulierungsarbeit ›gestrandet‹. In der Forschungsliteratur wird die Verwen-
Vermeiden Sie auch Übertreibungen (Hyperbeln), dung des Personalpronomen ›ich‹ kontrovers dis-
Untertreibungen (Litotes) und Euphemismen (vgl. kutiert. Beispiele wie »In meiner Hausarbeit zu Effi
Bünting u. a. 2000, S. 197 ff.). Briest möchte ich mich mit dem Romananfang be-
Überarbeiten: Wenn die Schreibarbeit abge- schäftigen und dessen Funktion genauer untersu-
schlossen scheint, fordert diese letzte Arbeitspha- chen« überzeugen schon beim ersten Lesen nicht.
se noch einmal besondere Konzentration und Wählen Sie einen Mittelweg und verwenden Sie
Sorgfalt. Oft werden Arbeiten abgegeben, die nicht die Ich-Perspektive sehr sparsam. Ihr Name auf
korrigiert sind. Entweder bleibt keine Zeit mehr dem Titelblatt verbürgt Ihre intellektuelle Leis-
für eine sorgfältige Überarbeitung des Textes, oder tung. Vermeiden sollten Sie auf jeden Fall die Plu-
Studierende sind – zunächst – überzeugt, die Ar- ral-Form ›wir‹, es sei denn, Sie schreiben einen
beit sei fertig. Mehrere Korrekturgänge sind jedoch Text als Gemeinschaftsarbeit. Auch dann muss die
unbedingt nötig. Überprüfen Sie, ob die argumen- individuelle Leistung deutlich gekennzeichnet
tative Struktur nachvollziehbar ist, lösen Sie lo- werden. Zurückhaltend sollten Sie mit emphati-
gische Sprünge oder Brüche auf. Haben Sie die schen Bekenntnissen sein: Lobeshymnen oder
Fachbegriffe einheitlich verwendet? Wenn Sie »Me- spöttische Kritik gehören nicht in eine Hausarbeit.
tapher« meinen und »Symbol« schreiben, müssen Bewertungskriterien: Auch in wissenschaftli-
Sie unbedingt noch einmal nachlesen, wie die Be- chen Texten können Sachebene und Darstel-
griffe in der Forschungsliteratur verwendet wer- lungsebene unterschieden werden. Auf der Sach-
den. Stilblüten und falsche Metaphern irritieren ebene angesiedelt sind konzeptionelle und
nicht nur in Hausarbeiten. Streichen Sie Wieder- methodische Kriterien wie sachlich-inhaltlich an-
holungen (»Wie schon erwähnt!«) und überflüs- gemessene Darstellung des Themas, Strukturie-
sige Füllwörter (»natürlich«, »normalerweise«), rung, Perspektivierung und Argumentation; auf
kontrollieren Sie Zitate und Quellenangaben sowie der Darstellungsebene äußere Form, sprachlich-
auch die Vollständigkeit und Systematik des stilistische Gestaltung, fachliche und grammati-
Literaturverzeichnisses. Bilden Sie aus einzelnen sche Korrektheit (vgl. Pospiech 2005, S. 232). Die
Sätzen Abschnitte; ein Abschnitt ist eine gedankli- Schreibdidaktiker Otto Kruse und Eva-Maria Ja-
che, argumentative Einheit. kobs nennen ein ganzes Bündel an Kompetenzen,
Glätten Sie sprachliche Stolpersteine, trennen das für eine gute Hausarbeit aktiviert werden
Sie sich von umgangssprachlichen Formulierun- muss: Textsortenkompetenz, Stilkompetenz, rhe-
gen: Sachlichkeit und Klarheit sind zentrale Kri- torische Kompetenz, die Fähigkeit zur Herstellung
terien für gutes Schreiben. Spätestens beim von Text-Text-Bezügen sowie Lese- und Rezepti-
Korrekturlesen fallen auch Satzkonstruktionen onskompetenz (vgl. Kruse/Jakobs 1999).
auf, die syntaktische Widersprüche enthalten. Vor allem in der ersten Phase des Studiums
Falls Sie immer schon Bandwurm- oder Schachtel- ›passiert‹ es, dass Sie eine Arbeit mit dem Kommen-
sätze und komplexe Nominalstrukturen bevorzugt tar »Überarbeiten« zurückbekommen. Falls die Ar-
haben, nutzen Sie jetzt die Gelegenheit, diese Ge- beit die Modulprüfung ist, ist dies nach der Prü-

22
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

fungsordnung in der Regel nicht zulässig. Auch Schreibzentren: An vielen Universitäten sind
wenn Sie zunächst schockiert und frustriert sind: inzwischen Schreiblabors oder Schreibwerkstätten
Nehmen Sie die Anmerkungen und Kommentare etabliert, die bei massiven Schreibstörungen und
zum Anlass, diese kritisch zu reflektieren und her- -blockaden beraten und Hilfestellungen geben.
auszufinden, in welchem Bereich Sie nachbessern Studienbegleitend werden Tutorien und Übungen
müssen. Je früher Sie eine detaillierte und begrün- angeboten, in denen Formen und Strategien wis-
dete Fehleranalyse bekommen, desto gezielter senschaftlichen Schreibens, Präsentationstechniken
können Sie daran arbeiten, die Mängel zu reduzie- und rhetorische Kompetenzen vermittelt werden.
ren. Auch die Note 4 (5 Notenpunkte) sollte Sie Gedruckte Ratgeber für das wissenschaftliche Ar-
nachdenklich machen: Sie haben zwar bestanden, beiten sollten Sie jedoch nicht als ›Knigge‹ für das
doch Anlass zu übergroßer Freude haben Sie nicht. Studium begreifen. Zwar werden in vielen aktuel-
Die Note 4 signalisiert, dass Ihre Arbeit noch er- len Ratgebern ›Umgangsformen‹ für Texte und
hebliche Mängel aufweist, die Sie keineswegs ig- Textsorten beschrieben und Regeln formuliert, wie
norieren sollten. Falls Sie Kommentare nicht ver- Studierende mit den Texten kommunizieren (le-
stehen und Korrekturzeichen nicht kennen, fragen sen, reden, schreiben) können. Fixe und ultimati-
Sie in der Besprechung nach. Die gängigen Korrek- ve Rezepte werden jedoch mit guten Gründen
turzeichen mit Erläuterungen finden Sie im Duden meist nicht gegeben. In den guten Ratgebern wer-
Rechtschreibung im Abschnitt »Textkorrektur«. Ihre den Sie darauf hingewiesen, dass neben dem stän-
Kenntnis wird bei der professionellen Redaktion in digen Schreibtraining am häuslichen Schreibtisch
vielen Berufen vorausgesetzt. oder in der Bibliothek auch die Sekundärtugenden
Schreibblockaden: »Schreiben ist schwierig« Disziplin (auch: Ausdauer, Beharrlichkeit), Pünkt-
(Narr/Stary 1999, S. 10). Diese banale Erfahrung lichkeit und Zuverlässigkeit, zugleich aber Neugier
macht fast jeder im Lauf des Studiums. Die eben und Kreativität den Studienerfolg entscheidend be-
beschriebene Situation, die Besprechung einer einflussen.
missglückten Hausarbeit, führt manchmal dazu, Der Philosoph Walter Benjamin hat die hand-
dass die Unbefangenheit beim Schreiben verloren- werklichen Aspekte des Schreibens in einem klei-
geht. Der Übergang vom schulischen zum wissen- nen Beitrag, »Die Technik des Schriftstellers in
schaftlichen Schreiben ist eine enorme Herausfor- dreizehn Thesen« (Einbahnstraße, 1928), charak-
derung. Schwierig ist vor allem der Übergang vom terisiert. Die VII. These sollte jeder Schreibende,
Lesen und Exzerpieren zum Strukturieren, Argu- der uninspiriert am Schreibtisch sitzt, unbedingt
mentieren und Formulieren. Dann häufen sich die beherzigen: »Höre niemals mit dem Schreiben auf,
Gründe, warum der Schreibprozess ins Stocken weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der
gerät. Diese Gründe können sowohl in einer wenig literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn
motivierenden Arbeitsumgebung liegen als auch ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) ein-
in der wenig zielorientierten Vorbereitung, der un- zuhalten oder das Werk beendet ist.« Auch Schrei-
klaren Themenstellung (vgl. Frank u. a. 2007; Kru- ben ist, so einsam und verlassen Sie sich vielleicht
se 2007). In den modularisierten Studiengängen am Schreibtisch fühlen mögen, reine Interaktion;
steigt zudem der Druck, in immer kürzerer Zeit Sie korrespondieren mit den Primär- und Sekun-
prüfungsrelevante Texte produzieren zu müssen. därtexten, jede Fußnote verbindet Ihren Text mit
Es ist kein Zufall, dass das Angebot an Ratgebern anderen Texten. Schreiben Sie wenn möglich täg-
mit scheinbar sicheren Tipps ständig zunimmt. lich und setzen Sie sich realistische Ziele.

Weiterführende Literatur
Anz, Thomas/Baasner, Rainer (Hg.): Literaturkritik – Ge- Delabar, Walter: Literaturwissenschaftliche Arbeitstechni-
schichte, Theorie, Praxis. München 2004. ken. Eine Einführung. Darmstadt 2009.
Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Schlüssel-
Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 42005. kompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf.
Bünting, Karl-Dieter/Bitterlich, Axel/Pospiech, Ulrike: Stuttgart 2007.
Schreiben im Studium. Ein Trainingsprogramm. Franke, Fabian/Klein, Annette/Schüller-Zwierlein, André:
Frankfurt a. M. 2000. Schlüsselkompetenzen: Literatur recherchieren in
Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußar- Bibliotheken und Internet. Stuttgart/Weimar 2010.
beit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeiten in Fröhlich, Gerhard: »Plagiate und unethische Autorenschaf-
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Stuttgart 132010. ten«. In: Information. Wissenschaft & Praxis 57 (2006) 2,
S. 81–89.

23
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

Gebhard, Walter: »Für eine Kultur des Protokolls. Zur Sprachwerk. Zur Begründung und Umsetzung eines
didaktischen Bedeutung einer wenig geliebten feedbackorientierten Lehrgangs zur Einführung in das
Textsorte«. In: Michael Niehaus/Hans-Walter wissenschaftliche Schreiben. Frankfurt a. M. 2005.
Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Sesink, Werner: Einführung in das wissenschaftliche
Funktionen einer Textsorte. Frankfurt a. M. 2005, Arbeiten. Mit Internet, Textverarbeitung und Präsenta-
S. 271–287. tion. München 72007.
Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
Fußnote. Berlin 1995. 2008.
Kruse, Otto: Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Stadter, Andrea: »Der Essay als Ziel und Instrument
Schreibblockaden durchs Studium. Frankfurt a. M./ geisteswissenschaftlicher Schreibdidaktik. Über-
New York 122007. legungen zur Erweiterung des universitären Textsor-
– /Eva-Maria Jakobs: »Schreiben lernen an der Hoch- tenkanons«. In: Konrad Ehlich/Angelika Steets (Hg.):
schule: Ein Überblick«. In: Otto Kruse/Eva-Maria Wissenschaftliches Schreiben lehren und lernen. Berlin/
Jakobs/Gabriela Ruhmann (Hg.): Schlüsselkompetenz New York 2003, S. 65–92.
Schreiben. Konzepte, Methoden, Projekte für Schreibbe- Stary, Joachim: »Wissenschaftliche Literatur lesen und
ratung und Schreibdidaktik an der Hochschule. Neuwied verstehen«. In: Norbert Franck/Joachim Stary (Hg.):
1999. Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens. Eine
Narr, Wolf-Dieter/Stary, Joachim (Hg.): Lust und Last des praktische Anleitung. Paderborn/München/ Wien/
wissenschaftlichen Schreibens. Hochschullehrerinnen Zürich 142009, S. 71–96.
und Hochschullehrer geben Studierenden Tips. Frankfurt – /Kretschmer, Horst: Umgang mit wissenschaftlicher
a. M. 1999. Literatur. Eine Arbeitshilfe für das sozial- und geistes-
Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart 22007. wissenschaftliche Studium. Frankfurt a. M. 2004.
Pospiech, Ulrike: Schreibend schreiben lernen. Schreibend
schreiben lernen. Über die Schreibhandlung zum Text als

1.4 | Berufsfelder für Germanist/innen


Wenn man Medizin studiert, wird man – voraus- Im Bachelor-Studiengang wählen Sie an vielen
sichtlich – Arzt. Studiert man Jura, sind die beruf- Universitäten neben dem Hauptfach Germanistik
lichen Perspektiven schon differenzierter: im ein Nebenfach. Viele Studierende kombinieren
Staatsdienst, als selbständiger Anwalt oder als Ju- Germanistik mit einer weiteren Philologie (Anglis-
rist in einem Unternehmen. Beginnt man ein Ger- tik, Amerikanistik, Romanistik, Slawistik oder Si-
manistik-Studium, wird sofort die Frage nach den nologie), mit Politik- oder Sozialwissenschaften
Zukunftsperspektiven gestellt. Die Bundesagentur und in zunehmender Zahl mit Betriebswirtschafts-
für Arbeit führt neben den fachlichen Kompeten- lehre oder Jura. Im Laufe des Studiums werden Sie
zen (einer Liste mit Fächern und wenigen Arbeits- sich sowohl im Haupt- als auch im Nebenfach spe-
bereichen) auf ihrem Internet-Portal folgende Soft zialisieren; eine gute Grundlage für diese Entschei-
Skills für Literaturwissenschaftler/innen an: Denk- dung kann zum Beispiel ein Praktikum sein.
vermögen(!), Flexibilität, Kontaktfähigkeit, Lern- Praktikum: In fast allen Studiengängen ist ein
bereitschaft, Organisationsfähigkeit, pädagogische berufsvorbereitendes Praktikum zu absolvieren,
Fähigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Einen oder es kann im Optionalbereich gewählt werden.
guten Überblick bietet der 2008 von Vera Nünning Im Praktikum können Studierende die im Studium
herausgegebene Band Schlüsselkompetenzen: Qua- erworbenen Kompetenzen erproben und erwei-
lifikationen für Studium und Beruf. Neben den tern, sie sammeln erste berufspraktische Erfah-
studienspezifischen Kompetenzen werden auch rungen. In der Bücherstadt Frankfurt ist der An-
»Moderationskompetenzen und Verhandlungs- sturm auf die begrenzten Praktikumsplätze in den
führung«, »Interkulturelle Kompetenz« und »Sozia- großen Verlagen enorm. Voraussetzungen für die
le Kompetenzen« anschaulich und mit Beispielen Bewerbung sind ein mit sehr gutem Erfolg abge-
aus der Praxis vorgestellt. Auch die Text- und Dar- schlossenes Grundstudium, gute Fremdsprachen-
stellungskompetenz befähigt Sie, in divergieren- kenntnisse und ein Quäntchen Glück. Bei attrakti-
den Berufsfeldern so unterschiedlichen Textsorten ven Angeboten, die den zeitlichen Rahmen der
wie Geschäftsberichten, Politikerreden, Gesetzes- vorlesungsfreien Zeit überschreiten, sollten Sie
vorlagen oder journalistischen Berichten Ihre trotzdem nicht zögern, zuzusagen.
›Handschrift‹ einzuschreiben. Berufsfeld Wissenschaft/Universität: Wenn Sie
vorhaben, die wissenschaftliche Laufbahn einzu-

24
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

schlagen, werden Sie nach dem Bachelor- zu- werber/innen auf Stellen in den Medien und im
nächst den Master-, dann den Doktortitel anstre- Literatur- und Kulturmanagement gehören Sie
ben. Spätestens im Master-Studiengang müssen dann, wenn Sie zuvor im Praktikum bereits gute
Sie sich spezialisieren; Sie wählen entweder einen Kontakte knüpfen konnten. Nicht zu allen Berufs-
der klassischen Schwerpunkte der Germanistik feldern, die zum Beispiel eine sprachwissen-
oder einen der vielen neuen Master-Studiengänge schaftliche Ausbildung voraussetzen, haben Sie
(z. B. Internationale Literaturen – Uni Tübingen, nach Abschluss des Studiums Zugang. Die Com-
Kognitive Linguistik – Uni Frankfurt, Kultur und puterlinguistik kann oft erst als Spezialisierung im
Wirtschaft: Germanistik – Uni Mannheim). Fragen Master-Studiengang gewählt werden. Je nach
Sie Ihre Professor/innen nach ihren Erfahrungen. Zahl und Qualifikation der Mitbewerber werden
Der lange Weg in die Wissenschaft verlangt neben Sie im Verlagswesen als Bachelor-Absolvent keine
besten Qualifikationen Ausdauer und Disziplin. Chance auf Einstellung haben.
Wenn Sie nach dem Master-Examen eine befristete Mehr denn je werden Germanist/innen in Zu-
Stelle als »Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in« er- kunft auch in Berufsfeldern tätig werden, die bis-
obern, gehören Sie bereits zum privilegierten her nicht zu den klassischen Arbeitsgebieten
Universitätsclub. Etwa 8 bis 10 Jahre können Sie gehörten. Thomas Gottschalk (Deutschlehrer
im Durchschnitt für Dissertation und Habilitation und Fernsehmoderator), Michael Groß (promo-
rechnen, zumal wenn Sie Arbeitsprojekte gewählt vierter Literaturwissenschaftler, Olympiasieger im
haben, die mit intensiver Archiv- und Quellenar- Schwimmen und Unternehmensberater) und
beit verbunden sind. Mit Mitte dreißig können Sie Wolfgang Thierse (Literatur- und Kulturwissen-
im günstigen Fall auf das Bewerbungskarussell um schaftler, Politiker und Vizepräsident des Deut-
eine Professur aufspringen. Werden Professuren schen Bundestages) sind prominente Beispiele,
mit dem Schwerpunkt »Neuere deutsche Literatur« die zeigen, dass nicht die eine lebenslange Ar-
ausgeschrieben, bewerben sich ca. 80 bis 120
hoch qualifizierte Wissenschaftler/innen. Beispiele für Berufsfelder
Außeruniversitäre Berufsfelder: Dieser lange
Weg, an dessen Ziel keineswegs ein sicherer Ar- Sprachwissenschaft
beitsplatz wartet, ist für viele Studierende ein ent- N Klinische Linguistik (Diagnostik und
scheidender Grund, nach dem Studium einen Ar- Therapie von Sprachstörungen)
beitsplatz außerhalb der Universität zu suchen. N Sprachheilpädagogik / Logopädie
Germanist/innen werden überall dort gebraucht, N Maschinelle Sprachverarbeitung
wo gesprochene und/oder schriftliche Sprache im (Computerlinguistik)
Zentrum der Berufstätigkeit steht. Das Germanis- N Forensische Linguistik
tik-Studium ist keine Berufsausbildung, es berei- Literaturwissenschaft
tet auf die Übernahme von Tätigkeiten in vielen N Medien (Rundfunk, Fernsehen, Internet –
kulturellen, öffentlichen und sozialen Bereichen z. B. Literaturkritik, Redaktion)
vor. Wenn Sie sich auf eine Stelle im Bibliotheks- N Literatur- und Kulturmanagement (Litera-
wesen bewerben wollen, müssen Sie in der Regel turhäuser, Literaturveranstaltungen etc.)
nach dem Examen eine zusätzliche Ausbildung N Theater / Dramaturgie
für den höheren Bibliotheksdienst an wissen- Sprach- und Literaturwissenschaft
schaftlichen Bibliotheken absolvieren. Falls Sie N Medien (Theater, Rundfunk, Fernsehen)
auf Dauer eine Stelle im journalistischen Bereich N Archive / Dokumentationswesen / Biblio-
suchen, ist auch ein Aufbaustudiengang zu emp- theken / Museen
fehlen, der berufsspezifische Kenntnisse und N Übersetzen / Dolmetschen
Kompetenzen vermittelt. Wissenschaftliche Insti- N Bildungseinrichtungen und Sprach-
tutionen wiederum suchen vor allem Mitarbei- schulen
ter/innen, die ein spezifisches fachliches Profil N Verlagswesen (Buch, Zeitung/Zeitschrift)
bieten, zum Beispiel mit dem Schwerpunkt Frühe N Werbung / Public Relations
Neuzeit (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel) N Verwaltung / Behörden / Politik
oder deutsche Literatur von der Aufklärung bis N Privatwirtschaft (Interne Fortbildung,
zur Gegenwart (Deutsches Literaturarchiv Mar- Öffentlichkeitsarbeit etc.)
bach). Diese Archive informieren auch online N Beratungsunternehmen
über offene Stellen. Zu den aussichtsreichen Be-

25
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

beitsstelle, sondern viele berufliche Etappen jen- Bewerben: Bereiten Sie sich auf die Zeit nach
seits der germanistischen Klassiker Lektorat, Re- dem Studium vor: Lernen Sie Stellenausschreibun-
daktion oder Archiv möglich sind und sein gen lesen, schreiben Sie Bewerbungen und proben
werden (vgl. Nünning 2008, S. 308 ff.; Rathmann Sie Bewerbungsgespräche. Nutzen Sie alle Gele-
2000, S. 182–237). Ob Sie als Literaturredakteur genheiten, potentielle zukünftige Kolleginnen und
bei der Frauenzeitschrift Brigitte, als Marketingex- Kollegen über ihren Weg in den Beruf zu befragen.
pertin bei Opel, Pressesprecherin beim Deutschen Oft ist der persönliche Kontakt die entscheidende
Fußball-Bund oder als Verhandlungsprofi bei der Voraussetzung für eine Empfehlung und eine Ein-
Unternehmensberatung Boston Consulting arbei- ladung. Auch in den Geisteswissenschaften haben
ten: Die im Studium erworbenen fachlichen Qua- Netzwerke eine zentrale Funktion als Schaltstelle
lifikationen und fachübergreifenden Schlüssel- zwischen akademischer Ausbildung und Berufsle-
kompetenzen bilden eine solide Basis für viele ben. An vielen Universitäten übernehmen Alumni-
Berufsfelder. Vereine diese Aufgaben.

Weiterführende Literatur
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio- »Examen – und dann in welchen Beruf?« mit Beiträgen
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008. u. a. von Felicitas Hoppe, Sybille Cramer und Wolfgang
Rathmann, Thomas (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Thierse).
Ein Wegweiser für Germanisten. Berlin 2000 (Kapitel:
Gabriele Rohowski

26
II. Sprachwissenschaft
1
Sprachwissenschaft

1 Einleitung
Stellen Sie sich vor, Sie müssen die folgenden Sät- Der Satz in (1b) wurde von Noam Chomsky,
ze beurteilen. Was beobachten Sie? dem Begründer der generativen Grammatik, 1957
in die sprachwissenschaftliche Diskussion einge-
(1) a Kleine, anhängliche Katzen schlafen gut. bracht, um zu zeigen, dass Bedeutung und Gram-
b Farblose, grüne Ideen schlafen wütend. matik, also Form und Funktion der Bestandteile
des Satzes, unabhängig voneinander sind. Beide
Wir sind uns sicher einig, dass Satz (1a) normal Sätze in (1) haben dieselbe Form: In beiden folgt
klingt. Bei Satz (1b) dagegen stimmt schon auf ein Nomen auf zwei Adjektive. Dem Nomen folgt
den ersten Blick etwas nicht. Satz (1a) ist sinn- jeweils ein Verb und dem Verb ein Adverb; diese
voll, wir können uns zu diesem Satz eine konkrete Elemente haben in beiden Sätzen dieselbe Funkti-
Situation vorstellen und diesem Satz dann zustim- on. Der Unterschied zwischen (1a) und (1b) liegt
men oder ihn bestreiten. Satz (1b) erscheint da- in der Tatsache, dass der eine Satz sinnvoll ist, der
gegen sinnlos. Das ist jedem Muttersprachler so- andere aber auf den ersten Blick sinnlos.
fort klar. Sich zu dem Satz eine konkrete Situation Die Sätze in (1) sind also grammatisch, aber
vorzustellen, fällt schwer. Unsere erste Reaktion: unterscheiden sich in der Sinnhaftigkeit.
Ideen können weder schlafen noch wütend sein. Betrachten Sie nun die Sätze in (2). Was fällt
Und eigentlich schlafen nur Tiere und Menschen. hier auf?
Und wie kann etwas grün und zugleich farblos
sein? Das ist unmöglich! Satz (1b) enthält dem- (2) a Katzen gut klein schlafen anhänglich.
nach einen Widerspruch. Wir können diesen Satz b Ich montags arbeiten müssen.
auf Anhieb nicht verstehen, und daher können wir
auch der Information dieses Satzes weder zustim- Wir sind uns vermutlich wiederum einig, dass mit
men noch sie ablehnen. den Sätzen in (2) ebenfalls etwas nicht stimmt.
Eine Interpretation von (1b) wäre höchstens Wir könnten sagen: Das ist kein Deutsch. Was
denkbar, wenn man sich den Satz als Teil eines nicht stimmt, ist also etwas anderes als das, was
Gedichts vorstellt. Die Zeile bedürfte dann aber mit (1b) nicht stimmt. Die Sätze in (2) sind un-
der Auslegung oder Uminterpretation. Es könnte grammatisch; Form und Funktion der Wörter
sich um eine Metapher handeln. Dem Resultat der stimmen nicht. (2a) ist einfach Wortsalat. Eine Äu-
Uminterpretation könnten wir dann zustimmen ßerung wie (2b) haben wir vielleicht schon einmal
oder auch nicht, es sei denn, auch die Auslegung gehört: von einem Sprecher, der Deutsch nicht als
oder Uminterpretation ist ›nur‹ metaphorisch zu Muttersprache spricht, sondern erst als Erwachse-
verstehen. ner gelernt hat. Die Form von (2b) kann leicht
repariert werden, so dass der Satz verständlich
wird: Ich muss montags arbeiten. Für die Repara-
Raoul Schrott und Arthur Jacobs über tur von (2a) müssten dagegen fast alle Wörter um- Interpretationsversuch
»Farblose, grüne Ideen schlafen wütend« gestellt und anders flektiert (d. h. gebeugt) werden.
»›grün‹ kann lexikalisch auch ›jung, unausgego- Sprachwissenschaftler/innen interessieren sich da-
ren‹ bedeuten, ›farblos‹ auch ›langweilig und für, woran es genau liegt, dass Sätze grammatisch
charakterlos‹; ›Idee‹ lässt sich als Personifikation oder ungrammatisch sind, sinnvoll oder nicht
auffassen, die das anthropomorphisierende Ad- sinnvoll erscheinen. Was beobachten wir bei den
verb ›wütend‹ verstärkt; und ›schlafen‹ lässt sich Sätzen in (3)?
als konnotativer Ausdruck für eine noch nicht
realisierte Potentialität begreifen. Mit ein wenig (3) a Berta schneidet Marianne die Haare.
semantischer Feinabstimmung – über genau je- b Marianne bekommt von Berta die Haare geschnitten.
nes Prozedere, mit dem man auch Gedichte in-
terpretiert – gelangt man zur durchaus sinnvol- Beide Sätze sind grammatisch und sinnvoll. Darü-
len Aussage: Undefiniert unausgegorene Ideen ber hinaus erkennt jeder Muttersprachler des
stecken voll unbewusster Aggression.« (Frank- Deutschen, dass es einen systematischen Zusam-
furter Allgemeine Zeitung 2.3.2011, S. N3) menhang zwischen diesen Sätzen gibt. Das Dativ-
objekt Marianne im ersten Satz ist das Subjekt

29
1
Einleitung

Marianne im zweiten. Das Subjekt des ersten Sat- N Gesellschaftsschicht/Gruppe: Die verwendete
zes Berta wird zu einem Ausdruck mit von im Sprache kann abhängig sein von der Gruppe, in
zweiten. Und das ist generell so, unabhängig da- der sie gesprochen wird. Man spricht dann von
von, was man als Subjekt oder Dativobjekt ein- einer Gruppensprache (auch Soziolekt). Be-
setzt. Die beiden Sätze unterscheiden sich nur in kannt sind Jugendsprachen wie z. B. der soge-
der Art, wie die Ausdrücke kombiniert werden. nannte Ethnolekt oder Fachsprachen in der
Einige von uns mögen Sätze wie (3b) nicht Wissenschaft.
schön finden. Darum geht es der Sprachwissen- N Ort des Sprachgebiets: Die verwendete Spra-
schaft jedoch nicht. Für die Sprachwissenschaftler che kann abhängig sein vom Ort, an dem sie
ist interessant, dass es die Konstruktion in (3b) gesprochen wird. Ortsgebundene Sprachformen
(das sog. Rezipienten-Passiv) überhaupt gibt. Sie werden als Dialekte bezeichnet.
möchten insbesondere den Zusammenhang dieser N Erwerbstyp: Die verwendete Sprache unter-
Konstruktion mit dem Aktivsatz in (3a) erklären scheidet sich danach, ob sie von erwachsenen
und richtig vorhersagen, unter welchen Bedingun- Muttersprachlern gesprochen wird oder von
gen man das Rezipienten-Passiv bilden kann, ob Kindern, die sich noch im Spracherwerbspro-
es andere Verben als bekommen gibt, die sich zess befinden, oder von erwachsenen Nicht-
ebenfalls zur Passivbildung eignen, etc. Muttersprachlern, die die Sprache noch nicht
Grammatik und Norm Fragen der Sprachnorm, also danach, was beherrschen (s. Beispiel 2b).
»gutes und richtiges Deutsch« ist, interessieren N Sprachstadium: Sprache kann modern oder
Sprachwissenschaftler/innen weniger als Politi- altmodisch sein. Dieses Kriterium kann sowohl
ker und Sprachpfleger. Über den richtigen die Grammatikalität wie auch die Wortwahl be-
Sprachgebrauch, den wir in Gesetzestexten, Wi- treffen. Diese Variation betrifft die Variation ei-
kipedia-Artikeln oder Kochbüchern zum Beispiel ner Sprache im Laufe der Zeit. Von der Zeit
gewöhnt sind, entscheiden Normen, die sich hängt auch ab, was als modern gilt und was
meistens über Konventionen herausbilden. Na- nicht.
türlich setzt diese Ausdrucksweise Grammatika- N Im Zusammenhang mit Sprachvariation spricht
lität voraus. Die Variante der deutschen Sprache, man statt von Sprachen von Varietäten, zu de-
die diesen Normen folgt, gilt als das Hochdeut- nen sowohl die Standardsprache, also das
sche. Es gibt jedoch selbst im Hochdeutschen Hochdeutsche, als auch Soziolekte und Dia-
bezüglich der Normen offizielle Zweifelsfälle; lekte sowie historische Varianten zu zählen
zudem bestehen bei jedem Sprecher mehr Unsi- sind. Wir sind alle mehrsprachig insofern, als
cherheiten als gemeinhin angenommen. Würden wir mühelos zwischen einzelnen Varietäten hin
Sie beispielsweise eher die E-Mail oder das E- und her wechseln können. Schon Kinder sind
Mail sagen? Würden Sie Sätze wie diesen akzep- sich im Klaren darüber, dass ein Gespräch mit
tieren: Er hatte keine Zeit, weil er musste noch für den Eltern oder einer Lehrperson eine andere
die Klausur lernen? Sprache erfordert als die Unterhaltung mit Al-
Normative (präskriptive) Grammatiken enthal- tersgenossen. Ebenso können Kinder, die mehr-
ten Vorschriften über die korrekte Verwendung sprachig aufwachsen, mühelos ihre Sprache an
von Sprache. Sie haben im Wesentlichen die Funk- den Gesprächspartner anpassen (vgl. Tracy/
tion, bestimmte Varianten einer Sprache als gram- Gawlitzek-Maiwald 2000).
matisch oder historisch korrekt, als ›logisch‹ oder Implizites Wissen: Sprache ist ein wesentliches
ästhetisch höherwertig auszuzeichnen. Tatsäch- Merkmal, das das Menschsein von anderen Exis-
lich ist aber zwischen verschiedenen Sprechern tenzformen (zum Beispiel im Tierreich) unter-
und Schreibern immer eine große sprachliche Vari- scheidet. Erfahren wir also etwas über die mensch-
ation zu beobachten. Das heißt, was als richtig liche Sprache, dann erfahren wir auch etwas über
gilt, ist ein ideelles Konstrukt. uns. Als Sprecher/innen einer Sprache verfügen
Dimensionen der Variation: Sprachliche Varia- wir ganz offensichtlich über Wissen, das uns nicht
tion ist durch die folgenden Faktoren bestimmt: nur dazu befähigt, Äußerungen zu verstehen und
Faktoren N Stilebene/Register: Die geschriebene Sprache zu produzieren, sondern auch dazu, Urteile über
sprachlicher Variation ist von der gesprochenen Sprache zu unter- Sprache zu fällen, wie in den einleitenden Beispie-
scheiden. Genauso ist eine Sprache mit vulgä- len illustriert. Dieses Wissen ist einem Mutter-
ren Ausdrücken von gehobener oder besonders sprachler in der Regel nicht bewusst: Es ist impli-
höflicher Ausdrucksweise zu unterscheiden. zit. Mindestens eine Sprache können wir einfach

30
1
Einleitung

sprechen, verstehen und beurteilen. Wir kennen Zur Vertiefung


die Regeln, ohne dass uns jemand diese explizit
beigebracht hätte und ohne dass wir diese Regeln Kompetenz und Performanz
alle beschreiben könnten. Alle Menschen haben in Bezug auf ihre Erstsprache eine bestimmte Fähigkeit,
Die Situation ist vergleichbar mit dem Ballwurf. die sog. Sprachkompetenz. Diese Fähigkeit erlaubt es ihnen, sprachliche Ausdrü-
Wir alle sind ab einem bestimmten Alter in der cke zu bilden und zu verstehen. Der Begriff der Sprachkompetenz stammt von
Lage, einen Ball zu werfen (wenn die physiologi- Noam Chomsky (1965). Das implizite Sprachwissen ist von seiner konkreten An-
schen Voraussetzungen gegeben sind) oder zu fan- wendung abzugrenzen, der Performanz. Nur in der Sprachverwendung lässt
gen. Aber kaum jemand ist in der Lage zu sagen, sich das verborgene sprachliche Wissen studieren. Sätze, die in der Kommunika-
wie genau er oder sie das macht. Wir können es tion verwendet werden, sind Realisierungen der Sprachkompetenz.
einfach. Genauso, wie wir einfach nur feststellen, Bereits Ferdinand de Saussure, der Begründer des Strukturalismus, unterscheidet
dass es uns möglich ist, einen Ball zu werfen und in seinem Cours de linguistique générale (1916) verschiedene Sprachbegriffe:
zu fangen, beobachten wir, dass es uns möglich Er differenziert zwischen
ist, zu sprechen, Sprache zu verstehen und zu be- N langage, der »Fähigkeit menschlicher Rede«
urteilen. N langue, dem Sprachsystem
Die Sprachwissenschaft ist dem Geheimnis N parole, dem konkreten Sprechen
auf der Spur, wie Sprache funktioniert, welche Dabei entsprechen die Begriffe langage und parole in etwa den Begriffen ›Kompe-
Regeln zu grammatischen Äußerungen führen tenz‹ und ›Performanz‹ bei Chomsky, während der Begriff langue (verstanden als
und wie Sprache in der Kommunikation verwen- abstraktes einzelsprachliches Zeichen- und Regelsystem) keine unmittelbare Ent-
det wird. Sie liefert die Fachsprache für die Un- sprechung bei Chomsky hat.
tersuchung. Die kognitive Linguistik generativer Prägung hat das Erkenntnisinteresse vom
abstrakten Sprachsystem hin zum individuellen Sprachvermögen verschoben.
Definition Chomsky (1986) unterscheidet daher zwischen I- und E-Sprache: Das ›I‹ im Be-
griff I-Sprache steht für individuell, intern und intensional. Damit ist das im Erst-
Die   Sprachwissenschaft (auch Linguistik, spracherwerb erworbene, mentale Wissen gemeint, das einen kompetenten Spre-
von lat. lingua: Sprache, Zunge) ist diejenige cher ausmacht. Das ›E‹ im Begriff E-Sprache steht für extern, die E-Sprache
Disziplin, welche die menschliche Sprache entspricht in etwa der Sprachproduktion, also z. B. den Gesprächen oder Texten,
untersucht. in denen eine Sprache sich materialisiert. Das eigentliche Untersuchungsobjekt
der kognitiven Linguistik ist die I-Sprache, da sie die Sprachfähigkeit erforscht.
Die E-Sprache ist aber auch relevant, da manchmal nur durch sie der Zugang zur
Wissenschaft: Bei wissenschaftlichen Untersu- I-Sprache möglich ist. Das gilt z. B. für historische Sprachstufen: Da es keine
chungen unterscheidet man üblicherweise einen Sprecher des Althochdeutschen mehr gibt, die wir fragen könnten, ob eine be-
Objektbereich, eine Perspektive, unter der die Un- stimmte Form oder Konstruktion für sie grammatisch ist, sind wir auf die über-
tersuchung erfolgt, und eine oder mehrere typi- lieferten Textzeugnisse angewiesen, um die Grammatik des Althochdeutschen zu
sche Methoden, die für die wissenschaftliche Tä- rekonstruieren.
tigkeit verwendet werden. Die Erkenntnisse über
den Objektbereich werden zu einer Theorie zu-
sammengefasst. Wendet man diese Kriterien auf Die sprachlichen Daten können experimentell er- Linguistik als Wissenschaft
die Disziplin der Sprachwissenschaft an, ergibt zielt werden oder durch Selbstbeobachtung (Intro-
sich folgende Charakterisierung: spektion) zustande kommen. Sie können aber
N Objektbereich: Der Gegenstand der Untersu- auch in mündlicher oder schriftlicher Form schon
chung sind sprachliche Ausdrücke, also Wortbe- vorliegen. Insbesondere für historische Sprachstu-
standteile, Wörter, Wortsequenzen, Sätze oder fen ist man auf die überlieferten Textzeugnisse an-
Texte bzw. Gespräche. gewiesen.
N Perspektive: Die sprachlichen Ausdrücke kön- N Die Daten werden segmentiert (in kleinste
nen im Hinblick auf ihre verschiedenen Eigen- sprachliche Einheiten zerlegt), klassifiziert (die
schaften untersucht werden: die Lautgestalt der kleinsten Einheiten werden zu Klassen mit glei-
Ausdrücke, ihre Bedeutung, die Art, wie die Aus- chen Eigenschaften zusammengefasst) und im
drücke kombiniert werden, ihre Verwendung in Rahmen der verwendeten Theorie analysiert. Ge-
der Kommunikation durch den Menschen, die his- sucht wird jeweils nach Mustern und Regeln, die
torische Entwicklung, ihr Erwerb etc. den Objektbereich charakterisieren.
N Methode: Erkenntnisse werden durch die Be- N Theorie: Ziel der Analyse ist eine Beschreibung
obachtung sprachlicher Phänomene gewonnen. von Sprache als Objekt. Die Beschreibung umfasst

31
1
Einleitung

ein Inventar von sprachlichen Einheiten und im wendet wird. Sprachlichen Ausdrücken werden
besten Fall Verallgemeinerungen (sog. Generalisie- Zeichen oder Zeichenfolgen zugeordnet, deren
rungen), die in Form von gültigen Regeln, Mustern Kombination und Verwendung einer bestimmten,
und Prinzipien ausgedrückt werden können. Dar- abstrakten Systematik unterliegen. Die sprachli-
über hinaus erlaubt die Beschreibung unter Um- chen Zeichen bilden die Einheiten dieses Systems
ständen Vorhersagen über und Erklärungen für und die Kombinationsregeln die Struktur. Das Zei-
sprachliche Phänomene. Von einer Theorie spricht chen vermittelt zwischen dem beim Sprechen pro-
man nur dann, wenn die Beschreibung wider- duzierten Lautstrom (bzw. Schriftzeichen oder
spruchsfrei ist. Gebärden) und dem ausgedrückten Gedanken.
N Repräsentation: Um die Widerspruchsfreiheit Dieses Zeichensystem ist stetigem Wandel unter-
zu garantieren oder zumindest leichter überprüf- worfen.
bar zu machen, verwendet man manchmal – wie Beteiligte Disziplinen: Steht die Untersuchung
in den Naturwissenschaften üblich – formale Re- des Systemcharakters der menschlichen Sprache
präsentationen. Das heißt nichts anderes, als dass im Vordergrund des Interesses, dann ist die
die theoretischen Erkenntnisse in eine formale Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Semio-
Sprache übersetzt werden. tik, der Lehre der Zeichensysteme. Steht im Vor-
Nur wenn die Forschungstätigkeiten eine wi- dergrund, dass das sprachliche System als Modell
derspruchsfreie Theorie zum Ziel haben, kann für das sprachliche Wissen von Menschen unter-
man sie wissenschaftliche Tätigkeiten nennen sucht wird, dann ist die Sprachwissenschaft eine
(vgl. Posner 2003). Teildisziplin der Kognitionswissenschaft. Man
kann unter Umständen noch weiter gehen und
Zur Vertiefung Sprachsystemen physiologische Realität zuspre-
chen. Das heißt nichts anderes, als dass unser
Metasprache und Objektsprache Gehirn so konzipiert ist, dass das Sprachsystem
Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind wie- dort angelegt sein kann. In dieser Sichtweise ist
der in einer menschlichen (oder wie erwähnt einer Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Human-
formalen) Sprache verfasst. Wir verwenden also biologie.
unter Umständen unsere eigene Sprache, um ein Sprachliche Zeichen haben zwei Seiten: das Be-
sprachliches Objekt, nämlich unsere eigene Spra- zeichnende (Lautbild) und das Bezeichnete (Vor-
che, zu beschreiben. Die zu beschreibende Spra- stellung) (zum Strukturalismus s. Kap. III.5.2.3).
che heißt demgemäß Objektsprache und die be-
schreibende Sprache wird Metasprache genannt. Definition
Die Metasprache ist die Fachsprache, in der wir
über Sprache als Untersuchungsgegenstand spre-   Bilateraler Zeichenbegriff: Das Zeichen
chen. Als Illustration mag das Satzpaar Frankfurt ist bei de Saussure eine mentale Einheit:
ist schön vs. Frankfurt hat neun Buchstaben die- Die beiden Seiten des Zeichens werden Laut-
nen. Im ersten Satz wird der Name der Stadt bild (auch Signifikant, Bezeichnendes, franz.
Frankfurt verwendet. Wir bezeichnen die Stadt. signifiant) und Vorstellung (auch Signifikat,
Im zweiten Satz wird nicht der Name verwendet; Bezeichnetes; franz. signifié, concept)
vielmehr wird eine Eigenschaft des sprachlichen genannt.
Objektes Frankfurt genannt. Objektsprachliche
Elemente werden in der Regel kursiv gesetzt.
De Saussure visualisiert das Zeichen für einen
Ausdruck wie Hund wie folgt: /h3nd/ repräsen-
Der Versuch, die Modelle und Methoden der Na- tiert das, was man weiß, wenn man weiß, wie
turwissenschaften zu übernehmen, ist eines der Hund ausgesprochen wird.
Erfolgsrezepte der modernen Sprachwissenschaft.
Sprachbegriff Sprache: Die wissenschaftliche Tätigkeit setzt
voraus, dass der Untersuchungsgegenstand, also
Signifié
die Sprache, überhaupt Gesetzmäßigkeiten unter- Vorstellung
liegt. Er muss Systemcharakter haben. Allgemein
spricht man von der menschlichen Sprache als ei- /h3nd/ Lautbild
nem Zeichensystem, das zur Kommunikation ver- Signifiant

32
1
Einleitung

Die Beziehung zwischen den beiden Bestandteilen Ein Paradigma ist eine Sammlung von sprachli-
des Zeichens ist arbiträr (= willkürlich). Es be- chen Einheiten (Zeichen oder einzelne Laute), de-
steht also z. B. kein innerer oder notwendiger Zu- ren Austausch einen Funktions- oder Bedeutungs-
sammenhang zwischen der Lautfolge, die mit dem wechsel zur Folge hat. Paradigmenbildung ist die
Wort Hund verbunden ist, und dem damit be- Voraussetzung für die Klassifikation von sprachli-
zeichneten Tier. Es gibt aber Ausnahmen wie Ku- chen Einheiten.
ckuck. Der Name des Kuckucks ist abgeleitet von Syntagma: Die Elemente der einzelnen Paradig-
seinem Ruf. Die arbiträre Beziehung zwischen men können zu neuen Wörtern, Wortfolgen oder
Laut und Vorstellung zeigt sich u. a. daran, dass Sätzen zusammengesetzt werden: Der Papagei
Sprachen gelegentlich unterschiedliche Lautfolgen frisst Körner. Zwischen den Elementen bestehen
für dieselbe Vorstellung benutzen: Briefmarke vs. Beziehungen. Diese Beziehung nennt man syntag-
Postwertzeichen. matisch. Jede Kette von Einheiten in einer linearen
Außerdem ist die Zuordnung konventionell, Abfolge von Ausdrücken einer Äußerung nennt
d. h. sie unterliegt gesellschaftlichen Abmachun- man Syntagma.
gen. Die Beziehung muss also gelernt werden Mentale Grammatik: Die Regeln für die Kombi- Mentale Repräsentationen
(zum Bedeutungsbegriff s. Kap. II.3.2.4; zum Wort- nation der sprachlichen Einheiten zu Wörtern und von Sprache
schatzerwerb s. Kap. II.5.2.2). Sätzen sind ebenfalls mental gespeichert. Unter der
Mentales Lexikon: Für das Zeicheninventar Annahme, dass Sprache ein kognitives System ist,
hat sich heute der Begriff des mentalen Lexikons existieren mentale Grammatik und mentales Lexi-
etabliert. Das mentale Lexikon ist Bestandteil des kon im Kopf. Der Begriff der mentalen Grammatik
sprachlichen Wissens eines jeden Sprechers. Zu- unterscheidet sich wesentlich von dem traditionel-
sätzlich zum Lautbild und der Vorstellung sind len Grammatikbegriff. Traditionelle Grammatiken
auch Informationen zur Verwendung des Zei- sind möglichst vollständige Beschreibungen der
chens in der Produktion von Wörtern oder Sätzen Sprache. Sie beinhalten eine Sammlung von Gene-
gespeichert (s. Kap. II.2.2.2.1) sowie unter Um- ralisierungen über die Beobachtungen zu dieser
ständen Registerinformationen. Diese Informati- Sprache. Auf der Basis der beschreibenden Gram-
on regelt, in welchem Sprachstil ein Zeichen zu matik sollte sich die mentale Grammatik modellie-
verwenden ist (schriftlich, mündlich, dialektal, ren lassen.
neutral). Merkmale der menschlichen Sprache sind ins-
Paradigma: Die sprachlichen Einheiten des besondere die folgenden: die sog. zweifache
mentalen Lexikons stehen in paradigmatischen Gliederung der Sprache (Martinet 1960), die Re-
Beziehungen zueinander. Betrachtet wird hier der kursivität der Regeln (Chomsky 1957), die sog.
Effekt der Ersetzung eines sprachlichen Elementes Kompositionalität der Bedeutung (Frege 1884) und
durch ein anderes im Wort- oder Satzzusammen- die situationelle Ungebundenheit (Hockett 1960).
hang. Die Frage ist, ob zwei (oder mehr) Elemente N Zweifache Gliederung der Sprache: In der Merkmale
in derselben sprachlichen Umgebung vorkommen Kommunikation (schriftlich oder mündlich oder
können oder nicht. mittels der Gebärden einer Gebärdensprache) wer-
N Opposition: Stellt sich ein Unterschied in der den Ausdrücke für die Zeichen, nicht die Zeichen
Funktion oder Bedeutung ein, wenn ein Aus- selbst realisiert. Wörter, Sätze oder Texte sind Rea-
druck durch einen anderen ersetzt wird, dann lisierungen von Zeichenketten. Sprachliche Mittei-
stehen die beiden Ausdrücke in Opposition: Pa- lungen sind grundsätzlich zweifach gliederbar.
pagei und Wellensittich stehen in dieser Bezie- Einerseits können wir einen Lautstrom in bedeu-
hung, weil beide in der sprachlichen Umgebung tungstragende Einheiten zerlegen: Wörter oder
Der … frisst Körner vorkommen können. kleinere bedeutungstragende Einheiten, sog. Mor-
N Komplementäre Distribution liegt vor, wenn phe bzw. Morpheme (s. Kap. II.2.2). Andererseits
zwei Elemente niemals in derselben Umgebung können wir diese Einheiten in bedeutungsdiffe-
realisierbar sind. Als Beispiel kann hier die Plu- renzierende Einheiten zerlegen: die einzelnen
ralbildung im Deutschen gelten. Laute bzw. Phoneme. Der Ausdruck Hund ist mit
N Von freier Variation spricht man, wenn zwei der Lautfolge /h3nd/ assoziiert und eine Bedeu-
Elemente in derselben Umgebung stehen kön- tungseinheit. Ändern wir einen Laut in der Laut-
nen, ohne dass sich ein Funktions- oder Bedeu- folge, ändert sich die Bedeutung. Ersetzen wir das
tungsunterschied ergibt: Briefmarke/Postwert- /h/ in Hund durch ein /f/ ergibt sich Fund. Die
zeichen. beiden Wörter unterscheiden sich nur bezüglich

33
1
Einleitung

eines Lautes. /f/ und /h/ können bedeutungstra- Unsere Sprachfähigkeit in Bezug auf all diesen
gende Einheiten unterscheiden. Die Laute haben Ebenen wird durch die kommunikativen Fähig-
aber einzeln keine Bedeutung. Diese zweifache keiten komplettiert: Wir wissen üblicherweise,
Gliederung betrifft das Lautbild im Saussure’schen wie sprachliche Ausdrücke in der Verwendungssi-
Zeichen. Das Lautbild kann eine bedeutungstra- tuation zu verstehen sind, auch wenn dieses Ver-
gende Einheit repräsentieren und selbst aus be- ständnis von dem abweicht, was gesagt wird. Kön-
deutungslosen Einheiten, den Lauten, zusammen- nen Sie die Tür schließen? ist zum Beispiel als
gesetzt sein. Frage formuliert, auf die man mit ja oder nein ant-
N Rekursivität der Regeln: Aus einfacheren worten kann. Gemeint ist aber normalerweise die
sprachlichen Ausdrücken können komplexere Aus- Aufforderung oder Bitte, die Tür zu schließen. Die-
drücke zusammengesetzt werden, die neue Ge- se Thematik ist Gegenstand der Pragmatik.
danken ausdrücken, die niemals vorher produziert Die Linguistik erforscht die Sprache als System,
oder gehört wurden. Sprache ist kreativ. Um diese und zwar
Eigenschaft der Sprache zu erfassen, sind rekur- N synchron, d. h. die Gleichzeitigkeit sprachli-
sive Regeln für die Beschreibung der Strukturen cher Elemente (das System zu einem bestimm-
notwendig, also Regeln, die auf sich selbst wieder ten Zeitpunkt)
angewendet werden können, um komplexe Aus- N diachron, d. h. die zeitliche Abfolge (Verände-
drücke zu erzeugen. Illustrieren lässt sich das an rung, Entwicklung) eines Systems (z. B. die Ent-
Konstruktionen mit Genitivattributen: der Papagei wicklung des Konsonantensystems vom Alt-
der Frau des Chefs meiner Mutter. Die Konstrukti- hochdeutschen zum Neuhochdeutschen)
onsregel, die dieser Wortfolge zugrunde liegt, ge- Zwei weitere Untersuchungsansätze lassen sich
neriert aus einer Kombination von Nomen und neben diesen zwei zentralen Forschungsausrich-
Genitivattribut einen komplexen Ausdruck, dem tungen unterscheiden:
man wieder ein Genitivattribut hinzufügen kann N typologisch, d. h. der Vergleich verschiedener
etc. Dieser Prozess kann unendlich wiederholt sprachlicher Systeme (z. B. Deutsch im Ver-
werden. Und wir könnten solche Konstruktionen gleich zum Türkischen)
prinzipiell verstehen, würde uns unser Gedächtnis N ontogenetisch, d. h. die Veränderung des
nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Sprachsystems im einzelnen Individuum im
N Kompositionalität: Den Regeln, die für die Kon- Lauf des Spracherwerbs
struktionen von Wortfolgen eingesetzt werden, Diese Einführung in die Sprachwissenschaft ent-
entsprechen Regeln für die Bedeutung. Die Bedeu- hält Kapitel zu allen linguistischen Kernbereichen
tung eines komplexen Ausdruckes ergibt sich aus sowie zur historischen Linguistik und zum Sprach-
der Bedeutung seiner unmittelbaren Teile und der erwerb, die weitere zentrale Bereiche darstellen.
Art ihrer Kombination. Eine Wortsequenz kann da- Phonologie/Phonetik: Die Phonetik erforscht,
mit mehr als eine Bedeutung erhalten, wenn mehr eher naturwissenschaftlich orientiert, wie konkre-
als eine Verknüpfungsmöglichkeit für die einfa- te Sprachlaute materiell beschaffen sind, gebildet
chen Ausdrücke existiert: teure Papageien und Wel- und wahrgenommen werden. Die Phonologie ab-
lensittiche kann bedeuten »Papageien, die teuer strahiert dagegen von den konkreten materiellen
sind, und Wellensittiche«, aber auch »Papageien Lauteigenschaften und beschreibt die Merkmale
und Wellensittiche und davon jeweils die teuren«. und Stellung von Lauteinheiten vor dem Hinter-
N Situationelle Ungebundenheit: Mit menschli- grund ihrer bedeutungsunterscheidenden Funk-
cher Sprache kann man Gedanken über Tatsachen tion im Lautsystem der jeweiligen Sprache.
und Fakten ausdrücken, die in der aktuellen Situa- Die Morphologie ist als »Lehre von den For-
tion des Gesprächs nicht gegeben sind. Man kann men« Teilgebiet verschiedener wissenschaftlicher
Träume erzählen oder sich schildern, wie es wäre, Disziplinen wie Biologie, Geologie und Sprachwis-
wenn es nicht so ist, wie es ist. senschaft. Gegenstand der linguistischen Morpho-
Sprachebenen Sprachebenen: Der Systemcharakter der Spra- logie sind die universellen und sprachspezifischen
und Disziplinen che drückt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Die Regularitäten, die den Aufbau und die innere
wichtigsten sprachlichen Ebenen sind: Struktur komplexer Wörter betreffen. Die zentrale
N Phonologie (Phoneme) Erkenntnis ist dabei, dass komplexe Wörter aus
N Morphologie (Morpheme) kleineren Bausteinen zusammengesetzt sind, die
N Syntax (Satzstruktur) mit einer bestimmten Bedeutung bzw. einer be-
N Semantik (Wort- und Satzbedeutung) stimmten grammatischen Funktion assoziiert sind

34
1
Einleitung

(sog. Morpheme). Im Rahmen dieser Einführung che Rolle in den an der Kognitionswissenschaft
werden grundlegende theoretische Begriffe und (cognitive science) beteiligten Disziplinen wie der
Analysemethoden der modernen Morphologie vor- Psychologie, Informatik/künstliche Intelligenz,
gestellt und anhand einer Auswahl wesentlicher den Neurowissenschaften und in der Soziologie.
morphologischer Phänomene des Deutschen moti- Die historische Sprachwissenschaft beschäftigt
viert. sich mit der Geschichte der deutschen Sprache
Die Syntax ist die Teildisziplin der Sprachwis- von den Anfängen der Überlieferung bis zur Ge-
senschaft, die Sätze, deren Aufbau und Eigen- genwart. Im Zentrum stehen die Erforschung und
schaften untersucht. Auf den ersten Blick bestehen Beschreibung der Prinzipien und Regelmäßig-
Sätze einfach aus einer Kette von Wörtern. Bei ge- keiten grammatisch-strukturellen Sprachwan-
nauerer Betrachtung stellt man fest, dass in einem dels, z. B. Veränderungen in der Morphologie und
Satz bestimmte Wörter voneinander abhängen Syntax sowie mögliche Zusammenhänge zwischen
(Dependenz) bzw. enger zusammengehören und beiden. Aber auch generellere Fragen wie, warum
sogenannte Konstituenten bilden (Konstituenz). es überhaupt Sprachwandel gibt und wie er mit
Die universellen und sprachspezifischen Prinzi- anderen Aspekten (insbesondere Spracherwerb
pien der Syntax werden anhand des deutschen und Sprachgebrauch) zusammenhängt, werden
Satzes vorgestellt. Die Darstellung orientiert sich untersucht.
einerseits an der langen Tradition der deskriptiven Die Spracherwerbsforschung ist Teil der Psy-
deutschen Grammatik, wie sie unter anderem im cholinguistik. Sie untersucht, wie Sprecher/innen
Duden ihren Ausdruck findet, ist andererseits aber eine oder mehrere Sprachen erwerben und welche
dezidiert der Tradition der generativen Grammatik Erwerbsprozesse diesen Weg bestimmen. Die
verpflichtet. Spracherwerbsforschung lässt sich dabei u. a. von
In der Semantik und Pragmatik kann man drei folgenden Fragen leiten:
Interessenschwerpunkte ausmachen : N Welche Phänomene werden sprachübergreifend
N Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: Mit gleich erworben?
vielen sprachlichen Ausdrücken beziehen wir N Welchen Einfluss hat die jeweilige Grammatik
uns auf Dinge in der Welt, auf die diese Ausdrü- auf den Spracherwerb?
cke angewendet werden können. Die Kenntnis N Mit welchen Voraussetzungen sind Sprachler-
der Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes ner für die Bewältigung der Erwerbsaufgabe
ermöglicht den Bezug. Wie sieht dieser Bezug ausgestattet?
aus? Um zentrale Einflussgrößen des Spracherwerbs zu
N Verhältnis von Sprache und Denken: Mit erforschen, wird u. a. untersucht, welche Rolle das
Sprache drücken wir Gedanken aus. Welcher Alter bei Erwerbsbeginn für den Spracherwerbs-
Teil des sprachlichen Wissens befähigt uns verlauf und -erfolg spielt. Die Erforschung von
dazu? Sprachstörungen kann Antwort darauf geben,
N Verhältnis von Sprache und Handlung: Mit inwieweit sprachliche und nichtsprachliche Fä-
Sprache kann man handeln. Man kann Personen higkeiten zusammenhängen. Zwischen Spracher-
informieren, beeinflussen, manipulieren. Wel- werbsforschung und linguistischer Theorie beste-
chen Gesetzmäßigkeiten folgen diese Handlun- hen vielfältige Wechselbeziehungen. Die linguisti-
gen und wie sind sprachliche Handlungen von sche Theorie erlaubt die Ableitung spezifischer
nicht-sprachlichen Handlungen abzugrenzen? Vorhersagen für den Erwerb. Gleichzeitig helfen
Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig. Die Ergebnisse aus dem Spracherwerb, konkurrieren-
größten Impulse haben Semantik und Pragmatik de linguistische Erklärungsansätze zu überprüfen.
erst seit Anfang des 19. Jh.s aus der Sprachphiloso- Unerwartete Ergebnisse liefern neue Forschungs-
phie erhalten. Semantik und Pragmatik spielen ih- fragen für die linguistische Theorie und tragen so
rerseits seit der kognitiven Wende eine wesentli- zur Theoriebildung bei.

35
1
Einleitung

Literatur
Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. Den Haag. (Hg.): Semiotics: A Handbook on the Sign-Theoretic
– (1965): Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Foundations of Nature and Culture. Band III. Berlin/
Mass. New York, S. 2341–2374.
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Use. New York u. a. allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Berlin/New York
Frege, Gottlob (1884): Grundlagen der Arithmetik. Eine (franz. Cours de linguistique générale. Redigé par
logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff Charles Bally et Albert Séchehaye. Paris/Lausanne 1916;
2
der Zahl. Breslau. 1922).
Hockett, Charles (1960): »The Origin of Speech«. In: Tracy, Rosemarie/Gawlitzek-Maiwald, Ira (2000):
Scientific American 203, S. 88–106. »Bilingualismus in der frühen Kindheit«. In: Hannelore
Martinet, André (1960): Éléments de linguistique générale. Grimm (Hg.): Sprachentwicklung. Enzyklopädie der
Paris. Psychologie CIII, Band. 3. Göttingen, S. 495–535.
Posner Roland (2003): »The Relationship between
Individual Disciplines and Interdisciplinary Approa-
ches«. In: Ders./Klaus Robering/Thomas A. Sebeok Cécile Meier, Petra Schulz und Helmut Weiß

36
2.1
Grammatik

2 Grammatik
2.1 Phonetik und Phonologie
2.2 Morphologie
2.3 Syntax

2.1 | Phonetik und Phonologie


2.1.1 | Einleitung Atemluft den Kehlkopf passiert, ohne in Schwin-
gungen versetzt zu werden. Dies ist bei der Pro-
Sprache tritt zunächst, bevor sie beispielsweise duktion stimmloser Konsonanten der Fall. Außer-
verschriftlicht wird, vor allem als Lautsprache dem können die Stimmlippen auch verschlossen
auf – man spricht daher auch vom Primat der ge- und dann plötzlich geöffnet werden, wodurch der
sprochenen Sprache. Mit den lautlichen Aspekten sog. Knacklaut, auch bezeichnet als Glottisver-
einer Sprache beschäftigen sich die sprachwissen- schlusslaut oder fester Stimmeinsatz, zum Beispiel
schaftlichen Teildisziplinen der Phonetik und der vor Vokalen im Anlaut (s. u.) erzeugt wird.
Phonologie. 3. Artikulation: Der Luftstrom wird im Rachen- Phasen der
raum und der Mund- und Nasenhöhle (man Lautproduktion
spricht hier auch vom Ansatzrohr) moduliert. Da-
bei sind eine ganze Reihe von Artikulationsorga-
2.1.2 | Phonetik nen beteiligt, nämlich Lippen, Zunge, Zähne, Gau-
men, Zäpfchen und Nasenraum (s. Abb. 1).
Die Phonetik untersucht die materiellen, insbeson- Die auf diese Weise erzeugten Einzellaute, die
dere die physiologischen und physikalischen Ei- der Sprecher einer Sprache auditiv segmentieren,
genschaften mündlicher Äußerungen. Je nach- d. h. aufgrund des Höreindrucks als Einzellaute
dem, ob dabei der Sprecher, das Schallsignal oder unterscheiden kann, werden auch als Phone be-
der Hörer im Zentrum der Betrachtung steht, un- zeichnet.
terscheidet man Artikulatorische, Akustische und Der Hörer ist in der Lage, den kontinuierli-
Auditive Phonetik. Wir werden uns im Folgenden chen Sprachschall in seiner Sprache in Phone zu
auf die Artikulatorische Phonetik beschränken, zerlegen. Um Phone exakt zu notieren (auch
zumal die hier gewonnenen Erkenntnisse eine ›transkribieren‹), verwendet man üblicherweise Abbildung 1:
zentrale Rolle in der Phonologie sowie in weiteren die Zeichen des internationalen phonetischen Artikulationsstellen
Bereichen der Sprachwissenschaft spielen, etwa Alphabets (IPA). Diese besondere Schreibweise und -organe
in der Sprachgeschichte (s. Kap. II.4) (zu den ande-
ren phonetischen Teilgebieten vgl. Kohler 1995;
Pompino-Marschall 2003; Reetz 2003).
1
1 Harter Gaumen (palatal)
2
2.1.2.1 | Phonetische Grundlagen 11 2 Weicher Gaumen/Velum (velar)
Die Lautproduktion erfolgt in drei Phasen: 9 6 3 Zäpfchen/Uvula (uvular)
10 108 7 3 4 Rachenraum/Pharynx (pharyngal)
1. Initiation: Über Lungen und Atemwege strömt
Atemluft aus. 9 5 Kehldeckel/Epiglottis (epiglottal)
2. Phonation: Die Atemluft wird bei ihrem Weg 6 Zungenrücken (dorsal)
durch den Kehlkopf (Larynx) mithilfe der bewegli- 4 7 Zungenblatt (laminal)
chen Stimmlippen, die die Stimmritze (Glottis) 8 Zungenspitze (apikal)
umschließen, in Schwingungen versetzt, so dass 9 Lippen (labial)
ein Stimmton erzeugt wird. Die Erzeugung eines 10 Zähne (dental)
Stimmtons erfolgt bei allen Vokalen und bei be- 5
11 Zahndamm (alveolar)
stimmten Konsonanten (s. u.). Die Stimmlippen
können dagegen auch geöffnet werden, so dass die

37
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Definition N stimmhaft/stimmlos: Klassifikation nach der


Beteiligung eines Stimmtons oder dem Fehlen
Ein   Phon ist eine durch auditive Segmen- desselben
tierung gewonnene lautliche Elementarein-
heit. Phone können nach ihrer artikulatori- 1. Die Klassifikation nach der Artikulationsart ist
schen Hervorbringung klassifiziert werden. den Zeilen der Tabelle zu entnehmen:
Sie werden in der IPA (International Phonetic N Bei Plosiven (Verschlusslauten) wird der Luft-
Alphabet)-Transkription wiedergegeben und strom kurzzeitig ganz blockiert. Dann wird der
in eckigen Klammern notiert: […]. Verschluss plötzlich wieder geöffnet, wobei die
Luft ein Explosionsgeräusch erzeugt. Zu den
Plosiven gehören im Deutschen die Laute [p]
ist nötig, da unsere Orthographie die Laute nicht wie in Perle, [b] wie in Boot, [t] wie in Tau, [d]
eindeutig abbildet. So hat ein Buchstabe oft ver- wie in Ding, [k] wie in Kiste und [g] wie in
schiedene lautliche Entsprechungen, etwa das v Geist, aber auch der oben erwähnte Knacklaut
in viel im Unterschied zu dem in variabel (in IPA- oder Glottisverschlusslaut vor Vokalen im An-
Schreibweise [f] vs. [v]). Umgekehrt kommt es laut [‫( ]ݦ‬z. B. am Beginn von an [‫ݦ‬an]), da
auch vor, dass ein und derselbe Laut orthogra- hier ein entsprechender Verschluss im Kehlkopf
phisch durch verschiedene Buchstaben oder selbst erfolgt.
Buchstabenkombinationen wiedergegeben wird, N Frikative (Reibelaute, Spiranten) werden da-
beispielsweise der lange e-Laut in er, leer und gegen gebildet, indem der Luftstrom durch ein
Lehrer (in IPA-Schreibweise jeweils [e:]). Die IPA- Artikulationsorgan eingeengt wird. Die entste-
Zeichen sind dagegen eindeutig und zudem für henden Luftturbulenzen erzeugen ein Reibege-
alle Sprachen verwendbar. räusch. Dies ist der Fall bei den meisten deut-
Phone lassen sich nach ihrer lautlichen Hervor- schen Konsonanten, nämlich bei [f] wie in
bringung klassifizieren. Wird die ausströmende viel, [v] wie in warm, [s] wie in große, [z] wie
Luft durch eines der Artikulationsorgane auf ir- in Sache, [‫ ]ݕ‬wie in schön, [‫ ]ݤ‬wie in Garage,
gendeine Art behindert, entstehen Konsonanten. [ç] wie in ich (sog. Ich-Laut), [x] wie in Koch
Bei der Hervorbringung von Vokalen kann die (auch als Ach-Laut bezeichnet, wobei nach [a]
Luft dagegen ungehindert ausströmen. genau genommen die uvulare Variante [Ȥ] ge-
sprochen wird), [Ȥ] wie in Dach, [‫]ݓ‬, der von
vielen Sprechern des Deutschen, insbeson-
2.1.2.2. | Die Konsonanten des Deutschen
dere im Rheinland, produzierte r-Laut z. B. in
Artikulationsart Alle Konsonanten, also die Phone, bei deren Er- Reise und der Hauchlaut [h] wie in Hof.
zeugung der Luftstrom behindert wird, können Plosive und Frikative werden auch unter dem
nach folgenden drei Kriterien klassifiziert werden Oberbegriff Obstruenten zusammengefasst.
(s. Tab. 1; vgl. auch Kohler 1999; Ramers 1998): N Als Nasale werden diejenigen Konsonanten be-
N Artikulationsart: Klassifikation nach der Art zeichnet, bei denen der Mundraum verschlos-
der Behinderung der ausströmenden Luft sen und das Gaumensegel (Velum), das sonst
N Artikulationsort: Klassifikation nach der Stelle die Nasenhöhle verschließt, gesenkt wird, so
Tabelle 1: oder dem Organ, mit dem die Atemluft behin- dass der Luftstrom durch die Nase entweicht.
Die Konsonanten dert wird Im Deutschen sind das die Laute [m] wie in
des Deutschen Mut, [n] wie in neu und [ƾ] wie in eng.

bilabial labio-dental dental alveolar post-alveolar palatal velar uvular glottal


Plosive p b t d k g ‫ݦ‬
Frikative f v s z ‫ݤ ݕ‬ ç x Ȥ ‫ݓ‬ h
Nasale m n ƾ
Laterale l
Vibranten r ‫ݒ‬
Gleitlaute j

38
2.1
Grammatik
Phonetik

N Laterale (laterale Approximanten) sind Laute, etwas weiter hinten gebildet und zwar am
bei denen der Luftstrom im Mundraum mittig Zahndamm (den Alveolen).
behindert wird und nur an den Zungenseiten N Zu den Alveolaren zählen im Deutschen die Artikulationsort
entweichen kann. Ein solcher Laut ist [l] wie in meisten Konsonanten: die Plosive [t] und [d],
lieb. die Frikative [s] und [z], der Nasal [n], der La-
N Die Vibranten werden durch einmaliges oder teral [l], sowie das ›gerollte‹ Zungenspitzen-r,
wiederholtes schnelles Schlagen eines bewegli- der Vibrant [r]. Noch etwas weiter hinten er-
chen Artikulationsorgans erzeugt. Die ›geroll- folgt die Engebildung für die Frikative [‫ ]ݕ‬und
ten‹ r-Varianten zählen im Deutschen dazu: das [‫]ݤ‬, die deshalb als post-alveolar (auch palato-
Zungenspitzen-r [r] sowie das Zäpfchen-r [‫]ݒ‬, alveolar) klassifiziert werden.
bei dem sich das Zäpfchen ähnlich wie beim N Die Palatale [!] und [j] werden am harten Gau-
Gurgeln bewegt. men gebildet.
Laterale und Vibranten werden auch unter dem N Velare dagegen entstehen am weichen Gau-
Oberbegriff Liquide zusammengefasst. men. Zu ihnen gehören die Plosive [k] und [g],
N Bei Gleitlauten (zentralen Approximanten) der Frikativ [x] sowie der Nasal [ƾ].
strömt die Luft durch eine Verengung in der N Bei den Uvularen erfolgt die Engebildung am
Zungenmitte aus. Die Engebildung ist jedoch so Zäpfchen (der Uvula). Dazu zählen die Frika-
gering, dass kein Reibegeräusch entsteht. Gleit- tive [Ȥ] und [‫ ]ݓ‬sowie der Vibrant [‫]ݒ‬, der eben-
laute werden daher auch als Halbvokale be- falls mit dem Zäpfchen produziert wird und
zeichnet. Im Standarddeutschen gibt es nur den zwar, indem dieses gegen die Hinterzunge
Gleitlaut [j] wie in ja. (In manchen Darstellun- schlägt.
gen wird der Anlaut von ja dagegen als palata- N Die Glottale [‫ ]ݦ‬und [h] werden gebildet, in-
ler Frikativ klassifiziert.) dem mithilfe der Stimmlippen ein Verschluss
N Die Affrikaten (›angeriebenen‹ Laute), im bzw. eine Engebildung direkt in der Stimmritze
Deutschen [pf] wie in Pfeil, [ts] wie in Ziel, aber (Glottis) im Kehlkopf erzeugt wird.
auch [t‫ ]ݕ‬wie in Kitsch, [d‫ ]ݤ‬wie in Dschungel
sowie u. a. in schweizerdeutschen Dialekten 3. Die Klassifikation nach stimmhaft bzw. stimmlos
[kx] statt des standarddeutschen [k] etwa in betrifft die Frage, ob bei der Bildung des entspre-
Zucker, sind Kombinationen aus am gleichen chenden Konsonanten ein Stimmton beteiligt ist stimmhaft/stimmlos
Artikulationsort gebildetem (homorganen) Plo- oder nicht. Während Nasale und Liquide prinzipi-
siv und Frikativ (und daher nicht gesondert in ell stimmhaft sind, gibt es bei den Obstruenten,
Tab. 1 aufgeführt). Der Verschluss wird nach also den Plosiven und den Frikativen, Paare von
dem Plosiv nicht vollständig gelöst, sondern mit gleicher Artikulationsart und am gleichen Arti-
geht in eine Engebildung an derselben (oder kulationsort gebildeten Lauten, die sich nur bzgl.
eng benachbarten) Artikulationsstelle über. der Stimmhaftigkeit unterscheiden. In Tabelle 1 ist
dann innerhalb einer Spalte der stimmlose Laut
2. Der Klassifikation nach dem Artikulationsort jeweils links, der stimmhafte rechts eingetragen.
entsprechen die einzelnen Spalten in Tabelle 1. Die Der Konsonant [p] ist also ein stimmloser bilabia-
Bezeichnungen leiten sich von den lateinischen ler Plosiv, [b] dagegen ein stimmhafter, [f] ist ein
Fachbegriffen für die verschiedenen Artikulations- stimmloser labiodentaler Frikativ, [v] ein stimm-
stellen und -organe ab (s. Abb. 1). hafter usw. (In der historischen Sprachwissen-
N Bilabiale Laute, im Deutschen [p], [b] und [m], schaft werden stimmhafte Plosive auch als Mediae
werden mit einem Verschluss bzw. einer Enge- bezeichnet und stimmlose Plosive als Tenues;
bildung mit beiden Lippen produziert. s. Kap. II.4.4.3.1).
N Bei den Labiodentalen [f] und [v] erfolgt die
Engebildung dagegen zwischen Unterlippe und
2.1.2.3 | Die Vokale des Deutschen
oberen Schneidezähnen. Bilabiale und Labio-
dentale werden auch unter dem Oberbegriff Im Gegensatz zu den Konsonanten wird bei den
›Labiale‹ zusammengefasst. Vokalen der Luftstrom in Rachen- und Mundraum
N Dentale werden mit einer Engebildung bzw. ei- nicht blockiert oder behindert. Die mithilfe der
nem Verschluss zwischen Zunge und oberen Stimmlippen in Schwingungen versetzte Luft er-
Schneidezähnen gebildet. Im Deutschen wer- zeugt vielmehr in dem durch Zunge und Lippen
den die entsprechenden Konsonanten i. d. R. verschieden geformten Resonanzraum oberhalb

39
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

der Glottis unterschiedliche Vokalklänge. Entspre- 2. Nach der Zungenhöhe, d. h. nach der vertikalen
chend können Vokale u. a. nach der Position der Ausrichtung der Zunge, unterscheidet man (siehe
Zunge und der Lippen klassifiziert werden. die waagerechten Einteilungen im Vokaltrapez):
Im sog. Vokaltrapez (oder auch Vokaldreieck) N Tiefe Vokale, für die die Zunge im Mund nach
sind die Vokale des Deutschen gemäß der horizon- unten bewegt wird, sind nur [] und [a].
talen und vertikalen Ausrichtung der Zunge ange- N Mittlere Vokale, bei denen die Zunge in einer
ordnet: mittleren Höhe verbleibt, sind die meisten Vo-
Alle Vokale lassen sich nach fünf Kriterien klas- kale im Deutschen, nämlich [e], [İ], [ø], [¬],
sifizieren: [‫]ۑ‬, [‫]ܣ‬, [o] und [‫]ܧ‬.
N Hohe Vokale, d. h. solche, bei denen die Zunge
Klassifikation 1. Gemäß der Zungenlage, also der horizontalen im Mund nach oben verschoben wird, sind im
der Vokale Zungenausrichtung, d. h. der Position des höchs- Deutschen [i], [ܼ], [y], [‫]ݡ‬, [u] und [‫]ݜ‬.
ten Punktes der Zunge im Mundraum, kann man
folgende Arten von Vokalen unterscheiden (siehe 3. Nach der Gespanntheit, d. h. nach der bei der
die senkrechten Einteilungen im Vokaltrapez): Artikulation aufgewendeten Muskelkraft, werden
unterschieden:
N Gespannte Vokale, die mit größerer Muskelan-
spannung gebildet werden, die etwa nötig ist,
um die Zunge im Mundraum weit nach vorn,
hinten, oben oder unten zu bewegen. Die Vo-
kale außerhalb der Ellipse in Abbildung 2 stel-
len die gespannten Vokale dar.
N Ungespannte Vokale, zu deren Artikulation
eine geringere Muskelkraft aufgewendet wird.
Die Vokale innerhalb der Ellipse in Abbildung 2
Abbildung 2: sind die ungespannten Vokale. Am wenigsten
Die Vokale des Deutschen Muskelspannung wird für das Schwa [‫ ]ۑ‬aufge-
(Vokaltrapez) wendet, da die Zunge hier die zentralste Posi-
tion einnimmt: Die Zunge wird für diesen Laut
N Vordervokale (auch Palatalvokale) werden ge- weder nach vorn oder hinten noch nach oben
bildet, indem die Zunge so verschoben wird, oder unten verschoben.
dass ihr höchster Punkt vorn im Mundraum ist.
Die meisten Vokale im Deutschen sind Vorder- 4. Gemäß der Vokallänge, also der Artikulations-
vokale. Hierzu zählen die Laute [i] wie in Tier, dauer, unterscheidet man:
[ܼ] wie in Kiste, [y] wie in Tür, [‫ ]ݡ‬wie in N Langvokale, deren Artikulationsdauer ver-
Küste, [e] wie in Meer, [İ] wie in Fest, [ø] wie gleichsweise lang ist.
in Möwe und [¬] wie in Löffel. N Kurzvokale, deren Artikulationsdauer dagegen
N Zentralvokale, bei denen der höchste Punkt kürzer ist.
der Zunge in der Mitte des Mundraums liegt, In der IPA-Schreibweise werden Langvokale mit
sind zum einen die a-Laute [] wie in Spaß und dem Zeichen [:] hinter dem Vokalzeichen gekenn-
[a] wie in lachen. Weiterhin zählt dazu das sog. zeichnet, Kurzvokale notiert man ohne dieses zu-
Schwa (auch ›Murmelvokal‹) [‫]ۑ‬, das beispiels- sätzliche Zeichen, also z. B. [İ:] in Käse im Unter-
weise in Flexionsendungen wie hüpfe oder Kü- schied zu [İ] in Kästen, [i:] wie in liest im
hen vorkommt. Auch das vokalisierte r [‫ ]ܣ‬wie Unterschied zu [ܼ] wie in List usw. Die Vokallänge
in Tier, Tür oder Lacher, das einem a-Laut gar korreliert im Standarddeutschen in der Regel mit
nicht so unähnlich ist, zählt zu den zentralen der Gespanntheit: Gespannte Vokale, also diejeni-
Vokalen (Es erfolgt hierbei ähnlich wie beim [‫]ݓ‬ gen außerhalb der Ellipse in Abbildung 2, werden
eine Annäherung von Zunge und Zäpfchen, je- in betonter Silbe mit längerer Dauer artikuliert als
doch weniger stark als bei diesem konsonanti- die ungespannten, die nur kurz vorkommen – mit
schen r). Ausnahme von [İ], das auch als Langvokal auftre-
N Hintere Vokale sind im Deutschen [u] wie in ten kann wie in Käse.
Stuhl, [‫ ]ݜ‬wie in Muschel, [o] wie in Ton und
[‫ ]ܧ‬wie in Topf.

40
2.1
Grammatik
Phonologie

5. Gemäß der Lippenrundung werden unterschie- Abbildung 3:


den: Artikulation
N Gerundete Vokale, die mit vorgestülpten, ge- der Diphthonge
rundeten Lippen artikuliert werden.
N Ungerundete Vokale, die ohne zusätzliche
Rundung der Lippen artikuliert werden.
Die Lippenrundung korreliert weitgehend mit der

Zungenlage: Alle hinteren Vokale sind im Deut-
schen gerundet, d. h. sie werden mit vorgestülp-
ten, gerundeten Lippen artikuliert. Alle zentralen
Vokale sind ungerundet. Bei den vorderen Vokalen
 
gibt es sowohl gerundete Vokale, nämlich [y], [‫]ݡ‬,
[ø] und [¬], als auch ungerundete, nämlich [i], [ܼ],
[e] und [İ]. se Ebenen spielen bei der Beschreibung von pho-
nologischen Prozessen und in der Akzentzuwei-
Diphthonge liegen vor, wenn zwei Vokale in einer sung eine entscheidende Rolle.
Silbe kombiniert werden. Im Deutschen zählen zu
den Diphthongen [aܼ࡬ ] wie in weiß, [a‫ ]࡬ݜ‬wie in Definition
Schaum und [‫ ] ࡬ܼܧ‬wie in neu. (Der kleine Bogen
unter dem zweiten Vokal ist das IPA-Zeichen für Ein   Phonem ist das kleinste distinktive
›nicht-silbisch‹, drückt also aus, dass der zweite (= bedeutungsunterscheidende) Segment
Vokal nicht zu einer neuen, sondern zu derselben einer Sprache. Phoneme stehen miteinander
Silbe gehört). Bei der Produktion von Diphthon- in Opposition, d. h. sie kontrastieren, und
gen bewegt sich die Zunge aus einer Vokalposition können daher durch Minimalpaarbildung
in eine andere, wie Abbildung 3 mithilfe des Vo- bestimmt werden. Phoneme werden in
kaltrapezes verdeutlicht. Schrägstriche eingeschlossen notiert: /…/.
Der Ausgangspunkt dieser Zungenbewegung
ist relativ eindeutig, der Endpunkt kann variieren,
was die Pfeile symbolisieren. (Daher findet man Minimalpaare sind Paare von Wörtern mit unter-
auch verschiedene Transkriptionen für die Diph- schiedlicher Bedeutung, die sich genau in einem
thonge, etwa [ae࡬ ] statt [aܼ࡬ ], [ao࡬ ] statt [a‫ ]࡬ݜ‬und [‫ܧ‬e࡬ ] Lautsegment unterscheiden. Im Deutschen bilden
statt [‫] ࡬ܼܧ‬.) Gemäß ihrer Artikulation sind übrigens z. B. folgende Wortpaare Minimalpaare:
auch die Kombinationen von Vokal und vokali- N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] /i:/ vs. /e:/
siertem r, die zusammen in einer Silbe vorkom- N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] /g/ vs. /k/
men, Diphthonge, z. B. in Tier [i:‫]࡬ܣ‬, Tür [y:‫ ]࡬ܣ‬oder N Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] – Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] /k/ vs. /z/
wer [e:‫]࡬ܣ‬. N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] /z/ vs. /d/

Einige Minimalpaare unterscheiden sich nur be- Minimalpaare


züglich einer einzigen Lauteigenschaft eines Seg-
2.1.3 | Phonologie
ments, z. B.
N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
2.1.3.1 | Phonologische Grundbegriffe
schaft mittel/hoch beim zweiten Segment
und Merkmale N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
Die Phonologie beschäftigt sich mit der Struktur schaft stimmhaft/stimmlos beim dritten Seg-
und den Kombinationsmöglichkeiten von Lautein- ment
heiten. Sie untersucht die Funktion von Lauten N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] bezüglich der Arti-
(Phonemen) innerhalb eines Sprachsystems. Da- kulationsart Frikativ/Plosiv beim dritten Seg-
bei stehen nicht die konkreten materiellen Eigen- ment
schaften der Laute im Zentrum, sondern die Rolle Solche einzelnen Lauteigenschaften mit distinkti-
der Laute bei der Bedeutungsunterscheidung. Dar- ver Funktion nennt man phonologische Merkma-
über hinaus betrachtet die Phonologie auch Ebe- le (zuerst u. a. angenommen von Bloomfield 1933,
nen oberhalb des Einzellauts (des Segments) wie Trubetzkoy 1939, Chomsky/Halle 1968). Man
die Silbe, den Fuß und das prosodische Wort. Die- kann Phoneme daher auch als Bündel oder Kom-

41
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

plexe von bestimmten phonologischen Merkmalen bänder bei der Artikulation dieser Laute also auto-
auffassen. Auf diese Weise kann man die einzel- matisch schwingen. Sie unterscheiden sich damit
nen Phoneme noch genauer analysieren und das etwa von den Obstruenten, bei denen es zwar
Lautsystem einer Sprache noch einfacher beschrei- auch stimmhafte Laute gibt, diese sind aber nicht
ben (nach Wiese 2000 genügen 22 distinktive spontan stimmhaft.
Merkmale, um alle von ihm angesetzten 37 Phone- Nicht alle tatsächlichen Eigenschaften eines
me des Standarddeutschen zu erfassen). Lautes sind in einer Sprache distinktiv. Dies ist je
Phonologische Ein Ziel und gleichzeitig eine wichtige Heraus- nach Sprache unterschiedlich. So ist etwa im Deut-
Merkmale forderung der phonologischen Forschung ist es, schen das Merkmal [+/– aspiriert] nicht distink-
möglichst universelle phonologische Merkmale tiv. Dieses Merkmal gibt wieder, ob Plosive be-
zu definieren, so dass man prinzipiell die Laut- haucht sind oder nicht, d. h. ob nach der
systeme aller Sprachen mithilfe verschiedener Verschlusslösung bis zum Vokaleinsatz eine Zeit
Kombinationen des überschaubaren Inventars an lang Luft ausströmt, die als Hauchgeräusch wahr-
phonologischen Merkmalen beschreiben kann genommen wird (Transkription: [h]), z. B. im Fall
(Universalität). Phonologische Merkmale sind oft von [ph] in Pudel im Gegensatz zu [p] in Spule.
binär (zweiwertig), d. h. man kann bezüglich des In anderen Sprachen wie im Hindi gibt es Mini-
Merkmals einen Plus- und einen Minus-Wert un- malpaare, die sich nur bezüglich des phonologi-
terscheiden (Binarität). Das phonologische Merk- schen Merkmals [+/– aspiriert] unterscheiden. Im
mal, das bei dem Minimalpaar Igel – Egel distink- Deutschen ist eine entsprechende Minimalpaarbil-
tiv ist, wird beispielsweise als [+/– hoch] gefasst, dung nicht möglich und daher bezeichnet man die
das bei Egel – Ekel bedeutungsdifferenzierende aspirierte und nicht-aspirierte Variante eines Plo-
Merkmal als [+/– stimmhaft], das bei Esel – edel sivs als Allophone.
als [+/– kontinuierlich], d. h. die Luft kann bei der
Artikulation des Lautes ausströmen oder aber wird Definition
kurzzeitig blockiert. Gewisse Merkmale werden
dagegen als unär oder privativ angesehen, d. h. sie Als   Allophone bezeichnet man alle Vari-
sind bei einem Laut entweder anwesend oder ab- anten eines Phonems, die sich nur bezüglich
wesend. nicht distinktiver (nicht bedeutungsdifferen-
Die Laute, die durch eine Menge gemeinsamer zierender) Merkmale unterscheiden. Kenn-
Merkmale charakterisierbar sind, bilden sog. na- zeichnend für Allophone ist daher, dass eine
türliche Klassen. So bilden alle Vokale, Nasale Minimalpaarbildung nicht möglich ist.
und Liquide beispielsweise eine natürliche Klasse,
da sie alle das Merkmal [+ sonorant] aufweisen,
d. h. dass sie spontan stimmhaft sind, die Stimm- Zwei Arten der Varianz sind bei Allophonen zu un-
Zur Vertiefung terscheiden (vgl. Trubetzkoy 1939):
Stellungsbedingte Varianz oder kombinatori-
Phonologische Merkmale: Merkmalsmatrizen und Merkmalsgeometrien sche Allophonie liegt vor, wenn die Varianten des
Jedes Phonem kann in Form einer Liste oder Tabelle mit entsprechenden Plus- Phonems in komplementärer Distribution vor-
bzw. Minus-Werten für alle distinktiven Merkmale eindeutig charakterisiert wer- kommen, d. h. immer nur in verschiedenen Laut-
den (vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011) z. B.: kontexten auftreten. Dies gilt im Deutschen etwa
/‫ݡ‬/ [- konsonantisch, + sonorant, – hinten, + vorn, + hoch, – tief, + rund, für das angeführte Beispiel der Aspiration von Plo-
– gespannt, – lang] siven, die typischerweise in einem bestimmten
Im Gegensatz zu der Ansicht, dass Segmente ein Bündel von Merkmalen ohne Lautkontext, nämlich am Silbenanfang vor Vokal
interne Struktur darstellen (zur Formalisierung in sog. Merkmalsmatrizen vgl. auftritt, in anderen Kontexten aber nicht. Ein wei-
Chomsky/Halle 1968), geht man heute in der Phonologie davon aus, dass die teres Beispiel für stellungsbedingte Varianz und
Segmente eine interne Merkmalsstruktur aufweisen. Phonologische Merkmale komplementäre Distribution ist die Verteilung des
können in größeren Klassen zusammengruppiert werden. Zwischen einzelnen Ich- bzw. Ach-Lauts: Nach hinteren und zentralen
Merkmalen bestehen Beziehungen. Bestimmte Merkmale tauchen nur im Zusam- Vokalen folgt der Laut [x] (z. B. in Loch oder
menhang mit anderen überhaupt auf oder aber folgen aus anderen. Dies wird Flucht), in allen anderen Kontexten der Laut [ç]
üblicherweise dargestellt, indem die phonologischen Merkmale in einem hierar- (z. B. in Hecht, Milch, Chemie), d. h. überall dort,
chisch organisierten Baum angeordnet werden (sog. Merkmalsgeometrien, vgl. wo [x] gesprochen wird, kommt [ç] normalerweise
Hall 2011; Spencer 1996; Wiese 2010). nicht vor und umgekehrt. Es gibt entsprechend im
Deutschen keine zwei Wörter mit unterschiedli-

42
2.1
Grammatik
Phonologie

cher Bedeutung, die sich nur im Ich- bzw. Ach- gung vor Nasal im Wortauslaut (z. B. Leben
Laut unterscheiden. Beide Laute sind folglich Allo- [le:bK] > [le:bnࡦ ]) oder Angleichung eines Nasals
phone eines Phonems. an einen vorausgehenden Plosiv (z. B. Leben
Freie Varianz kommt bei Allophonen ebenfalls [le:bn]/[le:bnࡦ ] > [le:bm]) zu beobachten.
vor. Die Wahl der jeweiligen Variante hängt dann Die Hauptarten phonologischer Prozesse wer-
nicht vom lautlichen Kontext ab, sondern z. B. von den im Folgenden kurz vorgestellt (vgl. Ramers
stilistischen, sozialen oder regionalen Faktoren. 1998; Hall 2011; Wiese 2010).
Ein in der Literatur häufig angeführtes Beispiel Assimilation nennt man den phonologischen
sind die verschiedenen Realisierungen des r-Lau- Prozess der Angleichung eines Segments in be-
tes im Deutschen (vgl. Kohler 1995, 165 f.): Neben stimmten Merkmalen an andere Segmente im Äu-
der Aussprache als uvularer Vibrant [‫ ]ݒ‬bzw. Fri- ßerungskontext. Dabei unterscheidet man nach
kativ [‫]ݓ‬, wird der r-Laut in regionalen Varianten der Richtung der Angleichung (Assimilationsrich-
des Deutschen wie dem Österreichisch-Bairischen tung) zwei Unterarten:
oder Alemannischen auch als gerolltes Zungen- N Progressive Assimilation liegt vor, wenn ein Phonologische
spitzen-r, also als alveolarer Vibrant [r] gespro- vorangehendes Segment die Angleichung eines Prozesse
chen. Dabei führt die Aussprache des r-Lautes als folgenden Segments bewirkt. Dies ist im Deut-
[‫]ݓ‬, [‫ ]ݒ‬oder [r] wiederum nie zu einem Bedeu- schen z. B. bei der erwähnten Angleichung ei-
tungsunterschied zwischen zwei Wörtern. Es lie- nes Nasals an einen vorausgehenden Plosiv
gen also ebenfalls Allophone eines einzigen Pho- bezüglich des Artikulationsortes bei schnellem
nems vor. (Insofern die verschiedenen r-Varianten Sprechtempo der Fall (Leben [le:bn]/[le:bnࡦ ] >
jedoch dialektal bedingt sind, ist die Varianz nicht [le:bm], legen [le:gn]/[le:gnࡦ ] > [le:gƾ]).
in einem strengen Sinn ›frei‹.) N Um regressive Assimilation handelt es sich da-
gegen, wenn ein nachfolgendes Element die
Angleichung eines vorausgehenden Elements
2.1.3.2 | Phonologische Prozesse und Regeln
bewirkt. Im Deutschen ist beispielsweise bei
Zwischen Minimalpaaren wie Bogen – Wogen ei- schnellem Sprechtempo auch die Angleichung
nerseits und Bogen – Bögen andererseits besteht eines Nasals bezüglich des Artikulationsortes
ein wichtiger Unterschied, insofern Bogen und an einen folgenden (velaren) Plosiv zu beob-
Bögen in einem engeren Zusammenhang stehen: achten (unklar [… nk …] > [… ƾk …]).
Beides sind Formen eines Lexems. Sie unterschei- Außerdem kann man Fälle von Assimilation nach
den sich lautlich nicht in beliebiger, sondern in der Nähe der beteiligten Segmente klassifizieren:
systematischer Weise. Der Zusammenhang ver- N In den eben angeführten Beispielen handelt es
schiedener Lautformen verwandter Wörter (etwa sich jeweils um Kontaktassimilation, d. h. eine
der Formen eines Lexems oder verschiedener ver- Angleichung unmittelbar benachbarter (adja-
wandter Lexeme wie z. B. Lob – löblich) kann zenter) Segmente.
durch Ableitung (Derivation) einer lautlichen N Von Fernassimilation spricht man dagegen bei
Form aus der anderen mithilfe phonologischer der Angleichung nicht-adjazenter Segmente,
Prozesse und Regeln dargestellt werden. also einer Assimilation über andere Segmente
Hierbei gibt es einerseits Prozesse, die durch hinweg. So ist der Umlaut im Althochdeutschen
das Sprachsystem bedingt sind. So ist beispiels- als die Angleichung eines Vokals an das Merk-
weise der Umlaut, der bei Bogen – Bögen zu beob- mal [+ vorn] eines /i/ oder /j/ in der Folgesilbe
achten ist, im heutigen Deutschen morphologisch zu beschreiben (s. Kap. II.4.5.1.1). Diese Vo-
bedingt: Er tritt vor bestimmten Pluralaffixen kalangleichung bezüglich der Zungenlage er-
(Tuch – Tüch-er, Bach – Bäch-e), vor dem Kompa- folgte auch über Konsonanten hinweg, z. B. in
rativaffix (alt – älter), im Konjunktiv II bestimmter gast ›Gast‹ – gesti ›Gäste‹.
Verben (hob – höbe) und vor Derivationssuffixen Dissimilation bezeichnet das Gegenstück zur Assi-
auf (Kalb – Kälb-chen). Auch im Althochdeutschen milation, also einen phonologischen Prozess, bei
war der Umlaut sprachintern bedingt, hier jedoch dem zwei Segmente einander in bestimmten Merk-
durch den Lautkontext (s. Kap. II.4.5.1.1). malen unähnlicher werden. Ein Beispiel hiefür ist
Zum anderen können phonologische Prozesse die sprachhistorische Entwicklung von wortfina-
durch Sprechtempo, Stilebene und Kommunika- len Konsonanten-Kombinationen aus zwei Frikati-
tionssituation bedingt sein. Bei höherem ven zu Plosiv und Frikativ, z. B. Mhd. wahs [vaȤs]
Sprechtempo ist im Deutschen etwa Schwa-Til- > Nhd. Wachs [vaks].

43
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Elision ist ein phonologischer Prozess, bei dem 2.1.3.3 Die Silbe
Segmente getilgt werden. Oben wurde bereits die
Schwa-Tilgung vor Nasal im Wortauslaut erwähnt Nachdem wir uns mit einzelnen Lauten und deren
(z. B. Leben [le:bn] > [le:bnࡦ ]). Weitere Beispiele Merkmalen beschäftigt haben, betrachten wir im
wären die Tilgung stimmhafter Plosive vor silbi- Folgenden größere lautliche Einheiten näher, die
schen Nasalen (z. B. reden [‫ݒ‬e:dnࡦ ] > [‫ݒ‬e:nࡦ ]) oder aus Einzellauten zusammengesetzt sind: die Sil-
die Tilgung des wortfinalen Plosivs (z. B. in nicht ben. (Die Beschäftigung mit phonologischen
[nܼçt] > [nܼç]). Strukturen oberhalb des einzelnen Segments wird
Epenthese ist wiederum das Gegenstück zur auch als suprasegmentale Phonologie bezeichnet.)
Elision, bezeichnet also einen phonologischen
Prozess, bei dem Segmente hinzugefügt werden. Definition
So ist im Deutschen beispielsweise das Einfügen
eines am gleichen Artikulationsort gebildeten Plo- Eine   Silbe ist eine aus einem oder mehre-
sivs zwischen einem Nasal und einem alveolaren, ren Phonemen bestehende lautliche Einheit.
stimmlosen Obstruenten (/t/ oder /s/) zu beob- Sie enthält mindestens einen Kern oder
achten (z. B. kommt [… mt] > [… mpt]). Ein wei- Nukleus. Davor kann sie einen Ansatz oder
teres Beispiel ist die Insertion des Glottisver- Onset aufweisen. Nach dem Nukleus kann
schlusslautes vor Vokal im Deutschen, wie etwa in ein Auslaut, die Koda, folgen. Nukleus und
[‫ݦ‬alt] oder [te:‫ݦ‬:t‫]ܣ‬. Diese erfolgt jedoch nicht Koda bilden zusammen den Reim.
generell, sondern nur fußinitial (s. u.).
Neutralisierung nennt man einen phonologi-
schen Prozess, bei dem der Merkmalskontrast zwi- In der Phonologie spielen Silben eine große Rolle,
schen zwei Phonemen in einem bestimmten Kon- da sich beispielsweise eine Reihe phonologischer
text aufgehoben wird. Beispiel hierfür ist der für Prozesse auf Silben beziehen. Dies gilt etwa für die
das Deutsche typische Prozess der Auslautverhär- oben erwähnte Auslautverhärtung im Deutschen,
tung: Im Silbenauslaut (Koda, s. u.) wird der an- die nicht bloß am Wortende, sondern generell am
sonsten bedeutungsdifferenzierende Kontrast zwi- Ende von Silben, genauer in der Koda, erfolgt.
schen stimmhaften und stimmlosen Obstruenten Die Struktur einer Silbe (Symbol: ı) verdeut-
zugunsten der stimmlosen aufgegeben (z. B. bun- licht die Darstellung des monosyllabischen, d. h.
tes [… t …] – Bundes [… d …] aber bunt [… t] – einsilbigen Wortes Qualm in (1). Zwischen der
Bund [… t]). Schicht der Silbenkonstituenten (Onset, Nukleus
und Koda) und der Schicht der einzelnen Segmen-
Zur Vertiefung te ist die sog. Skelettschicht eingetragen, die u. a.
die Länge der Segmente abbildet. (Die Skelett-
Phonologische Regeln schicht wird in anderen Darstellungen statt mit X-
Phonologische Prozesse lassen sich in Form phonologischer Regeln beschreiben Postionen auch mit C-V-Positionen wiedergege-
(vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011). Die allgemeine Form phonologi- ben. Daneben werden in der Phonologie auch
scher Regeln lautet: Silbenstrukturdarstellungen mit weiteren kleine-
A o B/X_Y ren Untereinheiten der Silbe, den sog. Moren, ver-
Das bedeutet: Merkmal(e) A (Input) wird/werden zu Merkmal(en) B (Output), wendet; weiterführend zu Silbenstrukturen vgl.
wenn A zwischen X und Y steht (Kontext), wobei X und Y wiederum phonologi- Ewen/van der Hulst 2001; Hall 2011; Ramers 1998;
sche Merkmale oder auch phonologische oder morphologische Grenzen sein Wiese 2000, 2010).
können (z. B. Wortgrenze, Morphemgrenze, Silbengrenze). Der waagerechte
Strich unten bezeichnet die Position des Inputs im Lautkontext. Der eben ange- (1) 
führte Prozess der Auslautverhärtung kann beispielsweise folgendermaßen als
phonologische Regel formalisiert werden: Onset Reim
[– sonorant, + konsonantisch, + stimmhaft] o [– stimmhaft]/_$
Die Merkmalskombination [– sonorant] (›nicht spontan stimmhaft‹), [+ konso-
Nukleus Koda
nantisch] (›mit Behinderung des Luftstroms oberhalb der Glottis‹) und [+
stimmhaft] kennzeichnet die stimmhaften Obstruenten. Diese werden [– stimm-
haft] vor einer Silbengrenze (Symbol: $). X X X X X

k v a l m

44
2.1
Grammatik
Phonologie

Das erste Element des Nukleus (im obigen Beispiel Bei der Analyse von Silbenstrukturen sind ein
besteht der Nukleus überhaupt nur aus einem Ele- paar Besonderheiten zu beachten:
ment, aber s. u.) bildet den Silbengipfel. Dies ist Diphthonge werden auf der Skelettschicht zwei
das Segment mit der höchsten Sonorität innerhalb X-Positionen zugeordnet, wie die Silbenstruktur
der Silbe, das heißt mit der höchsten Schallintensi- von weiß in (2) illustriert:
tät, der größten Lautstärke und dem größten Öff-
nungsgrad des Ansatzrohrs. Der Silbengipfel ist (2) 
meistens ein Vokal, seltener ein silbischer Konso-
nant (in IPA gekennzeichnet mit einem kleinen Onset Reim
Strich unter dem Lautsymbol, wie z. B. beim letz-
ten Konsonant in dem oben angeführten, zweisil-
bigen Wort [le:bnࡦ ]). Nukleus Koda
Innerhalb einer Silbe können Phoneme nicht
beliebig kombiniert werden. Es gibt hierbei viel-
X X X X
mehr eine Reihe von Beschränkungen. Die Kombi-
nationsmöglichkeiten, Tendenzen und Implikatio-
nen in Silbenstrukturen aufzudecken und zu v a  s
erklären, indem man sie etwa auf möglichst uni-
verselle Prinzipien zurückführt, ist ein weiteres Langvokale werden ebenfalls mit verzweigendem Silbenstruktur
Ziel der Phonologie. Die Lehre von den Regularitä- Nukleus dargestellt. Die Länge des Segments wird
ten einer bestimmten Sprache bezüglich dieser also durch die Zuordnung zu den X-Positionen der
Kombinatorik und Beschränkungen nennt sich Skelettschicht erfasst.
Phonotaktik. Eine phonotaktische Beschränkung Als Beispiel die Analyse des Einsilblers Lob in (3):
besteht beispielsweise darin, dass innerhalb der
Silbe die Sonorität zum Silbengipfel hin ansteigen (3) 
und danach abfallen muss. Diese Beschränkung
erklärt die Ungrammatikalität (gekennzeichnet Onset Reim
durch den hochgestellten Stern) einer Silbe wie
*[vkaml] (im Gegensatz etwa zu der Silbe
[kvalm]): Die Sonorität würde innerhalb der Silbe Nukleus Koda
zunächst abfallen, dann ansteigen, wieder fallen
und schließlich wieder ansteigen. Die unterschied-
X X X X
lich hohe Sonorität der verschiedenen Lautklas-
sen gibt die sog. Sonoritätshierarchie wieder
(s. Abb. 4). 1 o: p
Hieraus erklärt sich auch die spiegelbildliche
Anordnung von Plosiven und Nasalen/Liquiden Affrikaten stellen zwar akustisch eine Kombinati-
im Onset und in der Koda beispielsweise bei Klang on aus zwei Konsonanten, nämlich einem Plosiv
versus Kalk. Die Plosive als Laute mit der gerings- und einem Frikativ dar, verhalten sich aber wie ein
ten Sonorität stehen jeweils am äußeren Rand der einziges Segment und werden daher nur einer X-
Silbe. Nasale bzw. Liquide, die eine höhere Sono- Position auf der Skelettschicht zugeordnet. Dies
rität besitzen, stehen näher zum Silbengipfel hin. illustriert die Silbenstruktur von zum in (4)
(Mithilfe der Sonoritätshierarchie kann man auch (s. S. 46).
andere lautliche Gegebenheiten erklären, etwa die Untersucht man die verschiedenen Strukturen
verschiedenen Lautprodukte der zweiten Lautver- einer großen Zahl von Silben, erkennt man, dass es
schiebung, s. Kap. II.4.5.3.1). neben der oben erwähnten Beschränkung zum So-
noritätsverlauf innerhalb der Silbe auch Beschrän-

geringste Sonorität höchste Sonorität

Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide hohe Vokale sonstige Vokale Abbildung 4:
Sonoritätshierarchie

45
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

(4)  2.1.3.4 | Akzent und Intonation

Onset Reim So wie ein oder mehrere Phoneme zusammen eine


Silbe (ı) bilden können, bilden auch Silben zu-
sammen wiederum Obereinheiten, die sog. Füße
Nukleus Koda (Ȉ). Ein Fuß enthält eine akzentuierte oder betonte
Silbe ıs (s für »strong«) und beliebig viele unbe-
tonte Silben ıw (w für »weak«). Man unterscheidet
X X X
kopfinitiale Füße, die mit der betonten Silbe be-
ginnen (ıs …), von kopffinalen Füßen, bei denen
t s m die betonte Silbe die letzte Silbe ist (… ıs). Füße
können in Form metrischer Bäume dargestellt wer-
kungen gibt, wieviele Segmente beispielsweise im den (vgl. Hall 2011). (Daneben gibt es auch die
Onset oder in der Koda vorkommen können. Die Darstellungsform als metrische Gitter, vgl. Hayes
maximale Silbe im Deutschen enthält zwei X-Posi- 1995). Die wichtigsten Fußtypen, die u. a. auch in
tionen im Onset. Eine Silbe wie *[pslaƾ] kann also der Dichtung als Versfuß Verwendung finden, sind
im Deutschen nicht vorkommen, obwohl sie (s. Kap. III.4.3.2.2):
durchaus der Beschränkung bezüglich des Sonori-
tätsverlaufs entspricht. Trochäus: Jambus:
Der Reim darf höchstens drei X-Positionen auf-
weisen. Nach Kurzvokal kann die Koda also maxi-  
mal aus zwei Konsonanten bestehen, nach Lang-
vokal oder Diphthong, die jeweils schon zwei    
X-Positionen auf der Skelettschicht entsprechen,    

dagegen nur aus einem Konsonanten. Diese Tatsa-


che motiviert auch die entsprechende silbenstruk- Daktylus: Anapäst:
Füße turelle Analyse mit verzweigendem Nukleus. So ist
etwa die komplexe Koda nach Kurzvokal in [∫İlm]  
möglich. Nach Langvokal kann dagegen wie etwa
in [∫e:l] nur ein Konsonant die Koda bilden. Eine      
Silbe *[∫e:lm] kann also im Deutschen nicht vor-    

kommen. Ebenso ist nach Diphthong eine Koda
aus einem Segment möglich, etwa in [za'l]. Eine Im Deutschen findet man im Bereich des Kern-
zweigliedrige Koda *[za'lm] o. ä. kommt dagegen wortschatzes vor allem den Trochäus als Fußtyp.
nicht vor. Diese Präferenz für Trochäen zeigt sich auch in der
Affrikaten verhalten sich dagegen wie ein einzi- Flexion (s. Kap. II.2.2.3): Flektierbare Einsilbler
ges konsonantisches Segment und entsprechen weisen in ihrem Flexionsparadigma auch zweisil-
daher auf der Skelettschicht bloß einer X-Position. bige, trochäische Formen auf (z. B. Baum – Bäu-
Dies illustrieren Fälle wie die erste Silbe im Wort me), Zweisilbler bleiben dagegen auch flektiert
Pflaume, die, da sie ja tatsächlich im Deutschen zweisilbig (z. B. Kanne – Kannen) (vgl. Eisenberg
vorkommt, offensichtlich nicht gegen die Be- u. a. 1992).
schränkung der maximalen Silbe verstößt, d. h. Füße sind wie Silben phonologische Domänen,
[pf] und [l] müssen jeweils in der Silbenstruktur auf die sich phonologische Prozesse beziehen kön-
einer Position X zugeordnet werden. Eine Ausnah- nen. Im Deutschen gilt dies beispielsweise für die
me bezüglich der Beschränkung zur maximalen oben erwähnte Epenthese des Glottisverschluss-
Silbe bilden allerdings die Obstruenten [t], [d], [s] lautes vor Vokal, die nicht bloß wie bei [‫ݦ‬alt] am
und [∫], die noch vor oder nach der Silbe stehen Wortanfang erfolgt, sondern auch wortintern, aber
können und dann als extrasilbisch bezeichnet auch nicht generell am Anfang einer Silbe, sondern
werden (man spricht auch vom Silbenpräfix bzw. nur am Anfang eines Fußes, daher [te‫ݦ‬:t‫ ]ܣ‬aber
Appendix). So erklärt sich etwa die komplexe *[ko‫ݒ‬e:‫( ]ݦ‬vgl. Hall 1992). Außerdem spielen
Lautfolge [∫t‫ ]ݒ‬in Strumpf. Füße bei der Akzentzuweisung eine zentrale Rolle.
Wortakzent: Füße bilden wiederum Oberein-
heiten, die phonologischen oder prosodischen

46
2.1
Grammatik
Phonologie

Wörter (Ȧ). Innerhalb des prosodischen Wortes Satzakzent wird durch Großbuchstaben gekenn- Wortakzent
trägt eine Silbe den Hauptakzent. Man nennt zeichnet. Er kann z. B. aufgrund unterschiedlicher und Satzakzent
dies den Wortakzent. Innerhalb eines Komposi- syntaktischer und informationsstruktureller Gege-
tums, d. h. eines zusammengesetzten Wortes benheiten im Satz variieren. Die Regularitäten für
(s. Kap. II.2.2), ist der entsprechende Fuß damit den Satzakzent zu erfassen und zu erklären ist ein
ebenfalls betont (Ȉs). Eine spannende Fragestel- weiteres Forschungsziel der Phonologie.
lung der Phonologie besteht darin, einen Algorith-
mus für den Wortakzent zu finden, also genau (6) Káthrin will MORgen nach Háuse fáhren.
vorherzusagen, wo der Wortakzent liegen muss. (7) Káthrin will mórgen nach HAUse fáhren.
Im Deutschen liegt der Wortakzent in der Regel
auf dem Wortstamm. Präfixe und Suffixe sind da- Die Intonation, d. h. der Tonhöhenverlauf, spielt
gegen normalerweise unbetont (Ausnahmen bil- ebenfalls auf der Satzebene eine wichtige Rolle.
den hier allerdings Prä- bzw. Suffixe wie ur-, un-, Die Intonation dient u. a. zur Unterscheidung ver-
-ei, -ieren). Innerhalb eines Kompositums liegt der schiedener Satzmodi (s. Kap. II.2.3.4.1):
Wortakzent in der Regel auf dem ersten Bestand- N Typisch für Deklarativsätze ist ein fallender,
teil (es sei denn, der zweite Bestandteil ist selbst sog. terminaler Verlauf, z. B. in Es regnet. \
wiederum ein Kompositum): N Interrogativsätze weisen dagegen einen steigen-
den, sog. interrogativen Verlauf auf, z. B. in Es
  regnet? /
Während der Verlauf der Tonhöhe auf der Satzebe-
  ne bedeutungsunterscheidend ist (der oben ange-
führte Deklarativsatz unterscheidet sich von dem
    Interrogativsatz nur durch den Tonhöhenverlauf),
 
   ist er im Deutschen im Unterschied zu anderen
Sprachen wie dem Chinesischen auf der Wortebe-
Satzakzent: Innerhalb eines ganzen Satzes ist ne in der Regel nicht distinktiv. Das Deutsche ist
wiederum eine Wortakzentsilbe am prominentes- entsprechend eine Intonationssprache und keine
ten, d. h. durch Tonhöhe hervorgehoben. Dieser Tonsprache.

Zitierte und weiterführende Literatur


Bloomfield, Leonard (1933): Language. New York. – (1999): »German«. In: Handbook of the International
Chomsky, Noam/Halle, Mark (1968): Sound Patterns of Phonetic Association. A Guide to the Use of the
English. New York. International Phonetic Alphabet. Cambridge, S. 86–89.
Duden-Aussprachewörterbuch (62005). Mannheim u. a. Pompino-Marschall, Bernd (22003): Einführung in die
Eisenberg, Peter u. a. (Hg.) (1992): Silbenphonologie des Phonetik [1995]. Berlin/New York.
Deutschen. Tübingen. Ramers, Karl Heinz (1998): Einführung in die Phonologie.
Ewen, Colin J./van der Hulst, Harry (2001): The Phonologi- München.
cal Structure of Words. An Introduction. Cambridge. Reetz, Henning (2003): Artikulatorische und akustische
Hall, Tracy Allan (1992): Syllable Structure and Syllable Phonetik. Trier.
Related Processes in German. Tübingen. Spencer, Andrew (1996): Phonology. Oxford.
– (22011): Phonologie. Eine Einführung. Berlin/New York. Trubetzkoy, Nikolaj S. (1939): Grundzüge der Phonologie.
Hayes, Bruce (1995): Metrical Stress Theory. Principles and Göttingen (Nachdr. 1958).
Case Studies. Chicago. Wiese, Richard (2000): The Phonology of German. Oxford.
Kohler, Klaus J. (21995): Einführung in die Phonetik des – (2010): Phonetik und Phonologie. Stuttgart.
Deutschen. Berlin.
Agnes Jäger

47
2.2
Grammatik
Morphologie

2.2 | Morphologie
2.2.1 | Einleitung demonstrieren die expressive Kraft der morpholo-
gischen Komponente unserer Grammatik, die uns
Gegenstand der Morphologie sind die universellen dazu befähigt, eine beliebige Zahl neuer Wörter zu
und sprachspezifischen Regularitäten, die die in- erzeugen und zu verstehen.
nere Struktur und den Aufbau von Wörtern betref- Folgende Typen von Neuschöpfungen unter-
fen. Der Begriff ›Morphologie‹ ist dabei selbst eine scheidet man in der Regel:
Wortschöpfung, die von Goethe gegen Ende des N Neubildungen entstehen (wie im vorliegenden
18. Jh.s geprägt wurde (aus gr. morphé: Form, Ge- Fall) durch die Rekombination von bereits exis-
stalt und -logie: Wissenschaft von, Lehre von) und tierenden Wortbausteinen;
bald in der Biologie als ›Lehre von den organi- N Entlehnungen nennt man Wörter, die aus an-
schen Formen‹ Verwendung fand. Später erfo