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Germanistik

Sprachwissenschaft
Literaturwissenschaft
Schlüsselkompetenzen

Heinz Drügh
Susanne Komfort-Hein
Andreas Kraß
Cécile Meier
Gabriele Rohowski
Robert Seidel
Helmut Weiß
(Hrsg.)
Germanistik
Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen

Herausgegeben von
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier,
Gabriele Rohowski, Robert Seidel und Helmut Weiß

Mit Beiträgen von Hans-Heino Ewers, Eric Fuß, Angela Grimm,


Agnes Jäger, Christian Metz, Petra Schulz, Regina Toepfer und Bernd Zegowitz

Mit 140 Abbildungen

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar


Die Herausgeber/innen
Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein, Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
Robert Seidel und Helmut Weiß lehren am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik
bzw. am Institut für Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main (s. auch S. 493).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-476-02298-1
ISBN 978-3-476-00399-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00399-7
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
Vorwort XI

I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums 1

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder 3


1.1 Lesen 4
1.1.1 Was lesen Studierende? 4
1.1.2 Wissenschaftliche Texte lesen – Texte wissenschaftlich lesen 6
1.1.3 Wie lesen Studierende? 9
1.2 Reden und Präsentieren 11
1.3 Schreiben 13
1.3.1 Kleine Textsorten 14
1.3.2 Literatursuche 16
1.3.3 Die Hausarbeit 19
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen 24

II. Sprachwissenschaft 27

1 Einleitung 29

2 Grammatik 37
2.1 Phonetik und Phonologie 37
2.1.1 Einleitung 37
2.1.2 Phonetik 37
2.1.3 Phonologie 41
2.2 Morphologie 48
2.2.1 Einleitung 48
2.2.2 Grundbegriffe und Teilbereiche 49
2.2.3 Flexion 54
2.2.4 Wortbildung 57
2.3 Syntax 64
2.3.1 Einleitung 64
2.3.2 Satzgliedbau 65
2.3.3 Satzbau 70
2.3.4 Satzarten und komplexe Sätze 76

3 Semantik und Pragmatik 81


3.1 Einleitung 81
3.2 Evidenz für Bedeutungen 81
3.2.1 Paraphrasen 82
3.2.2 Sprecherurteile 83
3.2.3 Funktion von sprachlichen Ausdrücken 83
3.2.4 Was Bedeutungen sind … 84
3.3 Bedeutungsebenen 86
3.3.1 Ausdrucksbedeutung 87
3.3.2 Äußerungsbedeutung 89
3.3.3 Kommunikativer Sinn 94
3.3.4 Expressive und soziale Bedeutung 95

V
Inhaltsverzeichnis

3.3.5 Semantik-Pragmatik-Schnittstelle 96
3.4 Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten 96
3.4.1 Metonymie 97
3.4.2 Metapher 97
3.4.3 Lexikalische Mehrdeutigkeiten 98
3.4.4 Strukturelle Mehrdeutigkeiten 102
3.5 Bedeutungsbeziehungen 104
3.5.1 Bedeutungsbeziehungen zwischen Wörtern 104
3.5.2 Bedeutungsbeziehungen zwischen Sätzen 107
3.5.3 Kollokationen 108
3.6 Regeln der Sprachverwendung 108
3.6.1 Implikaturen 109
3.6.2 Sprechakte 113

4 Sprachgeschichte 121
4.1 Einleitung 121
4.2 Sprachwandel und seine Ursachen 122
4.2.1 Wer ändert Sprachen: Erwachsene, Jugendliche, Kinder? 122
4.2.2 Interne Ursachen 123
4.2.3 Externe Ursachen 123
4.3 Herkunft und Periodisierung des Deutschen 124
4.3.1 Herkunft und Verwandtschaft 124
4.3.2 Periodisierung und Binnengliederung 127
4.4 Phonologischer Wandel 129
4.4.1 Arten von Lautwandel 129
4.4.2 Überblick: Lautentwicklungen zum und im Deutschen 132
4.4.3 Ausgewählte Lautwandelphänomene 133
4.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel 135
4.5.1 Phonologisch bedingter morphologischer Wandel 135
4.5.2 Syntaktisch bedingter morphologischer Wandel 136
4.5.3 Morphologie-intern bedingter morphologischer Wandel 138
4.5.4 Lexikalischer Wandel 141
4.6 Syntaktischer Wandel 143
4.6.1 Wortstellungswandel 143
4.6.2 Verlauf und Ursachen syntaktischen Wandels 146
4.7 Semantischer Wandel 149
4.7.1 Quantitativer semantischer Wandel 149
4.7.2 Qualitativer semantischer Wandel 150
4.7.3 Ursachen semantischen Wandels 151

5 Spracherwerb 155
5.1 Einleitung 155
5.1.1 Einfluss von Anlage und Umwelt 155
5.1.2 Spracherwerbsforschung und Linguistik 157
5.2 Erstspracherwerb 157
5.2.1 Phonologieerwerb 159
5.2.2 Wortschatzerwerb 160
5.2.3 Erwerb der Syntax und Morphologie 161
5.2.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 162
5.3 Früher Zweitspracherwerb 164
5.3.1 Phonologieerwerb 164
5.3.2 Wortschatzerwerb 165
5.3.3 Erwerb der Morphologie und Syntax 166

VI
Inhaltsverzeichnis

5.3.4 Erwerb der Semantik und Pragmatik 166


5.4 Sprachentwicklungsstörungen 167
5.4.1 Phonologische Störungen 167
5.4.2 Lexikalische Störungen 168
5.4.3 Syntaktische und morphologische Störungen 168
5.4.4 Semantische und pragmatische Störungen 169
5.4.5 Mögliche Ursachen von SSES 169
5.4.6 Spezifische Sprachentwicklungsstörung im frühen Zweitspracherwerb 170

III. Literaturwissenschaft 173

1 Literaturtheoretische Grundbegriffe 175


1.1 Text und Textverstehen 175
1.1.1 Text 175
1.1.2 Textverstehen 176
1.2 Literatur/Literarizität und Fiktionalität 180
1.2.1 Was ist Literatur? 180
1.2.2 Fiktionalität 182
1.2.3 Literarizität 183
1.3 Intertextualität 186
1.3.1 Texttheoretischer Ansatz 187
1.3.2 Textdeskriptive Ansätze 188
1.4 Rhetorik und Poetik 190
1.4.1 Rhetorik 191
1.4.2 Poetik 193
1.4.3 Literarische Stilistik 194

2 Medientheoretische Grundbegriffe 197


2.1 Literatur und auditive Medien 197
2.1.1 Stimme und Schrift 197
2.1.2 Akustische Aspekte der Literatur 199
2.1.3 Literarästhetik und Musik 201
2.2 Literatur und Schriftmedien 203
2.2.1 Vom Papyrus zum Papier 203
2.2.2 Von der Handschrift zum Buchdruck 204
2.2.3 Die Entwicklung des Buchmarkts 205
2.2.4 Das Zeitungswesen 207
2.3 Literatur und Bildmedien 209
2.3.1 Text-Bild-Beziehungen 210
2.3.2 Literatur und Bildende Kunst 212
2.3.3 Literatur und Fotografie, Film und Fernsehen 213

3 Kleine Literaturgeschichte 217


3.1 Einleitung 217
3.1.1 Literaturgeschichtsschreibung 217
3.1.2 Zur Problematik literarhistorischer Periodisierung (Epochen) 219
3.2 Mittelalter 223
3.2.1 Althochdeutsche Literatur (770–900) 223
3.2.2 Frühmittelhochdeutsche Literatur (1050–1170) 229
3.2.3 Mittelhochdeutsche Literatur (1170–1220) 234
3.2.4 Spätmittelhochdeutsche Literatur (1220–1450) 245

VII
Inhaltsverzeichnis

3.3 Frühe Neuzeit 254


3.3.1 Humanismus 254
3.3.2 Barock 265
3.3.3 Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang 276
3.4 Klassik und Romantik 288
3.4.1 Die Begriffe ›Klassik‹ und ›Romantik‹ 288
3.4.2 Ereignis- und Sozialgeschichte 291
3.4.3 Poetologie und Ästhetik 293
3.4.4 Gattungen 298
3.5 Das 19. Jahrhundert 311
3.5.1 Vormärz 311
3.5.2 Realismus 319
3.5.3 Naturalismus und Jahrhundertwende 327
3.6 Das 20. Jahrhundert 339
3.6.1 Avantgarde und Moderne (1910–1945) 339
3.6.2 Nachkriegsliteratur/Literatur nach 1968 359
3.6.3 Literatur nach 1989/Pop-Literatur 368
3.7 Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur 372
3.7.1 Aufbruch im 18. Jahrhundert 372
3.7.2 Märchenzauber und Moderne 373
3.7.3 Das Kinderbuch im Biedermeier 375
3.7.4 Jahrhundertwende und Weimarer Republik 376
3.7.5 Nachkriegszeit in Westdeutschland und Österreich 377
3.7.6 Die neue Kinder- und Jugendliteratur ab den 1970er Jahren 379
3.7.7 Jüngste Entwicklungstendenzen 380
3.7.8 Plurimedialität und Medienverbund 381

4 Gattungen und Verfahren zu ihrer Analyse 383


4.1 Einleitung 383
4.1.1 Gattung als Ordnungs- und Klassifikationsbegriff 383
4.1.2 Gattungen und (Literatur-)Geschichte 385
4.1.3 Gattungstheorie und (Literatur-)Geschichte: Vor und jenseits der Gattungstrias 386
4.2 Erzählende Literatur 388
4.2.1 Der Akt des Erzählens 388
4.2.2 Gattungen 391
4.2.3 Die Analyse erzählender Texte 394
4.2.4 Discours 394
4.2.5 Histoire 407
4.3 Lyrik 413
4.3.1 Grundlagen: Poetische Sprache 413
4.3.2 Grundbegriffe der Gedichtanalyse 415
4.3.3 Lyrische Einzelgattungen 429
4.4 Drama 433
4.4.1 Das aristotelische Dramenmodell und seine Strukturelemente 433
4.4.2 Modifikationen des aristotelischen Dramenmodells 441
4.4.3 Dramatische Einzelgattungen 450

5 Literatur- und kulturtheoretische Zugänge 453


5.1 Einleitung 453
5.2 Zeichen: Semiologische Zugänge 454
5.2.1 Das Fiktive und das Imaginäre 454
5.2.2 Kultursemiotische Perspektiven 455
5.2.3 Strukturalismus und Dekonstruktion 458

VIII
Inhaltsverzeichnis

5.3 Geschichte: Historiographische Zugänge 463


5.3.1 Kulturelle Erinnerung 463
5.3.2 Diskursgeschichte 466
5.3.3 Literatur und Historiographie 468
5.4 Kultur: Ethnologische Zugänge 471
5.4.1 Literaturwissenschaft und Ethnographie 471
5.4.2 Übergangsriten und Liminalität 473
5.4.3 Fremdheit und Inter-/Transkulturalität 474
5.5 Geschlecht: Gendertheoretische Zugänge 478
5.5.1 Psychoanalytische Grundlagen 478
5.5.2 Geschlechterforschung (Gender Studies) 479
5.5.3 Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) 481

IV. Anhang 483

1 Literaturverzeichnis 485
1.1 Sprachwissenschaft 485
1.2 Literaturwissenschaft 487
1.3 Schlüsselkompetenzen und Praxis 491

2 Abkürzungen 492

3 Die Autorinnen und Autoren 493

4 Abbildungsnachweis 494

5 Personenregister 495

6 Sachregister 501

IX
Vorwort

Vorwort
Diese Einführung in die Germanistik wurde von Zum anderen liegt ein Spezifikum des Bandes
Lehrenden der Johann Wolfgang Goethe-Universi- in der Verknüpfung von relativer systematischer
tät in Frankfurt am Main konzipiert und verfasst. Einheitlichkeit in der Materialdarbietung und er-
Sie richtet sich zunächst an Studierende der B. A.- kennbaren Divergenzen der von den verschiedenen
Studiengänge sowie der Lehramtsstudiengänge Autor/innen verfolgten methodischen und theore-
und ist ausdrücklich nicht nur für den Einstieg in tischen Ansätze. Während die Vergleichbarkeit des
das germanistische Fachstudium gedacht, sondern Aufbaus vor allem innerhalb der epochen- und
soll zur Orientierung, zum Lernen und zum Nach- gattungsgeschichtlichen Kapitel die Orientierung
schlagen idealerweise das ganze Studium beglei- gerade für Studienanfänger/innen erleichtern soll,
ten. Auch M. A.-Studierende und Praktiker wie erfordern die unterschiedlichen methodischen Zu-
Lehrer, Journalisten oder Verlagslektoren dürften gänge und theoretischen Konzepte eine gewisse
den Band mit Gewinn konsultieren, der histori- Flexibilität der Leser/innen. Es hätte jedoch auch
sche und systematische Aspekte der Literatur- und wenig Sinn, hinter diesem Anspruch zurückzu-
Sprachwissenschaft erörtert, Fachbegriffe kontext- bleiben, werden die Studierenden in der akademi-
bezogen erläutert, aktuelle wissenschaftliche Theo- schen Praxis doch ebenfalls vom ersten Semester
rien vorstellt und in die Praxis der akademischen an mit einer erheblichen Vielfalt von Forschungs-
Disziplin ›Germanistik‹ einführt. Gegenüber ande- und Erklärungsansätzen konfrontiert. Anstatt zu
ren neueren Einführungen und Studienbüchern behaupten, dass es einen Königsweg zur letztgül-
zeichnet sich das Buch vor allem durch zwei Be- tigen Erfassung sprach- und literaturwissenschaft-
sonderheiten aus. licher Phänomene gebe, hat das Frankfurter Team
Sprache und Literatur: Zum einen sind die bei- daher einen Mittelweg zwischen der schulmäßi-
den großen Teildisziplinen der Germanistik, näm- gen Normativität üblicher Lehrbücher und einer
lich Linguistik (Sprachwissenschaft) und Litera- die Fachdiskussion bereichernden Diversität der
turwissenschaft, in einem Band vereint. Obwohl tatsächlich vorzufindenden Lehrkonzepte einge-
die beiden Bereiche sich seit den Anfängen der schlagen. Anders formuliert: Die Autor/innen der
disziplinären Institutionalisierung des Faches zu einzelnen Kapitel beanspruchen für ihre Darlegun-
Beginn des 19. Jahrhunderts stark auseinander gen selbstverständlich eine Verbindlichkeit, deren
entwickelt haben und sich in der heutigen Univer- Maßstab nicht persönliche Vorlieben und kurzle-
sitätslandschaft vielfach sogar an verschiedenen bige Trends sind, und sie belegen diesen Anspruch,
Instituten wiederfinden, gehen die Autorinnen indem sie sich auf kanonisches Textmaterial und
und Autoren von einer grundsätzlichen Einheit wissenschaftliche Standardwerke stützen. Sie neh-
der Germanistik aus. Die beiden Fachteile werden men sich jedoch zugleich die Freiheit, in Auswahl
zwar in dem Band getrennt behandelt, doch wird und Darbietung ihrer Gegenstände und im Rück-
auf Berührungen oder divergierende Zugangswei- griff auf neuere Wissenschaftsparadigmen deutli-
sen – etwa im Fall des Metaphernbegriffs oder des che individuelle Akzente zu setzen, die von den
strukturalistischen Paradigmas – ausdrücklich hin- kritischen Studierenden eben nicht, wie es ein Un-
gewiesen. In Fällen, wo traditionell eine Vermi- wort unserer Tage suggeriert, als ›alternativlos‹ auf-
schung von literatur- und sprachwissenschaftlichen genommen werden sollen.
Aspekten beobachtet wird und unterrichtsprak- Die Gliederung des Bandes bedarf keiner aus-
tisch auch gerechtfertigt erscheint, wird hingegen führlichen Erläuterung. In den Einführungsteil
die systematische Trennung hervorgehoben; so ist »Zur Praxis des Germanistik-Studiums« sind auch
in den literarhistorischen Kapiteln zu Mittelalter Lehrerfahrungen eingegangen, die an dem sehr er-
und Früher Neuzeit der sprachliche Aspekt ledig- folgreich arbeitenden disziplinenübergreifenden
lich als medien- und kommunikationsspezifisches »Schreibzentrum« der Frankfurter Goethe-Univer-
Faktum berücksichtigt, während die im engeren sität gewonnen wurden. Überdies reflektieren die-
Sinne sprachhistorischen Befunde im linguisti- se einleitenden Passagen das Selbstverständnis des
schen Teil behandelt werden. Der Einführungsteil Faches sowie dessen Position im gesellschaftlichen
»Zur Praxis des Germanistik-Studiums« stellt wiede- Diskurs und – in Konsequenz daraus – die sich für
rum den disziplinären Zusammenhang des Faches Germanist/innen bietenden beruflichen Optionen.
Germanistik heraus. Die beiden Teile zur Sprach- und zur Literaturwis-

XI
Vorwort

senschaft berücksichtigen die im akademischen ßerlichen Grund der Umfangsbeschränkung auch


Unterricht eingeführten Stoffgebiete in übersicht- eine leicht provokative Note: Die Frage (frei nach
licher und nachvollziehbarer Gliederung. Im litera- Schiller) »Was heißt und zu welchem Ende stu-
turwissenschaftlichen Teil werden die epochen- diert man Germanistik?« wird in unserem Band
und gattungsgeschichtlichen Kapitel von drei nicht umständlich erörtert, sondern mit den ersten
Theorieblöcken eingerahmt. Der Grund hierfür liegt drei Worten des Einleitungskapitels sogleich be-
darin, dass bei einer – denkbaren – sukzessiven Lek- antwortet: »Lesen, reden, schreiben«. Mit diesem
türe des gesamten Bandes die vorgeschalteten text- Rekurs auf die sogenannten ›Schlüsselkompeten-
und medientheoretischen Passagen mit einem in der zen‹ soll nun beileibe nicht einer geistfeindlichen
Schule gewonnenen Alltagswissen über Literatur zu Pragmatisierung des Germanistikstudiums gehul-
bewältigen sind, während das Verständnis der ab- digt werden, aber es gilt doch festzuhalten: Nur
schließenden kulturwissenschaftlichen Teilkapitel wer analytisch zu lesen versteht, wird Literatur als
eine gewisse Kenntnis literarhistorischer Zusam- spezifische Realisationsform des kulturellen Ge-
menhänge erfordert oder durch sie doch maßgeb- dächtnisses begreifen oder (mit Goethe) die litera-
lich erleichtert wird. Im Anhang des Bandes finden rischen Werke »urteilend genießen«; nur wer Texte
sich ausführliche bibliographische Angaben zu grammatisch und rhetorisch zuverlässig beschrei-
Standardwerken des Faches; allerdings wurde auch ben und eigene Stellungnahmen korrekt und ange-
bei den Literaturnachweisen in den einzelnen Ka- messen formulieren kann, besitzt die Grundlage
piteln streng ausgewählt, speziellere Literatur zu dafür, das Medium ›Sprache‹ bis in seine physiolo-
bestimmten Autoren und Werken findet man hier gischen und psychologischen Bedingtheiten hinein
also nicht. verstehen zu lernen.
Das Layout des Buches ist wie in vergleichbaren Ein Wort noch zur generellen Problematik, die
Einführungsbänden des Metzler-Verlags beson- der Übergang vom Deutschunterricht in der Schule
ders leserfreundlich gestaltet. Neben einer farbigen zum akademischen Lehrbetrieb mit sich bringt:
Strukturierung und anderen Hervorhebungsverfah- Angehende Germanist/innen müssen – und hierin
ren dienen vor allem die Kästen mit Definitionen liegt die Eigenverantwortung der Studierenden –
und vertiefenden Informationen dazu, den Lektüre- von Anfang an akzeptieren, dass ihr Fach nicht we-
prozess vorzustrukturieren. Im Einzelnen variieren niger ›wissenschaftlich‹, das heißt durch präzise
die Mittel der Orientierung und Illustration gemäß Fachterminologie, eine breite Basis erforderlicher
den Erfordernissen der jeweiligen Thematik. In den Kenntnisse und ein Arsenal von Theorien bestimmt
literaturwissenschaftlichen Kapiteln bieten sich ist als andere Fächer auch. Germanistik ist nicht
Musterinterpretationen ausgewählter Primärtexte an, ›leicht‹! Wer sich darauf einstellt, dass ein kompe-
die linguistischen Teile arbeiten mit Beispielanaly- tenter Umgang mit deutscher Sprache, Literatur
sen und bedienen sich häufig graphischer Darstel- und Kultur begriffliche Genauigkeit, systemati-
lungstechniken. Bei der Binnengliederung der Kapi- sches und historisches Wissen sowie methodische
tel wird auf Analogie geachtet; so finden sich zu den und theoretische Reflexion verlangt, dem soll mit
einzelnen Epochen der Literaturgeschichte jeweils dieser Einführung in die Germanistik ein zuverläs-
Abschnitte zur Poetik, zur Lyrik, zum Drama und siges, umfassendes und – nicht zuletzt durch die
zur erzählenden Literatur. Zeittafeln und Werklisten ausführlichen Literaturhinweise – weiterführendes
vermitteln einen kompakten Überblick über die je- Arbeitsinstrument zur Verfügung gestellt werden.
weilige Epoche und deren literarische Produktion. Wir danken folgenden Personen, die uns bei
Anders als viele andere Einführungen beginnt der Arbeit an diesem Band geholfen haben: Maria
der vorliegende Band nicht mit einem plakativen Theresa Distler, Lisa Gäbel, Melanie Hobich, Gerrit
Zitat aus den Anfangsjahren der Germanistik, und Kentner, Rosemarie Tracy, Kathrin Würth, Jil Truh-
er enthält auch kein eigenes Kapitel zur Fachge- öl, Ede Zimmermann sowie Nico Dennefleh,
schichte. Dies soll nicht heißen, dass die Verfas- Christiane Dreßler, Katharina Fabel, Frederic Hain,
ser/innen sich nicht der vielfältigen Traditionen, in Ninja Roth, Sandy Scheffler, Andreas Teppe, Su-
denen ihre Disziplin steht, bewusst wären. Auf- sanne Trissler und insbesondere Ute Hechtfischer,
merksame Leser/innen werden an der einen oder die uns als Lektorin sachkundig unterstützte.
anderen Stelle des Buches exemplarische Hinweise
auf Deutungs- und Analyseansätze vergangener Frankfurt am Main, im Februar 2012
Epochen finden. Der Verzicht auf eine dezidierte Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein,
Herleitung des disziplinären Selbstverständnisses Andreas Kraß, Cécile Meier, Gabriele Rohowski,
aus der Geschichte des Faches hat neben dem äu- Robert Seidel und Helmut Weiß

XII
I. Zur Praxis des Germanistik-Studiums
1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder

1 Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder


1.1 Lesen
1.2 Reden und Präsentieren
1.3 Schreiben
1.4 Berufsfelder für Germanist/innen

Lesen, reden, schreiben  – diese drei Fähigkeiten Schlüsselkompetenzen in den Geisteswissenschaf-


sind es, deren Ausbildung und Verfestigung im ten: Neben der Text- und Analysekompetenz
Zentrum des Germanistik-Studiums stehen. Sie kommt der Darstellungskompetenz eine wichtige
sind zugleich für jedes erfolgreiche Studium un- Rolle zu. Sie wird auch als Schreibkompetenz be-
entbehrlich, gleich welcher Fachrichtung. Denn zeichnet. Im Studium überlagern sich dabei stets
der Umgang mit Wissen – seine Aneignung, Ver- fachliche und allgemeine Kompetenzen; es ist
waltung und Anwendung – besteht nicht im bloß kaum möglich, beide Kompetenzbereiche eindeu-
passiven Erwerb und in der unkritischen Repro- tig voneinander zu trennen. Zumal der Erwerb
duktion rein fachlicher Kenntnisse. Studieren er- fachspezifischer Fähigkeiten auch die Aneignung
fordert die Fähigkeit, Zugänge zu Inhalten er- von Schlüsselkompetenzen befördern kann. So
schließen und anderen zu vermitteln, also das kann sich beispielsweise ›trockenes‹ Theoriewis-
Vermögen zur präzisen, analytischen Lektüre, die sen über Rhetorik positiv auf die Moderationskom-
Befähigung zur exakten, gut verständlichen münd- petenz eines Studierenden auswirken.
lichen Präsentation der zentralen Thesen und Ar- N Text- und Analysekompetenz: Die Studieren-
gumente eines Textes sowie zu deren schriftlicher den entwickeln ein Bewusstsein für die epochen-
Dokumentation. Wofür Germanist/innen Experten und gattungsspezifische Struktur und Thematik
sind – lesen, reden, schreiben –, bildet damit eine von Primärtexten. Fachspezifische Lernstrategien
Trias von Fähigkeiten, die den sogenannten und Arbeitstechniken unterstützen die Fähigkeit,
Schlüsselkompetenzen zuzuordnen ist. wissenschaftliche Beiträge kritisch zu reflektieren
und angemessen zu bewerten; zugleich erwerben
die Studierenden Methoden- und Theoriewissen.
Zum Begriff N Darstellungs- und Schreibkompetenz: Die Stu-
dierenden erproben in der Aneignung verschie-
Als   Schlüsselkompetenzen werden im dener Textsorten (z. B. Thesenpapier, Protokoll,
Unterschied zu den studiengangspezifi- Essay und Hausarbeit) Schreibtechniken, die sie
schen fachlichen Kompetenzen verschie- befähigen, Analysen und Thesen argumentativ
dene allgemeine Fähigkeiten bezeichnet, die nachvollziehbar und ›adressatengerecht‹ vorzu-
im Studium und im Beruf wichtig sind. Zu stellen (vgl. Frank u. a. 2007, S. 116 ff.). Wissen-
ihnen zählen praxisbezogene und soziale, schaftliche Texte zu schreiben, erfordert ein ganzes
(inter-)kulturelle Kompetenzen, aber auch Bündel an Einzelkompetenzen: Planungs-, Formu-
Sprachkompetenzen. Die Schlüsselkompe- lierungs- und Überarbeitungskompetenzen sowie
tenzen können entweder integrativ in den syntaktische, lexikalische und textorientierte Kom-
fachbezogenen Veranstaltungen und/oder petenzen (vgl. u. a. Nünning 2008). Viele Universi-
additiv in Tutorien, Übungen, Workshops, täten bieten inzwischen in fachübergreifenden
Praktika und anderen studienbegleitenden Schreibzentren Übungen an, die den Schreibpro-
Lehrangeboten erworben werden. Anders zess begleiten.
als bei den fachlichen Qualifikationen ist es N Moderations- und Präsentationskompetenz:
nicht üblich, sie im Rahmen eines eigenstän- Die Studierenden lernen, Arbeitsgruppen und Se-
digen, formalisierten Verfahrens zu beurtei- minargespräche zu moderieren (Formulieren offe-
len. Sie wirken sich jedoch unmittelbar auf ner Fragen, Paraphrasieren, Zusammenfassen)
die Prüfungsleistungen aus und beeinflus- und Arbeitsergebnisse plausibel und anschaulich
sen deren Bewertung durch die Prüfer. zu vermitteln. Ob Handout oder Thesenpapier so-
wie mediale Hilfsmittel (u. a. Folien, Beamer,

3
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

Overhead-Projektor) das Referat und die Diskus- teln, Arbeitsergebnisse nachvollziehbar und präzi-
sion begleiten, wird mit der Seminarleitung in der se darzustellen.
Vorbereitungsphase abgestimmt (vgl. Händel u. a. Welche Formen und Strategien dabei von Be-
2007, 129 ff.). deutung sind, soll im folgenden Abschnitt veran-
N Informations- und Medienkompetenz: In Tu- schaulicht werden. Eines sei vorweggeschickt:
torien, Übungen und Seminaren wird die fach- Damit dieses Ziel erreicht werden kann, müssen
und themenorientierte Recherche von Informatio- bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Nicht von
nen (z. B. Datenbanken, Online-Fachportale) ein- ungefähr heißt es in vielen Studienordnungen des
geübt. Technische Medienkompetenz ist eine Bachelor-Studiengangs Germanistik, dass die »Be-
wichtige Voraussetzung für die Nutzung von E- reitschaft zu umfangreicher Lektüre« und die
Learning-Angeboten sowie den professionellen »gute Beherrschung der deutschen Sprache in
Umgang mit Geräten, Präsentationsprogrammen Wort und Schrift« wichtige fachspezifische Vor-
(z. B. PowerPoint) oder anderen Hilfsmitteln. aussetzungen sind. Die Studierenden müssen den
Aus dieser Aufstellung geht hervor, was die Anspruch haben, sich Traditionen, Methoden und
Germanistik mit allen anderen (insbesondere geis- Diskurse der Textauslegung kritisch anzueignen
teswissenschaftlichen) Studiengängen verbindet: (s. Kap. III.5). Der souveräne Umgang mit den Re-
Sie zielt darauf, die Studierenden zu verantwort- geln der Orthographie und der Zeichensetzung
lichem wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten wird von den Lehrenden als selbstverständlich vo-
und ihnen die nötigen Kompetenzen zu vermit- rausgesetzt.

Weiterführende Literatur
Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost:
Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über-
Stuttgart/Weimar 2007. zeugen. Stuttgart/Weimar 2007.
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio-
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008.

1.1 | Lesen
1.1.1 | Was lesen Studierende? klassische Prinzip prodesse et delectare (nützen
und erfreuen), vom römischen Dichter Horaz vor
Welche Texte haben Sie im Deutschunterricht in 2000 Jahren in der Ars poetica formuliert, begleitet
der Oberstufe gelesen? Was lesen Sie in den Se- auch die Leseerfahrungen im Studium. Wahr-
mesterferien? – Diese Fragen verweisen schon auf scheinlich haben Sie deshalb Germanistik als Stu-
den Unterschied zwischen der Pflichtlektüre im dienfach gewählt, weil Sie gerne lesen und schon
Studium und den privaten Leseinteressen. Das früh Bücher gelesen haben, die bis heute in Ihrer

Zur Vertiefung

Leseformen
Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) wird vom breiten Lesepublikum als »Doppelbio-
graphie« der beiden Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß gelesen; Literaturkritiker
loben das Buch als »federleichten philosophischen Roman« (Markus Thiel, Münchner Merkur, 20.9.2005) und
»Alterswerk eines jungen Schriftstellers« (Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau, 28.9.2005) oder kritisieren die
»verkopften Intellektuellen […], diese Pappkameraden« (Tilman Spreckelsen, FAZ, 8.3.2009). Den Übergang zu
literaturwissenschaftlichen Aspekten markiert das Resümee des Literaturwissenschaftlers, Literaturredakteurs
und Journalisten André Hille mit der Gattungszuschreibung ›Abenteuerroman‹: »Ein spannender Abenteuerro-
man für Erwachsene, […] aber beileibe kein genialisches Meisterwerk« (literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember
2005). Die Literaturwissenschaft fragt z. B. nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, untersucht die Dialog-
und Redestrukturen (indirekte Rede!) oder die Funktion der Erzählerkommentare.

4
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Was lesen Studierende?

privaten Bibliothek einen Ehrenplatz haben. Vom 570 Seiten. Lesen heißt nicht nur, die im Text ent-
rein genussvollen, identifikatorischen Lesen ge- haltenen Buchstaben zu entziffern oder zu deco-
langen Sie Schritt für Schritt zum kritisch-reflek- dieren: Im Akt des Lesens generieren Sie Deutun-
tierenden Lesen der literarischen Texte und der gen des Textes.
Fülle an begleitenden Texten, die die literarischen
Texte vorstellen und bewerten (Literaturkritik) so- Zur Vertiefung
wie kategorisieren, analysieren und interpretieren
(Forschungsliteratur). Lebenszeit und Lesezeit
Klassiker: Im Idealfall wird ein Roman, den Sie Der Schriftsteller Arno Schmidt, ein passionierter
im Seminar zu den Klassikern der Aufklärung ken- Leser, der sich wiederholt mit der Frage des litera-
nengelernt haben, zu Ihrem neuen Lieblingsbuch. rischen Kanons und der Anzahl der zu lesenden
Sie werden aber nicht nur aufregende und interes- Bücher auseinandergesetzt hat, bietet viele Ant-
sante Texte lesen: Die Meisterwerke glänzen auch worten. Er warnt: »Es gibt noch weit beunruhigen-
deshalb so intensiv, weil sie von einer Fülle eher dere Betrachtungen hier! Setzen wir, daß man vom
durchschnittlicher Texte umgeben sind. Je weiter 5000. Tage an leidlich mit Verstand zu lesen fähig
Sie im Studium voranschreiten, desto aufmerksa- sei; dann hätte man, bei einem green old age von
mer wird Ihr Blick für die offenen und versteckten 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfü-
Bezüge der Texte zueinander. Was können, was gung. […] Sagen wir, durchschnittlich alle 5 Tage
dürfen Autor/innen mit den Texten anderer Auto- 1 neues Buch – dann ergibt sich der erschreckende
r/innen machen? Oft fragen Studierende: Muss Umstand, daß man im Laufe des Lebens nur 3000
man diese Spuren entdecken, wie kann man sie Bücher zu lesen vermag! Und selbst wenn man nur
entdecken? »Klassiker«, so Moritz Baßler zu »ka- 3 Tage für eines benötigte, wären’s immer erst
nonischen Meistern«, »sind diejenigen Autoren arme 5000. Da sollte es doch wahrlich, bei Erwä-
und Werke, auf die die anderen mehr oder weniger gung der Tatsache, daß es bereits zwischen 10 und
ausdrücklich, mehr oder weniger selbstverständ- 20 Millionen verschiedene Bücher auf unserem
lich verweisen. Klassiker sind diejenigen Werkstü- Erdrund gibt, sorgfältig auswählen heißen. Ich
cke, deren Kenntnis die anderen Künstler bei ihren möchte es noch heilsam=schroffer formulieren:
Hörern, Lesern oder Betrachtern stillschweigend Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch oder auch nur
voraussetzen« (Baßler 2005, S. 12). Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem
Kanon: Mit den Begriffen ›Kanon‹ und ›Klassi- Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochlite-
ker‹ stellt sich zugleich die Frage nach den Kriteri- ratur!« (Julianische Tage, 1961, III/4, S. 91–92)
en und Kategorien, die die Auswahl der Lektüre
bestimmen. Gibt es Texte, die unbedingt auf die
studienbegleitende Leseliste zu setzen sind? Die Verbindung mit anderen Geistes- und Kulturwis-
Leseliste des Literaturwissenschaftlers Wulf Sege- senschaften: In der Germanistik stehen nicht nur
brecht (2000), ein kleines Bändchen von etwa 85 die deutschsprachige Literatur und die deutsche
Seiten, stellt die titelgebende Frage »Was sollen Sprache im Zentrum der wissenschaftlichen Ar-
Germanisten lesen?«. Segebrecht beantwortet sie beit, sondern auch die Überschneidungen mit eu-
im Vorwort kühn mit dem Schlagwort »Alles«, um ropäischen und außereuropäischen Literaturen,
anschließend zugleich auf den empfehlenden Cha- Sprachen und Kulturen von der Antike bis zur
rakter der vorgestellten Texte und Anthologien zu Gegenwart. Wer Germanistik als Fach wählt, liest
verweisen (zur literarischen Kanonbildung vgl. voraussichtlich auch die Odyssee von Homer, die
auch Arnold 2002). Metamorphosen von Ovid, Erzählungen aus Tau-
Wie viele Bücher, wie viele Texte werden Sie sendundeine Nacht, biblische Texte, sprachphi-
voraussichtlich im Durchschnitt im Semester für losophische Abhandlungen von Wilhelm von
die Arbeit in den Seminaren, Übungen und Vorle- Humboldt und kulturgeschichtliche Essays. Eng
sungen lesen? Keiner kann alles lesen, auch nicht verbunden ist die Germanistik auch mit den Fä-
die leidenschaftlichen Leser/innen. Ignorieren Sie chern Geschichts-, Kunst-, Musik- und Religions-
jedoch alle Empfehlungen, in denen der Lektüre- wissenschaften. Wir treffen historische Figuren,
Umfang mit Seitenzahlen quantifiziert wird. Ein zum Beispiel den französischen König Heinrich IV.
fünfzeiliges Gedicht von Paul Celan kann Ihnen in Heinrich Manns Romanzyklus Henri Quatre,
ebenso viel Lesezeit und Interpretationsarbeit ab- berühmte Bilder lernen wir in literarischen Be-
verlangen wie Max Frischs Roman Stiller mit ca. schreibungen neu sehen, wir lesen Opernlibretti

5
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

und hören Arien, in Hermann Hesses Zeitschriftentitel informieren zugleich über das
Roman Siddhartha mit dem Unterti- wissenschaftliche Renommee der Publikationen.
tel »Eine indische Dichtung« begeg- Der Umkehrschluss ist jedoch nicht zulässig: Inno-
nen wir der religiösen Gedankenwelt vative Beiträge junger Wissenschaftler/innen fin-
des Hinduismus und des Buddhis- den Sie oft in Publikationen von Verlagen, die sich
mus. Auch prominenten Vertretern abseits des wissenschaftlichen Mainstreams zu
weiterer Fächer begegnen wir in lite- etablieren versuchen.
rarischen Texten: Mit dem Naturfor- Wenn Sie Ältere deutsche Literatur und ihre
scher Alexander von Humboldt rei- Wissenschaft gewählt haben, lesen Sie mittel-
sen wir in den südamerikanischen hochdeutsche Texte (noch eine Fremdsprache, die
Urwald, und wir begleiten den Ma- es zu lernen gilt), Gedichte von Walther von der
thematiker Carl Friedrich Gauß bei Vogelweide und Oswald von Wolkenstein, das Ni-
seinen Vermessungsarbeiten (Daniel belungenlied und Mären des Strickers. Eine der
Kehlmann: Die Vermessung der Welt, ersten Buchempfehlungen ist ein Klassiker: Mat-
2005). thias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch,
Deutsches Wörterbuch: Sie lernen 3 Bände. Leipzig 1872–1878, ein Nachdruck er-
alte und neue Wörter kennen. Wenn schien in Stuttgart 1992. Übersetzen ist eine der
Sie die Bedeutung eines Wortes nicht wichtigsten Übungen: Sie lernen, dass die Wörter
(mehr) kennen, obwohl es offen- »frouwe« und »wîp« keineswegs bedeutungsgleich
sichtlich zur deutschen Sprache ge- mit den Wörtern »Frau« und »Weib« sind, sondern
hört, schlagen Sie im Deutschen »frouwe« für adlige Frauen und »wîp« allgemein
Jacob und Wilhelm Grimm: Wörterbuch der Brüder Grimm nach. für das weibliche Geschlecht bzw. verheiratete
Deutsches Wörterbuch, 1. Band (1854) Begonnen im Jahr 1854, der letzte Frauen verwendet wurde.
Band erschien erst 1960, stellt es in Wenn Sie Neuere deutsche Literaturwissen-
32 Teilbänden die Entwicklung der deutschen schaft studieren, lesen Sie barocke Sonette, philo-
Sprache seit dem 16. Jh. vor, mit einer imponieren- sophische Texte der Frühaufklärung, Georg Büch-
den Fülle an Belegen auch aus früheren Jahrhun- ners Hessischen Landboten und einen Pop-Roman
derten. Es ist eine Fundgrube, die inzwischen von Thomas Meinecke. Begleitend lesen Sie ausge-
auch im Internet frei zugänglich ist (vgl. http:// wählte Beiträge aus der Forschungsliteratur. Neu-
germazope.uni-trier.de/Projects/DWB). gierig schlagen Sie das erste Buch auf. Viele –
literarische und wissenschaftliche – Texte, die Sie
im Studium lesen, verstehen Sie beim ersten Lesen
nicht. Dies ist eine sich wiederholende Erfahrung,
1.1.2 | Wissenschaftliche Texte lesen – nicht nur im Germanistik-Studium. Ursache ist zu-
Texte wissenschaftlich lesen nächst nicht nur die Fülle an fremden Wörtern,
Fachbegriffen, die es auch in der Germanistik zu
Die fachlichen Schwerpunkte in der Germanistik lernen gilt. Die scheinbar so objektive Fachsprache
stellen jeweils zwei Komponenten vor: Sprache ist zudem in den Geisteswissenschaften alles an-
und Wissenschaft, Literatur und Wissenschaft. dere als einheitlich. Schlägt man zum Beispiel den
Wenn Sie Sprachwissenschaft gewählt haben, Gattungsbegriff ›Novelle‹ in verschiedenen Lexika
lesen Sie wissenschaftliche Beiträge, oft in Eng- oder Handbüchern nach, wird man auf divergie-
lisch verfasst, die zum Beispiel folgendes Thema rende Beschreibungen stoßen. Eine intensive und
vorstellen: Frederick J. Newmeyer: Possible and kritische Beschäftigung mit der jeweiligen Fach-
Probable Languages: A Generative Perspective on sprache und ihren Begriffen ist deshalb studienbe-
Linguistic Typology. Oxford University Press 2005. gleitend zu empfehlen.
Oder ein deutscher Titel: Thomas E. Zimmermann: Artikel der Forschungsliteratur dokumentieren
»Zu Risiken und Nebenwirkungen von Bedeutungs- auch die Wissenschaftsgeschichte der Germanis-
postulaten«. In: Linguistische Berichte 146 (1993), tik, zeigen die Konjunkturen alter und neuer Para-
S. 263–282. Erst mit zunehmender Lektürepraxis digmen. Sie werden Texte wiederholt lesen müs-
und Semesterzahl können Sie am Titel ablesen, ob sen, um Schritt für Schritt vom Wortsinn eines
ein Beitrag eine Fragestellung der generativen Textes zu seinen impliziten, abstrakten Aussagen
Grammatik, der formalen Semantik oder der histo- zu gelangen. Forschungsbeiträge sind darüber hi-
rischen Linguistik aufgreift. Ort und Verlag sowie naus auch geprägt von stilistischen Vorlieben,

6
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wissenschaftliche
Texte lesen

akademischen Ritualen und explizitem Adressa- N Studienbücher stellen in der Regel die Ge-
tenbezug. schichte und Entwicklungsschwerpunkte von Teil-
Typen der wissenschaftlichen Literatur sind z. B.: gebieten vor (zum Beispiel Einführung in die Ro-
N Dissertationen und Habilitationen, die beiden mantik, Einführung in die Morphologie); sie geben
klassischen Qualifikationsschriften für die akade- einen Überblick über zentrale Forschungskonzepte
mische Laufbahn, richten sich nicht an einen stu- und Methoden, stellen wichtige Autor/innen so-
dentischen Leserkreis. Sie wollen Experten mit wie Themenschwerpunkte in Detailanalysen vor.
stringenten Thesen überzeugen und einen innova- N Kompendien (lat. compendium: Abkürzung)
tiven Beitrag zu einem Forschungsgebiet leisten. präsentieren ein Fach oder Teilgebiete eines Faches
Über die zunächst fremde Fachsprache hinaus bie- in konzentrierter Form. Sie können als Lehrbuch
ten solche Bücher auch unterschiedliche methodi- und Nachschlagewerk genutzt werden.
sche Zugänge, die es bei der Lektüre zu entdecken N Handbücher erläutern in alphabetischer oder
gilt. Oft geben schon die Titel und Untertitel Hin- systematischer Reihenfolge die wichtigsten Fach-
weise auf den jeweils gewählten methodischen begriffe, Gegenstände und Themen eines Fachge-
Zugang. bietes. Der Umfang kann je nach Tiefe der Darstel-
N Monographien: Dissertationen und Habilitatio- lung erheblich variieren.
nen sind z. B. Monographien, d. h., ein/e Autor/in N Lexika bieten in alphabetischer Reihenfolge
schreibt eine Abhandlung z. B. über ein spezifi- knappe Beschreibungen zentraler Begriffe, The-
sches Thema und/oder ein Werk. Wesentlich um- men und Werke einer Epoche, einer Gattung oder
fangreicher ist das Angebot der unselbständigen allgemein zu den wichtigsten Begriffen von Litera-
Schriften, z. B. Aufsätze in Zeitschriften, Sammel- tur- und Sprachwissenschaft (z. B. Reallexikon des
bänden oder Lexika. Mittelalters, Kindlers Literatur Lexikon, Grimms
N Zeitschriftenaufsätze recherchiert man über die Wörterbuch). Wie das Lexikon ist auch die alle
Kataloge der Universitätsbibliotheken; viele Bei- Fachgebiete umfassende Enzyklopädie zugleich
träge können inzwischen online gelesen und ausge- Nachschlagewerk und Sachwörterbuch. Die Ency-
druckt werden. In Zeitschriftenaufsätzen wird ein clopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des
Thema konzentriert vorgestellt. Oft verweisen die arts et des métiers von Diderot und d’Alembert
Titel der Zeitschriften auf die thematischen Schwer- (1751–1780, 35 Bände) spiegelt den Anspruch der
punkte und die methodische Ausrichtung der Bei- Herausgeber, im umfassenden Sinn zum Projekt
träge (z. B. Arbitrium – Zeitschrift für Rezensionen Aufklärung beizutragen. Im 21. Jh. lösen zuneh-
zur germanistischen Literaturwissenschaft; Daph- mend kostenpflichtige und frei zugängliche On-
nis – Zeitschrift für Mittlere deutsche Literatur; line-Enzyklopädien die gedruckten Vorgänger ab.
IASL – Internationales Archiv für Sozialgeschichte Die Editionswissenschaft, der Arbeitsbereich Textausgaben
der deutschen Literatur; ZGL – Zeitschrift für Ger- der Philologien, der alte und neuere Texte für die
manistische Linguistik; LiLi – Zeitschrift für Litera- wissenschaftliche Arbeit aufbereitet, unterscheidet
turwissenschaft und Linguistik). zwischen verschiedenen Ausgaben: Leseausgabe,
N In einer Herausgeberschrift, z. B. einem Ta- Studienausgabe und historisch-kritische Ausgabe.
gungsband oder einer Festschrift, werden Beiträge Diese Ausgaben differieren vor allem hinsichtlich
mehrerer Autor/innen zu einem Thema oder ver- der Präzision und Tiefe der zur Verfügung ge-
schiedenen Aspekten eines Themas von einem stellten Materialien und Kommentare. Haben Sie
oder mehreren Herausgeber/n zusammengestellt. schon einmal den Hinweis gelesen: »Ausgabe letz-
N Einführungsbände, oft mit dem Titel ›Grund- ter Hand«? Die letzte von Goethe betreute und
lagen‹ oder ›Basiswissen‹, richten sich an Studie- autorisierte Ausgabe seiner Werke (28 Bände,
rende in der ersten Studienphase und informieren 1827–1830) trägt diesen Zusatz. Die Editionswis-
über Grundlagen eines fachlichen Schwerpunk- senschaftlerin Anne Bohnenkamp-Renken, Mit-
tes. Sie bieten einen Überblick über die zentra- herausgeberin der geplanten digitalisierten Faust-
len Arbeitsfelder und Fachbegriffe der jeweiligen Ausgabe, betont die Bedeutung »theoretischer, ja
Teildisziplinen, sei es die Einführung in die Erzähl- ideologischer Grundannahmen über das Wesen
theorie von Matías Martínez und Michael Scheffel, des literarischen Kunstwerks und seine Beziehun-
die Einführung in die Gedichtanalyse von Dieter gen zu zentralen Größen wie Autor und Leser für
Burdorf oder die Einführung in die germanistische das editorische Verfahren«: »Ob ein Kunstwerk
Linguistik von Jörg Meibauer u. a. (Werk) als perfekte, dauerhafte, vollendete Gestalt
oder aber als Prozess von grundsätzlicher Offen-

7
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

heit aufgefasst wird, ob es als Schöpfung eines enthalten, sollten Sie im Studium nicht verwen-
Künstlers oder als Ergebnis verschiedener sozialer den. Interessant und aufschlussreich kann die Un-
Determinanten angesehen wird, hat Konsequen- tersuchung der Marginalien, Änderungen, Aus-
zen für die Anlage einer Edition« (Bohnenkamp- lassungen und Umstellungen in verschiedenen
Renken 2003). Fassungen oder die Analyse der unterschiedlichen
N Die historisch-kritische Ausgabe, die im Auf- Schreibmaterialien (lose Blätter, Notizblöcke,
trag der Großherzogin Sophie von Sachsen in den Hefte verschiedener Größe) sein, wenn Sie eine
Jahren 1887 bis 1919 in Weimar erschien, umfasst rezeptionsgeschichtliche Themenstellung wählen.
143 Bände und 3 Bände mit Nachträgen. Noch Wie hat sich zum Beispiel die Überlieferung eines
nicht enthalten sind die Gespräche und die nach mittelalterlichen Textes von der Handschrift über
Abschluss der Weimarer Ausgabe gefundenen den Buchdruck bis zum 20. Jh. verändert? Wie
Briefe. Die 40-bändige historisch-kritische Aus- wirkt sich der Wechsel von den großen Quarthef-
gabe im Deutschen Klassiker Verlag (seit 1999) ten zu den kleinen Oktavheften auf den Schreib-
richtet sich explizit an Studierende und Wissen- prozess von Kafka aus?
schaftler/innen. Der Verlagsname signalisiert zu- N Faksimile-Edition: Antworten auf diese Frage
dem eine gut begründete Auswahl der edierten finden Sie in der Faksimile-Edition der Historisch-
Texte – die Zugehörigkeit zum Kanon ist garan- Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften,
tiert. In historisch-kritischen Ausgaben werden Drucke und Typoskripte Kafkas, herausgegeben
Entstehungsstufen, Notizen und Arbeitsmateria- von Roland Reuß und Peter Staengle (1995 ff.). Der
lien, Textfassungen und Varianten, Entstehungs-, Nachlassverwalter Max Brod entsprach nicht dem
Rezeptions- und Forschungsgeschichte detailliert Willen des Autors, nach seinem Tod 1924 alle Ma-
vorgestellt. Nicht nur hilfreich, sondern in vielen nuskripte zu verbrennen. Brod begann bereits ein
Fällen unentbehrlich sind darüber hinaus Stel- Jahr später mit der Edition der überlieferten Frag-
lenkommentare, die zum Beispiel inzwischen mente. Die posthum editierte fragmentarische Er-
ungebräuchliche Wörter und Redewendungen er- zählung Der Jäger Gracchus zeigt in den meisten
läutern, kontroverse Lesarten vorstellen und in- Ausgaben noch heute die Spuren der Eingriffe: Aus
tertextuelle Anspielungen enträtseln (vgl. Sittig fragmentarischen Prosastücken im Oktavheft B
2008, S. 22–34). Die Herausgeber dieser großen setzte Brod den Text zusammen, deshalb lesen wir
Ausgaben müssen zudem entscheiden, ob sie die im Gespräch des Jägers Gracchus mit dem Bürger-
Texte nach den Erstdrucken oder nach der »Aus- meister der kleinen Stadt, in deren Hafen die Barke
gabe letzter Hand« edieren. des untoten Jägers angelandet ist, folgenden Satz:
N Lese- und Studienausgabe: Als Klassiker der »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, nie-
zuverlässigen Lese- und Studienausgabe gilt die mand wird kommen, mir zu helfen. […] Der Ge-
14-bändige Hamburger Goethe-Ausgabe, heraus- danke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit
gegeben von Erich Trunz (Taschenbuchausgabe und muß im Bett geheilt werden.« Der Verweis auf
seit 1982 ff.). Für modernisierte Leseausgaben, so die »monologische Schreibsituation« irritiert im
zum Beispiel die 2005 von Harald Fricke heraus- Gespräch; der Blick in die Manuskript-Fragmente
gegebenen und kommentierten Sprüche in Prosa, zeigt, dass Brod aus den überlieferten Fragmenten
die sämtliche Maximen und Reflexionen auf einen Text zusammengefügt hat, der Anlass zu di-
knapp 500 Seiten vorstellen, wirbt der Verlag mit vergierenden Interpretationen bietet (vgl. Martí-
dem Hinweis, dass die Texte vom philologischen nez/Scheffel 2009, S. 105 f.).
Ballast befreit worden seien. Für das begrenzte N Werkausgaben: Die Texte wichtiger Autor/innen
Budget sind auch Studienausgaben akzeptabel, der letzten 50 Jahre stehen inzwischen in Werkaus-
deren Textgestalt an Historisch-Kritischen Ausga- gaben zur Verfügung, zum Beispiel Ilse Aichinger,
ben orientiert ist. Die Reclam-Studienausgabe der Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Thomas Bern-
»romantische[n] Tragödie« Die Jungfrau von Orle- hard und Günter Grass. Der erste Band der Werke
ans folgt der Nationalausgabe von Schillers Wer- von Heinrich Böll, Träger des Nobelpreises für Lite-
ken; in den Anmerkungen wird darauf verwiesen, ratur 1972, erschien 2002; im November 2010 wurde
dass die Orthographie auf der »Grundlage der die Ausgabe mit Band 27, dem Register abgeschlos-
neuen amtlichen Rechtsschreibregeln behutsam sen. Die Ausgabe folgt editionswissenschaftlichen
modernisiert« (2002, S. 139) wurde. Prüfen Sie Kriterien (Textentstehung, Überlieferung, Stellen-
sorgfältig, ob eine Ausgabe über Editionsprinzi- kommentar sowie Bibliographie) und erlaubt mit
pien informiert. Ausgaben, die keinerlei Hinweise dem Registerband eine rasche Orientierung. Die

8
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zur Vertiefung

Lesarten
»[…] Soviele Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere. Damit soll nichts gegen die Arbeit der Philo-
logen gesagt sein und gegen die zuverlässigen, die kritischen, die ›gesicherten‹ Texte, die sie verspricht; ganz im
Gegenteil. Aber ihre Treue ist nur eine unter den vielen Möglichkeiten, die wir haben, einen Autor beim Wort
zu nehmen. Man kann ihn auch nacherzählen, oder rückwärts lesen, oder verspotten, oder bestehlen, oder wei-
terdichten, oder übersetzen … Lesen heißt immer auch: zerstören – wer das nicht glauben will, möge die Ge-
hirnforscher fragen –; zerstören und wieder zusammensetzen. Dabei entsteht allemal etwas Neues. Ein Klassi-
ker ist ein Autor, der das nicht nur verträgt; er verlangt es, er ist nicht totzukriegen durch unsere liebevolle
Roheit, unser grausames Interesse.« (Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte
zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, 1985, S. VII, Vorwort).

Sorge des Verlags und der Herausgeber, dass nach 1.1.3 | Wie lesen Studierende?
dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009
große Teile des dort gelagerten Böll-Nachlasses ver- Was lesen Sie gerne? Historische Romane, roman-
loren seien und somit eine wichtige Grundlage für tische Gedichte, Autobiographien, Reportagen,
die Ausgabe vernichtet sei, hat sich nicht bestätigt, Briefe, Sachbücher, Comics, die Zeitung? Nur we-
auch wenn Verluste zu beklagen sind. nige werden im ersten Semester eine Grammatik,
N Handschriften und frühe Drucke: Stellen schon ein etymologisches Wörterbuch oder das riesige
moderne Texte Studierende häufig vor große Pro- Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften von
bleme, gilt dies umso mehr für alte Texte. Die erste Robert Musil nennen. Auch im Studium werden
Begegnung mit Handschriften und frühen Drucken Sie weiterhin Romane und Erzählungen lesen,
(Inkunabeln, Wiegendrucke genannt) wird zum Le- weil Sie den Stil eines Autors, einer Autorin schät-
seabenteuer, das an die ersten Buchstabierexperi- zen, Interesse an einem Thema haben (Liebe, Na-
mente in der Grundschule erinnert. Auch wenn das tur oder Verbrechen), sich mit der Hauptfigur
Nibelungenlied, die Manessische Liederhandschrift identifizieren, mit ihr leiden. Sie werden diese Tex-
und Das Narrenschiff von Sebastian Brant heute in te zugleich anders lesen lernen. Schon Goethe
zuverlässigen Ausgaben zugänglich sind und zu- wusste: »Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese
dem eine Vielzahl guter Übersetzungen zum Ver- zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und
gleich der Übertragungen herausfordert, ist die ge- Belehrung« (Maximen und Reflexionen). Studie-
legentliche Rückkehr zu den Quellen auch im rende formulieren häufig die Sorge, die präzise
21. Jh. für Studierende ein unverzichtbarer Lern- Analyse eines Textes könne seinen ästhetischen
schritt. Die konkrete Begegnung mit alten Büchern Reiz zerstören. Deshalb muss Goethes Maxime er-
ist auch ein Erlebnis für die Sinne. Zwar dürfen Sie weitert werden: Genuss und Erkenntnis sind im
meist aus konservatorischen Gründen nicht in den Studium der Germanistik keine Gegensätze, son-
Bänden blättern, trotzdem sehen, riechen und hö- dern verbinden sich im Idealfall harmonisch. Das
ren(!) Sie alte Bücher anders als moderne Ausga- Ziel der Erkenntnis kann gleichwohl beim Lesen
ben. Die Archäologen der alten Texte, die Vertreter eines Textes extrem unterschiedlich sein. In den
der Handschriftenkunde (Kodikologie) und der hitzigen Debatten der Nach-68er-Jahre spottete
Inkunabelkunde, haben umfangreiche Informa- Hans Magnus Enzensberger in seiner berühmten
tionen über die materialen Träger der Texte (Papy- Polemik über den Interpretationswahn: »Beschei-
rus, Pergament und Papier) sowie Format und Aus- dener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den
stattung (auch Bilderschmuck) zusammengetragen Erzeugnissen der Poesie«: »Wenn zehn Leute ei-
(vgl. Jakobi-Mirwald 2004). Einen guten Überblick nen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn
bietet das Internetportal »Mediaevum«. Dort finden verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. […]
Sie auch ein Beispiel für ein gelungenes E-Learning- Das Resultat der Lektüre ist mithin durch den Text
Projekt, »Ad fontes – Einführung in den Umgang nicht determiniert und nicht determinierbar. Der
mit Quellen im Archiv«, sowie zahlreiche Facharti- Leser hat in diesem Sinne immer recht. Und es
kel zu vielen Aspekten mittelalter- und frühneuzeit- kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von ei-
licher Buchkunde. nem Text den Gebrauch zu machen, der ihm paßt«

9
1.1
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Lesen

(Enzensberger 1976/1988, S. 33). Der promovierte sen zu verschaffen; manchmal genügt schon
Germanist Enzensberger wusste gleichwohl, dass ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, um zu er-
es für die Lektüre und den Gebrauch von Texten kennen, ob der Titel hält, was er verspricht.
im Studium nachvollziehbare Regeln und Prämis- N Question: Klären Sie, welche Fragen Sie zum
sen gibt. Beispiel bei der Themenfindung für eine Haus-
Hörbücher: Oft erscheint heute gleichzeitig mit arbeit oder während der Vorbereitung eines Re-
der gedruckten Ausgabe eines Buches die Hörbuch- ferats an den Text haben.
Version, teils gelesen von der Autorin oder vom Au- N Read: Erst wenn Sie annehmen können, dass
tor, und fast alle klassischen Texte können inzwi- das Buch/der Beitrag Antworten auf Ihre Fra-
schen als Hörbuch erworben werden. Es ist völlig gen bieten könnte, beginnen Sie zu lesen, ein
legitim, einen Text zunächst über das auditive Me- erstes orientierendes, analytisches Lesen, ob
dium kennenzulernen. Wer seriös Germanistik mit dem Bleistift oder dem Marker in der
(oder eine andere Philologie) studieren will, kann Hand.
jedoch auf die gedruckte Ausgabe für die detaillier- N Recite: Fassen Sie die wichtigsten Passagen und
te Textarbeit nicht verzichten. Der Lesende kann Thesen mit eigenen Worten zusammen.
Sätze, Abschnitte, ganze Kapitel wiederholen, er N Review: Lesen Sie ausgewählte oder auch bis-
kann vorblättern, zum Anfang zurückkehren. her unklar gebliebene Passagen erneut und er-
Lesetechniken – Lesestrategien: Die Suche nach gänzen oder korrigieren Sie Ihre Notizen.
effizienten Lesetechniken ist kein Phänomen der Realistisch ist die Perspektive, dass Sie nach eini-
Gegenwart. Professionelle Leser/innen haben im- gen Semestern Techniken und Strategien entwi-
mer schon nach Möglichkeiten ge- ckeln werden, die Ihre Lesearbeit unterstützen.
sucht, die Leseeffizienz zu steigern. Unabhängig davon, ob Sie schon in der Oberstufe
Ein anschauliches Beispiel ist das gelernt haben, einen Text präzise zu lesen, oder ob
Bücherrad, ein rotierendes Lesepult, Sie eine der oben genannten Methoden für sich
an dem der Leser ca. zwölf Bücher entdeckt haben: Das orientierende, analysierende
gleichzeitig anschauen kann. Der ita- und strukturierende Lesen ist die Basisarbeit im
lienische Ingenieur Agostino Ramelli gesamten Studium.
stellte es 1588 in seinem Buch Le di- Close reading: Oft werden auch begleitende
verse et artificiose machine del capi- Übungen mit dem Schwerpunkt close reading an-
tano vor. Noch 2008 schreibt die geboten. Diese intensive und konzentrierte Lektü-
»Stiftung Lesen« unter der Schirm- re eines Textes ergänzt zum einen Seminare und
herrschaft der Bundesministerin für Vorlesungen, zum anderen schult sie den Blick für
Bildung und Forschung mit Verweis strukturelle Details und semantische Nuancen.
auf das Bücherrad von Ramelli ei- Auch Lektüre bedarf der Wiederholung: Spätes-
nen Wettbewerb aus, mit dem Ideen tens in der Examensphase lesen Sie ein Buch er-
für lesefördernde Möbel gesucht neut und neu. Umwege und Irrwege werden Ihre
wurden. Lesegeschichte auch im Studium prägen. Ein Ge-
Kurse zum effektiven Lesen wer- dicht, das Sie vor drei Semestern noch begeistert
den inzwischen an vielen Universitä- hat, finden Sie nun missglückt und langweilig.
Rotierendes Lesepult ten angeboten: Quer-Lesen, Schnell- Nicht das Gedicht hat sich verändert, sondern Sie
von Agostino Ramelli, 1588 Lesen, »Improved Reading«, SQ3R- haben im Studium neue ästhetische Präferenzen
Methode. Kurse, die versprechen, entwickelt. Vielleicht erleben Sie beim erneuten
dass Sie in Zukunft beim ausgiebigen Frühstück Lesen aber auch die »Begeisterung entrückter
ein Lektürepensum von 300 Seiten für das Seminar Lesestunden«; so emphatisch beschreibt Hermann
um 14 Uhr spielend bewältigen können, sollten Sie Hesse seine Erfahrungen im Gedicht »Beim Wie-
ignorieren. Unter dem Stichwort »Improved Rea- derlesen des Maler Nolten«, nachdem er Mörikes
ding« finden Sie Angebote, die versprechen, Lese- Roman nach Jahren noch einmal gelesen hat.
tempo und Leseintensität mit gezielten Übungen Medienkompetenz: Wissenschaftliches Lesen
und »speziell entwickelten Geräten« zu optimieren. lernen bedeutet im 21. Jh. auch, Medienkompe-
Die SQ3R-Methode versucht, in fünf Schritten tenz auszubilden und den Umgang mit Medien
Lesetechniken und -strategien zu vermitteln: kritisch zu reflektieren: Dies gilt sowohl für die
N Survey: Im ersten Schritt gilt es, sich einen klassischen Printmedien als auch für das ständig
Überblick über die zentralen Themen und The- wachsende Online-Angebot. Themenhefte der

10
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Wie lesen Studierende?

Zeitschrift GEO, Bertelsmann-Universallexika aus sich zum Beispiel über die Virtuelle Fachbibliothek
den 1950er Jahren oder gekürzte und geglättete Germanistik – Germanistik im Netz, die von Exper-
Ausgaben der Klassiker bieten keine soliden ten betreut und regelmäßig aktualisiert wird
Grundlagen für seriöse Studienbeiträge. Ob ein (http://www.germanistik-im-netz.de), oder nut-
Beitrag im Online-Portal Wikipedia verlässliche In- zen Sie das Angebot seriöser Fachportale zu den
formationen bietet, können Studierende in der Re- germanistischen Schwerpunkten (zum Beispiel
gel nicht zuverlässig beurteilen. Informieren Sie LINSE – Linguistik Server Essen).

Weiterführende Literatur
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Literarische Kanonbildung Enzensberger, Hans Magnus: »Bescheidener Vorschlag
(Text + Kritik, Sonderband 9). München 2002. zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der
Baßler, Moritz: »Was blitzt und funkelt, in Reichtum und Poesie« [1976]. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn.
Fülle. Woran erkennt man einen Klassiker? Drei Thesen Frankfurt a. M. 1988, S. 23 ff.
zum Umgang mit kanonischen Meistern«. In: Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch.
Literaturen 1–2 (2005), S. 9–16. Funktion und Ausstattung. Stuttgart 2004.
Bohnenkamp-Renken, Anne: »Neugermanistische Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die
Editionswissenschaft«. In: Hans Walter Gabler/Dies. Erzähltheorie. München 82009.
(Hg.): Kompendium der Editionswissenschaft. Universi- Segebrecht, Wulf: Was sollen Germanisten lesen? Ein
tät München 2003 (online unter: http://www.edkomp. Vorschlag. Berlin 2000.
uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp_AB.html). Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
2008.

1.2 | Reden und Präsentieren


Im Studium dominieren auch im Bachelor-Zeital- Seminare »sind republikanische Veranstaltun-
ter folgende Veranstaltungstypen: Vorlesung, Se- gen; sie leben von der aktiven Mitarbeit aller Teil-
minar und Übung. In der Vorlesung können Sie in nehmer« (Albrecht Koschorke). Studieren bedeu-
der Regel zuhören und mitschreiben, im Seminar tet, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen,
und in der Übung müssen Sie reden, mitreden, re- das im Selbststudium erarbeitete Wissen im Aus-
ferieren, diskutieren, argumentieren, begründen, tausch mit der Seminargruppe auf den Prüfstand
nachfragen, widersprechen, plädieren, analysie- zu stellen. Auch im Seminar ist das analysierende
ren, interpretieren, nachweisen, erörtern und zu- und kritische Lesen Grundlage des Gesprächs. Für
sammenfassen. Teilnehmer und Lehrende sind Sitzungen, in de-
Vorlesungen bieten regelmäßig die Gelegenheit, nen nur wenige gut und viele gar nicht vorbereitet
professionellen Redner/innen zuzuhören. Was sind, unergiebig und quälend. Das Seminar ist
unterscheidet einen guten Redner von einem »der Ort, an dem die generelle Forderung nach ei-
schlechten Redner? Die schon in den Klassikern ner Einheit von Forschung und Lehre ihre fachspe-
der antiken Rhetorik festgelegten vier Redeteile – zifische Verwirklichung findet« (Wegmann 2000,
Einleitung/Redeanfang (exordium), Erzählung/ S. 124). Gute Seminarsitzungen zeichnen sich
Darstellung (narratio), Beweisführung (argumen- nicht dadurch aus, dass am Ende wohlformulierte
tatio) und Redeschluss/Zusammenfassung (pero- Sätze des Lehrenden in der Mitschrift stehen; gute
ratio, conclusio) – bieten auch im heutigen Stu- Seminarsitzungen, an die Sie sich noch lange erin-
dienalltag für Lehrende und Studierende eine nern, sind geprägt von heftigen Diskussionen, die
handwerkliche Orientierung. Bewertungskriterien im besten Fall direkt nach der Sitzung fortgesetzt
sind darüber hinaus u. a. Klarheit und Angemes- werden. Eine auch heute noch aktuelle Empfeh-
senheit von Sprache, Stil und Redeschmuck lung können Sie in einem berühmten Essay von
(s. Kap. III.1.4). Ein Redner, der von Thema zu Heinrich von Kleist nachlesen: »Wenn du etwas
Thema springt, seine Zuhörer/innen ignoriert, wissen willst und es durch Meditation nicht fin-
monoton vom Blatt abliest und am Ende der Vorle- den kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher
sung keine Zeit mehr für eine kurze Zusammenfas- Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir auf-
sung hat, wird sein Publikum nicht fesseln (vgl. stößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben
Händel u. a. 2007). ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich

11
1.2
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Reden und Präsentieren

es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: den kommentierten Vorlesungsverzeichnissen ge-
nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst er- gebenen Lektürehinweise, um schon zu Semester-
zählen.« Der Essay, um 1805 entstanden und post- beginn gut informiert und wohlbegründet eine
hum 1878 im Druck erschienen, trägt den Titel Entscheidung für ein Referat treffen zu können.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken Der Vortrag sollte in der Regel nicht länger als 15
beim Reden. Er ist als Brief an einen Freund in- bis 20 Minuten sein; zwei Ziele sind zu erreichen:
szeniert; sein offenes Ende verweist zudem auf die Zum einen wird eine Themenstellung begleitet
Unabschließbarkeit des dialogischen Austauschs von Forschungsbeiträgen und -konzepten vorge-
von Gedanken und sprachlichem Handeln. Im Un- stellt, zum anderen wird auf dieser Basis eine wis-
terschied zu Kleist sind Sie Mitglied einer Gruppe senschaftliche Diskussion geführt. Oft werden Re-
scharf denkender Köpfe, die nach dem aufmerksa- ferate von Handouts begleitet, sie enthalten
men Zuhören sofort nachfragen und diskutieren begleitende Informationen (Gliederung des Vor-
wollen. trags, erste Informationen zu Aufbau und Struktur
Seit der Antike gibt es eine Fülle an Modellen eines Textes, Erläuterungen der Fachbegriffe, Zita-
für die Interaktion im Gespräch: Platon stellt zum te aus der Forschungsliteratur, Literaturverzeich-
Beispiel in den sokratischen Dialogen die Begeg- nis). Prägnanter können Thesenpapiere die Dis-
nung zwischen Lehrer und Schüler als Wechsel- kussion begleiten (s. 1.3.1).
spiel von Frage und Antwort vor. Der bekannteste Präsentationstechniken: Nutzen Sie die Ange-
Dialog, das Symposion (Das Gastmahl, so die bote der modernen Präsentationstechniken, wenn
deutsche Übertragung von Friedrich Schleierma- diese eine sinnvolle Ergänzung zum Vortrag bie-
cher 1807), leiht noch heute wissenschaftlichen ten. Sie können mit Unterstützung des Overhead-
Tagungen seinen Namen. Ebenso wie Lust am Le- Projektors Folien während des Vortrags beschrif-
sen eine wichtige Voraussetzung für Lesekompe- ten, um eine These zu entwickeln, oder Sie stellen
tenz ist, vermitteln Sprach- und Debattier-›Spiele‹ mit dem Beamer eine PowerPoint-Präsentation
Erfahrungen und Routinen, die eine gute Basis für vor. Wiederholungen der Textauszüge, die auf dem
den Erwerb rhetorischer Kompetenzen bilden. Handout stehen oder in den vorbereiteten Texten
»Spiel ist«, so die Definition des Kulturanthropolo- nachzulesen sind, sind überflüssig.
gen Johan Huizinga, »eine freiwillige Handlung Präsentationskompetenz: Mit jedem gelunge-
oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festge- nen Referat stellen Sie auch Ihre Informations- und
setzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig Vermittlungskompetenzen unter Beweis (vgl. Hän-
angenommenen, aber unbedingt bindenden Re- del u. a. 2007). Viele Studierende trauen sich zu-
geln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und nächst nicht, ein Referat zu übernehmen. Die
begleitet wird von einem Gefühl der Spannung Angst, vor einer fremden Gruppe zu sprechen, und
und Freude und einem Bewußtsein des ›Anders- die Sorge, sich vielleicht zu blamieren, sind
seins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹« (1938/2009, ernstzunehmende Gründe. Auch hier hilft nur die
S. 37). ständige Übung. Schon beim zweiten, dritten Refe-
Referat: Der überzeugende Vortrag ist das Er- rat werden Sie merken, dass Sie das Zeitlimit gut
gebnis eines komplexen Arbeitsprozesses. Dies gilt einhalten und die ausgewählten Thesen die Dis-
auch für das Referat. Wenn Sie in einem Seminar kussion anstoßen. Die ersten Semester sollten Sie
ein Referat halten, haben Sie damit in den meisten als universitäre Lehrjahre aktiv nutzen. Spätestens
Fällen eine wichtige Voraussetzung für den Schein- in der Prüfungsphase machen sich die Trainings-
erwerb erfüllt, vor allem signalisieren Sie Ihre Be- einheiten bezahlt.
reitschaft, aktiv und verantwortlich zum Gelingen Falls Gruppenreferate vorgesehen sind, ist dies
der Veranstaltung beizutragen. Ein gelungenes Re- auch als Aufforderung an jedes Mitglied der Grup-
ferat setzt intensive Lektüre voraus, eine gut be- pe zu verstehen, aktiv in allen Phasen der Vor-
gründete Auswahl der im mündlichen Vortrag vor- bereitung mitzuarbeiten und gemeinsam für das
zustellenden Themen und eine plausible Struktur. Gelingen Verantwortung zu übernehmen. Der Hin-
Wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ist ein weis, »Diesen Text kenne ich nicht, den hat XY ge-
grundlegendes Interesse am Thema. Dies mag auf lesen«, ist nicht akzeptabel. Vor allem bei Grup-
den ersten Blick als banale Bemerkung erscheinen; penreferaten wird der vorgesehene Zeitrahmen oft
im Semesteralltag zeigt sich jedoch schnell, dass deutlich überschritten. Zeit für die Diskussion
ein Referat zu einem ›übrig gebliebenen‹ Thema muss jedoch auf jeden Fall bleiben: Deshalb ist es
nur selten überzeugt. Deshalb nutzen Sie die in sinnvoll, schon bei der Planung zu überlegen, wel-

12
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

che Passagen gekürzt oder übersprungen werden ren und zu visualisieren sowie das anschließende
können, ohne dass der Zusammenhang verloren- Seminargespräch zu moderieren. Reden ist eine
geht. Eine gute Vorübung ist, den Vortrag zu pro- sprachliche Handlung, ein performativer Akt. Die
ben, gerade die Gruppe bietet dafür eine gute Ge- ›Performance‹ der Vortragenden beeinflusst un-
legenheit. Wann immer möglich, lesen Sie ein mittelbar den Grad der Aufmerksamkeit der Zuhö-
fertiges Manuskript nicht vor. rer/innen. Alltagssprache ist im Referat und in der
Mit der Übernahme von Referaten im Studium Seminardiskussion nicht angemessen.
lernen Sie Schritt für Schritt, Themen zu präsentie-

Weiterführende Literatur
Händel, Daniel/Kresimon, Andrea/Schneider, Jost: Wegmann, Nikolaus: »Im Seminar«. In: Thomas Rathmann
Schlüsselkompetenzen: Reden – Argumentieren – Über- (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Über epistemologi-
zeugen. Stuttgart/Weimar 2007. sche, wissenschaftspragmatische und kulturpolitische
Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur Aspekte eines Studiums der Germanistik. Berlin 2000,
im Spiel [1938]. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 120–127.

1.3 | Schreiben
Schreibgeräte: Die Geschichte meiner Schreibma- dem eigentlichen Schreiben beginnen, wird etwa
schine lautet der Titel eines Buches des amerikani- ein Drittel der Gesamtzeit vergangen sein. Verzich-
schen Autors Paul Auster: »Es war eine Olympia- ten Sie auf Inhaltsreferate, dafür bleibt keine Zeit.
Reiseschreibmaschine, hergestellt in Westdeutsch- Reservieren Sie auf jeden Fall vor der Abgabe ein
land. Dieses Land gibt es nicht mehr, aber seit wenig Zeit für eine aufmerksame Lektüre der
jenem Tag im Jahre 1974 ist jedes Wort, das ich Klausur. Vor allem im Einführungsbereich oder ab-
geschrieben habe, auf dieser Maschine getippt hängig vom Seminarthema werden auch Multiple-
worden« (2005, S. 12). Die Wahl des richtigen Choice-Klausuren geschrieben. Im Anschluss an
Schreibgeräts ist nicht nur für Auster entscheidend literaturwissenschaftliche Seminare ist die Über-
für die erfolgreiche Schreibarbeit: Bertolt Brecht prüfung der Lernfortschritte mit dem Frage-Ant-
bevorzugte seine »Erika«, Franz Kafka tippte auf wort-Verfahren meist nicht sinnvoll. Sie sollen ja
einer »Oliver 5«. Ob Sie für Ihre Arbeit ein Apple- nicht zeigen, dass Sie gut auswendiglernen kön-
Gerät bevorzugen oder sich für ein Sonderangebot nen, sondern eine Themenstellung problemorien-
aus der breiten Palette der Personal-Computer tiert ohne die üblichen Hilfestellungen aufbereiten
oder Laptops entscheiden, ist zum einen eine fi- und ausformulieren können. In sprachwissen-
nanzielle Frage, hängt zum anderen jedoch auch schaftlichen Klausuren werden Freitext- und
von Status-Zuschreibungen und ästhetischen Vor- Übungsaufgaben sowie Multiple-Choice-Fragen oft
lieben ab. Aber auch im Zeitalter der Textverarbei- gemischt. Die folgenden Beispiele verdeutlichen
tung am PC schreiben wir weiterhin ständig mit die fachspezifischen Klausurthemen in Einfüh-
der Hand, mit Bleistift, Filzstift, Kugelschreiber rungsveranstaltungen:
und Füllfederhalter, auch der Tafelanschrieb ist im
PowerPoint-Zeitalter noch nicht aus der Mode ge-
kommen. Ältere deutsche Literatur Beispiele für
Klausur: Eine B. A.-typische Prüfungsform ist Sprachgeschichte und Grammatik: Geben Sie Klausurthemen
die Klausur. In begrenzter Zeit muss eine zuvor zu den folgenden Wörtern die neuhochdeut-
unbekannte Themenstellung oder Aufgabe bear- sche Entsprechung an und benennen Sie
beitet werden. Zunächst brauchen Sie Zeit, ein (bezüglich des Vokalismus), welche lautliche
Konzept zu entwickeln, die in der Themenstellung Entwicklung vom Mittelhochdeutschen zum
genannten Stichwörter in eine argumentative Neuhochdeutschen stattgefunden hat: gesagen,
Struktur zu übertragen, einen Text sorgfältig und guot, viur.
analytisch zu lesen, Ihr Wissen zu aktivieren und Literaturgeschichte: Nennen Sie zwei Zentren
mit den angeführten Aspekten und Fragen zu ver- mittelalterlicher Literatur und charakterisieren
binden (vgl. Delabar 2009, S. 142 ff.). Bevor Sie mit

13
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

rakter. Sie werden entweder unabhängig von ei-


Sie sie jeweils kurz. Welche Grundvorausset- nem größeren Schreibprojekt für die Diskussion im
zung für den mittelalterlichen Literaturbetrieb Seminar oder als Teil einer größeren Arbeit ge-
muss erfüllt sein? schrieben.
Abstract: In vielen Fachzeitschriften steht vor
Neuere deutsche Literatur oder nach dem eigentlichen Artikel eine knappe
Textanalytische Fragestellung: Beschreiben Zusammenfassung (vgl. zum Beispiel Deutsche
und erläutern Sie den Auszug aus Theodor Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Storms Novelle Im Schloß nach den Kategorien Geistesgeschichte – DVjs). Bei der Recherche nach
der formalen Erzähltextanalyse: Aufbau, Zeit, geeigneter Forschungsliteratur erlauben diese von
Modus und Stimme. den Autoren verfassten Abstracts eine rasche Ori-
Literaturtheoretische Fragestellung: »Machen entierung über Themenstellung, Methode und Er-
von Literatur bedeutet […] in erster Linie Ma- gebnisse. Das Abstract (abgeleitet vom Verb ›ab-
chen aus Literatur, das heißt Weiter-, Wider- strahieren‹: verallgemeinern, auf etwas verzichten)
und Umschreiben« (Renate Lachmann). Erläu- ist auch für die Vorbereitung eines Referats oder
tern Sie bitte diesen Satz im Blick auf den einer Hausarbeit eine nützliche Arbeitsform, um
Begriff der Intertextualität. Was bedeutet das Leseergebnisse konzentriert zusammenzufassen.
für ein Verständnis der Kategorien ›Autor‹ und In der Einleitung eines Referats oder einer Hausar-
›Text‹? beit werden zunächst die wichtigsten Beiträge mit
den zentralen Thesen vorgestellt. Ein Abstract ist
Sprachwissenschaft keine Rezension, d. h. eine wertende Besprechung
Morphologie: Analysieren Sie die Morphem- eines Beitrags oder eines Buches. Gleichwohl zei-
struktur des folgenden Wortes in Form eines gen Sie bereits mit der Vorstellung eines bestimm-
Strukturbaums: Zerstreuung ten Beitrags im Referat oder im Exposé zu Ihrer
Syntax: a) Bestimmen Sie in folgendem Satz Arbeit die Präferenz für einen thematischen
das Prädikat und die Satzglieder (Umfang, Schwerpunkt und eine methodisch-theoretische
Wortart des Kopfes, Funktion, Valenz): »die […] Fragestellung.
dem Bürgermeister aber einen weiteren Monat Thesenpapier: Warum ist ein gelungenes The-
nahezu unbeschwerten Politisierens ermögli- senpapier eine der schwierigsten und zugleich
chen mochte.« wichtigsten Herausforderungen im Semesteralltag?
b) Analysieren Sie den Satz nach dem Felder- Im Unterschied zum Handout (s. 1.2) erfordert das
modell/topologischen Modell. Thesenpapier die konzentrierte Darstellung der
c) Analysieren Sie das unterstrichene Satzglied zentralen, oft auch kontroversen Aussagen der
in Form eines Phrasenstrukturbaums. wissenschaftlichen Beiträge. Mit dem Thesenpa-
pier werden Bewertungen vor- bzw. Behauptun-
gen aufgestellt, die begründet werden müssen.
Thesen sollen die Diskussion anregen, sie können
1.3.1 | Kleine Textsorten provozieren. Die Vortragenden müssen so gut vor-
bereitet sein, dass sie überzeugende Argumente
Viele kleine Textsorten prägen den universitären und Belege vorbringen können. Bei guter Vorberei-
Alltag: die Mitschrift in Vorlesung und Seminar, tung dient es dem Vortragenden als Leitfaden, eine
das Exzerpt, das Abstract und das Thesenpapier ausführliche schriftliche Dokumentation ist (zu-
bei der Vorbereitung von Referaten, Hausarbeiten nächst) überflüssig. Ob eine lineare Abfolge oder
und Prüfungen, der Essay als seminarbegleitende eine kontroverse Vorstellung gewählt wird, ist ab-
Reflexion einer speziellen Fragestellung, das Proto- hängig von der Komplexität der Themenstellung.
koll, eine der unbeliebten Textsorten im Studium, In der ersten Variante werden Thesen zu einer
als Dokumentation einer Diskussion, die Dispositi- wissenschaftlichen Position vorgestellt, die in der
on oder das Exposé am Start zu einer längeren anschließenden Diskussion verteidigt wird. Häufig
schriftlichen Arbeit sowie die Rezension als kriti- liegen zum Beispiel zur Interpretation eines litera-
sche Vorstellung eines Textes. Die Hausarbeit ist rischen Textes kontroverse Beiträge vor. Auf die
die wissenschaftliche Kür im Spektrum der univer- Vorstellung und Diskussion der ersten These folgt
sitären Textsorten. Die kleinen Textsorten haben die Vorstellung und Diskussion der Gegenthese
vor allem rekapitulierenden, resümierenden Cha- (vgl. Sesink 2007, 139 ff.).

14
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Kleine Textsorten

(vgl. Gebhard 2005, S. 283–287; Frank u. a. 2007,


Beispiel: Thesenpapier S. 156 ff.). Protokolle sind in vielen Arbeitsfeldern
Sollen Vor- und Nachteile eines Literaturkanons Standardtexte, die Sie regelmäßig schreiben müs-
in Form von Thesen und Gegenthesen disku- sen. Nutzen Sie also die Lehrzeit im Studium, um
tiert werden, können folgende Thesen die Dis- Ihre Kompetenzen zu trainieren.
kussion einleiten: Essay: Im Unterschied zum Protokoll oder Expo-
1. These: Ein Literaturkanon führt zu breit ge- sé ist der Essay eine akademische Textsorte, für die
fächerten Literaturkenntnissen. verbindliche Regeln zu formulieren (fast) unmög-
1. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu lich ist. Jedes Fach, jeder Lehrende hat seine Vor-
oberflächlichem Lesen und ›Abhaken‹ der Lese- stellungen, wie ein gelungener Essay zu schreiben
liste. ist. Das französische Wort essai erlaubt eine Viel-
2. These: Ein Literaturkanon hebt das Niveau zahl an Übersetzungen: Versuch, Annäherung,
des Studiums. Probe, Prüfung, Test – Begriffe, die die semanti-
2. Gegenthese: Ein Literaturkanon führt zu Un- sche Breite vom neutralen Ausprobieren bis zum
selbständigkeit und Fachblindheit. konkreten Prüfen/Geprüftwerden umfassen. Für
die Textsorte ›Essay‹ sollte zu Beginn des Studiums
eine längere Probezeit eingeplant werden. Ent-
Die Seminarteilnehmer sind explizit aufgefordert, scheidend für die argumentative Struktur und die
kritisch zu fragen und die Thesen auf den Prüf- stilistische Gestaltung eines Essays ist die Themen-
stand zu stellen. Auf dem Thesenpapier stehen bzw. Fragestellung, zum Beispiel die pointierte
neben den Angaben zum Seminar und dem Titel Vorstellung eines Textes, die auch persönliche
des Vortrags auch alle Literaturangaben, auf die in Kommentare und Wertungen enthalten kann oder
den Thesen Bezug genommen wird. Die Thesen muss, oder die Diskussion kontroverser Thesen.
werden durchnummeriert, im Durchschnitt sollte Ein Essay überzeugt mit prägnanten Formulierun-
eine These nicht mehr als zwei bis drei Sätze um- gen sowie stichhaltigen Reflexionen und Argumen-
fassen. ten. In der Regel sind Essays in drei Schritten auf-
Protokoll: Ein Protokoll dokumentiert den Ver- gebaut: In der Einleitung wird das Thema knapp
lauf der Diskussion im Seminar. Ob Sie die aus- vorgestellt, das im Hauptteil Schritt für Schritt aus-
führliche Version des Verlaufsprotokolls oder die geführt wird; im Resümee können auch weitere
knappe Version des Ergebnisprotokolls wählen, Perspektiven gebündelt werden (vgl. Stadter 2003,
klären Sie vor dem Schreiben. Das Protokoll ist das S. 65–92). Lesen Sie die ›großen‹ Essays, lernen Sie
Produkt, ihm voraus geht das Protokollieren. Wer mit Vorbildern (imitatio). Michel de Montaignes
ein Protokoll übernimmt, steht vor mehreren Auf- Essay über »Die Kunst des Gesprächs« lohnt auch
gaben: konzentriertes Zuhören, präzises Notieren nach 400 Jahren noch die Lektüre.
wichtiger Aussagen und Positionen, Nachfragen, Exposé: Mit einem Exposé (auch Disposition,
falls Begriffe unklar geblieben sind oder Argumen- Entwurf) geben Sie einen kurzen Überblick über
te in der Diskussion durcheinanderwirbeln, Schrei- Ihr Arbeitsvorhaben. Es ist ein Konzept, das im
ben der ersten Fassung (Korrektur durch die Semi- Prozess des Schreibens präzisiert wird, d. h. even-
narleitung), eventuell Schreiben der zweiten tuell auch revidiert, gekürzt oder erweitert wird.
Fassung (nach der Diskussion im Seminar). Sie Das Exposé informiert den Betreuer über Ihr Vor-
lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterschei- haben, er kann Tipps geben, wie das Thema um-
den. Die Darstellung muss übersichtlich, sachlich strukturiert, präzisiert oder reduziert werden
und neutral sein; persönliche Kommentare und kann. Im Exposé werden Frage- bzw. Themen-
Bewertungen gehören nicht ins Protokoll. stellung skizziert, der Stand der Forschung refe-
Mit den Protokollen liegt am Ende des Semes- riert, das methodische Vorgehen begründet und
ters eine Textsammlung vor, die von Studierenden die vorläufige Auswahl der Primär- und Sekundär-
geschrieben, von der Seminarleitung überprüft texte vorgestellt; ein Zeitplan ist spätestens in der
und der Seminargruppe abgenommen wurde. Pro- Examensphase eine nützliche Orientierung. Auch
tokolle sind die Scharniere zwischen den einzel- wenn das Exposé eine vorläufige Planung skiz-
nen Sitzungen. Sie bieten auch noch nach Semes- ziert, kann es im Prozess des Schreibens dabei hel-
tern und in der Prüfungsphase einen Überblick fen, die Arbeitsfortschritte zu überprüfen und
über die Entwicklung von Themen und Diskussio- Schreibblockaden zu überwinden. Wenn Sie sich
nen, sie dokumentieren Irrwege und Fortschritte für ein Stipendium bewerben wollen oder eine Dis-

15
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

sertation anstreben, ist ein gutes Exposé Voraus- IASL-Beiträge sind von Wissenschaftlern für Wis-
setzung für eine positive Entscheidung. Auch au- senschaftler geschrieben. Gleichwohl bieten sie
ßerhalb der Universität ist das Exposé ein wichtiges auch Studierenden vor allem in der Prüfungsphase
Instrument für die Evaluation von Schreibprojek- eine gute Orientierung. Dies gilt auch für die Be-
ten. Im Literaturbetrieb zum Beispiel ist ein Expo- sprechungen wissenschaftlicher Bücher im Inter-
sé oft Grundlage für die Entscheidung eines Verla- net-Portal literaturkritik.de.
ges, ein geplantes Buchprojekt zu fördern und
seine Publikation in Aussicht zu stellen oder dem
Verfasser eine freundliche Absage zu schicken.
Rezension: In vielen Bachelor-Studiengängen 1.3.2 | Literatursuche
lernen Sie in Übungen, neue Bücher vorzustellen
und sachlich zu bewerten. Rezensionen (lat. re- Planen Sie eine Hausarbeit zu Goethes Werther?
censere: mustern) haben eine wichtige Vermittler- Die Literaturliste, die Sie im Seminar bekommen
rolle zwischen Autor/innen, Verlag, Buchmarkt haben, listet schon 20 Monographien und Aufsätze
und Leser/innen. Besprechungen von Büchern le- auf. In der Bibliographie der Deutschen Sprache
sen und hören Sie in Zeitungen, (Fach-)Zeitschrif- und Literatur (abgekürzt: BDSL, bequem über die
ten, im Internet, im Fernsehen und im Radio. Kri- Online-Kataloge der Universitätsbibliotheken zu
tische Rezensionen eines literarischen Werks erreichen) werden für die Suchanfrage »Goethe,
informieren den Leser über Thema, Aufbau und Werther« für die Jahre 1985 bis 2009 ca. 450 Titel
Inhalt, Sprache und Stil. Ist der Autor bisher kaum aufgelistet. Erweitern Sie die Schlagwörter um den
bekannt, kann er mit einem kleinen biographi- Begriff »Brief«, erhalten Sie fünf Einträge. Eine prä-
schen Porträt vorgestellt werden; ein neues Werk zise Fragestellung ist also unbedingt nötig, um aus
eines bekannten Autors erlaubt Hinweise auf die der Vielzahl der Artikel und Bücher gezielt auszu-
bisherige Entwicklung. Die Bewertung schließ- wählen. Möchten Sie hingegen einen neu erschie-
lich sollte sich nicht mit rhetorischen Floskeln nenen Roman vorstellen, werden Sie noch keine
begnügen, sondern nachvollziehbare und plausi- wissenschaftliche Literatur finden. Sie sind ange-
ble Argumente anführen (vgl. Anz/Baasner 2004, wiesen auf die aktuellen Besprechungen in den
S. 226 ff.). Vor allem vor den großen Buchmessen Tages- und Wochenzeitungen oder im Internet. Vor
in Leipzig und Frankfurt finden Sie in vielen Zei- allem dort werden Sie in spezialisierten Online-
tungen (FAZ, FR, SZ, TAZ, NZZ etc.) und Zeit- Portalen wie zum Beispiel literaturkritik.de fündig
schriften (DIE ZEIT, DER SPIEGEL etc.) sowie in (vgl. Franke u. a. 2010).
Magazinen (Literaturen etc.) Extraseiten oder Bei- Nehmen Sie an den Führungen und Schulun-
lagen, in denen die wichtigsten Neuerscheinungen gen der Universitäts- und Institutsbibliotheken zu
vorgestellt werden: Belletristik, Kinder- und Ju- Beginn des Studiums und bei Bedarf teil: Auch die
gendliteratur, Sach- und Fachbücher. Nutzung des Online-Katalogs und der schnelle Zu-
Die Rezension einer wissenschaftlichen Veröf- griff auf die Datenbanken wird in kleinen Gruppen
fentlichung stellt Aufbau, Thesen, Argumentation geübt, Probleme können sofort besprochen, Strate-
und Ergebnisse vor; im Resümee werden Stärken gien der Recherche erprobt werden. Mit Literatur-
und Schwächen eines Beitrages sachlich abgewo- verwaltungsprogrammen (LiteRat, Citavi, Litlink,
gen. Die Internationale Bibliographie der Rezensio- Bibliographix etc.), die von vielen Bibliotheken
nen wissenschaftlicher Literatur (IBR, erscheint inzwischen kostenlos angeboten werden, können
seit 1971, monatliche Aktualisierung) verzeichnet Sie recherchieren, Literaturangaben ohne den Um-
ca. 1,2 Millionen Nachweise, vor allem für die weg Kopie oder Notizzettel direkt erfassen, Kom-
Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Online- mentare einfügen, Querverbindungen markieren
Portal IASL (IASLonline.de), seit 1998 Nachfolger und Fachbegriffe verbinden, so dass die Arbeitser-
des gedruckten Internationalen Archivs für die gebnisse auch für weitere Projekte genutzt werden
Sozialgeschichte der Literatur, stellt kostenfrei Re- können. Die Programme versprechen Wissens-
zensionen wissenschaftlicher Neuerscheinungen und Projektmanagement; ob sie diese Versprechen
vor. Die Besprechungen werden, so können Sie einlösen, müssen Sie im Praxistest herausfinden.
auf der Homepage lesen, kritisch begutachtet, Bibliographieren/Recherchieren: Im Seminar
»sachhaltige Information und theoretische Reflexi- werden schon erste Hinweise auf wichtige For-
on« charakterisieren die Beiträge. Nicht auf An- schungsbeiträge gegeben, die für eine Hausarbeit
hieb werden Sie alle Besprechungen verstehen: überprüft und evtl. ergänzt werden. Die Texte sind

16
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Literatursuche

oft schnell ausgewählt, als nächste Schritte folgen gister) die systematischen Bände. Online ist die
Suche, Auswahl und Beschaffung der begleitenden Bibliographie noch nicht erreichbar; seit 2002 kön-
Forschungsliteratur. Hilfestellungen bei der auto- nen Sie in den Jahrgängen 1998 ff. auf CD-ROM
ren-, themen- oder epochenbezogenen Recherche recherchieren.
gibt zum Beispiel das Handbuch von Hansjürgen N MLA – Modern Language Association (www.
Blinn (2005). Die Online-Angebote der Universitä- mla.org/bibliography): Die internationale Biblio-
ten sind in den letzten Jahren systematisch ausge- graphie der Modern Language Association ver-
baut worden. Die klassischen Karteikästen, diffe- zeichnet Monographien und unselbständig er-
renziert nach alphabetischem und systematischem schienene Beiträge zu Literatur und Sprache,
Katalog, werden in der Regel nicht mehr aktuali- Literatur- und Sprachwissenschaft der Germanis-
siert. Über den OPAC (Online Public Access Cata- tik (auch: Anglistik/Amerikanistik, Romanistik,
logue) der Bibliotheken sind viele Datenbanken Klassische Philologien etc.) seit 1926. Seit 2004
bequem und kostenfrei zu erreichen. Einen Über- stellt die MLA auch Abstracts zu einzelnen Beiträ-
blick gibt das Online-Portal der Deutschen Natio- gen vor.
nalbibliothek (http://www.d-nb.de): Sie ist »die N BLLDB – Bibliography of Linguistic Literature
zentrale Archivbibliothek und das nationalbiogra- Database: Sprachwissenschaftler können online
fische Zentrum der Bundesrepublik Deutschland«. auf diese Bibliographie zugreifen – http://www.
Dort finden Sie alle seit 1913 in Deutschland pu- blldb-online.de (vgl. Delabar 2009, S. 37 ff.).
blizierten deutschsprachigen Bücher und Medien, Die Fachbibliographien bieten mit ihren diffe-
in zunehmendem Umfang auch Tonträger, elektro- renzierten Suchfunktionen zuverlässige Arbeits-
nische Datenträger und Netzpublikationen. Der instrumente. Wenn Sie als Suchbegriffe über
Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK), angesiedelt an Google »Franz Kafka« eingeben, erhalten Sie ca.
der Universitätsbibliothek Karlsruhe, ist als Meta- 2 880 000 Einträge (Stand: Februar 2012), einge-
katalog konzipiert, der in Bibliotheks- und Buch- grenzt auf Seiten aus Deutschland. Wenn Sie viel-
handelskatalogen weltweit mehr als 500 Millionen sprachig oder mutig sind und die Option »Das
Bücher und Zeitschriften nachweist. Web« wählen, also die weltweite Suche, stellt
Folgende Fachbibliographien, die gedruckt Google 10 400 000 Einträge vor. Es überrascht, wie
und/oder online zur Verfügung stehen, haben sich oft dieser Einstieg zum Bibliographieren genutzt
bewährt: wird. Ein Register, d. h. eine Suchfunktion mit hie-
N BDSL – Bibliographie der Deutschen Sprache rarchischen Subkategorien, in zuverlässigen und
und Literatur (www.bdsl-online.de): Die Deut- anspruchsvollen Büchern noch vorhanden, bieten
sche Forschungsgemeinschaft unterstützt das viele Suchmaschinen nicht. Sie sind aufgefordert,
»Sondersammelgebiet Germanistik: Deutsche Spra- eine Hierarchie zu entwickeln. Das Netz ist ver-
che und Literatur« der Universitätsbibliothek gleichbar mit einem unterirdischen Wurzelwerk,
Frankfurt finanziell. Erstellt wird die Bibliographie einem Rhizom, das eine Überfülle an nicht ge-
von der Redaktion der Bibliothek durch Autopsie, wichteten Zufallsfunden liefert.
das heißt, die bibliographischen Angaben der Bü- Auswahl: Auch wenn Sie beim Bibliographieren
cher und Zeitschriften werden vor Ort überprüft in den Fachportalen vielversprechend klingende
und ›nach Augenschein‹ erstellt. Seit 2004 ist die Titel gefunden haben, bedeutet dies nicht, dass
BDSL online zu erreichen; inzwischen sind viele Sie in den nächsten Tagen mit dem Lesen begin-
Bibliotheken über Lizenzen angeschlossen, so nen können. Oft sind die Bücher ausgeliehen oder
dass Sie auch als Erasmus-Student/in in Rom Zu- müssen über Fernleihe bestellt werden. Dies muss
griff auf die BDSL haben und über Fernleihe und bei der Zeitplanung berücksichtigt werden. Eine
International Library Loan (ILL) Aufsätze bestel- umfangreiche Literaturliste belegt zunächst nur
len können. die Quantität der Beschäftigung; entscheidend ist
N Germanistik: In der zweiten großen Fach- die überzeugende und methodisch reflektierte
Bibliographie, der gedruckten Zeitschrift Germa- Auswahl und ihre Begründung im Exposé. Wenn
nistik, werden zudem viele Monographien und der zu bewältigende Bücherstapel zu groß wird,
Sammelbände mit kleinen Referaten vorgestellt, in ist dies häufig der Grund, der als Entschuldigung
denen Themenstellung und Durchführung knapp für die verspätete Abgabe oder gar den Abbruch
skizziert und bewertet werden. Jährlich erschei- einer Arbeit genannt wird. Für Recherche, Aus-
nen zwei Bände, im Abstand von vier bis fünf Jah- wahl und Lektüre der Beiträge sollte insgesamt
ren ergänzen Registerbände (Namen- und Sachre- nicht mehr als ein Drittel der Arbeitszeit einge-

17
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

plant werden. Unabhängig davon, ob Sie die ers- funktionen anbieten, mit denen Sie in großen Text-
ten Ergebnisse der Lesearbeit konventionell auf ausgaben schnell recherchieren können.
Zetteln/Karteikarten vermerken oder direkt in eine Der Zitationsindex ist im Wissenschaftsbetrieb
Textdatei eingeben, wichtig ist, Zitate korrekt zu ein Instrument, das mit quantitativen Mitteln Aus-
notieren, Auslassungen zu markieren und die nö- sagen über die Qualität eines Beitrags treffen will.
tigen bibliographischen Angaben sorgfältig zu ver- Vor allem in den Naturwissenschaften gilt die Häu-
merken. Wenn Sie in der Schlussphase der Arbeit figkeit des Zitiertwerdens als Indikator für die
auf ein inzwischen wieder ausgeliehenes Buch Reputation und Qualität der wissenschaftlichen
warten müssen, um Angaben zu ergänzen oder zu Beiträge. Auch in den geisteswissenschaftlichen
korrigieren, verpassen Sie eventuell die Frist für Fächern gibt es sogenannte Zitier-Stars, die in vie-
die Abgabe. len Beiträgen anzutreffen sind. Sie spiegeln zu-
Zitieren/Belegen: Zitieren heißt belegen, heißt gleich – zumindest für eine bestimmte Zeit – aktu-
Teilhabe an Texten und Diskursen. Zitate knüpfen elle Diskussionen und theoretische Präferenzen.
Verbindungen, die die eigene Argumentation un- Mit zunehmend geschultem Blick erkennen Sie
terstützen und auf andere Forschungen verweisen. schon an den Titelstichwörtern, zu welcher wis-
Die Anführungszeichen markieren die fremden senschaftlichen Schule ein Beitrag gehört.
Stimmen, sie signalisieren dem Leser ›direkte Systematik der Nachweise: In vielen Ratgebern
Rede‹. Auch beim direkten Zitieren bleibt die eige- zum wissenschaftlichen Schreiben finden Sie Vor-
ne Stimme dominant, sie wählt aus, kürzt, stellt schläge für die Systematik der Nachweise. Sinnvoll
um, bewertet. Unabhängig davon, welche Form ist es, vor Beginn des Schreibens nachzufragen, ob
des Zitats gewählt wird, wörtliche Wiedergabe und welche Vorgaben es an Ihrem Institut gibt. Die
oder sinngemäßes Zitat, gelten die Regeln der gewählte Form muss im Prozess des Schreibens
Überprüfbarkeit durch einen korrekten Nachweis beibehalten werden. Sie können die Kurzform mit
und der korrekten Wiedergabe des Zitierten. Verfassername, Jahreszahl und Seitenangabe (Har-
Nicht die Quantität der Zitate, Belege und Ver- vard-Systematik) wählen und die vollständigen
weise garantiert die Qualität des Geschriebenen, bibliographischen Angaben nur im Literaturver-
sondern die plausible Auswahl der Texte. Der ame- zeichnis anführen oder diese auch in der ersten
rikanische Historiker Anthony Grafton hat in sei- Fußnote vorstellen (vgl. Sittig 2008, S. 73–86; Dela-
ner Untersuchung mit dem pointierten Titel Die bar 2009, S. 126–131).
tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote dieses Systematik des Zitierens: In den Ratgebern von
Problem prägnant beschrieben: »In Wirklichkeit Sittig und Delabar finden Sie auch viele Beispiele,
kann selbstverständlich niemand je das Spektrum wie Sie Zitate kürzen, umstellen und in den eige-
von Quellen ausschöpfen, die für ein wichtiges nen Text integrieren können. Vor allem beim indi-
Problem relevant sind – und viel weniger noch alle rekten Zitieren ist die Fehlerquote hoch: Die For-
in einer Anmerkung zitieren. […] Nur die richti- men des Konjunktiv I sind zum Beispiel problema-
gen Fußnoten, nicht eine beliebige Ansammlung tisch, wenn sie identisch mit den Indikativformen
von Verweisen, ließen einen Text eine kritische sind. Der Konjunktiv sollte nicht übermäßig einge-
Nachprüfung mit Glanz bestehen« (Grafton 1995, setzt werden; die Texte bekommen eine auffällige
S. 30 f., 59 f.). Künstlichkeit. Problematisch ist, wenn ein Zitat
Zitierfähigkeit ist ein zentrales Kriterium für die im Zitat nicht als solches erkannt und markiert
Auswahl. Dies gilt sowohl für die Ausgaben der wird. Dies führt dazu, dass ein Zitat dem ›fal-
literarischen Texte (s. 1.1.2) als auch für die wis- schen‹ Autor zugewiesen wird. Ein typischer An-
senschaftliche Literatur, unabhängig davon, ob die fängerfehler ist auch der sog. Zitatenmix: In einem
Zitate aus Büchern stammen oder im Netz zu fin- Abschnitt von ca. 10 Zeilen wird aus drei For-
den sind. Beiträge aus Wikipedia sind nicht zitier- schungsbeiträgen zitiert, die sich hinsichtlich der
fähig, da sie wissenschaftlichen Standards meist theoretischen Basis, der argumentativen Struktur
nicht genügen. Jeder – auch ein völlig Fachfrem- und der sprachlichen Gestaltung extrem unter-
der – kann hier einen Beitrag schreiben oder einen scheiden. Es entsteht ein rhetorisch-argumentati-
bereits vorhandenen Beitrag verändern. Digitali- ves Pastiche im Wortsinn (ital. pasticcio: Eintopf),
sierte Texte und Textausgaben sollten wann immer gemischt aus oft divergierenden, methodisch un-
möglich mit Studienausgaben bzw. historisch- verträglichen und wissenschaftshistorisch entlege-
kritischen Ausgaben verglichen werden. Nützlich nen Positionen, begleitet von einigen wenigen ei-
sind digitalisierte Studienausgaben, da sie Such- genen Sätzen. Das Verhältnis von Eigenem und

18
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Fremdem ist für jede Form wissenschaftlicher Tex- ten eine rechtsverbindliche Erklärung abzugeben.
te angemessen zu gewichten. Auch die Möglich- Der Wissenschaftstheoretiker Gerhard Fröhlich
keit, die Argumentation in den Fußnoten fortzu- stellt in seinem Beitrag »Plagiate und unethische
setzen und zu vertiefen, sollte zunächst nur be- Autorenschaften« Varianten vor: das Totalplagiat,
dingt genutzt werden. Alle wichtigen Argumente das Übersetzungsplagiat, das Teilplagiat als »wis-
gehören in den Haupttext. senschaftliches Cuvée«, das Ideenplagiat, »altruis-
Zitat und Urheberrecht: Was hat Zitieren mit tische Plagiate«, Autoplagiate, Verbal- und Bildpla-
dem deutschen Urheberrecht zu tun? In der Regel giate (Fröhlich 2006, S. 81–82). Im Semesteralltag
gelten geisteswissenschaftliche Seminararbeiten – sind all diese Formen regelmäßig zu finden. Be-
im Unterschied zu den oft standardisierten The- sonders beliebt ist das »wissenschaftliche Cuvée«,
men in den Naturwissenschaften – als individuelle ein Zusammenschnitt von Texten, die das Aufspü-
Leistung. Die Pflicht zu zitieren, bedeutet auch, ren der Quellen der Einzeltexte im Unterschied zu
die Autorität des fremden Textes anzuerkennen. einem Totalplagiat komplizierter machen. Cuvées
Im Urheberrecht werden die Begriffe ›Bearbeiten‹, fallen trotzdem schnell auf, weil Argumentation
›Umgestalten‹, ›Benutzen‹ und ›Zitieren‹ (§§ 3, 23, und sprachliche Gestaltung einzelner Passagen
24 und 51) angeführt, um die verschiedenen Stu- überhaupt nicht zusammenpassen. Die Zeit, die
fen zu präzisieren. Für die wissenschaftliche Ar- mit ›Copy and Paste‹ (Ausschneiden und Einfü-
beit ist vor allem Paragraph 51: »Zitate« wichtig. Er gen) vertan wird, kann und sollte in jedem Fall
schützt den ›Urheber‹ und formuliert Regeln für effizienter und rechtlich unbedenklich für eigene
den ›Benutzer‹: gedankliche Arbeit genutzt werden.

Zur Vertiefung

Gesetz über Urheberecht und verwandte 1.3.3 | Die Hausarbeit


Schutzrechte, 1966, § 51 Zitate
»Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und Vor allem in Pro- und Hauptseminaren ist das Ver-
öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Wer- fassen einer Hausarbeit die Voraussetzung für das
kes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in Bestehen der Modulprüfung bzw. für den Erwerb
ihrem Umfang durch den besonderen Zweck ge- eines qualifizierten Leistungsnachweises. Mit der
rechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn Hausarbeit zeigen Sie, dass Sie eine Themenstel-
1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein lung in einem begrenzten zeitlichen Rahmen wis-
selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläute- senschaftlich angemessen und sprachlich korrekt
rung des Inhalts aufgenommen werden, bearbeiten können. Da Sie in den modularisierten
2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung Studiengängen oft enge Zeitvorgaben für die Abga-
in einem selbständigen Sprachwerk angeführt wer- be haben, ist eine gute Planung und Abstimmung
den, […].« der einzelnen Arbeitsschritte umso wichtiger. Für
eine Hausarbeit erhalten Sie je nach Modulvorga-
ben bis zu vier Kreditpunkte. Vier Kreditpunkte
Auch für studentische Arbeiten gilt das Urheber- bedeuten 120 Arbeitsstunden, d. h. ca. 4 bis 6 Wo-
recht: Lesen Sie bitte das Kleingedruckte auf der chen. Diese Zeit gilt es zu planen. Versuchen Sie,
Homepage von Hausarbeiten.de. Kopien und Aus- bei der Abwägung zwischen Wunschthema und
drucke dürfen nur für den privaten und sonstigen Arbeitsbedingungen einen realistischen Mittelweg
eigenen Gebrauch angefertigt werden (§ 53 Urhe- zu finden.
berrecht). Als Benutzer/in sind Sie verantwortlich Themenstellung suchen und eingrenzen (inven-
für die Einhaltung der juristischen Vorschriften. tio): Was interessiert Sie an einem Text? Welches
Plagiate: Im Studium werden Sie ständig aufge- Erkenntnisinteresse haben Sie? Ein vorgegebenes
fordert, Auskunft zu geben über Ihre Quellen und Thema lässt wenig Spielraum für eigene Ideen.
den Gebrauch, den Sie von ihnen machen. Die Wenn möglich, formulieren Sie ein eigenes The-
Zahl der Teil- und vollständigen Plagiate nimmt ma. In der Regel wird eine Themen- oder Frage-
dramatisch zu. Das Angebot an frei verfügbaren stellung nicht isoliert am häuslichen Schreibtisch
und käuflichen Hausarbeiten wächst im Netz täg- entwickelt, sondern entsteht in der Diskussion im
lich. Alle Universitäten fordern ihre Studierenden Seminar, in der intensiven Beschäftigung mit lite-
inzwischen auf, bei größeren schriftlichen Arbei- rarischen und wissenschaftlichen Texten. Die The-

19
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

menstellung sollte so präzise wie möglich und so Titelformulierung und den Kapitelüberschriften –
eng wie nötig formuliert werden: »Eine Arbeit, die mit der Netzwerk-Technik oder dem Mind-Map-
mehr hält, als ihr Titel verspricht, überrascht den ping visualisieren und strukturieren (vgl. Stary/
Leser auf positive Weise. Eine Arbeit, die die Er- Kretschmer 2004, S. 121 ff.; Frank u. a. 2007,
wartungen enttäuscht, die ihr Titel weckt, er- S. 84 ff.). Wählen Sie die Netzwerk-Technik, ver-
scheint womöglich in einem schlechteren Lichte, binden Sie die ausgewählten Begriffe mit Relatio-
als sie eigentlich verdiente« (Sesink 2007, S. 94). nen, die die thematischen, methodischen oder
Überlegen Sie deshalb schon in dieser ersten Ar- logischen Beziehungen zwischen den Begriffen
beitsphase, wie Sie ein Thema vorstellen möchten: präzisieren: Sie können Eigenschaften benennen,
Haben Sie im ersten Schritt einen Autor und/oder Bedingungen formulieren, Begründungen geben,
Texte ausgewählt, werden Sie im zweiten Schritt – vergleichen, Schlussfolgerungen ziehen etc. Wenn
in Auseinandersetzung mit den Forschungsbeiträ- Sie ein Mind-Map entwickeln, gehen Sie von ei-
gen – entscheiden, ob Sie eine literaturhistorische, nem zentralen Begriff aus und stellen jeden neuen
eine literaturtheoretische oder eine textanalytische Aspekt in einer vom Zentrum ausgehenden Linie
Untersuchung planen. In der Sprachwissenschaft dar. Ob Sie im ersten Arbeitsschritt die klassische
können Sie eine sprachgeschichtliche oder syste- Form des Baumdiagramms oder eine andere grafi-
matische Perspektive wählen. Die Arbeitsschritte sche Form für die Visualisierung wählen, sollten
der Themenwahl, der Recherche und der Argu- Sie vom Stand der Vorarbeiten abhängig machen.
mentation sind nicht zu trennen; erst wenn Sie die Die Baumstruktur mit Stamm, Ästen und Zweigen
ausgewählten Texte und Bücher aufmerksam gele- bildet schon eine hierarchische Systematik ab. Im
sen haben, werden Sie erkennen, ob ein Text die zweiten Arbeitsschritt übertragen Sie Begriffe
im Titel vorgestellten Aspekte auch so ausführt, (und Relationen) in eine chronologische, lineare
wie Sie dies in Bezug auf Ihr Thema erwartet ha- oder hierarchische Struktur (vgl. Stary 2009). Mit
ben. Enttäuscht sind Sie, wenn Sie große Probleme diesem Arbeitsschritt legen Sie das weitere Vorge-
haben, den Text zu verstehen, sei es, weil seine hen verbindlich fest: Sie haben Methoden, Theo-
Thesen auf theoretischen Prämissen basieren, die rien und Thesen im Hinblick auf das Untersu-
Sie (noch) nicht kennen, oder weil er in einem chungsziel ausgewählt und kennen nun den Weg
Wissenschaftsjargon verfasst ist, der (zunächst) von der Titelformulierung bis zum Resümee.
völlig unverständlich ist. Wählen Sie einen der Themenstellung angemesse-
Strukturieren und gliedern (dispositio): Spätes- nen Grad der Untergliederung. In einer Arbeit von
tens jetzt sollte die Themenstellung präzisiert und 15 Seiten ist die Unterteilung des Hauptteils in
fixiert werden. Die Titelformulierung kann infor- fünf Subkapitel mit jeweils drei weiteren Subkapi-
mieren über Autor, Werk, Gattungsreferenz, Me- teln zu kleinteilig.
thodik oder Forschungsfeld. Die gelungene Formu- Einleitung: Nur Umberto Eco, der prominente
lierung des Titels ist die Visitenkarte der Arbeit, italienische Semiotiker und Bestseller-Autor,
die neugierig macht und zum Weiterlesen verlockt. kann es sich leisten, Studierenden in seinem
Im Semesteralltag landen auf den Schreibtischen auch in Deutschland wiederholt aufgelegten Rat-
der Lehrenden Dutzende Arbeiten. Mit einer rhe- geber Wie man eine wissenschaftliche Abschluß-
torisch-prägnanten und thematisch präzisen For- arbeit schreibt folgenden Rat zu geben: »Eine
mulierung gewinnen Sie auf jeden Fall schon ein- gute, endgültige Fassung der Einleitung soll errei-
mal ihre Aufmerksamkeit. Ein gut strukturiertes chen, daß der Leser sich mit ihr begnügt, alles
und formuliertes Inhaltsverzeichnis signalisiert versteht und den Rest der Arbeit nicht mehr liest«
dem Leser eine wohldurchdachte Abfolge der ein- (Eco 2010, S. 145). Eine gut strukturierte Einlei-
zelnen Kapitel und begriffliche Präzision. Wie ist tung verstärkt vielmehr das Interesse, Ihre im
die Themenstellung auf dem Titelblatt mit den Hauptteil vorgestellten Analysen und Diskussio-
Formulierungen und Fachbegriffen der einzelnen nen intensiv zu lesen. In der Einleitung werden
Kapitelüberschriften verknüpft? Wechseln Sie Fragestellung, Arbeitsthesen, die die Diskussion
nicht ständig die sprachliche Form: Eine Mischung begleitenden Forschungsbeiträge, Kriterien der
aus Frage- und Aussagesätzen sowie Nominalkon- Auswahl der Forschungsliteratur, der methodi-
struktionen verweist nicht auf ein durchdachtes sche Zugriff und die Textgrundlage vorgestellt.
Konzept. Abschließend werden die einzelnen Arbeits-
Die gesammelten Informationen und Ideen schritte, orientiert an der Struktur des Inhaltsver-
können Sie – ausgehend von den Begriffen in der zeichnisses, skizziert.

20
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

Hauptteil: Im Hauptteil führen Sie das in der Darstellung von Thesen und Antithesen eine Syn-
Einleitung angekündigte Arbeitsprojekt aus. Oft these entwickelt wird.
wollen Studierende als erstes Kapitel ein Inhalts- Beschreibungen, Definitionen und Thesen/Hy-
referat der literarischen Texte schreiben; dies ist pothesen prägen das argumentative Profil eines
überflüssig. Die genaue Kenntnis der Texte kön- Textes. Definitionen sind dann wichtig, wenn ein
nen Sie voraussetzen. Zeigen Sie am Text an ex- Begriff in der Forschungsliteratur nicht einheitlich
emplarischen Stellen auf, wie Ihre Hauptthese zu beschrieben wird, Sie also eine Arbeitsdefinition
belegen ist. Sie müssen nicht alle Textstellen an- vorstellen müssen. Der Begriff ›Groteske‹ wird
führen, entscheidend ist die plausible Auswahl zum Beispiel einerseits als literarische Subgattung
der ausgewählten Passagen. Dies gilt auch für definiert, andererseits als eine dem Text immanen-
die Forschungsliteratur. Verzichten Sie auf Para- te Schreibstrategie charakterisiert. Thesen/Hypo-
phrasierungen, wählen Sie präzise Verben für thesen bedürfen der Überprüfung, ob die zugrun-
die Vorstellung der zentralen Thesen. Mit der Ar- deliegenden Aussagen und Annahmen plausibel
beit zeigen Sie, dass Sie literarische Texte oder sind. Verweise auf Allgemeinwissen oder morali-
sprachwissenschaftliche Fragen in Auseinander- sche Schlüsse sind nicht zulässig.
setzung mit Forschungsliteratur kritisch lesen Formulieren: Satzverknüpfungen, Konjunkti-
und argumentativ überzeugend beschreiben kön- onen, Prädikate, Tempora und Wiederholungen
nen. beeinflussen die Lesbarkeit eines Textes. In kom-
Zusammenfassung: Nennen Sie das abschlie- plizierten, überlangen Satzkonstruktionen ver-
ßende Kapitel nicht einfach ›Schluss‹, sondern schwinden leicht die wichtigen Aussagen. Mit den
deuten Sie mit der Überschrift an, welche Perspek- passenden Konjunktionen geben Sie eine Lesehilfe
tive Sie wählen: Zusammenfassung, Resümee, und legen fest, wie die Aussagen der einzelnen Satz-
Ausblick. Das letzte Kapitel korrespondiert mit der teile aufeinander bezogen sind. Mit einer kausalen
Einleitung: Wird in der Einleitung die Themenstel- Konjunktion wird eine Begründung eingeleitet,
lung zunächst vom Allgemeinen (Seminarthema) disjunktive Konjunktionen verweisen auf Alternati-
zum Spezifischen (Thema der Hausarbeit) entwi- ven: entweder – oder; mit modalen Konjunktionen
ckelt, sollten Sie nun ausgehend von den Detail- werden Bedingungen bzw. Einschränkungen ein-
ergebnissen der Untersuchung wieder zu abstrak- geleitet. Mit dem Wechsel von komplexen Satzgefü-
teren, generalisierenden Aussagen kommen. Mit gen (unterordnende Konjunktionen) zur Satzreihe
einem Ausblick verweisen Sie auf mögliche weite- (nebenordnende Konjunktionen) gönnen Sie dem
re Fragestellungen und Perspektiven. Leser zudem eine kleine Verschnaufpause. Falls Sie
Argumentieren heißt begründen, Synonyme zum letzten Mal in der 8. Klasse Grammatikunter-
sind »veranschaulichen«, »verdeutlichen«, »ausle- richt hatten, sollten Sie spätestens in dieser Arbeits-
gen« und »nachweisen«. Die Argumentations- phase Ihre Handbibliothek um eine gute Gramma-
theorie und ihre Praxis sind in der Rhetorik den tik erweitern. Eine Garantie für gut formulierte und
Produktionsstufen der Erfindung (inventio) und präzise Aussagen ist damit nicht verbunden.
der Gliederung (dispositio) zugeordnet (vgl. Ott- Aktiv formulieren: Die deutsche Sprache bietet
mers 2007). Deduktion und Induktion sind die eine große Fülle an Verben, die gedankliche Tätig-
wichtigsten Grundformen wissenschaftlichen Ar- keiten beschreiben. Viele Arbeitsschritte können
gumentierens. Beim deduktiven Vorgehen werden mit Verben charakterisiert werden. In der Einlei-
auf der Basis einer detaillierten Analyse allgemei- tung werden Sie zunächst beschreiben, referieren,
ne Schlüsse gezogen. Wählen Sie hingegen einen erläutern, definieren und vorstellen, im Hauptteil
induktiven Zugang, gehen Sie von einer bestimm- vor allem dokumentieren, analysieren, hervorhe-
ten These, einer theoretischen Fragestellung aus, ben, konkretisieren, präzisieren, illustrieren, argu-
die Sie Schritt für Schritt am Text belegen. Sowohl mentieren, kommentieren, kritisieren, im Resümee
bei stärker literaturgeschichtlich ausgerichteten rekapitulieren, pointieren, abstrahieren. Wenn auf
als auch bei gattungs- oder epochenbezogenen einer Seite fünfmal die Formulierung zu lesen ist:
Themenstellungen können Sie beide Perspektiven »Der Autor sagt«, ist dies nicht nur ein Hinweis auf
wählen oder auch verbinden. Darüber hinaus die noch wenig geschulte Schreibpraxis, sondern
müssen Sie entscheiden, ob Sie die Themenstel- verweist auch auf die unzureichende analytische
lung in einer chronologischen, systematischen Lektüre der Forschungsbeiträge.
oder komparatistischen Struktur anordnen. Eine Metaphern: Auch die Wissenschaftssprache
dialektische Gliederung verlangt, dass nach der kommt nicht ohne Metaphern aus. Lexikalisierte

21
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Schreiben

Metaphern benutzen wir in vielen Bereichen: wohnheiten kritisch zu überprüfen. Den Tele-
graue Theorie, tote Sprache, Eselsohr, Bücherberg grammstil wiederum sollten Sie den Nachrichten-
etc. In den Naturwissenschaften, z. B. in der Gene- agenturen überlassen. Lesen Sie die Sätze laut vor,
tik, helfen kognitive Metaphern, komplexe und zu Hause nach dem Abendessen oder in der Ar-
unsichtbare Sachverhalte und Vorgänge anschau- beitsgruppe. Planen Sie ein paar Tage Zeit ein, in
lich zu machen. Neutral sind diese Metaphern denen Sie den Text nicht lesen und korrigieren.
nicht: Sie stellen Denkmodelle vor, interpretieren Diese Auszeit hilft, die beim Schreiben entstande-
und bewerten. Wenn Sie im Referat einen ›Black- ne Textblindheit zu neutralisieren. Dies gilt nicht
out‹ haben und darauf hinweisen, dass Ihr Ge- nur für Orthographie und Interpunktion, sondern
dächtnis wie eine Festplatte nach einer Virusatta- auch für die Übergänge zwischen den einzelnen
cke gelöscht ist, verwenden Sie Metaphern aus Kapiteln und Zusammenfassungen. Gründen Sie
technischen Bereichen. Formulierungen wie: »Die schon im ersten Semester eine Redaktions- und
These des Beitrags hat sich als Eintagsfliege erwie- Editionsgruppe. Lesen und korrigieren Sie fremde
sen« oder: »Der Verfasser hatte einen guten Rie- Texte; diese Arbeit schärft den Blick für eigene und
cher für den Text« sind indiskutabel. Wenn Sie mit fremde Texte, eine Kompetenz, die Sie in vielen
einer falschen Metapher ›Schiffbruch‹ erleiden, Berufsfeldern unbedingt brauchen.
sind Sie bei der Formulierungsarbeit ›gestrandet‹. In der Forschungsliteratur wird die Verwen-
Vermeiden Sie auch Übertreibungen (Hyperbeln), dung des Personalpronomen ›ich‹ kontrovers dis-
Untertreibungen (Litotes) und Euphemismen (vgl. kutiert. Beispiele wie »In meiner Hausarbeit zu Effi
Bünting u. a. 2000, S. 197 ff.). Briest möchte ich mich mit dem Romananfang be-
Überarbeiten: Wenn die Schreibarbeit abge- schäftigen und dessen Funktion genauer untersu-
schlossen scheint, fordert diese letzte Arbeitspha- chen« überzeugen schon beim ersten Lesen nicht.
se noch einmal besondere Konzentration und Wählen Sie einen Mittelweg und verwenden Sie
Sorgfalt. Oft werden Arbeiten abgegeben, die nicht die Ich-Perspektive sehr sparsam. Ihr Name auf
korrigiert sind. Entweder bleibt keine Zeit mehr dem Titelblatt verbürgt Ihre intellektuelle Leis-
für eine sorgfältige Überarbeitung des Textes, oder tung. Vermeiden sollten Sie auf jeden Fall die Plu-
Studierende sind – zunächst – überzeugt, die Ar- ral-Form ›wir‹, es sei denn, Sie schreiben einen
beit sei fertig. Mehrere Korrekturgänge sind jedoch Text als Gemeinschaftsarbeit. Auch dann muss die
unbedingt nötig. Überprüfen Sie, ob die argumen- individuelle Leistung deutlich gekennzeichnet
tative Struktur nachvollziehbar ist, lösen Sie lo- werden. Zurückhaltend sollten Sie mit emphati-
gische Sprünge oder Brüche auf. Haben Sie die schen Bekenntnissen sein: Lobeshymnen oder
Fachbegriffe einheitlich verwendet? Wenn Sie »Me- spöttische Kritik gehören nicht in eine Hausarbeit.
tapher« meinen und »Symbol« schreiben, müssen Bewertungskriterien: Auch in wissenschaftli-
Sie unbedingt noch einmal nachlesen, wie die Be- chen Texten können Sachebene und Darstel-
griffe in der Forschungsliteratur verwendet wer- lungsebene unterschieden werden. Auf der Sach-
den. Stilblüten und falsche Metaphern irritieren ebene angesiedelt sind konzeptionelle und
nicht nur in Hausarbeiten. Streichen Sie Wieder- methodische Kriterien wie sachlich-inhaltlich an-
holungen (»Wie schon erwähnt!«) und überflüs- gemessene Darstellung des Themas, Strukturie-
sige Füllwörter (»natürlich«, »normalerweise«), rung, Perspektivierung und Argumentation; auf
kontrollieren Sie Zitate und Quellenangaben sowie der Darstellungsebene äußere Form, sprachlich-
auch die Vollständigkeit und Systematik des stilistische Gestaltung, fachliche und grammati-
Literaturverzeichnisses. Bilden Sie aus einzelnen sche Korrektheit (vgl. Pospiech 2005, S. 232). Die
Sätzen Abschnitte; ein Abschnitt ist eine gedankli- Schreibdidaktiker Otto Kruse und Eva-Maria Ja-
che, argumentative Einheit. kobs nennen ein ganzes Bündel an Kompetenzen,
Glätten Sie sprachliche Stolpersteine, trennen das für eine gute Hausarbeit aktiviert werden
Sie sich von umgangssprachlichen Formulierun- muss: Textsortenkompetenz, Stilkompetenz, rhe-
gen: Sachlichkeit und Klarheit sind zentrale Kri- torische Kompetenz, die Fähigkeit zur Herstellung
terien für gutes Schreiben. Spätestens beim von Text-Text-Bezügen sowie Lese- und Rezepti-
Korrekturlesen fallen auch Satzkonstruktionen onskompetenz (vgl. Kruse/Jakobs 1999).
auf, die syntaktische Widersprüche enthalten. Vor allem in der ersten Phase des Studiums
Falls Sie immer schon Bandwurm- oder Schachtel- ›passiert‹ es, dass Sie eine Arbeit mit dem Kommen-
sätze und komplexe Nominalstrukturen bevorzugt tar »Überarbeiten« zurückbekommen. Falls die Ar-
haben, nutzen Sie jetzt die Gelegenheit, diese Ge- beit die Modulprüfung ist, ist dies nach der Prü-

22
1.3
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Die Hausarbeit

fungsordnung in der Regel nicht zulässig. Auch Schreibzentren: An vielen Universitäten sind
wenn Sie zunächst schockiert und frustriert sind: inzwischen Schreiblabors oder Schreibwerkstätten
Nehmen Sie die Anmerkungen und Kommentare etabliert, die bei massiven Schreibstörungen und
zum Anlass, diese kritisch zu reflektieren und her- -blockaden beraten und Hilfestellungen geben.
auszufinden, in welchem Bereich Sie nachbessern Studienbegleitend werden Tutorien und Übungen
müssen. Je früher Sie eine detaillierte und begrün- angeboten, in denen Formen und Strategien wis-
dete Fehleranalyse bekommen, desto gezielter senschaftlichen Schreibens, Präsentationstechniken
können Sie daran arbeiten, die Mängel zu reduzie- und rhetorische Kompetenzen vermittelt werden.
ren. Auch die Note 4 (5 Notenpunkte) sollte Sie Gedruckte Ratgeber für das wissenschaftliche Ar-
nachdenklich machen: Sie haben zwar bestanden, beiten sollten Sie jedoch nicht als ›Knigge‹ für das
doch Anlass zu übergroßer Freude haben Sie nicht. Studium begreifen. Zwar werden in vielen aktuel-
Die Note 4 signalisiert, dass Ihre Arbeit noch er- len Ratgebern ›Umgangsformen‹ für Texte und
hebliche Mängel aufweist, die Sie keineswegs ig- Textsorten beschrieben und Regeln formuliert, wie
norieren sollten. Falls Sie Kommentare nicht ver- Studierende mit den Texten kommunizieren (le-
stehen und Korrekturzeichen nicht kennen, fragen sen, reden, schreiben) können. Fixe und ultimati-
Sie in der Besprechung nach. Die gängigen Korrek- ve Rezepte werden jedoch mit guten Gründen
turzeichen mit Erläuterungen finden Sie im Duden meist nicht gegeben. In den guten Ratgebern wer-
Rechtschreibung im Abschnitt »Textkorrektur«. Ihre den Sie darauf hingewiesen, dass neben dem stän-
Kenntnis wird bei der professionellen Redaktion in digen Schreibtraining am häuslichen Schreibtisch
vielen Berufen vorausgesetzt. oder in der Bibliothek auch die Sekundärtugenden
Schreibblockaden: »Schreiben ist schwierig« Disziplin (auch: Ausdauer, Beharrlichkeit), Pünkt-
(Narr/Stary 1999, S. 10). Diese banale Erfahrung lichkeit und Zuverlässigkeit, zugleich aber Neugier
macht fast jeder im Lauf des Studiums. Die eben und Kreativität den Studienerfolg entscheidend be-
beschriebene Situation, die Besprechung einer einflussen.
missglückten Hausarbeit, führt manchmal dazu, Der Philosoph Walter Benjamin hat die hand-
dass die Unbefangenheit beim Schreiben verloren- werklichen Aspekte des Schreibens in einem klei-
geht. Der Übergang vom schulischen zum wissen- nen Beitrag, »Die Technik des Schriftstellers in
schaftlichen Schreiben ist eine enorme Herausfor- dreizehn Thesen« (Einbahnstraße, 1928), charak-
derung. Schwierig ist vor allem der Übergang vom terisiert. Die VII. These sollte jeder Schreibende,
Lesen und Exzerpieren zum Strukturieren, Argu- der uninspiriert am Schreibtisch sitzt, unbedingt
mentieren und Formulieren. Dann häufen sich die beherzigen: »Höre niemals mit dem Schreiben auf,
Gründe, warum der Schreibprozess ins Stocken weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der
gerät. Diese Gründe können sowohl in einer wenig literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn
motivierenden Arbeitsumgebung liegen als auch ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) ein-
in der wenig zielorientierten Vorbereitung, der un- zuhalten oder das Werk beendet ist.« Auch Schrei-
klaren Themenstellung (vgl. Frank u. a. 2007; Kru- ben ist, so einsam und verlassen Sie sich vielleicht
se 2007). In den modularisierten Studiengängen am Schreibtisch fühlen mögen, reine Interaktion;
steigt zudem der Druck, in immer kürzerer Zeit Sie korrespondieren mit den Primär- und Sekun-
prüfungsrelevante Texte produzieren zu müssen. därtexten, jede Fußnote verbindet Ihren Text mit
Es ist kein Zufall, dass das Angebot an Ratgebern anderen Texten. Schreiben Sie wenn möglich täg-
mit scheinbar sicheren Tipps ständig zunimmt. lich und setzen Sie sich realistische Ziele.

Weiterführende Literatur
Anz, Thomas/Baasner, Rainer (Hg.): Literaturkritik – Ge- Delabar, Walter: Literaturwissenschaftliche Arbeitstechni-
schichte, Theorie, Praxis. München 2004. ken. Eine Einführung. Darmstadt 2009.
Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Frank, Andrea/Haacke, Stefanie/Lahm, Swantje: Schlüssel-
Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 42005. kompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf.
Bünting, Karl-Dieter/Bitterlich, Axel/Pospiech, Ulrike: Stuttgart 2007.
Schreiben im Studium. Ein Trainingsprogramm. Franke, Fabian/Klein, Annette/Schüller-Zwierlein, André:
Frankfurt a. M. 2000. Schlüsselkompetenzen: Literatur recherchieren in
Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußar- Bibliotheken und Internet. Stuttgart/Weimar 2010.
beit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeiten in Fröhlich, Gerhard: »Plagiate und unethische Autorenschaf-
den Geistes- und Sozialwissenschaften. Stuttgart 132010. ten«. In: Information. Wissenschaft & Praxis 57 (2006) 2,
S. 81–89.

23
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

Gebhard, Walter: »Für eine Kultur des Protokolls. Zur Sprachwerk. Zur Begründung und Umsetzung eines
didaktischen Bedeutung einer wenig geliebten feedbackorientierten Lehrgangs zur Einführung in das
Textsorte«. In: Michael Niehaus/Hans-Walter wissenschaftliche Schreiben. Frankfurt a. M. 2005.
Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Sesink, Werner: Einführung in das wissenschaftliche
Funktionen einer Textsorte. Frankfurt a. M. 2005, Arbeiten. Mit Internet, Textverarbeitung und Präsenta-
S. 271–287. tion. München 72007.
Grafton, Anthony: Die tragischen Ursprünge der deutschen Sittig, Claudius: Arbeitstechniken Germanistik. Stuttgart
Fußnote. Berlin 1995. 2008.
Kruse, Otto: Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Stadter, Andrea: »Der Essay als Ziel und Instrument
Schreibblockaden durchs Studium. Frankfurt a. M./ geisteswissenschaftlicher Schreibdidaktik. Über-
New York 122007. legungen zur Erweiterung des universitären Textsor-
– /Eva-Maria Jakobs: »Schreiben lernen an der Hoch- tenkanons«. In: Konrad Ehlich/Angelika Steets (Hg.):
schule: Ein Überblick«. In: Otto Kruse/Eva-Maria Wissenschaftliches Schreiben lehren und lernen. Berlin/
Jakobs/Gabriela Ruhmann (Hg.): Schlüsselkompetenz New York 2003, S. 65–92.
Schreiben. Konzepte, Methoden, Projekte für Schreibbe- Stary, Joachim: »Wissenschaftliche Literatur lesen und
ratung und Schreibdidaktik an der Hochschule. Neuwied verstehen«. In: Norbert Franck/Joachim Stary (Hg.):
1999. Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens. Eine
Narr, Wolf-Dieter/Stary, Joachim (Hg.): Lust und Last des praktische Anleitung. Paderborn/München/ Wien/
wissenschaftlichen Schreibens. Hochschullehrerinnen Zürich 142009, S. 71–96.
und Hochschullehrer geben Studierenden Tips. Frankfurt – /Kretschmer, Horst: Umgang mit wissenschaftlicher
a. M. 1999. Literatur. Eine Arbeitshilfe für das sozial- und geistes-
Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart 22007. wissenschaftliche Studium. Frankfurt a. M. 2004.
Pospiech, Ulrike: Schreibend schreiben lernen. Schreibend
schreiben lernen. Über die Schreibhandlung zum Text als

1.4 | Berufsfelder für Germanist/innen


Wenn man Medizin studiert, wird man – voraus- Im Bachelor-Studiengang wählen Sie an vielen
sichtlich – Arzt. Studiert man Jura, sind die beruf- Universitäten neben dem Hauptfach Germanistik
lichen Perspektiven schon differenzierter: im ein Nebenfach. Viele Studierende kombinieren
Staatsdienst, als selbständiger Anwalt oder als Ju- Germanistik mit einer weiteren Philologie (Anglis-
rist in einem Unternehmen. Beginnt man ein Ger- tik, Amerikanistik, Romanistik, Slawistik oder Si-
manistik-Studium, wird sofort die Frage nach den nologie), mit Politik- oder Sozialwissenschaften
Zukunftsperspektiven gestellt. Die Bundesagentur und in zunehmender Zahl mit Betriebswirtschafts-
für Arbeit führt neben den fachlichen Kompeten- lehre oder Jura. Im Laufe des Studiums werden Sie
zen (einer Liste mit Fächern und wenigen Arbeits- sich sowohl im Haupt- als auch im Nebenfach spe-
bereichen) auf ihrem Internet-Portal folgende Soft zialisieren; eine gute Grundlage für diese Entschei-
Skills für Literaturwissenschaftler/innen an: Denk- dung kann zum Beispiel ein Praktikum sein.
vermögen(!), Flexibilität, Kontaktfähigkeit, Lern- Praktikum: In fast allen Studiengängen ist ein
bereitschaft, Organisationsfähigkeit, pädagogische berufsvorbereitendes Praktikum zu absolvieren,
Fähigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Einen oder es kann im Optionalbereich gewählt werden.
guten Überblick bietet der 2008 von Vera Nünning Im Praktikum können Studierende die im Studium
herausgegebene Band Schlüsselkompetenzen: Qua- erworbenen Kompetenzen erproben und erwei-
lifikationen für Studium und Beruf. Neben den tern, sie sammeln erste berufspraktische Erfah-
studienspezifischen Kompetenzen werden auch rungen. In der Bücherstadt Frankfurt ist der An-
»Moderationskompetenzen und Verhandlungs- sturm auf die begrenzten Praktikumsplätze in den
führung«, »Interkulturelle Kompetenz« und »Sozia- großen Verlagen enorm. Voraussetzungen für die
le Kompetenzen« anschaulich und mit Beispielen Bewerbung sind ein mit sehr gutem Erfolg abge-
aus der Praxis vorgestellt. Auch die Text- und Dar- schlossenes Grundstudium, gute Fremdsprachen-
stellungskompetenz befähigt Sie, in divergieren- kenntnisse und ein Quäntchen Glück. Bei attrakti-
den Berufsfeldern so unterschiedlichen Textsorten ven Angeboten, die den zeitlichen Rahmen der
wie Geschäftsberichten, Politikerreden, Gesetzes- vorlesungsfreien Zeit überschreiten, sollten Sie
vorlagen oder journalistischen Berichten Ihre trotzdem nicht zögern, zuzusagen.
›Handschrift‹ einzuschreiben. Berufsfeld Wissenschaft/Universität: Wenn Sie
vorhaben, die wissenschaftliche Laufbahn einzu-

24
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

schlagen, werden Sie nach dem Bachelor- zu- werber/innen auf Stellen in den Medien und im
nächst den Master-, dann den Doktortitel anstre- Literatur- und Kulturmanagement gehören Sie
ben. Spätestens im Master-Studiengang müssen dann, wenn Sie zuvor im Praktikum bereits gute
Sie sich spezialisieren; Sie wählen entweder einen Kontakte knüpfen konnten. Nicht zu allen Berufs-
der klassischen Schwerpunkte der Germanistik feldern, die zum Beispiel eine sprachwissen-
oder einen der vielen neuen Master-Studiengänge schaftliche Ausbildung voraussetzen, haben Sie
(z. B. Internationale Literaturen – Uni Tübingen, nach Abschluss des Studiums Zugang. Die Com-
Kognitive Linguistik – Uni Frankfurt, Kultur und puterlinguistik kann oft erst als Spezialisierung im
Wirtschaft: Germanistik – Uni Mannheim). Fragen Master-Studiengang gewählt werden. Je nach
Sie Ihre Professor/innen nach ihren Erfahrungen. Zahl und Qualifikation der Mitbewerber werden
Der lange Weg in die Wissenschaft verlangt neben Sie im Verlagswesen als Bachelor-Absolvent keine
besten Qualifikationen Ausdauer und Disziplin. Chance auf Einstellung haben.
Wenn Sie nach dem Master-Examen eine befristete Mehr denn je werden Germanist/innen in Zu-
Stelle als »Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in« er- kunft auch in Berufsfeldern tätig werden, die bis-
obern, gehören Sie bereits zum privilegierten her nicht zu den klassischen Arbeitsgebieten
Universitätsclub. Etwa 8 bis 10 Jahre können Sie gehörten. Thomas Gottschalk (Deutschlehrer
im Durchschnitt für Dissertation und Habilitation und Fernsehmoderator), Michael Groß (promo-
rechnen, zumal wenn Sie Arbeitsprojekte gewählt vierter Literaturwissenschaftler, Olympiasieger im
haben, die mit intensiver Archiv- und Quellenar- Schwimmen und Unternehmensberater) und
beit verbunden sind. Mit Mitte dreißig können Sie Wolfgang Thierse (Literatur- und Kulturwissen-
im günstigen Fall auf das Bewerbungskarussell um schaftler, Politiker und Vizepräsident des Deut-
eine Professur aufspringen. Werden Professuren schen Bundestages) sind prominente Beispiele,
mit dem Schwerpunkt »Neuere deutsche Literatur« die zeigen, dass nicht die eine lebenslange Ar-
ausgeschrieben, bewerben sich ca. 80 bis 120
hoch qualifizierte Wissenschaftler/innen. Beispiele für Berufsfelder
Außeruniversitäre Berufsfelder: Dieser lange
Weg, an dessen Ziel keineswegs ein sicherer Ar- Sprachwissenschaft
beitsplatz wartet, ist für viele Studierende ein ent- N Klinische Linguistik (Diagnostik und
scheidender Grund, nach dem Studium einen Ar- Therapie von Sprachstörungen)
beitsplatz außerhalb der Universität zu suchen. N Sprachheilpädagogik / Logopädie
Germanist/innen werden überall dort gebraucht, N Maschinelle Sprachverarbeitung
wo gesprochene und/oder schriftliche Sprache im (Computerlinguistik)
Zentrum der Berufstätigkeit steht. Das Germanis- N Forensische Linguistik
tik-Studium ist keine Berufsausbildung, es berei- Literaturwissenschaft
tet auf die Übernahme von Tätigkeiten in vielen N Medien (Rundfunk, Fernsehen, Internet –
kulturellen, öffentlichen und sozialen Bereichen z. B. Literaturkritik, Redaktion)
vor. Wenn Sie sich auf eine Stelle im Bibliotheks- N Literatur- und Kulturmanagement (Litera-
wesen bewerben wollen, müssen Sie in der Regel turhäuser, Literaturveranstaltungen etc.)
nach dem Examen eine zusätzliche Ausbildung N Theater / Dramaturgie
für den höheren Bibliotheksdienst an wissen- Sprach- und Literaturwissenschaft
schaftlichen Bibliotheken absolvieren. Falls Sie N Medien (Theater, Rundfunk, Fernsehen)
auf Dauer eine Stelle im journalistischen Bereich N Archive / Dokumentationswesen / Biblio-
suchen, ist auch ein Aufbaustudiengang zu emp- theken / Museen
fehlen, der berufsspezifische Kenntnisse und N Übersetzen / Dolmetschen
Kompetenzen vermittelt. Wissenschaftliche Insti- N Bildungseinrichtungen und Sprach-
tutionen wiederum suchen vor allem Mitarbei- schulen
ter/innen, die ein spezifisches fachliches Profil N Verlagswesen (Buch, Zeitung/Zeitschrift)
bieten, zum Beispiel mit dem Schwerpunkt Frühe N Werbung / Public Relations
Neuzeit (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel) N Verwaltung / Behörden / Politik
oder deutsche Literatur von der Aufklärung bis N Privatwirtschaft (Interne Fortbildung,
zur Gegenwart (Deutsches Literaturarchiv Mar- Öffentlichkeitsarbeit etc.)
bach). Diese Archive informieren auch online N Beratungsunternehmen
über offene Stellen. Zu den aussichtsreichen Be-

25
1.4
Schlüsselkompetenzen und Berufsfelder
Berufsfelder für
Germanist/innen

beitsstelle, sondern viele berufliche Etappen jen- Bewerben: Bereiten Sie sich auf die Zeit nach
seits der germanistischen Klassiker Lektorat, Re- dem Studium vor: Lernen Sie Stellenausschreibun-
daktion oder Archiv möglich sind und sein gen lesen, schreiben Sie Bewerbungen und proben
werden (vgl. Nünning 2008, S. 308 ff.; Rathmann Sie Bewerbungsgespräche. Nutzen Sie alle Gele-
2000, S. 182–237). Ob Sie als Literaturredakteur genheiten, potentielle zukünftige Kolleginnen und
bei der Frauenzeitschrift Brigitte, als Marketingex- Kollegen über ihren Weg in den Beruf zu befragen.
pertin bei Opel, Pressesprecherin beim Deutschen Oft ist der persönliche Kontakt die entscheidende
Fußball-Bund oder als Verhandlungsprofi bei der Voraussetzung für eine Empfehlung und eine Ein-
Unternehmensberatung Boston Consulting arbei- ladung. Auch in den Geisteswissenschaften haben
ten: Die im Studium erworbenen fachlichen Qua- Netzwerke eine zentrale Funktion als Schaltstelle
lifikationen und fachübergreifenden Schlüssel- zwischen akademischer Ausbildung und Berufsle-
kompetenzen bilden eine solide Basis für viele ben. An vielen Universitäten übernehmen Alumni-
Berufsfelder. Vereine diese Aufgaben.

Weiterführende Literatur
Nünning, Vera (Hg.): Schlüsselqualifikationen: Qualifikatio- »Examen – und dann in welchen Beruf?« mit Beiträgen
nen für Studium und Beruf. Stuttgart/Weimar 2008. u. a. von Felicitas Hoppe, Sybille Cramer und Wolfgang
Rathmann, Thomas (Hg.): Texte, Wissen, Qualifikationen. Thierse).
Ein Wegweiser für Germanisten. Berlin 2000 (Kapitel:
Gabriele Rohowski

26
II. Sprachwissenschaft
1
Sprachwissenschaft

1 Einleitung
Stellen Sie sich vor, Sie müssen die folgenden Sät- Der Satz in (1b) wurde von Noam Chomsky,
ze beurteilen. Was beobachten Sie? dem Begründer der generativen Grammatik, 1957
in die sprachwissenschaftliche Diskussion einge-
(1) a Kleine, anhängliche Katzen schlafen gut. bracht, um zu zeigen, dass Bedeutung und Gram-
b Farblose, grüne Ideen schlafen wütend. matik, also Form und Funktion der Bestandteile
des Satzes, unabhängig voneinander sind. Beide
Wir sind uns sicher einig, dass Satz (1a) normal Sätze in (1) haben dieselbe Form: In beiden folgt
klingt. Bei Satz (1b) dagegen stimmt schon auf ein Nomen auf zwei Adjektive. Dem Nomen folgt
den ersten Blick etwas nicht. Satz (1a) ist sinn- jeweils ein Verb und dem Verb ein Adverb; diese
voll, wir können uns zu diesem Satz eine konkrete Elemente haben in beiden Sätzen dieselbe Funkti-
Situation vorstellen und diesem Satz dann zustim- on. Der Unterschied zwischen (1a) und (1b) liegt
men oder ihn bestreiten. Satz (1b) erscheint da- in der Tatsache, dass der eine Satz sinnvoll ist, der
gegen sinnlos. Das ist jedem Muttersprachler so- andere aber auf den ersten Blick sinnlos.
fort klar. Sich zu dem Satz eine konkrete Situation Die Sätze in (1) sind also grammatisch, aber
vorzustellen, fällt schwer. Unsere erste Reaktion: unterscheiden sich in der Sinnhaftigkeit.
Ideen können weder schlafen noch wütend sein. Betrachten Sie nun die Sätze in (2). Was fällt
Und eigentlich schlafen nur Tiere und Menschen. hier auf?
Und wie kann etwas grün und zugleich farblos
sein? Das ist unmöglich! Satz (1b) enthält dem- (2) a Katzen gut klein schlafen anhänglich.
nach einen Widerspruch. Wir können diesen Satz b Ich montags arbeiten müssen.
auf Anhieb nicht verstehen, und daher können wir
auch der Information dieses Satzes weder zustim- Wir sind uns vermutlich wiederum einig, dass mit
men noch sie ablehnen. den Sätzen in (2) ebenfalls etwas nicht stimmt.
Eine Interpretation von (1b) wäre höchstens Wir könnten sagen: Das ist kein Deutsch. Was
denkbar, wenn man sich den Satz als Teil eines nicht stimmt, ist also etwas anderes als das, was
Gedichts vorstellt. Die Zeile bedürfte dann aber mit (1b) nicht stimmt. Die Sätze in (2) sind un-
der Auslegung oder Uminterpretation. Es könnte grammatisch; Form und Funktion der Wörter
sich um eine Metapher handeln. Dem Resultat der stimmen nicht. (2a) ist einfach Wortsalat. Eine Äu-
Uminterpretation könnten wir dann zustimmen ßerung wie (2b) haben wir vielleicht schon einmal
oder auch nicht, es sei denn, auch die Auslegung gehört: von einem Sprecher, der Deutsch nicht als
oder Uminterpretation ist ›nur‹ metaphorisch zu Muttersprache spricht, sondern erst als Erwachse-
verstehen. ner gelernt hat. Die Form von (2b) kann leicht
repariert werden, so dass der Satz verständlich
wird: Ich muss montags arbeiten. Für die Repara-
Raoul Schrott und Arthur Jacobs über tur von (2a) müssten dagegen fast alle Wörter um- Interpretationsversuch
»Farblose, grüne Ideen schlafen wütend« gestellt und anders flektiert (d. h. gebeugt) werden.
»›grün‹ kann lexikalisch auch ›jung, unausgego- Sprachwissenschaftler/innen interessieren sich da-
ren‹ bedeuten, ›farblos‹ auch ›langweilig und für, woran es genau liegt, dass Sätze grammatisch
charakterlos‹; ›Idee‹ lässt sich als Personifikation oder ungrammatisch sind, sinnvoll oder nicht
auffassen, die das anthropomorphisierende Ad- sinnvoll erscheinen. Was beobachten wir bei den
verb ›wütend‹ verstärkt; und ›schlafen‹ lässt sich Sätzen in (3)?
als konnotativer Ausdruck für eine noch nicht
realisierte Potentialität begreifen. Mit ein wenig (3) a Berta schneidet Marianne die Haare.
semantischer Feinabstimmung – über genau je- b Marianne bekommt von Berta die Haare geschnitten.
nes Prozedere, mit dem man auch Gedichte in-
terpretiert – gelangt man zur durchaus sinnvol- Beide Sätze sind grammatisch und sinnvoll. Darü-
len Aussage: Undefiniert unausgegorene Ideen ber hinaus erkennt jeder Muttersprachler des
stecken voll unbewusster Aggression.« (Frank- Deutschen, dass es einen systematischen Zusam-
furter Allgemeine Zeitung 2.3.2011, S. N3) menhang zwischen diesen Sätzen gibt. Das Dativ-
objekt Marianne im ersten Satz ist das Subjekt

29
1
Einleitung

Marianne im zweiten. Das Subjekt des ersten Sat- N Gesellschaftsschicht/Gruppe: Die verwendete
zes Berta wird zu einem Ausdruck mit von im Sprache kann abhängig sein von der Gruppe, in
zweiten. Und das ist generell so, unabhängig da- der sie gesprochen wird. Man spricht dann von
von, was man als Subjekt oder Dativobjekt ein- einer Gruppensprache (auch Soziolekt). Be-
setzt. Die beiden Sätze unterscheiden sich nur in kannt sind Jugendsprachen wie z. B. der soge-
der Art, wie die Ausdrücke kombiniert werden. nannte Ethnolekt oder Fachsprachen in der
Einige von uns mögen Sätze wie (3b) nicht Wissenschaft.
schön finden. Darum geht es der Sprachwissen- N Ort des Sprachgebiets: Die verwendete Spra-
schaft jedoch nicht. Für die Sprachwissenschaftler che kann abhängig sein vom Ort, an dem sie
ist interessant, dass es die Konstruktion in (3b) gesprochen wird. Ortsgebundene Sprachformen
(das sog. Rezipienten-Passiv) überhaupt gibt. Sie werden als Dialekte bezeichnet.
möchten insbesondere den Zusammenhang dieser N Erwerbstyp: Die verwendete Sprache unter-
Konstruktion mit dem Aktivsatz in (3a) erklären scheidet sich danach, ob sie von erwachsenen
und richtig vorhersagen, unter welchen Bedingun- Muttersprachlern gesprochen wird oder von
gen man das Rezipienten-Passiv bilden kann, ob Kindern, die sich noch im Spracherwerbspro-
es andere Verben als bekommen gibt, die sich zess befinden, oder von erwachsenen Nicht-
ebenfalls zur Passivbildung eignen, etc. Muttersprachlern, die die Sprache noch nicht
Grammatik und Norm Fragen der Sprachnorm, also danach, was beherrschen (s. Beispiel 2b).
»gutes und richtiges Deutsch« ist, interessieren N Sprachstadium: Sprache kann modern oder
Sprachwissenschaftler/innen weniger als Politi- altmodisch sein. Dieses Kriterium kann sowohl
ker und Sprachpfleger. Über den richtigen die Grammatikalität wie auch die Wortwahl be-
Sprachgebrauch, den wir in Gesetzestexten, Wi- treffen. Diese Variation betrifft die Variation ei-
kipedia-Artikeln oder Kochbüchern zum Beispiel ner Sprache im Laufe der Zeit. Von der Zeit
gewöhnt sind, entscheiden Normen, die sich hängt auch ab, was als modern gilt und was
meistens über Konventionen herausbilden. Na- nicht.
türlich setzt diese Ausdrucksweise Grammatika- N Im Zusammenhang mit Sprachvariation spricht
lität voraus. Die Variante der deutschen Sprache, man statt von Sprachen von Varietäten, zu de-
die diesen Normen folgt, gilt als das Hochdeut- nen sowohl die Standardsprache, also das
sche. Es gibt jedoch selbst im Hochdeutschen Hochdeutsche, als auch Soziolekte und Dia-
bezüglich der Normen offizielle Zweifelsfälle; lekte sowie historische Varianten zu zählen
zudem bestehen bei jedem Sprecher mehr Unsi- sind. Wir sind alle mehrsprachig insofern, als
cherheiten als gemeinhin angenommen. Würden wir mühelos zwischen einzelnen Varietäten hin
Sie beispielsweise eher die E-Mail oder das E- und her wechseln können. Schon Kinder sind
Mail sagen? Würden Sie Sätze wie diesen akzep- sich im Klaren darüber, dass ein Gespräch mit
tieren: Er hatte keine Zeit, weil er musste noch für den Eltern oder einer Lehrperson eine andere
die Klausur lernen? Sprache erfordert als die Unterhaltung mit Al-
Normative (präskriptive) Grammatiken enthal- tersgenossen. Ebenso können Kinder, die mehr-
ten Vorschriften über die korrekte Verwendung sprachig aufwachsen, mühelos ihre Sprache an
von Sprache. Sie haben im Wesentlichen die Funk- den Gesprächspartner anpassen (vgl. Tracy/
tion, bestimmte Varianten einer Sprache als gram- Gawlitzek-Maiwald 2000).
matisch oder historisch korrekt, als ›logisch‹ oder Implizites Wissen: Sprache ist ein wesentliches
ästhetisch höherwertig auszuzeichnen. Tatsäch- Merkmal, das das Menschsein von anderen Exis-
lich ist aber zwischen verschiedenen Sprechern tenzformen (zum Beispiel im Tierreich) unter-
und Schreibern immer eine große sprachliche Vari- scheidet. Erfahren wir also etwas über die mensch-
ation zu beobachten. Das heißt, was als richtig liche Sprache, dann erfahren wir auch etwas über
gilt, ist ein ideelles Konstrukt. uns. Als Sprecher/innen einer Sprache verfügen
Dimensionen der Variation: Sprachliche Varia- wir ganz offensichtlich über Wissen, das uns nicht
tion ist durch die folgenden Faktoren bestimmt: nur dazu befähigt, Äußerungen zu verstehen und
Faktoren N Stilebene/Register: Die geschriebene Sprache zu produzieren, sondern auch dazu, Urteile über
sprachlicher Variation ist von der gesprochenen Sprache zu unter- Sprache zu fällen, wie in den einleitenden Beispie-
scheiden. Genauso ist eine Sprache mit vulgä- len illustriert. Dieses Wissen ist einem Mutter-
ren Ausdrücken von gehobener oder besonders sprachler in der Regel nicht bewusst: Es ist impli-
höflicher Ausdrucksweise zu unterscheiden. zit. Mindestens eine Sprache können wir einfach

30
1
Einleitung

sprechen, verstehen und beurteilen. Wir kennen Zur Vertiefung


die Regeln, ohne dass uns jemand diese explizit
beigebracht hätte und ohne dass wir diese Regeln Kompetenz und Performanz
alle beschreiben könnten. Alle Menschen haben in Bezug auf ihre Erstsprache eine bestimmte Fähigkeit,
Die Situation ist vergleichbar mit dem Ballwurf. die sog. Sprachkompetenz. Diese Fähigkeit erlaubt es ihnen, sprachliche Ausdrü-
Wir alle sind ab einem bestimmten Alter in der cke zu bilden und zu verstehen. Der Begriff der Sprachkompetenz stammt von
Lage, einen Ball zu werfen (wenn die physiologi- Noam Chomsky (1965). Das implizite Sprachwissen ist von seiner konkreten An-
schen Voraussetzungen gegeben sind) oder zu fan- wendung abzugrenzen, der Performanz. Nur in der Sprachverwendung lässt
gen. Aber kaum jemand ist in der Lage zu sagen, sich das verborgene sprachliche Wissen studieren. Sätze, die in der Kommunika-
wie genau er oder sie das macht. Wir können es tion verwendet werden, sind Realisierungen der Sprachkompetenz.
einfach. Genauso, wie wir einfach nur feststellen, Bereits Ferdinand de Saussure, der Begründer des Strukturalismus, unterscheidet
dass es uns möglich ist, einen Ball zu werfen und in seinem Cours de linguistique générale (1916) verschiedene Sprachbegriffe:
zu fangen, beobachten wir, dass es uns möglich Er differenziert zwischen
ist, zu sprechen, Sprache zu verstehen und zu be- N langage, der »Fähigkeit menschlicher Rede«
urteilen. N langue, dem Sprachsystem
Die Sprachwissenschaft ist dem Geheimnis N parole, dem konkreten Sprechen
auf der Spur, wie Sprache funktioniert, welche Dabei entsprechen die Begriffe langage und parole in etwa den Begriffen ›Kompe-
Regeln zu grammatischen Äußerungen führen tenz‹ und ›Performanz‹ bei Chomsky, während der Begriff langue (verstanden als
und wie Sprache in der Kommunikation verwen- abstraktes einzelsprachliches Zeichen- und Regelsystem) keine unmittelbare Ent-
det wird. Sie liefert die Fachsprache für die Un- sprechung bei Chomsky hat.
tersuchung. Die kognitive Linguistik generativer Prägung hat das Erkenntnisinteresse vom
abstrakten Sprachsystem hin zum individuellen Sprachvermögen verschoben.
Definition Chomsky (1986) unterscheidet daher zwischen I- und E-Sprache: Das ›I‹ im Be-
griff I-Sprache steht für individuell, intern und intensional. Damit ist das im Erst-
Die   Sprachwissenschaft (auch Linguistik, spracherwerb erworbene, mentale Wissen gemeint, das einen kompetenten Spre-
von lat. lingua: Sprache, Zunge) ist diejenige cher ausmacht. Das ›E‹ im Begriff E-Sprache steht für extern, die E-Sprache
Disziplin, welche die menschliche Sprache entspricht in etwa der Sprachproduktion, also z. B. den Gesprächen oder Texten,
untersucht. in denen eine Sprache sich materialisiert. Das eigentliche Untersuchungsobjekt
der kognitiven Linguistik ist die I-Sprache, da sie die Sprachfähigkeit erforscht.
Die E-Sprache ist aber auch relevant, da manchmal nur durch sie der Zugang zur
Wissenschaft: Bei wissenschaftlichen Untersu- I-Sprache möglich ist. Das gilt z. B. für historische Sprachstufen: Da es keine
chungen unterscheidet man üblicherweise einen Sprecher des Althochdeutschen mehr gibt, die wir fragen könnten, ob eine be-
Objektbereich, eine Perspektive, unter der die Un- stimmte Form oder Konstruktion für sie grammatisch ist, sind wir auf die über-
tersuchung erfolgt, und eine oder mehrere typi- lieferten Textzeugnisse angewiesen, um die Grammatik des Althochdeutschen zu
sche Methoden, die für die wissenschaftliche Tä- rekonstruieren.
tigkeit verwendet werden. Die Erkenntnisse über
den Objektbereich werden zu einer Theorie zu-
sammengefasst. Wendet man diese Kriterien auf Die sprachlichen Daten können experimentell er- Linguistik als Wissenschaft
die Disziplin der Sprachwissenschaft an, ergibt zielt werden oder durch Selbstbeobachtung (Intro-
sich folgende Charakterisierung: spektion) zustande kommen. Sie können aber
N Objektbereich: Der Gegenstand der Untersu- auch in mündlicher oder schriftlicher Form schon
chung sind sprachliche Ausdrücke, also Wortbe- vorliegen. Insbesondere für historische Sprachstu-
standteile, Wörter, Wortsequenzen, Sätze oder fen ist man auf die überlieferten Textzeugnisse an-
Texte bzw. Gespräche. gewiesen.
N Perspektive: Die sprachlichen Ausdrücke kön- N Die Daten werden segmentiert (in kleinste
nen im Hinblick auf ihre verschiedenen Eigen- sprachliche Einheiten zerlegt), klassifiziert (die
schaften untersucht werden: die Lautgestalt der kleinsten Einheiten werden zu Klassen mit glei-
Ausdrücke, ihre Bedeutung, die Art, wie die Aus- chen Eigenschaften zusammengefasst) und im
drücke kombiniert werden, ihre Verwendung in Rahmen der verwendeten Theorie analysiert. Ge-
der Kommunikation durch den Menschen, die his- sucht wird jeweils nach Mustern und Regeln, die
torische Entwicklung, ihr Erwerb etc. den Objektbereich charakterisieren.
N Methode: Erkenntnisse werden durch die Be- N Theorie: Ziel der Analyse ist eine Beschreibung
obachtung sprachlicher Phänomene gewonnen. von Sprache als Objekt. Die Beschreibung umfasst

31
1
Einleitung

ein Inventar von sprachlichen Einheiten und im wendet wird. Sprachlichen Ausdrücken werden
besten Fall Verallgemeinerungen (sog. Generalisie- Zeichen oder Zeichenfolgen zugeordnet, deren
rungen), die in Form von gültigen Regeln, Mustern Kombination und Verwendung einer bestimmten,
und Prinzipien ausgedrückt werden können. Dar- abstrakten Systematik unterliegen. Die sprachli-
über hinaus erlaubt die Beschreibung unter Um- chen Zeichen bilden die Einheiten dieses Systems
ständen Vorhersagen über und Erklärungen für und die Kombinationsregeln die Struktur. Das Zei-
sprachliche Phänomene. Von einer Theorie spricht chen vermittelt zwischen dem beim Sprechen pro-
man nur dann, wenn die Beschreibung wider- duzierten Lautstrom (bzw. Schriftzeichen oder
spruchsfrei ist. Gebärden) und dem ausgedrückten Gedanken.
N Repräsentation: Um die Widerspruchsfreiheit Dieses Zeichensystem ist stetigem Wandel unter-
zu garantieren oder zumindest leichter überprüf- worfen.
bar zu machen, verwendet man manchmal – wie Beteiligte Disziplinen: Steht die Untersuchung
in den Naturwissenschaften üblich – formale Re- des Systemcharakters der menschlichen Sprache
präsentationen. Das heißt nichts anderes, als dass im Vordergrund des Interesses, dann ist die
die theoretischen Erkenntnisse in eine formale Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Semio-
Sprache übersetzt werden. tik, der Lehre der Zeichensysteme. Steht im Vor-
Nur wenn die Forschungstätigkeiten eine wi- dergrund, dass das sprachliche System als Modell
derspruchsfreie Theorie zum Ziel haben, kann für das sprachliche Wissen von Menschen unter-
man sie wissenschaftliche Tätigkeiten nennen sucht wird, dann ist die Sprachwissenschaft eine
(vgl. Posner 2003). Teildisziplin der Kognitionswissenschaft. Man
kann unter Umständen noch weiter gehen und
Zur Vertiefung Sprachsystemen physiologische Realität zuspre-
chen. Das heißt nichts anderes, als dass unser
Metasprache und Objektsprache Gehirn so konzipiert ist, dass das Sprachsystem
Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind wie- dort angelegt sein kann. In dieser Sichtweise ist
der in einer menschlichen (oder wie erwähnt einer Sprachwissenschaft eine Teildisziplin der Human-
formalen) Sprache verfasst. Wir verwenden also biologie.
unter Umständen unsere eigene Sprache, um ein Sprachliche Zeichen haben zwei Seiten: das Be-
sprachliches Objekt, nämlich unsere eigene Spra- zeichnende (Lautbild) und das Bezeichnete (Vor-
che, zu beschreiben. Die zu beschreibende Spra- stellung) (zum Strukturalismus s. Kap. III.5.2.3).
che heißt demgemäß Objektsprache und die be-
schreibende Sprache wird Metasprache genannt. Definition
Die Metasprache ist die Fachsprache, in der wir
über Sprache als Untersuchungsgegenstand spre-   Bilateraler Zeichenbegriff: Das Zeichen
chen. Als Illustration mag das Satzpaar Frankfurt ist bei de Saussure eine mentale Einheit:
ist schön vs. Frankfurt hat neun Buchstaben die- Die beiden Seiten des Zeichens werden Laut-
nen. Im ersten Satz wird der Name der Stadt bild (auch Signifikant, Bezeichnendes, franz.
Frankfurt verwendet. Wir bezeichnen die Stadt. signifiant) und Vorstellung (auch Signifikat,
Im zweiten Satz wird nicht der Name verwendet; Bezeichnetes; franz. signifié, concept)
vielmehr wird eine Eigenschaft des sprachlichen genannt.
Objektes Frankfurt genannt. Objektsprachliche
Elemente werden in der Regel kursiv gesetzt.
De Saussure visualisiert das Zeichen für einen
Ausdruck wie Hund wie folgt: /h3nd/ repräsen-
Der Versuch, die Modelle und Methoden der Na- tiert das, was man weiß, wenn man weiß, wie
turwissenschaften zu übernehmen, ist eines der Hund ausgesprochen wird.
Erfolgsrezepte der modernen Sprachwissenschaft.
Sprachbegriff Sprache: Die wissenschaftliche Tätigkeit setzt
voraus, dass der Untersuchungsgegenstand, also
Signifié
die Sprache, überhaupt Gesetzmäßigkeiten unter- Vorstellung
liegt. Er muss Systemcharakter haben. Allgemein
spricht man von der menschlichen Sprache als ei- /h3nd/ Lautbild
nem Zeichensystem, das zur Kommunikation ver- Signifiant

32
1
Einleitung

Die Beziehung zwischen den beiden Bestandteilen Ein Paradigma ist eine Sammlung von sprachli-
des Zeichens ist arbiträr (= willkürlich). Es be- chen Einheiten (Zeichen oder einzelne Laute), de-
steht also z. B. kein innerer oder notwendiger Zu- ren Austausch einen Funktions- oder Bedeutungs-
sammenhang zwischen der Lautfolge, die mit dem wechsel zur Folge hat. Paradigmenbildung ist die
Wort Hund verbunden ist, und dem damit be- Voraussetzung für die Klassifikation von sprachli-
zeichneten Tier. Es gibt aber Ausnahmen wie Ku- chen Einheiten.
ckuck. Der Name des Kuckucks ist abgeleitet von Syntagma: Die Elemente der einzelnen Paradig-
seinem Ruf. Die arbiträre Beziehung zwischen men können zu neuen Wörtern, Wortfolgen oder
Laut und Vorstellung zeigt sich u. a. daran, dass Sätzen zusammengesetzt werden: Der Papagei
Sprachen gelegentlich unterschiedliche Lautfolgen frisst Körner. Zwischen den Elementen bestehen
für dieselbe Vorstellung benutzen: Briefmarke vs. Beziehungen. Diese Beziehung nennt man syntag-
Postwertzeichen. matisch. Jede Kette von Einheiten in einer linearen
Außerdem ist die Zuordnung konventionell, Abfolge von Ausdrücken einer Äußerung nennt
d. h. sie unterliegt gesellschaftlichen Abmachun- man Syntagma.
gen. Die Beziehung muss also gelernt werden Mentale Grammatik: Die Regeln für die Kombi- Mentale Repräsentationen
(zum Bedeutungsbegriff s. Kap. II.3.2.4; zum Wort- nation der sprachlichen Einheiten zu Wörtern und von Sprache
schatzerwerb s. Kap. II.5.2.2). Sätzen sind ebenfalls mental gespeichert. Unter der
Mentales Lexikon: Für das Zeicheninventar Annahme, dass Sprache ein kognitives System ist,
hat sich heute der Begriff des mentalen Lexikons existieren mentale Grammatik und mentales Lexi-
etabliert. Das mentale Lexikon ist Bestandteil des kon im Kopf. Der Begriff der mentalen Grammatik
sprachlichen Wissens eines jeden Sprechers. Zu- unterscheidet sich wesentlich von dem traditionel-
sätzlich zum Lautbild und der Vorstellung sind len Grammatikbegriff. Traditionelle Grammatiken
auch Informationen zur Verwendung des Zei- sind möglichst vollständige Beschreibungen der
chens in der Produktion von Wörtern oder Sätzen Sprache. Sie beinhalten eine Sammlung von Gene-
gespeichert (s. Kap. II.2.2.2.1) sowie unter Um- ralisierungen über die Beobachtungen zu dieser
ständen Registerinformationen. Diese Informati- Sprache. Auf der Basis der beschreibenden Gram-
on regelt, in welchem Sprachstil ein Zeichen zu matik sollte sich die mentale Grammatik modellie-
verwenden ist (schriftlich, mündlich, dialektal, ren lassen.
neutral). Merkmale der menschlichen Sprache sind ins-
Paradigma: Die sprachlichen Einheiten des besondere die folgenden: die sog. zweifache
mentalen Lexikons stehen in paradigmatischen Gliederung der Sprache (Martinet 1960), die Re-
Beziehungen zueinander. Betrachtet wird hier der kursivität der Regeln (Chomsky 1957), die sog.
Effekt der Ersetzung eines sprachlichen Elementes Kompositionalität der Bedeutung (Frege 1884) und
durch ein anderes im Wort- oder Satzzusammen- die situationelle Ungebundenheit (Hockett 1960).
hang. Die Frage ist, ob zwei (oder mehr) Elemente N Zweifache Gliederung der Sprache: In der Merkmale
in derselben sprachlichen Umgebung vorkommen Kommunikation (schriftlich oder mündlich oder
können oder nicht. mittels der Gebärden einer Gebärdensprache) wer-
N Opposition: Stellt sich ein Unterschied in der den Ausdrücke für die Zeichen, nicht die Zeichen
Funktion oder Bedeutung ein, wenn ein Aus- selbst realisiert. Wörter, Sätze oder Texte sind Rea-
druck durch einen anderen ersetzt wird, dann lisierungen von Zeichenketten. Sprachliche Mittei-
stehen die beiden Ausdrücke in Opposition: Pa- lungen sind grundsätzlich zweifach gliederbar.
pagei und Wellensittich stehen in dieser Bezie- Einerseits können wir einen Lautstrom in bedeu-
hung, weil beide in der sprachlichen Umgebung tungstragende Einheiten zerlegen: Wörter oder
Der … frisst Körner vorkommen können. kleinere bedeutungstragende Einheiten, sog. Mor-
N Komplementäre Distribution liegt vor, wenn phe bzw. Morpheme (s. Kap. II.2.2). Andererseits
zwei Elemente niemals in derselben Umgebung können wir diese Einheiten in bedeutungsdiffe-
realisierbar sind. Als Beispiel kann hier die Plu- renzierende Einheiten zerlegen: die einzelnen
ralbildung im Deutschen gelten. Laute bzw. Phoneme. Der Ausdruck Hund ist mit
N Von freier Variation spricht man, wenn zwei der Lautfolge /h3nd/ assoziiert und eine Bedeu-
Elemente in derselben Umgebung stehen kön- tungseinheit. Ändern wir einen Laut in der Laut-
nen, ohne dass sich ein Funktions- oder Bedeu- folge, ändert sich die Bedeutung. Ersetzen wir das
tungsunterschied ergibt: Briefmarke/Postwert- /h/ in Hund durch ein /f/ ergibt sich Fund. Die
zeichen. beiden Wörter unterscheiden sich nur bezüglich

33
1
Einleitung

eines Lautes. /f/ und /h/ können bedeutungstra- Unsere Sprachfähigkeit in Bezug auf all diesen
gende Einheiten unterscheiden. Die Laute haben Ebenen wird durch die kommunikativen Fähig-
aber einzeln keine Bedeutung. Diese zweifache keiten komplettiert: Wir wissen üblicherweise,
Gliederung betrifft das Lautbild im Saussure’schen wie sprachliche Ausdrücke in der Verwendungssi-
Zeichen. Das Lautbild kann eine bedeutungstra- tuation zu verstehen sind, auch wenn dieses Ver-
gende Einheit repräsentieren und selbst aus be- ständnis von dem abweicht, was gesagt wird. Kön-
deutungslosen Einheiten, den Lauten, zusammen- nen Sie die Tür schließen? ist zum Beispiel als
gesetzt sein. Frage formuliert, auf die man mit ja oder nein ant-
N Rekursivität der Regeln: Aus einfacheren worten kann. Gemeint ist aber normalerweise die
sprachlichen Ausdrücken können komplexere Aus- Aufforderung oder Bitte, die Tür zu schließen. Die-
drücke zusammengesetzt werden, die neue Ge- se Thematik ist Gegenstand der Pragmatik.
danken ausdrücken, die niemals vorher produziert Die Linguistik erforscht die Sprache als System,
oder gehört wurden. Sprache ist kreativ. Um diese und zwar
Eigenschaft der Sprache zu erfassen, sind rekur- N synchron, d. h. die Gleichzeitigkeit sprachli-
sive Regeln für die Beschreibung der Strukturen cher Elemente (das System zu einem bestimm-
notwendig, also Regeln, die auf sich selbst wieder ten Zeitpunkt)
angewendet werden können, um komplexe Aus- N diachron, d. h. die zeitliche Abfolge (Verände-
drücke zu erzeugen. Illustrieren lässt sich das an rung, Entwicklung) eines Systems (z. B. die Ent-
Konstruktionen mit Genitivattributen: der Papagei wicklung des Konsonantensystems vom Alt-
der Frau des Chefs meiner Mutter. Die Konstrukti- hochdeutschen zum Neuhochdeutschen)
onsregel, die dieser Wortfolge zugrunde liegt, ge- Zwei weitere Untersuchungsansätze lassen sich
neriert aus einer Kombination von Nomen und neben diesen zwei zentralen Forschungsausrich-
Genitivattribut einen komplexen Ausdruck, dem tungen unterscheiden:
man wieder ein Genitivattribut hinzufügen kann N typologisch, d. h. der Vergleich verschiedener
etc. Dieser Prozess kann unendlich wiederholt sprachlicher Systeme (z. B. Deutsch im Ver-
werden. Und wir könnten solche Konstruktionen gleich zum Türkischen)
prinzipiell verstehen, würde uns unser Gedächtnis N ontogenetisch, d. h. die Veränderung des
nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Sprachsystems im einzelnen Individuum im
N Kompositionalität: Den Regeln, die für die Kon- Lauf des Spracherwerbs
struktionen von Wortfolgen eingesetzt werden, Diese Einführung in die Sprachwissenschaft ent-
entsprechen Regeln für die Bedeutung. Die Bedeu- hält Kapitel zu allen linguistischen Kernbereichen
tung eines komplexen Ausdruckes ergibt sich aus sowie zur historischen Linguistik und zum Sprach-
der Bedeutung seiner unmittelbaren Teile und der erwerb, die weitere zentrale Bereiche darstellen.
Art ihrer Kombination. Eine Wortsequenz kann da- Phonologie/Phonetik: Die Phonetik erforscht,
mit mehr als eine Bedeutung erhalten, wenn mehr eher naturwissenschaftlich orientiert, wie konkre-
als eine Verknüpfungsmöglichkeit für die einfa- te Sprachlaute materiell beschaffen sind, gebildet
chen Ausdrücke existiert: teure Papageien und Wel- und wahrgenommen werden. Die Phonologie ab-
lensittiche kann bedeuten »Papageien, die teuer strahiert dagegen von den konkreten materiellen
sind, und Wellensittiche«, aber auch »Papageien Lauteigenschaften und beschreibt die Merkmale
und Wellensittiche und davon jeweils die teuren«. und Stellung von Lauteinheiten vor dem Hinter-
N Situationelle Ungebundenheit: Mit menschli- grund ihrer bedeutungsunterscheidenden Funk-
cher Sprache kann man Gedanken über Tatsachen tion im Lautsystem der jeweiligen Sprache.
und Fakten ausdrücken, die in der aktuellen Situa- Die Morphologie ist als »Lehre von den For-
tion des Gesprächs nicht gegeben sind. Man kann men« Teilgebiet verschiedener wissenschaftlicher
Träume erzählen oder sich schildern, wie es wäre, Disziplinen wie Biologie, Geologie und Sprachwis-
wenn es nicht so ist, wie es ist. senschaft. Gegenstand der linguistischen Morpho-
Sprachebenen Sprachebenen: Der Systemcharakter der Spra- logie sind die universellen und sprachspezifischen
und Disziplinen che drückt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Die Regularitäten, die den Aufbau und die innere
wichtigsten sprachlichen Ebenen sind: Struktur komplexer Wörter betreffen. Die zentrale
N Phonologie (Phoneme) Erkenntnis ist dabei, dass komplexe Wörter aus
N Morphologie (Morpheme) kleineren Bausteinen zusammengesetzt sind, die
N Syntax (Satzstruktur) mit einer bestimmten Bedeutung bzw. einer be-
N Semantik (Wort- und Satzbedeutung) stimmten grammatischen Funktion assoziiert sind

34
1
Einleitung

(sog. Morpheme). Im Rahmen dieser Einführung che Rolle in den an der Kognitionswissenschaft
werden grundlegende theoretische Begriffe und (cognitive science) beteiligten Disziplinen wie der
Analysemethoden der modernen Morphologie vor- Psychologie, Informatik/künstliche Intelligenz,
gestellt und anhand einer Auswahl wesentlicher den Neurowissenschaften und in der Soziologie.
morphologischer Phänomene des Deutschen moti- Die historische Sprachwissenschaft beschäftigt
viert. sich mit der Geschichte der deutschen Sprache
Die Syntax ist die Teildisziplin der Sprachwis- von den Anfängen der Überlieferung bis zur Ge-
senschaft, die Sätze, deren Aufbau und Eigen- genwart. Im Zentrum stehen die Erforschung und
schaften untersucht. Auf den ersten Blick bestehen Beschreibung der Prinzipien und Regelmäßig-
Sätze einfach aus einer Kette von Wörtern. Bei ge- keiten grammatisch-strukturellen Sprachwan-
nauerer Betrachtung stellt man fest, dass in einem dels, z. B. Veränderungen in der Morphologie und
Satz bestimmte Wörter voneinander abhängen Syntax sowie mögliche Zusammenhänge zwischen
(Dependenz) bzw. enger zusammengehören und beiden. Aber auch generellere Fragen wie, warum
sogenannte Konstituenten bilden (Konstituenz). es überhaupt Sprachwandel gibt und wie er mit
Die universellen und sprachspezifischen Prinzi- anderen Aspekten (insbesondere Spracherwerb
pien der Syntax werden anhand des deutschen und Sprachgebrauch) zusammenhängt, werden
Satzes vorgestellt. Die Darstellung orientiert sich untersucht.
einerseits an der langen Tradition der deskriptiven Die Spracherwerbsforschung ist Teil der Psy-
deutschen Grammatik, wie sie unter anderem im cholinguistik. Sie untersucht, wie Sprecher/innen
Duden ihren Ausdruck findet, ist andererseits aber eine oder mehrere Sprachen erwerben und welche
dezidiert der Tradition der generativen Grammatik Erwerbsprozesse diesen Weg bestimmen. Die
verpflichtet. Spracherwerbsforschung lässt sich dabei u. a. von
In der Semantik und Pragmatik kann man drei folgenden Fragen leiten:
Interessenschwerpunkte ausmachen : N Welche Phänomene werden sprachübergreifend
N Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: Mit gleich erworben?
vielen sprachlichen Ausdrücken beziehen wir N Welchen Einfluss hat die jeweilige Grammatik
uns auf Dinge in der Welt, auf die diese Ausdrü- auf den Spracherwerb?
cke angewendet werden können. Die Kenntnis N Mit welchen Voraussetzungen sind Sprachler-
der Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes ner für die Bewältigung der Erwerbsaufgabe
ermöglicht den Bezug. Wie sieht dieser Bezug ausgestattet?
aus? Um zentrale Einflussgrößen des Spracherwerbs zu
N Verhältnis von Sprache und Denken: Mit erforschen, wird u. a. untersucht, welche Rolle das
Sprache drücken wir Gedanken aus. Welcher Alter bei Erwerbsbeginn für den Spracherwerbs-
Teil des sprachlichen Wissens befähigt uns verlauf und -erfolg spielt. Die Erforschung von
dazu? Sprachstörungen kann Antwort darauf geben,
N Verhältnis von Sprache und Handlung: Mit inwieweit sprachliche und nichtsprachliche Fä-
Sprache kann man handeln. Man kann Personen higkeiten zusammenhängen. Zwischen Spracher-
informieren, beeinflussen, manipulieren. Wel- werbsforschung und linguistischer Theorie beste-
chen Gesetzmäßigkeiten folgen diese Handlun- hen vielfältige Wechselbeziehungen. Die linguisti-
gen und wie sind sprachliche Handlungen von sche Theorie erlaubt die Ableitung spezifischer
nicht-sprachlichen Handlungen abzugrenzen? Vorhersagen für den Erwerb. Gleichzeitig helfen
Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig. Die Ergebnisse aus dem Spracherwerb, konkurrieren-
größten Impulse haben Semantik und Pragmatik de linguistische Erklärungsansätze zu überprüfen.
erst seit Anfang des 19. Jh.s aus der Sprachphiloso- Unerwartete Ergebnisse liefern neue Forschungs-
phie erhalten. Semantik und Pragmatik spielen ih- fragen für die linguistische Theorie und tragen so
rerseits seit der kognitiven Wende eine wesentli- zur Theoriebildung bei.

35
1
Einleitung

Literatur
Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. Den Haag. (Hg.): Semiotics: A Handbook on the Sign-Theoretic
– (1965): Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Foundations of Nature and Culture. Band III. Berlin/
Mass. New York, S. 2341–2374.
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Use. New York u. a. allgemeinen Sprachwissenschaft [1931]. Berlin/New York
Frege, Gottlob (1884): Grundlagen der Arithmetik. Eine (franz. Cours de linguistique générale. Redigé par
logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff Charles Bally et Albert Séchehaye. Paris/Lausanne 1916;
2
der Zahl. Breslau. 1922).
Hockett, Charles (1960): »The Origin of Speech«. In: Tracy, Rosemarie/Gawlitzek-Maiwald, Ira (2000):
Scientific American 203, S. 88–106. »Bilingualismus in der frühen Kindheit«. In: Hannelore
Martinet, André (1960): Éléments de linguistique générale. Grimm (Hg.): Sprachentwicklung. Enzyklopädie der
Paris. Psychologie CIII, Band. 3. Göttingen, S. 495–535.
Posner Roland (2003): »The Relationship between
Individual Disciplines and Interdisciplinary Approa-
ches«. In: Ders./Klaus Robering/Thomas A. Sebeok Cécile Meier, Petra Schulz und Helmut Weiß

36
2.1
Grammatik

2 Grammatik
2.1 Phonetik und Phonologie
2.2 Morphologie
2.3 Syntax

2.1 | Phonetik und Phonologie


2.1.1 | Einleitung Atemluft den Kehlkopf passiert, ohne in Schwin-
gungen versetzt zu werden. Dies ist bei der Pro-
Sprache tritt zunächst, bevor sie beispielsweise duktion stimmloser Konsonanten der Fall. Außer-
verschriftlicht wird, vor allem als Lautsprache dem können die Stimmlippen auch verschlossen
auf – man spricht daher auch vom Primat der ge- und dann plötzlich geöffnet werden, wodurch der
sprochenen Sprache. Mit den lautlichen Aspekten sog. Knacklaut, auch bezeichnet als Glottisver-
einer Sprache beschäftigen sich die sprachwissen- schlusslaut oder fester Stimmeinsatz, zum Beispiel
schaftlichen Teildisziplinen der Phonetik und der vor Vokalen im Anlaut (s. u.) erzeugt wird.
Phonologie. 3. Artikulation: Der Luftstrom wird im Rachen- Phasen der
raum und der Mund- und Nasenhöhle (man Lautproduktion
spricht hier auch vom Ansatzrohr) moduliert. Da-
bei sind eine ganze Reihe von Artikulationsorga-
2.1.2 | Phonetik nen beteiligt, nämlich Lippen, Zunge, Zähne, Gau-
men, Zäpfchen und Nasenraum (s. Abb. 1).
Die Phonetik untersucht die materiellen, insbeson- Die auf diese Weise erzeugten Einzellaute, die
dere die physiologischen und physikalischen Ei- der Sprecher einer Sprache auditiv segmentieren,
genschaften mündlicher Äußerungen. Je nach- d. h. aufgrund des Höreindrucks als Einzellaute
dem, ob dabei der Sprecher, das Schallsignal oder unterscheiden kann, werden auch als Phone be-
der Hörer im Zentrum der Betrachtung steht, un- zeichnet.
terscheidet man Artikulatorische, Akustische und Der Hörer ist in der Lage, den kontinuierli-
Auditive Phonetik. Wir werden uns im Folgenden chen Sprachschall in seiner Sprache in Phone zu
auf die Artikulatorische Phonetik beschränken, zerlegen. Um Phone exakt zu notieren (auch
zumal die hier gewonnenen Erkenntnisse eine ›transkribieren‹), verwendet man üblicherweise Abbildung 1:
zentrale Rolle in der Phonologie sowie in weiteren die Zeichen des internationalen phonetischen Artikulationsstellen
Bereichen der Sprachwissenschaft spielen, etwa Alphabets (IPA). Diese besondere Schreibweise und -organe
in der Sprachgeschichte (s. Kap. II.4) (zu den ande-
ren phonetischen Teilgebieten vgl. Kohler 1995;
Pompino-Marschall 2003; Reetz 2003).
1
1 Harter Gaumen (palatal)
2
2.1.2.1 | Phonetische Grundlagen 11 2 Weicher Gaumen/Velum (velar)
Die Lautproduktion erfolgt in drei Phasen: 9 6 3 Zäpfchen/Uvula (uvular)
10 108 7 3 4 Rachenraum/Pharynx (pharyngal)
1. Initiation: Über Lungen und Atemwege strömt
Atemluft aus. 9 5 Kehldeckel/Epiglottis (epiglottal)
2. Phonation: Die Atemluft wird bei ihrem Weg 6 Zungenrücken (dorsal)
durch den Kehlkopf (Larynx) mithilfe der bewegli- 4 7 Zungenblatt (laminal)
chen Stimmlippen, die die Stimmritze (Glottis) 8 Zungenspitze (apikal)
umschließen, in Schwingungen versetzt, so dass 9 Lippen (labial)
ein Stimmton erzeugt wird. Die Erzeugung eines 10 Zähne (dental)
Stimmtons erfolgt bei allen Vokalen und bei be- 5
11 Zahndamm (alveolar)
stimmten Konsonanten (s. u.). Die Stimmlippen
können dagegen auch geöffnet werden, so dass die

37
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Definition N stimmhaft/stimmlos: Klassifikation nach der


Beteiligung eines Stimmtons oder dem Fehlen
Ein   Phon ist eine durch auditive Segmen- desselben
tierung gewonnene lautliche Elementarein-
heit. Phone können nach ihrer artikulatori- 1. Die Klassifikation nach der Artikulationsart ist
schen Hervorbringung klassifiziert werden. den Zeilen der Tabelle zu entnehmen:
Sie werden in der IPA (International Phonetic N Bei Plosiven (Verschlusslauten) wird der Luft-
Alphabet)-Transkription wiedergegeben und strom kurzzeitig ganz blockiert. Dann wird der
in eckigen Klammern notiert: […]. Verschluss plötzlich wieder geöffnet, wobei die
Luft ein Explosionsgeräusch erzeugt. Zu den
Plosiven gehören im Deutschen die Laute [p]
ist nötig, da unsere Orthographie die Laute nicht wie in Perle, [b] wie in Boot, [t] wie in Tau, [d]
eindeutig abbildet. So hat ein Buchstabe oft ver- wie in Ding, [k] wie in Kiste und [g] wie in
schiedene lautliche Entsprechungen, etwa das v Geist, aber auch der oben erwähnte Knacklaut
in viel im Unterschied zu dem in variabel (in IPA- oder Glottisverschlusslaut vor Vokalen im An-
Schreibweise [f] vs. [v]). Umgekehrt kommt es laut [‫( ]ݦ‬z. B. am Beginn von an [‫ݦ‬an]), da
auch vor, dass ein und derselbe Laut orthogra- hier ein entsprechender Verschluss im Kehlkopf
phisch durch verschiedene Buchstaben oder selbst erfolgt.
Buchstabenkombinationen wiedergegeben wird, N Frikative (Reibelaute, Spiranten) werden da-
beispielsweise der lange e-Laut in er, leer und gegen gebildet, indem der Luftstrom durch ein
Lehrer (in IPA-Schreibweise jeweils [e:]). Die IPA- Artikulationsorgan eingeengt wird. Die entste-
Zeichen sind dagegen eindeutig und zudem für henden Luftturbulenzen erzeugen ein Reibege-
alle Sprachen verwendbar. räusch. Dies ist der Fall bei den meisten deut-
Phone lassen sich nach ihrer lautlichen Hervor- schen Konsonanten, nämlich bei [f] wie in
bringung klassifizieren. Wird die ausströmende viel, [v] wie in warm, [s] wie in große, [z] wie
Luft durch eines der Artikulationsorgane auf ir- in Sache, [‫ ]ݕ‬wie in schön, [‫ ]ݤ‬wie in Garage,
gendeine Art behindert, entstehen Konsonanten. [ç] wie in ich (sog. Ich-Laut), [x] wie in Koch
Bei der Hervorbringung von Vokalen kann die (auch als Ach-Laut bezeichnet, wobei nach [a]
Luft dagegen ungehindert ausströmen. genau genommen die uvulare Variante [Ȥ] ge-
sprochen wird), [Ȥ] wie in Dach, [‫]ݓ‬, der von
vielen Sprechern des Deutschen, insbeson-
2.1.2.2. | Die Konsonanten des Deutschen
dere im Rheinland, produzierte r-Laut z. B. in
Artikulationsart Alle Konsonanten, also die Phone, bei deren Er- Reise und der Hauchlaut [h] wie in Hof.
zeugung der Luftstrom behindert wird, können Plosive und Frikative werden auch unter dem
nach folgenden drei Kriterien klassifiziert werden Oberbegriff Obstruenten zusammengefasst.
(s. Tab. 1; vgl. auch Kohler 1999; Ramers 1998): N Als Nasale werden diejenigen Konsonanten be-
N Artikulationsart: Klassifikation nach der Art zeichnet, bei denen der Mundraum verschlos-
der Behinderung der ausströmenden Luft sen und das Gaumensegel (Velum), das sonst
N Artikulationsort: Klassifikation nach der Stelle die Nasenhöhle verschließt, gesenkt wird, so
Tabelle 1: oder dem Organ, mit dem die Atemluft behin- dass der Luftstrom durch die Nase entweicht.
Die Konsonanten dert wird Im Deutschen sind das die Laute [m] wie in
des Deutschen Mut, [n] wie in neu und [ƾ] wie in eng.

bilabial labio-dental dental alveolar post-alveolar palatal velar uvular glottal


Plosive p b t d k g ‫ݦ‬
Frikative f v s z ‫ݤ ݕ‬ ç x Ȥ ‫ݓ‬ h
Nasale m n ƾ
Laterale l
Vibranten r ‫ݒ‬
Gleitlaute j

38
2.1
Grammatik
Phonetik

N Laterale (laterale Approximanten) sind Laute, etwas weiter hinten gebildet und zwar am
bei denen der Luftstrom im Mundraum mittig Zahndamm (den Alveolen).
behindert wird und nur an den Zungenseiten N Zu den Alveolaren zählen im Deutschen die Artikulationsort
entweichen kann. Ein solcher Laut ist [l] wie in meisten Konsonanten: die Plosive [t] und [d],
lieb. die Frikative [s] und [z], der Nasal [n], der La-
N Die Vibranten werden durch einmaliges oder teral [l], sowie das ›gerollte‹ Zungenspitzen-r,
wiederholtes schnelles Schlagen eines bewegli- der Vibrant [r]. Noch etwas weiter hinten er-
chen Artikulationsorgans erzeugt. Die ›geroll- folgt die Engebildung für die Frikative [‫ ]ݕ‬und
ten‹ r-Varianten zählen im Deutschen dazu: das [‫]ݤ‬, die deshalb als post-alveolar (auch palato-
Zungenspitzen-r [r] sowie das Zäpfchen-r [‫]ݒ‬, alveolar) klassifiziert werden.
bei dem sich das Zäpfchen ähnlich wie beim N Die Palatale [!] und [j] werden am harten Gau-
Gurgeln bewegt. men gebildet.
Laterale und Vibranten werden auch unter dem N Velare dagegen entstehen am weichen Gau-
Oberbegriff Liquide zusammengefasst. men. Zu ihnen gehören die Plosive [k] und [g],
N Bei Gleitlauten (zentralen Approximanten) der Frikativ [x] sowie der Nasal [ƾ].
strömt die Luft durch eine Verengung in der N Bei den Uvularen erfolgt die Engebildung am
Zungenmitte aus. Die Engebildung ist jedoch so Zäpfchen (der Uvula). Dazu zählen die Frika-
gering, dass kein Reibegeräusch entsteht. Gleit- tive [Ȥ] und [‫ ]ݓ‬sowie der Vibrant [‫]ݒ‬, der eben-
laute werden daher auch als Halbvokale be- falls mit dem Zäpfchen produziert wird und
zeichnet. Im Standarddeutschen gibt es nur den zwar, indem dieses gegen die Hinterzunge
Gleitlaut [j] wie in ja. (In manchen Darstellun- schlägt.
gen wird der Anlaut von ja dagegen als palata- N Die Glottale [‫ ]ݦ‬und [h] werden gebildet, in-
ler Frikativ klassifiziert.) dem mithilfe der Stimmlippen ein Verschluss
N Die Affrikaten (›angeriebenen‹ Laute), im bzw. eine Engebildung direkt in der Stimmritze
Deutschen [pf] wie in Pfeil, [ts] wie in Ziel, aber (Glottis) im Kehlkopf erzeugt wird.
auch [t‫ ]ݕ‬wie in Kitsch, [d‫ ]ݤ‬wie in Dschungel
sowie u. a. in schweizerdeutschen Dialekten 3. Die Klassifikation nach stimmhaft bzw. stimmlos
[kx] statt des standarddeutschen [k] etwa in betrifft die Frage, ob bei der Bildung des entspre-
Zucker, sind Kombinationen aus am gleichen chenden Konsonanten ein Stimmton beteiligt ist stimmhaft/stimmlos
Artikulationsort gebildetem (homorganen) Plo- oder nicht. Während Nasale und Liquide prinzipi-
siv und Frikativ (und daher nicht gesondert in ell stimmhaft sind, gibt es bei den Obstruenten,
Tab. 1 aufgeführt). Der Verschluss wird nach also den Plosiven und den Frikativen, Paare von
dem Plosiv nicht vollständig gelöst, sondern mit gleicher Artikulationsart und am gleichen Arti-
geht in eine Engebildung an derselben (oder kulationsort gebildeten Lauten, die sich nur bzgl.
eng benachbarten) Artikulationsstelle über. der Stimmhaftigkeit unterscheiden. In Tabelle 1 ist
dann innerhalb einer Spalte der stimmlose Laut
2. Der Klassifikation nach dem Artikulationsort jeweils links, der stimmhafte rechts eingetragen.
entsprechen die einzelnen Spalten in Tabelle 1. Die Der Konsonant [p] ist also ein stimmloser bilabia-
Bezeichnungen leiten sich von den lateinischen ler Plosiv, [b] dagegen ein stimmhafter, [f] ist ein
Fachbegriffen für die verschiedenen Artikulations- stimmloser labiodentaler Frikativ, [v] ein stimm-
stellen und -organe ab (s. Abb. 1). hafter usw. (In der historischen Sprachwissen-
N Bilabiale Laute, im Deutschen [p], [b] und [m], schaft werden stimmhafte Plosive auch als Mediae
werden mit einem Verschluss bzw. einer Enge- bezeichnet und stimmlose Plosive als Tenues;
bildung mit beiden Lippen produziert. s. Kap. II.4.4.3.1).
N Bei den Labiodentalen [f] und [v] erfolgt die
Engebildung dagegen zwischen Unterlippe und
2.1.2.3 | Die Vokale des Deutschen
oberen Schneidezähnen. Bilabiale und Labio-
dentale werden auch unter dem Oberbegriff Im Gegensatz zu den Konsonanten wird bei den
›Labiale‹ zusammengefasst. Vokalen der Luftstrom in Rachen- und Mundraum
N Dentale werden mit einer Engebildung bzw. ei- nicht blockiert oder behindert. Die mithilfe der
nem Verschluss zwischen Zunge und oberen Stimmlippen in Schwingungen versetzte Luft er-
Schneidezähnen gebildet. Im Deutschen wer- zeugt vielmehr in dem durch Zunge und Lippen
den die entsprechenden Konsonanten i. d. R. verschieden geformten Resonanzraum oberhalb

39
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

der Glottis unterschiedliche Vokalklänge. Entspre- 2. Nach der Zungenhöhe, d. h. nach der vertikalen
chend können Vokale u. a. nach der Position der Ausrichtung der Zunge, unterscheidet man (siehe
Zunge und der Lippen klassifiziert werden. die waagerechten Einteilungen im Vokaltrapez):
Im sog. Vokaltrapez (oder auch Vokaldreieck) N Tiefe Vokale, für die die Zunge im Mund nach
sind die Vokale des Deutschen gemäß der horizon- unten bewegt wird, sind nur [] und [a].
talen und vertikalen Ausrichtung der Zunge ange- N Mittlere Vokale, bei denen die Zunge in einer
ordnet: mittleren Höhe verbleibt, sind die meisten Vo-
Alle Vokale lassen sich nach fünf Kriterien klas- kale im Deutschen, nämlich [e], [İ], [ø], [¬],
sifizieren: [‫]ۑ‬, [‫]ܣ‬, [o] und [‫]ܧ‬.
N Hohe Vokale, d. h. solche, bei denen die Zunge
Klassifikation 1. Gemäß der Zungenlage, also der horizontalen im Mund nach oben verschoben wird, sind im
der Vokale Zungenausrichtung, d. h. der Position des höchs- Deutschen [i], [ܼ], [y], [‫]ݡ‬, [u] und [‫]ݜ‬.
ten Punktes der Zunge im Mundraum, kann man
folgende Arten von Vokalen unterscheiden (siehe 3. Nach der Gespanntheit, d. h. nach der bei der
die senkrechten Einteilungen im Vokaltrapez): Artikulation aufgewendeten Muskelkraft, werden
unterschieden:
N Gespannte Vokale, die mit größerer Muskelan-
spannung gebildet werden, die etwa nötig ist,
um die Zunge im Mundraum weit nach vorn,
hinten, oben oder unten zu bewegen. Die Vo-
kale außerhalb der Ellipse in Abbildung 2 stel-
len die gespannten Vokale dar.
N Ungespannte Vokale, zu deren Artikulation
eine geringere Muskelkraft aufgewendet wird.
Die Vokale innerhalb der Ellipse in Abbildung 2
Abbildung 2: sind die ungespannten Vokale. Am wenigsten
Die Vokale des Deutschen Muskelspannung wird für das Schwa [‫ ]ۑ‬aufge-
(Vokaltrapez) wendet, da die Zunge hier die zentralste Posi-
tion einnimmt: Die Zunge wird für diesen Laut
N Vordervokale (auch Palatalvokale) werden ge- weder nach vorn oder hinten noch nach oben
bildet, indem die Zunge so verschoben wird, oder unten verschoben.
dass ihr höchster Punkt vorn im Mundraum ist.
Die meisten Vokale im Deutschen sind Vorder- 4. Gemäß der Vokallänge, also der Artikulations-
vokale. Hierzu zählen die Laute [i] wie in Tier, dauer, unterscheidet man:
[ܼ] wie in Kiste, [y] wie in Tür, [‫ ]ݡ‬wie in N Langvokale, deren Artikulationsdauer ver-
Küste, [e] wie in Meer, [İ] wie in Fest, [ø] wie gleichsweise lang ist.
in Möwe und [¬] wie in Löffel. N Kurzvokale, deren Artikulationsdauer dagegen
N Zentralvokale, bei denen der höchste Punkt kürzer ist.
der Zunge in der Mitte des Mundraums liegt, In der IPA-Schreibweise werden Langvokale mit
sind zum einen die a-Laute [] wie in Spaß und dem Zeichen [:] hinter dem Vokalzeichen gekenn-
[a] wie in lachen. Weiterhin zählt dazu das sog. zeichnet, Kurzvokale notiert man ohne dieses zu-
Schwa (auch ›Murmelvokal‹) [‫]ۑ‬, das beispiels- sätzliche Zeichen, also z. B. [İ:] in Käse im Unter-
weise in Flexionsendungen wie hüpfe oder Kü- schied zu [İ] in Kästen, [i:] wie in liest im
hen vorkommt. Auch das vokalisierte r [‫ ]ܣ‬wie Unterschied zu [ܼ] wie in List usw. Die Vokallänge
in Tier, Tür oder Lacher, das einem a-Laut gar korreliert im Standarddeutschen in der Regel mit
nicht so unähnlich ist, zählt zu den zentralen der Gespanntheit: Gespannte Vokale, also diejeni-
Vokalen (Es erfolgt hierbei ähnlich wie beim [‫]ݓ‬ gen außerhalb der Ellipse in Abbildung 2, werden
eine Annäherung von Zunge und Zäpfchen, je- in betonter Silbe mit längerer Dauer artikuliert als
doch weniger stark als bei diesem konsonanti- die ungespannten, die nur kurz vorkommen – mit
schen r). Ausnahme von [İ], das auch als Langvokal auftre-
N Hintere Vokale sind im Deutschen [u] wie in ten kann wie in Käse.
Stuhl, [‫ ]ݜ‬wie in Muschel, [o] wie in Ton und
[‫ ]ܧ‬wie in Topf.

40
2.1
Grammatik
Phonologie

5. Gemäß der Lippenrundung werden unterschie- Abbildung 3:


den: Artikulation
N Gerundete Vokale, die mit vorgestülpten, ge- der Diphthonge
rundeten Lippen artikuliert werden.
N Ungerundete Vokale, die ohne zusätzliche
Rundung der Lippen artikuliert werden.
Die Lippenrundung korreliert weitgehend mit der

Zungenlage: Alle hinteren Vokale sind im Deut-
schen gerundet, d. h. sie werden mit vorgestülp-
ten, gerundeten Lippen artikuliert. Alle zentralen
Vokale sind ungerundet. Bei den vorderen Vokalen
 
gibt es sowohl gerundete Vokale, nämlich [y], [‫]ݡ‬,
[ø] und [¬], als auch ungerundete, nämlich [i], [ܼ],
[e] und [İ]. se Ebenen spielen bei der Beschreibung von pho-
nologischen Prozessen und in der Akzentzuwei-
Diphthonge liegen vor, wenn zwei Vokale in einer sung eine entscheidende Rolle.
Silbe kombiniert werden. Im Deutschen zählen zu
den Diphthongen [aܼ࡬ ] wie in weiß, [a‫ ]࡬ݜ‬wie in Definition
Schaum und [‫ ] ࡬ܼܧ‬wie in neu. (Der kleine Bogen
unter dem zweiten Vokal ist das IPA-Zeichen für Ein   Phonem ist das kleinste distinktive
›nicht-silbisch‹, drückt also aus, dass der zweite (= bedeutungsunterscheidende) Segment
Vokal nicht zu einer neuen, sondern zu derselben einer Sprache. Phoneme stehen miteinander
Silbe gehört). Bei der Produktion von Diphthon- in Opposition, d. h. sie kontrastieren, und
gen bewegt sich die Zunge aus einer Vokalposition können daher durch Minimalpaarbildung
in eine andere, wie Abbildung 3 mithilfe des Vo- bestimmt werden. Phoneme werden in
kaltrapezes verdeutlicht. Schrägstriche eingeschlossen notiert: /…/.
Der Ausgangspunkt dieser Zungenbewegung
ist relativ eindeutig, der Endpunkt kann variieren,
was die Pfeile symbolisieren. (Daher findet man Minimalpaare sind Paare von Wörtern mit unter-
auch verschiedene Transkriptionen für die Diph- schiedlicher Bedeutung, die sich genau in einem
thonge, etwa [ae࡬ ] statt [aܼ࡬ ], [ao࡬ ] statt [a‫ ]࡬ݜ‬und [‫ܧ‬e࡬ ] Lautsegment unterscheiden. Im Deutschen bilden
statt [‫] ࡬ܼܧ‬.) Gemäß ihrer Artikulation sind übrigens z. B. folgende Wortpaare Minimalpaare:
auch die Kombinationen von Vokal und vokali- N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] /i:/ vs. /e:/
siertem r, die zusammen in einer Silbe vorkom- N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] /g/ vs. /k/
men, Diphthonge, z. B. in Tier [i:‫]࡬ܣ‬, Tür [y:‫ ]࡬ܣ‬oder N Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] – Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] /k/ vs. /z/
wer [e:‫]࡬ܣ‬. N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] /z/ vs. /d/

Einige Minimalpaare unterscheiden sich nur be- Minimalpaare


züglich einer einzigen Lauteigenschaft eines Seg-
2.1.3 | Phonologie
ments, z. B.
N Igel [‫ݦ‬i:g‫ۑ‬l] – Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
2.1.3.1 | Phonologische Grundbegriffe
schaft mittel/hoch beim zweiten Segment
und Merkmale N Egel [‫ݦ‬e:g‫ۑ‬l] – Ekel [‫ݦ‬e:k‫ۑ‬l] bezüglich der Eigen-
Die Phonologie beschäftigt sich mit der Struktur schaft stimmhaft/stimmlos beim dritten Seg-
und den Kombinationsmöglichkeiten von Lautein- ment
heiten. Sie untersucht die Funktion von Lauten N Esel [‫ݦ‬e:z‫ۑ‬l] – edel [‫ݦ‬e:d‫ۑ‬l] bezüglich der Arti-
(Phonemen) innerhalb eines Sprachsystems. Da- kulationsart Frikativ/Plosiv beim dritten Seg-
bei stehen nicht die konkreten materiellen Eigen- ment
schaften der Laute im Zentrum, sondern die Rolle Solche einzelnen Lauteigenschaften mit distinkti-
der Laute bei der Bedeutungsunterscheidung. Dar- ver Funktion nennt man phonologische Merkma-
über hinaus betrachtet die Phonologie auch Ebe- le (zuerst u. a. angenommen von Bloomfield 1933,
nen oberhalb des Einzellauts (des Segments) wie Trubetzkoy 1939, Chomsky/Halle 1968). Man
die Silbe, den Fuß und das prosodische Wort. Die- kann Phoneme daher auch als Bündel oder Kom-

41
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

plexe von bestimmten phonologischen Merkmalen bänder bei der Artikulation dieser Laute also auto-
auffassen. Auf diese Weise kann man die einzel- matisch schwingen. Sie unterscheiden sich damit
nen Phoneme noch genauer analysieren und das etwa von den Obstruenten, bei denen es zwar
Lautsystem einer Sprache noch einfacher beschrei- auch stimmhafte Laute gibt, diese sind aber nicht
ben (nach Wiese 2000 genügen 22 distinktive spontan stimmhaft.
Merkmale, um alle von ihm angesetzten 37 Phone- Nicht alle tatsächlichen Eigenschaften eines
me des Standarddeutschen zu erfassen). Lautes sind in einer Sprache distinktiv. Dies ist je
Phonologische Ein Ziel und gleichzeitig eine wichtige Heraus- nach Sprache unterschiedlich. So ist etwa im Deut-
Merkmale forderung der phonologischen Forschung ist es, schen das Merkmal [+/– aspiriert] nicht distink-
möglichst universelle phonologische Merkmale tiv. Dieses Merkmal gibt wieder, ob Plosive be-
zu definieren, so dass man prinzipiell die Laut- haucht sind oder nicht, d. h. ob nach der
systeme aller Sprachen mithilfe verschiedener Verschlusslösung bis zum Vokaleinsatz eine Zeit
Kombinationen des überschaubaren Inventars an lang Luft ausströmt, die als Hauchgeräusch wahr-
phonologischen Merkmalen beschreiben kann genommen wird (Transkription: [h]), z. B. im Fall
(Universalität). Phonologische Merkmale sind oft von [ph] in Pudel im Gegensatz zu [p] in Spule.
binär (zweiwertig), d. h. man kann bezüglich des In anderen Sprachen wie im Hindi gibt es Mini-
Merkmals einen Plus- und einen Minus-Wert un- malpaare, die sich nur bezüglich des phonologi-
terscheiden (Binarität). Das phonologische Merk- schen Merkmals [+/– aspiriert] unterscheiden. Im
mal, das bei dem Minimalpaar Igel – Egel distink- Deutschen ist eine entsprechende Minimalpaarbil-
tiv ist, wird beispielsweise als [+/– hoch] gefasst, dung nicht möglich und daher bezeichnet man die
das bei Egel – Ekel bedeutungsdifferenzierende aspirierte und nicht-aspirierte Variante eines Plo-
Merkmal als [+/– stimmhaft], das bei Esel – edel sivs als Allophone.
als [+/– kontinuierlich], d. h. die Luft kann bei der
Artikulation des Lautes ausströmen oder aber wird Definition
kurzzeitig blockiert. Gewisse Merkmale werden
dagegen als unär oder privativ angesehen, d. h. sie Als   Allophone bezeichnet man alle Vari-
sind bei einem Laut entweder anwesend oder ab- anten eines Phonems, die sich nur bezüglich
wesend. nicht distinktiver (nicht bedeutungsdifferen-
Die Laute, die durch eine Menge gemeinsamer zierender) Merkmale unterscheiden. Kenn-
Merkmale charakterisierbar sind, bilden sog. na- zeichnend für Allophone ist daher, dass eine
türliche Klassen. So bilden alle Vokale, Nasale Minimalpaarbildung nicht möglich ist.
und Liquide beispielsweise eine natürliche Klasse,
da sie alle das Merkmal [+ sonorant] aufweisen,
d. h. dass sie spontan stimmhaft sind, die Stimm- Zwei Arten der Varianz sind bei Allophonen zu un-
Zur Vertiefung terscheiden (vgl. Trubetzkoy 1939):
Stellungsbedingte Varianz oder kombinatori-
Phonologische Merkmale: Merkmalsmatrizen und Merkmalsgeometrien sche Allophonie liegt vor, wenn die Varianten des
Jedes Phonem kann in Form einer Liste oder Tabelle mit entsprechenden Plus- Phonems in komplementärer Distribution vor-
bzw. Minus-Werten für alle distinktiven Merkmale eindeutig charakterisiert wer- kommen, d. h. immer nur in verschiedenen Laut-
den (vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011) z. B.: kontexten auftreten. Dies gilt im Deutschen etwa
/‫ݡ‬/ [- konsonantisch, + sonorant, – hinten, + vorn, + hoch, – tief, + rund, für das angeführte Beispiel der Aspiration von Plo-
– gespannt, – lang] siven, die typischerweise in einem bestimmten
Im Gegensatz zu der Ansicht, dass Segmente ein Bündel von Merkmalen ohne Lautkontext, nämlich am Silbenanfang vor Vokal
interne Struktur darstellen (zur Formalisierung in sog. Merkmalsmatrizen vgl. auftritt, in anderen Kontexten aber nicht. Ein wei-
Chomsky/Halle 1968), geht man heute in der Phonologie davon aus, dass die teres Beispiel für stellungsbedingte Varianz und
Segmente eine interne Merkmalsstruktur aufweisen. Phonologische Merkmale komplementäre Distribution ist die Verteilung des
können in größeren Klassen zusammengruppiert werden. Zwischen einzelnen Ich- bzw. Ach-Lauts: Nach hinteren und zentralen
Merkmalen bestehen Beziehungen. Bestimmte Merkmale tauchen nur im Zusam- Vokalen folgt der Laut [x] (z. B. in Loch oder
menhang mit anderen überhaupt auf oder aber folgen aus anderen. Dies wird Flucht), in allen anderen Kontexten der Laut [ç]
üblicherweise dargestellt, indem die phonologischen Merkmale in einem hierar- (z. B. in Hecht, Milch, Chemie), d. h. überall dort,
chisch organisierten Baum angeordnet werden (sog. Merkmalsgeometrien, vgl. wo [x] gesprochen wird, kommt [ç] normalerweise
Hall 2011; Spencer 1996; Wiese 2010). nicht vor und umgekehrt. Es gibt entsprechend im
Deutschen keine zwei Wörter mit unterschiedli-

42
2.1
Grammatik
Phonologie

cher Bedeutung, die sich nur im Ich- bzw. Ach- gung vor Nasal im Wortauslaut (z. B. Leben
Laut unterscheiden. Beide Laute sind folglich Allo- [le:bK] > [le:bnࡦ ]) oder Angleichung eines Nasals
phone eines Phonems. an einen vorausgehenden Plosiv (z. B. Leben
Freie Varianz kommt bei Allophonen ebenfalls [le:bn]/[le:bnࡦ ] > [le:bm]) zu beobachten.
vor. Die Wahl der jeweiligen Variante hängt dann Die Hauptarten phonologischer Prozesse wer-
nicht vom lautlichen Kontext ab, sondern z. B. von den im Folgenden kurz vorgestellt (vgl. Ramers
stilistischen, sozialen oder regionalen Faktoren. 1998; Hall 2011; Wiese 2010).
Ein in der Literatur häufig angeführtes Beispiel Assimilation nennt man den phonologischen
sind die verschiedenen Realisierungen des r-Lau- Prozess der Angleichung eines Segments in be-
tes im Deutschen (vgl. Kohler 1995, 165 f.): Neben stimmten Merkmalen an andere Segmente im Äu-
der Aussprache als uvularer Vibrant [‫ ]ݒ‬bzw. Fri- ßerungskontext. Dabei unterscheidet man nach
kativ [‫]ݓ‬, wird der r-Laut in regionalen Varianten der Richtung der Angleichung (Assimilationsrich-
des Deutschen wie dem Österreichisch-Bairischen tung) zwei Unterarten:
oder Alemannischen auch als gerolltes Zungen- N Progressive Assimilation liegt vor, wenn ein Phonologische
spitzen-r, also als alveolarer Vibrant [r] gespro- vorangehendes Segment die Angleichung eines Prozesse
chen. Dabei führt die Aussprache des r-Lautes als folgenden Segments bewirkt. Dies ist im Deut-
[‫]ݓ‬, [‫ ]ݒ‬oder [r] wiederum nie zu einem Bedeu- schen z. B. bei der erwähnten Angleichung ei-
tungsunterschied zwischen zwei Wörtern. Es lie- nes Nasals an einen vorausgehenden Plosiv
gen also ebenfalls Allophone eines einzigen Pho- bezüglich des Artikulationsortes bei schnellem
nems vor. (Insofern die verschiedenen r-Varianten Sprechtempo der Fall (Leben [le:bn]/[le:bnࡦ ] >
jedoch dialektal bedingt sind, ist die Varianz nicht [le:bm], legen [le:gn]/[le:gnࡦ ] > [le:gƾ]).
in einem strengen Sinn ›frei‹.) N Um regressive Assimilation handelt es sich da-
gegen, wenn ein nachfolgendes Element die
Angleichung eines vorausgehenden Elements
2.1.3.2 | Phonologische Prozesse und Regeln
bewirkt. Im Deutschen ist beispielsweise bei
Zwischen Minimalpaaren wie Bogen – Wogen ei- schnellem Sprechtempo auch die Angleichung
nerseits und Bogen – Bögen andererseits besteht eines Nasals bezüglich des Artikulationsortes
ein wichtiger Unterschied, insofern Bogen und an einen folgenden (velaren) Plosiv zu beob-
Bögen in einem engeren Zusammenhang stehen: achten (unklar [… nk …] > [… ƾk …]).
Beides sind Formen eines Lexems. Sie unterschei- Außerdem kann man Fälle von Assimilation nach
den sich lautlich nicht in beliebiger, sondern in der Nähe der beteiligten Segmente klassifizieren:
systematischer Weise. Der Zusammenhang ver- N In den eben angeführten Beispielen handelt es
schiedener Lautformen verwandter Wörter (etwa sich jeweils um Kontaktassimilation, d. h. eine
der Formen eines Lexems oder verschiedener ver- Angleichung unmittelbar benachbarter (adja-
wandter Lexeme wie z. B. Lob – löblich) kann zenter) Segmente.
durch Ableitung (Derivation) einer lautlichen N Von Fernassimilation spricht man dagegen bei
Form aus der anderen mithilfe phonologischer der Angleichung nicht-adjazenter Segmente,
Prozesse und Regeln dargestellt werden. also einer Assimilation über andere Segmente
Hierbei gibt es einerseits Prozesse, die durch hinweg. So ist der Umlaut im Althochdeutschen
das Sprachsystem bedingt sind. So ist beispiels- als die Angleichung eines Vokals an das Merk-
weise der Umlaut, der bei Bogen – Bögen zu beob- mal [+ vorn] eines /i/ oder /j/ in der Folgesilbe
achten ist, im heutigen Deutschen morphologisch zu beschreiben (s. Kap. II.4.5.1.1). Diese Vo-
bedingt: Er tritt vor bestimmten Pluralaffixen kalangleichung bezüglich der Zungenlage er-
(Tuch – Tüch-er, Bach – Bäch-e), vor dem Kompa- folgte auch über Konsonanten hinweg, z. B. in
rativaffix (alt – älter), im Konjunktiv II bestimmter gast ›Gast‹ – gesti ›Gäste‹.
Verben (hob – höbe) und vor Derivationssuffixen Dissimilation bezeichnet das Gegenstück zur Assi-
auf (Kalb – Kälb-chen). Auch im Althochdeutschen milation, also einen phonologischen Prozess, bei
war der Umlaut sprachintern bedingt, hier jedoch dem zwei Segmente einander in bestimmten Merk-
durch den Lautkontext (s. Kap. II.4.5.1.1). malen unähnlicher werden. Ein Beispiel hiefür ist
Zum anderen können phonologische Prozesse die sprachhistorische Entwicklung von wortfina-
durch Sprechtempo, Stilebene und Kommunika- len Konsonanten-Kombinationen aus zwei Frikati-
tionssituation bedingt sein. Bei höherem ven zu Plosiv und Frikativ, z. B. Mhd. wahs [vaȤs]
Sprechtempo ist im Deutschen etwa Schwa-Til- > Nhd. Wachs [vaks].

43
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

Elision ist ein phonologischer Prozess, bei dem 2.1.3.3 Die Silbe
Segmente getilgt werden. Oben wurde bereits die
Schwa-Tilgung vor Nasal im Wortauslaut erwähnt Nachdem wir uns mit einzelnen Lauten und deren
(z. B. Leben [le:bn] > [le:bnࡦ ]). Weitere Beispiele Merkmalen beschäftigt haben, betrachten wir im
wären die Tilgung stimmhafter Plosive vor silbi- Folgenden größere lautliche Einheiten näher, die
schen Nasalen (z. B. reden [‫ݒ‬e:dnࡦ ] > [‫ݒ‬e:nࡦ ]) oder aus Einzellauten zusammengesetzt sind: die Sil-
die Tilgung des wortfinalen Plosivs (z. B. in nicht ben. (Die Beschäftigung mit phonologischen
[nܼçt] > [nܼç]). Strukturen oberhalb des einzelnen Segments wird
Epenthese ist wiederum das Gegenstück zur auch als suprasegmentale Phonologie bezeichnet.)
Elision, bezeichnet also einen phonologischen
Prozess, bei dem Segmente hinzugefügt werden. Definition
So ist im Deutschen beispielsweise das Einfügen
eines am gleichen Artikulationsort gebildeten Plo- Eine   Silbe ist eine aus einem oder mehre-
sivs zwischen einem Nasal und einem alveolaren, ren Phonemen bestehende lautliche Einheit.
stimmlosen Obstruenten (/t/ oder /s/) zu beob- Sie enthält mindestens einen Kern oder
achten (z. B. kommt [… mt] > [… mpt]). Ein wei- Nukleus. Davor kann sie einen Ansatz oder
teres Beispiel ist die Insertion des Glottisver- Onset aufweisen. Nach dem Nukleus kann
schlusslautes vor Vokal im Deutschen, wie etwa in ein Auslaut, die Koda, folgen. Nukleus und
[‫ݦ‬alt] oder [te:‫ݦ‬:t‫]ܣ‬. Diese erfolgt jedoch nicht Koda bilden zusammen den Reim.
generell, sondern nur fußinitial (s. u.).
Neutralisierung nennt man einen phonologi-
schen Prozess, bei dem der Merkmalskontrast zwi- In der Phonologie spielen Silben eine große Rolle,
schen zwei Phonemen in einem bestimmten Kon- da sich beispielsweise eine Reihe phonologischer
text aufgehoben wird. Beispiel hierfür ist der für Prozesse auf Silben beziehen. Dies gilt etwa für die
das Deutsche typische Prozess der Auslautverhär- oben erwähnte Auslautverhärtung im Deutschen,
tung: Im Silbenauslaut (Koda, s. u.) wird der an- die nicht bloß am Wortende, sondern generell am
sonsten bedeutungsdifferenzierende Kontrast zwi- Ende von Silben, genauer in der Koda, erfolgt.
schen stimmhaften und stimmlosen Obstruenten Die Struktur einer Silbe (Symbol: ı) verdeut-
zugunsten der stimmlosen aufgegeben (z. B. bun- licht die Darstellung des monosyllabischen, d. h.
tes [… t …] – Bundes [… d …] aber bunt [… t] – einsilbigen Wortes Qualm in (1). Zwischen der
Bund [… t]). Schicht der Silbenkonstituenten (Onset, Nukleus
und Koda) und der Schicht der einzelnen Segmen-
Zur Vertiefung te ist die sog. Skelettschicht eingetragen, die u. a.
die Länge der Segmente abbildet. (Die Skelett-
Phonologische Regeln schicht wird in anderen Darstellungen statt mit X-
Phonologische Prozesse lassen sich in Form phonologischer Regeln beschreiben Postionen auch mit C-V-Positionen wiedergege-
(vgl. u. a. Ramers 1998; Wiese 2010; Hall 2011). Die allgemeine Form phonologi- ben. Daneben werden in der Phonologie auch
scher Regeln lautet: Silbenstrukturdarstellungen mit weiteren kleine-
A o B/X_Y ren Untereinheiten der Silbe, den sog. Moren, ver-
Das bedeutet: Merkmal(e) A (Input) wird/werden zu Merkmal(en) B (Output), wendet; weiterführend zu Silbenstrukturen vgl.
wenn A zwischen X und Y steht (Kontext), wobei X und Y wiederum phonologi- Ewen/van der Hulst 2001; Hall 2011; Ramers 1998;
sche Merkmale oder auch phonologische oder morphologische Grenzen sein Wiese 2000, 2010).
können (z. B. Wortgrenze, Morphemgrenze, Silbengrenze). Der waagerechte
Strich unten bezeichnet die Position des Inputs im Lautkontext. Der eben ange- (1) 
führte Prozess der Auslautverhärtung kann beispielsweise folgendermaßen als
phonologische Regel formalisiert werden: Onset Reim
[– sonorant, + konsonantisch, + stimmhaft] o [– stimmhaft]/_$
Die Merkmalskombination [– sonorant] (›nicht spontan stimmhaft‹), [+ konso-
Nukleus Koda
nantisch] (›mit Behinderung des Luftstroms oberhalb der Glottis‹) und [+
stimmhaft] kennzeichnet die stimmhaften Obstruenten. Diese werden [– stimm-
haft] vor einer Silbengrenze (Symbol: $). X X X X X

k v a l m

44
2.1
Grammatik
Phonologie

Das erste Element des Nukleus (im obigen Beispiel Bei der Analyse von Silbenstrukturen sind ein
besteht der Nukleus überhaupt nur aus einem Ele- paar Besonderheiten zu beachten:
ment, aber s. u.) bildet den Silbengipfel. Dies ist Diphthonge werden auf der Skelettschicht zwei
das Segment mit der höchsten Sonorität innerhalb X-Positionen zugeordnet, wie die Silbenstruktur
der Silbe, das heißt mit der höchsten Schallintensi- von weiß in (2) illustriert:
tät, der größten Lautstärke und dem größten Öff-
nungsgrad des Ansatzrohrs. Der Silbengipfel ist (2) 
meistens ein Vokal, seltener ein silbischer Konso-
nant (in IPA gekennzeichnet mit einem kleinen Onset Reim
Strich unter dem Lautsymbol, wie z. B. beim letz-
ten Konsonant in dem oben angeführten, zweisil-
bigen Wort [le:bnࡦ ]). Nukleus Koda
Innerhalb einer Silbe können Phoneme nicht
beliebig kombiniert werden. Es gibt hierbei viel-
X X X X
mehr eine Reihe von Beschränkungen. Die Kombi-
nationsmöglichkeiten, Tendenzen und Implikatio-
nen in Silbenstrukturen aufzudecken und zu v a  s
erklären, indem man sie etwa auf möglichst uni-
verselle Prinzipien zurückführt, ist ein weiteres Langvokale werden ebenfalls mit verzweigendem Silbenstruktur
Ziel der Phonologie. Die Lehre von den Regularitä- Nukleus dargestellt. Die Länge des Segments wird
ten einer bestimmten Sprache bezüglich dieser also durch die Zuordnung zu den X-Positionen der
Kombinatorik und Beschränkungen nennt sich Skelettschicht erfasst.
Phonotaktik. Eine phonotaktische Beschränkung Als Beispiel die Analyse des Einsilblers Lob in (3):
besteht beispielsweise darin, dass innerhalb der
Silbe die Sonorität zum Silbengipfel hin ansteigen (3) 
und danach abfallen muss. Diese Beschränkung
erklärt die Ungrammatikalität (gekennzeichnet Onset Reim
durch den hochgestellten Stern) einer Silbe wie
*[vkaml] (im Gegensatz etwa zu der Silbe
[kvalm]): Die Sonorität würde innerhalb der Silbe Nukleus Koda
zunächst abfallen, dann ansteigen, wieder fallen
und schließlich wieder ansteigen. Die unterschied-
X X X X
lich hohe Sonorität der verschiedenen Lautklas-
sen gibt die sog. Sonoritätshierarchie wieder
(s. Abb. 4). 1 o: p
Hieraus erklärt sich auch die spiegelbildliche
Anordnung von Plosiven und Nasalen/Liquiden Affrikaten stellen zwar akustisch eine Kombinati-
im Onset und in der Koda beispielsweise bei Klang on aus zwei Konsonanten, nämlich einem Plosiv
versus Kalk. Die Plosive als Laute mit der gerings- und einem Frikativ dar, verhalten sich aber wie ein
ten Sonorität stehen jeweils am äußeren Rand der einziges Segment und werden daher nur einer X-
Silbe. Nasale bzw. Liquide, die eine höhere Sono- Position auf der Skelettschicht zugeordnet. Dies
rität besitzen, stehen näher zum Silbengipfel hin. illustriert die Silbenstruktur von zum in (4)
(Mithilfe der Sonoritätshierarchie kann man auch (s. S. 46).
andere lautliche Gegebenheiten erklären, etwa die Untersucht man die verschiedenen Strukturen
verschiedenen Lautprodukte der zweiten Lautver- einer großen Zahl von Silben, erkennt man, dass es
schiebung, s. Kap. II.4.5.3.1). neben der oben erwähnten Beschränkung zum So-
noritätsverlauf innerhalb der Silbe auch Beschrän-

geringste Sonorität höchste Sonorität

Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide hohe Vokale sonstige Vokale Abbildung 4:
Sonoritätshierarchie

45
2.1
Grammatik
Phonetik und Phonologie

(4)  2.1.3.4 | Akzent und Intonation

Onset Reim So wie ein oder mehrere Phoneme zusammen eine


Silbe (ı) bilden können, bilden auch Silben zu-
sammen wiederum Obereinheiten, die sog. Füße
Nukleus Koda (Ȉ). Ein Fuß enthält eine akzentuierte oder betonte
Silbe ıs (s für »strong«) und beliebig viele unbe-
tonte Silben ıw (w für »weak«). Man unterscheidet
X X X
kopfinitiale Füße, die mit der betonten Silbe be-
ginnen (ıs …), von kopffinalen Füßen, bei denen
t s m die betonte Silbe die letzte Silbe ist (… ıs). Füße
können in Form metrischer Bäume dargestellt wer-
kungen gibt, wieviele Segmente beispielsweise im den (vgl. Hall 2011). (Daneben gibt es auch die
Onset oder in der Koda vorkommen können. Die Darstellungsform als metrische Gitter, vgl. Hayes
maximale Silbe im Deutschen enthält zwei X-Posi- 1995). Die wichtigsten Fußtypen, die u. a. auch in
tionen im Onset. Eine Silbe wie *[pslaƾ] kann also der Dichtung als Versfuß Verwendung finden, sind
im Deutschen nicht vorkommen, obwohl sie (s. Kap. III.4.3.2.2):
durchaus der Beschränkung bezüglich des Sonori-
tätsverlaufs entspricht. Trochäus: Jambus:
Der Reim darf höchstens drei X-Positionen auf-
weisen. Nach Kurzvokal kann die Koda also maxi-  
mal aus zwei Konsonanten bestehen, nach Lang-
vokal oder Diphthong, die jeweils schon zwei    
X-Positionen auf der Skelettschicht entsprechen,    

dagegen nur aus einem Konsonanten. Diese Tatsa-


che motiviert auch die entsprechende silbenstruk- Daktylus: Anapäst:
Füße turelle Analyse mit verzweigendem Nukleus. So ist
etwa die komplexe Koda nach Kurzvokal in [∫İlm]  
möglich. Nach Langvokal kann dagegen wie etwa
in [∫e:l] nur ein Konsonant die Koda bilden. Eine      
Silbe *[∫e:lm] kann also im Deutschen nicht vor-    

kommen. Ebenso ist nach Diphthong eine Koda
aus einem Segment möglich, etwa in [za'l]. Eine Im Deutschen findet man im Bereich des Kern-
zweigliedrige Koda *[za'lm] o. ä. kommt dagegen wortschatzes vor allem den Trochäus als Fußtyp.
nicht vor. Diese Präferenz für Trochäen zeigt sich auch in der
Affrikaten verhalten sich dagegen wie ein einzi- Flexion (s. Kap. II.2.2.3): Flektierbare Einsilbler
ges konsonantisches Segment und entsprechen weisen in ihrem Flexionsparadigma auch zweisil-
daher auf der Skelettschicht bloß einer X-Position. bige, trochäische Formen auf (z. B. Baum – Bäu-
Dies illustrieren Fälle wie die erste Silbe im Wort me), Zweisilbler bleiben dagegen auch flektiert
Pflaume, die, da sie ja tatsächlich im Deutschen zweisilbig (z. B. Kanne – Kannen) (vgl. Eisenberg
vorkommt, offensichtlich nicht gegen die Be- u. a. 1992).
schränkung der maximalen Silbe verstößt, d. h. Füße sind wie Silben phonologische Domänen,
[pf] und [l] müssen jeweils in der Silbenstruktur auf die sich phonologische Prozesse beziehen kön-
einer Position X zugeordnet werden. Eine Ausnah- nen. Im Deutschen gilt dies beispielsweise für die
me bezüglich der Beschränkung zur maximalen oben erwähnte Epenthese des Glottisverschluss-
Silbe bilden allerdings die Obstruenten [t], [d], [s] lautes vor Vokal, die nicht bloß wie bei [‫ݦ‬alt] am
und [∫], die noch vor oder nach der Silbe stehen Wortanfang erfolgt, sondern auch wortintern, aber
können und dann als extrasilbisch bezeichnet auch nicht generell am Anfang einer Silbe, sondern
werden (man spricht auch vom Silbenpräfix bzw. nur am Anfang eines Fußes, daher [te‫ݦ‬:t‫ ]ܣ‬aber
Appendix). So erklärt sich etwa die komplexe *[ko‫ݒ‬e:‫( ]ݦ‬vgl. Hall 1992). Außerdem spielen
Lautfolge [∫t‫ ]ݒ‬in Strumpf. Füße bei der Akzentzuweisung eine zentrale Rolle.
Wortakzent: Füße bilden wiederum Oberein-
heiten, die phonologischen oder prosodischen

46
2.1
Grammatik
Phonologie

Wörter (Ȧ). Innerhalb des prosodischen Wortes Satzakzent wird durch Großbuchstaben gekenn- Wortakzent
trägt eine Silbe den Hauptakzent. Man nennt zeichnet. Er kann z. B. aufgrund unterschiedlicher und Satzakzent
dies den Wortakzent. Innerhalb eines Komposi- syntaktischer und informationsstruktureller Gege-
tums, d. h. eines zusammengesetzten Wortes benheiten im Satz variieren. Die Regularitäten für
(s. Kap. II.2.2), ist der entsprechende Fuß damit den Satzakzent zu erfassen und zu erklären ist ein
ebenfalls betont (Ȉs). Eine spannende Fragestel- weiteres Forschungsziel der Phonologie.
lung der Phonologie besteht darin, einen Algorith-
mus für den Wortakzent zu finden, also genau (6) Káthrin will MORgen nach Háuse fáhren.
vorherzusagen, wo der Wortakzent liegen muss. (7) Káthrin will mórgen nach HAUse fáhren.
Im Deutschen liegt der Wortakzent in der Regel
auf dem Wortstamm. Präfixe und Suffixe sind da- Die Intonation, d. h. der Tonhöhenverlauf, spielt
gegen normalerweise unbetont (Ausnahmen bil- ebenfalls auf der Satzebene eine wichtige Rolle.
den hier allerdings Prä- bzw. Suffixe wie ur-, un-, Die Intonation dient u. a. zur Unterscheidung ver-
-ei, -ieren). Innerhalb eines Kompositums liegt der schiedener Satzmodi (s. Kap. II.2.3.4.1):
Wortakzent in der Regel auf dem ersten Bestand- N Typisch für Deklarativsätze ist ein fallender,
teil (es sei denn, der zweite Bestandteil ist selbst sog. terminaler Verlauf, z. B. in Es regnet. \
wiederum ein Kompositum): N Interrogativsätze weisen dagegen einen steigen-
den, sog. interrogativen Verlauf auf, z. B. in Es
  regnet? /
Während der Verlauf der Tonhöhe auf der Satzebe-
  ne bedeutungsunterscheidend ist (der oben ange-
führte Deklarativsatz unterscheidet sich von dem
    Interrogativsatz nur durch den Tonhöhenverlauf),
 
   ist er im Deutschen im Unterschied zu anderen
Sprachen wie dem Chinesischen auf der Wortebe-
Satzakzent: Innerhalb eines ganzen Satzes ist ne in der Regel nicht distinktiv. Das Deutsche ist
wiederum eine Wortakzentsilbe am prominentes- entsprechend eine Intonationssprache und keine
ten, d. h. durch Tonhöhe hervorgehoben. Dieser Tonsprache.

Zitierte und weiterführende Literatur


Bloomfield, Leonard (1933): Language. New York. – (1999): »German«. In: Handbook of the International
Chomsky, Noam/Halle, Mark (1968): Sound Patterns of Phonetic Association. A Guide to the Use of the
English. New York. International Phonetic Alphabet. Cambridge, S. 86–89.
Duden-Aussprachewörterbuch (62005). Mannheim u. a. Pompino-Marschall, Bernd (22003): Einführung in die
Eisenberg, Peter u. a. (Hg.) (1992): Silbenphonologie des Phonetik [1995]. Berlin/New York.
Deutschen. Tübingen. Ramers, Karl Heinz (1998): Einführung in die Phonologie.
Ewen, Colin J./van der Hulst, Harry (2001): The Phonologi- München.
cal Structure of Words. An Introduction. Cambridge. Reetz, Henning (2003): Artikulatorische und akustische
Hall, Tracy Allan (1992): Syllable Structure and Syllable Phonetik. Trier.
Related Processes in German. Tübingen. Spencer, Andrew (1996): Phonology. Oxford.
– (22011): Phonologie. Eine Einführung. Berlin/New York. Trubetzkoy, Nikolaj S. (1939): Grundzüge der Phonologie.
Hayes, Bruce (1995): Metrical Stress Theory. Principles and Göttingen (Nachdr. 1958).
Case Studies. Chicago. Wiese, Richard (2000): The Phonology of German. Oxford.
Kohler, Klaus J. (21995): Einführung in die Phonetik des – (2010): Phonetik und Phonologie. Stuttgart.
Deutschen. Berlin.
Agnes Jäger

47
2.2
Grammatik
Morphologie

2.2 | Morphologie
2.2.1 | Einleitung demonstrieren die expressive Kraft der morpholo-
gischen Komponente unserer Grammatik, die uns
Gegenstand der Morphologie sind die universellen dazu befähigt, eine beliebige Zahl neuer Wörter zu
und sprachspezifischen Regularitäten, die die in- erzeugen und zu verstehen.
nere Struktur und den Aufbau von Wörtern betref- Folgende Typen von Neuschöpfungen unter-
fen. Der Begriff ›Morphologie‹ ist dabei selbst eine scheidet man in der Regel:
Wortschöpfung, die von Goethe gegen Ende des N Neubildungen entstehen (wie im vorliegenden
18. Jh.s geprägt wurde (aus gr. morphé: Form, Ge- Fall) durch die Rekombination von bereits exis-
stalt und -logie: Wissenschaft von, Lehre von) und tierenden Wortbausteinen;
bald in der Biologie als ›Lehre von den organi- N Entlehnungen nennt man Wörter, die aus an-
schen Formen‹ Verwendung fand. Später erfolgte deren Sprachen übernommen werden (vgl.
dann die Übertragung in die Sprachwissenschaft engl. hip, cool, Computer etc.);
als ›Lehre von den sprachlichen Formen‹. Der Phä- N Urschöpfungen entstehen durch neue Zuord-
nomenbereich der Morphologie lässt sich an ei- nungen von Lautkombinationen und Bedeu-
nem Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit des tung wie Hobbit oder Ork (aus J. R.R. Tolkiens
Gegenwartsdeutschen veranschaulichen. Zu Be- Herr der Ringe).
ginn der 1990er Jahre lancierte ein großer Geträn- Die Kreativität der Wortbildung ähnelt dabei der
kehersteller anlässlich der Einführung von PET- kombinatorischen Vielfalt, die wir beim Aufbau
Mehrzweckflaschen eine Werbekampagne, die komplexer Strukturen durch die Anwendung syn-
das neue Brause-Behältnis als unkaputtbar pries. taktischer Regeln beobachten können. Dies weist
Seitdem hat sich diese Neuschöpfung (auch darauf hin, dass auch die Erzeugung von Wörtern
Neologismus genannt) in der deutschen Gegen- durch ein System von Regeln bestimmt wird, das
wartssprache etabliert – eine entsprechende Goo- im Rahmen der theoretischen Morphologie formal
gle-Recherche am 18.9.2009 brachte es auf immer- rekonstruiert wird. Ein interessanter Unterschied
hin 96 200 Vorkommnisse. Dabei können die zwischen Morphologie und Syntax besteht jedoch
meisten Sprecher/innen intuitiv erkennen, dass darin, dass uns morphologische Neubildungen
unkaputtbar kein vollständig wohlgeformtes Wort wie unkaputtbar, googlen, simsen (Kurznachricht
des Deutschen darstellt. Diese Einschätzung wird mit dem Handy schicken), Gammelfleisch, oder
auch von dem folgenden Beitrag in einem Internet- Fanmeile unmittelbar auffallen, wenn wir sie zum
forum geteilt: ersten Mal wahrnehmen, während es uns in der
Regel nicht bewusst wird, wenn wir einem noch
»Also in meiner Dudenversion für den Rechner steht dieses Wort
nicht. Es hat sich aber eingebürgert, wenngleich es – so meine
Meinung – ein völliges Unwort ist.;-)« Beispielanalyse: unkaputtbar
Unkaputtbar besteht aus drei Wortbausteinen.
Trotz dieser grammatischen Vorbehalte können Basis des Worts ist das Adjektiv kaputt, an
wir dieses Wort ohne Weiteres verstehen. Dies das das Präfix (d. h. Vorsilbe) un- und das
lässt sich darauf zurückführen, dass ein kompe- Suffix (d. h. Nachsilbe) -bar angefügt wurden.
tenter Sprecher des Deutschen in der Lage ist, zu Das Präfix un- bringt eine Negation zum Aus-
erkennen, dass ein komplexes Wort wie unkaputt- druck, die auf die Basis angewendet wird,
bar in kleinere Bestandteile zerlegt werden kann, während das Suffix -bar zur Bildung von Ad-
denen jeweils eine spezifische Bedeutung zu- jektiven aus (zumeist transitiven) Verben
kommt. dient. Die eingeschränkte grammatische Ak-
Dieses Beispiel zeigt, dass gerade auch durch zeptabilität von unkaputtbar ist dabei auf eine
den Verstoß gegen grammatische Regularitäten ein »unsachgemäße« Verwendung des adjektivab-
besonders wirksamer kommunikativer Effekt er- leitenden Elements -bar zurückzuführen, das
zielt werden kann (dies macht man sich insbeson- im vorliegenden Fall fälschlicherweise nicht
dere in der Werbung zunutze, z. B. die mehrfachen an eine verbale Basis angefügt wurde, son-
Komparative attraktiverer als Werbeslogan für eine dern an ein Element – kaputt –, das bereits ein
Fluggesellschaft oder sicherererer für einen Online- Adjektiv ist.
Zahlungsservice). Neologismen wie unkaputtbar

48
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

nie zuvor gehörten Satz zum ersten Mal begegnen N Nomen (Substantive) bezeichnen oft konkrete Wortarten
(diese Beobachtung geht zurück auf den Linguis- Objekte (Tisch, Katze, Gurke, Hut etc.), zeigen spe-
ten Otto Jespersen). zielle Formen abhängig von Numerus oder Kasus
(Hut vs. Hüte, der Hut vs. des Huts) und können
durch Artikel oder Adjektive modifiziert werden
(der alte Hut).
2.2.2 | Grundbegriffe und Teilbereiche N Verben bezeichnen in der Regel Tätigkeiten (le-
sen, arbeiten, küssen, gehen etc.), treten in ver-
2.2.2.1 | Wörter, Wörter, Wörter
schiedenen Formen auf, die u. a. Tempus (sie geht
Wortschatz: Wörter sind der Bestandteil unserer vs. sie ging), Modus (sie geht vs. sie gehe) sowie
Sprache, dessen wir uns am meisten bewusst Person/Numerus des Subjekts (sie geht vs. du
sind. Dabei haben die wenigsten Sprecher einen gehst) signalisieren, und verlangen oft nominale
Begriff davon, wie groß der Zahl der Wörter ist, Kategorien als syntaktische Ergänzungen (ein
über die sie verfügen. Der Duden (Deutsches Uni- Buch lesen, den Frosch küssen).
versalwörterbuch) beziffert den (Gesamt-)Wort- N Adjektive bezeichnen Eigenschaften (alt, gut,
schatz der Alltagssprache auf ca. 500 000 Wörter. sauer, schnell etc.), können gesteigert (schnell–
Nimmt man dazu noch das Vokabular spezieller schneller–am schnellsten) werden und passen sich
Gebiete wie Fachsprachen hinzu, dürfte die Zahl in ihrer Form an Eigenschaften des Nomens an,
der Wörter in die Millionen gehen (so verzeich- das sie modifizieren (ein alter Mann, eine alte
net das Projekt Deutscher Wortschatz (http:// Frau, ein altes Pferd). Dabei ist zu beachten, dass
wortschatz.uni-leipzig.de/) mehr als 9 Millionen modifizierende Elemente wie Artikel und Adjek-
verschiedener Wörter und Wortgruppen). Natür- tive in einer bestimmten Abfolge auftreten (der
lich liegt die Zahl der Wörter, die von individuel- alte Hut vs. *alte der Hut).
len Sprecher/innen beherrscht werden, um eini- N Adverbien modifizieren Verben, Adjektive oder
ges darunter; so umfasst neueren Schätzungen andere Adverbien und bezeichnen z. B. die nähe-
zufolge der durchschnittliche Wortschatz ameri- ren Umstände einer Handlung (Maria küsst heute/
kanischer Collegestudenten ca. 17 000 Wörter oft/gerne Frösche) oder den Grad, zu dem ein Ad-
(D’Anna u. a. 1991). Die Größe des Wortschatzes jektiv oder Adverb zutrifft (ein echt/ziemlich alter
ist zudem abhängig von Faktoren wie Alter oder Hut, Maria küsst sehr/ausgesprochen gerne Frö-
Bildungsgrad und kann daher von Sprecher zu sche). Im Gegensatz zu den bislang genannten
Sprecher stark variieren (z. B. lassen sich laut Wortarten/lexikalischen Kategorien ist die Form
Goethe Wörterbuch ca. 90 000 Wörter in Goethes von Adverbien invariant.
Werken nachweisen). Darüber hinaus muss man N Präpositionen drücken zeitliche und räumliche
unterscheiden zwischen: Relationen aus (unter dem Hut, auf den Tisch,
N dem aktiven Wortschatz (Wörter, die man an- nach Weihnachten, vor Semesterende etc.). Präpo-
wenden kann) und sitionen verlangen in der Regel eine nominale Er-
N dem passiven Wortschatz (Wörter, die man gänzung und treten wie Adverbien nur in einer
verstehen kann). einzigen Form auf.
Dabei verfügen Kinder im Alter von 10 Jahren in Die genannten Wortarten haben gemeinsam, dass
der Regel bereits über einen Wortschatz von ca. wir in der Regel in der Lage sind, ihnen eine mehr
10 000 Wörtern, d. h., sie müssen während ihres oder weniger konkrete lexikalische Bedeutung zu-
Spracherwerbs mindestens 2 bis 3 neue Wörter zuordnen. Daher spricht man hier auch von lexi-
pro Tag gelernt haben. kalischen Kategorien. Darüber hinaus existieren
Mentales Lexikon: Man nimmt an, dass der Be- in jeder Sprache aber auch Wörter, deren Bedeu-
stand an Wörtern, über die ein einzelner Sprecher tungsgehalt weniger offensichtlich ist, und die in
verfügt, in einem mentalen Lexikon abgespeichert erster Linie dazu verwendet werden, grammatische
sind, das für jeden Lexikoneintrag Informationen Beziehungen oder Funktionen auszudrücken. In
wie Lautgestalt, Bedeutung und syntaktische Ka- Abgrenzung zu den lexikalischen Kategorien wer-
tegorie (traditionell: Wortart) enthält. Die Eintei- den diese Elemente auch als funktionale Kategori-
lung in Klassen von kategorial unterschiedlichen en bezeichnet. Dazu gehören Artikel, Pronomen,
Elementen ist dadurch motiviert, dass verschiede- subordinierende (nebensatzeinleitende) Konjunk-
ne Arten von Wörtern im Deutschen jeweils di- tionen wie dass, ob, koordinierende Konjunktio-
stinktive grammatische Eigenschaften aufweisen: nen wie und, oder, Auxiliare (Hilfsverben wie ha-

49
2.2
Grammatik
Morphologie

ben oder sein) sowie Partikeln wie ja, wohl, denn, So handelt es sich bei singen, singst, sang, gesun-
ruhig, bloß etc., die die Einstellung des Sprechers gen um unterschiedliche Realisierungsformen des
zu seiner Äußerung anzeigen (Komm ruhig her [Er- Lexems SING (Lexeme werden üblicherweise durch
laubnis] vs. Komm bloß her [Drohung]). Zudem die Verwendung von Großbuchstaben oder Kapi-
können auch Präpositionen in bestimmten Kontex- tälchen gekennzeichnet). Die Gesamtmenge aller
ten zum Ausdruck grammatischer Beziehungen Wortformen eines Lexems bilden ein Paradigma.
verwendet werden (Markierung des Objekts in Ma- Paradigmen stellen bestimmte Deklinations-/Kon-
ria wartet auf Peter, Markierung des Possessors/ jugationsmuster dar und werden in der Regel in
Besitzers in das Auto von meiner Mutter). Form einer Tabelle repräsentiert:
Allerdings enthält das mentale Lexikon nicht
nur vollständige Wörter, sondern auch kleinere Singular Plural
Wortbausteine wie un-, ver-, ent-, -bar, -lich etc., Nominativ Vater Väter
mit deren Hilfe komplexe Wörter gebildet werden
Akkusativ Vater Väter
können.
Inhalte des Wörter unterscheiden sich dabei nicht nur hin- Dativ Vater Vätern
mentalen Lexikons sichtlich ihrer Lautgestalt und Bedeutung, wie z. B. Genitiv Vaters Väter
Gurke oder Wolke, sondern wir können auch fest- Tabelle 1: Paradigma von Vater
stellen, dass ein und dasselbe Wort abhängig vom
syntaktischen Kontext, in dem es auftritt, unter-
schiedliche Formen annimmt: Was ist ein Wort? Wir wissen bereits, dass Wörter
der primäre Untersuchungsgegenstand der Mor-
(1) a Marias Vater scheint ein alter Patriarch zu sein. phologie sind. Was aber ist ein Wort? Die zunächst
b Mit den meisten Vätern dieser Generation verhält es sich wenig befriedigende Antwort auf diese Frage lau-
ähnlich. tet, dass es bislang keine allgemein akzeptierte for-
c Bislang konnte Maria den Vorwürfen ihres Vaters aber im- male Definition des Wortbegriffs gibt. Allerdings
mer Paroli bieten. existieren in der Literatur eine Reihe von Vorschlä-
gen, die wir heranziehen können, um unser intui-
In (1) tritt das Wort Vater in drei verschiedenen tives Vorverständnis dessen, was ein Wort ist, zu
Formen auf, die unterschiedliche Werte für die präzisieren (vgl. Di Sciullo/Williams 1987). Ab-
Merkmale Kasus und Numerus signalisieren: No- hängig davon, welche Kriterien bei der Definition
minativ Singular in (1a), Dativ Plural in (1b) und des Wortbegriffs Verwendung finden, unterschei-
Genitiv Singular in (1c). Traditionell wird dieses det man dabei zwischen phonologischen, morpho-
Phänomen als Deklination bezeichnet. Dabei geht logischen und morphosyntaktischen Ansätzen:
man in der Regel davon aus, dass nicht alle dekli- N Ein phonologischer Wortbegriff bestimmt
nierten Varianten eines Worts im Lexikon gespei- Wörter als Lautfolgen, die aufgrund von unab-
chert sind. Vielmehr handelt es sich bei Vater, Vä- hängigen phonetisch-phonologischen Kriterien
tern und Vaters um verschiedene Wortformen, die (Grenzsignale wie Pausen oder die Beobach-
durch entsprechende morphologische Regeln tung, dass Wörter in vielen Sprachen nur genau
(s. u.) erzeugt werden. Im Lexikon steht lediglich einen Hauptakzent tragen können) als separate
die Grundform eines Worts, die bei Nomen dem sprachliche Einheiten identifizierbar sind.
Nominativ Singular entspricht und die man auch N Vor dem Hintergrund eines morphosyntakti-
als Lexem bezeichnet (für eine ausführlichere Dis- schen Wortbegriffs können Wörter als kleinste
kussion des Lexembegriffs vgl. Gallmann 1991): frei auftretende sprachliche Zeichen definiert
werden, die mit bestimmten morphosyntakti-
Definition schen (oder semantischen) Merkmalen (z. B.
Nomen, Verb, Tempus, Genus, Numerus etc.)
Ein   Lexem ist eine abstrakte lexikalische assoziiert sind und Gegenstand von syntakti-
Basiseinheit, die in verschiedenen Wortfor- schen Regeln sein können.
men auftreten kann und Informationen N Ein rein morphologischer Wortbegriff rekur-
über grundlegende Eigenschaften wie Laut- riert auf die Tatsache, dass Wörter eine kom-
gestalt, Kernbedeutung und Wortart ent- plexe innere Struktur aufweisen, d. h., sie kön-
hält. nen, wie eingangs am Beispiel von unkaputtbar
illustriert, aus mehreren kleineren, nicht-kom-

50
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

plexen Bausteinen zusammengesetzt sein, die markierer zu, oder Expletiva wie das semantisch
selbst nicht frei vorkommen können wie un-, neutrale sog. Vorfeld-es, dessen syntaktische Funk-
-bar etc. Diese atomaren Bauelemente der Mor- tion lediglich darin besteht, in Sätzen wie Es wird
phologie nennt man Morpheme. gearbeitet die satzinitiale Position zu füllen. Darü-
ber hinaus zeigen Interjektionen wie äh, wow,
oops etc., dass die relevante außerphonologische
2.2.2.2 | Bausteine der Morphologie
Eigenschaft auch in einer bestimmten pragmati-
Der Begriff des Morphems ist der zentrale theoreti- schen Funktion bestehen kann. Es zeigt sich also, Wort und Morphem
sche Grundbegriff innerhalb der Morphologie. In dass im Rahmen der revidierten Definition des
Anlehnung an den Phonembegriff (kleinste bedeu- Morphembegriffs die Bedeutung nur eine der in
tungsdifferenzierende Einheit, s. Kap. II.2.1) wer- Betracht kommenden Möglichkeiten zur Identifi-
den Morpheme traditionell als kleinste bedeu- kation von Morphemen darstellt. Vor diesem Hin-
tungstragende sprachliche Einheiten bezeichnet, tergrund können wir nun den Begriff des Worts
die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit definieren:
bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung
zerlegt werden können. Definition
Ein bekanntes Problem im Zusammenhang mit
einer bedeutungsbezogenen Definition des Mor-   Wörter sind frei auftretende sprachliche
phembegriffs betrifft die Tatsache, dass es Elemen- Zeichen, die aus kleineren Einheiten (Mor-
te gibt, deren Morphemstatus zwar unstrittig zu phemen) aufgebaut sein können und die
sein scheint, die aber keinen klaren semantischen ihrerseits Gegenstand von syntaktischen
Gehalt aufweisen. Zwar ist es noch einigermaßen Regeln zur Erzeugung größerer Zeichenkom-
deutlich, dass ein Morphem -er wie in Kinder die plexe wie Sätze oder Phrasen sein können.
semantisch relevante Kategorie [Plural] signalisiert
und dass die Bedeutung eines adjektivbildenden
Suffixes wie -lich sich in etwa durch ›wie ein X‹ Wörter und Morpheme können auch zusammen-
wiedergeben lässt (z. B. kind-lich). Bei einem Ele- fallen, wenn ein Wort nicht mehr in kleinere Ein-
ment wie -en, dessen grammatische Funktion dar- heiten zerlegt werden kann. In diesem Fall spricht
in besteht, den Infinitiv zu bilden, ist es jedoch man auch von monomorphematischen Wörtern
weitaus schwerer, dem Morphem einen eindeu- wie Vogel, Nest, Kind, Bett, während Wörter, die
tigen semantischen Gehalt zuzuschreiben. Auf- aus mehreren Morphemen bestehen, auch als
grund solcher Unklarheiten wollen wir in der Fol- komplexe Wörter bezeichnet werden (z. B.
ge von einer weiter gefassten Morphemdefinition Vogel+nest, Kind+bett, Kind+er, kind+lich,
ausgehen, die nicht ausschließlich auf die Bedeu- Kind+lich+keit). Wichtig ist in diesem Zusam-
tung eines Elements Bezug nimmt (vgl. Wurzel menhang die Beobachtung, dass Morphem- und
1984): Silbengrenzen oft nicht identisch sind ((du)
liegst, eine Silbe, aber zwei Morpheme; Kinder:
Definition morphologische Struktur Kind+er, Silbenstruk-
tur Kin-der).
  Morpheme sind einfache sprachliche Zei- Zwei Typen von morphologischen Bildungsele-
chen, die nicht mehr weiter in kleinere Ein- menten werden unterschieden – abhängig davon,
heiten mit bestimmter Lautung und min- ob Wortbausteine als eigenständige Wörter auftre-
destens einer außerphonologischen ten können:
Eigenschaft zerlegt werden können. N Gebundene Morpheme wie -en, -er, -lich, -keit
können nicht selbständig auftreten, sondern be-
nötigen stets ein Trägerelement bzw. eine Basis,
Bei der außerphonologischen Eigenschaft kann es mit der sie sich verknüpfen.
sich um die Bedeutung eines Morphems handeln N Freie Morpheme wie Kind, Schnee, breit, ka-
(z. B. bei Elementen wie Gurke, grün, gegen etc.). putt können auch als eigenständige Wörter
Es kann sich jedoch auch um eine morphosyntak- ohne Hinzufügung weiterer Bausteine erschei-
tische Eigenschaft handeln, die z. B. im Fall von -en nen.
darin besteht, den Infinitiv von Verben zu bilden. Man sieht also, dass Morpheme und Wörter zu-
Ähnliches gilt für Kasusmorpheme, den Infinitiv- sammenfallen können. Anstelle von »gebundenes

51
2.2
Grammatik
Morphologie

Morphem« wird in der Sprachwissenschaft oft fungiert. Letzteres involviert in der Regel die
Typen von gebundenen auch der Oberbegriff Affix gebraucht. Wie bereits Hinzufügung von Flexionsmorphemen, die gram-
Morphemen erwähnt, unterscheidet man bei Affixen/gebunde- matische Kategorien wie Kasus, Numerus, Person,
nen Morphemen zwischen Präfixen und Suffixen, Genus etc. ausdrücken (s. 2.2.3). Beispielsweise
abhängig davon, ob sie vor (Präfixe) oder nach werden im Lateinischen die verschiedenen frei
(Suffixe) ihrem Trägerelement stehen. Darüber hi- auftretenden Deklinationsformen des adjektivi-
naus gibt es im Deutschen einige wenige Zirkum- schen Stamms lucid- durch Hinzufügung von Fle-
fixe, bei denen eine bestimmte morphologische xionssuffixen wie -us ›Nominativ Singular Masku-
Eigenschaft durch eine Kombination aus Prä- und lin‹ oder -a ›Nominativ Singular Feminin‹ gebildet.
Suffix signalisiert wird wie im Falle des Partizip Vor diesem Hintergrund lässt sich der Begriff des
Perfekt (schwache Verben: ge-lach-t, ge-stell-t, ge- Stamms wie folgt definieren:
liebt-t etc.; starke Verben: ge-sung-en, ge-ruf-en, ge-
lung-en, ge-fror-en etc.). Bei näherer Betrachtung Definition
der Partizipformen können wir erkennen, dass sie
z. T. eine lexikalische Basis enthalten, die nicht Ein   Stamm ist ein (potentiell komplexer)
ohne Weiteres als freies Morphem auftreten kann Teil eines Worts, der noch nicht Gegenstand
(lach, stell, sung, lung etc.). Dies zeigt uns, dass von Flexionsprozessen gewesen ist.
auch lexikalische Elemente in gebundener Form,
d. h. unterhalb der Wortebene auftreten können.
Hierbei unterscheidet man zwischen Wurzeln und Die begriffliche Trennung von Stamm und Wurzel
Stämmen (vgl. z. B. Matthews 1991, S. 64). ist im Deutschen allerdings weniger einfach nach-
zuvollziehen, da Wurzeln und Stämme oft zusam-
Definition menfallen und auch frei auftreten können (vgl.
z. B. monomorphematische Adjektive wie blau,
  Wurzeln sind die einfachste, atomare gut, schön, süß etc., die Träger von Flexionsmor-
Form lexikalischer Morpheme. Sie enthalten phemen sein können oder Adverbien wie oft, sel-
keinerlei Affixe und bilden den lexikalischen ten, gern etc., die generell unflektiert auftreten).
Kern von Wörtern. Ein relevantes Beispiel ist aber z. B. die Klasse der
starken Verben im Deutschen. Hier können wir be-
obachten, dass unterschiedliche Tempus- und Mo-
Lexikalische Wurzeln und Stämme: Im Deutschen entsprechen dusformen des Verbs nicht durch Affixe, sondern
Morpheme Wurzeln oft freien Morphemen wie Bau, Kauf, durch Veränderungen des Stammvokals markiert
Ruf, Rat etc., während in vielen anderen Sprachen werden. Dieses Phänomen wird Ablaut genannt
Wurzeln zunächst Gegenstand weiterer morpholo- (s. Tab. 2).
gischer Prozesse sein müssen, um ein vollständi- Die unterschiedlichen Verbformen in Tabelle 2
ges Wort zu bilden. So liegt im Lateinischen dem sind jeweils Stämme, an die Flexionsaffixe heran-
Adjektiv lucidus ›leuchtend-nom.sg.mask.‹ und treten können. Die Faustregel für die Ermittlung
dem Verb lucere ›leuchten‹ die gleiche (abstrakte) des Verbstamms lautet somit »flektierte Verbform
Wurzel luc- zugrunde, die im ersteren Fall durch minus Flexionsendung = Stamm«. Der Wurzel
Hinzufügung des Derivationsmorphems -id- zu entspricht dabei derjenige Stamm, der in der 2.
einem adjektivischen Stamm umgeformt wird. Person Plural Indikativ Präsens erscheint (ihr fin-
Tabelle 2: Stämme sind also typischerweise eine Kombina- det – finden). Für das Deutsche gilt somit, dass
Beispiele für Ablautreihen tion aus Wurzel und weiteren Affixen, die als sämtliche Wurzeln auch (flektierbare) Stämme
im Deutschen morphologische Basis zur Bildung von Wörtern sein können, nicht aber umgekehrt. Da die Unter-
scheidung zwischen Stamm und Wurzel aber in
Vokalalternation Präsens Präteritum Partizip Perfekt
vielen Fällen keine größere Rolle spielt, wird statt
Stamm bzw. Wurzel oft auch der einfachere Be-
i-a-u find- fand- (ge)-fund-(en) griff (lexikalische) Basis verwendet.
e/i-a-e geb-, gib- gab- (ge)-geb-(en) Wurzel vs. Lexem: An dieser Stelle mag die Fra-
u-i-u ruf- rief- (ge)-ruf-(en) ge auftreten, wie sich die Begriffe ›Wurzel‹ und
ü-o-o lüg- log- (ge)-log-(en)
›Lexem‹ zueinander verhalten. Eine erste Antwort
darauf lautet, dass es sich bei Lexemen um ab-
i-a-o rinn- rann- (ge)-ronn-(en) strakte Elemente des Lexikons handelt, während

52
2.2
Grammatik
Grundbegriffe
und Teilbereiche

Wurzeln konkrete morphologische Einheiten dar- zugrundeliegenden Morphem zugeordnet ist. So


stellen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied be- kann man die Wörter Bretter und später morpholo-
steht darin, dass Wurzeln stets atomare, nicht- gisch jeweils als eine Kombination aus zwei Mor-
komplexe Einheiten darstellen, während Lexeme phen (Basis + -er) analysieren. In einem zweiten
auch aus mehreren lexikalischen Elementen beste- Analyseschritt werden die Morphe dann klassifi-
hen können (vgl. z. B. zusammengesetzte Nomen ziert, d. h., sie werden als Allomorphe bestimmter
wie FAHRRAD oder sog. Partikelverben wie AUFGEBEN). Morpheme identifiziert, die im vorliegenden Bei-
Allerdings werden die beiden Begriffe in neueren spiel zufällig homophon sind (Pluralsuffix -er vs.
theoretischen Ansätzen oft auch synonym ge- Komparativsuffix -er).
braucht. So ersetzt der Begriff ›Wurzel‹ im Rah-
men der sog. ›Distribuierten Morphologie‹ das Zur Vertiefung
›Lexem‹ als abstrakte lexikalische Basiseinheit
(vgl. z. B. Harley/Noyer 1999). Die Verteilung von Allomorphen
Tabelle 3 zeigt eine andere Art von Morphem- Das Phänomen der Allomorphie kann als Hinweis darauf verstanden werden,
variation, die von der in Tabelle 2 illustrierten dass das eigentlich zugrundeliegende Morphem lediglich eine abstrakte gramma-
Stammalternation im Zusammenhang mit Ablaut- tische Funktion darstellt (also ein Bündel von morphologischen bzw. morpho-
reihen grundsätzlich unterschieden werden muss: syntaktischen Merkmalen, im vorliegenden Fall [Plural]), das durch die entspre-
chenden Allomorphe (= phonologische Ausbuchstabierungen eines abstrakten
Pluralendung Beispiele Morphems) realisiert wird (Matthews 1991). Die Wahl eines Allomorphs ist dabei
-e Tag, Tag-e von phonologischen, morphologischen und lexikalischen Faktoren bestimmt (vgl.
z. B. Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987). So ist die Verteilung (statt ›Verteilung‹
-e (mit Umlaut) Gast, Gäst-e
(fem.: Laus, Läus-e) sagt man auch ›Distribution‹) der Pluralmorpheme -en und -n phonologisch be-
dingt: Sie ist abhängig von der Struktur der vorangehenden Silbe. Enthält diese
-(e)n Bett, Bett-en
bereits den sog. Schwa-Laut []), so muss -n gewählt werden. In allen anderen
Hantel, Hantel-n
Fällen wird der Plural mit -en gebildet (ein vorangestelltes Sternchen kennzeich-
-er Brett, Brett-er
net nicht zulässige Formen: Hantel o Hantel-n, *Hantel-en; Form o Form-en,
-er (mit Umlaut) Haus, Häus-er *Form-n). Dabei handelt es sich um eine generelle phonologische Regularität des
-‡ (Nullmorphem) Engel, Engel-‡ Deutschen, die nicht nur bei der Pluralbildung, sondern z. B. auch bei der Infini-
-‡ (Nullmorphem mit Tochter, Töchter-‡ tivendung -en greift (segel-n, *segel-en; fühl-en, *fühl-n). Diese Beobachtung
Umlaut) kann durch die Annahme erfasst werden, dass das entsprechende Allomorph nur
-s Auto, Auto-s aus -n besteht, und dass die Einsetzung eines Schwa als Stützvokal erfolgen
muss, falls aus der Anfügung der Endung eine unzulässige Silbenstruktur resul-
Tabelle 3: Pluralendungen im Deutschen
tieren würde. Demgegenüber ist die Distribution der Pluralendung -er ein Bei-
spiel für eine morphologisch bedingte Wahl von Allomorphen, da diese Endung
Allomorphie: Wie aus Tabelle 3 ersichtlich, existie- nur bei Nomen mit dem Merkmal [-feminin] zu finden ist. Allerdings wird die
ren im Deutschen insgesamt acht verschiedene Wahl des Allomorphs durch diese Regel nicht vollständig determiniert, sondern
Möglichkeiten zur Bildung der Mehrzahl von No- lediglich eingeschränkt. Schließlich kann die Distribution eines Allomorphs auch
men (vgl. Eisenberg 2006; Duden 2006). Im Ge- von rein lexikalischen Faktoren abhängig sein. So kann die Tatsache, dass die
gensatz zum Ablaut, der dazu dient, bestimmte Pluralformen von Bett und Brett unterschiedliche Pluralendungen involvieren
Stammvarianten zu markieren, die eine unter- (-en vs. -er), nicht auf eine unabhängige phonologische oder morphologische Re-
schiedliche morphosyntaktische Funktion besitzen gularität zurückgeführt werden und muss daher von Sprechern während des
(z. B. Präsens vs. Präteritum), handelt es sich bei Spracherwerbs ›auswendig gelernt‹ werden.
den verschiedenen Pluralendungen um verschie-
dene Formelemente, die dieselbe grammatische/
morphologische Funktion haben. In Anlehnung an
2.2.2.3 | Teilbereiche der Morphologie
die phonologische Unterscheidung zwischen Allo-
phonen und Phonemen spricht man in diesem Zu- Bislang wurde bereits zwischen Flexions- und De-
sammenhang auch von Allomorphen eines Mor- rivationsmorphemen begrifflich unterschieden,
phems. ohne dass diese Unterscheidung systematisch be-
Analog zum Begriff des Phons ist ein Morph gründet bzw. vor einem theoretischen Hintergrund
eine bedeutungstragende bzw. grammatisch funk- eingeordnet wurde. Dies soll nun nachgeholt wer-
tionale Segmentfolge, die aber noch nicht einer den. Die Unterscheidung zwischen Flexion und
bestimmten Funktion bzw. einem bestimmten Derivation ist Bestandteil der traditionellen Auf-

53
2.2
Grammatik
Morphologie

gliederung der Morphologie in die Teilbereiche der schen Komponente der Grammatik verantwortlich
Flexion (Formenlehre) und Wortbildung, wobei sind, indem sie aus einer endlichen Menge von
letztere neben der Derivation auch noch die Kom- Wortbausteinen eine potentiell unendlich große
position umfasst: Zahl von Neubildungen erzeugen können. Gene-
rell gilt dabei, dass flektierte Formen nicht im
(2) Morphologie mentalen Lexikon abgelegt werden, während dies
bei gängigen Resultaten von Wortbildungsprozes-
sen (z. B. Ver-gangen-heit, Gammel-fleisch, Welt-
meister-schaft) durchaus der Fall ist. In der Regel
Flexion (Formenlehre) Wortbildung bereitet die Unterscheidung von Flexion und Wort-
bildung/Derivation kaum Probleme. Dennoch
kann man sich die Frage stellen, ob es sich bei
Flexion und Wortbildung um verschiedene oder
identische Prozesse des morphologischen Struk-
Konjugation Deklination Derivation Komposition turaufbaus handelt (die u. U. den gleichen Gesetz-
mäßigkeiten unterliegen müssten; für einen Über-
blick über relevante theoretische Ansätze vgl.
Teilbereiche Flexion: Mit dem Begriff ›Flexion‹ oder ›Formen- Spencer 1991).
der Flexion: lehre‹ bezeichnet man die regelmäßige Bildung
charakteristische (›Beugung‹) verschiedener Wortformen eines zu-
Eigenschaften grundeliegenden Lexems oder Wortstamms in Ab-
hängigkeit von grammatischen Kategorien wie Nu- 2.2.3 | Flexion
merus, Genus, Person, Kasus, Tempus, Modus
oder Komparativ. Ferner unterscheidet man traditi- Wir haben bereits gesehen, dass die Form eines
onell innerhalb der Flexion zwischen Worts abhängig ist vom syntaktischen Kontext, in
N verbaler Flexion (Konjugation, dem es auftritt. Dabei gilt generell, dass Stämme
lieb+st[2. Sg. Präsens Indikativ]) und flektiert werden müssen, um als Bausteine von
N nominaler Flexion (Deklination, Sätzen auftreten zu können. So können wir im
Vater+s[Genitiv Singular]), wobei letztere auch die Deutschen und in vielen anderen Sprachen beob-
Bildung flektierter Adjektive, Pronomen und achten, dass sich die Form eines Verbs in Abhän-
Artikel umfasst. gigkeit von den grammatischen Merkmalen (Per-
Wortbildung: Mit dem Begriff der Wortbildung son und Numerus) des Subjekts verändert: Ich
bezeichnet man die Bildung (neuer) komplexer geh-e, du geh-st, wir geh-en etc. Dieses Phänomen
Wörter durch die Kombination bereits vorhande- nennt man Kongruenz. Bei flektierten Verben wie
ner Wörter und Wortbausteine. Dabei unterschei- geh-st handelt es sich um komplexe Wortformen,
det man zwischen Komposition und Derivation, die aus einem Stamm und einer Flexionsendung
abhängig davon, ob das resultierende Wort meh- bestehen. Letztere signalisiert Person und Nume-
rere lexikalische Wurzeln umfasst (Gurken-ge- rus des Subjekts. Der Begriff der Flexion bezeich-
würz, Rot-wein, Kalt-licht-reflektor-stift-sockel-lam- net also die Bildung von Wortformen eines Lexems
pe) oder ob eine Kombination aus Wurzel und abhängig vom syntaktischen Kontext. Im Deut-
einem oder mehreren (gebundenen) Derivations- schen sind dabei die in Tabelle 4 genannten gram-
affixen vorliegt (Ver-pflicht-ung, auf-lös-bar, ver- matischen bzw. morphosyntaktischen Merkmale
un-möglich-en). beteiligt (Duden 2006, S. 131; keine Erwähnung
Flexion vs. Wortbildung: Ein wesentlicher Un- finden hier die Genus verbi [lat. ›Geschlecht des
terschied zwischen Flexion und Wortbildung be- Verbs‹, also z. B. Aktiv vs. Passiv] sowie die zu-
steht darin, dass nur letztere wortartverändernd sammengesetzten Tempusformen Perfekt, Plus-
wirkt (vgl. Verbstamm glaub- o Adjektiv unglaub- quamperfekt, Futur [I + II], da sie im Deutschen
lich o Nomen Unglaublichkeit). Flexionsprozesse durch syntaktische und nicht durch morphologi-
zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie auf eine sche Mittel gebildet werden).
geschlossene Klasse von gebundenen Morphemen Die verschiedenen Merkmalklassen sind dabei
zugreifen, die eine endliche Menge grammatischer nicht für alle Lexeme in gleicher Weise relevant
Funktionen kennzeichnen, während Prozesse der (z. B. spielt Komparation ausschließlich bei Adjek-
Wortbildung für die Kreativität der morphologi- tiven eine Rolle, nicht aber bei Verben oder No-

54
2.2
Grammatik
Flexion

Merkmal- Merkmalwerte die Konsonantenstruktur des Stamms betreffen


klasse (ich bringe, ich brachte; ich esse, ich habe ge-gess-
Person 1. Person, 2. Person, 3. Person en). Einen Extremfall stellen sog. Suppletivfor-
men dar, bei denen keinerlei phonologische Ge-
Numerus Singular, Plural
meinsamkeiten zwischen den flektierten Formen
Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum zu erkennen sind (ich bin, ich war). Suppletion
Kasus Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv entsteht im Laufe der historischen Entwicklung ei-
Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ ner Sprache, wenn die Elemente eines Paradigmas
von verschiedenen Stämmen abgeleitet werden.
Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv (I + II)
So beinhaltet das Paradigma des Auxiliars sein For-
Tempus Präsens, Präteritum men, die ursprünglich auf drei verschiedene (indo-
Tabelle 4: Grammatische Merkmalklassen und Merkmale europäische) Wurzeln zurückgehen.
im Deutschen
2.2.3.1 | Verbale Flexion
men). Diese charakteristischen Unterschiede kön- Wie bereits erwähnt, sind für die Verbflexion im
nen zur Einteilung in die verschiedenen Wortarten Deutschen die Merkmale Person, Numerus, Tem-
herangezogen werden (vgl. Duden 2006, S. 132): pus und Modus relevant. Allerdings zeigen nicht
alle Verbformen entsprechende Flexionsmarkierun- Verbformen und
Wortart Flexionsmerkmale gen. Der Infinitiv (singen), das Partizip I (singend) Konjugationsklassen
Verb Person, Numerus, Modus, Tempus und das Partizip II (gesungen) bleiben unflektiert
und werden als nicht-finite oder infinite Verbfor-
Substantiv Numerus, Kasus (lexikalisch festgelegt:
Genus) men bezeichnet, die im Deutschen zusammen mit
flektierten Hilfsverben die zusammengesetzten
Pronomen Person, Numerus, Genus, Kasus
analytischen Tempusformen wie Perfekt (ich habe
Artikel Numerus, Genus, Kasus gesungen) oder Futur (ich werde singen) bilden. Im
Adjektiv Numerus, Genus, Kasus, Komparation Gegensatz dazu spricht man von finiten Verben,
Nichtflektier- keine wenn die Verbformen Flexionsunterschiede hin-
bare sichtlich der eingangs genannten Merkmalskatego-
Wortarten rien signalisieren. Einfache finite Verben treten im
Tabelle 5: Wortarten und Flexionsmerkmale im Deutschen Deutschen in den synthetischen Tempusformen
Präsens und Präteritum auf. Die Infinitivendung
-en und die Partizipmorphologie werden generell
Ausdrucksmittel der Flexion: Die morphologischen auch den Flexionsendungen zugerechnet, da sie in
Mittel, von denen das Deutsche Gebrauch macht, komplementärer Distribution mit anderen Flexi-
um Flexionseigenschaften zu realisieren, umfas- onsendungen stehen (d. h., die Konjugationssuffixe
sen vor allem Suffixe (Kasus, Tempus, Kongruenz, können z. B. nicht an -en angehängt werden, vgl.
Numerus, Komparativ). Ein präfigales Bildungs- Altmann/Kemmerling 2000, S. 37). Für die flektier-
element (/g-/) tritt bei Partizipien auf, allerdings ten Verben des Deutschen gilt generell, dass an den
nur im Zusammenhang mit den Suffixen /-t/ Verbstamm zunächst die Tempusmarkierung und
(schwache Verben: ge-kauf-t) und /-n/ (starke anschließend die Kongruenzendung (signalisiert
Verben: ge-sung-en). Bei starken Verben ist zudem Person und Numerus des Subjekts) affigiert wer-
eine Änderung des Stammvokals zu beobachten, den (Verbstamm+Tempus+Kongruenz). Zusätz-
bei der ein Grundvokal durch einen anderen er- lich können Flexionsdistinktionen durch eine Ver-
setzt wird (Ablaut: ich spreche – ich sprach – ich änderungen des Stammvokals signalisiert werden
habe gesprochen). Vor allem bei der Pluralbildung (Ablaut). Abhängig von den morphologischen Mit-
von Nomen tritt eine andere Veränderung des teln, die zur Realisierung von Tempus und Modus
Stammvokals auf, bei der der Wurzelvokal durch herangezogen werden, unterscheidet man drei Fle-
einen entsprechenden Vordervokal (ä, ö, ü, äu) er- xionsklassen: schwache Verben, starke Verben
setzt wird (Umlaut: der Nagel, die Nägel; die Toch- und Suppletivformen (für detailliertere Übersich-
ter, die Töchter; zum synchronen Status von Um- ten, die weitere Teilklassen berücksichtigen vgl.
laut und Ablaut im Deutschen vgl. Wiese 1996). In Eisenberg 2006 und Duden 2006):
einigen Fällen treten auch Veränderungen auf, die

55
2.2
Grammatik
Morphologie

Schwache Verben: legen Starke Verben: singen Suppletivformen: sein 2.2.3.2 | Nominale Flexion
Präsens Präteritum Präsens Präteritum Präsens Präteritum
1. Sg. leg-e leg-te sing-e sang bin war Im Deutschen umfasst die nominale Flexion die
Merkmalskategorien Kasus, Numerus, Person (nur
2. Sg. leg-st leg-te-st sing-st sang-st bist war-st
bei Pronomen), Genus (nur bei Pronomen und Ad-
3. Sg. leg-t leg-te sing-t sang ist war
jektiven sichtbar markiert), sowie Komparation
1. Pl. leg-en leg-te-n sing-en sang-en sind war-en
(nur bei Adjektiven). Wie in vielen Sprachen si-
2. Pl. leg-t leg-te-t sing-t sang-t seid war-t gnalisieren die Pronominalformen die meisten Un-
3. Pl. leg-en leg-te-n sing-en sang-en sind war-en terscheidungen, während bei Substantiven und
auch Adjektiven eine Vielzahl von Formen zusam-
Tabelle 6: Schwache und starke Verben unterscheiden sich menfällt. Dabei kann man beobachten, dass nicht
Konjugationsklassen darin, dass nur in letzteren Flexionsunterschiede alle Substantive auf die gleiche Art flektiert wer-
im Deutschen durch Stammvokaländerung realisiert werden den. Abhängig von der Zahl und Art der jeweils
(Ablaut). Im Gegenwartsdeutschen ist nur die auftretenden Flexionsendungen unterscheidet man
schwache Flexionsklasse produktiv (vgl. Neubil- vier Hauptklassen der Substantivflexion im Deut-
dungen wie ich sims-e, ich sims-te, ich habe ge- schen (s. Tab. 7).
sims-t). Insgesamt existieren noch ca. 170 starke Starke und schwache Nomen: Anders als bei
Verben, von denen viele zum Grundwortschatz Verben ist die Unterscheidung zwischen starken
gehören und daher besonders häufig verwendet und schwachen Nomen nicht von dem Vorliegen
werden. einer Stammvokaländerung abhängig. Entschei-
Bei näherer Betrachtung der Paradigmen in Ta- dend ist lediglich die Stärke, d. h. relative Vielfäl-
belle 6 kann man feststellen, dass keine Eins-zu- tigkeit der auftretenden Endungen. Dabei gibt es
eins Zuordnung von (Wort-)Form und grammati- zwei entscheidende Kriterien:
scher Funktion vorliegt. Beispielsweise tritt die N Starke Nomen bilden den Genitiv Singular mit -s;
Form legt sowohl als 3. Person Singular (3. Sg.)als N Schwache Nomen weisen im Plural ausschließ-
auch als 2. Person Plural (2. Pl.) auf. Einen sol- lich die Endung -(e)n auf.
chen Zusammenfall verschiedener Wortformen Die sog. gemischte Deklination (wie z. B. bei
bzw. Zellen eines Paradigmas bezeichnet man als Ende oder Ohr) ist dadurch gekennzeichnet, dass
Synkretismus. Synkretismen treten oft in be- sie im Gegensatz zu allen anderen Flexionsklas-
stimmten Mustern auf, die für das Flexionssystem sen beide Kriterien in widersprüchlicher Art und
einer Sprache charakteristisch sind. So fallen im Weise erfüllt.
Deutschen in allen verbalen Flexionsklassen die Kasussynkretismus bei Nomen: Tabelle 7 zeigt
Formen für 1. Person Plural und 3. Person Plural außerdem, dass die Nominalparadigmen des Deut-
zusammen. In diesen Kontexten sind die Unter- schen von massivem Kasussynkretismus gekenn-
schiede hinsichtlich des Merkmals [Person] zeichnet sind. So gilt für praktisch alle Nomen,
neutralisiert; es findet sich nur eine Endung -en, dass Nominativ und Akkusativ in Singular und
die lediglich Numerus (Plural) signalisiert (ein Plural zusammenfallen (lediglich die schwachen
weiterer systematischer Synkretismus tritt im Zu- maskulinen Nomen weisen die Endung -en im Ak-
sammenhang von 1. Person Singular und 3. Per- kusativ Singular auf, die allerdings im Schwinden
son Singular im Präteritum auf). begriffen ist); bei den femininen Nomen wird le-
Zur Vertiefung diglich zwischen Singular und Plural unterschie-
den, d. h., es sind überhaupt keine Kasusunter-
Unterspezifikation scheidungen mehr sichtbar.
Bei der theoretischen Beschreibung von Synkretismen geht man oft davon aus, Pronomen: Im Vergleich dazu sind die Formen
dass die relevanten Flexionsaffixe für bestimmte morphosyntaktische Merkmale der Personalpronomen wesentlich aussagekräfti-
unterspezifiziert sind (also keine entsprechenden Merkmalwerte signalisieren). ger. Sie signalisieren nicht nur zusätzlich die
Der Begriff der Unterspezifikation drückt aus, dass es sich bei Synkretismen um Merkmale Person (1., 2., 3. Person) und Genus (in
eine fehlende Übereinstimmung (engl. mismatch) zwischen Syntax und Morpho- der 3. Person Singular: Maskulin, Feminin, Neu-
logie handelt, die dadurch zustandekommt, dass die Morphologie nur eine Teil- trum, abhängig von den relevanten Eigenschaften
menge der Merkmalsunterscheidungen realisiert/signalisiert, die in der Syntax des Substantivs, das vom Pronomen ersetzt wird),
repräsentiert sind (für entsprechende Analysen der deutschen Verbflexion vgl. sondern weisen auch eine wesentlich größere An-
Bierwisch 1961; Müller 2006). zahl von Kasusunterscheidungen auf (s. Tab. 8).

56
2.2
Grammatik
Wortbildung

I: Mask./Neut., stark II: Mask., schwach III: Mask./Neut., gemischt IV: Fem., schwach
Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl.
Nom. Berg Berg-e Hase Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en
Akk. Berg Berg-e Hase(-n) Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en Tabelle 7:
Flexionsklassen
Dat. Berg-(e) Berg-en Hase(-n) Hase-n Ende Ende-n Frau Frau-en
(Substantivflexion)
Gen. Berg-es Berg-e Hase-n Hase-n Ende-s Ende-n Frau Frau-en
des Deutschen

Synkretismen bei Pronomen: Daher spricht man 1. Person 2. Person 3. Person


im Zusammenhang mit Pronomen auch davon, Sg. Pl. Sg. Pl. Sg. Pl.
dass sie stark flektieren. Allerdings treten auch
Nom. ich wir du ihr er/sie/es sie
hier einige Synkretismen auf. So gibt es in der 3.
Person feminin nur eine einzige Form sie, die we- Akk. mich uns dich euch ihn/sie/es sie
der Numerus noch die Unterscheidung zwischen Dat. mir uns dir euch ihm/ihr/ihm ihnen
Nominativ und Akkusativ signalisiert (auch das
Gen. meiner unser deiner euer seiner/ihrer/seiner ihrer
Neutrum es unterscheidet nicht zwischen Nom.
und Akk.). Ferner fallen in der 1. und 2. Person
Plural Akkusativ und Dativ zusammen, und es lar feminin nicht zwischen Dativ und Genitiv un- Tabelle 8:
zeigt sich, dass im Plural generell keine Genus- terschieden wird – die gleichen Synkretismen auf, Personalpronomen
merkmale kodiert werden. Trotzdem können wir wie sie uns bereits bei den Personalpronomen der des Deutschen
festhalten, dass die Personalpronomen des Deut- 3. Person entgegengetreten sind (Bierwisch 1967;
schen wesentlich mehr morphosyntaktische Un- s. Tab. 9):
terscheidungen signalisieren als die Substantive.
Pronominale Flexion (Artikel): Bei Substantiven Maskulinum Neutrum Femininum Plural
werden Synkretismen zum Teil wieder dadurch Nom. dies-er dies-es dies-e dies-e
kompensiert, dass die entsprechenden Unterschei-
Akk. dies-en dies-es dies-e dies-e
dungen am Artikel, Demonstrativpronomen oder
Adjektiv markiert werden: Nom. der/dieser Hut vs. Dat. dies-em dies-em dies-er dies-en
Akk. den/diesen Hut bzw. Nom. ein alter Hut vs. Gen. dies-es dies-es dies-er dies-er
Akk. einen alten Hut. Diese Elemente fallen unter Tabelle 9: Pronominalflexion des Deutschen am Beispiel des Demonstrativpronomens dies-
die sog. pronominale Flexion und weisen interes-
santerweise – bis auf die Tatsache, dass im Singu-

Zur Vertiefung 2.2.4 | Wortbildung

Starke und schwache Adjektivflexion Bei der Wortbildung handelt es sich um die pro-
Das ohnehin recht komplexe System der pronomi- duktive Komponente der Morphologie, die es uns
nalen Flexion wird im Deutschen und anderen erlaubt, mithilfe einer endlichen Zahl von Wort-
germanischen Sprachen noch dadurch verkompli- bausteinen eine prinzipiell unendliche Zahl von
ziert, dass die Realisierung der Flexion am Adjek- (neuen) Wörtern zu erzeugen. Dies weist auf die
tiv abhängig ist vom syntaktischen Kontext. Die Existenz von strukturerzeugenden Regeln hin, die
Faustregel lautet dabei, dass das Adjektiv schwach die Verknüpfung von Morphemen steuern.
flektiert (d. h., weniger Unterscheidungen signali- Folgende Typen der Wortbildung finden sich im
siert), wenn die relevanten Unterscheidungen be- Deutschen:
reits am Artikel markiert werden, während es N die Derivation, d. h. die Bildung von Wörtern
stark flektiert, wenn die relevanten Merkmale durch die Kombination von Wörtern/Stämmen
nicht bereits am Artikel ausgedrückt werden: mit gebundenen Derivationsmorphemen wie
(3) a der alte Hut z. B. in Sinn+lich+keit;
b ein alter Hut N die Komposition, die traditionell definiert wird
c dem alten Hut als die Verknüpfung von Wörtern zu neuen
d mit altem Hut Wörtern (z. B. Donaudampfschifffahrtsgesell-
schaftskapitän);

57
2.2
Grammatik
Morphologie

N die sog. Konversion, bei der sich die Wortart suffixe nur mit einer einzigen Wortart verknüpft
(N[omen], V[erb], A[djektiv]) eines Elements werden können (vgl. die Diskussion von unkaputt-
ändert, ohne dass ein sichtbares Derivations- bar). Für alle Derivationsaffixe gilt, dass sie die
morphem vorhanden ist (die Infinitivendung Bedeutung der Basis, an die sie angehängt werden,
-en wird allgemein als Flexionsform aufgefasst (mehr oder weniger systematisch) verändern. So
und kann daher nicht die Wortart in Formen ist das Resultat der Suffigierung von -heit oder -keit
wie fisch-en bestimmen): stets ein (feminines) Nomen, das einen abstrakten
Begriff wie Einfachheit oder Heiterkeit bezeichnet.
(4) a N o V: Fisch, fisch-en; Nerv, nerv-en; Job, jobb-en; Bluff, Bildungselemente der Derivation: Die Tabel-
bluff-en len 10 und 11 geben einen Überblick über die Bil-
b V o N: laufen, Lauf; kicken, Kick; stauen, Stau dungselemente, die im Deutschen bei der Derivati-
c N o A: Schmuck, schmuck; Klasse, klasse; Elend, elend on beteiligt sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit;
d A o N: blau, (das) Blau; sein, (das) Sein; deutsch, (das) weitgehend unberücksichtigt bleiben z. B. nicht-
Deutsch native Elemente wie anti-, ex-, -iker, -ismus etc.;
vgl. Olsen 1986; Fleischer/Barz 1995; Altmann/
In der Forschung herrscht bislang noch keine Ei- Kemmerling 2000).
nigkeit darüber, ob die Konversion tatsächlich ei-
nen eigenständigen Wortbildungstyp darstellt oder Typ Präfixe Beispiele (Auswahl)
unter die Derivation subsumiert werden kann (un- VoV ge-, er-, ver-, be-, ge-winnen, er-warten,
ter der Annahme, dass bei den Bildungen in (4) ent-, zer-, miss-, ver-raten, be-raten,
ein wortartveränderndes Nullmorphem an die Ba- ab-, an-, über-, ent-binden, zer-reden,
auf-, unter-, nach-, miss-raten, ab-/an-/
sis affigiert wird, vgl. Olsen 1990). hinter-, durch-, über-/auf-/unter-/
um-, wider-/ nach-bauen
wieder-, voll-
2.2.4.1 | Derivation
NoN un-, ge-, be-, ur- Un-glück, Ge-flügel,
Für den Bereich der Derivation ist die Verwendung Be-hörde, Ur-sache
einer geschlossenen Klasse von gebundenen Mor- AoA un-, ge-, ur- un-schön, ge-mein,
phemen charakteristisch, die zur Wortbildung her- ur-alt
angezogen werden. Generell gilt, dass Derivations-
Tabelle 10: Derivationspräfixe (nativ) des Deutschen
morpheme an Wurzeln bzw. Stämme angehängt
(man sagt auch: affigiert) werden. Letztere kön-
nen dabei selbst komplex sein und bereits andere Produktivität: Dabei können wir beobachten, dass
Derivationsmorpheme enthalten, wie z. B. bei es Unterschiede hinsichtlich der Produktivität von
[Kind+lich]+keit. Ferner unterscheidet man für Wortbildungsprozessen gibt. Generell gilt, dass
Bildungselemente und das Deutsche zwischen Derivationspräfixen und nur solche Derivationsmorpheme als produktiv
strukturelle Eigenschaften Derivationssuffixen, die jeweils unterschiedliche bezeichnet werden, die in der Gegenwartssprache
Eigenschaften aufweisen. Insbesondere gilt, dass häufig zur Bildung neuer Wörter verwendet wer-
nur Derivationssuffixe wortartverändernd wirken den. So sind Neubildungen mit dem produktiven
(und z. B. auch das Genus des komplexen Worts Präfix un- sehr verbreitet (uncool, unkaputtbar
bestimmen, vgl. der Mann und die daraus abgelei- etc.), während das Element be- (wie in Be-hörde)
tete Diminutivform das Männchen), während De- nicht mehr zur Neubildung von Nomen herange-
rivationsspräfixe morphosyntaktische Eigenschaf- zogen wird und daher in diesem Bereich als un-
ten der Basis wie Wortart und Genus unberührt produktiv gilt (vgl. aber verbale Neubildungen wie
lassen. Dies kann durch die Annahme erfasst wer- be-eimern, be-simsen etc.). Letzteres betrifft auch
den, dass das Bildungselement, das die morpho- die Bildungen mit ge-, die zwar einigermaßen häu-
syntaktischen Eigenschaften des komplexen Worts fig sind, aber nicht mehr durch Neubildungen an-
bestimmt (der sog. Kopf), stets am rechten Rand gereichert werden:
des Ausdrucks erscheinen muss (sog. Right-Hand- N Verben: gelingen, gefallen, gedenken, geloben
Head-Rule, vgl. Di Sciullo/Williams 1987). Darü- N Nomen: Gebirge, Geäst, Gesträuch, Gebälk, Ge-
ber hinaus kann man beobachten, dass Deriva- büsch
tionspräfixe mit mehreren Arten von Basen N Adjektive: gesund, geschwind, geheim, geheuer
kompatibel sind (vgl. un+schön, Adjektiv, vs. Ein Ausnahme in doppelter Hinsicht sind jedoch
Un+glück, Nomen), während viele Derivations- Nomen, die durch Affigierung von ge- an Verben

58
2.2
Grammatik
Wortbildung

gebildet werden: Geplapper, Gelaber, Gehämmer, Typ Suffixe Beispiele (Auswahl)


Gehampel, Gebell; mit finalem Schwa: Gebrülle, N/V/A o V -er-(n), -el-(n), -ig-(en), mild-ern, blöd-eln, fest-igen, buchstab-
Gebelle, Geschluchze, Gehopse etc. Diese Bildun- -ier-(en), -isier-(en), ieren, krit-isieren, klass-ifizieren
gen sind zum einen in der Gegenwartssprache voll -ifizier-(en)
produktiv; zum anderen zeichnen sie sich schein- VoN -e, -ei, -el, -er/-ler/-ner, -nis, Bleib-e, Heuchel-ei, Deck-el, Lüg-ner,
bar dadurch aus, dass das Präfix in diesen Fällen -schaft, -sal/-sel, -t, -ung Ärger-nis, Machen-schaft, Rinn-sal,
Füll-sel, Fahr-t, Les-ung
ausnahmsweise wortartverändernd wirkt.
Derivation mittels Suffigierung: Derivations- AoN -heit/-keit/-igkeit, -nis, -ling, Heiter-keit, Falsch-heit, Genau-igkeit,
-i Finster-nis, Finster-ling, Soft-i
prozesse, die auf der Basis von Suffigierung ope-
rieren, sind im Deutschen weit verbreitet und ge- NoA -haft, -ig, -isch, -en/-ern, meister-haft, stein-ig, spieler-isch, blei-ern,
-lich, -los, -mäßig kind-lich, glück-los, sau-mäßig
hören zu den produktivsten Wortbildungstypen.
Adv o A -ig, -isch allein-ig, link-isch
Ein Blick auf die folgende Auswahl von Derivati-
onssuffixen lässt bereits wesentliche Unterschiede VoA -bar, -lich, -sam lös-bar, lös-lich, anschmieg-sam
zu der Klasse der Präfixe erkennen (für vollständi- A o Adv -ens, -lings, -weise, -s schnellst-ens, blind-lings, lächerlicher-
weise, bereit-s
gere Angaben vgl. Fleischer/Barz 1995; Altmann/
Kemmerling 2000): Derivationssuffixe können die N o Adv -weise, -wärts schritt-weise, seit-wärts
Wortart verändern (müssen es aber nicht, wie die VoV -el-(n), -er-(n) dräng-eln, blink-ern
unteren drei Zeilen von Tabelle 11 zeigen) und AoA -haft, -lich, -ig, -isch, -sam krank-haft, klein-lich, faul-ig, genial-isch,
sind gleichmäßiger auf die einzelnen Bildungs- satt-sam
klassen verteilt (während bei den Präfixen ein NoN -chen, -lein, -in, -er/-ler/-ner, Kind-chen, Männ-lein, Maler-in, Schäf-er,
-heit, -ling, -nis, -schaft, Kind-heit, Schreiber-ling, Bild-nis,
deutliches Übergewicht zugunsten der verbalen
-tum, -i Ärzte-schaft, Beamten-tum, Gruft-i
Derivation zu beobachten ist).
Auch hier können wir beobachten, dass nicht
alle genannten Bildungselemente in der Gegen- strukturen formal beschreiben lassen. Wir wissen Tabelle 11:
wartssprache in gleicher Weise produktiv sind. Be- aber bereits, dass Derivationssuffixe Wortart und Derivationssuffixe
sonders häufig sind z. B. Bildungen mithilfe des Genus eines Wortes bestimmen und außerdem Be- des Deutschen
Suffixes -er, das zur Ableitung agentivischer Nomen schränkungen unterliegen hinsichtlich der Basis,
(Säuf-er, Denk-er, Mal-er etc.) bzw. Nomen instru- an die sie angehängt werden können (so kann
menti (Weck-er, Kleb-er, Stap-ler etc.) aus Verben -ung nur an eine verbale Basis affigiert werden).
verwendet werden kann, oder Neubildungen auf Bei diesen Eigenschaften handelt es sich um lexi-
der Basis von -ung (Konkreta wie Schalt-ung oder kalische Eigenschaften der einzelnen Affixe, die im
Abstrakta wie Offenbar-ung). Unproduktiv ist hin- Lexikoneintrag eines Derivationsmorphems festge-
gegen das Suffix -t, das nur noch in ›fossilierter‹ halten werden. Hinzu kommen Informationen
Form in Wörtern wie Fahr-t auftritt. Eine Zwischen- über die Lautgestalt, Bedeutung und syntaktische
position nehmen Elemente wie -ei, -tum oder die Eigenschaften. So kann z. B. der Lexikoneintrag für
kaum noch produktiven Formen -sal/-sel ein. das Suffix -er wie folgt wiedergegeben werden
Morphologische Blockierung: Eine weitere Be- (Meibauer 2007, S. 42):
schränkung für Wortbildungsprozesse tritt in Fäl-
len wie *Stehler, *besen (in der Bedeutung ›fegen‹), Zur Vertiefung
*unoffen, *unlinks, *Großheit etc. zutage. Offenbar
kann eine potentiell mögliche Form nicht auf der Lexikoneintrag für das Suffix -er
Basis von Wortbildungsregeln erzeugt werden, PHON: /‫ܣ‬/
wenn das Lexikon bereits ein entsprechendes Wort MORPH: maskulin; ‡-Plural
mit gleicher Bedeutung enthält (im vorliegenden SYN: Naf; [V__ ]
Fall Dieb, fegen, geschlossen, rechts, Größe). In die- SEM: AGENS oder INSTRUMENT, das die V-Handlung ausführt
sem Zusammenhang spricht man auch davon, dass Dieser Lexikoneintrag besagt, dass es sich bei -er um ein nominales Affix (Naf)
die lexikalisierte Form eine synonyme Neubildung handelt, das eine verbale Basis als Ergänzung verlangt ([V__ ]). Das Resultat der
blockiert (vgl. Aronoff 1976; Werner 1995). Affigierung von -er ist dann ein maskulines Nomen, das seinen Plural durch
Lexikalische Eigenschaften von Derivationsmor- Nullsuffigierung (‡-Plural) bildet (der Denker, die Denker). Darüber hinaus wird
phemen: Bisher haben wir noch nicht die Frage auch die Bedeutung des so gebildeten Nomens festgelegt (zugehörig zur Klasse
behandelt, wie sich die unterschiedlichen Eigen- der Nomen agentis bzw. Nomen instrumenti; vgl. Meibauer 1995 für weitere
schaften von Derivationsaffixen sowie die damit Möglichkeiten).
einhergehenden Wortbildungsregeln bzw. Wort-

59
2.2
Grammatik
Morphologie

Der relevante Wortbildungsprozess kann nun (6) a [[[ver+änder]+lich]+keit]


durch eine Regel der Art N o V + Naf beschrieben b N
werden, die das Suffix -er mit einer verbalen Basis
(hier: denk-) verknüpft. Auf diese Weise entsteht
ein komplexes Wort (das Nomen Denker), dessen
Aufbau durch die Baumstruktur in (5) dargestellt A
Naf
werden kann:

(5) N
V A af

V Naf
Präf V
denk- -er

ver- änder -lich -keit


Hierarchische Wortstruktur: Die Verzweigungen
einer Baumstruktur werden auch Knoten genannt.
Sie werden gängigerweise mit Symbolen markiert, derlichkeit) keine korrekten Bildungen sind.
die die syntaktische Kategorie eines Elements si- Schließlich bilden wir durch die Hinzufügung von
gnalisieren. Der höchste Knoten des Baumes re- -keit ein abstraktes Nomen. Die vorliegende Struk-
präsentiert das gesamte Wort. Die Struktur in (5) tur zeigt uns ferner, dass in jeder Teilstruktur der
zeigt an, dass das Affix -er die syntaktische Kate- Kopf jeweils rechts steht und dass der hierarchisch
gorie des gesamten komplexen Worts (im vorlie- höchste rechte Kopf den Charakter des gesamten
genden Fall: N(omen)) determiniert, indem es sein komplexen Worts bestimmt.
Kategorienmerkmal ([N]) an den höchsten Knoten
des Baums vererbt. In diesem Zusammenhang
2.2.4.2 | Komposition
spricht man auch davon, dass das Suffix der Kopf
der komplexen Struktur ist. Der Kopf bestimmt Wie bereits oben erwähnt, werden Wörter, die
nicht nur die Wortart, sondern auch morphologi- mehrere lexikalische Wurzeln enthalten, als Kom-
sche Eigenschaften (Genus, Pluralbildung) und die posita bezeichnet. Für das Deutsche können wir
Grundbedeutung des Ausdrucks. In der Morpholo- beobachten, dass auch für Komposita die Right-
gie geht man ferner davon aus, dass sich der Kopf Hand-Head-Rule gilt, d. h., die Wortart (sowie Ge-
stets am rechten Rand der Wortstruktur befinden nus und Numerus) von Komposita wird stets
muss (Right-Hand-Head-Rule, s. o.). Vor dem Hin- durch das letzte Teilglied bestimmt, das somit den
tergrund dieser Strukturhypothesen können wir Kopf des Kompositums bildet (in den romanischen
Struktur nun auch komplexere Wörter analysieren. Wenn Sprachen treten allerdings auch ›linksköpfige‹
komplexer Wörter wir z. B. das Wort Veränderlichkeit näher betrach- Komposita auf, z. B. ital. capostazione ›Bahnhofs-
ten, können wir feststellen, dass bestimmte Be- vorsteher‹, span. lava platos ›Tellerwäscher‹):
standteile enger zusammengehören als andere. So
bilden [lich+keit] sicherlich keine Teilstruktur des (7) a N+N: Arm+leuchter, Brand+mauer, Draht+zieher,
Worts; ebenso wenig scheinen *änderlich bzw. Segel+boot, Wasser+stand
*Änderlichkeit wohlgeformte Wörter des Deut- b A+N: Rot+wein, Groß+küche, Dumm+kopf,
schen zu sein. Diese Einsichten lassen sich wie in Heiß+sporn
(6) durch Klammerung oder ein Baumdiagramm c V+N: Lauf+band, Web+stuhl, Renn+strecke
darstellen.
(8) a A+A: schwarz+blau, alt+klug, rutsch+fest
Diese Baumstruktur spiegelt die Ableitungsge-
b N+A: feuer+sicher, sprung+freudig, sattel+fest
schichte des komplexen Worts Veränderlichkeit
c V+A: red+selig, spring+freudig, lauf+müde
wider: Zunächst wird die verbale Basis änder mit
dem Präfix ver- verknüpft. Erst danach verbindet (9) a V+V: fahren+lassen, kennen+lernen, stehen+bleiben
sich das adjektivbildende Suffix -lich mit der beste- b N+V: preis+kegeln, bau+sparen, rad+fahren
henden Struktur. Auf diese Weise kann repräsen- c A+V: fest-sitzen, los+lassen, schwarz+malen
tiert werden, dass änderlich (und somit auch *Än-

60
2.2
Grammatik
Wortbildung

Traditionell werden Komposita als Kombinationen Possessivkomposita benennen insbesondere Lebe-


aus mehreren wortfähigen Elementen definiert. wesen nach einer charakteristischen (sichtbaren) Typen von Komposita
Beispiele wie Rühr+gerät (vs. *Rührengerät bzw. Eigenschaft, vgl. (10a). Dabei stehen Erst- und
*Rührtgerät) oder Fahr+stuhl zeigen jedoch, dass Zweitglied mitunter auch in einer metaphorischen
die Bausteine der Komposition auch kleiner als ein Beziehung, vgl. (10b):
Wort sein können. Für das Deutsche scheint es da-
her zutreffender, die Komposition als Verknüpfung (10) a Rotkehlchen, Schwarzwurzel, Plattkopf, Hinkefuß, Lang-
von Stämmen zu charakterisieren (Grewendorf/ ohr
Hamm/Sternefeld 1987, S. 264). Dies erfasst auch b Dickkopf ›starrköpfiger Mensch‹, Langfinger ›Dieb‹, Plap-
die bekannte Generalisierung, dass die Erstglieder permaul ›geschwätziger Mensch‹, Hasenfuß ›ängstlicher
von Komposita nicht flektiert werden können – Mensch‹
nur das gesamte Kompositum kann Gegenstand
von Flexionsregeln sein (vgl. engl. truckdriver – Neben Determinativkomposita existieren noch an-
*trucksdriver – truckdrivers). Je nach der syntakti- dere Bildungsvarianten, die der Komposition zuge-
schen Kategorie der kombinierten Elemente und rechnet werden.
der (semantischen/syntaktischen) Beziehung, die Kopulativkomposita: Zum einen sind hier Wort-
zwischen Erst- und Zweitglied eines Komposi- schöpfungen zu nennen, die sich dadurch aus-
tums besteht, lassen sich verschiedene Typen von zeichnen, dass Erst- und Zweitglied nicht in einer
Komposita unterscheiden (vgl. Eisenberg 2006, Modifizierer-Grundwort Beziehung stehen, son-
S. 226 ff.; Duden 2006). dern eher in einer symmetrischen Relation zuein-
Determinativkomposita sind der häufigste ander stehen und gleichberechtigt einen Beitrag
Kompositionstyp im Deutschen. Bei einem Deter- zur Gesamtbedeutung des Kompositums leisten.
minativkompositum wie Apfelwein legt das Zweit- Relevante Beispiele sind schwarzweiß, süßsauer,
glied die Grundbedeutung des Kompositums fest, Spieler-Trainer oder Dichterkomponist (Altmann/
die dann durch das Erstglied näher bestimmt/ein- Kemmerling 2000, S. 32 f.).
geschränkt und modifiziert wird. So handelt es
sich bei Apfelwein um eine spezielle Art von Wein. Zur Vertiefung
Durch die Wahl anderer Erstglieder ergeben sich
andere semantische Einschränkungen bzw. Teil- Fugenmorpheme
klassen von Wein wie z. B. Beerenwein, Billigwein, Bei vielen Komposita kann man beobachten, dass nach dem Erstglied ein sog.
Brandwein, Kirschwein, Altwein etc. Oft lässt sich Fugenmorphem eingeschoben wird:
die Bedeutung von Komposita allerdings nicht re-
gelmäßig auf der Basis der Bedeutung der Einzel- (11) a Frühlingsanfang, *Frühlinganfang
komponenten, sondern nur anhand des Äuße- B Tagestour, *Tagtour; aber: Tagtraum, *Tagestraum
rungskontexts erschließen (Grewendorf/Hamm/ c Verkaufserfolg, *Verkauferfolg; aber: Kaufvertrag, *Kaufsvertrag
Sternefeld 1987, S. 267): Sonnenschutz (Schutz vor
Sonne), aber Arbeitsschutz (nicht: Schutz vor Ar- Solche morphologischen ›Verbindungsstücke‹ treten zwar auch in der Derivation
beit). Abhängig von der Art der semantischen Be- auf (vgl. ahnung-s-los, sage-n-haft, Volk-s-tum); sie sind aber besonders häufig
ziehung, die zwischen Erst- und Zweitglied des bei Komposita vom Typ N+N. Hier wird allgemein angenommen, dass sich die
Kompositums vorliegt, unterscheidet man weitere Fugenelemente historisch aus den Flexionsendungen vorangestellter Genitivattri-
Untertypen von Determinativkomposita: bute herausgebildet haben, die als Bestandteil von Komposita reanalysiert wur-
Rektionskomposita wie Autoverkäufer, Gitar- den (vgl. frnhd. hymels thron o nhd. Himmelsthron). Heute kommt den Fugen-
renbauer oder Hausdurchsuchung zeichnen sich elementen aber keine Flexionsfunktion mehr zu (vgl. Fuhrhop 1996; Gallmann
dadurch aus, 1998). So signalisiert das Element -er- in Hühnerei keine Mehrzahl (es handelt
N dass das Zweitglied aus einem Verb abgeleitet sich nicht um das Ei mehrerer Hühner); genauso wenig handelt es sich bei dem
ist (d. h., es handelt sich um deverbale Nomen -es- in Freundeskreis um eine Genitiv Singular Endung (zu einem Freundeskreis
wie Verkäufer m verkaufen) und gehören mehrere Freunde; vgl. Meibauer 2007, S. 50). Die Setzung von Fugen-
N dass das semantische Verhältnis zwischen Erst- morphemen unterliegt regionaler und z. T. sprecherabhängiger Variation. So fin-
und Zweitglied dem Verhältnis zwischen dem den sich oft koexistierende Varianten mit bzw. ohne Fugenelement (Merkmal-s-
entsprechenden Verb und seiner Ergänzung/ bündel vs. Merkmal-bündel; Zugunglück vs. Zug-s-unglück [in österreichischen
seinem Objekt entspricht (Autoverkäufer = ›je- Varietäten]).
mand, der Autos verkauft‹).

61
2.2
Grammatik
Morphologie

Phrasenkomposita: Eine gänzlich andere Bil- Akzentzuweisung in Komposita: Bei Determina-


dungsvariante stellen Wörter wie Stelldichein, tivkomposita vom Typ A+B fällt der Wortakzent
Rundum-Sorglos-Paket oder Alles-was-das-Herz-be- (d. h. die lautliche Hervorhebung einer Silbe) in
gehrt-Shop dar. Während die bislang diskutierten der Regel auf die Hauptakzentstelle des modifizie-
Komposita durch die Kombination von (nomina- renden Elements A: Fuß+Ball = Fußball. Der
len) Stämmen zustandekamen, scheinen Phrasen- Hauptakzent kann allerdings auch auf B fallen,
komposita aus Elementen zu bestehen, die selbst wenn B selbst wiederum komplex ist (d. h., in
syntaktisch komplex sind. Dies wirft die Frage auf, zwei (oder mehr Bestandteile) verzweigt): Fußball
wie ein Wort Bestandteile enthalten kann, die of- +Weltmeisterschaft = Fußballweltmeisterschaft
fensichtlich phrasalen Charakter besitzen. Eine (vgl. Hoffmann 1995; Altmann/Kemmerling 2000).
mögliche Antwort besteht darin, anzunehmen, Komposita und Lexikon: Man geht davon aus,
dass keine strikte Trennung zwischen Wortbildung dass Komposita wie in (12) zunächst spontan mit-
und Syntax möglich ist und dass Komposita gene- hilfe von Wortbildungsregeln wie N o N +N ge-
rell in der syntaktischen Komponente der Gramma- bildet werden. Wenn das Kompositum in der Spre-
tik gebildet werden (Lieber 1992; für andere Auf- chergemeinschaft akzeptiert wird und Verbreitung
fassungen vgl. Höhle 1982 und Meibauer 2003). findet, dann spricht man auch von gängigen bzw.
Struktur von Komposita: Auch für Komposita gilt, usuellen Bildungen. Für gängige Bildungen wie
dass sie eine hierarchische Struktur aufweisen, die Fußballweltmeisterschaft geht man in der Regel da-
wir durch Klammerung (oder ein entsprechendes von aus, dass sie vollständig im Lexikon gespei-
Baumdiagramm) veranschaulichen können. So gilt chert werden, obwohl sie weiterhin eine transpa-
für das komplexe Kompositum Fußballweltmeister- rente Struktur aufweisen. Zuweilen finden sich
schaftsendspiel, dass es zwar die (selbst wiederum aber auch Komposita, bei denen die Bedeutung
komplexen) Bestandteile Fußball, Weltmeisterschaft der Einzelkomponenten nicht mehr erkennbar ist,
und Endspiel enthält, nicht aber die Elemente Fuß- weil das entsprechende Lexem nur in diesem ei-
ballwelt, Ballwelt, Meisterschaftsend(e) etc. Dies nen Kontext überlebt hat. Hier spricht man auch
können wir wie folgt repräsentieren: von sog. unikalen Morphemen wie z. B. in
Brom+beere, Him+beere, Schorn+stein (brom
(12) [[[Fuß+Ball]+[Welt+[Meister+schaft]]]+[End+spiel]] von mhd. bram(e) ›Ginster‹; him- von mhd. hinde
›Hirschkuh‹; Schorn- von ahd. scor ›Strebe, Stütze‹
Der Kopf eines Kompositums steht dabei stets am bzw. scorren ›herausragen‹, vgl. Grewendorf/
rechten Rand des komplexen Worts (im vorliegen- Hamm/Sternefeld 1987, S. 268).
den Beispiel dementsprechend Spiel bzw. das
Kompositum Endspiel).

Literatur
Altmann, Hans/Kemmerling, Silke (2000): Wortbildung Fuhrhop, Nanna (1996): »Fugenelemente«. In: Ewald Lang/
fürs Examen. Wiesbaden. Gisela Zifonun (Hg.): Deutsch – typologisch. Berlin/New
Aronoff, Mark (1976): Word Formation in Generative York, S. 525–550.
Grammar. Cambridge, Mass. Gallmann, Peter (1991): »Wort, Lexem und Lemma«. In:
Bierwisch, Manfred (1961): Zur Morphologie des deutschen Gerhard Augst/Burkhard Schaeder (Hg.): Rechtschreib-
Verbalsystems. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig. wörterbücher in der Diskussion. Geschichte – Analyse –
– (1967): »Syntactic Features in Morphology: General Perspektiven. Frankfurt a. M., S. 261–280.
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German«. In: To Honor Roman Jakobson: Essays on the Matthias Butt/Nanna Fuhrhop (Hg.): Variation und
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S. 239–270. Grewendorf, Günther/Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang
D’Anna, Catherine/Zechmeister, Eugene B./Hall, James W. (1987): Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne
(1991): »Toward a Meaningful Definition of Vocabulary Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt
Size«. In: Journal of Literacy Research 23, S. 109–122. a. M.
Di Sciullo, Anna Maria/Williams, Edwin (1987): On the Harley, Heidi/Noyer, Rolf (1999): »State-of-the-article:
Definition of Word. Cambridge, Mass. Distributed Morphology«. In: Glot International 4/4,
Duden. Die Grammatik (2006). Mannheim. 3–9.
Eisenberg, Peter (32006): Grundriss der deutschen Hoffmann, Ludger (1995): »Zur Position des Wortakzents
Grammatik, Bd. 1: Das Wort. Stuttgart/Weimar. im Deutschen«. In: José Cajot/Ludger Kremer/
Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der Hermann Niebaum (Hg.): Lingua Theodisca. Beiträge
deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

62
2.2
Grammatik
Literatur

zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Jan Goossens Müller, Gereon (2006): »Subanalyse verbaler Flexionsmar-
zum 65. Geburtstag. Hamburg/Münster, S. 775–785. ker«. In: Eva Breindl/Lutz Gunkel/Bruno Strecker (Hg.):
Höhle, Tilman (1982): »Über Derivation und Komposition. Grammatische Untersuchungen, Analysen und
Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsproduk- Reflexionen. Festschrift für Gisela Zifonun. Tübingen,
ten im Deutschen«. In: Zeitschrift für Sprachwissen- S. 183–203.
schaft 1, S. 76–112. Olsen, Sue (1986): Wortbildung im Deutschen. Eine
Lieber, Rochelle (1992): Deconstructing Morphology: Word Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart.
Formation in Syntactic Theory. Chicago. – (1990): »Konversion als kombinatorischer Wortbildungs-
Matthews, P. H. (21991): Morphology. Cambridge. prozess«. In: Linguistische Berichte 127, S. 185–216.
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S. 153–188. Wiese, Richard (1996): »Morphological vs. Phonological
– (22007): »Lexikon und Morphologie«. In: Ders. u. a.: Rules: on German Umlaut and Ablaut«. In: Journal of
Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart/ Linguistics 32, S. 113–135.
Weimar, S. 15–69. Wurzel, Wolfgang (1984): Flexionsmorphologie und
Natürlichkeit. Berlin.

Eric Fuß

63
2.3
Grammatik
Syntax

2.3 | Syntax
2.3.1 | Einleitung Substitutionstest ist der Proformentest. Hierbei
wird eine ganze Konstituente z. B. durch ein
Nachdem wir uns mit den Lauten und den Wörtern Pronomen oder ein Pronominaladverb (darun-
in der Sprache beschäftigt haben, kommen wir nun ter, dahin usw.) ersetzt:
zu größeren sprachlichen Einheiten: den Sätzen.
(3) Berta schüttet [ihrem geliebten Papagei] etwas Vogelfutter
Definition in den Käfig.
Berta schüttet [ihm] etwas Vogelfutter in den Käfig.
Die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die
Sätze, deren Aufbau und Eigenschaften Auch syntaktische Regeln beziehen sich auf Kon-
untersucht, heißt   Syntax. stituenten, nicht einfach auf Einzelwörter. Eine
syntaktische Regel des Deutschen besagt beispiels-
weise, dass in einem Aussagesatz (Deklarativsatz)
Auf den ersten Blick bestehen Sätze einfach aus das finite Verb üblicherweise an zweiter Stelle
einer Kette von Wörtern. Bei genauerer Betrach- steht (s. dazu II.2.3.3.2). Damit ist jedoch nicht
tung stellt man jedoch schnell fest, dass in einem einfach das zweite Wort gemeint, wie folgende
Satz bestimmte Wörter voneinander abhängen Sätze illustrieren (ein Stern kennzeichnet ungram-
(Dependenz) bzw. enger zusammen gehören und matische Sätze):
sog. Konstituenten bilden (Konstituenz). Der
Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein hat diese (4) a [Berta] schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter
grundlegende Einsicht folgendermaßen formuliert: in den Käfig.
»Ein Satz ist kein Wörtergemisch.« Welche Wörter b *[Ihrem] schüttet geliebten Papagei Berta etwas Vogelfut-
zusammen eine syntaktische Konstituente bilden, ter in den Käfig.
kann man mithilfe verschiedener Konstituen- c [Ihrem geliebten Papagei] schüttet Berta etwas Vogelfutter
tentests ermitteln. in den Käfig.
Konstituententests N Beim Interrogationstest oder Fragetest erfragt
man mit Ergänzungs- oder W-Fragen (Wer?, Die Annahme, dass ein Satz nicht eine bloße Wör-
Was?, Wem?, Wann?, Wo?, Wohin? usw.) ein- terkette ist, erklärt auch Mehrdeutigkeiten (Ambi-
zelne Konstituenten: guitäten) von Sätzen (s. Kap. II.3.4.4). So kann bei-
spielsweise der Satz Berta hat den Mann mit dem
(1) Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter in Fernglas gesehen auf zwei Arten verstanden wer-
den Käfig. den: (i) ›Berta benutzte ein Fernglas zur Beobach-
Wem schüttet Berta etwas Vogelfutter in den Käfig? – [ih- tung des Mannes‹ oder (ii) ›Der Mann, den Berta
rem geliebten Papagei] beobachtete, hatte ein Fernglas dabei‹. Wenn alle
Wohin schüttet Berta ihrem geliebten Papagei etwas Vogel- Wörter einfach gleichberechtigt nebeneinander
futter? – [in den Käfig] ständen wie in (5), könnte man dies nicht erfas-
usw. sen. Die Annahme unterschiedlicher möglicher
Konstituentengrenzen wie in (6 a) und (b) erklärt
N Der Rangiertest, auch Verschiebeprobe ge- dagegen, wie es zu den beiden Lesarten kommt.
nannt, macht sich die Tatsache zunutze, dass
Wörter, die Konstituenten bilden, zusammen (5) [Berta] [hat] [den] [Mann] [mit] [dem] [Fernglas] [gese-
im Satz bewegt werden können: hen].
(6) a [Berta] [hat] [den Mann] [mit dem Fernglas] [gesehen].
(2) [Ihrem geliebten Papagei] schüttet Berta etwas Vogelfutter (= Lesart i)
in den Käfig. b [Berta] [hat] [den Mann mit dem Fernglas] [gesehen].
Etwas Vogelfutter schüttet Berta [ihrem geliebten Papagei] (= Lesart ii)
in den Käfig.
Hier ist also wiederum die Konstituenz und damit
N Beim Substitutionstest oder Ersatztest werden die hierarchische Satzstruktur entscheidend, um
Konstituenten durch einen anderen sprachli- die beobachteten sprachlichen Phänomene richtig
chen Ausdruck ersetzt. Eine besondere Art des zu erfassen.

64
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

2.3.2 | Satzgliedbau N Adverbphrasen (AdvP), also Konstituenten,


deren Kopf ein Adverb (Adv) ist, vgl. (9).
N Präpositionalphrasen (PP), also Konstituen-
2.3.2.1 | Satzglieder
ten, deren Kopf eine Präposition (P) ist, vgl. (10).
Im Folgenden betrachten wir die Konstituenten Man nimmt an, dass die Präposition (und nicht
und ihren Aufbau genauer. Ein Satz besteht in der etwa das Nomen) der Kopf ist, weil sie die gram-
Regel aus einem oder mehreren Satzgliedern und matischen und semantischen Eigenschaften der
dem Prädikat. ganzen Phrase wesentlich bestimmt. Durch die vo-
rangehende Präposition kann eine Präpositional- Klassifikation
Definition phrase beispielsweise im Unterschied zu Nominal- der Satzglieder
phrasen nicht als Subjekt verwendet werden.
Konstituenten, die sich gesamthaft vor das Semantisch gesehen, bezeichnet eine Präpositio-
finite Verb im Aussagesatz verschieben las- nalphrase auch keinen Gegenstand o. Ä. So ist in
sen, nennt man   Satzglieder. den Käfig in (10) z. B. keine Art von Käfig. Statt-
Unter dem   Prädikat versteht man in der dessen kann eine PP je nach Präposition etwa eine
Syntax alle zusammengehörigen verbalen Richtung wie in (10), einen Ort o. Ä. bezeichnen.
Teile im Satz, also das finite Verb sowie ggf.
infinite Verben oder auch eine Verbpartikel. (7) [NPnom Berta] mag [NPakk ihren bunten Papagei].
(8) Bertas Papagei ist [AP sehr schlau].
(9) Bertas Papagei krächzt [AdvP sehr oft].
Durch die Probe des Verschiebens vor das finite (10) Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter
Verb im Aussagesatz ermittelt man, wie viele Wör- [PP in den Käfig].
ter jedes Satzglied umfasst, also den Umfang der
Satzglieder. Satzglieder bestehen aus einem syn- 2. Nach der syntaktischen Funktion werden unter-
taktischen Kopf (manchmal auch Kern genannt) schieden:
und ggf. aus weiteren Konstituenten, den Glied- N Subjekt: in der Regel eine NP im Nominativ
teilen. wie in (11), die mit »Wer oder was?« erfragt
werden kann.
Definition N Objekte: meist ebenfalls Nominalphrasen, aber
in anderen Kasus. Man unterscheidet daher auch
Der   Kopf bestimmt wesentlich die gram- Akkusativobjekte vgl. (12a), Dativobjekte und
matischen und semantischen Merkmale der (im heutigen Deutschen eher seltene) Genitivob-
ganzen Konstituente. Man sagt auch, der jekte. Manchmal kommen Objekte aber auch in
Kopf projiziert, d. h. er gibt seine Merkmale der Form von Präpositionalphrasen vor. Man
an die Gesamtphrase weiter. nennt diese Präpositionalobjekte vgl. (12b).
N Prädikative: Satzglieder, die von einem Verb
oder einem Adjektiv und gleichzeitig vom Sub-
Satzglieder können nach verschiedenen Kriterien jekt oder Objekt abhängen, vgl. (13). Falls das
klassifiziert werden: Prädikativ eine NP ist, stimmt es im Kasus mit
der Bezugs-NP überein (s. 2.3.3.3). Prädikative
1. Nach der Wortart des Kopfes (zu den Wortarten können aber auch in Form anderer Phrasen auf-
s. Kap. II.2.2.3) unterscheidet man: treten, z. B. als Adjektivphrasen.
N Nominalphrasen (NP), also Konstituenten, de- N Adverbiale: Satzglieder, die Ort, Richtung, Zeit,
ren Kopf ein Substantiv/Nomen (N) ist. Aber auch Art, Ursache o. Ä. angeben. Man kann sie ent-
Pronomen, z. B. Personalpronomen, Relativprono- sprechend semantisch als Lokal-, Direktional-,
men usw. können Nominalphrasen bilden. Die Temporal-, Modal-, Kausaladverbiale usw. unter-
Nominalphrasen treten in verschiedenen Kasus klassifizieren. Adverbiale können in Form ganz
auf: im Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ verschiedener Phrasen auftreten: als PPs wie in
(s. u.). In (7) sind die Nominalphrasen mit ihren (14a), NPs wie in (14b), APs, AdvPs usw.
Kasus gekennzeichnet. Der Kopf der Phrase ist je-
weils fett markiert. (11) [Bertas Papagei] krächzt sehr laut. (Subjekt)
N Adjektivphrasen (AP), also Konstituenten, de- (12) a Berta mag [ihren bunten Papagei]. (Akkusativobjekt)
ren Kopf ein Adjektiv (A) ist wie in (8). b Berta denkt oft [an ihren Papagei]. (Präpositionalobjekt)

65
2.3
Grammatik
Syntax

(13) Bertas Papagei ist nicht mehr [der Jüngste]. In (15) sieht z. B. das Verb denken zwei Ergänzun-
(Prädikativ zum Subjekt) gen vor: ein Subjekt und ein (Präpositional-)Ob-
(14) a Berta schüttet ihrem geliebten Papagei etwas Vogelfutter jekt. Das Adverbial ist dagegen frei hinzugefügt
[in den Käfig]. (Adverbiale, direktional) und nicht vom Verb gefordert.
b [Jeden Dienstag] geht Berta Vogelfutter kaufen.
(Adverbiale, temporal) (15) [Berta] denkt [oft] [an ihren Papagei].
(Ergänzung) (Angabe) (Ergänzung)
3. Nach der Valenz des Verbs können Satzglieder (16) a Berta geht (zur Zoohandlung)
ebenfalls klassifiziert werden. Sie können vom (nicht-obligatorische Ergänzung)
Prädikat des Satzes vorgesehen bzw. gefordert sein b Berta wohnt *(in Dresden) (obligatorische Ergänzung)
oder nicht. Man spricht hier von der Valenz des
Verbs. Satzglieder sind entsprechend valenznot-
2.3.2.2 | Phrasenstrukturen
wendig oder nicht. Intransitive (oder einwertige)
Verben haben beispielsweise nur ein Subjekt bei Innerhalb eines Satzes bilden nicht nur die Satz-
sich, transitive (oder zweiwertige) dagegen auch glieder Konstituenten. Syntaktische Strukturen
ein Objekt, ditransitive (oder dreiwertige) Verben sind – wie beispielsweise auch morphologische
haben zwei Objekte. Manche Verben wie z. B. woh- Strukturen – rekursiv. Eine syntaktische Phrase
nen fordern auch ein Adverbial z. B. eine PP wie in kann die gleiche Art von Phrase wiederum als Kon-
Dresden. Statt von der Valenz des Verbs spricht stituente enthalten. So enthält beispielsweise das
man auch von der Argumentstruktur. Man sagt, Satzglied Bertas Papagei, das insgesamt eine NP
das Verb selegiert oder subkategorisiert bestimmte mit dem Kopfnomen Papagei ist, außer dem Kopf
Satzglieder – seine Argumente. Man kann Satzglie- wiederum eine NP mit dem Kopfnomen Bertas (als
der daher auch klassifizieren als sog. Gliedteil mit der Funktion eines Attributs, s. u.).
N Ergänzungen (oder Argumente/Komplemente):
Satzglieder, die vom Verb vorgesehen sind. Bei (17) [NP [NP [N Bertas]] [N Papagei]]
den Ergänzungen gibt es wiederum obligatori-
sche, die explizit im Satz stehen müssen, und Wie wir sehen werden (s. II.2.3.3.3.), können auch
nicht-obligatorische, die auch weglassbar sind, die Satzglieder selbst wiederum Teil von größeren
ohne dass der Satz ungrammatisch wird vgl. Konstituenten sein. Ein Satz hat also eine unter
(16a) vs. (b). (Der Stern vor der runden Klam- Umständen recht komplexe Konstituenten- oder
mer bedeutet, dass der Satz ungrammatisch Phrasenstruktur, wobei jede Phrase endozentrisch
wird, wenn man die eingeklammerte Konstitu- ist, d. h. wieder ein Element als Kopf hat (Kopf-
ente weglässt.) prinzip). Syntaktische Strukturen lassen sich gut
N Angaben (oder Adjunkte): Satzglieder, die vom mit verzweigenden Grafiken veranschaulichen,
Verb nicht gefordert sind. ähnlich wie wir sie bereits in der Morphologie ken-
nengelernt haben (s. Kap. II.2.2.4.1). Man nennt

Beispiel Vorgehen bei der Bestimmung der Satzglieder


N Prädikat bestimmen N Satzglieder nach der syntaktischen Funktion
N Umfang der Satzglieder bestimmen bestimmen
N Satzglieder nach der Wortart des Kopfes be- N Satzglieder nach der Valenz bestimmen
stimmen

Umfang [Täglich] gibt [Berta] [ihrem geliebten Papagei] [frisches Trinkwasser]


Prädikat
Phrase (nach Wort- AP NPnom NPdat NPakk
art des Kopfes)
syntaktische Adverbiale Subjekt (indirektes / Dativ-) (direktes / Akkusativ-)
Funktion (temporal) Objekt Objekt
Valenz Angabe Ergänzung Ergänzung Ergänzung

66
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

Zur Vertiefung

Syntax und Semantik: Argumentstruktur und thematische Rollen


Die Argumentstruktur ist Teil der im Lexikon gespeicherten Information, also des Lexikoneintrags des entspre-
chenden Wortes (s. Kap. II.2.2.2.1). Dort ist neben der Anzahl auch die Form der Argumente festgelegt. Das
Verb bekommen hat beispielsweise drei Argumente. Die ersten beiden haben die Form von NPs, das dritte
(optionale) die einer PP. Neben der Anzahl und Form der Argumente ist zudem für jedes Argument eine seman-
tische oder thematische Rolle (Theta-Rolle/T-Rolle) festgelegt, z. B.:
N Agens: Derjenige, der die Handlung ausführt oder verursacht.
N Thema/Patiens: Der-/dasjenige, das von der Handlung betroffen ist, z. B. seinen Zustand oder seinen Ort
wechselt.
N Experiencer: Derjenige, der etwas empfindet, sich etwas bewusst ist usw.
N Rezipient: Derjenige, der etwas erhält.
N Quelle: Dasjenige bzw. der Ort, von dem aus sich etwas wegbewegt.
N Ziel: Dasjenige bzw. der Ort, zu dem sich etwas hinbewegt.
Das Verb bekommen weist seinem ersten Argument beispielsweise die Rolle Rezipient zu, dem zweiten Thema
und dem dritten Quelle. Man kann dies folgendermaßen darstellen:

BEKOMM (x1, x2, x3)


NP NP (PP)
Rezipient Thema Quelle

Die semantische Information der Argumentstruktur und des sog. Theta-Rasters wird in der Syntax abgebildet:
Danach richtet sich u. a., wie viele Ergänzungen ein Verb haben kann und welche semantische Rolle vom Verb
an welche Phrase vergeben wird.

diese Darstellungsweise Phrasenstrukturbaum Papagei. Man sagt auch, er dominiert diese beiden
oder Baumgraph. Die gleiche Information kann Knoten, seine Tochterknoten, unmittelbar. Diese
auch (oft etwas weniger übersichtlich, aber platz- sind, da sie vom gleichen Mutterknoten abzwei-
sparender) mit indizierten Klammern wiedergege- gen, Schwesterknoten.
ben werden, wie etwa in (17), das als Phrasen- Phrasenstrukturen werden insbesondere im Phrasenstrukturen
strukturbaum wie in (18) aussehen würde: Rahmen der Generativen Grammatik untersucht,
für die v. a. die Arbeiten des amerikanischen
(18) NP Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky wegwei-
send waren. Daher ist die Terminologie oft eng-
lisch. Auf die verschiedenen Entwicklungsstufen
NP N der Generativen Grammatik von der frühen Trans-
formationsgrammatik (u. a. Chomsky 1965) über
Papagei
die Rektions- und Bindungstheorie der 80er und
N
90er Jahre (u. a. Chomsky 1981) bis zum Minima-
Bertas lismus (u. a. Chomsky 1995; Boskovic/Lasnik
2006) soll hier nicht im Einzelnen eingegangen
Die einzelnen miteinander verbundenen Punkte werden (weiterführend hierzu vgl. Baltin/Collins
im Phrasenstrukturbaum nennt man auch Kno- 2000; Brandt u. a. 2006; Dürscheid 2010; Grewen-
ten. Von einem Knoten gehen nach unten maximal dorf u. a. 2001; Grewendorf 2002; Haegeman 1994;
zwei Verzweigungen ab, d. h. Phrasenstrukturen Pafel 2010; Philippi/Tewes 2010; Stechow/Sterne-
sind binär. Um Beziehungen zwischen einzelnen feld 1988; Sternefeld 2008/2009). Die folgende
Knoten zu bezeichnen, bedient man sich meta- Darstellung ist an Analysen im Modell der Rek-
phorischer Ausdrücke wie in einem Familien- tions- und Bindungstheorie angelehnt mit einigen
stammbaum, nämlich Mutterknoten, Tochterkno- Vereinfachungen im Sinn des Minimalismus.
ten und Schwesterknoten. In (18) ist der oberste Wichtige Forschungsfragen der Syntax betref-
mit NP bezeichnete Knoten beispielsweise der fen u. a. die Position einzelner Elemente in der
Mutterknoten der NP Bertas und des Kopfnomens syntaktischen Struktur. Wenn beispielsweise zwei

67
2.3
Grammatik
Syntax

Elemente zwischen den gleichen Konstituenten im (19) a NP


Satz stehen können, aber nicht gleichzeitig auftre-
ten können, besetzen sie möglicherweise die glei-
che syntaktische Position. Wenn sie zusammen in DP N
einem Satz auftreten können, besetzen sie eher Papagei
zwei verschiedene Positionen usw. Darauf aufbau- D
end will man in der Syntax klären, welche (auch
der
über die hier vorgestellten hinausgehenden) syn-
taktischen Positionen und Strukturen grundsätz-
lich anzunehmen sind. Diese sollen möglichst uni-
(19) b NP
versell, also sprachübergreifend gültig sein und
dennoch erlauben, die einzelsprachliche Variation
abzuleiten. Weitere zentrale Forschungsziele be- DP N'
stehen darin, beobachtete phonologische, mor-
phologische oder semantische Eigenschaften von
D AP N
Phrasen und Sätzen auf der Grundlage der ange-
nommenen syntaktischen Struktur zu erklären so- der Papagei
wie zu begründen, warum bestimmte syntaktische A
Strukturen ungrammatisch sind. schlaue

ein bloßes Nomen (N, die minimale Projektions-


2.3.2.3 | Satzgliedinnenbau
stufe) noch eine vollständige Nominalphrase (NP,
Wie erwähnt, kann ein Satzglied neben dem Kopf die maximale Projektionsstufe). Solche Zwischen-
noch weitere Phrasen, die Gliedteile, enthalten. stufen werden in der Phrasenstruktur mit einem
Man spricht davon, dass diese in die übergeordne- kleinen Strich gekennzeichnet, in (19b) daher N'.
te Phrase eingebettet sind (s. o. Rekursivität). Ein Die englische Bezeichnung für diesen Strich lautet
anderer Ausdruck hierfür ist Verschachtelung. Im »bar«. Da die Möglichkeit von Zwischenstufen
Folgenden betrachten wir den Innenbau einiger nicht nur in einer NP, sondern, wie wir unten se-
Satzglieder genauer. hen werden, in jeder x-beliebigen Phrase XP gege-
ben ist, spricht man auch von der X-Bar-Theorie.
Attribute nennt man die Gliedteile von Nomi-
Nominalphrasen
nalphrasen (außer der DP). Zu ihnen gehören at-
Eine Nominalphrase enthält mindestens das Kopf- tributive Adjektivphrasen, wie in (19b), aber auch
Nomen. Wenn eine Nominalphrase einen Artikel Genitivattribute wie in (20a) und vergleichbare
oder ein anderes Begleiter-Pronomen (z. B. Posses- Konstruktionen wie in (20b).
siv- oder Demonstrativpronomen vor dem Nomen) Genitivattribute gehen als Gliedteile dem Kopf-
enthält – einen sog. Determinierer, so bildet dieses Nomen entweder voran (ersetzen die DP) oder fol-
Element eine Determiniererphrase (DP), vgl. gen ihm.
(19a/b). Die DP geht dem Kopf-Nomen in der No- N Possessive Attribute: Zum einen kommen pos-
minalphrase voran. Das gilt gewöhnlich auch für sessive Genitive vor, die Besitz oder Zugehörig-
Adjektivphrasen (AP), vgl. (19b). Die Determi- keit bezeichnen und voran- oder nachgestellt
niererphrase zweigt immer zuoberst links in der sein können: [[Bertas] Vogel] vs. [der Vogel [mei-
NP ab und bildet damit den sog. Spezifizierer
(engl. specifier, abgekürzt Spec) innerhalb der NP (20) a NP
(SpecNP). – Alternativ wird z. T. auch umgekehrt
D als Kopf der ganzen Phrase analysiert, der die
NP als Schwesterknoten als Ergänzung (Kom- NP N'
plement) nimmt, so dass ein Ausdruck wie der
(schlaue) Papagei insgesamt eine DP ist (weiter- N AP N
führend hierzu Brandt u. a. 2006; Pafel 2010; Ster- Bertas Papagei
nefeld 2008).
A
In (19b) ist der Mutterknoten von N nicht direkt
die NP. Der Ausdruck schlaue Papagei ist weder schlauer

68
2.3
Grammatik
Satzgliedbau

(20) b NP (21) a PP

DP N'
P NP

P AP N' für N
der schlaue Berta
N PP
Papagei
P NP (21) b PP
von
DP N
NP P
Nachbarin
P N zuliebe
meiner Berta

ner Nachbarin]]. Possessive Attribute können man spricht dabei von Rektion. In einer Präpositi-
aber auch eine andere Form haben. Sie treten onalphrase kann die Präposition mit dem definiten
auch auf als nachgestellte Präpositionalphrase Artikel der eingebetteten NP verschmolzen sein, Präpositionalphrasen
mit von z. B. [der Vogel [von Berta]] (vgl. auch z. B. [an [das [Meer]] > [ans [Meer]]. Fügungen
20b), als (im Standarddeutschen als nicht kor- aus Präposition und Pronomen werden teilweise
rekt geltende, deshalb mit § gekennzeichnete) durch Präpositionaladverbien ersetzt wie in (22).
vorangestellte Dativphrase mit possessivem De- Präpositionen können statt NPs auch Adjektiv-
terminierer (sog. possessiver Dativ) z. B. §[[(der) oder Adverbphrasen als Ergänzungen haben, vgl.
Berta ihr] Vogel] oder als vorangestellte Präposi- (23) und (24). Es gibt sogar Verschachtelungen
tionalphrase mit definitem Artikel §[[von Berta von Präpositionalphrasen wie in (25), also Präpo-
der] Vogel]. sitionalphrasen, die wiederum in einer Präpositio-
N Partitive Attribute: Ein Genitivattribut kann nalphrase stecken.
auch eine Teil-Ganzes-Beziehung bezeichnen.
Man spricht dann von einem partitiven Genitiv, (22) Der Papagei setzte sich [auf die Schaukel]. – Der Papagei
z. B. in [die Hälfte [des Futters]]. Weitere parti- setzte sich [darauf]. (statt: [auf sie])
tive Attribute sind z. B. Präpositionalphrasen (23) Berta hält ihr Haustier [PP für [AP sehr schlau]].
wie in [die Hälfte [vom Futter]] oder partitive (24) der Papagei [PP von [AdvP nebenan]]
Appositionen wie in [eine Schale [gutes Futter]]. (25) Dieser Vogelkäfig stammt [PP von [PP vor [NP dem Krieg]]].
(Mit partitivem Genitiv würde letztere Phrase
stattdessen [eine Schale [guten Futters]] lau- Manche Präpositionalphrasen können mit Aus-
ten – beides ist im Standarddeutschen mög- drücken erweitert werden, die ein Maß angeben.
lich.) Neben partitiven Appositionen gibt es Diese bilden dann den Spezifizierer der PP:
auch sog. lockere Appositionen wie in [Berta,
[meine Nachbarin]].
(26) a PP

Präpositionalphrasen
AP P'
Präpositionen verlangen in der Regel eine einge-
bettete Phrase als Ergänzung (Komplement) und
bilden mit dieser zusammen eine Präpositional- A P NP
phrase. Die eingebettete Phrase steht zumeist
rechts wie in (21a), kann aber auch links von der kurz vor DP N
Präposition stehen wie in (21b). Bei der eingebet-
D Käfig
teten Phrase handelt es sich meist um eine Nomi-
nalphrase. Die Präposition bestimmt deren Kasus; dem

69
2.3
Grammatik
Syntax

(26) b PP (27) c AP

NP P' AP A

A gemästete
DP N P NP
gut
D Schritt vor DP N
einen die [zwölf Kilogramm] schwere Vogelfuttertüte und
D Käfig das [gut gemästete] Haustier enthaltenen Adjektiv-
dem phrasen.

Auch in diesen Fällen kommt dann, ähnlich wie


z. B. oben in den NPs in (19b) und (20a/b) eine
2.3.3 | Satzbau
Zwischenebene in der Phrase vor – hier zwischen
P und PP, also P'.
2.3.3.1 | Das Feldermodell
Grundbegriffe: Nachdem wir die einzelnen Satz-
Adjektivphrasen
glieder und ihren Innenbau betrachtet haben,
Adjektivphrasen enthalten als Kopf ein Adjektiv kommen wir nun zum Aufbau ganzer Sätze. Das
wie in (27a/b) oder ein adjektivisch gebrauchtes Grundmuster deutscher Sätze ist geprägt von der
Partizip, also eine adjektivisch gebrauchte infinite Satzklammer, die durch die Teile des Prädikats
Verbform wie in (27c). Der Kopf kann mit ver- (verbale Klammer) bzw. durch eine subordinieren-
schiedenen Phrasen erweitert werden. Dies illus- de Konjunktion und das Prädikat gebildet wird.
trieren die syntaktischen Strukturen der in den Davor, dazwischen und danach befinden sich Be-
Ausdrücken die [auf ihren Papagei stolze] Berta, reiche, sog. Stellungsfelder oder topologische Fel-
der, in denen die Satzglieder stehen können. Man
spricht daher auch vom Feldermodell oder topo-
(27) a AP logischen Modell. Dieses traditionelle Satzmodell
geht wesentlich auf Drach (1937) zurück (zum Fel-
PP A dermodell vgl. Duden 2009, §§ 1338–1348).

(28) Feldermodell des deutschen Satzes


P NP stolze
linke rechte
Mittel- Nach-
Vorfeld Satz- Satz-
auf DP N feld feld
klammer klammer

Satzklammer
D Papagei
ihren
N Die linke Satzklammer (LSK) enthält maximal
eine Wortform: das finite Verb oder eine subor-
(27) b AP dinierende Konjunktion. Sie kann auch leer
sein.
NP A
N Die rechte Satzklammer (RSK) kann beliebig
viele Verbformen bzw. verbale Teile (z. B. auch
eine Verbpartikel) enthalten oder leer sein.
AP N schwere N Das Vorfeld, das topologische Feld vor der lin-
ken Satzklammer, enthält i. d. R. maximal ein
A Kilogramm Satzglied. Auch Interrogativ- bzw. Relativpro-
nomen stehen hier. Das Vorfeld kann ebenfalls
zwölf unbesetzt sein.

70
2.3
Grammatik
Satzbau

Vorfeld LSK Mittelfeld RSK Nachfeld


V2 Berta liebt ihren Papagei. – –
V2 Das Futter hat sie immer bei Kleintier-Schmidt gekauft. –
V2 Vor Jahren flog ihr der Vogel zu. –
V2 Peppi kann Berta gut unterhalten mit seinem Krächzen.
V1 – Wird der Papagei bald sprechen können?
V1 – Ist das aber ein schlauer Vogel! – –
Ve – wenn der Vogel schlafen soll. –
Ve der – abends richtig aktiv ist. –
Ve – dass Berta ihn gerade füttern will. –

N Das Mittelfeld, das topologische Feld zwischen Davon zu unterscheiden ist sog. Linksverset-
den beiden Satzklammern, kann beliebig viele zung, bei der ein ganzes Satzglied vor dem Vor-
Satzglieder enthalten oder leer sein. feld stehen kann und dann z. B. durch ein Pro-
N Das Nachfeld, also das topologische Feld nach nomen im Vorfeld wieder aufgegriffen wird. In
der rechten Satzklammer, ist im heutigen Deut- Konstruktionen mit Linksversetzung gibt es ein
schen seltener besetzt. Wenn ein Satzglied das Vorvorfeld:
Nachfeld besetzt, spricht man auch von Aus-
klammerung, da es dann außerhalb der Satz- Vorvorfeld Vorfeld LSK Mittelfeld RSK
klammer steht. Ausklammerung erfolgt häufig Der Peppi, das ist ein ganz –
bei Nebensätzen (s. u.). Auch umfangreichere schlauer Vogel.
Satzglieder z. B. komplexe PPs u. Ä. stehen ge-
legentlich im Nachfeld. (Hier hat es im Lauf In der rechten Satzklammer können wie erwähnt
der deutschen Sprachgeschichte syntaktischen prinzipiell beliebig viele Prädikatsteile stehen. Da-
Wandel gegeben; s. Kap. II.4.6.1.3). bei gilt im heutigen Deutschen üblicherweise die
Die Analyse einiger Sätze (s. Tabelle oben) nach Abfolge, dass das Hauptverb ganz links steht,
dem Feldermodell illustriert die genannten Regula- rechts von ihm ggf. ein Auxiliar oder Modalverb,
ritäten. Die Abkürzungen in der Spalte ganz links von dem das Hauptverb als Ergänzung gefordert
geben hier zusätzlich die Klassifikation des ent- wird usw. Es steht also jeweils das strukturell un-
sprechenden Satzes nach der Stellung des finiten tergeordnete vor dem strukturell übergeordneten
Verbs an. Verb. Das höchste Verb (V1) steht damit innerhalb
Drei wichtige Formtypen von Sätzen lassen sich der rechten Satzklammer ganz rechts; das Haupt-
unterscheiden: verb, das das tiefste Verb ist, ganz links, vgl. (29).
N Verbzweitsatz (V2): Satz mit finitem Verb an Diese Reihenfolge hat sich erst im Lauf der Sprach-
zweiter Stelle. Das finite Verb steht in der linken geschichte herausgebildet (s. Kap. II.4.6.1.1) und
Satzklammer. Ein Satzglied steht im Vorfeld. auch in den Dialekten gibt es diesbezüglich Varia-
N Verberstsatz (V1): Satz mit finitem Verb an ers- tion. Auch im Standarddeutschen wird die übliche
ter Stelle. Das finite Verb steht ebenfalls in der Reihenfolge der Prädikatsteile jedoch durch-
linken Satzklammer. Das Vorfeld ist jedoch brochen, wenn zwei oder mehr Infinitive zusam-
nicht besetzt. menkommen, vgl. (30). Das gilt auch bei sog. Er-
N Verbletztsatz/Verbendsatz (Ve): Satz mit fini- satzinfinitiv (Infinitivus pro infinitivo/IPP), d. h.
tem Verb an letzter Stelle. Das finite Verb steht wenn ein Modalverb wie sollen, müssen usw. oder
in der rechten Satzklammer. ein Wahrnehmungsverb wie hören, sehen usw.,
Besonderheiten: Koordinierende Konjunktionen das im Perfekt oder Plusquamperfekt verwendet
können noch vor dem ersten Satzglied bzw. vor wird und selbst einen Infinitiv einbettet, nicht wie
dem Vorfeld stehen: bei Perfekt/Plusquamperfekt ja eigentlich zu er-
warten im Partizip II, sondern selbst im Infinitiv
Vorfeld LSK Mittelfeld RSK steht. So tritt in (31) das Modalverb nicht in der
Und Bertas Papagei kann seit gestern sprechen. erwartungsgemäßen Form des Partizips II gewollt,
sondern als Ersatzinfinitiv wollen auf. Auch hier

71
2.3
Grammatik
Syntax

weicht die Abfolge der Prädikatsteile also von der allerdings nicht in regulären deutschen Aussage-
normalen Abfolge ab. sätzen.
Für die Annahme der Grundreihenfolge SOV im
(29) dass Berta ihren Papagei [V3 füttern] [V2 wollen] [V1 wird] Deutschen, d. h. insbesondere die Annahme, dass
(30) dass Berta ihren Papagei [V1 wird] [V3 füttern] [V2 wollen] das Verb dem Objekt folgt und nicht vorangeht,
(31) dass Berta ihn gerade [V1 hatte] [V3 füttern] [V2 wollen] sprechen jedoch verschiedene Argumente: Bei Par-
tikelverben kann die Verbpartikel morphologisch
Zur Vertiefung und syntaktisch vom Verbstamm getrennt werden,
vgl. (35b). Sie steht jedoch immer in der rechten
Abfolge der Satzglieder im Mittelfeld Satzklammer, also nach Subjekt und Objekt. Da-
Bei der Wortstellung im Mittelfeld spielen meh- mit markiert die Verbpartikel als Fixpunkt die zu-
rere konkurrierende Faktoren eine Rolle (vgl. wei- grundeliegende Position des Verbs. Der Verbstamm
terführend Duden 2009, §§ 1352–1368). Die fol- kann der Verbpartikel in der rechten Satzklammer
genden Tendenzen bei der Abfolge der Satzglieder unmittelbar folgen oder aber in die linke Satzklam-
im Mittelfeld lassen sich ausmachen: mer verschoben sein. Die Verbpartikel steht in bei-
N Kasus bei Ergänzungen: Nominativ vor Dativ den Fällen in der rechten Satzklammer und zeigt
vor Akkusativ vor Rest somit an, dass das Verb in der Grundabfolge nach
N Betonung: unbetonte Pronomen vor anderen dem Objekt steht.
NPs
N Belebtheit: belebt vor unbelebt (35) a dass Hans das Buch abgibt
N Definitheit: definit vor indefinit b Heute gibt Hans das Buch ab.
N Semantik: Bezugsphrase vor Prädikativ, Ab-
folge der Adverbialien (temporal vor modal Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch
etc.) der kindliche Spracherwerb, aus dem viele wichti-
N Informationsverteilung im Satz: bekannte In- ge Einsichten über sprachliche Strukturen und Ge-
formation vor neuer Information etc. setzmäßigkeiten gewonnen werden können und
der daher eine zentrale Rolle in der Sprachwissen-
schaft einnimmt. Sobald Kinder Objekte und Ver-
2.3.3.2 | Die Grundwortstellung im Deutschen
ben zusammen verwenden, produzieren sie im
Deutsch als SOV- und Nachdem wir einzelne Satzglieder und auch einige Deutschen praktisch ausschließlich die Abfolge
Verbzweitsprache grundsätzliche Dinge zu Stellungsregularitäten im Objekt-Verb (s. Kap. II.5.2.3), also etwa Apfel es-
Satz besprochen haben, wollen wir das Deutsche sen, Auto fahren (und nicht essen Apfel, fahren
vor diesem Hintergrund kurz sprachvergleichend Auto). Englischsprachige Kinder, die also eine
einordnen. Man kann die Sprachen der Welt typo- (S)VO-Sprache erwerben, produzieren dagegen
logisch u. a. danach einteilen, was die übliche Ab- fast immer die Abfolge Verb-Objekt, also etwa eat
folge von Subjekt (S), Objekt (O) und Prädikat apple, go by car (und nicht apple eat, by car go).
(bzw. finitem Verb: V) in der jeweiligen Sprache Übliche Aussagesätze im Deutschen weisen
ist. So gehört beispielsweise das Englische dem aber nun wie gesagt gerade nicht die Abfolge SOV
Typ der SVO-Sprachen an, vgl. (32). Das Walisi- auf. Dies liegt jedoch daran, dass es im Deutschen
sche ist dagegen eine VSO-Sprache, vgl. (33). wie in einigen wenigen anderen Sprachen, z. B. im
Holländischen, eine zusätzliche Regel gibt, die als
(32) I saw John (Englisch: SVO) Verb-Zweit-Regel bezeichnet wird. Das Deutsche
ich sah John ist daher eine sog. Verbzweitsprache. Die Verb-
›Ich sah John‹ Zweit-Regel besagt, dass in einem Aussagesatz das
(33) Gwelais i Emrys (Walisisch: VSO) finite Verb an der zweiten Stelle stehen muss. Das
sah ich Emrys heißt, das finite Verb ›wandert‹ aus seiner Grund-
›Ich sah Emrys‹ position in die linke Satzklammer und ein beliebi-
(34) (dass) ich Hans sah (Deutsch: SOV) ges Satzglied (nicht notwendigerweise das Sub-
jekt, sondern z. B. auch ein Objekt oder ein
Das Deutsche ist in Bezug auf die zugrundeliegen- Adverbial) wird noch zusätzlich davor gestellt.
de Wortstellung eine SOV-Sprache (keine SVO- Diese syntaktische Regel verschleiert etwas die
Sprache!). Diese Grundabfolge findet sich in mit Grundabfolge, denn durch sie werden aus der
Konjunktion eingeleiteten Nebensätzen vgl. (34), SOV-Basis (36a) sekundär z. B. Abfolgen wie SVO

72
2.3
Grammatik
Satzbau

(36b), OVS (36c) oder XP-VSO (36d) in deutschen Die IP


Aussagesätzen abgeleitet.
Nachdem Objekte und Adverbialien als Teile der
(36) a (dass) der Papagei sehr gern Salat frisst VP analysiert wurden, muss nun noch ein ganz
b Der Papagei frisst sehr gern Salat. zentrales Satzglied in der syntaktischen Struktur
c Salat frisst der Papagei sehr gern. untergebracht werden: das Subjekt. Wie wird die-
d Sehr gern frisst der Papagei Salat. ses mit dem Restsatz verbunden?
Die Grundlage für die Antwort auf diese Frage
bildet eine wichtige Beziehung, die zwischen dem
2.3.3.3 | Der Satz als Phrase
Subjekt und dem finiten Verb im Satz besteht. Das
finite Verb stimmt mit dem Subjekt in den mor-
Die VP
phosyntaktischen Merkmalen Person und Nu-
Einzelne Satzglieder haben wir schon syntaktisch merus (s. Kap. II.2.2.3) überein. Dies nennt man
analysiert. Sie bilden beispielsweise NPs, PPs oder Person-Numerus-Kongruenz (engl. agreement:
APs. Um nun auch vollständige Sätze zu analysie- Übereinstimmung). Am finiten Verb werden diese
ren, müssen wir noch weitere Phrasentypen an- Merkmale durch Flexion ausgedrückt.
nehmen. Das Verb bildet zusammen mit seinen Als Verbindung zwischen dem Subjekt und
Objekten und ggf. Adverbialen eine eigene Phrase, dem Restsatz fungiert daher die Verbflexion, für
deren Kopf es ist. Diese wird deshalb Verbalphra- die ein eigener syntaktischer Kopf I (oder INFL, für
se (VP) genannt. engl. inflexion: Flexion) mit dazugehöriger Phrase
IP angenommen wird.
(37) a    
  VP
(38) dass …
NP V IP
VP und IP

DP N  (SpecIP:) NP I'

D   N VP I
   sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]
NP V

(37) b 
    DP N mag
VP
D Papagei

PP V' ihren

P NP NP V Der I-Kopf steht innerhalb der IP im Deutschen im-


mer ganz rechts; man kann auch sagen: Die IP ist
(wie die VP) kopffinal. Der Flexionskopf I enthält
 DP N N   auch Informationen über Tempus und Modus des
Verbs (z. T. wird die IP daher in mehrere Teil-
D     projektionen wie die Tempusphrase TP oder die
Agreement-Phrase AgrP aufgespalten, was wir hier

vernachlässigen). Die Werte für Person und Nume-
rus übernimmt der I-Kopf vom Subjekt, das den
Entsprechend der Grundabfolge im Deutschen Spezifizierer der IP darstellt, das heißt, dasjenige
steht das Verb in der VP immer ganz rechts nach Element, das als erstes links von IP abzweigt. An
den Objekten. Objekte bekommen innerhalb der der Position SpecIP, der Subjektposition des Sat-
VP von V ihren Kasus (z. B. in (37a) die NP ihren zes, bekommt das Subjekt vom I-Kopf den Kasus
Papagei den Akkusativ vom Verb mag). Nominativ. (Manche Sprachwissenschaftler, z. B.

73
2.3
Grammatik
Syntax

Zur Vertiefung
dells fehlt damit also noch die Position für die lin-
Kasussyntax ke Satzklammer. Und auch Sätze mit Vorfeld
Weshalb steht ein Wort bzw. eine Phrase im Satz in einem bestimmten Kasus? können wir noch nicht analysieren. Daher ist eine
Der Kasus kann deshalb stehen, weil die entsprechende Konstituente in Abhän- weitere Projektion oberhalb der IP anzunehmen.
gigkeit von einem bestimmten syntaktischen Kopf steht, der diesen Kasus for- Diese wird üblicherweise als CP bezeichnet (C
dert, zuweist oder lizenziert. Man spricht hier auch von Rektionskasus. Präposi- bzw. COMP steht für engl. complementizer: Kom-
tionen verlangen etwa einen bestimmten Kasus ihrer Komplement-NP z. B. plementierer). Die Position C in der syntaktischen
[PP mit [NPdat dem Futter]]. Auch Nomen oder Adjektive können einer von ihnen Struktur entspricht genau der linken Satzklammer
abhängigen Nominalphrase einen Kasus zuweisen, z. B. [NP der Besuch [NPgen der im Feldermodell, d. h. sie ist entweder von einer
alten Dame]], [AP [NPdat vielen Leuten] bekannt]. Objekt-NPs erhalten ihren Kasus subordinierenden Konjunktion oder vom finiten
vom Verb. Ein Verb im Passiv verliert die Fähigkeit, seinem Objekt den Akkusativ Verb besetzt oder sie ist leer. Der Kopf C steht im-
zuzuweisen, so dass das eigentliche Akkusativ-Objekt in Passivkonstruktionen mer links von der IP.
als Subjekt im Nominativ erscheint:
(39) CP
Berta füttert [NPakk den Vogel].
{[NPnom Der Vogel] /*[NPakk Den Vogel]} wird gefüttert. C IP

Für den Nominativ des Subjekts ist der I-Kopf mit seinen Finitheitsmerkmalen dass NP I'
verantwortlich. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung von finiten Sätzen und
Infinitivkonstruktionen: Bei Letzteren ist ein I-Kopf ohne entsprechende Finit-
N VP I
heitsmerkmale anzunehmen. Das eigentliche Subjekt des Verbs kann dann tat-
sächlich nicht im Nominativ stehen, sondern erscheint z. B. ausnahmsweise in sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]
Abhängigkeit vom übergeordneten Verb im Akkusativ (sog. AcI: Accusativus NP V
cum Infinitivo):
DP N mag
(Ich höre,) dass [NPnom der Papagei] nebenan krächzt.
(Ich höre) {[NPakk den Papagei] /*[NPnom der Papagei]} nebenan krächzen.
D Papagei
Neben dem Rektionskasus gibt es u. a. auch Kongruenzkasus, d. h. ein Element ihren
steht in einem bestimmten Kasus, weil es im Kasus mit einem anderen Element
im Satz übereinstimmen muss. Jeder Satz, egal ob Haupt- oder Nebensatz, ist ins-
Dies gilt z. B. für Prädikative, die im Kasus mit ihrer Bezugsphrase übereinstim- gesamt eine CP. Die basisgenerierte Struktur ent-
men müssen: spricht im Deutschen der Grundabfolge SOV, wie
sie in einem mit Konjunktion eingeleiteten Neben-
[NPnom/Subj Er] ist [NPnom/Prädikativ ein schlauer Papagei]. satz wie (39) auch an der Oberfläche vorliegt. Die
Berta nennt [NPakk/Obj ihn] [NPakk/Prädikativ einen schlauen Papagei]. tatsächliche Wortstellung im konkreten Beispiel-
satz kann aber wie oben diskutiert auch von der
Kongruenzkasus kommt aber z. B. auch innerhalb von NPs vor: Hier müssen De- Grundabfolge abweichen (traditionell spricht man
terminierer, attributives Adjektiv und Nomen im Kasus übereinstimmen, etwa hier von der Oberflächenstruktur im Unterschied
bei [NPakk [DPakk einen] [APakk schlauen] [Nakk Papagei]]. zur Tiefenstruktur, vgl. Chomsky 1981). Man
nimmt an, dass sie durch syntaktische Bewegung
einzelner Konstituenten abgeleitet ist. (Bewegung
Haider (1993) und Sternefeld (2009), nehmen da- wird als allgemeine syntaktische Regel auch
gegen an, dass es im Deutschen keine IP gibt, das Move-Į (›Bewege Į‹) genannt, wobei Į eine belie-
Subjekt vielmehr seine Basisposition in der VP hat bige Konstituente ist).
und auch dort den Kasus Nominativ bekommt.) Der Hintergrund für die Annahme syntaktischer
Bewegungen besteht in der Beobachtung, dass
Konstituenten manchmal sozusagen gleichzeitig
Die CP
an mehrere Stellen im Satz gehören. In einem ge-
Der Verbendsatz dass sie ihren Papagei mag ist da- gebenen Satz kann beispielsweise das Objekt im
mit fast vollständig analysiert. Es fehlt allerdings Vorfeld stehen. Es gehört aber eigentlich wie alle
noch eine Position für die subordinierende Kon- Objekte in die VP (als Schwesterknoten von V,
junktion dass. In der Terminologie des Feldermo- s. o.), wo es ja auch von V den Kasus bekommt

74
2.3
Grammatik
Satzbau

und auch seine Thematische Rolle (z. B. Thema). Verbzweitsatz: Nun bleibt noch zu klären, wie die
Man nimmt als Lösung an, dass das Objekt oder Baumstruktur eines Verbzweitsatzes aussieht. Verberstsatz
auch jedes andere Satzglied sich aus seiner Basis- Hierfür fehlt uns eine Position, die im Feldermo- und Verbzweitsatz
position wegbewegen kann. Ebenso kann sich das dell dem Vorfeld entspricht. Man braucht nun aber
finite Verb aus seiner Basisposition am Ende des nicht noch eine weitere syntaktische Projektion
Satzes wegbewegen in die linke Satzklammer, d. h. über CP anzunehmen, sondern nutzt einfach das
nach C. X-bar-Modell, das heißt die prinzipielle Möglich-
Syntaktische Bewegung hinterlässt sog. Spuren keit, in jeder x-beliebigen Phrase eine Zwischen-
(engl. trace, abgekürzt t). Wo die Konstituente ein- stufe X' einzubauen, hier also C'. Das Vorfeld ist
mal stand bzw. wo sie im gegebenen Satz nicht die linke Schwester von C' und damit der Spezifi-
hörbar steht, aber eigentlich auch hingehören zierer der CP, also die von CP zuoberst links ab-
würde, steht eine Spur t. Um die Zuordnung bei zweigende Phrase.
mehreren Spuren eindeutig zu machen, wird t mit Ein Verbzweitsatz wird nun durch zwei syntak-
dem gleichen Index i, j, k usw. versehen, wie das tische Bewegungen aus der Grundabfolge SOV ab-
zugehörige bewegte Element. Man kann sich die geleitet: Zum einen wird, wie schon beim Verb-
Bewegung auch durch Pfeile verdeutlichen. Ein erstsatz, das finite Verb von V nach C bewegt. Zum
und dieselbe syntaktische Baumstruktur bildet so anderen wird aber noch ein beliebiges Satzglied
gleichzeitig die Tiefenstruktur mit den Basispositi- aus seiner Basisposition ins Vorfeld, also nach
onen aller Konstituenten und die Oberflächen- SpecCP bewegt, so dass das finite Verb die zweite
struktur des konkreten Satzes ab. Position im Satz einnimmt. Zu einem Satzglied im
Verberstsatz: Betrachten wir zunächst, wie ein Vorfeld gibt es folglich immer eine Spur weiter hin-
Verberstsatz wie Mag sie ihren Papagei? abgeleitet ten im Satz. Das ins Vorfeld bewegte Satzglied
wird. Die einzige Abweichung von der Grundab- kann z. B. ein Objekt sein, etwa in dem Satz Ihren
folge SOV sie ihren Papagei mag vgl. (38) und (39) Papagei mag sie. Dann gibt es außer der Verb-Spur
besteht hier darin, dass das finite Verb aus seiner unter V also noch eine Spur des Objekts an der
Basisposition V nach C bewegt worden ist (genau- ursprünglichen Objektposition als Schwester von
genommen über I, was hier vernachlässigt wird), V in der VP, wie die Baumstruktur (41) illustriert.
also aus der rechten in die linke Satzklammer. Da-
her wird in der syntaktischen Struktur unter V (41) CP
eine Spur t eingetragen, die den gleichen Index
(SpecCP:) NPi C'
(hier i) trägt, wie das Verb selbst, das nun aber an
C steht. DP N C IP
(40) CP
D Papagei magj NP I'

C IP Ihren N VP I
sie
Magi NP I' [3. Pers., Sg., Präs., Ind.]
ti V
N VP I tj

sie [3. Pers., Sg., Präs., Indikativ]


NP V
Das ins Vorfeld bewegte Satzglied kann aber auch
DP N ti ein anderes Satzglied sein, etwa das Subjekt. Dann
gibt es außer der Verbspur als weitere Spur im Satz
noch eine an der ursprünglichen Subjektposition,
D Papagei also an SpecIP. Dies ist z. B. in dem Satz Sie mag
ihren ihren Papagei der Fall, dessen Struktur in (42) wie-
dergegeben ist.
W-Bewegung: Wenn ein Satzglied aus einem
Interrogativpronomen bzw. -adverb (z. B. wer,
was, wann, wo) besteht oder ein solches enthält

75
2.3
Grammatik
Syntax

(42) CP 2.3.4 | Satzarten und komplexe Sätze


(SpecCP:) NPi C' 2.3.4.1 | Haupt- und Nebensätze
Sie C IP Bei den bisher analysierten Beispielen handelte es
sich um Einfachsätze, d. h. Sätze, die nur aus ei-
N magj ti I' nem Teilsatz bestehen. Es gibt aber auch Sätze, die
aus mehreren Teilsätzen bestehen, die komplexen
VP I Sätze. Letztere sind entweder Satzgefüge, d. h.
[3. Pers., Sg., ...] Komplexe aus Haupt- und Nebensätzen, oder
NP V Satzverbindungen, die aus mehreren Hauptsät-
zen zusammengesetzt sind.
DP N tj

D Papagei Definition
ihren Ein   Hauptsatz ist ein Teilsatz, der keinem
anderen Teilsatz untergeordnet ist.

w-Bewegung (z. B. welches Futter, von wo), so muss es, wie in


(43) dargestellt, ins Vorfeld bewegt werden. (Kom- Fünf Hauptsatzarten lassen sich unterscheiden,
men mehrere Interrogativa in einem Satz vor, so die auch als Satzmodi bezeichnet werden:
muss im Deutschen nur eines nach SpecCP bewegt N Aussagesatz (Deklarativsatz) vgl. (44)
werden.) N Fragesatz (Interrogativsatz), Unterarten: Ent-
scheidungsfrage oder Ja-Nein-Frage vgl. (45a),
(43) CP Ergänzungsfrage oder W-Frage vgl. (45b)
N Aufforderungssatz (Imperativsatz) vgl. (46)
(SpecCP:) NPi C' N Wunschsatz (Desiderativsatz) vgl. (47)
N Ausrufesatz (Exklamativsatz) vgl. (48)
N C IP
(44) Peppi ist ein ganz schlauer Vogel.
Wen magj NP I' (45) a Kann Peppi auch sprechen?
(45) b Was sagt er denn so?
N VP I (46) Komm her, Peppi!
sie [3. Pers., Sg., Präs., Ind.] (47) Wenn du doch nur herkommen würdest!
ti V
(48) Was dieser Papagei alles kann!
tj
Hauptsatzarten wie die Entscheidungsfragen, Auf-
forderungssätze oder Ausrufesätze verdeutlichen,
dass die verbreitete Definition von Hauptsatz als
Die obligatorische Bewegung nach SpecCP betrifft ›Satz mit Verbzweitstellung‹ nicht adäquat ist.
auch Interrogativa im Nebensatz (Ich möchte wis-
sen, weni sie ti mag) sowie Relativpronomen (der, Definition
die, das, welcher, was etc., z. B. Der Papagei, deni
sie ti mag). Da die meisten der von dieser obligato- Ein   Nebensatz ist ein Teilsatz, der einem
rischen Bewegung betroffenen Lexeme mit dem anderen Teilsatz untergeordnet ist. Der
Buchstaben »w« beginnen, wird dieses Phänomen jeweils übergeordnete Satz, in den der
auch als W-Bewegung bezeichnet (in Anlehnung Nebensatz eingebettet ist, wird auch Ma-
an den englischen Terminus wh-movement). trixsatz genannt.

76
2.3
Grammatik
Satzarten und
komplexe Sätze

Nebensätze können nach drei Kriterien klassifi- N Ein satzwertiger Infinitiv wie in (54) enthält
ziert werden: im Gegensatz zu den obigen Nebensatzarten
1. Nach dem Grad der Abhängigkeit, da sie per kein finites, sondern ein infinites Verb, ist aber
Definition von einem anderen Satz abhängen. syntaktisch äquivalent mit einem Satz. Die
N Ein Nebensatz ersten Grades ist direkt von ei- linke Satzklammer ist leer oder durch die Kon-
nem Hauptsatz abhängig. junktion um besetzt.
N Ein Nebensatz zweiten Grades ist ein Neben- Auch bei den Nebensätzen zeigt sich also, dass Nebensatzarten
satz, der von einem Nebensatz ersten Grades eine Definition von Haupt- und Nebensatz auf der
abhängt. Grundlage der Verbstellung nicht möglich ist: Ein
N Ein Nebensatz dritten Grades hängt von einem Nebensatz ist nicht generell ein Satz mit Verbend-
Nebensatz zweiten Grades ab, usw. stellung, wie die uneingeleiteten Nebensätze (52a)
In Beispiel (49) ist ein kursiv gekennzeichneter und (53a) zeigen. Dass es sich tatsächlich um Ne-
Nebensatz ersten Grades und ein kursiv und fett bensätze handelt, kann man sich u. a. verdeutli-
wiedergegebener Nebensatz zweiten Grades ent- chen, indem man sie in einen Konjuktionalsatz
halten. umformuliert, vgl. (52b) und (53b).

(49) [Hauptsatz Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin (50) Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin und her,
und her, [Nebensatz 1. Grades wenn Berta, [Nebensatz 2. Grades die ihm wenn Berta zur Tür herein kommt.
immer etwas Leckeres mitbringt,] zur Tür herein kommt.]] (51) … Berta, die ihm immer etwas Leckeres mitbringt
(52) a Hört Peppi Berta zur Tür hereinkommen, hüpft er aufgeregt
Prinzipiell gibt es keine grammatische Beschrän- in seinem Käfig hin und her.
kung bezüglich des Grades der Abhängigkeit: Die b Wenn Peppi Berta zur Tür hereinkommen hört, …
Syntax ist wie oben erwähnt rekursiv. Jeder Satz (53) a Er hofft, sie habe ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht.
kann prinzipiell wiederum einen Nebensatz ent- b Er hofft, dass sie ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht
halten. Es können zudem auch mehrere Nebensät- hat.
ze gleichen Grades in einem komplexen Satz vor- (54) Berta hätte fast vergessen, ihren Papagei zu füttern.
kommen. Die bloße Anzahl der Nebensätze in
einem komplexen Satz sagt also noch nichts über 3. Nach der syntaktischen Funktion: Dieses Kriteri-
ihren Abhängigkeitsgrad aus. um für Nebensätze wird ganz analog zur Klassifi-
2. Nach der Form, d. h. insbesondere danach, kation der Satzglieder bzw. Gliedteile angewandt,
wie das Vorfeld bzw. die linke Satzklammer be- denn der ganze Nebensatz ist ein Satzglied oder
setzt sind. Gliedteil des jeweils übergeordneten Satzes.
N Ein Konjunktionalsatz wird von einer subordi- N Ein Subjektsatz stellt insgesamt das Subjekt
nierenden Konjunktion eingeleitet, die die linke des übergeordneten Satzes dar, in (55) z. B. das
Satzklammer besetzt, vgl. (50), (52b) und (53b). Subjekt von erfüllen.
N Ein Pronominalsatz ist ein Nebensatz, der N Ein Objektsatz fungiert entsprechend als Ob-
durch ein spezielles Pronomen eingeleitet wird, jekt des übergeordneten Satzes, in (56) als Ob-
das im Vorfeld steht. Es kann sich hierbei um jekt von hoffen.
ein Interrogativpronomen (abhängige/indirekte N Ein Adverbialsatz ist ein Adverbial des überge-
Fragesätze) oder um ein Relativpronomen (Re- ordneten Satzes z. B. ein Temporal-, Lokal-, Mo-
lativsätze vgl. (51)) handeln. Üblicherweise dal-, Kausal- oder, wie in (57), ein Konditional-
werden alle mit Interrogativum eingeleiteten adverbial.
Nebensätze dem Einleitungstyp Pronominal- N Ein Prädikativsatz nimmt die Funktion eines
satz zugeordnet, auch die mit Interrogativad- Prädikativs im übergeordneten Satz ein, vgl.
verb (wann, wo usw.) eingeleiteten. (58).
N Ein uneingeleiteter Nebensatz ist ein Neben- N Ein Attributsatz stellt kein ganzes Satzglied,
satz, der keines der genannten Einleite-Ele- sondern nur ein Gliedteil des übergeordneten
mente aufweist. Uneingeleitete Nebensätze Satzes mit der Funktion Attribut dar. Der Ne-
können nach ihrer Verbstellung weiter unter- bensatz in (59) ist beispielsweise ein Attribut
teilt werden in uneingeleitete Verberstneben- zum Nomen Berta und entsprechend Gliedteil
sätze (typischerweise in der Funktion konditi- der Objekt-NP mit dem Kopf Berta.
onaler Adverbialsätze), vgl. (52a), und unein-
geleitete Verbzweitnebensätze, vgl. (53a).

77
2.3
Grammatik
Syntax

(55) Dass Peppi jetzt sogar sprechen kann, erfüllt Berta mit gro- im Vorfeld, im Nachfeld oder (seltener) im Mittel-
ßem Stolz. feld des Matrixsatzes. Sie selbst besitzen wiederum
(56) Er hofft, sie habe ihm wieder etwas Leckeres mitgebracht. auch evtl. Vorfeld, linke Satzklammer, Mittelfeld,
(57) Der Papagei hüpft aufgeregt in seinem Käfig hin und her, rechte Satzklammer usw. Dies veranschaulicht die
wenn Berta zur Tür herein kommt. Analyse eines komplexen Satzes nach dem Felder-
(58) Peppi ist, was man einen schlauen Vogel nennen könnte. modell (links). Der Nebensatz ist grau unterlegt.
(59) Peppi mag Berta, die ihm immer etwas Leckeres mitbringt. Wie können nun komplexe Sätze im Phrasen-
strukturbaum dargestellt werden? Hierfür bildet
wie schon bei der Darstellung der Satzglieder und
2.3.4.2 | Syntaktische Analyse
der Einfachsätze die eben besprochene, in der
komplexer Sätze
traditionellen Grammatik übliche Klassifikation
Nebensätze sind in den übergeordneten Satz (Ma- sowie die Analyse nach dem Feldermodell die
trixsatz) eingebettet, sind also Teil des Matrixsatzes Grundlage. Im Phrasenstrukturbaum stellen Ne-
und stehen entsprechend im topologischen Modell bensätze eigene CPs dar. Sie stehen an der Stelle,
die sie gemäß ihrer syntaktischen Funktion ein-
nehmen – als SpecIP bei Subjektsätzen, als Teil der
Vorfeld LSK Mittelfeld RSK NF VP bei Adverbialsätzen und Objektsätzen, als Teil
VF LSK MF RSK NF strahlt meine Nachbarin – – der NP des entsprechenden Bezugsnomens bei At-
– Wenn Peppi krächzt – tributsätzen – bzw. sind mit einer Spur an dieser
Stelle verknüpft, wenn sie ins Vorfeld oder Nach-
Analyse eines komplexen Satzes im Feldermodell/topologischen Modell feld des Matrixsatzes verschoben worden sind.

Beispiel Phrasenstrukturanalyse eines komplexen Satzes SpecCP, die ja wie oben besprochen dem Vorfeld
Betrachten wir als Beispiel wiederum den kom- entspricht. Man kann also syntaktische Bewe-
plexen Satz [[Wenn Peppi krächzt] strahlt meine gung des Nebensatzes aus der VP nach SpecCP
Nachbarin]. Der Nebensatz wenn Peppi krächzt, annehmen. Entsprechend hat der Nebensatz in
der ein Nebensatz ersten Grades und ein Kon- der VP des übergeordneten Satzes eine Spur t
junktionalsatz ist, kann gemäß seiner syntakti- hinterlassen.
schen Funktion als Adverbialsatz klassifiziert Der Nebensatz selbst stellt wie gesagt seinerseits
werden. Genau wie andere Adverbiale auch steht eine komplette CP dar, deren interne Struktur
er daher ›ursprünglich‹ als Teil der VP. Wie die ebenfalls baumgraphisch wiedergegeben werden
Analyse des Satzes nach dem Feldermodell erge- kann. Somit ergibt sich als Phrasenstruktur für
ben hat, steht der Nebensatz in der konkreten diesen komplexen Satz insgesamt die Struktur in
Abfolge hier aber im Vorfeld des Matrixsatzes, (60), in der der Nebensatz fett hervorgehoben ist.
im Phrasenstrukturbaum also an der Position

(60) CP

CPi C'

C IP C IP

Wenn NP I' strahltj NP I'

N VP I DP N VP I

Peppi V [3. Sg., Präs., Ind.] D Nachbarin ti V [3. Sg., ...]

krächzt meine ti

78
2.3
Grammatik
Literatur

Zitierte und weiterführende Literatur


Baltin, Mark/Collins, Chris (Hg.) (2000): The Handbook of Haider, Hubert (1993): Deutsche Syntax – generativ.
Contemporary Syntactic Theory. Oxford. Tübingen.
Boskovic, Zeljko/Lasnik, Howard (Hg.) (2006): Minimalist Heidolph, Karl-Erich u. a. (1981): Grundzüge einer
Syntax. The Essential Readings. Oxford. deutschen Grammatik. Berlin.
Brandt, Patrick/Dietrich, Rolf-Albert/Schön, Georg Jacobs, Joachim u. a. (Hg.) (1993/1995): Syntax. Ein
(22006): Sprachwissenschaft. Köln. internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung.
Chomsky, Noam (1965): Aspects of the Theory of Syntax. 2 Halbbde. Berlin/New York.
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– (1981): Lectures on Government and Binding. Dordrecht. schen Syntax. Tübingen.
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Drach, Erich (1937): Grundgedanken der deutschen Weimar.
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Duden. Die Grammatik (82009). Mannheim. Generative Grammatik. Göttingen.
Dürscheid, Christa (52010): Syntax. Grundlagen und Pittner, Karin/Berman, Judith (32008): Deutsche Syntax.
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Gallmann, Peter: Syntaxtheorie. 2001–2012 (Online unter: Stechow, Arnim von/Sternefeld, Wolfgang (1988):
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Grewendorf, Günther (2002): Minimalistische Syntax. generativen Grammatik. Opladen.
Tübingen/Basel. Sternefeld, Wolfgang (32008/2009): Syntax. Eine
– /Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang (32001): Sprachliches morphologisch motivierte generative Beschreibung des
Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der Deutschen. 2 Bde. Tübingen.
grammatischen Beschreibung. Frankfurt a. M. Zifonun, Gisela u. a. (1997): Grammatik der deutschen
Haegeman, Liliane (21994): Introduction to Government Sprache. Berlin/New York.
and Binding Theory. Oxford. Agnes Jäger

79
3.2
Semantik und Pragmatik

3 Semantik und Pragmatik


3.1 Einleitung
3.2 Evidenz für Bedeutungen
3.3 Bedeutungsebenen
3.4 Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten
3.5 Bedeutungsbeziehungen
3.6 Regeln der Sprachverwendung

3.1 | Einleitung
In der Semantik und Pragmatik wird der Aspekt Die Bezeichnungen ›Semantik‹ und ›Pragmatik‹
der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken un- für die Disziplinen stammen von Charles Morris
tersucht. Allgemein nimmt man an, dass sprachli- (1938). Die Art der Beziehung zwischen Semantik
che Ausdrücke Bedeutung haben – wir sagen und Pragmatik ist im Rahmen der Sprachwissen-
dann, dass wir ihre Bedeutung kennen. Sprachli- schaft allerdings umstritten. Morris’ Ansicht, dass
che Ausdrücke können aber auch bei der Verwen- es eine klare Trennlinie zwischen Semantik und
dung in der Kommunikation Bedeutung gewinnen. Pragmatik gebe, insofern als pragmatische Phäno-
Wir kennen diese Sorte Bedeutung allerdings mene sauber auf semantischen Phänomenen auf-
nicht, ohne dass die Ausdrücke verwendet wer- bauen, ist heute überholt. Betrachtet man Bedeu-
den. Diese beiden Perspektiven auf Bedeutung tungen in Dialogen oder im Textzusammenhang,
entsprechen der Unterscheidung der Teildiszipli- müssen in vielen Fällen Semantik und Pragmatik
nen Semantik und Pragmatik. ineinandergreifen, um die Bedeutung vollständig
abzubilden.

Definition Definition

In der   Semantik erforscht man die In der   Pragmatik werden diejenigen Bedeutungsarten untersucht,
Bedeutung (an sich) von einfachen und die bei der konkreten Verwendung der sprachlichen Ausdrücke entste-
komplexen Wörtern, aber auch von Phrasen hen, aber auch die Voraussetzungen und Effekte dieser Verwendung.
(also Wortfolgen) und natürlich von ganzen Analysiert wird die Verwendung von deiktischen Ausdrücken (Ausdrü-
Sätzen. Die Untersuchung von Wortbedeu- cke, deren Bedeutung von dem Sprecher, dem Hörer, dem Äußerungs-
tungen fällt dabei in den Bereich der lexi- zeitpunkt oder dem Ort der Äußerung abhängt), Präsuppositionen
kalischen Semantik. Bedeutungen von (Voraussetzungen für die Angemessenheit einer Äußerung), Implikatu-
Phrasen und Sätzen werden im Rahmen der ren (Informationen, die über die Bedeutung an sich der Ausdrücke hin-
Satzsemantik untersucht. Der Begriff ausgehen und in Abhängigkeit von der Äußerungssituation entstehen)
›Semantik‹ wird nicht nur für die Disziplin, und von sogenannten Sprechakten (die Voraussetzungen und Effekte
sondern auch für die Bedeutungsart ver- erfolgreicher Äußerungen). Auch der Begriff ›Pragmatik‹ wird außer für
wendet. die Disziplin auch für die Bedeutungsarten verwendet.

3.2 | Evidenz für Bedeutungen


Bedeutungen von natürlich-sprachlichen Ausdrü- N die Gesten einer Gebärdensprache: komplexe
cken werden durch sprachliche Äußerungen in Handzeichen
drei Formen vermittelt: N die geschriebenen Zeichen: Buchstabenfolgen,
N die Lautgestalt von sprachlichen Einheiten: die diese Einheiten kodieren
Schallwellen in unterschiedlichen Tonhöhen Sprecher einer Sprache kennen offensichtlich die
und mit variierender Lautstärke Bedeutungen der Ausdrücke ihrer Sprache und sie

81
3.2
Semantik und Pragmatik
Evidenz für Bedeutungen

gehen stillschweigend davon aus, dass sie vonein- Alle diese Methoden liefern Daten, die analy-
ander wissen, dass sie sich in dieser Kenntnis ei- siert und interpretiert werden müssen und als Evi-
nig sind. Woran kann man erkennen, dass jemand denz für Bedeutung zählen. Als Daten zählen au-
die Bedeutung eines Ausdruckes kennt? Welche ßerdem gewöhnliche Texte und Sequenzen von
Evidenz, welche Rechtfertigung gibt es für Bedeu- natürlich gesprochener Sprache, die heute als Kor-
tungen? pora (Sprachdatensammlungen) maschinell, das
Introspektion In der Linguistik ist die Introspektion (in der heißt für den Computer lesbar, aufbereitet und sta-
Psychologie auch Selbstbeobachtung genannt) tistisch ausgewertet werden können. Auch diese
eine weit verbreitete Methode, Evidenz für Bedeu- Daten können Aufschluss über Bedeutung geben.
tungen zu erhalten. Wir beschreiben, was wir Verfahren hierfür werden in der Korpuslinguistik
selbst über Bedeutung wissen, und wir nehmen entwickelt.
an, dass alle anderen Sprecher unserer Sprache Wir konzentrieren uns hier auf Daten der Intro-
unsere Beobachtung teilen. Treten Unsicherheiten spektion und auf Beobachtungen zur Funktion
bei der Introspektion auf, bietet sich die gesteuerte von Sprache.
Befragung von Muttersprachlern an (z. B. mit Fra-
gebogen).
Die Beobachtung des Sprachverhaltens von
Sprechern ist eine weitere Methode zur Gewinnung 3.2.1 | Paraphrasen
für Bedeutungen. Sprachverwendung ist eine Form
von Handeln. Und diese Handlungen kann man be- Sprecher einer Sprache sind grundsätzlich in der
obachten und den Gebrauch der Sprache beschrei- Lage, Ausdrücke ihrer Sprache zu erklären und mit
ben. In der Psycholinguistik werden heute Tests Ausdrücken zu umschreiben, die eine ähnliche Be-
zum Verhalten von Probanden beim Verständnis deutung haben. Man nennt diese Umschreibungen
von Sprache ausgewertet. Gemessen wird etwa die Paraphrasen. Sie werden im Rahmen der lexikali-
Reaktionszeit, in der ein Proband Verständnis si- schen Semantik verwendet, um Bedeutungen von
gnalisiert. In der Neurolinguistik werden Verfahren Wörtern zu erfassen. In der Lexikographie (die
zur Messung von Hirnaktivitäten bei der Sprach- Disziplin, die sich dem Erstellen von Wörterbü-
produktion und Sprachrezeption als Methoden zur chern widmet) werden sie verwendet, um ver-
Repräsentation von Bedeutungen eingesetzt. schiedene Bedeutungen eines Wortes zu unter-
Zur Vertiefung scheiden.
Für Inhaltswörter funktioniert die Paraphrasie-
Bedeutung = Paraphrase? rung von Bedeutungen relativ gut. Inhaltswörter
Paraphrasen von sprachlichen Ausdrücken sind in vielen Fällen entweder unvoll- werden für natürliche Arten und Stoffe (wie Tiger
ständige oder zu einschränkende Beschreibungen eines sprachlichen Ausdruckes und Wasser), Artefakte (wie Stuhl oder Drossel-
oder beides. Das illustriert der Original-Eintrag unter Liebe im Duden – Deutsches klappenstutzen) und Markenprodukte (wie Über-
Universalwörterbuch (2007): »[…] auf starker körperlicher, geistiger, seelischer raschungsei) oder Ereignisse (wie platzen) und
Anziehung beruhende Bindung an einen bestimmten Menschen [des anderen Ge- bestimmte Zustände (wie sitzen) verwendet. In
schlechts], verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein, Hingabe o.ä«. der Paraphrase nennen wir Kriterien, indem wir
Paraphrasen variieren von Muttersprachler zu Muttersprachler und, was an der Dinge/Ereignisse/Zustände beschreiben, die unter
Umschreibung einer Wortbedeutung tatsächlich zur Wortbedeutung gehört, ist den zu erklärenden Begriff fallen. Unter Umstän-
schwer abzugrenzen von Assoziationen bzw. subjektiven Erfahrungen oder Er- den ist Expertenwissen nötig, um eine Paraphrase
wartungen, die ein Muttersprachler mit einem Wort verbindet. Psychologische Ex- zu vervollständigen. Schwieriger sind Abstrakta
perimente haben gezeigt, dass die Paraphrasen von zwei Muttersprachlern zu ein zu paraphrasieren wie z. B. Wahrheit. Typischer-
und demselben Begriff im Schnitt nur zu 44 % übereinstimmen (Barsalou 1993). weise wird dafür eine tatsächliche Gegebenheit
Die Paraphrasen sind selbst wieder Zeichenfolgen und haben demnach eine ei- verallgemeinert, in der der zu beschreibende Aus-
gene Bedeutung, die wiederum paraphrasiert werden könnte, und auch diese Pa- druck eine Rolle spielt.
raphrase könnte man wieder paraphrasieren und so weiter und so fort. Paraphra- Funktionswörter werden von den Inhaltswör-
sierung als Methode für die Gewinnung von Bedeutungen hat also eigentlich nie tern abgegrenzt und oft kann man lesen, dass die-
ein Ende (unendlicher Regress). se nichts bedeuten (z. B. in Meibauer u. a. 2007,
Trotzdem stärkt das Faktum, dass wir in der Lage sind, Paraphrasen für die Be- S. 133). Eine Paraphrasierung ist unmöglich, wenn
deutung von sprachlichen Ausdrücken anzugeben, unsere Gewissheit, dass es die syntaktische Kategorie der Funktionswörter er-
Bedeutungen an sich gibt. Paraphrasen sind indirekte Evidenz für Bedeutungen. halten bleiben soll. Für Wörter wie den definiten
oder indefiniten Artikel (der, ein) oder die Partikel

82
3.2
Semantik und Pragmatik
Funktion von
sprachlichen Ausdrücken

wieder haben Muttersprachler auf Anhieb keine dass ihr Mann gestorben ist bedeuten dasselbe.
Umschreibungen parat. Denkbar sind aber Para- Sprecherurteile zu Bedeutungsbeziehungen sind
phrasierungen im Satzzusammenhang. Paraphra- Urteile über Sprache.
semuster für Konstruktionen mit diesen Ausdrü- Die Sprachkenntnisse erlauben dem Mutter- Bedeutungswissen
cken zu entwickeln, hat sich als Aufgabe der sprachler zu entscheiden, ob ein bestimmter
Satzsemantik etabliert. sprachlicher Ausdruck oder eine Kombination von
Der Satz (1) z. B. ist mehrdeutig, und diese Ausdrücken Bedeutung überhaupt zukommt
Mehrdeutigkeit kann weg-paraphrasiert werden. (Katz 1972). Die Buchstabenfolge raspberry z. B.
Die Paraphrasen kommen ohne wieder aus. Jeder hat keine Bedeutung im Deutschen, Himbeere aber
Paraphrase entspricht eine Lesart des Satzes in schon.
(1). Der Bedeutungsbestandteil, den wieder bei- Oft sind Muttersprachler auch in der Lage, Ur-
trägt, ist unterstrichen. teile über die Mehrdeutigkeit eines (einfachen
oder komplexen) Ausdruckes abzugeben. Die Ab-
(1) Bertha hat das Fenster wieder zu gemacht. machung Wir treffen uns bei der Bank kann leicht
a »Bertha hat das Fenster zugemacht und sie hat das Fenster zu Missverständnissen führen, wenn nicht klar ist,
schon einmal zugemacht.« ob es sich bei der Bank um eine Sitzgelegenheit
b »Bertha hat das Fenster zugemacht und es war schon ein- oder ein Geldinstitut handelt.
mal zu.« Das Wissen, das uns diese Urteile ermöglicht,
ist Bedeutungswissen. Auch Sprecherurteile er-
Der Bedeutungsunterschied ergibt sich nur da- lauben (wie Paraphrasen) nur indirekte Evidenz
durch, dass das lexikalische Material, aus dem der für Bedeutungen. Wenn Unsicherheiten bei den
Satz besteht, unterschiedlich in Bezug auf das Pa- Sprecherurteilen bestehen, ist die Evidenz außer-
raphrasemuster « …. und …. schon einmal …« dem unzuverlässig.
verteilt wird. In der ersten Lesart drückt der Satz
eine Wiederholung einer Handlung aus, in der
zweiten Lesart die Wiederherstellung eines Aus-
gangszustands. 3.2.3 | Funktion von sprachlichen
Paraphrasen setzen generell ein Sprecherurteil Ausdrücken
voraus, nämlich dass der paraphrasierte Ausdruck
und die Paraphrase dasselbe oder zumindest etwas Evidenz für Bedeutungen ist die Funktion von Funktion
Ähnliches bedeuten. Zwischen der Paraphrase und sprachlichen Ausdrücken. Sprache wird z. B. von
dem paraphrasierten Ausdruck besteht also eine einem Sprecher verwendet, um in einer bestimm-
Bedeutungsbeziehung. ten Äußerungssituation einem Hörer eine Mittei-
lung über Tatsachen zu machen: was es in der
Mensa zu essen gibt, wie lange die Post geöffnet
ist etc. Wir reden über Dinge in unserer Welt und
3.2.2 | Sprecherurteile schreiben ihnen Eigenschaften zu. Mit Sprache
drücken wir unsere Überzeugungen darüber aus,
Muttersprachler können entscheiden, ob Bedeu- wie die Dinge sich zueinander verhalten. Bedeu-
tungsbeziehungen zwischen Ausdrücken ihrer tungswissen erlaubt uns, mit sprachlichen Aus-
Sprache bestehen. Muttersprachler sind z. B. in der drücken einen Bezug zur Welt herzustellen und
Lage zu entscheiden, ob zwei einzelne Ausdrücke zu entscheiden, ob ein Ausdruck für etwas korrekt
dieselbe Bedeutung haben (wie z. B. stehlen und verwendet wird oder nicht. Wer mit dem Wort
entwenden) oder ob zwei Ausdrücke in der Be- Himbeere Brombeeren bezeichnet, macht einen
deutung irgendwie verwandt sind (wie z. B. er- Fehler. Wer sagt, dass die Rhone durch Deutsch-
schlagen und tot). Bedeutungsbeziehungen sind land fließt, sagt etwas Falsches.
natürlich auch über verschiedene Sprachen hin- Sprache können wir aber nicht nur für Mittei-
weg möglich. Englisch raspberry und deutsch lungen verwenden, wir können mit ihr auch Auf-
Himbeere bedeuten dasselbe. Außerdem kann forderungen zur Mitteilung (in der Form eines
man Bedeutungsbeziehungen nicht nur zwischen Fragesatzes) machen. Wir können durch Sprache
Bedeutungen von einzelnen Ausdrücken, sondern andere so beeinflussen, dass sie (nicht-sprachli-
auch zwischen Sätzen ausmachen. Bertha hat ih- che) Handlungen ausführen: dazu dienen Befehle.
ren Mann umgebracht und Bertha hat verursacht, Wir können Schenkungen sprachlich formulie-

83
3.2
Semantik und Pragmatik
Evidenz für Bedeutungen

ren, wodurch sich Besitzverhältnisse ändern. Ritu- lismus zurückverfolgen, wonach sprachliche Be-
ale der Namensgebung werden sprachlich voll- deutungen Bestandteile einer mentalen Einheit,
zogen. Wir können Sprache, naiv gesagt, dazu dem sog. Zeichen, sind (Saussure 1916/2001; Lin-
verwenden, die Welt zu verändern. ke u. a. 2004).
Darüber hinaus können wir mit Sprache unsere Konsens besteht heute in der kognitiven Se-
Einstellungen zu Tatsachen oder Dingen mitteilen mantik darüber, dass nicht jedem einzelnen Aus-
(z. B. zur Bewertung einer Tatsache oder eines druck (Lexem oder Morphem) ein psychischer Zu-
Dinges als gut oder schlecht, wünschenswert oder stand entspricht. Vielmehr stellt man sich vor,
bedauerlich). dass es ein Grundinventar von Bedeutungen gibt,
In all diesen Fällen verwenden wir einen be- aus denen sich die Bedeutungen für die einzelnen
stimmten, unter Umständen komplexen sprachli- Ausdrücke zusammensetzen. Eines der For-
chen Ausdruck, mit dem wir einen Bezug auf Din- schungsziele ist es, dieses Grundinventar zu er-
ge herstellen, und verfolgen damit bestimmte schließen.
Absichten. Auch diesen Aktivitäten liegt Bedeu- Wird Bedeutung eine mentale Realität zuge-
tungswissen zugrunde. sprochen, macht man klare Voraussagen für deren
Beobachtbarkeit in neurophysiologischen Experi-
menten, mit denen Bedeutungen im Kopf lokali-
siert werden können. Heute kann Hirnaktivität
3.2.4 | Was Bedeutungen sind … gemessen werden, indem die elektrische Aktivität
der Neuronen beobachtet wird. Erhöhte Aktivität
…, darüber gehen die Meinungen in der Sprach- drückt sich in einer Spannungsänderung aus, die
wissenschaft auseinander. Das hängt vor allem da- sich mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG)
mit zusammen, dass keine Einigkeit darüber be- sichtbar machen lässt. Spannungsänderungen
steht, was als zentrale Evidenz für Bedeutung nach einem Reiz deuten dabei auf Schwierigkeiten
angesehen werden kann (Krifka 2011, Kap. 12) und bei der Sprachverarbeitung. Die Hirnforschung ist
wie der Bedeutungsbegriff überhaupt zu fassen ist sich heute einig, dass wir auch nach 20 Jahren
(Levinson 1983/2000, Kap. 1). Forschung von einer Lokalisation von sprachlicher
Weil Bedeutung nicht direkt beobachtbar ist, Bedeutung im Kopf noch weit entfernt sind (Barsa-
muss sie rekonstruiert werden. Wir greifen hier lou 2010).
drei wichtige Sichtweisen der Rekonstruktion ex- Charakteristisch ist für diesen Ansatz, dass Be-
emplarisch heraus. Bedeutungen sind – dabei ent- deutungen als psychische Zustände privater Natur
spricht jede Sichtweise einem Aspekt von Evidenz sind und deshalb Gesprächspartnern wechselsei-
für Bedeutungen –: mentale Objekte, abstrakte Ob- tig nicht zugänglich. Es muss also erklärt werden,
jekte oder Handlungen. wie es zur zwischenmenschlichen Verständigung
Mentale Objekte: Vertreter der sog. kognitiven kommt, wenn Bedeutungen etwas Mentales sind.
Semantik (z. B. Langacker 1987) und der konzep- Im Zentrum des Interesses dieser Ansätze stehen
tuellen Semantik (z. B. Jackendoff 1983) nehmen allerdings eher Fragestellungen, welche die Orga-
an, dass Bedeutungen (unter Umständen komple- nisation des mentalen Lexikons betreffen (lexikali-
xe) mentale Objekte sind. sche Semantik) und weniger Fragestellungen der
Kognitive Semantik Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass bestimm- Satzsemantik oder Pragmatik.
te Aspekte des sprachlichen Wissens einem Mut- Abstrakte Objekte: In der formalen Semantik
tersprachler durch Selbstbeobachtung zugänglich (in der Ausprägung einer Referenzsemantik) ist
sind. Es liegt demnach nahe, dieses Wissen entwe- die Ansicht Standard, dass Bedeutungen als etwas
der direkt als psychischen Zustand aufzufassen Objektivierbares aufzufassen sind, etwas Ab-
oder zumindest als mentale Repräsentation, die straktes, auf das aber alle Sprachbenutzer gemein-
auf den psychischen Zustand verweist. Ein ande- sam Zugriff haben.
rer Ausdruck für Bedeutung in diesem Sinne ist Ausgangspunkt für die Rekonstruktion dieser
Konzept (von engl. concept: Begriff) oder konzep- Objekte ist, wie übrigens auch beim handlungsba-
tuelle Struktur (z. B. Löbner 2003, Kap. 9). Sprach- sierten Bedeutungsbegriff (s. u.), die Funktion der
liche Information betrifft danach nicht die wirkli- Sprache. Mit Mitteilungen (in der Form von Dekla-
che Welt, sondern die Vorstellung (oder eine rativsätzen) kann man Fakten der Welt beschrei-
Projektion), die wir von der wirklichen Welt ha- ben und Mitteilungen können wahr oder falsch
ben. Diese Sichtweise kann man in den Struktura- sein, je nachdem ob sie die Fakten richtig beschrei-

84
3.2
Semantik und Pragmatik
Was Bedeutungen sind …

ben oder nicht. Damit ist der Bezug zwischen ger sind die Referenten der Namen. Nicht nur ein-
Sprache und Fakten der Welt hergestellt. Dass zelne Dinge können als Bezugsobjekte dienen,
Satzbedeutungen mit Wahrheit bzw. Falschheit in sondern auch die aus diesen Dingen konstruierten
Zusammenhang stehen, zeigt die folgende Überle- Mengen. Dinge kann man zu Mengen zusammen-
gung: Wenn von zwei Sätzen der eine wahr ist und fassen, die sich eine bestimmte Eigenschaft teilen.
der andere falsch, dann haben diese Sätze mit gro- Einstellige Prädikate wie husten beziehen sich z. B.
ßer Sicherheit unterschiedliche Bedeutung. So tri- auf Mengen von einzelnen Dingen (die Individuen,
vial diese Überlegung ist, sie stellt den Bezug zwi- die in der beschriebenen Situation husten). Man
schen der Bedeutung von Sätzen einerseits und kann Dinge aber auch zu Mengen von Paaren, Tri-
Wahrheit andererseits her. peln etc. zusammenfassen, die in einer bestimmten
Jemand, der eine Sprache beherrscht, kann je- Beziehung stehen. Und Mengen können selbst wie-
weils entscheiden, ob ein Satz die Umstände richtig der zu Mengen (von Mengen) zusammengefasst
beschreibt oder nicht. Er kann entscheiden, ob das, werden, wenn diese Mengen sich eine Eigenschaft
was der Satz ausdrückt, unter diesen Umständen teilen und so weiter.
wahr ist oder nicht. Mit anderen Worten: Er kennt Die formale Semantik nimmt als linguistische
die Bedingungen, unter denen der Satz wahr wäre, Disziplin ihren Ursprung um 1900 in der Sprach- Sprachphilosophie
wenn er einen Satz versteht. Man spricht generell philosophie und Logik. Dort wird der Systemcha- und Logik
von Wahrheitsbedingungen. Das Wissen um die rakter der wissenschaftlichen Argumentation er-
Bedeutung eines Satzes und das Wissen um die forscht. In den 1970er Jahren wurde erstmals
Wahrheitsbedingungen des Satzes ist also dasselbe. erkannt, dass die Erkenntnisse über formale Spra-
Eine Möglichkeit, Satzbedeutungen zu rekonstru- chen, die in der Mathematik und Naturwissen-
ieren, ist damit, Satzbedeutungen direkt mit Wahr- schaften verwendet werden, auch auf natürliche
heitsbedingungen gleichzusetzen. Eine zentrale Sprachen übertragbar sind (Montague 1974). Die-
Rolle bei der Identifikation von Bedeutung spielt se Arbeiten haben zur Vereinfachung der damals
die semantische Kompetenz von Sprechern einer modernen syntaktischen Analysen geführt.
Sprache, Urteile über den Zusammenhang zwi- Im Gegensatz zur Sichtweise der kognitiven Se-
schen Sprache und beschriebener Welt zu fällen. mantik kann die formale Semantik nur einen klei-
Damit ist noch nicht erklärt, wie sich Satzbe- nen Beitrag zur Organisation des mentalen Lexi-
deutungen aus den Bedeutungen der einzelnen kons liefern. Die Bedeutungsbeziehung zwischen
Bausteine der Sätze ergeben. Muttersprachler sind Baum und Pflanze kann z. B. als Beziehung zwi-
grundsätzlich in der Lage, auf der Basis eines end- schen zwei Mengen von Dingen, eben Bäumen
lichen Inventars von Ausdrücken und Kombinati- und Pflanzen, rekonstruiert werden. Im Zentrum
onsregeln unendlich viele Sätze zu produzieren
und zu verstehen (= Kreativität der Sprache). Zur Vertiefung
Man nimmt an, dass der Kreativität auf der Bedeu-
tungsseite ein Prinzip zugrunde liegt: Das Kompo- Extension und Intension
sitionalitätsprinzip besagt, dass sich die Bedeu- Das Begriffspaar ›Extension‹ und ›Intension‹ ist untrennbar mit der formalen Se-
tung eines komplexen sprachlichen Ausdruckes mantik verbunden. Beide Begriffe stehen für unterschiedliche Bedeutungsaspekte.
aus der Bedeutung der Bestandteile dieses Aus- Die Unterscheidung geht auf Rudolf Carnap (1947) zurück, der damit die Begriffe
druckes ergibt und aus der Art der Kombination ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ von Gottlob Frege (1898) mengentheoretisch rekonstru-
dieser Teile. ierte.
Die Wahrheitsbedingungen spezifizieren eine Unter der Extension eines sprachlichen Ausdruckes versteht man seinen Objekt-
mögliche Sachlage, Situationen, Teile unserer Welt, bezug in einer konkreten Situation. Die Extension des Ausdrucks der Präsident
das heißt Dinge (wie Personen, Tiere, Objekte, der Vereinigten Staaten zum Beispiel ist 2011 Barack Obama. Derselbe Ausdruck
Orte, Ereignisse etc.) mit Eigenschaften und Bezie- bezieht sich am 12. April 1861 aber auf Abraham Lincoln. Je nach betrachtetem
hungen untereinander. Die Idee der Konstruktion Zeitpunkt ist die Extension dieses Ausdrucks also unterschiedlich.
von Wortbedeutungen besteht im Wesentlichen da- Von den konkreten Umständen kann man natürlich abstrahieren. Dann kommt
rin, die Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken man zu einem Bedeutungsbegriff, bei dem beliebigen Umständen Extensionen
mit Gegenstücken dieser Bezugsobjekte (die in den zugeordnet sind. Dieser Bedeutungsaspekt ist also eine Funktion, die Umständen
Wahrheitsbedingungen eine Rolle spielen) zu iden- Extensionen zuordnet. Statt von einer Funktion, die möglichen Umständen
tifizieren. Mit Eigennamen bezieht man sich auf (= Situationen) Extensionen zuordnet, spricht man auch kurz von Intension
(reale oder fiktive) Personen, Tiere, Orte, Gegen- (vgl. Lohnstein 2011 oder Elbourne 2011).
stände, die diesen Namen tragen. Die Namensträ-

85
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

des Interesses dieses Ansatzes stehen aber tatsäch- bel. Er motivierte die Sprechakttheorie als wichti-
lich Fragestellungen, die die semantischen Effekte gen Bestandteil der Pragmatik (Austin 1962; Searle
der Wortkombination betreffen. Pragmatische Be- 1969), aber als Ergänzung semantischer Theorien.
deutungsaspekte können und sollen im Rahmen Ausblick: Es ist übertrieben zu behaupten, dass
der formalen Semantik nicht dargestellt werden. diese drei Sichtweisen auf Bedeutung sich wider-
Neuere Strömungen in der formalen Pragmatik in- sprechen, und es ist falsch, eine Sichtweise als die
tegrieren die Resultate der formalen Semantik in »Richtige« zu deklarieren. Diese Sichtweisen re-
die Beschreibung von Diskurs und Text (vgl. präsentieren vielmehr verschiedene Teilperspekti-
Kamp/Reyle 1989). ven auf einen weit gefassten Begriff von Bedeu-
Handlungen: Die sog. pragmatische Wende ist tung. Allerdings überlappen sich die Auffassungen
der Auslöser dafür, sprachliche Bedeutung mit den teilweise noch und es besteht Uneinigkeit darüber,
jeweils mittels Sprache ausgeführten Handlungen wie die Schnittstellen zu anderen Teilbereichen
Sprachpragmatik zu identifizieren. Diese Sichtweise findet man in der Grammatik (Syntax und Morphologie) auszu-
Arbeiten, die dem Behaviorismus verpflichtet gestalten sind. Theoretisch am weitesten entwi-
sind. Die Idee, dass Handlungen Bedeutungen sein ckelt ist die Auffassung, dass Bedeutungen mit
können, war in den 1970er Jahren ein Gegenent- abstrakten Objekten gleichzusetzen sind. Die for-
wurf zu den semantischen Betrachtungsweisen male Semantik verfügt über eine mathematisch
der formalen Semantik oder zu strukturalistischen fundierte Repräsentationssprache. In neuerer Zeit
Betrachtungsweisen des sprachlichen Systems. gibt es aber auch Bestrebungen, der kognitiven Be-
Ausgangspunkt dieser Sichtweise ist, dass die deutungstheorie eine formale Repräsentation zu
Verwendung von Sprache eine Form von mensch- geben (Blutner 1994) bzw. die Terminologie der
lichem Handeln ist. Dadurch, dass ein Sprecher formalen Semantik mit kognitiven Kategorien zu
Sequenzen von Wörtern äußert, handelt er. Er be- unterlegen (z. B. Bierwisch 1983).
zieht sich auf Dinge mit Sprache und schreibt den In den folgenden Kapiteln wird vorausgesetzt,
Dingen Eigenschaften zu, was ebenfalls als Hand- dass ein handlungsbezogener (pragmatischer) Be-
lungen angesehen werden kann. Zuweilen kann er deutungsbegriff und ein mentaler oder dingbezo-
durch Sprache Tatsachen schaffen, indem er z. B. gener (semantischer) Bedeutungsbegriff zusam-
Dingen einen Namen gibt oder einen neuen Besit- menspielen, um das ganze Bedeutungsspektrum
zer zuweist. Durch Sprache kann man seine Ge- der Alltagssprache abzudecken. Die Darlegung der
sprächspartner beeinflussen (indem man eine Auf- Facetten des Bedeutungsspektrums verzichtet hier
forderung ausspricht oder ein Versprechen gibt). weitgehend auf formale Präzisierungen und Vor-
Für sprachliche Handlungen wie Befehle, Tau- aussagen und beschränkt sich auf die Darstellung
fen oder Schenkungen ist der Ansatz sehr plausi- und Diskussion der Phänomene.

3.3 | Bedeutungsebenen
Bedeutung ist ein vielschichtiges Phänomen, und Definition
in der heutigen Forschung gibt es eine Reihe von
Vorschlägen, wie viele Bedeutungsebenen anzu- N Die   Ausdrucksbedeutung ist die
setzen sind, wie diese verschiedenen Ebenen zu Bedeutung, die ein Ausdruck unabhängig
konkretisieren sind und in welchem Zusammen- von der Äußerungssituation hat.
hang sie stehen. Im deutschen und englischen N Die   Äußerungsbedeutung ist die
Sprachraum ist eine Dreiteilung üblich. Bedeutung, die ein Ausdruck auf der
Diese drei Begriffe (s. Definition) gehen auf Ar- Basis der Ausdrucksbedeutung abhängig
beiten von Bierwisch (1979, 1983) zurück. Eine von der Äußerungssituation hat.
Dreiteilung in diesem Sinne ist auch schon bei Karl N Der   kommunikative Sinn einer Äuße-
Bühler (1934) zu finden, der die Ausdrucksfunk- rung ist die in der Äußerungssituation
tion, Darstellungsfunktion und Appellfunktion der vom Sprecher intendierte Bedeutung
Sprache unterscheidet. (auch Sprecherbedeutung).
Unter dem Einfluss der anglo-amerikanischen
Sprachphilosophie (insbes. Stalnaker 1978; Austin

86
3.3
Semantik und Pragmatik
Ausdrucksbedeutung

1962; Searle 1969; Grice 1957, 1969) haben diese Enzyklopädisches Wissen ist im Fall von natürli-
Begriffe aber in neuerer Zeit leichte Bedeutungs- chen Arten (z. B. Arten von Lebewesen oder che-
verschiebungen erfahren, die wir übernehmen mische Substanzen) Wissen über wesentliche Ei-
wollen, weil sie sich durchzusetzen scheinen (vgl. genschaften, welche die Dinge charakterisieren,
z. B. Wunderlich 1991; Löbner 2003). die man mit einem Ausdruck bezeichnet. So sollte
Die drei Hauptebenen können am Beispiel eines man etwa wissen, dass Vögel Tiere sind, um den
typischen Deklarativsatzes wie in (2) illustriert Ausdruck Vogel richtig zu verwenden. Man nennt
werden. dieses Wissen auch ontologisches Wissen.
Aber auch nicht-wesentliche Eigenschaften ge-
(2) Dein Hund hat mich gebissen. hören zum enzyklopädischen Wissen wie, dass
Vögel fliegen können. Das schließt aber nicht aus,
dass es Vögel gibt, die nicht fliegen können, z. B.
Pinguine. Dieses Wissen betrifft nur typische Ex-
3.3.1 | Ausdrucksbedeutung emplare von Dingen, die mit einem Ausdruck be-
zeichnet werden können. Man spricht hier auch
Die Ausdrucksbedeutung verstehen wir, ganz un- von stereotypischem Wissen (Putnam 1975; Blut-
abhängig davon, ob ein Ausdruck in der Kommu- ner 1994).
nikation verwendet wird oder nicht. Jemand, der Statt von sprachlichen Konventionen bzw.
Deutsch kann, weiß, was der Satz Dein Hund hat sprachlichem Wissen, das mit einem Ausdruck
mich gebissen bedeutet, ohne dass ihn jemand verbunden ist, spricht man auch vom deskripti-
sagt. Die Ausdrucksbedeutung dieses Satzes kann ven Gehalt (= beschreibender Gehalt) eines Aus-
man wie in (3) paraphrasieren: drucks. Dieser reicht in der Regel nicht aus, um
dem Ausdruck wirklich die richtigen Dinge zuzu-
(3) »Ein bestimmter Hund, der dem Hörer des Satzes gehört, ordnen. Das Wissen, das wir über die Dinge ha- Wortbedeutung
hat den Sprecher des Satzes zu einem Zeitpunkt vor der ben, die wir bezeichnen möchten, ist oft zu gering.
Äußerungszeit gebissen.« Zusätzlich wäre Expertenwissen nötig. Aber in
der Kommunikation beabsichtigt man, sich mit ei-
Wir kennen die Bedeutung der Ausdrücke, weil nem Ausdruck auf bestimmte Dinge zu beziehen
wir über sprachliches Wissen über die einzelnen und man verlässt sich darauf, dass das Experten-
Wörter verfügen, wir kennen die Konventionen wissen dieser Absicht nicht entgegenläuft.
für ihren Gebrauch. Zusätzlich verfügen wir über Symbole und Ikone: Die Konventionen müssen
ein System von Regeln, das uns erlaubt, zu den natürlich erlernt werden. Insofern ist dieses Be-
Bedeutungen der Wortfolgen eine Gesamtbedeu- deutungswissen kein systematisches Wissen
tung zu konstruieren. (s. Kap. II.1). Die Beziehung zwischen dem Aus-
druck (oder Lautbild) und dem Ding (oder der
Vorstellung), auf das sich der Ausdruck beziehen
3.3.1.1 | Wortbedeutung
kann, ist willkürlich (man sagt mit Saussure auch
Eine Sprachgemeinschaft ist sich meist einig über arbiträr, s. Kap. III.5.2.3) in dem Sinn, dass es
die überlieferten Gebrauchsbedingungen von keine Naturgesetze gibt, die zwischen Ausdruck
sprachlichen Ausdrücken. Nur wenn man über die und Bedeutung vermitteln, oder irgendwelche
sprachlichen Konventionen einer Sprache Be- Ähnlichkeiten zwischen der Form des Ausdrucks
scheid weiß, kann man als jemand gelten, der die- und dem zu bezeichnenden Ding (vgl. Linke u. a.
se Sprache beherrscht. Üblicherweise gelangt man 2004). Solche Zeichen heißen Symbole (vgl.
zu dem konventionellen Wissen über Paraphrasen Peirce 1903/1983).
oder über Ostension. Was zu diesem Wissen ge- Konventionell aber nicht arbiträr sind sog. ono-
hört, ist allerdings umstritten. Man unterscheidet matopoetische Ausdrücke wie Kuckuck, Wauwau
definitorisches und enzyklopädisches Wissen. Die oder zischen, bei denen die Form des Ausdrucks
Grenzen sind aber fließend. (die produzierten Geräusche) Ähnlichkeit mit dem
Definitorisches Wissen ist Wissen, das den Ge- bezeichneten Ding hat. Solche Zeichen heißen
brauch eines Ausdruckes eindeutig festlegt. Je- Ikone (vgl. Peirce 1903/1983). Zeichen der Ge-
mand, der nicht weiß, dass Junggesellen unverhei- bärdensprache haben oft eine ikonische Basis.
ratet sind, kann den Ausdruck Junggeselle nicht Das Zeichen für Adler wird in der Deutschen Ge-
korrekt verwenden. bärdensprache mit einem gekrümmten Finger in

87
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

der Form des Adlerschnabels an der eigenen Nase 3.3.1.2 | Bedeutung der morpho-
gebärdet. Hier besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung syntaktischen Struktur
zwischen einem Teil des bezeichneten Dinges und
der Gebärde. Dass nicht nur die Einzelbestandteile ihre Bedeu-
Spezialfall: Eigennamen verdienen im Zusam- tung zur Gesamtbedeutung beitragen, sondern zu-
menhang mit sprachlichen Konventionen eine be- sätzlich auch die Art der Kombination der Einzel-
sondere Erwähnung. Personen, Tiere, Sachen, teile interpretiert werden muss, sieht man leicht
Orte, Ereignisse etc. können Namen haben. Alle an Morphemkombinationen wie Deckelglas und
diese zählen als Dinge. Üblicherweise wird die je- Glasdeckel. Bei Deckelglas handelt es sich um eine
weilige Konvention des Gebrauchs des Namens Art Glas, bei Glasdeckel um eine Art Deckel. Die
durch einen (unter Umständen unspektakulären) Morpheme sind in beiden Fällen identisch. Tat-
Akt der Namensgebung oder eine Übersetzung ei- sächlich hat auch die Reihenfolge eine Bedeutung
nes bestehenden Namens in eine andere Sprache (= die Art der Kombination). Im Fall von komple-
(Mailand – Milano) begründet. Nach dem Akt der xen Wörtern ist die Reihenfolge der Morpheme
Namensgebung oder der Übersetzung eines beste- durch die morphologische Struktur repräsentiert
henden Namens wird in der Sprachgemeinschaft (s. Kap. II.2.2). Wir sprechen allgemein von Struk-
weitergegeben, welcher Name sich worauf be- turbedeutung, diese ist im Gegensatz zum de-
zieht. Diese Tradition ist es, die den Bezug zwi- skriptiven Gehalt systematisch.
schen Namen und Namensträger, dem Referen- Nicht nur bei Bedeutungen von komplexen
ten, herstellt. Ein Sprecher weiß unter Umständen Wörtern ist die Struktur der Wortfolge bedeutungs-
nur, dass es diese Form von Tradition gibt, wenn er relevant, sondern auch bei Phrasen und Sätzen.
einen Eigennamen hört oder verwendet, ohne zu Die beiden Sätze in (4) haben unterschiedliche
wissen, wer genau den Namen trägt oder trug. Ausdrucksbedeutungen. Sie beschreiben unter-
Aber er beabsichtigt, sich auf dasselbe Ding zu be- schiedliche Sachverhalte. Der Bedeutungsunter-
ziehen, auf das in der Tradition verwiesen wird schied ist aber nicht auf unterschiedliche Wortbe-
(Kripke 1980). deutung zurückzuführen.
Dem deskriptiven Gehalt von Eigennamen ent-
spricht also nicht, was man umgangssprachlich (4) a Hund säugt Katze.
unter »Bedeutung von Eigennamen« versteht. Um- b Katze säugt Hund.
gangssprachlich ist die Frage nach der Bedeutung
eines Eigennamens eigentlich eine Frage nach der Der Unterschied liegt in der syntaktischen Struktur
Herkunft des Namens, eine Expertenfrage also, (s. Kap. II.2.3). Wir kennen also Regeln, die es uns
die in einem Teilbereich der historischen Seman- erlauben, die syntaktische Struktur der Sätze zu
tik im Rahmen der Etymologie abgehandelt wird. interpretieren. Auch in diesem Fall spielen Struk-
Das Erkenntnisinteresse ist kulturgeschichtlich turbedeutung und Wortbedeutung systematisch
und nicht kognitionswissenschaftlich oder kom- zusammen.
munikationstheoretisch motiviert. Experten für Bedeutungen von komplexen Ausdrücken, bei
Namenskunde können etwa Auskunft darüber ge- denen sich die Bedeutung des gesamten Ausdru-
ben, aus welchen Bedeutungsbestandteilen sich ckes aus der Bedeutung der Bestandteile und der
Namen ein Name ableitet und sie können sagen, dass es Art ihrer Kombination ergibt, nennt man komposi-
sich bei den Namen Theophil und Amadeus um tional. Das Wissen um die Strukturbedeutung und
denselben Namen handelt. Der Bedeutungsaspekt, um die Bedeutung lexikalischer Einheiten befähigt
der sich über die Herkunft des Namens erschließt, uns, beliebig komplexe Wörter zu produzieren
ist für das Verständnis eines Satzes, in dem ein oder zu interpretieren, denen wir noch nie vorher
Name vorkommt, aber vollkommen irrelevant. Ge- begegnet sind.
rade an diesem Verständnis sind wir aber interes- Die Systematizität der Sprache in Bezug auf die
siert, wenn es um die kommunikative Funktion Bedeutung von komplexen Ausdrücken in Abhän-
(den Bezug auf Personen, Orte, Gegenstände etc.) gigkeit von den Teilbedeutungen und der Struktur-
dieser Ausdrücke geht. bedeutung wird mit dem Kompositionalitätsprin-
zip erfasst.
Idiome: Kompositionalität ist allerdings keine
notwendige Eigenschaft der Bedeutung von zu-
sammengesetzten Ausdrücken. Wenn sich die Be-

88
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

Definition (5) »Bella, der Hund von Frau Müller, hat zu einem Zeitpunkt
vor dem 24.3.2003 um 16 Uhr Frederike gebissen.«
Das   Kompositionlitätsprinzip besagt,
dass die Bedeutung eines komplexen Aus- Die Äußerung drückt einen Sachverhalt aus. Die-
druckes sich aus der Bedeutung der unmit- ser Sachverhalt kann in der Äußerungssituation
telbaren Teile ergibt und der Art und Weise, tatsächlich bestehen – er muss aber nicht beste-
wie sich diese zusammensetzen. hen. Man kann auch etwas sagen, was falsch ist –
wenn man lügt zum Beispiel.

deutung eines komplexen Ausdruckes unter kei- Definition


nen Umständen aus der Bedeutung der Einzelteile
erschließen lässt, handelt es sich um sog. idioma- Die Äußerungsbedeutung eines Aussagesat-
tische Wendungen oder Phraseologismen. zes nennt man auch   Proposition. Ändern
Das komplexe Wort Augapfel bezeichnet den sich die Fakten der Äußerungssituation,
kugelförmigen Bestandteil des Auges und nicht dann ändert sich auch die ausgedrückte Pro-
eine Apfelsorte. Der Benennung liegt hier eine Me- position, also die Information, welche die
tapher zugrunde. Äußerung des Satzes in einer Äußerungs-
Die Phrase ins Gras beißen wird verwendet als situation beinhaltet.
abschätzige Ausdrucksweise für sterben, kann
aber auch wörtlich interpretiert werden. So kön-
nen Schafe im doppelten Sinn ins Gras beißen. Bei Der Begriff der Proposition: Wir können die Wort-
der wörtlichen Bedeutung ist die Strukturbedeu- stellung unseres Satzes ändern. Die ausgedrückte
tung relevant, bei der idiomatischen Verwendung Proposition ändert sich nicht. Die beiden Sätze
eines Ausdruckes nicht. Bedeutungen von idioma- Dein Hund hat mich gebissen und Mich hat dein
tischen Wendungen müssen gelernt werden wie Hund gebissen unterscheiden sich bezüglich der
Bedeutungen von einfachen Ausdrücken. Gewichtung der Information. Sie beinhalten aber Äußerungsbedeutung
dieselbe Information, vorausgesetzt die Fakten der
Äußerungssituation sind unverändert.
Propositionalen Gehalt kann man erfragen,
3.3.2 | Äußerungsbedeutung glauben etc. Auch Fragen und Befehle haben einen
propositionalen Gehalt. Propositionen sind die Ge-
Betrachten wir unseren Ausgangssatz Dein Hund genstände der sprachlichen Handlungen in der
hat mich gebissen. Wenn wir nicht wissen, wer tat- Kommunikation. Statt vom propositionalen Gehalt
sächlich der Sprecher ist, wer der Hörer ist, um eines Satzes kann man auch einfach von seinem
welchen Hund es geht und wann die Äußerung Informationsgehalt sprechen.
stattfindet, fehlen uns wesentliche Bedeutungsbe-
standteile, um zu wissen, welche Information die-
3.3.2.1 | Spezialfall: Deixis
ser Satz beinhaltet. Wir verstehen den Satz (die
Ausdrucksbedeutung), aber wir wissen nicht, was Bezeichnungen für Dinge, deren Bezug von der
mit dem Satz gesagt wird. Die Äußerungsbedeu- Äußerungssituation und damit von Situationswis-
tung ergibt sich aus der Ausdrucksbedeutung im sen abhängen, heißen deiktische oder indexika-
Zusammenspiel mit Situationswissen. lische Ausdrücke (vgl. Zimmermann 1991). Der
Nehmen wir an, der Hund, um den es in der Begriff ›Deixis‹ beschreibt das Phänomen, dass die
Unterhaltung geht, heißt Bella und er gehört Frau Referenten eines Ausdruckes mit der Verwen-
Müller. Nehmen wir weiterhin an, die Äußerung dungssituation variieren. Beispiele für solche Aus-
ist am 24.3.2003 um 16 Uhr von Frederike an drücke sind Ausdrücke für Gesprächsteilnehmer
Frau Müller gerichtet. Alle diese Annahmen kön- wie ich und du oder Ausdrücke, die auf Äuße-
nen zum Wissen über die Situation gehören, in der rungszeit oder Äußerungsort wie hier, jetzt und
unser Satz geäußert wird. Eine solche Situation gestern Bezug nehmen. Deiktische Ausdrücke sind
nennen wir Äußerungssituation. Unter unseren das Paradebeispiel für Ausdrücke, deren Bedeu-
getroffenen Annahmen können wir die Äuße- tungsbeitrag man, ohne dass sie verwendet wer-
rungsbedeutung des Satzes wie in (5) paraphra- den, nicht voll erfassen kann.
sieren.

89
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

Die konventionelle Bedeutung spielt bei diesen Identifizierung von Referenten für anaphorische
Ausdrücken eine nebengeordnete Rolle. Sie be- Ausdrücke nennt man Anaphernresolution. Der
steht in einer Beschreibung der Regel, die Dinge Begriff ›Anapher‹ wird also hier eingeschränkter
aufzufinden, auf die sich die Ausdrücke beziehen. verwendet als in der Rhetorik (s. Kap. III.1.4).
Äußerungssituation Ich bezieht sich auf eine Person: nämlich den je- Pronominale Ausdrücke erhöhen die Ökonomi-
weiligen Sprecher. Auf welchen Zeitraum sich ges- sierung unserer Ausdrucksweise. Ist das Anteze-
tern bezieht, hängt davon ab, wann der Ausdruck dens ein Eigenname (oder eine Kennzeichnung),
verwendet wird. Er bezieht sich auf den Tag vor kann das Pronomen durch sein Antezedens ersetzt
dem Tag, an dem er verwendet wird. Auch die werden, ohne dass sich an der Äußerungsbedeu-
Morpheme der verschiedenen Tempusformen tung etwas änderte (Geach 1962).
sind deiktische Ausdrücke. Mit dem Perfekt-Aus-
druck hat gebissen bezieht sich der Sprecher auf (7) Der Hund biss Frederike, weil sie [= Frederike] den Hund
einen Zeitpunkt vor der Äußerungszeit. Mit einem erschreckte.
futurischen Verb bezieht man sich auf einen Zeit-
punkt nach der Äußerungszeit. Wen oder was sol- Die anaphorische Beziehung muss nicht unbedingt
che Ausdrücke tatsächlich bezeichnen, hängt also auf Referenzidentität von Dingen beruhen. Es kön-
von einer bestimmten Äußerungssituation ab. nen auch Eigenschaften identifiziert werden (z. B.
Pronomen Auch Demonstrativpronomen, deren Verwen- Hund zu sein wie in 8), ohne dass die Dinge selbst
dung mit einer Zeigegeste auf Personen oder Orte identifiziert werden. Aber auch hier kann das Pro-
verbunden ist, gehören zu den deiktischen Aus- nomen mit seinem Antezedens ersetzt werden.
drücken. Ihr deskriptiver Gehalt abstrahiert gerade
von dem Gebrauch dieser Ausdrücke in einer Äu- (8) Ein Hundehalter, der seinen Hund dressiert, lebt ruhiger
ßerungssituation. Er unterscheidet sich nicht von als einer, der ihn [= seinen Hund] verwildern lässt.
Sprecher zu Sprecher. Der aktuelle Personenbezug
und der Zeit- bzw. der Ortsbezug ändert sich aber Der Ersetzungstest für anaphorische Beziehungen
von Äußerungssituation zu Äußerungssituation. funktioniert nicht, wenn das Antezedens eine in-
Äußerungsbedeutung und Ausdrucksbedeu- definite Nominalphrase ist (Nominalphrase mit
tung müssen sich dann nicht unterscheiden, wenn einem indefiniten Artikel ein). Indefinite Nominal-
kein Situationswissen über die Äußerungssituati- phrasen sind im Unterschied zu Eigennamen (und
on nötig ist, um zu verstehen, was mit einer Äuße- Kennzeichnungen) mit einer Neuheitsbedingung
rung gesagt wird. Man nennt Beispiele wie in (6) verknüpft. Nichtsdestoweniger sind Pronomen
auch ewige Sätze. und Antezedens koreferent. Beide stellen einen
Bezug zu demselben Referenten her.
(6) Ein Hund beißt am 27. Februar 2010 in Hiddensee einen
Mann. (9) Ein Hundehalter wurde verhaftet. Er [≠ ein (beliebiger)
Hundehalter] hatte seinen Hund gequält.
3.3.2.2 | Spezialfall: Anaphorik
Deskriptive Pronomen: Unter Umständen muss
Anaphorische Pronomen: Anaphorik (griech. Wie- das Referenzobjekt konstruiert werden. Prono-
deraufnahme) beschreibt das Phänomen, dass ein men, die eine solche Konstruktion erfordern, hei-
Pronomen einen Ausdruck aus dem Text- oder Dis- ßen deskriptive Pronomen. In Beispiel (10) ist die
kurszusammenhang wieder aufnimmt. Pronomi- Menge aller hingeworfenen Hundekuchen als Re-
nale Ausdrücke (z. B. er, sie, es) werden in der Re- ferent für das Pronomen im zweiten Satz zu rekon-
gel wie Eigennamen und deiktische Ausdrücke struieren. Eine Ersetzung durch das Antezedens ist
dazu verwendet, einen Bezug zu einem Referenten nicht bedeutungserhaltend.
herzustellen. Um welchen Referenten es dabei
geht, ist bei nicht-deiktischen Pronomen (wie (10) Frederike hat dem Hund ein paar Hundekuchen hingewor-
manchmal bei Kennzeichnungen, s. 3.2.3) aus fen. Sie [≠ ein paar Hundekuchen] blieben unberührt.
dem gesprochenen oder geschriebenen Kontext
(manchmal auch Kotext genannt) zu erschließen. Gebundene Pronomen sind Pronomen, die im Ge-
Ein vorhergehender Ausdruck, das Antezedens, gensatz zu anaphorischen und deskriptiven Pro-
hat dann denselben Referenten wie das Pronomen. nomen nicht-referentiell verwendet werden. Auch
Antezedens und Pronomen sind koreferent. Die die Interpretation dieser Pronomen hängt von ei-

90
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

nem vorhergehenden Ausdruck ab. Die Ersetzung der USA bezieht sich in der Regel auf die jeweilige
des Pronomens durch diesen Ausdruck ist nicht Person, die zum Äußerungszeitpunkt die Präsi-
möglich. Das Pronomen er in (11) bezieht sich in denten-Funktion in den USA innehat. Wir müssen
der naheliegenden Interpretation nicht auf eine be- aber nicht unbedingt wissen, dass 2011 Barack Oba-
stimmte Person. Vielmehr variiert der Bezug mit ma der Präsident der USA ist. Aber wenn wir die-
Bankern, die befürchten, entlassen zu werden. sen Ausdruck der Präsident der USA 2011 verwen-
den, dann können wir nicht anders als uns auf den
(11) Jeder Banker befürchtet, dass er [≠ jeder Banker] entlassen Präsidenten der USA, also Obama zu beziehen.
wird. Auf wen wir uns tatsächlich beziehen und was wir
über den möglichen Sachbezug wissen, kann also
Bei gebundenen Pronomen ist im Gegensatz zu divergieren.
anaphorischen und deskriptiven Pronomen kein Wie bei Pronomina kann auch der jeweilige ge-
Rückbezug über Hauptsatzgrenzen hinweg mög- sprochene oder geschriebene Kontext einen Refe-
lich. Die Satzfolge in (12) kann nicht ausdrücken, renten zur Verfügung stellen. Dieses Phänomen
dass alle Banker entlassen werden (das Zeichen # illustriert das Beispiel in (13).
zeigt Unangemessenheit an).
(13) Bertha hat ein Meerschweinchen und eine Katze. Das
(12) #Jeder Banker hat Angst. Er wird entlassen. Meerschweinchen ist ein Männchen.

Der Ausdruck das Meerschweinchen bezieht sich Kennzeichnungen


3.3.2.3 | Spezialfall: Kennzeichnungen
auf dasselbe Tier, das durch das Antezedens einge-
Komplexe Ausdrücke, die aus einem definiten Ar- führt wird. Hier findet ein Rückbezug auf bereits
tikel (oder einem Possessivpronomen) und einem erwähntes sprachliches Material statt. Ein Prono-
Nomen (im Singular und eventuell weiteren Attri- men ist für die Wiederaufnahme des Antezedens
buten) bestehen, nennt man Kennzeichnungen, nicht möglich.
z. B. dein Hund. Man könnte es mit der Hund von Unter Umständen müssen die Dinge, auf die
dir paraphrasieren. Eine Kennzeichnung mit Pos- sich eine Kennzeichnung bezieht, aus dem Kon-
sessivum kann man so immer als Kennzeichnung text rekonstruiert werden. Für die Rekonstruktion
mit definitem Artikel und einer geeigneten Charak- hilft Welt- oder Hintergrundwissen. In dem Bei-
terisierung auffassen, das den Besitzer bezeichnet. spiel (14) ist natürlich das Bier gemeint, das es auf
Typisch für eine Kennzeichnung ist, dass sie sich der Party gab, von der die Rede ist.
auf ein bestimmtes Ding bezieht. Das können Per-
sonen, Tiere, aber auch Orte, Zeitintervalle etc. (14) Die Party war nicht so gut. Das Bier war nach einer halben
sein. Und in vielen Fällen ist in der Äußerungssitu- Stunde aus.
ation klar, welche Dinge bezeichnet werden. Mit
dein Hund bezieht man sich auf den Hund des In allen Fällen von Sätzen mit deiktischen Ausdrü-
Adressaten der Äußerung. Die Eigenschaften des cken, anaphorischen Ausdrücken und Kennzeich-
Referenten werden durch das Nomen beschrieben. nungen spielen die Ausdrucksbedeutung und ver-
Bedingungen für die Verwendung von Kenn- schiedene Arten von Wissen zusammen, um die
zeichnungen sind die Existenz und die Einzigkeit Äußerungsbedeutung bereit zu stellen.
des Referenten. Der Satz dein Hund hat mich ge-
bissen könnte in einer Situation geäußert werden,
3.3.2.4 | Präsuppositionsauslöser
in welcher der Adressat der Äußerung keinen
Hund oder mehr als einen Hund besitzt. In einem Die Voraussetzungen für die reibungslose Verwen-
solchen Fall ist nicht klar, auf welchen Hund sich dung von Kennzeichnungen werden in der Prä-
die Phrase dein Hund bezieht. Ein Urteil über den suppositionstheorie abgehandelt. Dass bestimmte
Wahrheitsgehalt der Äußerung ist in der Äuße- Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Äuße-
rungssituation unter Umständen nicht möglich. rungen überhaupt als einer Situation oder dem
Die Existenz- bzw. Einzigkeitsbedingung ist dann sprachlichen Kontext angemessen betrachtet wer-
nicht erfüllt. den können, ist ein ganz allgemeines Phänomen.
Manchmal gehört es einfach zur Allgemeinbil- Den Fachbegriff der Präsupposition kann man auf
dung zu wissen, wer gerade der Referent einer die englische Übersetzung von Voraussetzung in
Kennzeichnung ist. Der Ausdruck der Präsident Schriften von Frege (1898) zurückführen.

91
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

Definition bedeutung von Flügel in einer Lesart von (18a)


auf (18b) schließen. Die Folgerung ermöglicht die
  Präsuppositionen sind als Vorbedingungen für das Zustandekom- Bedeutungsbeziehung zwischen Flügel und Mu-
men von Äußerungsbedeutungen zu sehen. Die Bedingungen sind sikinstrument und ist Teil der Äußerungsbedeu-
erfüllt, wenn die Gesprächsteilnehmer über die Information, welche tung. Außerdem hat der Satz (18a) die Präsuppo-
die Präsupposition beinhaltet, verfügen. Präsuppositionen gehören sition in (18c).
zum Situationswissen oder zum Welt- oder Hintergrundwissen. Sind
die Bedingungen nicht erfüllt, kommt auch keine Äußerungsbedeu- (18) a Fritz hat den Flügel zersägt.
tung zustande, die zur Kommunikation verwendet werden könnte. b Folgerung: Fritz hat ein Musikinstrument zersägt.
Präsuppositionen sind in dieser Auffassung Propositionen. c Präsupposition: Es gibt genau einen Flügel (in der Äuße-
rungssituation).

Die Präsuppositionen werden im Deutschen übli- Für den Test verwendet man jeweils negierte Sätze.
cherweise von bestimmten Ausdrücken ausgelöst. Der Test zeigt, dass Folgerungen unter Negation
Solche Ausdrücke heißen dementsprechend Prä- nicht erhalten bleiben. Präsuppositionen hingegen
suppositionsauslöser. Neben Kennzeichnungen sind konstant unter Negation. Wenn wir den Satz
(s. 3.3.2.3) gelten faktive Verben wie bedauern, in (18a) negieren wie in (19a), dann ist der Schluss
implikative Verben wie vergessen (in einer Varian- von (19a) auf (19b) aufgrund der Äußerungsbedeu-
te) und Phasenübergangs-Verben wie aufhören als tung von Flügel hinfällig. Würde der präsupponierte
Präsuppositionsauslöser. Bedeutungsbestandteil denselben Status haben wie
die Äußerungsbedeutung, dann würden wir erwar-
(15) a Bertha bedauert, dass es schneit. ten, dass auch der präsupponierte Bedeutungsbe-
Präsupposition: es schneit. standteil (19c) im negierten Satz (19a) ebenfalls
b Bertha vergaß zu husten. nicht erschließbar ist. Das ist aber gerade nicht so.
Präsupposition: Bertha hätte husten sollen. (18c/19c) ist also bei der negierten und der nicht-
c Bertha hörte auf zu rauchen. negierten Variante des Satzes erschließbar, was sei-
Präsupposition: Bertha hat geraucht. nen Status als Präsupposition bestätigt.

Außerdem sind die Partikeln wieder und auch als (19) a Es ist nicht der Fall, dass Fritz den Flügel zersägt hat.
Präsuppositionsauslöser einzustufen. b Keine Folgerung: Fritz hat ein Instrument zersägt.
c Präsupposition (=(18c)): Es gibt genau einen Flügel (in
(16) a Bertha hustet wieder. der Äußerungssituation).
Präsupposition: Bertha hat schon mal gehustet.
b Bertha möchte auch Trompete spielen lernen. Neben dem Negationstest werden auch der Frage-
Präsupposition: Jemand anderes außer Bertha möchte test und der Modalitätstest verwendet. Diese zei-
Trompete spielen lernen. gen, dass Präsuppositionen auch unter Änderung
des Satzmodus oder bei Einbettung des Auslösers
Präsuppositionen können aber auch konstrukti- unter einer Modalpartikel wie vielleicht konstant
onstypisch sein. Spaltsatzkonstruktionen gelten bleiben (Levinson 1983/2000).
als Präsuppositionsauslöser. Akkomodation: Präsuppositionen können als
Vorbedingungen für das Zustandekommen von
(17) Es ist Bertha, die uns heute Abend besucht. Äußerungsbedeutungen gesehen werden. Als an-
Präsupposition: Heute Abend besucht uns jemand. gemessen gelten Äußerungen mit Präsuppositions-
auslösern, wenn die Gesprächsteilnehmer über die
Präsuppositionstest: Präsuppositionen haben ei- Information verfügen, welche die Präsuppositio-
nen anderen Status als die Äußerungsbedeutun- nen beinhalten. Sind die Präsuppositionen neue
gen oder Folgerungen von Äußerungsbedeutun- Information für den Hörer einer Äußerung, dann
gen. Das zeigen Tests, wie z. B. der Negationstest: ist die Kommunikation entweder unangemessen
Ausgangspunkt der Argumentation ist der nicht- oder aber der Hörer nimmt die Information der
negierte Satz in (18a). Zur Äußerungsbedeutung Präsupposition (stillschweigend) in sein Hinter-
von Flügel gehört (in einer Lesart), dass es sich grundwissen auf. Bei diesem Prozess der Anpas-
bei dem bezeichneten Ding um ein Musikinstru- sung des Hintergrundwissens spricht man von Ak-
ment handelt. Wir können mittels der Äußerungs- komodation (Lewis 1979).

92
3.3
Semantik und Pragmatik
Äußerungsbedeutung

3.3.2.5 | Spezialfall: Fokus Auch auf die Frage Was tut Peter? hätte man nicht
mit Peter kommt antworten müssen. Andere, al-
Eine unterschiedliche Akzentuierung im Satz ternative Antworten wären ebenso kongruent ge-
beeinflusst im Deutschen in vielen Fällen das, wesen, solange wir nur die Prädikatsbedeutung
was ein Ausdruck bedeutet (zum Satzakzent variieren. Die Akzentuierung zeigt an, welcher
s. Kap. II.2.1.3.4). Der Effekt der Akzentuierung Bedeutungsbestandteil eines Satzes zur Diskussi-
kann sich auf die Angemessenheit einer Äuße- on steht. Der Informationsgehalt dieser Varianten
rung im sprachlichen Kontext beziehen (wie bei des Satzes Peter kommt mit unterschiedlicher Ak-
Präsuppositionsauslösern), oder aber die Äuße- zentuierung ist identisch. Die Akzentverschie-
rungsbedeutung selbst ist betroffen. Der gemein- bung ändert also die Äußerungsbedeutung des
same Nenner dieser Effekte ist, dass in allen die- Satzes nicht.
sen Fällen alternative Äußerungsbedeutungen im Zweck der Akzentuierung ist hier die Ökonomi- Informationsstruktur
Spiel sind. Der Begriff ›Fokus‹ stammt von Ray Ja- sierung der Informationsübermittlung. Hervorge-
ckendoff, die Verallgemeinerung der Interpretation hoben wird im Prinzip neue Information. Die Ak-
von Fokus mittels Alternativen stammt von Rooth zentuierung ermöglicht eine Gliederung des
(1992). Informationsgehaltes in schon bekannte Informati-
on (Gegebenes) und neue Information. Der Effekt
Defintion der Gliederung ist die Strukturierung der Infor-
mation. Man spricht deswegen auch von Informa-
  Fokus ist eine grammatische Eigenschaft, tionsstruktur (vgl. Musan 2010). Auch Wortstel-
die im Deutschen mittels Akzentuierung lungsänderungen haben einen Effekt auf die
realisiert wird. Der Fokus zeigt an, dass Informationsstruktur.
Alternativen für die Interpretation von Fokusprojektion: Die Akzentuierung zeigt an,
sprachlichen Ausdrücken relevant sind (vgl. bezüglich welcher Konstituente Alternativen be-
Krifka 2006). trachtet werden müssen. Das kann das Wort sein,
das den Akzent trägt, wie in den betrachteten Bei-
spielen. Es kann aber auch eine komplexe Kon-
Angemessenheit: Unterschiede in der Angemes- stituente sein oder ein Wortbestandteil, die den
senheit in Abhängigkeit von der Akzentuierung Akzent tragen. Welche Alternativen eine Rolle
sind typisch für Fälle von Frage-Antwort-Kongru- spielen, ist durch die Akzentuierung also nicht
enz im Zusammenhang mit W-Fragen. Auf eine eindeutig bestimmt. Die verschiedenen Fragen in
Frage nach dem Subjekt wie in (20a) muss bei der (22)–(25) legen nahe, welche alternativen Antwor-
Antwort auch das Subjekt akzentuiert werden ten hätten gegeben werden können. Die Akzentu-
(20b). Die akzentuierte Silbe ist hier mit Groß- ierung variiert in diesen Fällen aber nicht!
buchstaben markiert. Eine Akzentuierung des Prä-
dikats wie in (20c) ist nicht angemessen (Unange- (22) a Was hast du gesehen?
messenheit wird mit dem Zeichen # angezeigt). b Ich habe [heute einen LIPpenbären im Zoo]F gesehen.
(23) a Was hast du heute gesehen?
(20) a Wer kommt? b Ich habe heute [einen LIPpenbären im Zoo]F gesehen.
b PEter kommt. (24) a Was hast du heute im Zoo gesehen?
c #Peter KOMMT. b Ich habe heute [einen LIPpenbären]F im Zoo gesehen.
(25) a Was für einen Bären hast du heute im Zoo gesehen?
Man hätte allerdings nicht mit Peter kommt ant- b Ich habe heute einen [LIPpen]Fbären im Zoo gesehen.
worten müssen. Alternative Antworten wären
ebenso kongruent gewesen, solange nur die Sub- Als Begriff für die Konstituente, die für die Alter-
jektsbedeutung variiert. Wird dagegen das Prädikat nativenbildung eine Rolle spielt, hat sich der Be-
erfragt, wie in (21), muss auch das Prädikat in der griff ›Fokus‹ eingebürgert. Die fokussierte Konsti-
Antwort akzentuiert werden. Die Akzentuierung tuente wird mit einem kleinen »F« für Fokus
des Subjekts ist in diesem Fall nicht angemessen. indiziert. Das Phänomen, dass eine syntaktische
Struktur mit ein und derselben Akzentuierung die
(21) a Was tut Peter? Basis für mehr als eine Fokussierung sein kann,
b Peter KOMMT. nennt man Fokusprojektion. Statt von Informa-
c #PEter kommt.

93
3.3
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsebenen

tionsstruktur spricht man auch von Fokus-Hinter- Zur Verwendung einer Äußerungsbedeutung
grund-Gliederung. gehört natürlich ein Sprecher und, insofern Kom-
Bedeutungsunterschiede: In bestimmten sprach- munikation gemeinsames sprachliches Handeln
lichen Umgebungen hat eine Verschiebung des Ak- mit einem Gesprächspartner ist, auch ein Hörer.
zentes einen Effekt auf den Informationsgehalt. Zum kommunikativen Sinn zählt, mit welcher
Das illustriert für eine Konstruktion mit der Parti- Sprecher-Absicht eine Äußerung geschieht. Und
kel nur das Beispiel in (26). Zwischen (26a) und zum kommunikativen Sinn zählen die nicht-zufäl-
(26b) besteht ein Bedeutungsunterschied. ligen Effekte einer Äußerung beim Hörer. Grund-
lage für die Untersuchung ist, dass sprachliche
(26) a Sandra Bullock kann nur DEUTSCH sprechen. Handlungen nur ein Spezialfall von Handlungen
b Sandra Bullock kann nur Deutsch SPRECHen. generell sind.
Die Verwendungsarten einer Äußerungsbedeu-
Sandra Bullock kann als bekannte amerikanische tung kann mit der Satzart korrelieren. Mit Frage-
Schauspielerin natürlich Englisch. Damit ist (26a) sätzen kann man Fragen stellen, mit Aufforde-
tatsächlich falsch. (26b) hingegen kann unter den rungssätzen Aufforderungen aussprechen, mit
tatsächlichen Umständen, dass Sandra Bullock Aussagesätzen kann man Mitteilungen machen.
mindestens zweisprachig ist, wahr sein. Auch bei Für jede dieser Verwendungsarten ist ein kommu-
Bedeutungseffekten, die den Informationsgehalt nikativer Sinn typisch. Um mit Sprache zu kom-
eines Satzes betreffen, sind Alternativen, hier ver- munizieren, müssen Sprecher und Hörer also über
schiedene Sprachen bzw. verschiedene Tätigkei- Regeln verfügen, die es ihnen erlauben, den kom-
ten, relevant. munikativen Sinn zu erschließen. Weil Äußerun-
Fokuspartikel Dass die Effekte bezüglich der Äußerungsbe- gen Spezialfälle von Handlungen (Akten) sind,
deutung auftreten, ist abhängig vom sprachlichen spricht man statt von Verwendungsarten von Äu-
Material in den Sätzen. Man beobachtet diese Ef- ßerungsbedeutungen kurz nur von Sprechakt
fekte bei Fokuspartikeln wie nur, aber auch bei oder Sprechhandlung.
dem Zeitadverb immer, in Kausalsätzen, bei Impe- Der kommunikative Sinn der Äußerung des
rativen etc., wie die folgenden Beispiele zeigen. Aussagesatzes Dein Hund hat mich gebissen ist in
erster Linie, die Hörerin darüber zu informieren,
(27) a Maria meint, dass Peter immer nach BerLIN fliegt. wie die Sachlage ist. Den Prozess der Kommunika-
b Maria meint, dass Peter immer nach Berlin FLIEGT. tion kann man sich schrittweise vor Augen führen.
(28) a Maria beerbt ihren Onkel, weil sie ihren FREUND geheira- Die Sprecherin hat einen Gedanken, den sie der
tet hat. Hörerin mitteilen möchte (Ausgangslage). Spre-
b Maria beerbt ihren Onkel, weil sie ihren Freund geHEIratet cherin, Hörerin und Hund sind selbst Mitspiele-
hat. rinnen in diesem Gedanken. Die Äußerung wird
(29) a Bitte LEIse reden! (Aufforderung leise zu reden, wenn produziert, um den Gedanken auszudrücken
schon geredet wird) (1. Schritt). Der ausgedrückte Gedanke ist eine
b Bitte leise REden! (Aufforderung zu reden und zwar leise) Mitteilung über einen Sachverhalt. Welche Dinge
zueinander in Bezug gesetzt werden, kann von
Tatsachen der Äußerungssituation abhängen, also
z. B., wer die Sprecherin des Satzes ist und wer die
3.3.3 | Kommunikativer Sinn Hörerin. Auf der Hörer-Seite werden die sprachli-
chen Ausdrücke empfangen und der ausgedrückte
Die dritte Bedeutungsebene, der kommunikative Gedanke (die Mitteilung) wird verstanden (2.
Sinn einer Äußerung, basiert auf der Äußerungs- Schritt). Durch die Äußerung eines sprachlichen
bedeutung, insofern als er bei der Verwendung Ausdrucks in Form eines Aussagesatzes wird In-
der Äußerungsbedeutung in der Kommunikation formation, über welche die Sprecherin verfügt, auf
entsteht. Der kommunikative Sinn kann nur für die Hörerin übertragen. Die Hörerin erlebt durch
selbständige, satzwertige Äußerungen bestimmt die Mitteilung einer Sprecherin im Idealfall einen
werden. Äußerungsbestandteile haben keinen kom- Wissenszuwachs oder Erkenntnisgewinn.
munikativen Sinn. Nur Propositionen (oder Aus- Der Begriff des kommunikativen Sinns wurde
drücke, die äquivalent sind zu Propositionen) fin- hier informell am Beispiel einer Feststellung (auch
den in der Kommunikation Verwendung. Behauptung) vorgeführt. Weitere Sprechakttypen

94
3.3
Semantik und Pragmatik
Expressive und
soziale Bedeutung

und die Bedingungen für eine reibungslose Kom- aber eine Beziehung zwischen sich und einem
munikation werden in 3.6.2 behandelt. Ding, das er bezeichnet. Diese Bedeutungsart wird
Mitgemeintes: Unter Umständen geht das, was üblicherweise expressive Bedeutung genannt. Die
der Hörer versteht, über das hinaus, was die Spre- Art der Einstellung heißt auch Konnotation. Kon-
cherin sprachlich ausdrückt, nämlich dann, wenn notationen können positiv oder negativ sein (oder
er sich fragt, in welchem Sinn die Mitteilung rele- auch neutral). Sprechereinstellungen werden nicht
vant sein könnte. Dieser Effekt ist von der Spre- nur durch bestimmte Nomen ausgedrückt. Auch
cherin beabsichtigt. Oft meinen wir sehr viel mehr Wortbestandteile können expressive Bedeutung
als das, was wir tatsächlich sagen, wenn wir eine haben. Scheißhund drückt aus, dass ich den be-
Mitteilung machen. Leicht lässt sich eine Äuße- zeichneten Hund nicht mag. Scheißköter macht
rung wie dein Hund hat mich gebissen als Vorwurf die Sache noch schlimmer. Attributive Adjektive
interpretieren und damit unter Umständen als Auf- können Sprechereinstellungen wiedergeben. Ver-
forderung, irgendetwas zu tun. Man spricht hier dammt in das verdammte Ding wollte nicht aufge-
von indirekten Verwendungsarten von Äußerun- hen ist ein Beispiel für die expressive Verwendung
gen (indirekter Sprechakt). Solche zusätzlich er- eines Adjektivs. Mit Satzadverbien wie leider,
schlossenen Interpretationen des Gesagten nennt glücklicherweise etc. kann man seine Einstellung
man Implikaturen. Auch metaphorische Inter- zu Tatsachen angegeben. Solche Ausdrücke haben
pretationen von Gesagtem oder ironische Bemer- nur expressive Bedeutung und keine deskriptive
kungen fallen in diese Kategorie. Mitgemeintes Bedeutung.
bei metaphorischen Ausdrücken und ironische Be- Ähnlich kann man auch bestimmte Wortfolgen Expressive
merkungen ersetzen allerdings üblicherweise das in der Funktion von Appositionen einordnen. Die Bedeutung
tatsächlich Gesagte. Dafür, dass diese zusätzlichen expressive Bedeutung muss dabei nicht negativ
Bedeutungsarten erschlossen werden können, ist sein. Engel in einem Ausdruck wie meine Frau,
Weltwissen oder zumindest Wissen über die Äu- dieser Engel hat positive Konnotation. Klugscheißer
ßerungssituation nötig. in einem Ausdruck wie meine Frau, dieser Klug-
Die Mechanismen des Erschließens der Inter- scheißer hat negative Konnotation.
pretationen unterliegen interessanterweise ganz Definiert man expressive Bedeutung als kon-
ähnlichen Ökonomieprinzipien wie Handlungen ventionelle Bedeutung, die über den deskriptiven
allgemein. Man nimmt mit Paul Grice (1975) an, Gehalt hinausgeht – ganz unabhängig davon, ob
dass es soziale und nicht sprachliche Konventio- damit eine positive oder negative Bewertung von
nen sind, denen diese Handlungen folgen. Auch Dingen oder Tatsachen ausgedrückt wird –, kön-
Implikaturen sind Bestandteil des kommunikati- nen auch nicht-restriktive (appositive) Relativsät-
ven Sinns einer Äußerung (s. 3.6.1). ze als Bestandteile der expressiven Bedeutung ge-
wertet werden.
Darüber hinaus haben bestimmte Satzarten ex-
pressive Bedeutung. Paradebeispiel hierfür sind
3.3.4 | Expressive und soziale Bedeutung die sog. Exklamativsätze wie in (30). Solche Sätze
drücken unter anderem aus, dass der Sprecher
Unter ›expressiver Bedeutung‹ kann man diejeni- über das Ausmaß einer Qualität eines Dinges (hier
gen Bedeutungsaspekte eines Wortes verstehen, einer Person) überrascht ist.
die über den deskriptiven Gehalt hinausgehen. Es
ist aber schwierig, diese einer der bisher bespro- (30) Wie schön meine Frau ist!
chenen Bedeutungsebenen zuzuordnen. Typisch
ist, dass Sprecher einer Äußerung ihre subjektiven Die Höflichkeitsform für die Anrede eines Adres-
Einstellungen gegenüber Dingen oder Sachverhal- saten mit Sie im Deutschen ist ein indexikali-
ten mit diesen Ausdrücken angeben. Die Konven- scher Ausdruck genau wie du. Beide haben die-
tionen sagen etwas darüber aus, in welcher Bezie- selbe Ausdrucksbedeutung. In beiden Fällen ist
hung zu den bezeichneten Dingen derjenige steht, der Adressat der Äußerung der Angesprochene.
der die sprachlichen Ausdrücke verwendet. Aus- Mit der Wahl des einen oder andern Ausdruckes
drücke wie Hund und Köter unterscheiden sich legt der Sprecher außerdem dar, ob er in einer
nicht bezüglich ihres deskriptiven Gehaltes. Die bestimmten Beziehung der Vertrautheit zum
beschriebenen Dinge sind dieselben, egal ob man Adressaten steht oder nicht. Es ist umstritten, ob
Hund oder Köter sagt. Der Sprecher charakterisiert dieser Form von Bedeutung, die über den de-

95
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

skriptiven Gehalt hinausgeht, der expressiven abgehandelt wird. Die Ökonomieprinzipien des
Bedeutung oder einer eigenen Bedeutungskate- sprachlichen Handelns werden im Rahmen der Im-
gorie zuzuordnen ist. Ansätze, die den Be- plikaturentheorie untersucht. Die Pragmatik ist
deutungsbeitrag von Höflichkeitsformen von ex- also in diesem Sinn als Teilgebiet einer Handlungs-
pressiver Bedeutung abgrenzen, sprechen von theorie zu sehen.
sozialer Bedeutung (vgl. Lyons 1980, S. 106; Die Verzahnung von Pragmatik und Semantik
Löbner 2003, Kap. 2.3 und 2.4). wird bei der Beschreibung der Äußerungsbedeu-
Dieser Rubrik von Ausdrücken kann man auch tung offensichtlich. Die Äußerungsbedeutung ist
diejenigen Ausdrücke zuordnen, die in der Baby- eine semantische Kategorie, deren Erschließung
sprache, der Sprache, die Erwachsene gegenüber aber auf Situationswissen und Welt- und Hinter-
Kleinkindern oft verwenden (s. Kap. II.5), üblich grundwissen fußt.
sind. Typisch für Babysprache ist die Verwendung Das Wissen über die Äußerungssituation –
von onomatopoetischen Ausdrücken wie Wau- dass wir z. B. wissen, wer spricht, wer zuhört,
wau (s. 3.3.1.1) oder die bedeutungslose Verwen- wann und wo die Äußerung gemacht wird und um
dung von Verkleinerungsformen für Dinge von wen es tatsächlich bei einer Äußerung im Textzu-
gewöhnlicher Größe (z. B. Entchen). sammenhang geht – erschließt sich uns unter Um-
ständen erst mit der Verwendung des Satzes. Die
Erforschung von Bedeutungsbestandteilen, für die
dieses Faktenwissen nötig ist, wird üblicherweise
3.3.5 | Semantik-Pragmatik-Schnittstelle der Pragmatik zugeordnet (Beschreibung des Phä-
nomens der Deixis, der Anaphorik, der Präsup-
Schnittstelle Will man eine Trennlinie zwischen Pragmatik und positionen und des Fokus). Dieser Bedeutungs-
Semantik ziehen, dann gehört die Erforschung von aspekt der Äußerungsbedeutung kann, obwohl
Ausdrucksbedeutung in die Semantik und die Er- verwendungsabhängig, von Überlegungen zum
forschung des kommunikativen Sinns einer Äuße- kommunikativen Zweck einer Äußerung abge-
rung in die Pragmatik, wobei die Erforschung der koppelt werden. In diesem Sinn ist Pragmatik kein
Sprechakttypen im Rahmen der Sprechakttheorie Teilgebiet einer Handlungstheorie.

3.4 | Bedeutungsverschiebungen und Mehrdeutigkeiten


Eine sprachliche Form kann mehr als eine Bedeu- davon ab, wie man die Auslöser für die Verschie-
tung haben. Mehrdeutigkeiten kann man auf der bung klassifiziert.
Morphemebene, der Wortebene und auf der Satz- Nimmt man an, dass der Verschiebung der Be-
ebene untersuchen. Als Ausdrucksformen zählen deutung sprachliches Wissen zugrunde liegt,
die Lautgestalt und bei Wörtern die Schreibweise. muss man diese als Phänomen der Äußerungsbe-
Auch Handzeichen der Gebärdensprache können deutung ansehen. Ist Wissen über die Äuße-
mehrdeutig sein. rungssituation oder allgemeines Weltwissen im
Der Begriff ›wörtliche Bedeutung‹ wird häu- Spiel und sind soziale Konventionen verletzt, ist
fig gleichbedeutend mit dem Begriff ›Äußerungs- es ein Phänomen der Entstehung von kommuni-
bedeutung‹ verwendet (vgl. Wunderlich 1991). kativem Sinn.
Einige Linguisten unterscheiden aber zwischen Auslöser für die Verschiebungen ist der Aktu-
wörtlicher Bedeutung in Abhängigkeit von der alisiertungskontext, die unmittelbare sprachliche
Äußerungssituation, die Sprecher, Gesprächsteil- Umgebung eines Ausdruckes, in welcher der Aus-
nehmer, Äußerungszeit und Äußerungsort fest- druck verwendet wird, oder das Weltwissen, im
legt, und nicht-wörtlicher Bedeutung, die sich Rahmen dessen die Äußerung gemacht wird. Zu
durch Bedeutungsverschiebungen aufgrund von unterscheiden sind metonymische Bedeutungs-
allgemeinem sprachlichen Wissen oder Wissen verschiebungen und metaphorische Bedeutungs-
über die Welt ergeben, in der wir leben. Ob das verschiebungen (vgl. Bierwisch 1979; Dölling
Resultat dieser Bedeutungsverschiebungen der 2000).
Äußerungsbedeutung zugerechnet wird oder dem
kommunikativen Sinn, ist umstritten und hängt

96
3.4
Semantik und Pragmatik
Metapher

3.4.1 | Metonymie (35) a Die Universität hat ihre Autonomie wieder. (Institution)
b Die Universität ist eine Erfindung der Prager. (Institutions-
Typisch für metonymische Bedeutungsverschie- typ)
bungen ist, dass Bezeichnungen für Dinge einer c Die Universität hat angerufen. (Person)
Sorte systematisch für Dinge einer anderen Sorte d Die Universität hat sieben Etagen. (Gebäude)
verwendet werden. Wir können z. B. Ausdrücke e Die Universität hat gewählt. (Studierende, je nach Äuße-
für Orte verwenden, um uns auf Personen zu be- rungssituation)
ziehen, die mit diesem Ort in Zusammenhang ste- f Die Universität verkürzt die Arbeitszeit für die Dozenten
hen wie in (31). auf 38 Stunden pro Woche. (Leitung)
g Die Universität langweilt die meisten Studierenden. (Lehr-
(31) Die letzte Reihe quasselt dauernd. (»Die Studierenden in betrieb)
der letzten Reihe …«)
(32) Verschiebung: Ort oPerson(en) an dem Ort Dieselben Muster von Bedeutungsverschiebun-
gen, die bei dem Wort Universität zu beobachten
Orte können nicht quasseln; das gehört zu unse- sind, sind auch bei Museum, Gericht, Parlament,
rem sprachlichen Wissen. Dieser Konflikt löst die Theater, Versicherung, Fabrik, Kirche, Rundfunk,
Uminterpretation aus, bei der wir nach Personen Gefängnis, Hotel (Bierwisch 1983, S. 82) zu beob-
suchen, die zum genannten Ort in Beziehung ste- achten und einwandfrei in andere Sprachen über-
hen, und auf die die Eigenschaft zu quasseln zu- tragbar.
treffen kann.
Neben der sprachlichen Umgebung kann auch
ein Konflikt mit Weltwissen für die Uminterpretati-
on verantwortlich sein, wie (33) illustriert. 3.4.2 | Metapher

(33) Chomsky liegt bei uns auf dem Nachttisch. (»Werke von Von der Metonymie ist die Metapher (griech. Über-
Chomsky …«) tragung) abzugrenzen. Üblicherweise werden drei
(34) Verschiebung: Person oWerk der Person Metaphernarten unterschieden:
N Kreative/innovative Metapher
Die Bedeutungsverschiebung eines Namens von N Konventionelle/usuelle Metapher
der Person, die diesen Namen trägt, zu Werken, N Lexikalisierte/tote Metapher
die diese Person geschrieben hat, ist ein weit ver- Den drei Metaphernarten entsprechen die Stufen
breitetes Muster, das hier aktualisiert wird. des Lexikalisierungsprozess von Metaphern (s. Kap.
Zwischen den bezeichneten Gegenständen be- II.4.7.3). Oft wird gesagt, dass für die metaphori-
steht immer eine sachliche Zusammengehörig- schen Bedeutungsverschiebungen typisch ist, dass
keit. Dieses Phänomen kennt man in der Rhetorik sprachliche Bilder zur Bezeichnung von Dingen
unter dem Namen Metonymie (griech. Umbenen- verwendet werden. Der Ausdruck ›sprachliches
nung). Diese Kategorie spielt auch in der Poetik Bild‹ ist allerdings wiederum eine Metapher für
und Lyrik eine zentrale Rolle (s. Kap. III.1.4 und den metaphorisch verwendeten Ausdruck.
III.4.3.2). Löbner (2003, S. 64–74) nennt neben der Kreative Metapher: Bei kreativen Metaphern ist
Kontextbedingtheit die folgenden Kriterien für me- die Charakterisierung des Dings mittels eines Aus-
tonymische Bedeutungsverschiebungen: druckes üblicherweise falsch, reduziert man die
N Die Bedeutungsverschiebungen folgen allge- Bedeutung des Ausdrucks auf seine Äußerungsbe-
meinen Mustern. deutung. Unter der Annahme, dass Maria eine
N Die Muster der Verschiebung treten systema- Frau ist, ist (36) widersprüchlich.
tisch bei großen Gruppen von Lexemen auf.
N Dieselben Muster sind auch sprachübergreifend (36) Maria ist eine Katze.
zu beobachten.
Standardbeispiele für die Vielfalt und Systematizi- Wie bei der Bedeutungsverschiebung der Metony-
tät von metonymischen Verschiebungen sind Aus- mie beobachten wir also einen Konflikt, was man
drücke, die Institutionen bezeichnen wie Universi- als Auslöser für die metaphorische Interpretation
tät. Man geht davon aus, dass eine der Bedeutungen ansehen kann. Der kommunikative Sinn der Äu-
gelernt wird, und alle anderen Bedeutungen sich ßerung kann die Äußerungsbedeutung ersetzen.
aus dieser ableiten lassen. Die Äußerung des Satzes (36) kann also sehr wohl

97
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

sinnvoll sein. Zwischen den bezeichneten Gegen- ten, toten Metaphern (s. Kap. II.4.7.3.2). Ausdrü-
ständen und dem, wofür das sprachliche Bild cke wie Maus und surfen, die den Umgang mit
steht, gibt es keine sachliche Zusammengehörig- dem Computer und dem Internet erfassen, sind
keit wie bei der metonymischen Verschiebung. Es solche erstarrten Metaphern.
Ähnlichkeit wird vielmehr eine Beziehung der Ähnlichkeit Der Übergang von Metaphern zu Idiomen ist
behauptet. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass fließend. Diese haben oft metaphorische Wurzeln.
die kreative Metapher die Art der Ähnlichkeitsbe- Die Redeweise jmd. in den Senkel stellen in der
ziehung offen lässt. In Beispiel (36) ist nicht klar, Bedeutung von »jmd. zurechtweisen« bezog sich
ob die Ähnlichkeit in Bezug auf die Neugier von ursprünglich auf das vertikale Ausrichten von
Katzen, in Bezug auf deren Genügsamkeit, Marias Mauerwerk oder Holzwänden. Dazu wurde ein
Weiblichkeit oder in Bezug auf ihren Spaß am Tö- Senklot (Schnur mit Gewicht daran) verwendet.
ten von Vögeln etc. besteht. Der Äußerungskon- Konventionelle und tote Metaphern haben ihren
text bzw. Weltwissen kann diesen Bedeutungs- Weg ins Lexikon gefunden und sind demnach Be-
spielraum aber auf die relevanten Eigenschaften standteil der Ausdrucksbedeutung. Außerdem fin-
einschränken (Tversky 1977). Relevante Eigen- den sich Metaphern in Sprichwörtern (die man
schaften des Sprachbildes (auch Quelle genannt; als Idiome mit belehrendem Inhalt werten kann).
hier Katzen im Allgemeinen) werden übertragen In (38a) ist kurze Beine haben metaphorisch ver-
auf den zu charakterisierenden Gegenstand (das wendet, in (38b) dagegen nicht.
Ziel: hier Maria). Der Vergleich ist bei der Meta-
pher immer implizit. (38) a Lügen haben kurze Beine.
Vergleich: Die Metapher ist vom expliziten Ver- b Tom und Fritz haben kurze Beine.
gleich mit wie oder als zu unterscheiden. Mit dem
expliziten Vergleich sagt man nichts Widersprüch- Lakoff/Johnson (1980) haben es unternommen,
liches. Das Vergleichsmuster kann dabei schon die verschiedenen Arten der Bedeutungsübertra-
existieren wie in (37b) oder weiter hergeholt sein gung auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen
wie in (37a). zu systematisieren und zu Gruppen von Meta-
phern zusammenzufassen. Eine dieser Gruppen
(37) a Maria ist wie eine Katze. nennen sie die Zeit-ist-Geld-Metapher wie in
b Maria ist wie ihre Mutter. (39). Allen Beispielen dieser Gruppe ist gemein-
sam, dass Zeit wie Geld gesehen werden kann.
Konventionelle Metapher: Von konventionellen
oder usuellen Metaphern spricht man, wenn Meta- (39) a Du verschwendest meine Zeit.
phern durch häufigen Gebrauch zu stehenden b Ich habe viel Zeit investiert.
Wendungen werden. Als Beispiel für diesen Fall c Wie hat er die Zeit budgetiert?
kann man Es tut sich ein neuer Horizont auf wer- d Die Zeit kannst du sparen.
ten. Die Konstruktion eines Vergleichs auf der Ba- e Die Zeit wird abgerechnet.
sis von Weltwissen wird unnötig, ist aber rekon-
struierbar. Ziel von Lakoff und Johnson ist es, über die Syste-
Der Vergleich kann aber auch obsolet werden, matiziät von metaphorischen Bedeutungsverschie-
einfach weil sich unsere Lebensumstände ändern. bungen etwas über die Organisation der kogniti-
Das abstrakte Verb begreifen z. B. beschreibt eine ven Prozesse bei der Metaphernkonstruktion zu
geistige Tätigkeit und wird heute ohne Bezug auf erfahren.
die körperliche Tätigkeit greifen verstanden. Der
Vergleich kann sich sogar als falsch herausstellen.
Und trotzdem werden Metaphern weiterverwen-
det. Rabeneltern ist so ein Fall. Dieser Ausdruck 3.4.3 | Lexikalische Mehrdeutigkeiten
wird üblicherweise für Eltern verwendet, die ihre
Kinder scheinbar zu früh sich selbst überlassen, Von Bedeutungsverschiebungen wie Metonymie
und ist damit negativ konnotiert. Raben sollen al- und Metapher sind lexikalische Mehrdeutigkeiten
lerdings sehr fürsorgliche Eltern sein. abzugrenzen.
Lexikalisierte Metapher: Ist die Korrektheit des
Vergleichs irrelevant, oder ist der ursprüngliche
Vergleich unbekannt, spricht man von lexikalisier-

98
3.4
Semantik und Pragmatik
Lexikalische
Mehrdeutigkeiten

3.4.3.1 | Homonymie, Homophonie te wurde erst 200 Jahre nach der Erfindung des
und Homographie Buchdruckes in der Schriftform von Seite unter-
schieden. Wörter, die Unterschiedliches bedeuten,
Homonymie: Von Homonymie spricht man, wenn unterschiedlich geschrieben werden, aber eine
eine Lautgestalt mit zwei Bedeutungen verknüpft identische Lautform haben, nennt man Homo-
sein kann und auch die Schreibweise diese Bedeu- phone.
tungen nicht unterscheidet. Groß- und Kleinschrei- Homographe sind Wörter mit unterschiedlicher
bung und Unterschiede in den grammatischen Ei- Bedeutung, die gleich geschrieben, aber unter-
genschaften sind irrelevant. Das Nomen Fest als schiedlich ausgesprochen werden. Die Buchsta-
Bezeichnung für die Form einer Veranstaltung ist benfolge modern kann auf unterschiedliche Weise
ein Homonym zum Adjektiv fest als Stoffeigen- ausgesprochen werden, im Sinne einer Eigenschaft
schaft im Unterschied zu flüssig und gasförmig. wie zeitgemäß mit einem kurzen ersten Vokal und
Der Unterschied in den grammatischen Eigen- dem Wortakzent auf der zweiten Silbe und im Sin-
schaften rechtfertigt die Annahme, dass es sich um ne eines Prozesses wie verfaulen mit einem langen
verschiedene Wörter mit identischer Lautung han- ersten Vokal und dem Wortakzent auf der ersten
delt. Strauß als Bezeichnung für eine Vogelart und Silbe. Hier ist nur die Lautgestalt bedeutungsdiffe-
Strauß als Ausdruck für ein Blumengebinde unter- renzierend.
scheidet sich in der Bedeutung und in der Plural- Heteronym: Sind sowohl Lautgestalt wie auch
bildung. Mark kann als Ausdruck für eine Geldsor- Schreibweise bedeutungsdifferenzierend, spricht
te oder für die weiche Substanz (üblicherweise) man manchmal von Heteronymen.
im Inneren von Knochen stehen. Die beiden Wör-
ter unterscheiden sich im grammatischen Ge- ± Bedeutungsdifferenzierung der Form Lautgestalt und
schlecht. Man sagt die Mark für das eine und das Lautgestalt Schreibweise Schreibweise
Mark für das andere.
Homonymie – –
Unterschiedliche sprachliche Bedeutungen kön-
nen außerdem bezüglich aller phonologischen und Homophonie – +
morpho-syntaktischen Eigenschaften identisch Homographie + –
sein. Ball im Sinne des kugelförmigen Gegen- Heteronymie + +
stands und Ball im Sinne der Tanzveranstaltung ist
so ein Fall. Die Lautgestalt von Ball hat mindestens
zwei Funktionen. Gibt es zwei Wörter, die jeweils
3.4.3.2 | Polysemie
eine Funktion haben und die man nur durch Zufall
gleich schreibt und gleich ausspricht? Oder haben Von der Homonymie wird traditionell die Polyse-
wir es hier mit einem Wort zu tun, das zwei Be- mie abgegrenzt. Wenn die Mehrdeutigkeit zufällig
deutungen hat? Voraussetzung für eine Entschei- ist, spricht man von Homonymie. Wenn die Mehr-
dung in diesem Fall ist die theoretische Festlegung, deutigkeit nicht zufällig ist, spricht man von Poly-
was ein Wort ist. Umfasst der Begriff ›Wort‹ nur die semie. Für die Abgrenzung gibt es verschiedene
Lautform und die grammatischen Eigenschaften Kriterien je nach Art der Beziehung:
dieser Lautform, dann kann man von einem Wort N Das Regularitätskriterium erlaubt es, Wörter zu
mit zwei Bedeutungen ausgehen. Umfasst der Be- Gruppen zusammenzufassen, die in einer sach-
griff ›Wort‹ zusätzlich zu diesen formalen, akus- lichen Beziehung stehen: Metonymische Poly-
tisch messbaren Eigenschaften auch die Funktion, semie (s. 3.4.1).
dann muss man zwei Wörter unterscheiden. N Das Metapher-Kriterium fasst gleiche Ausdrü-
Nimmt man Letzteres an, ist es üblich, die Wörter cke zusammen, bei denen eine Ähnlichkeitsbe-
in der Schreibung mit kleinen Zahlen, sog. Indizes ziehung zwischen den Ausdrücken besteht. Der
(Plural von lat. index), zu unterscheiden: Ball1 un- Ausdruck Pferd als Ausdruck für das Turngerät
terscheidet sich von Ball2 in der Bedeutung. Man oder die Schachfigur ist ursprünglich eine meta-
kennt diese Praxis aus Wörterbüchern. phorische, also bildliche Verwendung des Aus-
Homophon: In einigen Fällen hat sich im Lau- drucks für das Tier oder die Tierart: Metaphori-
fe der Zeit eine unterschiedliche Funktion gleich- sche Polysemie (s. 3.4.2).
lautender Wörter mit identischen grammatischen N Das Etymologie-Kriterium: Die Ausdrücke ha-
Eigenschaften auch orthographisch durchgesetzt. ben eine gemeinsame historische Wurzel.
Saite und Seite ist ein Beispiel für diesen Fall. Sai- Schloss für Schließvorrichtung oder Gebäudeart.

99
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

Diese Beziehungen sind den Sprechern einer Spra- Koordinationstest: Koordinierte (d. h. mit und
che aber üblicherweise nicht bewusst. Die Annah- gebildete) Aussagen können unter Umständen re-
me, dass Homonyme als zwei Wörter zu werten duziert werden, wenn ein Ausdruck in der glei-
sind, hingegen Polyseme als ein Wort mit mehre- chen Bedeutung zweimal (einmal rechts und ein-
ren Bedeutungsvarianten (wie z. B. in Bierwisch mal links von und) vorkommt. Wenn sich bei der
1983) hat keinen Erklärungswert für die Unter- reduzierten Variante eine Bedeutungsänderung
scheidung. Sie ist aber unter Umständen in einem ergibt, dann ist die Wortform ambig.
theoretischen Konzept relevant. Die Kriterien kön- In (40a) können wir treffen einmal im Sinne
nen in der Lexikographie wichtig sein, wenn ent- von begegnen und einmal im Sinne von verletzen
schieden werden muss, ob einem Ausdruck ein beziehen. (40b) kann man unmöglich so verste-
Wörterbucheintrag zugeordnet werden muss, oder hen, dass Maria das Reh mit einem Geschoß ver-
ob die Bedeutungsvarianten unter einem Eintrag letzt und Fritz einem Freund begegnet.
abgehandelt werden können.
Ambiguität Können einer Lautstruktur mehrere Bedeutun- (40) a Fritz traf einen Freund und Maria traf ein Reh.
gen zugeordnet werden, spricht man allgemein b Fritz und Maria trafen einen Freund und ein Reh.
statt von Homonymie oder von Polysemie von le-
xikalischer Ambiguität (von lat. ambiguitas: Treffen ist also ambig. Rot hingegen ist nicht am-
Zweideutigkeit). Es ist aber üblich, den linguisti- big. Obwohl sich mit Haaren und Autos vollkom-
schen Fachbegriff ›Ambiguität‹ weiter zu fassen als men unterschiedliche Farbvorstellungen verbin-
den lateinischen Begriff, nämlich im Sinne von den, kann man den Farbausdruck rot in einer
»Mehrdeutigkeit«. Koordination reduzieren und sich auch in der re-
duzierten Form auf die verschiedenen Farben be-
Lexikalische Ambiguität
ziehen. Farbausdrücke wie rot nennt man vage.
Der Ausdruck rot deckt verschiedene Farbschattie-
rungen ab.
Homonymie Polysemie
(41) a Fritzens Haare sind rot und Marias Auto ist rot.
b Fritzens Haare und Marias Auto sind rot.

3.4.3.3 | Ambiguitätstests 3.4.3.4 | Das Phänomen der Vagheit


Unter Umständen können intuitiv Zweifel beste- Vage Ausdrücke erfüllen üblicherweise drei Krite-
hen, ob ein Wort mehrdeutig ist oder nicht. rien (vgl. z. B. Keefe 2000):
Die linguistische Forschung hat empirische N Grenzfälle der Anwendung: Für vage Ausdrücke
Tests entwickelt, die den Nachweis der Ambiguität ist typisch, dass sie für die Bezeichnung von eini-
oder Nicht-Ambiguität von zwei Ausdrücken er- gen Dingen definitiv dienen können, dass sie für
laubt. Diese Methoden gehen auf Jerry Sadock und andere Dinge definitiv nicht verwendet werden
Arnold Zwicky (1975) zurück. Wir betrachten hier können und dass es Grenzfälle der Anwendung
nur den sog. Zähltest und den Koordinationstest. gibt. Ob eine Blume rot ist oder nicht, kann man
Zähltest: Dinge kann man zählen. Werden un- unter Umständen (z. B. wenn die rote Farbe ins
terschiedliche Dinge mit einem lexikalisch ambi- Bläuliche tendiert) einfach nicht entscheiden. Und
gen Wort bezeichnet, dürfen die jeweiligen Anzah- darüber sind sich Gesprächsteilnehmer einig. Ob
len nicht zusammengezählt werden. Zum Beispiel ein bestimmter Ausschnitt aus dem Balken unter
kann man nicht von fünf Pferden sprechen, wenn (42) noch orange ist, oder schon nicht mehr, ist
man sich auf zwei Turngeräte und drei Pferde aus unter Umständen ein Grenzfall.
Fleisch und Blut beziehen möchte. Pferd im Sinne N Keine scharfen Grenzen des Übergangs: Wir
von Turngerät und Pferd als Bezeichnung für ein können uns nicht vorstellen, dass uns irgendein
Exemplar einer biologischen Art sind demnach physikalischer Messprozess die Entscheidung ab-
ambig. Man kann sich aber sehr wohl auf fünf Tie- nimmt, wo genau orange in einem schattierten
re beziehen, wenn man sich auf zwei Affen und Balken wie in (42) beginnt und wo genau es auf-
auf drei Zebras bezieht. Der Ausdruck Tier ist also hört. Wir wissen nicht, wo genau die Grenzfälle
bezüglich Tierarten nicht ambig. Der Test eignet zu finden sind. Farbe ist ein Kontinuum. Für vage
sich nur für Wörter, die sich auf Dinge beziehen. Ausdrücke ist dies allgemein typisch.

100
3.4
Semantik und Pragmatik
Lexikalische
Mehrdeutigkeiten

N Kleinste Unterschiede in der Qualität oder in mal ab). Trotzdem kann die Frage aufkommen,
der Quantität einer Eigenschaft sind bei vagen ob ein bestimmter Vogel (z. B. Pinguin) ein typi-
Ausdrücken üblicherweise nicht wahrnehmbar. scher Vogel ist oder nicht.
Wenn wir etwas Oranges vor uns haben, dessen
Farbe bezüglich Farbton, Sättigung und Hellwert
3.4.3.5 | Das Phänomen
minimal (das heißt für unser Auge nicht wahr-
der Kontextabhängigkeit
nehmbar) verändert wird, dann werden wir auch
das veränderte Ding als orange bezeichnen. Die Interpretation von vagen Ausdrücken ist darü-
Kleinste Unterschiede spielen für die korrekte Be- ber hinaus oft kontextabhängig. Das heißt, dass
zeichnung keine Rolle. der Äußerungskontext oder das Hintergrundwis-
sen die Bedeutung eines vagen Ausdruckes beein-
(42) flussen. Für vage Ausdrücke ist typisch, dass sie
in Bezug zu empirischen Ordnungsrelationen ste-
hen. Wir können Stäbe nach der Länge sortieren.
Einige Stäbe werden als lang und einige als nicht
Ausdrücke für natürliche Arten und Substanzen lang gelten. Und wir werden höchstwahrschein-
sind dann vage, wenn es Grenzfälle der Einordnung lich mit Grenzfällen für die Ausdrücke lang und
gibt. Was als Gold im chemischen Sinn zählt, ist nicht lang konfrontiert werden. Wo wir diese
nicht vage. Die Substanz ist strukturidentisch mit Grenzfälle auf einer Skala finden, hängt zusätz-
dem chemischen Element »Au« (Haas-Spohn 1995). lich von der Situation ab, in welcher der vage Aus-
Im umgangssprachlichen Sinn kann es aber schon druck verwendet wird. Ob ein Stückchen Holz Kontextabhängigkeit
zu Diskussionen kommen, ob es sich bei einem groß ist oder nicht, kann davon abhängen, ob es
Schmuckstück um ein Stück aus Gold handelt oder sich um ein Holzscheit auf einem Anhänger oder
nicht (Grenzfälle). Goldschmuck wird aus Legie- einen Splitter im Auge handelt. Ob man etwas für
rungen hergestellt. Es gibt zwar (von Land zu Land teuer hält oder nicht, hängt üblicherweise davon
verschiedene) gesetzliche Bestimmungen, was als ab, was man verdient oder als Vermögen hat.
Gold zählt (Grenze). Diese Grenzziehungen sind Auch hier spielen die Fakten der Äußerungssitua-
aber willkürlich und von wirtschaftlichen Faktoren tion eine Rolle.
bestimmt. Man kann sich leicht überlegen, dass Dass wir uns mit dem Ausdruck rot auf Autos
auch mit solchen Bestimmungen Grenzfälle nicht und auf Haare beziehen können und trotzdem spe-
vermieden werden können. zifische unterschiedliche Farben meinen, hängt
Ausdrücke für Artefakte wie »Stuhl« sind vage. damit zusammen, dass wir mit den Nomen Auto
Oft ist nicht klar, ob es sich bei einem Kunstobjekt und Haare Vergleichsstandards für Farben assozi-
noch um einen Stuhl handelt oder nicht mehr. Vag- ieren. Einer assoziiert als Vergleichsgröße in Bezug
heit ist außerdem typisch für Maßangaben. Die auf rote Haare die Haarfarbe seines semmelblon-
Größenangabe in einem Pass z. B. gibt zwar einen den Vetters, andere die Haarfarbe der Punkerin aus
Wert in Zentimetern ziemlich genau wieder. Grenz- dem Fernsehen, und in Bezug auf Autos die typi-
fälle sind aber auch hier denkbar. Als Überbegriff sche Lackfarbe der Marke Ferrari oder das matte
für Vagheit und lexikalische Ambiguität verwendet Rot eines alten Mitsubishi. Welche Farbschattie-
man den Begriff ›Unbestimmtheit‹ (Pinkal 1985). rung relevant ist, ist eine Frage der Organisation
Man beachte außerdem, dass Vagheit und Ty- und Leistung des Gedächtnisses und Gegenstand
pikalität unabhängig sind (s. 3.5.1.3). Ausdrücke von psychologischen Untersuchungen. Die Aus-
für natürliche Arten sind nicht vage (Beispiel Vo- drucksbedeutung von kontextabhängigen Ausdrü-
gel, sehen wir von akzidentiellen Mutationen ein- cken ist demnach invariant. Die scheinbare Mehr-
deutigkeit der Äußerungsbedeutung ist für die
Kommunikation irrelevant, solange keine Unei-
Unbestimmtheit
nigkeit über die Normsetzung entsteht. Bei sub-
jektiven Geschmacksurteilen kann es zu Diskus-
Vagheit lexikalische sionen über die Normsetzung kommen. Aber
Ambiguität
entscheidbar sind diese Diskussionen üblicherwei-
se nicht, weil der Normsetzung subjektive Erfah-
Homonymie Polysemie rungen zugrunde liegen, die den Gesprächspart-
nern wechselseitig unzugänglich sind.

101
3.4
Semantik und Pragmatik
Bedeutungs-
verschiebungen und
Mehrdeutigkeiten

3.4.4 | Strukturelle Mehrdeutigkeiten Es geht hier nur um die Frage der Kundin, die
mehr als eine syntaktische Analyse erlaubt, je
Dass der mitgeteilte Inhalt eines Satzes nicht nur nachdem, ob die Präpositionalphrase im Schau-
von den Bedeutungen seiner Bestandteile abhängt, fenster das Kleid in der syntaktischen Funktion ei-
wurde bereits in 3.3.1.2 angesprochen. Hat ein nes Attributes näher beschreibt oder ob sie den
Wort, eine Phrase oder ein Satz mehr als eine mor- Prozess des Kleiderprobierens in der syntaktischen
phosyntaktisch regelkonforme Struktur, dann ist Funktion eines Adverbiales lokalisiert. Jeder der
mit Mehrdeutigkeiten zu rechnen. In Abgrenzung beiden syntaktischen Analysen entspricht eine
von lexikalischen Ambiguitäten spricht man von Lesart der Frage. Unser Weltwissen sagt uns, dass
strukturellen Ambiguitäten. Diese werden im die zweite Lesart, auf die der Verkäufer antwortet,
Rahmen der Satzsemantik erforscht. Sie motivie- die unwahrscheinlichere ist. Zur Desambiguierung
ren die hierarchische Strukturanalyse. Eine struk- der verschiedenen Lesarten dienen wiederum Pa-
turelle Mehrdeutigkeit zeigt ein beliebter Witz. raphrasen. Als empirischer Test bietet sich in vie-
len Fällen der sog. Rangiertest an (s. Kap. II. 2.3.1).
(43) Kommt eine Kundin in einen Laden und fragt den Verkäu- Strukturell bedingte Mehrdeutigkeit ist natür-
fer: »Kann ich das Kleid im Schaufenster anprobieren?« lich auch auf der Wortebene zu beobachten. Ein
Sagt der Verkäufer: »Das ist nicht nötig, verehrte Dame. beliebtes Beispiel ist der Ausdruck Rotweinglaskis-
Wir haben Umkleidekabinen.« te. Etwas, das so bezeichnet wird, kann eine Kiste
für Rotweingläser sein oder eine Glaskiste für
Zur Vertiefung

Quantoren
Mehrdeutigkeiten, die sich weder mit den traditionellen Mitteln syntaktisch, also mit Hilfe von Unterschieden in
grammatischer Kategorie oder Funktion der Ausdrücke, beschreiben lassen, noch lexikalischen Mehrdeutigkei-
ten geschuldet sind, nennen wir hier Skopusmehrdeutigkeiten. Diese treten typischerweise im Zusammen-
hang mit Quantoren auf. Quantoren sind semantisch gesehen eine eigene Klasse von Nominalphrasen im Un-
terschied zu Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomen (s. Kap. II.3.3). Traditionell spricht man auch von
Indefinitpronomen. Sie haben die folgenden Charakteristiken:
N Quantoren werden mit einer besonderen Klasse von Determinierern gebildet. Die Standardquantoren sind der
Allquantor jedes N und der Existenzquantor (mindestens) ein N und die negativen Varianten davon: kein N
und nicht alle N. Dabei steht N für ein beliebiges Nomen.
N Quantoren werden (im Gegensatz zu Eigennamen, Kennzeichnungen und Pronomen) nicht referentiell inter-
pretiert. Quantifizierte Sätze kann man als eine Anweisung verstehen, Dinge einer bestimmten Art auf ihre
Eigenschaften zu überprüfen. Die Art der Anweisung variiert mit der Bedeutung des Quantors. Der Erfolg der
Überprüfung ist durch die Äußerung garantiert.
Sätze mit mehr als einem Quantor zeigen semantische Mehrdeutigkeiten, wie (i) illustriert. Dieser Satz kann
bedeuten, dass es für jeden Politiker ein möglicherweise anderes Problem gibt, das er angesprochen hat, z. B.
Obama den Krieg in Afghanistan, Merkel nur die Finanzkrise und Medwedew den Alkoholismus in Russland.
Und der Satz kann bedeuten, dass alle Politiker dasselbe Problem angesprochen haben, z. B. den Klimawandel.

(i) Ein Problem hat jeder Politiker angesprochen.

Auch Konstruktionen mit einem Quantor und einer Negation zeigen Mehrdeutigkeiten. Wir betrachten hier den
Quantor genau drei Kreise in (ii).

(ii) Genau drei Kreise sind nicht orange.

Tendenziell verstehen wir den Satz so, dass von einer bestimmten Anzahl Kreise alle außer dreien orange sind.
Tatsächlich ist der Satz aber auch in einer Kreiskonstellation verwendbar, in der es gerade nicht so ist, dass ge-
nau drei Kreise orange sind:

102
3.4
Semantik und Pragmatik
Strukturelle
Mehrdeutigkeiten

In der Generativen Grammatik werden diese Lesartenunterschiede als Fälle von strukturellen Mehrdeutig-
keiten analysiert. Man nimmt an, dass den Interpretationen unterschiedliche syntaktische Repräsentationen
zugrunde liegen. Die Interpretationsunterschiede motivieren also die Einführung einer zusätzlichen Repräsen-
tationsebene neben der Tiefenstruktur und der Oberflächenstruktur (s. Kap. II. 2.3.3.3). Diese zusätzliche
Repräsentationsebene wird Logische Form (LF) genannt und durch syntaktische Bewegungen aus der Ober-
flächenstruktur abgeleitet.
Im Falle von Konstruktionen mit Negation und Quantor wie (ii) kann die Oberflächenstruktur direkt als Basis für
die Interpretation gelten (iiia) oder man kann als syntaktische Bewegung eine Rekonstruktion des Quantors an
die Stelle seiner Spur annehmen (iiib). Im letzteren Fall bezieht sich die Negation auf den Quantor, im ersteren
nicht. Die unterschiedliche Position von Quantor und Negation macht die Mehrdeutigkeit aus.

(iii) a LF1: [CP [NP genau drei Kreise]1 [sind2 [nicht t1 orange t2]]] b LF2: [CP [sind2 [nicht [NP genau drei Kreise] orange t2]]]

Die Idee, semantische Mehrdeutigkeiten als strukturelle Mehrdeutigkeiten zu analysieren, kann man auf Sätze
mit mehr als einem Quantor wie in (i) übertragen. Die logische Form dieser Konstruktionen kommt dadurch
zustande, dass alle Quantoren an die linke Satzperipherie bewegt werden. Man nennt diese syntaktische Bewe-
gung Quantorenanhebung. Wieder ist es der unterschiedliche Bezugsbereich der Quantoren, der die Mehrdeu-
tigkeit des Satzes ausmacht. In (iva) bezieht sich die NP ein Problem auf den ganzen Restsatz, in (ivb) ist es die
NP jeder Politiker, die sich auf den ganzen Restsatz bezieht. Statt von Bezugsbereich spricht man auch von
Skopus (engl. scope). Statt von semantischen Mehrdeutigkeiten spricht man deshalb auch von Skopusmehr-
deutigkeiten. Die Reihenfolge der Spuren ist irrelevant.

(iv) a LF1: [CP [NP ein Problem]2 [NP jeder Politiker]1 hat [t1 t2 angespr.]]]
b LF2: [CP [NP jeder Politiker]1 [NP mind. ein Problem]2 hat [t1 t2 angespr.]]]

Es ist üblich, Quantoren mit verschiedenen Paraphrasemustern wie in (v) wiederzugeben.

(v) Allquantor: jedes N: »für jedes N gilt: …« Existenzquantor: ein N: »es gibt ein N, für das gilt: …«

Das Paraphrasemuster für den jeweiligen Quantor bezieht sich auf satzwertige Ausdrücke (das, was anstelle der
Punkte » …« einzusetzen ist). Diesem satzwertigen Ausdruck entspricht der semantische Bereich oder Skopus
des jeweiligen Quantors. Die Konstellation der logischen Form beeinflusst die Abfolge der Quantoren in den bei-
den Paraphrasemustern. Die Paraphrasen für die desambiguierten Sätze werden in (vi) aufgeführt.

(vi) a »Es gibt ein Problem, für das gilt: jeder Politiker hat etwas zu ihm zu sagen.«
b »Für jeden Politiker gilt: es gibt ein Problem, zu dem er etwas zu sagen hat.«

Im ersten Fall steht der Allquantor im Skopus des Existenzquantors im zweiten Fall steht der Existenzquantor im
Skopus des Allquantors.
Skopusmehrdeutigkeiten sind allgegenwärtig. Es gibt sie bei Modalwörtern in Kombination mit Quantoren und
bei Konjunktionen in Verbindung mit der Negation, etc.

(vii) a Maria möchte ein Pony haben. b Fritz ist nicht nach Hamburg gezogen, weil Maria dort wohnt.

In (viia) kann es sich um ein bestimmtes Pony handeln, das Maria haben möchte, oder aber es ist egal, wel-
ches, Hauptsache irgendein Pony. In (viib) wird entweder eine Handlung aus dem genannten Grund unterlas-
sen, oder aber durchgeführt, aber aus einem anderen, als dem genannten Grund.
Die Erforschung der Standardquantoren nimmt wissenschaftsgeschichtlich ihren Anfang in den aristotelischen
Schriften. Die Beobachtung von Mehrdeutigkeiten führt Ende des 19. Jh. zur Entwicklung der Prädikatenlogik
als dessen Erfinder Gottlob Frege gilt. Die Prädikatenlogik ist eine Kunstsprache, die gerade frei von zum Bei-
spiel Quantoren geschuldeten Mehrdeutigkeiten ist. Sie wurde zuerst für die Untersuchung von mathematischen
Grundlagen verwendet: Für Definitionen ist eine Sprache ohne Mehrdeutigkeiten unabdingbar. Erst in den
1970er Jahren wurden die Einsichten über die Prädikatenlogik für die semantische Analyse von quantifizierten
natürlichsprachlichen Sätzen fruchtbar gemacht und weiterentwickelt. Montague (1974) legte den Grundstein
für die Disziplin der formalen Semantik. May (1977) integrierte diese Resultate der Beschreibung von Mehr-
deutigkeiten in die Generative Grammatik; Heim/Kratzer (1998) geben eine Einführung in diese Thematik.

103
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen

Rotwein (s. Kap. II.2.2.4). Die morphologischen (Morpheme) und die Reihenfolge der beiden Be-
Strukturen unterscheiden sich. Aber die Bausteine deutungen sind identisch.

3.5 | Bedeutungsbeziehungen
Für Bedeutungsbeziehungen unterscheidet man kommen des Ausdruckes ich als synonym bezeich-
Begriffe, die Bedeutungsbeziehungen auf der Wort- nen, wenn diese beiden Vorkommen von derselben
ebene beschreiben, und Begriffe, die Bedeutungs- Person verwendet werden. In Abhängigkeit von
beziehungen auf der Satzebene beschreiben. der Äußerungssituation wird von beiden Vorkom-
men die jeweilige Sprecherin bezeichnet und die
soll ja gerade nicht variieren. Dann müsste man
3.5.1 | Bedeutungsbeziehungen allerdings auch sagen, dass gestern und heute das-
selbe bedeutet, wenn gestern an dem Tag geäußert
zwischen Wörtern
wird, der auf den Tag folgt, an dem heute geäußert
wurde. Diese Verwendung des Begriffes ›Synony-
3.5.1.1 | Typen von Beziehungen
mie‹ für deiktische Ausdrücke entspricht aber
Synonymie liegt vor, wenn zwei Wortformen ein nicht der allgemeinen Praxis.
und dieselbe Bedeutung haben. Was unter ›Synony- Hyponymie und Hyperonymie sind Begriffe für
mie‹ zu verstehen ist, ist also abhängig davon, was hierarchische Beziehungen zwischen Wortbedeu-
man unter Bedeutung versteht. Beschränkt man die tungen. Der Ausdruck Schirm z. B. kann für Son-
Bedeutung auf die Ausdrucksbedeutung, also den nenschirme, Regenschirme, Radarschirme, Bild-
deskriptiven Gehalt eines Wortes, dann sind zwei schirme etc. verwendet werden. Intuitiv hat Schirm
Ausdrücke synonym, wenn sie dieselben Dinge eine allgemeinere Verwendung als Regenschirm und
charakterisieren (unabhängig von der Äußerungs- Regenschirm hat eine speziellere Verwendung als
situation). Synonyme kann man oft im Satzzusam- Schirm. Allgemein gilt, dass jedes Ding, das durch
menhang gegeneinander austauschen, ohne dass den einen Ausdruck bezeichnet werden kann, auch
es zu einer Veränderung in der Ausdrucksbedeu- durch den anderen Ausdruck bezeichnet werden
tung kommt, z. B. Möhre und Karotte oder Zündholz kann. Der eine Ausdruck ist Unterbegriff des ande-
und Streichholz. Bei diesen Ausdrücken handelt es ren. Diese Beziehung heißt Hyponymie. Regen-
sich um dialektale Varianten. Die Varianten können schirm ist ein Hyponym zu Schirm.
aber auch eine Frage der Sprechereinstellung (Hund Von Hyperonymie spricht man, wenn die um-
vs. Köter), eine Frage der verwendeten Stilebene gekehrte Beziehung besteht. Schirm ist ein Ober-
(Gesäß vs. Hintern vs. Popo), des Soziolektes, also begriff oder Hyperonym zu Regenschirm. Hypony-
einer Gruppensprache (pennen vs. schlafen) oder me zu einem Hyperonym heißen Kohyponyme.
eine Frage der Fachsprache (Bindehautentzündung Die Ausdrücke für die verschiedenen Schirmarten
vs. Konjunktivitis) sein. Alle diese Ausdrücke unter- sind damit Kohyponyme zu Schirm. Kohyponyme
scheiden sich nicht bezüglich ihres deskriptiven können nicht gleichzeitig für den Bezug auf ein
Gehaltes und sind demnach synonym (was die Aus- und dasselbe Ding verwendet werden.
drucksbedeutung anbelangt). Unter Umständen kann man ein Kurzwort wie
Verstehen wir als Basis für unseren Synonymie- Schirm statt dem Hyponym Regenschirm oder Son-
begriff unter ›Bedeutung‹ die Summe von Aus- nenschirm verwenden. Je nach Äußerungssituati-
drucksbedeutung und expressiver Bedeutung, on kann die Frage Bringst Du einen Schirm mit?
dann sind die Ausdrücke Hund und Köter oder anders verstanden werden. Dass der Hörer die Fra-
pennen und schlafen natürlich nicht synonym. Un- ge richtig interpretiert, ist entweder Bestandteil
terscheiden sich zwei lexikalische Ausdrücke nicht des kommunikativen Sinns der Frage (s. 3.6.1)
bezüglich Ausdrucksbedeutung und expressiver oder eine Folge der elliptischen Verwendung von
Bedeutung, spricht man auch von vollständiger Ausdrücken, also durch Auslassung von sprachli-
Synonymie im Gegensatz zu deskriptiver Syno- chem Material.
nymie (so z. B. Lyons 1980, S. 253). Gegensätze: Viele Ausdrücke stehen in einer
Gibt es Synonymie auf der Ebene der Äuße- Beziehung der Gegensätzlichkeit. Wir unterschei-
rungsbedeutung? Vielleicht könnte man zwei Vor- den drei Beziehungen: konträre Gegensätze, kom-

104
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen
zwischen Wörtern

plementäre Gegensätze und generell die sog. In- sein und umgekehrt. Ist jemand tot, kann er nicht
kompatibilität (vgl. Horn 1989). lebendig sein.
Konträre Gegensätze: Zwei Ausdrücke sind Die Beziehungen der Komplementarität und der
Antonyme, wenn sie konträre Gegensätze ausdrü- Kontrarietät ist nicht auf Adjektive beschränkt.
cken. Typischerweise liegt der Verwendung dieser Kontrarietät findet man auch bei Nomen wie Liebe
Ausdrücke eine Ordnungsrelation zwischen Din- und Hass oder Angst und Mut und bei Verben wie
gen zugrunde. Wir können zum Beispiel eine be- steigen und fallen. Man findet sie bei nominalen
stimmte Anzahl Stäbe der Größe nach ordnen und Quantoren alles und nichts sowie bei quantifikati-
diese Ordnung mittels einer Skala repräsentieren. onellen Adverbien wie immer vs. nie.
Stäbe, die am unteren Ende der Skala eingeordnet Die Konversheit ist des weiteren von der Kon-
werden, zählen sicher als kurz. Stäbe am oberen trarietät und der Komplementarität zu unterschei-
Ende der Skala zählen sicher als lang, und der Rest den. Konverse Ausdrücke stehen immer für Bezie-
ist in einem Zwischenbereich angeordnet. Es gibt hungen zwischen Dingen. Die beiden Ausdrücke
also Stäbe, die weder als kurz noch als lang zäh- kann man bei Vertauschung der Rollen der Dinge
len. Ausdruckspaare wie kurz und lang haben gegeneinander ersetzen. Typischerweise sind kon-
demnach eine Dreiteilung der Größenskala zur verse Ausdrücke bei Verwandschaftsbeziehungen
Folge. Zieht man zusätzlich die Vagheit der Aus- wie Vater und Sohn zu beobachten. Komparativ-
drücke in Betracht, kommt man auf zusätzliche formen von Antonymen wie kleiner/größer stehen
Zonen am Übergang von definitiv kurz zu definitiv in der Beziehung der Konversheit und ebenso Ak-
weder kurz noch lang und am Übergang von defi- tiv- und Passivformen von transitiven Verben wie
nitiv weder kurz noch lang zu definitiv lang kaufte/wurde gekauft.
(s. 3.4.3.4). Ganz analog kann man in Bezug auf
das Paar scharf – unscharf von Schärfeskalen für
3.5.1.2 | Semantische Felder
Messer und andere Schneidinstrumente sprechen
oder für schön – hässlich von Schönheitsskalen, Die Untersuchung von Bedeutungsbeziehungen
und für heiß – kalt von Temperaturskalen etc. dient der Erforschung der Organisation des (menta-
Diese Ausdrücke repräsentieren konträre Ge- len) Lexikons bzw. der Bestimmung der Unter-
gensätze: Immer wenn der eine Ausdruck eines schiede eines Zeichens zu anderen Zeichen im
Ausdruckspaares ein Ding aus einer bestimmten Sprachsystem (zu Saussures Differentialität des
Ordnung korrekt beschreibt, trifft der andere Aus- Zeichens s. Kap. III.5.2.3). Im deutschen Sprach-
druck nicht zu. Außerdem ist es möglich, dass ein raum haben die Arbeiten von Jost Trier und Walter
Ding derselben Ordnung weder durch den einen Porzig in den 1930er Jahren diese Forschungen ein-
noch den anderen Ausdruck korrekt beschrieben geleitet. Die Idee ist, dass unser Wortschatz syste-
ist. Das Ausdruckspaar lang bzw. kurz steht damit matisch organisiert ist und dass er systematischen
in der Beziehung der Kontrarietät. Die Ausdrücke Veränderungen unterliegt. Auf der Basis der Hypo- Wortfelder
können üblicherweise für graduelle Vergleiche ver- nymie und der verschiedenen Formen von Gegen-
wendet werden. sätzen z. B. lassen sich Gruppen von Ausdrücken
Von Inkompatibilität spricht man, wenn kein hierarchisch ordnen. Statt von Gruppen von Aus-
gradueller Vergleich von Eigenschaften möglich drücken spricht man auch von Wortfeldern, se-
ist. Die Bedeutungen zweier Ausdrücke sind in- mantischen Feldern oder in der Folge von der
kompatibel, wenn es nicht möglich ist, dass die Erforschung Künstlicher Intelligenz von semanti-
beiden Ausdrücke ein Ding gleichzeitig bezeich- schen Netzen. Paare von Gegenteilen wie kurz und
nen, aber nicht beide Ausdrücke zutreffen müs- lang bilden ein kleines Wortfeld. Die Beziehung ist
sen. Etwas, was ein Pferd ist, kann kein Schwan die Kontrarietät. Ein klassisches Beispiel sind Be-
sein. Es gibt aber auch Dinge, die weder Pferd zeichnungen für Zyklen wie die Wochentage: Mon-
noch Schwan sind, Seegurken z. B. Die Ausdrücke tag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sams-
Pferd und Schwan sind also inkompatibel. tag und Sonntag bilden zusammen mit dem
Von komplementären Gegensätzen spricht Hyperonym Wochentag ein Wortfeld. Die Bezeich-
man, wenn notwendigerweise der eine Ausdruck nungen für die Wochentage sind Kohyponyme. Je-
ein Ding korrekt beschreibt und der andere nicht der der Ausdrücke drückt einen komplementären
(und umgekehrt), z. B. in Bezug auf Zahlen das Gegensatz zu allen anderen aus.
Ausdruckspaar gerade und ungerade. Ist eine na- Im Bereich der Personen und Tierbezeichnun-
türliche Zahl gerade, dann kann sie nicht ungerade gen sind wiederkehrende Muster zu entdecken.

105
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen

Zum Beispiel sind Sau und Eber Hyponyme zu rakter hat, ist offensichtlich zweitrangig. Römer
Schwein. Sau und Eber sind allerdings nicht kom- z. B. ist (unter anderem) eine Bezeichnung für ein
plementär zueinander. Für kastrierte Schweine Glas mit einer bestimmten Form und teilt sich mit
männlichen Geschlechts gibt es im Deutschen ein Glas denselben Bedeutungsbestandteil wie Rot-
Wort: Borch (franz. porc, engl. pork) und eine gan- weinglas.
ze Reihe von dialektalen Varianten dazu. Sau, Eber Nicht nur Komposita können in Bedeutungsbe-
und Borch sind Hyponyme zu Schwein und bilden standteile zerlegt werden, sondern auch Simplizia
ein semantisches Feld. Diese Dreiteilung ist abhän- (monomorphematische Wörter; s. Kap. II.2.2.2.2).
gig von den Kriterien Fruchtbarkeit (angezeigt mit In Anlehnung an die Merkmalsanalyse, die in der
der gestrichelten Linien) und Geschlecht (ange- Phonologie der Prager Schule zur Charakterisie-
zeigt mit der durchgezogenen Linie) und sie ist rung von einzelnen Phonemen (s. Kap. II.2.1.2.1)
systematisch. Anwendung findet, hat es sich in der struktura-
listischen Semantik eingebürgert, distinktive
(44) Schwein Merkmale für die Umschreibung der Wortbedeu-
tungen zu verwenden. Das Inventar an Merkma-
len, das nötig ist, um den Wortschatz zu beschrei-
Sau Eber Borch ben, ist dabei möglichst klein und universal zu
halten. Die Beschreibung von Ausdrucksbedeu-
Lexikalische Lücken liegen vor, wenn die Organisa- tungen erfolgt wie in der Phonologie mit Merk-
tion eines semantischen Feldes nicht vollständig malsmatrizen, d. h. Tabellen, die festlegen, ob ein
dem Muster ähnlicher Wortfelder folgt. Für Tierbe- Wort ein bestimmtes Merkmal hat oder nicht. Die
zeichnungen aus dem Wortfeld für Ente erwartet Bedeutung eines Ausdrucks ist durch die Merkma-
man einen Einwort-Ausdruck für kastrierte Erpel. le und die Werte der Merkmale festgelegt. Die
Einen solchen gibt es aber nicht. Merkmalsverteilung bestimmt damit die Position
eines Ausdrucks im System des Lexikons.
(45) Ente Gebräuchlich ist, diese Merkmale mit Groß-
buchstaben wiederzugeben, um sie von den ent-
sprechenden Ausdrücken einer Sprache zu unter-
Ente Erpel ????? scheiden. Die Bedeutung von Mann setzt sich
mindestens aus den Komponenten MÄNNLICH
Wortsemantik Konventionen für die Benennung von Handlungen und ERWACHSEN zusammen. Ausdrücke, die mit-
und deren Resultate (wie die Kastration) gehen tels derselben Merkmale erfasst werden können,
nur dann in den allgemeinen Sprachgebrauch bilden semantische Felder, was die Tabelle illus-
über, wenn diese kulturell in irgendeiner Form in- triert.
stitutionalisiert sind. Dass wir kein Wort für kas- Die Ausdrücke eines semantischen Feldes un-
trierte Erpel haben, heißt natürlich nicht, dass wir terscheiden sich bezüglich der Werte, die die
diese nicht bezeichnen können. Merkmale erhalten (Lyons 1977). Dabei kann es
auch vorkommen, dass ein Merkmal nicht bewer-
tet ist. Man spricht in diesem Fall von Unterspezi-
3.5.1.3 | Lexikalische Zerlegung
fikation.
Die Beziehungen zwischen Wortbedeutungen kön-
nen die Zerlegung oder Dekomposition von Wort- MÄNNLICH ERWACHSEN
bedeutungen rechtfertigen. Bei Komposita ist eine Mann + +
Zerlegung der Bedeutung in die Bestandteile (oder
Frau – +
Komponenten) unmittelbar nachvollziehbar. Rot-
weinglas setzt sich aus den Bedeutungen der Junge + –
Morpheme rot, Wein und Glas zusammen (s. Kap. Mädchen – –
II.2.2.4.2). Einzelne Gläsersorten stehen in einer Kind –
Hyponymie-Beziehung zu Glas im Sinne von
Mensch
Trinkbehälter. Und für die Hyponymiebeziehung
scheint es wesentlich zu sein, dass sich die Be-
deutungen einen Bedeutungsbestandteil teilen. Interessant ist, dass Typikalitätseffekte zu beob-
Dass dieser Bedeutungsbestandteil Morphemcha- achten sind, die die Merkmalssemantik in einem

106
3.5
Semantik und Pragmatik
Bedeutungsbeziehungen
zwischen Sätzen

Zur Vertiefung

Merkmalssemantiken
Frühe Vertreter der Komponentenanalyse sind Roman Jacobson (russ. Literatur- und Sprachwissenschaftler)
und Louis Hjelmslev (dän. Sprachwissenschaftler). Später wurde die Idee im englischen Sprachraum zum Bei-
spiel durch Katz/Postal (1964) aufgenommen, deren Arbeiten u. a. die sog. generative Semantik begründet ha-
ben. In der Auffassung von Postal und Katz sind die Merkmale, die die Bedeutungen von Ausdrücken konstitu-
ieren, hierarchisch geordnet. Diese Strukturen heißen semantische Marker.
Die Thesen der strukturalistischen wie auch der generativen Semantik sind mit vielen Problemen konfrontiert
(vgl. z. B. Fanselow/Staudacher 1991). Kritisiert wurde die Methode durch den Philosophen David Lewis (1970),
weil sie nicht zum Ziel hat zu erklären, was Bedeutungen sind. Strenggenommen sind die Komponenten nur
Übersetzungen (Paraphrasen) der natürlich-sprachlichen Ausdrücke. Komponenten haben ihrerseits wieder Be-
deutung. Für die Zerlegungen gilt also dieselbe Problematik wie für Paraphrasen (Vertiefung zu Paraphrasen,
s. S. 82). Die Methode erlaubt aber, Ausdrücke zu inhaltlichen Gruppen zusammenzustellen. Unklar ist, was
die Menge der Merkmale, die als Inventar für Bedeutungsstrukturen gelten, beschränkt. Wierzbicka hat ein
System von insgesamt 55 Merkmalen vorgestellt (1996, S. 37 f., 73 f.). Das System heißt Natural Semantic Meta-
language. Diese Merkmale sind nicht weiter zerlegbar, sie sind in jeder Sprache lexikalisiert, und jede natür-
liche Sprache soll in diese Sprache übersetzbar sein. In Löbner (2003, S. 222 f.) findet sich eine kritische Darstel-
lung dieses Systems.
Jackendoff (1983) hat im Rahmen der konzeptuellen Semantik Bedingungen für Wohlgeformtheit von hierar-
chischen Zerlegungen von Simplizia-Bedeutungen vorgeschlagen.

System von distinktiven Merkmalen nicht erfas- legung eines Wortes nahelegt. Paradebeispiel ist (46)
sen kann. So gelten nicht alle Dinge, die wir als die Zerlegung von kein in eine Negation und den
Tassen bezeichnen würden, als typische Vertreter Determinierer ein. Wie der Satz in (47a) illustriert,
der Kategorie Tasse (Labov 1973). Gemäß empiri- setzt die Bedeutung die Zerlegung voraus (vgl.
schen Untersuchungen sind typische Tassen in Penka/Stechow 2001).
unserem Kulturkreis Kaffeetassen. Die Erfor-
schung dieses graduellen Aspektes von Kategori- (47) a Die Firma braucht keinen Angestellten zu entlassen.
enzugehörigkeit stand im Zentrum des Interesses b »Es ist nicht so, dass es notwendig ist, dass die Firma
der Prototypen-Semantik (z. B. Rosch/Mervis einen Angestellten entlässt.«
1975). Prototypen einer Kategorie sind in der Ex-
perimentalpsychologie z. B. Objekte, die diejeni-
gen Merkmale haben, die die meisten Exemplare
der Kategorie haben. Zur Illustration betrachte 3.5.2 | Bedeutungsbeziehungen
man die schematisierten Gesichter aus Smith/Me- zwischen Sätzen
din (1981) in (46).
Das Wissen um diese Merkmale erlaubt uns, Um die Beziehungen zwischen Bedeutungen von
weitere Kategorienzuordnungen vorzunehmen auf Sätzen zu charakterisieren, haben sich in der Fol-
der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen zum ge von logischen Untersuchungen die Begriffe
Prototypen. Handelt es sich bei dem Wissen, das Äquivalenz, Implikation (Folgerung) und Kon-
eine Kategorisierung erlaubt, um dieselbe Art Wis- tradiktion (Widerspruch) etabliert. Diese Begrif-
sen, die die Gebrauchsbedingungen der Ausdrücke fe beziehen sich auf die Äußerungsbedeutung
bestimmt, liegt es nahe, Typikalitätseffekte, die im von Sätzen.
Sprachsystem zu beobachten sind, auf ähnliche Äquivalenz: Wenn zwei Sätze immer denselben
Weise zu beschreiben. Die Sichtweise, dass lexika- Sachverhalt beschreiben, spricht man von einer
lisches Wissen und psychologische Repräsentatio- Äquivalenz. Für äquivalente Sätze ist charakteris-
nen von Kategorien (zumindest fast) identisch tisch, dass man sich keinen Sachverhalt vorstellen
sind, beeinflusste maßgeblich die kognitive Se- kann, den der eine Satz korrekt beschreibt, aber
mantik (Croft/Cruse 2004). der andere nicht. Die Ersetzung synonymer Aus-
Aber auch die formale Semantik befasst sich drücke in einem Satz führt zu einer Äquivalenz
mit Fragen der lexikalischen Zerlegung, nämlich zwischen dem Ausgangssatz und dem Resultat der
dann, wenn die Interpretation eines Satzes die Zer- Ersetzung wie in (48).

107
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

(48) a Fritz hat Streichhölzer gekauft. 3.5.3 | Kollokationen


b Fritz hat Zündhölzer gekauft.
Semantische Beziehungen zwischen Ausdrücken
Implikation: Hierarchische Beziehungen zwischen organisieren nicht nur das mentale Lexikon, es
Äußerungsbedeutungen von Sätzen (sog. Implika- sind auch Sinnrelationen zwischen Ausdrücken im
tionsbeziehungen) bedingen, dass jede Tatsache, Satz auszumachen.
die durch einen ersten Satz korrekt beschrieben Die Kombination von Ausdrücken kann Konven-
wird, auch durch den zweiten Satz korrekt be- tionalisierungen unterliegen. Wenn eine Wortfolge
schrieben wird. Der implizierte Satz ist weniger konventionalisiert ist, nennt man sie eine Kollo-
informativ als der implizierende Satz. Implikati- kation, aber nur wenn die Bedeutung der Wortfolge
onsbeziehungen können auf einer Ersetzung eines sich aus den Bestandteilen kompositional ergibt
Ausdrucks durch ein Hyperonym basieren. Satz (z. B. kräftige Farbe), also nicht idiomatisch ist. Als
(49b) ist allgemeiner, weniger informativ als (49a). Test kann man versuchen, einen Bestandteil der
Wortfolge durch einen in anderen Umgebungen sy-
(49) a Fritz hat eine Stute gekauft. nonymen Ausdruck zu ersetzen (im Beispiel kräftig
b Fritz hat ein Pferd gekauft. durch stark; vgl. synonymes kräftiger Mann/star-
ker Mann). Wenn diese Ersetzung nicht ohne Ein-
Kontradiktion liegt vor, wenn zwei Sätze gegen- schränkung möglich ist, dann handelt es sich um
sätzlichen Inhalt haben. Widersprüchliche Sätze eine Kollokation (z. B. *starke Farbe). Die be-
können nicht gleichzeitig ein und dieselbe Tatsa- schränkte Verteilung von Wörtern in bestimmten
che korrekt beschreiben. In (50) drückt die Nega- Sequenzen könnte allerdings auch darauf hinwei-
tion nicht dabei den Gegensatz aus. sen, dass wir es mit lexikalischen Mehrdeutigkei-
ten (Polysemien) zu tun haben. Kräftig kann in
(50) a Es donnert. Zusammenhang mit Farbe etwas anderes bedeuten
b Es donnert nicht. als in Zusammenhang mit Mann. Die Identifizie-
rung von Kollokationen kann also einerseits dazu
dienen, konventionalisierte Wortfolgen zu erken-
nen und aufzulisten, andererseits auch zur Desam-
biguierung von Mehrdeutigkeiten.

3.6 | Regeln der Sprachverwendung


Wenn die Verwendung von Sprache reibungslos akttypen gruppiert und die Bedingungen formu-
verläuft, wird nicht hinterfragt, was die Vorausset- liert, die erfüllt sein müssen, damit die verschiede-
zungen und Effekte für eine ideale Kommunikati- nen Handlungstypen erfolgreich realisiert werden
on sind. Aber wie entstehen Missverständnisse? können. Wegbereiter der Sprechakttheorie ist John
Wie kann es passieren, dass ein Hörer mehr ver- Austin (1962).
steht als vom Sprecher tatsächlich gesagt wird? Implikaturen: Voraussetzung dafür, dass keine
Was macht es aus, dass ein Versprechen nicht zu- Missverständnisse entstehen, ist die Annahme,
stande kommt oder eine Aufforderung ihr Ziel ver- dass Gesprächsteilnehmer kooperativ und ver-
fehlt? Wir betrachten hier die bestuntersuchten nünftig handeln, wenn sie sprachliche Äußerun-
Phänomene der Pragmatik, nämlich Sprechakte gen machen. Unter dieser Annahme erschließt der
und Implikaturen. Hörer unter Umständen zusätzliche Informatio-
Kommunikation Sprechakte: Sprachliche Handlungen sind die nen. Der Sprecher weiß das und verhindert nicht,
Grundeinheiten der Kommunikation. dass der Hörer diese Informationen erschließt. Die
Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen zusätzlichen Informationen sind mit Regeln für
die Gesprächsteilnehmer die Regeln kennen, die das rationale Handeln erschließbar. Es ist also
es ihnen erlauben, sprachliche Handlungen über- nicht primär sprachliches Wissen, das die Schlüs-
haupt zu tätigen. Sie müssen wissen, was die Vor- se erlaubt, sondern soziales Wissen. Der britische
aussetzungen und die Effekte einer Äußerung Philosoph Paul Grice (1975) hat für diesen Bedeu-
sind. John Searle (1969) hat Sprechakte zu Sprech- tungsaspekt von Sprache – das Mitgemeinte – den

108
3.6
Semantik und Pragmatik
Implikaturen

Begriff ›Implikatur‹ geprägt, mehrere Arten von Generalisierte Implikaturen sind unabhängig von
Mitgemeintem unterschieden und versucht, Re- Faktoren der Äußerungssituation. Jemand, der
geln zu formulieren, mit Hilfe derer man das Mit- (52a) sagt, meint üblicherweise auch (52b). Der
gemeinte herleiten kann (Meibauer 2001, S. 24–43; Bedeutungsbestandteil in (52b) ist aber nicht Teil
Geurts 2010). der Äußerungsbedeutung von (52a). (52b) ist auf-
hebbar/annullierbar und abtrennbar.

(52) a Einige von den Kühen sind verkauft worden. (=Äuße-


3.6.1 | Implikaturen rungsbedeutung)
b Nicht alle von den Kühen sind verkauft worden. (=Impli-
Eine Definition des Begriffs ›Implikatur‹ ist schwie- katur)
rig. Welche Kriterien Implikaturen erfüllen müs-
sen, ist nach wie vor umstritten. Üblicherweise Bei (52b) handelt es sich nicht um eine Folgerung
werden mindestens drei Kriterien genannt, die Im- (Implikation) von (52a). Wenn es sich zwischen
plikaturen von anderen Arten von Information wie den Sätzen um eine Folgerungsbeziehung handeln
Folgerungen (Implikationen) oder Präsuppositio- würde, dann müsste jeder Sachverhalt, der mit
nen unterscheiden (Gazdar 1979). dem einen Satz korrekt beschrieben ist, auch mit
dem anderen korrekt beschrieben werden (s. 3.5.2).
Definition Wir können mit (52a) allerdings einen Umstand
beschreiben, in dem alle relevanten Kühe verkauft
Unter einer   Implikatur versteht man eine worden sind. Wir würden nichts Falsches sagen.
Proposition, die mit der Äußerung eines Sat- Wir wären nur zu wenig informativ. Mit (52b) kön-
zes in einer Situation durch den Sprecher nen wir denselben Umstand, dass alle Kühe ver-
(mit-)gemeint ist. kauft worden sind, aber nicht beschreiben. Damit
N Die Implikatur ist aufhebbar oder annul- ist gezeigt, dass (52b) keine Folgerung von (52a)
lierbar. ist. Es handelt sich um eine Implikatur.
N Die Implikatur ist nicht-abtrennbar. Aufhebbarkeit und Annullierbarkeit: Eine An- Eigenschaften
N Die Implikatur ist berechenbar (rekon- nullierung liegt vor, wenn der Sprecher mitteilt, von Implikaturen
struierbar): Die Proposition kann vom dass er über die Falschheit der Implikatur infor-
jeweiligen Hörer der Äußerung erschlos- miert ist. Der Sprecher ist kompetent (vgl. Horn
sen werden, und der Sprecher verhindert 1972).
nicht, dass diese Proposition durch den
Hörer erschlossen wird. (53) Einige von den Kühen sind verkauft worden, ja sogar alle.

Eine Aufhebung liegt vor, wenn der Sprecher mit-


Partikularisierte Implikaturen treten auf, weil Fak- teilt, dass er sich nicht sicher ist, ob die Implikatur
toren der Äußerungssituation und Hintergrund- Gültigkeit hat oder nicht. In diesem Fall gesteht
wissen das Erschließen der Implikatur begünsti- der Sprecher seine Inkompetenz ein.
gen. Blendet man diese Faktoren aus, entsteht
auch keine Implikatur. Diese Kontext-Unterschiede (54) Einige von den Kühen sind verkauft, wenn nicht sogar alle.
nützen gerade Witze häufig aus. In (51) meint der
Vater seinen Satz metaphorisch. Die wörtliche In- Nicht-Abtrennbarkeit: Ob eine Implikatur entsteht
terpretation ist falsch. Die metaphorische Interpre- oder nicht, hängt unter Umständen nicht davon
tation ist die Implikatur, die Klein-Fritzchen aber ab, was der Wortlaut der Äußerung ist. Implikatu-
nicht erschließen kann, weil ihm Hintergrundwis- ren sind von der Äußerungsbedeutung nicht-ab-
sen fehlt. Klein-Fritzchen versteht nur die Äuße- trennbar. Unter der Annahme, dass die Quantoren
rungsbedeutung des Satzes. einige von den Kühen und mindestens zwei von
den Kühen synonym sind, beobachtet Geurts
(51) Fragt der Lehrer: »Wo kommt der Strom her?« Sagt Klein- (2010), dass Äußerungen, die sich nur bezüglich
Fritzchen: »Aus dem Urwald«. »Warum?« fragt der Lehrer. dieses Quantors unterscheiden, dieselbe Implika-
Sagt Klein-Fritzchen: »Mein Vater hat heute morgen gesagt: tur haben. Auf die Form des Ausdrucks kommt es
Die Affen haben den Strom wieder abgestellt!« bei der Implikatur also offensichtlich nicht an, nur
auf den Informationsgehalt des Satzes.

109
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

Definition
(55) a Einige von den Kühen sind verkauft.
b Mindestens zwei von den Kühen sind verkauft. Das   Kooperationsprinzip besagt: Gestalte
c Nicht alle von den Kühen sind verkauft. (=Implikatur von deinen Konversationsbeitrag so, wie es der
a und b) akzeptierte Zweck oder die akzeptierte Rich-
tung des Gesprächs gerade erfordert.
Es gibt Implikaturtypen, bei denen die Art und
Weise der Äußerung, also die Form des Ausdru-
ckes, entscheidend ist dafür, dass zusätzliche Be- besteht (vgl. Grice 1975). Der genaue Wortlaut der
deutung entsteht. Statt (56a) hätte man auch (56b) Maximen ist umstritten. Ein Kritikpunkt ist z. B.,
sagen können, die Paraphrase, die das DUDEN- dass die Grice’schen Maximen sich nicht gegensei-
Universalwörterbuch für den Ausdruck spielen lie- tig ausschließen.
fert. Dass (56b) nicht dasselbe bedeutet wie (56a),
ist der Implikatur geschuldet, die durch die Wahl Maxime der Quantität
des komplizierten Ausdrucks entsteht. N Gestalte deinen Redebeitrag so informativ wie
nötig.
(56) a Die Kinder spielen. N Gestalte deinen Redebeitrag nicht informativer
b Die Kinder betätigen sich zum Vergnügen, Zeitvertreib und als nötig.
allein aus Freude an der Sache selbst auf irgendeine Weise. Maxime der Qualität: Versuche nur Wahres zu sa-
gen.
Berechenbarkeit (Rekonstruierbarkeit): Nach dem N Sage nichts, was du für falsch hältst.
Kriterium der Berechenbarkeit müsste es für alle N Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe
Fälle von Implikaturen Muster und Regeln geben, fehlen.
Regeln die es erlauben, diese Implikaturen eindeutig her- Maxime der Relevanz (Relation): Sei relevant.
zuleiten. Die Idee ist, dass die Implikaturen immer Maxime der Modalität: Drücke dich verständlich
dann entstehen, wenn die Regeln einfach befolgt aus.
werden oder nur scheinbar oder offensichtlich ver- N Vermeide unklare Ausdrücke.
letzt sind. Die Implikaturen sind dann als Erklä- N Vermeide Mehrdeutigkeiten.
rungen für die Regelverletzungen zu verstehen. N Drücke dich kurz aus.
Dass man sich als Sprecher auf die grundsätzliche N Bringe deine Ausdrücke in der richtigen Reihen-
Berechenbarkeit der Implikaturen in vielen Fällen folge vor.
verlassen kann, geht sogar so weit, dass tatsächli- Auf der Basis von Kooperationsprinzip und Kon-
che Regelverletzungen nicht nur hingenommen versationsmaximen kann man den Implikaturen-
werden, sondern ausgenutzt werden. Das hat eine begriff präzisieren: Eine Implikatur ist eine Propo-
Ökonomisierung der Sprachverwendung zur sition, die in einer Äußerungssituation aufgrund
Folge. Man kann weniger sagen, als das, was man von Kooperationsprinzip und Konversationsmaxi-
meint. Man kann höflich bleiben und darauf zäh- men erschlossen werden kann.
len, dass das, was man meint, erschließbar ist. Die Die Konventionen, die das Kooperationsprinzip
Regeln für die Berechenbarkeit der Implikaturen und die Maximen festlegen, sind sozialer Natur.
ist Thema des nächsten Abschnittes. Man kann diese Normen befolgen, muss aber nicht.
In allen Fällen, in denen Implikaturen entstehen,
wird angenommen, dass das Kooperationsprinzip
3.6.1.1 | Kooperationsprinzip
gilt. Ist dieses grundlegende Prinzip verletzt, kommt
und Konversationsmaximen
es nicht zum Gespräch. Typische Fälle sind etwa
Paul Grice (1969) hat als erster versucht, Regeln zu Kommentare wie »No Comment« auf heikle Fragen
formulieren, mit deren Hilfe sich Implikaturen er- von Journalisten (expliziter Ausstieg aus dem Ge-
schließen lassen. Dass Implikaturen entstehen, ist spräch) oder Gespräche, bei denen der Gesprächs-
eine Folge davon, dass die Gesprächsteilnehmer teilnehmer nur scheinbar kooperiert. Eine solche
die Regeln befolgen, die die Konversation steuern. geheuchelte Kooperation ist eine Quelle für gestör-
Grundlegendes Prinzip als Teil dieser Regeln ist, te Kommunikation und kann auch absichtlich ein-
dass Sprecher und Hörer überhaupt kooperieren gesetzt werden, um Gesprächspartner irrezuführen,
wollen (Kooperationsprinzip). z. B. im Fall der Lüge. Eine Lüge ist nicht nur ein
Vier Konversationsmaximen erläutern, worin Verstoß gegen die Maxime der Qualität »Sag nichts
die Verhältnismäßigkeit der sprachlichen Mittel Falsches«. Sie ist auch ein Verstoß gegen das Koope-

110
3.6
Semantik und Pragmatik
Implikaturen

rationsprinzip. Die Lüge funktioniert, weil die Ge- Qualitätsimplikaturen: Die Maxime der Qualität
sprächspartner üblicherweise annehmen, dass sie erlaubt dem Hörer zu erschließen, dass der Sprecher
wechselseitig kooperativ sind. überzeugt von dem ist, was er sagt, oder zumindest,
dass er angemessene Gründe hat, es zu sagen. Aus
(59a) und der Qualitätsmaxime 1 folgt (59b).
3.6.1.2 | Typen von Implikaturen
Implikaturen können entstehen, weil die koopera- (59) a Zu Guttenberg ist zurückgetreten. (=Äußerungsbedeu- Qualität
tiven Gesprächsteilnehmer entweder tung)
N Maximenverletzungen grundsätzlich vermei- b Der Sprecher ist überzeugt davon, dass zu Guttenberg zu-
den wollen oder rückgetreten ist. (=Implikatur)
N verschiedene Maximenverletzungen gegenein-
ander abwägen oder Eine absichtliche Verletzung der Qualitätsmaxime
N Maximenverletzungen ausbeuten. hat unter Umständen eine ironische Interpretation
Nach den Maximen, deren Verletzung vermieden zur Folge. Wenn jemand etwas offensichtlich Fal-
oder ausgebeutet wurde, spricht man von Quanti- sches sagt, aber alle Gesprächsteilnehmer davon
tätsimplikaturen (mit der Unterart skalarer Impli- ausgehen, dass er ein kooperativer Gesprächsteil-
katuren), Qualitätsimplikaturen, Relevanzimplika- nehmer ist, dann verletzt er die Maxime der Qua-
turen und Modalitätsimplikaturen. lität und die Gesprächsteilnehmer suchen nach
Modalitätsimplikaturen: Weil sich kooperative Erklärungen dafür, was er gemeint hat. Mit dem
Gesprächsteilnehmer auf die Einhaltung der Maxi- entsprechenden Gesichtsausdruck kann (60) dazu
me der Modalität verlassen (»Bringe deine Aus- dienen, jemandem zu sagen, dass er eine hässliche
drücke in der richtigen Reihenfolge vor«), erschlie- neue Mütze hat.
ßen sie in (57a), dass das Sich-aufs-Bett-Setzen
dem Schuhe-Ausziehen folgt und nicht umgekehrt (60) Hübsche neue Mütze hast du.
(Levinson 1983/2000). Ziel der Äußerung kann
sein, Hans’ Handlungen zu schildern. Die Reihen- Hier sind wieder Faktoren der Äußerungssituation
folge der Beschreibung der Ereignisse ist ikonisch unerlässlich, damit die Implikatur zustande
zur Reihenfolge der Ereignisse (s. 3.3.1.1). Bei der kommt. Erkennt ein Hörer diese Faktoren nicht, er-
erschlossenen Zusatzinformation in Form der Im- schließt er die Implikatur nicht, und es kommt zum
plikatur in (57b) handelt es sich um eine sog. Mo- Missverständnis. Zu Fällen, in denen die Maxime
dalitätsimplikatur. der Qualität verletzt ist, kann man die Figuren Me-
tapher (impliziter Vergleich), Metonymie (systema-
(57) a Hans zog die Schuhe aus und setzte sich aufs Bett. tische Bedeutungsverschiebung), Hyperbel (Über-
(=Äußerungsbedeutung) treibung) und Litotes (Untertreibung) zählen.
b Hans zog erst die Schuhe aus und setzte sich dann aufs Relevanzimplikaturen treten in Gesprächssitua-
Bett. (= Implikatur) tionen häufig auf. Bei vielen Äußerungen muss
man sich als Hörer erst einmal Gedanken machen,
Eine andere Reihenfolge der Ereignisse wäre eine inwiefern sie relevant sein könnten. Die Berech-
Verletzung der Maxime der Modalität. Dass die nungsmuster für Relevanzimplikaturen sind viel-
zeitliche Ordnung der Ereignisse nicht generell zu fältig und schwierig zu erfassen. Der Erklärung der
der Ausdrucksbedeutung von und gehört, macht Relevanz entspricht die jeweilige Implikatur. Auch
Beispiel (58) klar. Hier ist kein Gesprächsziel aus- Witze wie (61a) bedienen sich des Effekts der Re-
zumachen, das die Abfolge der Rechnungen als levanzimplikatur. Wenn (61b) nicht erschlossen
relevant erscheinen ließe. wird, dann ist die Maxime der Relevanz verletzt –
und der Witz nicht lustig.
(58) 2 mal 2 ist 4, und die Wurzel von 4 ist 2.
(61) a Warum spielen Banker und Politiker so gerne Golf? Weil es Relevanz
Eine Verletzung der Modalitätsmaxime (»Drücke der einzige Sport ist, den man auch mit Handschellen aus-
dich kurz aus«) stellt das Beispiel in (56b) oben üben kann.
dar. Wenn die Kinder normal spielen würden, hät- b Politiker und Banker sind Verbrecher. (= Implikatur)
te man das mit einem Ausdruck allein gesagt. Der
komplizierte Ausdruck kann auf ein außergewöhn- Skalare Implikaturen sind Quantitätsimplikaturen,
liches Spielen verweisen. die ohne absichtliche Verletzung von Maximen

111
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

entstehen. Für sie ist typisch, dass eine weniger sind, wäre es eine Anmaßung zu behaupten, dass
informative Aussage anstelle einer informativeren alle Politiker korrupt sind. Man könnte aber getrost
ausgedrückt wird. Die Implikatur besteht üblicher- behaupten, es seien einige Politiker korrupt, wenn
weise darin, dass man mit der weniger informati- man weiß, dass die meisten Politiker korrupt sind.
ven Äußerung mitmeint, dass das Gegenteil der Man würde jedenfalls nichts Falsches behaupten.
informativeren Äußerung der Fall ist. Mit der Äu- Die Maxime der Quantität verpflichtet aller-
ßerung von (62a) ist (62b) mitgemeint. dings dazu, so informativ wie möglich zu sein.
Wenn tatsächlich die meisten Politiker korrupt
Quantität (62) a Die meisten Politiker sind korrupt. (=Äußerungsbedeu- sind, wäre es weniger informativ zu behaupten,
tung) dass einige Politiker korrupt sind, als zu behaup-
b Nicht alle Politiker sind korrupt. (= Implikatur) ten, dass die meisten Politiker korrupt sind. Die
informativste Äußerung, die nicht falsch oder un-
Bei skalaren Implikaturen ist ein Zusammenspiel begründet ist, ist dann diejenige, zu sagen, dass
von Maximen bei der Herleitung von Implikaturen die meisten Politiker korrupt sind. Eine kooperati-
zu beobachten. Die Maxime der Qualität verpflich- ve Sprecherin befolgt die Maximen und der Hörer
tet, nichts Falsches zu behaupten. Wenn man weiß, kann schließen, dass der Sprecher die informativs-
dass nicht alle Politiker korrupt sind, wäre es eine te Äußerung macht und dass alle informativeren
Lüge zu behaupten, dass alle Politiker korrupt sind. Äußerungen falsch sind (der Sprecher lügt nicht)
Wenn man nicht weiß, ob alle Politiker korrupt oder dass der Sprecher zumindest keine guten

Zur Vertiefung

Hornskalen
Die grundlegende Annahme bei skalaren Implikaturen ist, dass es eine festgelegte Menge von Ausdrucksalter-
nativen zur verwendeten Äußerungsbedeutung gibt. Diese Ausdrucksalternativen müssen geordnet werden
können, und die Bedeutung der tatsächlichen Äußerung kann auf diese Ordnung bezogen werden. Für unser
Beispiel sind die Sätze in (i) alternative Äußerungen. (ia-b) sind weniger informativ als (ic), von dem wir an-
nehmen, dass es geäußert wurde, und (id) wäre informativer, aber unter den gegeben Umständen falsch. Die
Beziehung zwischen den Satzbedeutungen auf der Basis dieser Ausdrücke ist eine Implikationsbeziehung.

(i) a Einige Politiker sind korrupt.


b Viele Politiker sind korrupt.
c Die meisten Politiker sind korrupt. (tatsächliche Äußerung)
d Alle Politiker sind korrupt.

Horn (1972) hat vorgeschlagen, den Begriff der alternativen Äußerung auf Skalen von Ausdrücken wie in (ii) zu-
rückzuführen, heute sog. Hornskalen. Die Beispiele in (i) unterscheiden sich nur bezüglich des Determinierers.

(ii) <einige, viele, die meisten, alle>

Eine Skalierung ist natürlich nicht nur für quantifizierende Determinier möglich, sondern auch für viele andere
Ausdrucksarten, wie Zahlwörter (a), Konjunktionen (b), Modalverben (c), Adjektive (d) etc. (vgl. Levinson
1983/2000).

(iii) a <eins, zwei, drei, ….>


b <oder, und>
c <können, müssen>
d <kühl, kalt>

Meistens erfolgt die Skalierung der Äußerungen bezüglich der Informativität der Äußerungen. Aber es kommen
auch andere Ordnungskriterien (wie Teil-Ganzes-Beziehungen, z. B. Rangordnungen im Militär) in Frage. Für
eine Diskussion der Berechnung von skalaren Implikaturen ist heute Geurts (2010) einschlägig.

112
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

Gründe hat, diese informativeren Äußerungen zu c Ich wette, dass er einen Lastwagen auf vier Biergläser stel-
behaupten. Dass eine skalare Implikatur entsteht, len kann, ohne diese zu zerbrechen.
ist nicht in allen sprachlichen Umgebungen der d Da hast du mein Taschenmesser.
Fall. Wenn Sie ein Schild mit der Aufschrift in (63)
auf einem Jahrmarkt sehen, gehen Sie nicht davon
3.6.2.1 | Ausdrucksmittel für Sprechakte
aus, dass Sie keinen Preis bekommen, wenn Sie
alle Büchsen treffen. Performative Verben: Typisch für die Sätze in
(66a-c) ist, dass die vollzogene Handlung durch
(63) Wenn Sie die meisten Büchsen treffen, bekommen Sie ei- das verwendete Verb beschrieben wird. (66d) be-
nen Preis. zeichnet nur das Resultat des Besitzerwechsels,
nicht eine Schenkung. Aber auch mit dieser Äuße-
Implikatur und Präsupposition: Implikaturen un- rung wird eine Handlung vollzogen, nämlich eine
terscheiden sich von Präsuppositionen z. B. be- Schenkung. Äußerungen, mit denen Handlungen
züglich der Annullierbarkeit. Der Versuch der vollzogen werden, heißen allgemein performative
Annullierung löst bei Präsuppositionen einen Wi- Äußerungen (»vollziehende Äußerungen«). Ver-
derspruch aus. ben, die die Handlung bezeichnen, die man mit
ihnen vollzieht, nennt man performative Verben.
(64) Es hat aufgehört zu regnen. #Es hat nicht geregnet. Hiermit-Test: Ob ein Verb performativ verwen- Indikatoren
det wird, also als Mittel, um die Verwendungsart
Außerdem können Implikaturen bekräftigt wer- der Äußerung zu signalisieren, kann man mit dem
den. Die Bekräftigung erweckt bei Implikaturen »Hiermit«-Test überprüfen. Dieser Test besteht da-
nicht den Eindruck der Redundanz. Bei Präsuppo- rin, dass man den Matrixsatz mit dem Wort »hier-
sitionen ist eine Bekräftigung zwar möglich. Aber mit« ergänzt. In Satz (66a) und (66c) ist diese Er-
eine Textfolge von Satz und Präsupposition er- gänzung möglich. (66b) enthält die Partikel schon.
scheint redundant. In (66d) ist die Ergänzung durch hiermit nicht
möglich. Das zeigt, dass in (66a-c) performative
(65) a Einige Politiker sind korrupt, aber nicht alle. Verben zum Ausdruck der Sprechhandlung ver-
b Es hat aufgehört zu regnen. #Es hat geregnet. wendet werden, in (66d) aber nicht.
Typisch für ein performativ verwendetes Verb
ist, dass es im Indikativ Präsens steht und übli-
cherweise in der 1. Person. Ändert man Person
3.6.2 | Sprechakte oder Tempus eines performativ verwendeten Verbs
wie in (67ab) oder den Aspekt von perfektiv auf
Dass sprachliche Äußerungen Handlungen sind, imperfektiv wie in (67c) durch Einfügen von gera-
wird besonders klar an Beispielen wie (66). Durch de, ändert sich auch die Art der vollzogenen Hand-
die Äußerung von (66a) in einer geeigneten Situa- lung. Äußerungen der Sätze in (67) sind keine
tion findet ein Akt der Namensgebung statt. Nur Taufen oder Ernennungen, sondern einfach Fest-
durch diese Äußerung wird der Akt der Namens- stellungen. Feststellungen sind natürlich ihrerseits
gebung vollzogen. Hat das Stofftier schon einen sprachliche Handlungen, aber in den Feststellun-
Namen oder ist der Sprecher von (66a) nicht auto- gen in (67) drückt das Verb eben keine Feststel-
risiert, dem Tier einen Namen zu geben, dann lung aus. Die Verben in (67) sind nicht performativ
misslingt die sprachliche Handlung. Mit (66b) verwendet, weil sie nicht verwendet werden, um
wird dem Hörer eine Funktion zugewiesen. Mit den Sprechakt auszuführen, der bezeichnet wird.
(66c) geht der Sprecher eine Verpflichtung ein. Mit Für eine performative Äußerung ist es keine not-
(66d) ändern sich unter Umständen Besitzverhält- wendige Bedingung, dass sie explizit ein perfor-
nisse. Im weitesten Sinn kann jede Handlung, die matives Verb enthält.
in einer sprachlichen Äußerung besteht, einen
Sprechakt darstellen. Sprechakte sind die Grund- (67) a Torsten tauft dieses Stofftier auf den Namen »Schwein«.
einheiten der Kommunikation. b Ich ernannte den Institutsdirektor zum Vorsitzenden der
Kommission.
(66) a Ich taufe dieses Stofftier auf den Namen »Schwein«. c Ich ernenne Sie gerade zum Vorsitzenden der Kommission.
b Hiermit ernenne ich Sie zum Vorsitzenden der Kommission.

113
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

Satzmodus ist ein Überbegriff für Formmerkmale, Es gibt eine ganze Reihe von Verben, mit denen
die eine Satzart markieren können. Man unter- man Sprechakte bezeichnen kann. Aber nur mit
scheidet die Hauptsatzmodi: deklarativ (Aussage- einem Teil dieser Verben (in der richtigen Form)
satz), interrogativ (Fragesatz) und imperativ (Auf- kann man durch die Äußerung auch den Sprech-
forderungssatz). Welche Kombinationen von akt vollziehen, den das Verb bezeichnet.
Formmerkmalen für welchen Satzmodus typisch
sind, hat Altmann (1993) für das Deutsche umfas- Performativ verwendbar
send herausgearbeitet. Auch der Satzmodus kann äußern, sagen, feststellen, behaupten, schließen,
als Ausdrucksmittel für die Art der Verwendung fragen, befehlen, auffordern, bitten, raten, erklären,
einer Äußerung gewertet werden. taufen, ernennen, gratulieren, wetten, versprechen,
vermachen
Explizit und implizit performative Äußerungen:
Man nennt eine Äußerung explizit performativ, Nicht performativ verwendbar
wenn sie ein performatives Verb enthält, und sonst drohen, beleidigen, trösten
implizit performativ. (67) und (66d) sind implizit
performativ. Alle anderen bisher betrachteten Bei- Liste von Sprechakt bezeichnenden Verben
spiele sind explizit performativ.
Üblicherweise wird angenommen, dass sich im-
plizit performative Äußerungen mit Hilfe von ex- 3.6.2.2 | IIlokution und Proposition
plizit performativen Äußerungen paraphrasieren
lassen. Dass man mit einer Äußerung einen be- Performative Verben und Satzmodi drücken einen
stimmten Sprechakttyp vollzieht, kann man tat- bestimmten Aspekt von Bedeutung aus. Man
sächlich in vielen Fällen explizit wörtlich ausdrü- nennt diesen Bedeutungsaspekt illokutionäre
cken. Explizit performative Varianten von (67) Kraft, illokutionäre Rolle oder kurz nur Illokution
sind die folgenden. (von lat. loqui: sprechen und der Präposition in:
indem) und unterscheidet davon den Bedeutungs-
(68) a Ich stelle fest, dass Torsten dieses Stofftier auf den Namen aspekt der Proposition. Der Begriff der illokutio-
»Schwein« tauft. nären Kraft stammt von John Austin und leitet
b Ich stelle fest, dass ich den Institutsdirektor zum Vorsit- sich aus den Arbeiten von Gottlob Frege ab.
zenden der Kommission ernannte. Sätzen wie in (69), die sich nur im Satzmodus
c Ich stelle fest, dass ich Sie gerade zum Vorsitzenden der unterscheiden, ist ein Bedeutungsaspekt gemein-
Kommission ernenne. sam. Alle können in einer Äußerungssituation auf
denselben Sachverhalt Bezug nehmen, nämlich
Zur Vertiefung dass oder ob die Hörergruppe die Eigenschaft hat
oder haben wird, einen bestimmten Flügel zu zer-
Performativhypothese sägen.
Searle (1969, S. 19 f.) suggeriert, dass die Paraphrasierung einer implizit perfor-
mativen Äußerung mit einer expliziten immer möglich ist, und nennt diese Gene- (69) a Sie zersägen den Flügel.
ralisierung Prinzip der Ausdrückbarkeit. Dieses Prinzip motiviert die sog. Per- b Zersägen Sie den Flügel!
formativhypothese (vgl. Ross 1970). Die Performativhypothese beinhaltet, dass c Zersägen Sie den Flügel?
das Signal für den jeweiligen Sprechakttyp Teil der syntaktischen Struktur (und
damit eigentlich auch der Äußerungsbedeutung) ist, aber nicht unbedingt phone- Auf Sachverhalte nimmt man mittels Propositio-
tisch realisiert werden muss. Problematisch für diese Auffassung sind z. B. Dro- nen Bezug. Die Sätze unterscheiden sich also nicht
hungen wie in (i). Mit (ia) kann man drohen, aber nicht mit (ib). in ihrem propositionalen Gehalt (s. 3.3.2). Igno-
riert man den propositionalen Gehalt der Gesamt-
(i) a Ich werde Ihnen den Führerschein entziehen. bedeutung von Sprechakten, kann man für jeden
b Ich drohe Ihnen hiermit, dass ich Ihnen den Führerschein entziehen werde. Satz einen Bedeutungsbestandteil isolieren, näm-
lich denjenigen, der die Art der Verwendung der
Eine Drohung ist nur implizit möglich, obwohl es ein Verb gibt, das eine Dro- Sätze, also den Sprechakttyp, bestimmt. Diesen
hung bezeichnen kann. Es fehlt also in diesem Fall unabhängige Evidenz (durch Bedeutungsbestandteil nennt man ›Illokution‹.
Paraphrasierung) für das Vorhandensein des performativen Verbs (vgl. Grewen- Die Illokution, die z. B. durch den Satzmodus
dorf 1972). In diesen Fällen ist das Prinzip der Ausdrückbarkeit also falsch und ›imperativ‹ ausgedrückt wird, ergibt zusammen
die Performativhypothese nicht aufrechtzuerhalten. mit einem propositionalen Gehalt den Sprechakt
einer Aufforderung (vgl. 69b). Jemand, der

114
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

Deutsch spricht, weiß dabei, dass man Aufforde- Definition


rungssätze nicht dazu verwenden kann, etwas zu
erzählen. Das zeigt, dass Wissen darüber, wie die Ein   Sprechakt ist eine Handlung, die durch Sprache vollzogen wird,
verschiedenen Sätze zu verwenden sind, konventi- und umfasst alle vier Aspekte einer Sprachhandlung: Lokution (dass
onalisiert ist. Umstritten ist bis heute, ob hier Sprache verwendet wird), Proposition (dass etwas ausgedrückt wird),
sprachliche Konventionen eine Rolle spielen (wie Illokution (dass etwas mit der Äußerung beabsichtigt ist) und Perloku-
bei der Ausdrucksbedeutung und der Äußerungs- tion (Effekt der Äußerung). In einigen Ansätzen wird der Terminus aber
bedeutung) oder soziale Konventionen (wie bei in eingeschränkter Bedeutung gleichbedeutend mit dem Begriff ›illo-
den Implikaturen). kutionärer Akt‹ verwendet und umfasst dann nur den illokutionären
Aspekt.
3.6.2.3 | Teilaspekte von Sprechakten
Mit Searle (1969) unterscheidet man üblicherwei-
se vier Aspekte jeder Sprechhandlung. Eine Drei- ständen sprachliche oder nicht-sprachliche Hand-
teilung, wie Austin sie noch vorgeschlagen hat, ist lungen, die vom Sprecher beabsichtigt oder Ne-
heute obsolet. Searle sagt in Anlehnung an Austin beneffekte der Äußerung sind.
(1962) statt ›Aspekt‹ allerdings ›Akt‹. Nach Searle
sind Bedeutungen mit Handlungen zu identifizie-
3.6.2.4 | Erfolgsbedingungen
ren (s. 3.2.4).
N Lokutionärer Aspekt: Jede Sprechhandlung Die Illokution kann mit Erfolgsbedingungen gleich-
besteht in der Produktion von Lauten, Buchstaben gesetzt werden, die für die intendierte Sprach-
oder Handzeichen. In der Regel handelt es sich um handlung typisch sind. Für Feststellungen z. B.
Sätze. Die Zeichen sind nach den Regeln des jewei- wird vorausgesetzt, dass der Sprecher über die In-
ligen Sprachsystems organisiert. Sie haben phono- formation verfügt, von der er behauptet, dass sie
logische, morphologische und syntaktische Eigen- zutrifft. Für erfolgreiches Fragen hingegen sollte
schaften und eine Realisierung in einem Medium. der Sprecher über die erfragte Information gerade
N Propositionaler Aspekt: Mit den meisten Äu- nicht verfügen, und für Befehle ist unabdingbar,
ßerungen bezieht man sich auf Sachverhalte oder dass der Hörer in der Position ist, den Befehl auch
charakterisiert Dinge. Man setzt Dinge in der Welt ausführen zu können. Im Einzelnen sind die Be-
in Beziehung zueinander. Für diesen Aspekt ist die dingungen schwierig zu formulieren.
Äußerungsbedeutung grundlegend. Grußformeln Beispiel Versprechen: Mit der Äußerung von
wie Hallo, Guten Tag oder Grüezi sind Beispiele für (70) kann man ein Versprechen abgeben.
Äußerungen ohne propositionalen Gehalt. Aber es
ist leicht, einen propositionalen Gehalt für diese (70) Ich putze dein Auto.
Äußerungen zu konstruieren.
N Illokutionärer Aspekt: Die Äußerungsbedeu- Typisch für Versprechen ist, dass der Satztyp die
tungen werden zu einem bestimmten Zweck ver- Formmerkmale von Aussagesätzen aufweisen
wendet. Indem wir sprechen, wird die Absicht kann. Formmerkmale müssen also einen Sprech-
klar, mit der wir sprechen. Wir nennen die Ver- akttyp nicht eindeutig markieren. Trotzdem kann
wendung einer Äußerungsbedeutung durch den ein Versprechen zustande kommen, wenn mindes-
Sprecher für eine Feststellung, eine Frage, einen tens vier Typen von Bedingungen für Sprecher
Befehl etc. den illokutionären Aspekt, der durch (S) und Hörer (H) erfüllt sind (vgl. Searle 1969,
ein performatives Verb oder den Satzmodus des S. 57 f./1971, S. 88 f.; bzw. Levinson 1983, S. 238).
geäußerten Satzes bestimmt werden kann. Man Diese Bedingungen charakterisieren den illoku-
nennt diese sprachlichen Mittel der Kodierung des tionären Aspekt (s. Kasten S. 116). Wissen Spre-
illokutionären Aspektes illokutionäre Indikato- cher und Hörer, dass diese Bedingungen gelten,
ren (s. 3.6.2.1). sind sie selbst vernünftig und kooperativ und han-
N Perlokutionärer Aspekt: Handlungen haben deln unter normalen Umständen (also z. B. nicht
Resultate. Diese Resultate können durch den Spre- in einem Theaterstück), dann kommt der Effekt Sprechakteffekte
cher intendiert sein oder nicht. Einerseits erkennt zustande, dass der Sprecher die Verpflichtung
der Hörer die Absicht des Sprechers, weil er die übernimmt, das Versprechen auch einzulösen. Da-
Äußerung und ihren illokutionären Aspekt ver- mit verlässt sich der Hörer darauf, dass die Vorher-
steht. Andererseits vollzieht der Hörer unter Um- sage eintrifft, dass der Sprecher das Versprechen

115
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

tes kann dann gewertet werden, dass der Hörer die


Versprechen Erfolgsbedingungen für Versprechen Information glaubt, die er vom Sprecher bekommt,
1. Inhaltsbedingung: S beschreibt mit der Äu- aufgrund dessen, was gesagt wurde.
ßerung ein Ereignis zu einem Zeitpunkt in der Lüge und Anmaßung: Eine Feststellung ist eine
Zukunft. Dieses zukünftige Ereignis beinhaltet Lüge oder Anmaßung, wenn die Aufrichtigkeitsbe-
eine Handlung, die S selbst vollzieht. dingung nicht erfüllt ist. Eine Lüge ist es dann,
2. Vorbereitende Bedingungen wenn der Sprecher überzeugt ist, dass die Proposi-
N S glaubt, dass er in der Lage dazu ist, die tion in der Äußerungssituation falsch ist, und eine
Handlung auszuführen. Anmaßung, wenn der Sprecher keine Ahnung hat,
N H zieht die Handlung durch S der Unterlas- ob die Proposition die Äußerungssituation richtig
sung der Handlung durch S vor, und S glaubt beschreibt oder nicht.
das. Redundanz und Widerspruch: Ist der Hörer über
N Die Ausführung der Handlung durch S steht den Sachverhalt informiert, den die Proposition
für S und H nicht so oder so (ohne das Ver- ausdrückt, dann ist die Feststellung redundant. Ist
sprechen) fest. der Hörer darüber informiert, dass die Proposition
3. Aufrichtigkeitsbedingung: S beabsichtigt, in der Äußerungssituation falsch ist, kommt es
die Handlung in der Zukunft tatsächlich auszu- zum Widerspruch. In beiden Fällen ist die vorbe-
führen. reitende Bedingung nicht erfüllt.
4. Wesentliche Bedingung: S beabsichtigt mit Missverständnisse können entstehen, weil der
der Äußerung, sich zu der Handlung zu ver- lokutionäre Aspekt der Sprechhandlung nicht rich-
pflichten. tig verstanden wurde. Dabei kann ein Irrtum be-
züglich des produzierten Lautstroms oder der mor-
phosyntaktischen Analyse des Gehörten seitens
einhält. Löst der Sprecher sein Versprechen ein, des Hörers vorliegen.
dann ist der Sprechakt des Versprechens geglückt.
Die Effekte des Sprechaktes werden unter dem Be-
3.6.2.5 | Klassifikation von Illokutionen
griff des perlokutionären Aspektes erfasst.
Beispiel Feststellung: Mit dem Satz Ich putze dein Die Idee, dass es möglich ist, eine Typologie von
Auto kann man aber auch einfach eine Feststel- Illokutionen aufgrund von notwendigen und hin-
lung machen. In einer Situation, in welcher der reichenden Erfolgsbedingungen zu formulieren,
Satz am Telefon als Antwort auf die Frage, Was geht auf John Searle (1969) zurück. Searle unter-
machst du gerade?, geäußert wird, ist der Satz na- scheidet fünf Typen von Illokutionen mittels dreier
türlich. Kriterien:
Wieder gilt, dass Hörer und Sprecher wissen, N Zweck des Sprechaktes (illokutionärer Witz)
dass diese Bedingungen gelten, und dass sie sich N Verhältnis von Ausdruck und Welt (Ausrich-
nicht irrational verhalten. Als Effekt des Sprechak- tung)
N Zum Ausdruck gebrachte, innere Haltung des
Sprechers (psychischer Zustand)
Feststellung Erfolgsbedingungen für Feststellungen
1. Inhaltsbedingung: keine (S beschreibt et- Typen von Sprechakten:
was) N Assertive Sprechakte: (a) Der Sprecher infor-
2. Vorbereitende Bedingungen: H weiß noch miert über Sachverhalte in der Welt. Sein Ausdruck
nicht, dass die Proposition, die der Satz aus- richtet sich (b) nach der Welt und er verbürgt sich
drückt, in der Äußerungssituation wahr ist. (c) für die Wahrheit der Proposition in der Äuße-
3. Aufrichtigkeitsbedingung: S ist überzeugt, rungssituation. Er ist bereit, seine Position zu be-
dass die Proposition, die der Satz ausdrückt, in gründen und Evidenz für deren Wahrheit beizu-
der Äußerungssituation wahr ist. bringen. Er glaubt an die Information (Standardfälle:
4. Wesentliche Bedingung: S verbürgt sich für behaupten, schließen etc.).
die Wahrheit der Proposition in der Äußerungs- N Direktive Sprechakte: Der Sprecher versucht,
situation. Er ist bereit seine Position zu begrün- (a) den Hörer auf die Ausführung einer zukünfti-
den und Evidenz für die Wahrheit seiner Aus- gen Handlung zu verpflichten. Der Hörer sollte
sage beizubringen. sich (b) nach den Worten des Sprechers richten.
Dass der Hörer die Handlung ausführt, entspricht

116
3.6
Semantik und Pragmatik
Sprechakte

(c) einem Wunsch des Sprechers (Standardfälle: tun soll, nämlich seinen Fuß von meinem Fuß he-
befehlen, bitten, fragen etc.). runternehmen.
N Kommissive Sprechakte: Der Sprecher ver- Dass man ich putze dein Auto als Versprechen
pflichtet sich (a) auf die Ausführung einer zukünf- deuten kann oder du stehst auf meinem Fuß als
tigen Handlung. Er richtet sich nach seinen Wor- Aufforderung, muss durch den Hörer erschlossen
ten (b) und er bekundet die Absicht, die Handlung werden. Muss die tatsächliche Verwendungsart ei-
auszuführen (Standardfälle: versprechen, drohen ner Äußerung erschlossen werden, dann liegt ein
etc.). indirekter Sprechakt vor.
N Expressive Sprechakte: Der Sprecher drückt Wie kann es sein, dass man zu einem ausge-
(a) ein Gefühl aus und verwendet dabei soziale drückten Sprechakt zusätzlich einen indirekten
Verhaltensregeln. Das Verhältnis von Welt und Sprechakt vollzieht? Searles wesentliche Einsicht
Ausdruck ist dabei (b) nicht gerichtet. Der Aus- ist, dass indirekte Sprechakte aus demselben Grund
druck besteht (c) nur darin, den Gefühlszustand zustande kommen wie Implikaturen allgemein. Es
mitzuteilen (Standardfälle: danken, entschuldigen, sind Bedeutungsbestandteile, die erschlossen wer-
grüßen etc.). den, um den Redebeitrag des Sprechers relevant
N Deklarative Sprechakte: Der Sprecher bewirkt erscheinen zu lassen unter der Voraussetzung, dass
(a) unmittelbar durch seine Äußerung eine Ände- die Gesprächsteilnehmer kooperativ sind.
rung innerhalb einer Institution. Die Äußerungssi- Searle demonstriert seinen Lösungsvorschlag
tuation (Welt) ändert sich durch die Äußerung. am Beispiel von indirekten Direktiven. Bei direk-
Aber erst die institutionellen Gegebenheiten er- ten Direktiven charakterisieren die folgenden Er-
möglichen diese Änderungen. Damit ist eine Aus- folgsbedingungen die Illokution:
richtung (b) in beide Richtungen von der Welt
zum Ausdruck und umgekehrt festzustellen. Die
Sprachhandlung ist durch die Verantwortung des Erfolgsbedingungen für Direktive
Sprechers motiviert (Standardfälle: taufen, kündi- 1. Inhaltsbedingung: S beschreibt mit der Äu-
gen, den Krieg erklären etc.). ßerung ein Ereignis zu einem Zeitpunkt in der
Zukunft. Dieses zukünftige Ereignis beinhaltet
eine Handlung, die H vollzieht.
3.6.2.6 | Indirekte Sprechakte
2. Vorbereitende Bedingungen: S glaubt, dass
Das, was ein Sprecher sagt (Äußerungsbedeutung) H in der Lage dazu ist, die Handlung auszufüh-
und was er damit meint (kommunikativer Sinn), ren.
kann unter Umständen auseinandergeraten. Mit 3. Aufrichtigkeitsbedingung: S möchte, dass
der Äußerung von Ich putze dein Auto kann man, H die Handlung ausführt.
wie wir gesehen haben, ein Versprechen geben, 4. Wesentliche Bedingung: Die Äußerung ist
obwohl der Deklarativmodus einen Aussagesatz, ein Versuch von S, H dazuzubringen, die Hand-
also eine Assertion, signalisiert. Wir könnten das lung durchzuführen.
Versprechen auch mit einem explizit performativen
Verb ausdrücken: Ich verspreche dir, dein Auto zu
putzen. Allerdings ist auch diese Variante im Dekla- Bei indirekten Direktiven wird häufig eine dieser Erfolgsbedingungen
rativmodus, der eine Feststellung signalisiert. Mit Erfolgsbedingungen thematisiert. In (71a) wird
Äußerungen eines bestimmten Sprechakttyps kann eine vorbereitende Bedingung des Direktivs er-
man also zusätzlich zum ausgedrückten Sprechakt fragt. In (71b) wird die Aufrichtigkeitsbedingung
einen formal nicht ausgedrückten Sprechakt voll- festgestellt und in (71c) wird die Inhaltsbedin-
ziehen. Die tatsächlich vollzogene Illokution und gung behauptet.
die durch Sprache ausgedrückte Illokution können
differieren. Nicht nur die tatsächlich vollzogene (71) a Kannst du mein Auto putzen?
Illokution kann mit der Äußerungssituation variie- b Ich möchte, dass du das Auto putzt.
ren. Es kann auch sein, dass der Sprecher inten- c Du putzt jetzt mein Auto.
diert, einen anderen propositionalen Gehalt zu
kommunizieren als den, den er ausdrückt. Wenn Die Herleitung des indirekten Sprechaktes auf der
ich jemandem mitteile, dass er auf meinem Fuß Basis einer Sprechhandlung, die eine vorbereiten-
steht, dann beschreibe ich nicht nur die Situation, de Bedingung thematisiert, folgt Plausibilitäts-
sondern ich fordere ihn auch auf, dass er etwas überlegungen (vgl. Searle 1975, S. 73–74). Diese

117
3.6
Semantik und Pragmatik
Regeln der
Sprachverwendung

setzen wie üblich bei Implikaturen das Koopera- eine scheinbare Verletzung einer Konversations-
tionsprinzip voraus und die Erklärungen für die maxime), und man braucht ein Muster für
scheinbare Nicht-Kooperation liefert die Maxime Sprechakte, das einem erlaubt zu erschließen,
der Relevanz. Allerdings sind die Schlussmecha- welcher indirekte Sprechakt gemeint ist.
nismen schwieriger zu fassen als im Fall der skala- Die Erscheinungsformen von indirekten Sprech-
ren Implikaturen. Das ist so, weil wir es nicht, wie akten sind allerdings außerordentlich vielfältig,
in der Implikaturentheorie üblich, mit Propositio- und nicht immer ist erkennbar, wo die Anspielung
nen, sondern mit Sprechakten zu tun haben. des direkten Sprechaktes im Rahmen der Sprech-
Für (71a) ist Ausgangspunkt, dass der Sprecher akttheorie zu lokalisieren ist. Searle nennt selber
die Ja-Nein-Frage Kannst du mein Auto putzen? ge- Ausnahmen. Zum Beispiel werden oft Gründe für
äußert hat. Deren Beantwortung mit Ja ist üblicher- die Handlung genannt. In der geeigneten Äuße-
weise trivial. Die beste Erklärung dafür, dass der rungssituation wird auch in den Beispielen in (72)
Sprecher eine Frage stellt, über deren Antwort kein der Sprechakt abgeleitet, dass das Auto durch den
Zweifel besteht, ist, dass er nicht die Frage stellen, Hörer zu putzen ist.
sondern einen anderen Sprechakt vollziehen woll-
te. Die Sprechakttheorie erkennt die Ja-Antwort als (72) a Das Auto ist dreckig.
eine vorbereitende Bedingung für einen direktiven b Ich bin durch den Wald gefahren.
Sprechakt. Damit wird für den Hörer klar, dass die
Frage beinhaltet, ob eine vorbereitende Bedingung Theoretisch gibt es unendlich viele Varianten, je-
für einen direktiven Sprechakt gegeben ist. Der manden um etwas zu bitten. Erklärungen, warum
Sprecher hat auf die Direktive angespielt und legt die intendierten Sprechakte zustande kommen,
die Auslegung der Frage als Bitte nahe. können von der Implikaturentheorie abgedeckt
Um einen indirekten Sprechakt herzuleiten, werden. Aber wie genau die Herleitung vor sich
braucht es also einen Auslöser für die Ansicht, dass geht, ist weiter Gegenstand der Forschung.
der direkte Sprechakt nicht der gemeinte ist (also

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119
4.1
Sprachgeschichte

4 Sprachgeschichte
4.1 Einleitung
4.2 Sprachwandel und seine Ursachen
4.3 Herkunft und Periodisierung des Deutschen
4.4 Phonologischer Wandel
4.5 Morphologischer und lexikalischer Wandel
4.6 Syntaktischer Wandel
4.7 Semantischer Wandel

4.1 | Einleitung
Sprachgeschichte ist der Gegenstand der histori- istique générale den linguistischen Strukturalismus
schen Sprachwissenschaft. Die zentrale Aufgabe begründete und damit das Primat der histori-
der historischen Sprachwissenschaft besteht darin schen Sprachwissenschaft beendete). Die histori-
zu klären, wie und warum sich Sprachen ändern. sche Sprachwissenschaft kann sich mit einer be-
Die Aufgabe besteht somit aus: stimmten Sprachstufe einer Sprache beschäftigen
N einem empirisch-deskriptiven Teil (die Ant- oder aber verschiedene aufeinanderfolgende mit-
wort auf die Frage nach dem wie) einander vergleichen. Im ersten Fall untersucht
N einem explanativen Teil (die Antwort auf die man den synchronen Zustand eines sprachlichen
Frage nach dem warum) Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt, der (auch)
Die erste Teilaufgabe sollte sich nicht nur auf Be- in der Vergangenheit liegen kann (synchrone
schreibungen beschränken, denn zur Rekonstruk- Sprachwissenschaft befasst sich also nicht not-
tion von Entwicklungsverläufen gehören auch wendigerweise mit der heutigen Sprache). Häufig
Systematisierungen und Generalisierungen. Ge- geht die historische Sprachwissenschaft aber dia-
neralisierungen sind aber noch keine Erklärungen, chron vor, d. h. sie vergleicht zeitlich unterschied-
auch wenn sie interessante Aufschlüsse über die liche Systemzustände miteinander, um festzustel-
manchmal erstaunliche Gleichartigkeit von Ent- len, was sich in einer Sprache verändert hat und
wicklungsverläufen in unterschiedlichen gramma- was unverändert geblieben ist.
tischen Teilsystemen beisteuern. Damit wird fest- Bereits ab dem Anfang des 19. Jh.s versuchten
gestellt, dass es so ist – nicht aber erklärt, warum Linguisten wie Franz Bopp, Jacob Grimm oder
es so ist. Antworten auf die warum-Frage sind wie Rasmus Rask, die Geschichte und die verwandt-
in allen Wissenschaften theorieabhängig und in schaftlichen Beziehungen der indogermanischen
manchen Theorien sehr abstrakt (s. 4.2.1). Sprachen zu rekonstruieren (s. 4.3) und entwickel-
Synchronie vs. Diachronie: Diese wichtige ter- ten dabei erstmals systematisch theoretische und
minologische und methodologische Unterschei- methodische Standards, die eine wissenschaftliche
dung wurde von Ferdinand de Saussure eingeführt Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache erlaub-
(dessen posthum publiziertes Werk Cours de lingu- ten. Die historisch-vergleichende Sprachwissen-

Zur Vertiefung

Kontinuität und Wandel


Interessante Aspekte der historischen Linguistik ergeben sich aus generelleren Fragen nach Kontinuität und
Wandel in der Sprache. Betrachtet man die (in einem engeren Sinne) sprachlichen Ebenen, so stellt man fest,
dass sie unterschiedlich anfällig für Wandel sind: Auf der Lautebene findet mehr Wandel statt als in der Mor-
phologie, die sich wiederum häufiger als die Syntax verändert – was Longobardi (2001) veranlasst hat, für die
Syntax ein Trägheitsprinzip (principle of inertness) zu postulieren. Semantischer Wandel beschränkt sich wohl
weitgehend auf Wortbedeutungen (bzw. die Bedeutung von Redewendungen), spielt aber bei Grammatikalisie-
rung in Form semantischer Ausbleichung eine wichtige Rolle.

121
4.2
Sprachgeschichte
Sprachwandel
und seine Ursachen

schaft war fast im gesamten 19. Jh. die fortschritt- deren gebildet wurde. Nach ihrer Vorstellung gab
lichste linguistische Disziplin. Einen Höhepunkt es nur zwei Arten von regelmäßigem Sprachwan-
ihrer Entwicklung stellt die Schule der Junggram- del, nämlich lautgesetzlichen und analogischen
matiker dar, die von Forschern wie Karl Brug- (s. 4.4.1.2 und 4.5.3).
mann, Hermann Osthoff, Hermann Paul und an-

4.2 | Sprachwandel und seine Ursachen


4.2.1 | Wer ändert Sprachen: Erwachsene, Grammatik erwirbt (Lightfoot 2006; Kroch 2001;
Jugendliche, Kinder? Roberts 2007 u. v. a.).
Die beiden Annahmen widersprechen sich
Es ist eine grundlegende Eigenschaft natürlicher nicht grundsätzlich, insbesondere setzt die zwei-
Sprachen, dass sie sich ständig ändern. Solange sie te eigentlich voraus, dass Änderungen auch in
leben, d. h. solange sie im natürlichen Erstsprach- der Erwachsenensprache auftreten, die dann be-
erwerb erworben und in der alltäglichen Kommu- wirken, dass Kinder eine (minimal) andere Gram-
nikation benutzt werden, verändern sie sich. Nur matik erwerben als ihre Eltern. Allerdings sind
tote Sprachen (wie die klassische Schulsprache dabei zwei wichtige Differenzierungen zu ma-
Latein) verändern sich nicht mehr. chen zwischen:
Auslöser für Sprachwandel: In der historischen N Sprach- und Grammatikwandel
Linguistik gibt es, vereinfacht gesagt, zwei unter- N Entstehung und Ausbreitung von Varianten
schiedliche Auffassungen darüber, wer Sprach- Sprachwandel in einem weiteren Sinne erfasst
Wer ändert wandel auslöst: Erwachsene oder Kinder. Einer- Veränderungen auf allen sprachlichen Ebenen,
Sprache? seits wird angenommen, dass Sprachwandel in d. h. auch phonologischen und lexikalischen Wan-
der Erwachsenensprache auftritt, hervorgerufen del. Rein quantitativ bilden diese beiden das Gros
durch mehr oder minder bewusste sprachliche In- an Variation und damit an möglichen Veränderun-
novationen oder unbewusst durch Unsichtbare- gen. Es bestreitet niemand, dass beispielsweise
Hand-Prozesse (vgl. Keller 1990). Die Grundüber- Wortschatzwandel hauptsächlich in der Erwach-
zeugung geht auf den Soziolinguisten William senensprache vorkommt. Die Aufnahme und
Labov zurück: Sprache ist kein homogenes Gebil- Verbreitung von Fremdwörtern hat nichts mit
de, sondern gekennzeichnet durch die Existenz Spracherwerb zu tun, sondern ist eine Sache er-
von Variation, die unter anderem sozial bedingt wachsener Sprecher (wozu selbstverständlich
ist, d. h. soziale Schichten unterscheiden sich auch auch Jugendliche gehören). Es sind Veränderun-
sprachlich. Sprachwandel entsteht dadurch, dass gen dieser Art, die am augenfälligsten sind und
sich einige Varianten z. B. aus Prestigegründen daher meistens ins Bewusstsein der Sprecher drin-
durchsetzen und zur allgemeinen Norm werden, gen. Einer öffentlichen Wahrnehmung weniger
während andere verschwinden. zugänglich sind bereits Ausspracheveränderun-
Auf der anderen Seite findet sich die Auffas- gen sowie vor allem der Grammatikwandel, also
sung, dass v. a. Grammatikwandel im Wesentli- Veränderungen im Bereich von Flexionsformen
chen Resultat kindlichen Spracherwerbs sei. Der und syntaktischen Regeln.
Zusammenhang von Spracherwerb und Sprach- Grammatikwandel ist den Sprechern in der
wandel wurde zum ersten Male explizit von Her- Regel nicht bewusst: Die Herausbildung der bei-
mann Paul formuliert: »Es liegt auf der Hand, dass den charakteristischsten Eigenschaften der deut-
die Vorgänge bei der Spracherlernung von aller- schen Syntax, der Verbzweitstellung und der
höchster Wichtigkeit für die Erklärung der Verän- asymmetrischen Verbstellung im Althochdeut-
derung des Sprachusus sind, dass sie die wichtigs- schen (s. 4.6.1.1), ist sicher nicht Resultat einer
te Ursache für diese Veränderungen abgeben« mehr oder minder bewusst vorgenommenen Aus-
(Paul 1909, S. 34). In neuerer Zeit gehört diese Vor- wahl aus einer Menge von Varianten – ebenso we-
stellung zu den Grundannahmen der generativen nig wie darin eine Entwicklung hin zu größerer
Linguistik: Sprachwandel wird dadurch initiiert, Verarbeitungsökonomie gesehen werden kann.
dass jede neue Generation von Sprachlernern eine
von der Elterngeneration minimal abweichende

122
4.2
Sprachgeschichte
Externe Ursachen

4.2.2 | Interne Ursachen gularform (z. B. durch Hinzufügung eines Mor-


phems) gebildet wird – und nicht umgekehrt.
Sprachwandel wird häufig durch interne Ursachen Gibt es nun in einer Sprache mit dem Dual (Zwei- Abbau von
ausgelöst, die im Sprachsystem selbst begründet zahl) noch einen dritten Wert für Numerus, wäre Markiertheit
sind. Veränderungen in einem Teilbereich des dieser im Vergleich zum Plural der markierte Wert
Sprachsystems sind bedingt durch Veränderungen und der Plural der unmarkierte – dieser bliebe
in einem anderen Teilbereich des Sprachsystems: aber im Vergleich zum Singular weiterhin mar-
So können Veränderungen der Morphologie (z. B. kiert. Sprachwandel führt nun häufig zu einem
der Flexion) durch phonologische Veränderungen Abbau von Markiertheit: So war im Althochdeut-
ausgelöst werden. schen bei den Personalpronomen der 3. Pers.
mask. die Dativform im Singular mit imo/u zwei-
silbig, im Plural mit im (bzw. in) dagegen nur
Beispiel: Abschwächung althochdeutscher
einsilbig. Diese der natürlichen Markiertheit wi-
Vokale zu //
dersprechenden Verhältnisse haben sich im Laufe
Im Neuhochdeutschen (Nhd.) kann die Plural-
des Mittelhochdeutschen umgekehrt, und heute
form Tage für Nominativ, Akkusativ und Geni-
lauten die Formen ihm und ihnen, womit die Plu-
tiv stehen, während im Althochdeutschen mit
ralform morphologisch aufwendiger ist als die
taga für Nominativ/Akkusativ und tago für
Singularform.
Genitiv noch zwei unterschiedliche Kasusfor-
Die Verringerung von Markiertheit in einem
men existierten. Die Abschwächung von /a/
Bereich ist nicht selten verbunden mit einer Er-
und /o/ zu // war rein phonologisch bedingt
höhung in einem anderen Bereich: So erhöhen
(s. 4.4.3.2), doch hatte diese Entwicklung inso-
phonologische Veränderungen häufig die mor-
fern Auswirkungen auf die Morphologie, als
phologische Irregularität und machen Flexions-
sich die Anzahl der morphologisch distinkten
paradigmen dadurch weniger transparent. Der
Kasusflexionen reduzierte – ob damit eine Ver-
sog. grammatische Wechsel, der aufgrund des
änderung im System der Kasus einherging, ist
Verner’schen Gesetzes (s. 4.4.1.2) entstand und
jedoch eine andere Frage (s. 4.5.1.1).
sich in unterschiedlichen Stammformen einiger
Verben bis heute gehalten hat (z. B. schneid vs.
Sprachwandel muss allerdings nicht immer durch schnitt, zieh vs. zog), ist ein Beispiel dafür. Solche
Veränderungen auf einer anderen sprachlichen Irregularitäten können jedoch durch analogischen
Ebene ausgelöst werden. So scheinen die erste Ausgleich wieder abgebaut werden (s. 4.5.3.1).
und zweite Lautverschiebung (s. 4.4.1.2, 4.4.3.1)
durch keine vorangehende Veränderung motiviert
worden zu sein. Für solche quasi-naturgesetzli-
chen Lautveränderungen wurde daher der Begriff 4.2.3 | Externe Ursachen
Lautgesetz eingeführt (s. Vertiefungskasten in
4.4.1.2). Sprachkontakt ist ein häufiger Auslöser von
Markiertheit: Häufig kann Wandel v. a. auf der Sprachwandel. Damit eine Sprache A Einfluss auf
phonologischen und morphologischen Ebene eine Sprache B nehmen kann, muss in einer Spre-
auch als eine Veränderung in Richtung geringerer chergemeinschaft irgendeine Form von Zweispra-
Markiertheit hin beschrieben werden, wie dies in chigkeit vorherrschen, d. h. der Kontakt zweier
der sog. Markiertheitstheorie (bzw. Natürlich- Sprachen muss in den Köpfen der Sprecher statt-
keitstheorie) als genereller Auslöser postuliert finden. In früherer Zeit entstanden solche Konstel-
wird. Der Begriff ›markiert‹ meint, dass bei gram- lationen häufig durch Eroberungen, so dass zwei
matischen Merkmalen wie Person, Numerus, Ka- Sprachgemeinschaften in eine räumliche Koexis-
sus, Tempus usw. immer ein Wert unmarkiert ist, tenz gerieten. Die Sprache der politisch dominan-
d. h. ›normal‹/unauffällig, häufiger vorkommend ten Schicht wird als Superstrat bezeichnet, die der
usw., (der) andere Wert(e) dagegen markiert, dominierten als Substrat. Je nach Beeinflussungs-
d. h. ›speziell‹/auffällig, seltener, aufwendiger, richtung spricht man dann von Substrat- oder Su-
usw. Bei Numerus z. B. gilt der Singular als un- perstrateinfluss.
markiert und der Plural als markiert. In den Spra- Bilingualismus (die Beherrschung zweier Spra-
chen findet dies dadurch seinen Ausdruck, dass chen) ist die Voraussetzung dafür, dass sich Spra-
die Pluralform in der Regel auf der Basis der Sin- chen gegenseitig beeinflussen können bzw. eine

123
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

Zur Vertiefung

Das Eisbergprinzip
Die menschliche Sprache ist ein komplexes, hoch strukturiertes Gebilde, und die für die Sprachwissenschaft re-
levanten Aspekte sind meistens abstrakter Natur, d. h. Strukturen und Merkmale. Wie wir bereits kennengelernt
haben, lassen sich komplexe sprachliche Ausdrücke formal als Phrasenstrukturen darstellen und sprachliche
Basiseinheiten wie Phoneme oder Morpheme über ihre Merkmale definieren. Sprache ähnelt in gewisser Weise
einem Eisberg, bei dem sich nur ein Achtel über Wasser, sieben Achtel dagegen unter Wasser befinden: Auch
die Sprache verfügt über einen subaquatischen Bestandteil und es ist dieser, der für die Linguistik, auch die his-
torische, die größte Relevanz besitzt. Diese Einsicht folgt einer Grundüberzeugung, die im Bereich der Syntax
vor allem der generativen Tradition geschuldet ist (exemplarisch vgl. Chomsky 1995; Uriagereka 2002), sie bil-
det aber in der modernen Phonologie bereits seit Trubetzkoy die Basis für die Definition des Phonems als Bün-
del distinktiver Merkmale (s. Kap. II.2.1.3.1).
Das Eisbergprinzip sollte insbesondere aus zwei Gründen auch in der historischen Linguistik beachtet werden:
Es erlaubt angemessenere Beschreibungen und Erklärungen von Sprachwandel und die Bestimmung dessen,
was interessante Phänomene sind. Im Kontrast dazu ist in Deutschland immer noch weit die Ansicht verbreitet,
dass Sprachgeschichte »nur im Zusammenhang mit außersprachlichen Phänomenen« (Schmidt 2007, S. 1) be-
schrieben und erfasst werden könne (etwa kultur- und sozialgeschichtliche Entwicklungen). Daneben existieren
auch noch rein verwendungsbasierte (usage based) Erklärungsansätze, sie erfreuen sich zurzeit großer Beliebt-
heit (Nübling u. a. 2006).

Mehrsprachigkeit Sprache die andere. Das Ausmaß der sprachlichen Diglossie ist eine etwas abgeschwächte Form
und Sprachwandel Kompetenz ist normalerweise unterschiedlich für von Bilingualismus. Diglossie liegt vor, wenn
beide Sprachen: Eine Sprache ist gewöhnlich die zwei Varietäten derselben Sprache funktional und
Muttersprache und die andere eine später und medial unterschiedliche Nischen besetzen. So
vielleicht nur unvollkommen erlernte Zweitspra- war es früher üblich (und ist es heute in der
che, wobei diese dann für die folgende Kinderge- Deutschschweiz noch so), dass für die mündlich-
neration auch zur ersterworbenen Muttersprache informelle Alltagskommunikation Dialekte be-
werden kann. Damit ist eine ideale Voraussetzung nutzt wurden, während in formellen Kommunika-
für Sprachwandel gegeben, denn der sprachliche tionssituationen die (meist auch nur geschriebene)
Input für die Lernergeneration ist eine von der El- Standardsprache Verwendung fand. Auch hier
terngeneration nur unvollkommen beherrschte kommt es zu gegenseitigen Beeinflussungen, in-
Zweitsprache. In solch intensiven Sprachkontakt- dem z. B. dialektale Konstruktionen wie der pos-
konstellationen können selbst zentrale Bereiche sessive Dativ (dem Vater sein Haus) Eingang in
der Grammatik beeinflusst werden. Man vermutet den (gesprochenen) Standard finden können,
z. B., dass sich das Englische unter skandinavi- während der Einfluss des Standards bewirkt, dass
schem Einfluss von einer Sprache mit der Abfolge im Dialekt bestimmte Merkmale abgebaut wer-
Objekt > Verb zu einer mit der umgekehrten Ab- den, z. B. die Mehrfachnegation.
folge Verb > Objekt entwickelt hat (Trips 2001).

4.3 | Herkunft und Periodisierung des Deutschen


4.3.1 | Herkunft und Verwandtschaft Dialektverband als eine einheitliche Sprache war).
Die geographische Verteilung reichte ursprünglich
Indogermanisch: Das Deutsche gehört als germa- von Indien bis Europa. Als Bezeichnungen, die auf
nische Sprache zur indogermanischen Sprachfami- diese regionale Verbreitung Bezug nehmen, sind
lie. Darunter versteht man eine sehr große Gruppe Indogermanisch und heute vor allem Indoeuropä-
miteinander verwandter Sprachen, die alle auf isch üblich. Die folgende Übersicht zeigt die ein-
eine gemeinsame Vorläufersprache zurückgehen, zelnen Zweige dieser Sprachfamilie:
das Ur- oder Protoindogermanische (was eher ein

124
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Verwandtschaft

Keltisch
Italisch/Romanisch Burgundisch
Hethitisch Ostgermanisch Gotisch
Illyrisch Wandalisch Neuisländ.
Griechisch Altisländisch Färöisch
Germanisch Nordgermanisch Altnordisch Altnorwegisch Norwegisch
Lykisch Altschwedisch Schwedisch
Urindogermanisch Lydisch Altdänisch Dänisch
(Protoindoeuropäisch) Phrygisch Altfriesisch Neufriesisch
Tocharisch Altenglisch Mittelenglisch Neuenglisch
Baltisch Westgermanisch Altsächsisch Mittelniederdt. Neuniederdt.
Slawisch Flämisch
Albanisch Altniederfränkisch Mittelniederländ. Niederländisch
Thrakisch Afrikaans
Pelasgisch Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdt.
Armenisch
Iranisch
Indisch Abbildung 1:
Indoeuropäische
Sprachfamilie

Im Lexikon zeigen sich signifikante Gemeinsam- usw., die auf einen gemeinsamen Ursprung schlie-
keiten z. B. bei Bezeichnungen für Haustiere, Stoff- ßen lassen (s. Beispiel unten).
und Verwandtschaftsbezeichnungen, Zahlwörter Phonologie: Eine Besonderheit des Indogerma-
nischen sind die sog. Laryngale, eine Klasse von
Zur Vertiefung später geschwundenen Konsonanten, deren Exis-
tenz erstmals von Saussure 1879 postuliert wurde,
Anfänge der Indogermanistik was 1917 durch die Entzifferung des Hethitischen
Die Verwandtschaft so verschiedener Sprachen nachträglich empirisch gestützt werden konnte.
wie Sanskrit (die klassische Sprache der altindi- Lautschriftlich werden sie als h1, h2, h3 notiert. Die
schen Kultur), Latein, Griechisch und anderer ist Laryngale, bei denen es sich phonetisch wohl um
seit dem Ende des 18. und dann vor allem seit dorsale Reibelaute handelt (Speyer 2007, S. 35),
dem 19. Jh. Gegenstand der sich entwickelnden sind geschwunden, bevor die schriftliche Überlie-
historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. ferung einsetzte. Da sie in der Regel aber ihre laut-
Sanskrit geriet im 18. Jh. in den Fokus des Inter- liche Umgebung beeinflusst haben, kann man re-
esses europäischer Gelehrter wie William Jones, konstruieren, wo welcher Laryngal vorgekommen
der als erster auf die Verwandtschaft mit den sein muss. Beispielsweise haben Laryngale, die
klassischen Sprachen Griechisch und Latein auf- postvokalisch standen, häufig eine Längung des
merksam machte. Das 19. Jh. war dann das Jahr- vorausgehenden Vokals bewirkt.
hundert der historisch-vergleichenden Sprachwis-
senschaft, die sich zunächst als Indogermanistik
entwickelte. Franz Bopp veröffentlichte 1816 Beispiel: Zahlwort ›3‹
seine bahnbrechende Untersuchung Über das Indogermanische Sprachen:
Konjugationssystem der Sanskritsprache in Ver- Deutsch: drei – Englisch: three – Gotisch: þreis –
gleichung mit jenem der griechischen, lateini- Lateinisch: trƝs – Griechisch: treƭs – Russisch:
schen, persischen und germanischen Sprache, mit tri – Litauisch: trýs – Altindisch: tráyas
der erstmals wissenschaftlich exakt die grundle- Nicht-Indogermanische Sprachen:
genden Übereinstimmungen im Bereich der ver- Baskisch: hiru – Ungarisch: három – Finnisch:
balen Flexion nachgewiesen wurden. kolme – Türkisch: üç – Georgisch: sami-i

125
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

Morphologie: Neben dem Ablaut ist die dreitei- schläge. Eine weitverbreitete Einteilung unter-
lige Struktur komplexer Wörter charakteristisch: scheidet für die Zeit der Spätantike drei Gruppen:
Komplexe Wörter bestehen aus einer Wurzel, die 1. Ostgermanisch: Gotisch, Burgundisch und
zusammen mit einem Stammbildungssuffix den Wandalisch bildeten den heute ausgestorbenen
Stamm bildet, an den dann das Flexionselement Zweig. Während Burgundisch und Wandalisch
antritt (s. 4.5.3.2). Flexivisch war das Indogerma- schon in der Spätantike untergingen, hat Gotisch
nische wesentlich reichhaltiger als viele der mo- in der Form des Krimgotischen wohl bis in die frü-
dernen Abkömmlinge. So verfügte es über acht he Neuzeit (17./18. Jh.) überlebt. Gotisch ist dieje-
Kasus: Neben Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusa- nige ostgerm. Sprache, für die größere Textzeug-
tiv und Vokativ gab es noch Lokativ (für Ortsanga- nisse überliefert sind. Die Bibelübersetzung des
ben), Ablativ (für Herkunftsangaben) und Instru- westgotischen Bischofs Wulfila aus dem 4. Jh. ist
mental (für die Angabe des Grundes bzw. des der früheste germanische Text (außerhalb der
Instruments, mit dem eine Handlung ausgeführt Runenüberlieferung). Aufgrund dieser Überliefe-
wird) (vgl. Speyer 2007, S. 68). rungslage war Gotisch für die Rekonstruktion des
Die germanischen Sprachen bilden einen Zweig Protogermanischen äußerst wichtig.
des Indogermanischen, der sich lautlich durch die 2. Nordgermanisch: Altnordisch war die Vor-
Das Germanische erste oder germanische Lautverschiebung heraus läufersprache der heutigen skandinavischen Spra-
löste (s. 4.4.1.2). Unmittelbar vor der Zeitenwende chen, sie wurde ursprünglich in Dänemark, Süd-
siedelten die Germanen in den Tiefebenengebieten schweden und Südnorwegen gesprochen. Aus ihr
im heutigen Norddeutschland und Polen sowie in haben sich einerseits die inselskandinavischen
Südskandinavien, von wo aus sie sich während Sprachen Isländisch und Färöisch sowie die fest-
der Völkerwanderung nach Südosten, Süden und landskandinavischen Sprachen Norwegisch, Schwe-
Westen ausbreiteten. Die ältesten Textzeugnisse disch und Dänisch entwickelt. Die festlandskandi-
für das Germanische sind durch Runeninschriften navischen Sprachen sind auf dialektaler Ebene
überliefert. Die früheste Runenschrift (das ältere gegenseitig in einem solchen Ausmaß verständlich,
Futhark) entstand im 1. Jh. unserer Zeitrechnung, dass sie ein gemeinsames Dialektkontinuum bil-
die ältesten erhaltenen Denkmäler stammen aus den. Syntaktisch und morphologisch haben sie
der Zeit um 200 n. Chr. Welche Sprache sie wieder- sich (zusammen mit Englisch und Afrikaans) am
geben, ist nicht ganz einfach zu bestimmen. Ver- weitesten vom Protogermanischen entfernt. So ha-
mutlich handelt es sich um ein noch nicht in Ein- ben die Verben jede Personen- und Numerusmar-
zelsprachen ausdifferenziertes Germanisch, auch kierung verloren. Eine syntaktische Besonderheit
wenn es das Proto- oder Gemeingermanische des Festlandskandinavischen ist der definite Arti-
selbst nicht mehr repräsentiert. Heute wird die kel, der wie ein Suffix an das Nomen angehängt
Sprache der meisten ältesten Inschriften als Nord- wird (z. B. hus-et ›das Haus‹). Das Isländische da-
westgermanisch bezeichnet (Düwel 2008). gegen ist die konservativste germanische Sprache,
Abbildung 2: Für die Einteilung der germanischen Einzel- zumindest was die Morphologie betrifft.
Älteres Futhark sprachen gibt es in der Forschung mehrere Vor- 3. Westgermanisch: Die dritte Gruppe germani-
scher Sprachen umfasst heute im Wesentlichen die
Sprachen Englisch, Niederländisch, Friesisch,
Deutsch und Afrikaans. Die kontinentalwestgerm.
Sprachen Niederländisch, Friesisch und Deutsch
(wobei bei Deutsch weiter zwischen Hoch- und
Niederdeutsch zu unterscheiden ist) bilden ein
Dialektkontinuum, das sich syntaktisch unter an-
derem durch die generelle V2-Beschränkung
(s. 4.6.1.1) vom Englischen unterscheidet. Eine
morphosyntaktische Besonderheit sind flektierte
Konjunktionen: In manchen Dialekten kongruiert
also nicht nur das finite Verb mit dem Subjekt, son-
dern auch die Konjunktion. Dieses Phänomen tritt
besonders häufig in der 2. Sg. auf (wennste meinst),
aber nicht nur dort (Weiß 2005b). Afrikaans ist ein
Abkömmling des Niederländischen, das sich in

126
4.3
Sprachgeschichte
Periodisierung
und Binnengliederung

Südafrika bei den dort seit dem 17. Jh. siedelnden wird, hat es nicht immer gegeben. Am Anfang, zur
Buren entwickelt hat. Eine syntaktische Besonder- Zeit des Althochdeutschen, standen verschiedene
heit des Afrikaans zeigt sich in der Negation (Bibe- Stammesdialekte, die über die politische Einheit
rauer 2009), weil es die Negationspartikel nie erst allmählich zu einer Sprachgemeinschaft wur-
doppelt setzt (vgl. 1a) – was sich innerhalb der Ger- den. Zwar gab es bereits in ahd. Zeit den lat. Be-
mania sonst nur noch im Mocheno, einem in Nord- griff theodiscus ›deutsch‹ sowie um 1000 davon Althochdeutsch
italien gesprochenen bairischen Sprachinseldialekt, herkommend ahd. diutisk, doch war damit zu-
nachweisen lässt (Weiß 1998), vgl. (1b): nächst nur die Bedeutung ›volkssprachlich, nicht-
lateinisch‹ verbunden, erst später entwickelte sich
(1) a Jan eet nie kaas nie die heutige Bedeutung. Die Stammesdialekte, die
Jan isst nicht Käse nicht auf dem Sprachgebiet des heutigen Deutschen zu
›Jan isst keinen Käse‹ ahd. Zeit gesprochen wurden, lassen sich je nach-
b i han de lang neamar (net) tsehen net dem, wie stark sie von der zweiten Lautverschie-
›Ich habe dich lang nimmer (nicht) gesehen nicht‹ bung (s. 4.4.3.1) betroffen waren, in ober-, mittel-
und niederdeutsche einteilen. Nicht betroffen von
Gemeinsamkeiten: Die drei Gruppen germani- der Lautverschiebung waren Altsächsisch und
scher Sprachen weisen auch untereinander unter- Niederfränkisch.
schiedliche Gemeinsamkeiten auf. Die Gemein- Aus dem Altsächsischen haben sich die meisten
samkeiten zwischen Nord- und Ostgermanisch der heutigen niederdt. Dialekte (z. B. West-, Ost-
erklärt man damit, dass beide Gruppen nach Ab- fälisch, Niedersächsisch, Brandenburgisch) ent-
spaltung des Westgermanischen noch eine Einheit wickelt, ein kleinerer Teil geht auf das Nieder-
bildeten, während die Übereinstimmungen des fränkische zurück. Mit dem Begriff Altsächsisch
Westgermanischen mit Nord- oder Ostgermanisch bezeichnet man die Periode bis zum Anfang des
auf späteren Sprachkontakt zurückgeführt werden. 12. Jh.s, danach spricht man von Mittelnieder-
Eine gotonordische Gemeinsamkeit ist der Erhalt deutsch. An größeren as. Denkmälern sind v. a.
der ursprünglichen Flexionsendung der 2. Pers. Sg. der Heliand sowie die as. Genesis überliefert, letz-
Prät. -t der starken Verben: vgl. anord., got. namt tere allerdings nur sehr bruchstückhaft.
›du nahmst‹ im Unterschied zu ahd. nami, deren Das Fränkische weist schon zu ahd. Zeit eine
i-Endung eine westgerm. Neuerung darstellt. Diese beträchtliche Diversifikation auf und hat an allen
i-Endung ist ein wichtiges Argument dafür, dass drei Dialektgruppen Anteil. Niederfränkisch war
das Westgermanische tatsächlich einmal eine ein- nicht von der Lautverschiebung betroffen, es be-
heitliche Sprachgruppe bildete. Ebenso exklusiv ginnt nördlich der sog. Ürdinger Linie (s. 4.4.3.1)
westgermanisch ist die Konsonantengemination und bildet in der Hauptsache die Grundlage der
vor j (as. settan, ahd. sezzen vs. got. satjan, anord. Entwicklung des Niederländischen (weswegen
setja). Mit dem Altnordischen teilt das Westgerma- Altniederfränkisch und Altniederländisch manch-
nische z. B. die Entwicklung von germ. ē >ā mal synonym verwendet werden). Das Mittelfrän-
(anord. láta, as. lâtan, ahd. lâzzan vs. got. lêtan). kische, das sich ab dem Mittelhochdeutschen in
Übereinstimmungen mit dem Gotischen betreffen Ripuarisch und Moselfränkisch gliedert, hat die
dagegen nur Teile des Westgermanischen: So ist Lautverschiebung nur teilweise mitgemacht (s. die
etwa im Gotischen und im Hochdeutschen das n Ausführungen zum Rheinischen Fächer in 4.4.3.1).
vor stimmlosen Frikativen wie /s/ erhalten geblie- Das Rheinfränkische gehört ebenfalls zu den mit-
ben, so dass die entsprechende Form des Prono- teldt. Dialekten, das Süd- sowie das Ostfränkische
mens der 1. Pers. Pl. im Dat./Akk. got.-ahd. uns dagegen zu den oberdt. Ostmitteldt. Dialekte sind
lautet, aengl.-as. jedoch ûs. zu ahd. Zeit übrigens noch nicht greifbar, da sie
entweder wie das Thüringische nicht überliefert
oder wie auch die ostniederdt. Dialekte das Ergeb-
nis der später einsetzenden Ostkolonisation sind.
4.3.2 | Periodisierung und Binnen- Alemannisch und Bairisch sind weitere ober-
gliederung deutsche Dialekte, die bereits im Ahd. existierten,
auch wenn sie sich noch nicht so deutlich unter-
1. Althochdeutsch (Ahd.) (ca. 600–1050 n. Chr.): schieden, wie das heute der Fall ist. In beiden Dia-
Ein einheitliches Deutsch, wie es heute weitge- lekten ist die ahd. Lautverschiebung am stärksten
hend in Hamburg wie in München gesprochen durchgeführt. Charakteristisch ist insbesondere

127
4.3
Sprachgeschichte
Herkunft und
Periodisierung des
Deutschen

die Affrikate kch, die heute z. B. noch im Schwei- zungsphase um 1250, vermutlich aus dem Nieder-
zerdeutschen vorkommt: Dort wird Zucker als ländischen, überliefert v. a. im zwischen 1455–75
[QP3HU’] ausgesprochen. entstandenen Heidelberger Codex Palatinus ger-
Überlieferung: Das ahd. Textkorpus ist insge- manicus 147 (= P), der aus drei Teilen besteht,
samt nicht sehr umfangreich, die meisten Texte wovon nur der erste Teil (P I) auf die erste Überset-
sind Übersetzungen aus dem Lateinischen und re- zungsphase zurückgeht; P II und III sind deutlich
ligiöse Texte – was nicht verwundert, da sie über- jünger). Auch Sachtexte wie Konrads von Megen-
wiegend aus Klöstern stammen. Die wichtigsten berg Buch der Natur (um 1350), Predigten (z. B.
davon sind Fulda, Lorsch, Murbach, Reichenau, Bertolds von Regensburg Predigten aus dem
St. Gallen, Regensburg und Wessobrunn. Der ältes- 13. Jh.) oder philosophisch-theologische Literatur
te umfangreiche Text ist der sog. ahd. Isidor: Dabei (Meister Eckhart, Heinrich Seuse) liegen vor.
handelt es um die Übersetzung des Traktates De Das Mhd. unterscheidet sich vom Ahd. am au-
fide catholica ex veteri et novo testamento contra genfälligsten zunächst durch seine phonologische
Iudeos des Isidor von Sevilla, die um 800 entstan- Gestalt: Durch die Nebensilbenabschwächung
den ist. Aus dem 9. Jh. liegen zwei größere Texte (s. 4.4.3.2) entwickelten sich alle Vokale in unbe-
vor: Der ahd. Tatian, eine vor 850 in Fulda entstan- tonten Silben zu Schwa oder verschwanden ganz
dene Übersetzung der Evangelienharmonie des Sy- (z. B. ahd. uueraldi – mhd. werlte ›(der) Welt‹).
rers Tatian, sowie Otfrid von Weißenburgs Evan- Dies wirkte sich auch morphologisch aus, da im
gelienharmonie (863–871), die erste größere Ahd. noch unterschiedliche Flexionsmarker zu-
selbständige Dichtung in der Volkssprache. Otfrid sammen fielen (z. B. ahd. 2. Sg. Präs. Ind. suochist
ist der erste namentlich bekannte Autor der deut- vs. Konj. suochēst > mhd. Ind./Konj. suochest).
schen Literatur, der bedeutendste ahd. Autor ist 3. Frühneuhochdeutsch (Fnhd.) (1350–1650):
aber Notker von St. Gallen († 1022), der in Die Tendenz zur Textsortendiversifikation verstärkt
spätahd. Zeit mehrere umfangreiche und kom- sich weiter, und die Textsorten, nicht zuletzt beför-
mentierte Übersetzungen vorgelegt hat, u. a. von dert durch Erfindung des Buchdrucks, nehmen be-
Boethius’ De consolatione Philosophiae oder eine trächtlich zu (z. B. Flugschriften, Sachtexte, Briefe,
Psalterübersetzung. Einziger Vertreter einer germa- Reisebeschreibungen). Im Frühneuhochdeutschen
nischen Heldendichtung ist das Hildebrandslied, setzt die Entwicklung der nhd. Schriftsprache ein,
ansonsten haben wir nur einige Zauber- und Se- aus der das Hochdeutsche, wie es heute gespro-
genssprüche als Zeugnisse einer volksliterarischen chen wird, hervorging, die aber keine unmittelbare
Tradition. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des ahd. Fortsetzung der mhd. Literatursprache ist. Nach
Wortschatzes ist in Glossen überliefert, also in Weiß (2005a) vollzieht sich die Herausbildung der
Übersetzungshilfen zu lat. Texten (zu den Perioden dt. Standardsprache in vier Stadien:
und Textzeugnissen vgl. Schmid 2009, S. 3–56; N sekundär gelernte, nur schriftlich existierende
s. Kap. III.3). und ausschließlich zum Schreibgebrauch ge-
2. Mittelhochdeutsch (Mhd.) (1050–1350): Die schaffene Sprache
Textüberlieferung ist wesentlich größer, vielfältiger N Sprache, die sich (unter dem Postulat der Ver-
und selbständiger als noch im Ahd. Neben höfi- ständlichkeit) an der Mündlichkeit orientiert
scher Dichtung in Form umfangreicher Epen (Ni- N in mündlicher (Alltags-)Kommunikation ver-
belungenlied, Werke von Wolfram von Eschen- wendete Sprache
bach, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg N als ›echte‹ Muttersprache ersterworbene Sprache
u. a.) und Lyrik (Der von Kürenberg, Heinrich von 4. Neuhochdeutsch (seit 1650) repräsentiert das
Morungen, Reinmar, Walther von der Vogelweide, dritte und vierte Stadium dieses Prozesses. Seit
usw.) setzt Prosaliteratur in einem erkennbaren etwa Mitte des 20. Jh.s wird vermehrt nicht mehr
Umfang ein. Der erste Prosaroman der deutschen ein Dialekt als Erstsprache erworben, sondern eine
Literatur ist der sog. Prosa-Lancelot (erste Überset- regionale Varietät des Hochdeutschen.

128
4.4
Sprachgeschichte
Arten von Lautwandel

4.4 | Phonologischer Wandel


4.4.1 | Arten von Lautwandel Fall spricht man von Kontaktassimilation. Dage- Angleichung von
gen sind bei der Fernassimilation die beiden Laut- Lautsegmenten
4.4.1.1 | Konditionierter Wandel segmente nicht unmittelbar benachbart. Ein Bei-
spiel aus der deutschen Sprachgeschichte ist der
In Kapitel II.2.1.3.2 wurden bereits einige phono- i-Umlaut: Die velaren, d. h. hinteren und zentra-
logische Prozesse beschrieben, die auch für Laut- len Vokale und Diphthonge wurden umgelautet,
wandel verantwortlich sind. Bei den meisten die- wenn in der folgenden Silbe [i], [i:] (oder [j]) vor-
ser Prozesse wird die Veränderung durch den kamen. Die Assimilation besteht dabei in der An-
jeweiligen Lautkontext ausgelöst, weswegen man gleichung an das Merkmal [vorn] des auslösenden
auch von konditioniertem Lautwandel spricht. Be- Vokals [i/i:] (oder des Halbvokals [j]) – daher wird
sonders gut verdeutlichen lässt sich dies an der der Vorgang in der Literatur auch als fronting oder
Assimilation. Palatalisierung bezeichnet.

Definition
Beispiel: i-Umlaut
  Assimilation ist die Angleichung eines Davon war zunächst nur [a] betroffen, das ab
Lautsegments an ein anderes hinsichtlich dem 8. Jh. regelmäßig umgelautet wurde, was
bestimmter distinktiver Merkmale. auch in der Schreibung Berücksichtigung fand.
Dieser sog. Primärumlaut [a] > [e] (der vor
den Konsonanten -ht-, -hs- zunächst noch un-
Assimilation tritt in verschiedenen Formen auf. terblieb) findet sich z. B. in den Flexionspara-
Erstens kann man je nach Grad der Angleichung digmen von Substantiven und Verben, wenn
zwischen partieller und totaler Assimilation unter- das Flexionselement ursprünglich ein [i]
scheiden. Beispiele für partielle Assimilation sind enthielt: vgl. gast – gesti, grabu ›(ich) grabe‹–
mhd. enbore, anebôz, wintbrâ > nhd. empor, Am- grebis ›(du) gräbst‹. Der Sekundärumlaut er-
boss, Wimper: Der alveolare Nasal [n] in den mhd. fasste dann den Rest der velaren Vokale (inklu-
Lexemen verändert sich zu einem bilabialen [m] sive der noch nicht betroffenen a-Laute) und
und gleicht sich damit im Artikulationsort an den Diphthonge, Beispiele sind u. a. folgende:
folgenden bilabialen Plosiv an, während die Diffe- a > ä (ahd. mahtig > mhd. mähtec)
renz in der Artikulationsart (Nasal vs. Plosiv) be- o > ö (ahd. holzir > mhd. hölzer)
stehen bleibt. In der Entwicklung von mhd. tump, u > ü (ahd. ubir > mhd. über)
zimber, lamp > nhd. dumm, Zimmer, Lamm liegt â > æ (ahd. tâti > mhd. tæte)
dagegen eine totale Assimilation vor, da die Plosi- ô > œ (ahd. skôni > mhd. schœne ›Schön-
ve [b] bzw. [p] an den vorangehenden Nasal assi- heit‹)
miliert wurden – hier wurde also auch die Artiku- û > iu (ahd. hûsir > mhd. hiuser)
lationsart angeglichen. Die beiden Beispielreihen ou > öu (ahd. troumen > mhd. tröumen)
illustrieren zugleich eine zweite Unterscheidung: uo > üe (ahd. fuori > mhd. füere ›führe‹)
Je nach Wirkungsrichtung lässt sich zwischen re-
gressiver und progressiver Assimilation differen-
zieren. In den ersten Beispielen wirkt die Assimila- Von Allophonen zu neuen Phonemen: Durch den
tion rückwärts, da das auslösende Segment dem Umlaut entstanden palatalisierte Allophone zu
betroffenen nachfolgt, während in der zweiten den velaren Vokalen und Diphthongen. Nicht ganz
Beispielreihe der Auslöser dem betroffenen Seg- klar ist, wann diese phonemisiert wurden, d. h.
ment vorangeht, d. h. die Assimilation wirkt vor- als neue Phoneme galten. Denn in der Schrift wur-
wärts. de der Sekundärumlaut zwar erst im Mhd. berück-
Alle Beispiele haben gemeinsam, dass auslö- sichtigt, er war aber in der gesprochenen Sprache
sendes und betroffenes Lautsegment unmittelbar vermutlich schon wesentlich länger existent. Man
benachbart sind (was auch für anebôz und wint- kann das deshalb vermuten, weil der phonologi-
brâ gilt, wenn man davon ausgeht, dass bei ane- sche Auslöser zum Zeitpunkt der Verschriftlichung
bôz der Laut [e] zuerst getilgt wurde (s. u.), und bereits entweder wie das [i/i:] zu Schwa abge-
bei wintbrâ auch [t] assimiliert wurde). In diesem schwächt oder wie der Halbvokal [j] ganz ge-

129
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

schwunden war. Primär- und Sekundärumlaut rarchie (s. Kap. II.2.1.3.3) auf und ist in vielen Dia-
könnten daher Produkt eines chronologisch ein- lekten des Deutschen als Abschwächung stimmlo-
heitlichen Prozesses gewesen sein, die nur zu un- ser Plosive eingetreten. Diese Laute, auch Fortes
terschiedlichen Zeiten graphisch erfasst wurden. bzw. Tenues genannt, wurden zu stimmhaften Plo-
Die durch Umlaut entstandenen Allophone wur- siven (Lenes, Medien) abgeschwächt. Es handelt
den graphisch erst dann als neue Phoneme mit sich dabei um ein Charakteristikum zahlreicher,
eigener Graphie wiedergegeben, als die umlaut- v. a. mittel- und oberdeutscher Dialekte, die als bin-
auslösenden Faktoren nicht mehr existierten. An- nendeutsche Konsonantenschwächung bekannt
sonsten wären einige Graphien mehrdeutig gewe- ist (Schirmunski 1962). Da bei Lenisierung die Posi-
sen: Bei Nichtbezeichnung des Umlautes hätten tion im Wort bzw. in der Silbe (initial, medial oder
ahd. skōni ›Schönheit‹ und skōno ›schon‹ beide final) eine Rolle spielt, ist anzunehmen, dass silben-
mhd. schône entsprochen. Den Primärumlaut, phonologische Faktoren relevant sind.
d. h. die Schreibung des umgelauteten /a/ als Elision: Abschwächungsprozesse können zur
<e>, erklärt man damit, dass hier das Umlaut- Tilgung von Lauten führen. Bei Vokalen unterschei-
produkt dem vorhandenen Phonem /e/ so ähnlich det man nach Tilgung in In- und Auslaut zwischen
war, dass es als Allophon zu diesem aufgefasst Synkope und Apokope. Im Deutschen war davon
wurde. in erster Linie das Schwa betroffen. So wurde unbe-
tontes Schwa zwischen haupt- und schwachbeton-
Definition ten Silben in Genitivformen synkopiert, was später
auch auf Nominativformen übertragen wurde (ab-
  Dissimilation nennt man die Differenzie- bet, abbtes > Abt, Abbtes). Regelmäßig apokopiert
rung von Lautsegmenten mit gleichen oder wurde Schwa bei zweisilbigen Substantiven in süd-
ähnlichen Merkmalen innerhalb eines deutschen Dialekten, die das auslautende Schwa
Lexems. sowohl im Singular wie auch im Plural verloren
haben. Im Bairischen heißt es daher z. B. Aff ›Affe‹,
Hos ›Hase‹ oder Oam ›Arm(e)‹.
Dissimilation ist meistens ein sporadischer Pro- Schwa-Tilgung ist wie die Nebensilbenab-
zess, der einzelne Lexeme betrifft. Ein Beispiel ist schwächung Teil eines silbenphonologischen Wan-
span. alma ›Seele‹, das sich aus dem lat. Lexem dels des Deutschen (s. 4.4.3.2), der in manchen
anima herleitet. Hier ist der erste Nasal zum Late- Dialekten zu einer drastischen Veränderung von
ral /l/ dissimiliert worden. Beispiele aus dem Deut- Wortformen geführt hat. So haben sich im Bairi-
schen sind mhd. mûrbere > mulbere ›Maulbeere‹ schen dreisilbige Partizipien in einigen Fällen zu
oder das Wort ›Kartoffel‹, das auf mhd. tartuffel einsilbigen entwickelt, wenn es nach der Schwa-
zurückgeht. Dissimilation kann aber auch wie die Synkope noch zu zusätzlichen Assimilationen kam:
Assimilation systematisch auftreten. Ein Beispiel Bei einer Form wie drong ›getragen‹ hat sich einer-
dafür ist das sog. Graßmann’sche Gesetz, das im seits /g/ an den Dental assimiliert (/gd/ > /dd/)
Sanskrit und im Altgriechischen produktiv war sowie andererseits /gn/ zu /ƾ/ entwickelt. Bei Kon-
(Bußmann 2002): Waren in einem Wort zwei oder sonanten kam Tilgung im Deutschen seltener vor
mehr aspirierte Plosive vorhanden, wurden alle bis und systematisch wohl nur in vereinzelten Dialek-
auf den letzten deaspiriert. Das wirkte sich z. B. bei ten. Als Beispiel kann wiederum das Bairische die-
reduplizierenden Verben aus, wenn die Wurzel mit nen, in dem bei einsilbigen Substantiven auslauten-
einem aspirierten Plosiv begann (griech. títhēmi de Obstruenten im Singular geschwunden sind
›ich setze, stelle‹ < idg. *dhídhēmi). (Weiß 2005c): Wai ›Weib‹, We ›Weg‹ oder Bo ›Bach‹.
Lenisierung oder Schwächung (engl. weakening) Auch diese Tilgung scheint silbenphonologisch mo-
ist ein weiterer Lautwandelprozess, der über einzel- tiviert zu sein, da Silben mit langem Vokal oder
ne Lautsegmente operiert, wovon Vokale wie Kon- Diphthong präferiert offene Silben sind und die
sonanten betroffen sein können. Im Deutschen Obstruenten in den zweisilbigen Pluralformen wie-
wurden Vokale in unbetonten Nebensilben im der auftauchen, wie z. B. Waiba ›Weiber‹ zeigt.
Übergang vom Ahd. zum Mhd. zu Schwa /‫ۑ‬/abge- Epenthese ist die Hinzufügung von Lautseg-
schwächt – was eine der auffallendsten phonologi- menten. So wurde im Westgermanischen vor den
schen Veränderungen darstellt (s. 4.4.3.2). Konso- Sonoranten /l, r, m, n/, die im Germanischen noch
nantenschwächung betrifft die Obstruenten, sie tritt silbisch waren, ein sog. Sprossvokal eingefügt, als
in verschiedenen Formen entlang der Sonoritätshie- diese ihre Silbischkeit verloren. Beispiele sind:

130
4.4
Sprachgeschichte
Arten von Lautwandel

ahd. fogal < *fugl, got. fugls, altn. fugl Erste Lautverschiebung
ahd. ackar vs. got. akrs
ahd. zeihhan vs. got. taikns Indogermanisch Germanisch
ahd. bodam < *budm Stl. Plosive: p – t – k f – Þ – x/h
Sth. Plosive: b – d – g p – t – k
Bei Konsonanten ist im Deutschen epenthetisch Asp. Plosive: bh – dh – gh b – d – g
das sog. »unorganische d/t«, z. B. im Auslaut von
jemand oder Saft (vgl. Meibauer u. a. 2007, S. 301). Beispiele für die Verschiebung stl. Plosive:
Auch im Inlaut kann Epenthese eintreten: So wird Griech. Lat. Ahd. Aengl.
im Bairischen bei Diminutivformen zwischen Na- p patếr pater fater fæder
sal und Liquid regelmäßig ein Dental eingescho- t treïs tres thriu Þrī
ben: Deandl ›Mädchen‹, Kandl ›Kännchen‹, Hendl k déka decem zëhan tēon
›Hähnchen‹, Mandl ›Männchen‹ (Weiß 2005c). (weitere Beispiele vgl. Schmidt 2007, S. 52)
Wie aus den Beispielen deutlich wurde, sind
Tilgung und Epenthese häufig silbenphonologisch
motiviert, d. h. sie machen aus einer markierten Beide Ausnahmen sind nun selbst wieder regulär
Silbenstruktur eine unmarkierte. Im Kontext der und widersprechen daher nur scheinbar der Aus-
Nebensilbenabschwächung (s. 4.4.3.2) kommen nahmslosigkeit von Lautgesetzen. Die erste Aus-
wir auf diesen Aspekt nochmals ausführlicher zu nahme erklärt sich dadurch, dass nach Obstruen-
sprechen. ten (wozu auch /s/ zählt) generell keine Verschie-
bung stl. Plosive stattfand. Mit anderen Worten:
Die Verschiebung trat nur ein, wenn kein Obstru-
4.4.1.2 | Unkonditionierter Wandel
ent vorausging. Mit einer phonologischen Regel
(Erste Lautverschiebung)
(s. Kap. II.2.1.3.2) könnte man das folgenderma-
Von den bisher besprochenen Lautveränderungen ßen formulieren:
waren einige beschränkt auf einzelne Lexeme,
während andere wie der i-Umlaut systematisch
[+plos, -sth] > [+frik] / [-obstr] __
auftraten. Solche systematischen Prozesse können
lies: ein stl. Plosiv wird zu einem (stl.)
auch eintreten, ohne durch die Lautumgebung
Frikativ, wenn der vorausgehende Laut
ausgelöst zu werden. Beispiele für unkonditionier-
kein Obstruent ist.
ten Lautwandel sind die beiden Lautverschiebun-
gen, die als Paradebeispiele für lautgesetzlichen
Wandel gelten (s. Vertiefungskasten zum Lautge-
setz, S. 132). Verner’sches Gesetz: Auch die zweite Ausnahme
Die erste oder germanische Lautverschiebung ist regulär, denn sie ist das Resultat eines weiteren
wird auf die Zeit zwischen 1200/1000–500/300 Lautgesetzes, das nach dem dänischen Linguisten
v. Chr. datiert und davon waren die idg. Obstruen- Karl Verner benannt ist. Es besagt, dass im Germa-
ten betroffen. Die stimmlosen (stl.), stimmhaften nischen stl. Frikative sth. wurden, wenn sie in sth.
(sth.) und aspirierten (asp.) Plosive wurden ver- Umgebung (z. B. zwischen oder nach Vokalen)
schoben zu stl. Frikativen, stl. Plosiven bzw. sth. vorkamen und die vorhergehende Silbe nicht be-
Plosiven/Frikativen. tont war. Betroffen waren davon die durch die
Die drei Reihen idg. Obstruenten wurden regel- Lautverschiebung entstandenen stl. Frikative (d. h.
mäßig und systematisch verschoben. Es gibt je- /f, Þ, x/h/) sowie das aus dem Indogermanischen
doch zwei Ausnahmen: Erstens unterblieb die Ver- ererbte *s. Damit erklärt sich auch, warum griech.
schiebung stl. Plosive nach /s/ (vgl. lat. piscis – ahd. pat͇r im Gotischen fadar (= /faðar/) entspricht:
fisk, lat. spuo – ahd. spƯwan, lat. sto – dt. stehen) Zunächst wurde idg. /t/ regulär zu /Þ/ verscho-
sowie von /t/ nach /p/ und /k/(lat. captus – dt. ben; da es in sth. Umgebung vorkam und der Ak-
Haft, lat. octo – dt. acht) und zweitens wurden stl. zent auf der nachfolgenden Silbe lag, wurde es
Plosive manchmal anscheinend zu sth. Plosiven stimmhaft, d. h. zu /ð/.
verschoben statt zu stl. Frikativen. Ein illustratives Regelanordnung: Am Zusammenspiel von ers-
Beispiel ist griech. pat͇r – got. fadar, wo anlauten- ter Lautverschiebung und Verner’schem Gesetz ist
des /p/ regulär zu /f/ verschoben ist, inlautendes erkennbar, dass die Anordnung phonologischer
/t/ anscheinend aber nicht zu /Þ/, sondern zu /d/. Regeln ein wichtiger Aspekt ist. Im konkreten Fall

131
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

Zum Begriff Den umgekehrten Fall, wenn eine Regel A den In-
put einer nachfolgenden Regel B verkleinert, be-
Das Verner’sche Gesetz ist auch für den sog.   grammatischen Wechsel zeichnet man als bleeding order.
zwischen /d/ und /t/ im Flexionsparadigma von ahd. wërdan verant-
wortlich (wobei man noch wissen muss, dass zum Ahd. hin aus germ.
/ð/ wieder /t/ wurde, während germ. /Þ/ sich zu /d/ weiter entwi-
ckelte):
Sanskrit Ahd. 4.4.2 | Überblick: Lautentwicklungen
1. Sg. Präs. vártē wirdu zum und im Deutschen
1./3. Sg. Prät. vavárta ward
3. Pl. Prät. vāvrtúh wurtun In diesem Kapitel werden die wichtigsten lautli-
Partizip vavrtāná giwortan chen Entwicklungen vom Indoeuropäischen bis
Bei werden ist der grammatische Wechsel heute nicht mehr vorhanden, zum Fnhd. lediglich aufgelistet. Einige wie der i-
bei Verben wie schneiden (vs. schnitt) aber schon noch. Er hat seine Umlaut oder die erste Lautverschiebung wurden
Ursache im freien Akzent des Indoeuropäischen und seiner Rolle für das bereits erläutert, auf andere wird noch ausführli-
Verner’sche Gesetz (warum er manchmal verschwunden ist, wird in cher eingegangen (s. 4.4.3.1–3).
4.5.3.1 erklärt).
Protoindoeuropäisch (PIE)
N Erste Lautverschiebung (»Grimm’s Law«)
handelt es sich um eine sog. feeding order, die N Verner’sches Gesetz
vorliegt, wenn eine Regel A den Input einer nach- Germanisch (germ.)
folgenden Regel B vergrößert: Durch die erste N Westgerm. Gemination vor j, r, l, w (got. satjan
Lautverschiebung sind die Frikative /f, Þ, x/h/ erst > as. settian, ahd. setzen)
entstanden, ansonsten hätte das Verner’sche Ge- N Rhotazismus (z > r: got. is > ahd. er)
setz nur für den ererbten Frikativ /s/ gegolten. Althochdeutsch (ahd.)
Zur Vertiefung N Zweite Lautverschiebung
N Primärumlaut
Lautgesetz N a-Umlaut/Brechung (i/u/eu > e/o/eo vor a/e/o
Der Begriff des Lautgesetzes wurde von den Junggrammatikern, der dominanten in der Folgesilbe: z. B. lat. vir – ahd. wer ›Mann‹,
Richtung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im letzten Drittel des germ. *wulfaz > ahd. wolf)
19. Jh.s, entwickelt, um regulären Lautwandel zu erklären. Als lautgesetzlich gel- N Ahd. Monophthongierung (ai > e: vor h, r, w,
ten Änderungen in der Aussprache, die nicht durch außer-phonetische Faktoren im Auslaut; got. mais > mƝr)
bedingt sind, die ohne Ausnahmen zu einer bestimmten Zeit und in einer be- N Auslautverhärtung
stimmten Sprachgemeinschaft, mit möglichen Umgebungsbeschränkungen, ein- N sc > sch (scrƯban > schrîben, scǀni > schœne)
treten. Lautgesetze sind also nicht mit Naturgesetzen vergleichbar, was Jung- N Sekundärumlaut
grammatikern wie Hermann Paul immer bewusst war: »Das Lautgesetz sagt nicht N Schwächung in Nebensilben (Vokal > /‫ۑ‬/)
aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten Mittelhochdeutsch (mhd.)
muss, sondern es konstatiert nur die Gleichmässigkeit innerhalb einer Gruppe N Gemination (mhd. biten, blat, site > nhd. bit-
bestimmter historischer Erscheinungen« (Paul 1909, S. 69). ten, Blatt, Sitte)
Wichtig sind die drei genannten Einschränkungen für lautgesetzlichen Laut- N s > sch (im Anlaut vor l, m, n, w, p, t) (mhd.
wandel: swƯn > nhd. Schwein)
N Er ist nicht durch außer-phonethische Faktoren (z. B. morphologisch) bedingt, N Nhd. Diphthongierung (î/û/iu > ei/eu/au)
d. h. er geschieht mechanisch. N Nhd. Monophthongierung (ie/uo/üe > i:/u:/ü:)
N Er geschieht zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Sprachgemein- N Dehnung in offener Silbe
schaft: So ist nur im Englischen anlautendes /k/ vor /n/ verlorengegangen, N Kürzung in geschlossener Silbe
aber nicht im Deutschen (k > ‡ / #__n [# = Wortgrenze]: aengl. cnafa N Entrundung (mhd. gümpel, güpfel > nhd. Gim-
[knava], cnight [knixt] : neuengl. knave [ne:v], knight [nayt]). pel, Gipfel)
N Er tritt mit möglichen Umgebungsbeschränkungen auf (die genannte k-Tilgung N Rundung (mhd. helle, wirde > nhd. Hölle,
trat nur vor [n] ein, ansonsten nicht, vgl. aengl. cyning : neuengl. king). Würde)
Lautgesetzlicher Wandel ist nicht beschränkt auf unkonditionierten Lautwandel N Senkung u > o vor nn/mm (mhd. sunne, ge-
wie die beiden Lautverschiebungen, darunter fallen auch konditionierte wie der swummen > nhd. Sonne, geschwommen)
i-Umlaut. N Schwa-Schwund
Frühneuhochdeutsch (fnhd.)

132
4.4
Sprachgeschichte
Ausgewählte Lautwandel-
phänomene

4.4.3 | Ausgewählte Lautwandel- Medienverschiebung


phänomene
Die stimmhaften Plosive b/d/g (auch Mediae
4.4.3.1 | Zweite oder Hochdeutsche Laut- genannt) werden einfach und als Gemina-
verschiebung ten zu stimmlosen Plosiven verschoben.

Bei der zweiten Lautverschiebung (LV II), mit der


sich ein Teil der westgermanischen Dialekte, näm- Zuge der LV II zu /t/ verschoben wurde. Die Medi-
lich die althochdeutschen, von den übrigen weg enverschiebung war räumlich begrenzt und wurde
entwickelt haben, waren wiederum die Plosive be- teilweise in vor-mhd. Zeit wieder rückgängig ge-
troffen. Dennoch handelt es sich nicht um eine macht, so dass heute nur noch wenige Überbleib-
Wiederholung der LV I zu einem späteren Zeit- sel im Deutschen vorhanden sind. In bair. Quellen
punkt auf einem begrenzten Gebiet der Germania, aus ahd. Zeit finden sich zwar Schreibungen wie
da die Verschiebungen teilweise anders verliefen. <kepan> oder <sipun> für geben bzw. sieben,
So ist zwar aus /p/ auch wie in der LV I /f/ gewor- aber erhalten blieben im Wesentlichen nur Ver-
den, manchmal aber auch die Affrikate /pf/. Das schiebungen von /d/ zu /t/ wie in Tag oder Toch-
Resultat der Verschiebung der stl. Plosive (auch ter, die mit engl. day bzw. daughter kontrastieren,
Tenues genannt) – Frikativ oder Affrikate – war welche den westgerm. Lautstand repräsentieren.
abhängig von der Position und der Lautumgebung: Die dialektale Gliederung des deutschen
Sprachraums in drei Dialektgruppen ist ein Resul-
Tenuesverschiebung tat der zweiten Lautverschiebung, da die einzel-
nen Tenuesverschiebungen innerhalb des ahd.
Die einfachen stimmlosen Plosive p/t/k wer- Sprachraums eine unterschiedliche Reichweite
den nach Vokal zu den geminierten Frikati- hatten: In den niederdt. Dialekten wurde sie nicht
ven ff/zz/hh verschoben; nach langen Voka- durchgeführt, in den mitteldt. teilweise und in den
len und im Auslaut werden diese zu f/z/h oberdt. (fast) vollständig. Die unterschiedliche
vereinfacht: Durchführung im (West-)Mitteldeutschen ergibt
den sog. Rheinischen Fächer: Er besteht aus ver-
germ. *drepan > ahd. treffan – *hropan > schiedenen Isoglossen, worunter man generell Abbildung 3:
roufan – *skipa > skif Grenzlinien versteht, die verschiedene Ausprägun- Rheinischer Fächer
germ. *etan > ahd. ezzan – *lētan > lāz(z)an – gen sprachlicher Merkmale trennen. (aus Ernst 2005, S. 95)
*fōt(u) > fouz
germ. *makōn > ahd. mahhōn – *ek > ich

Die stimmlosen Plosive p/t/k werden als


Geminaten (pp/tt/kk), anlautend oder inlau-
tend nach Nasalen (m, n) und Liquiden (l, r)
zu den Affrikaten pf/(t)z/kch verschoben:

westgerm. *skeppjan > ahd. skepfen – lat.


piper > pfeffar – lat. campus > kampf
westgerm. *sattjan > ahd. sezzen –*tehun >
zehan –*hertōn > herza
westgerm. *wekkjan > ahd. wecchan –*korna
> chorn –*werka > werch

Die sth. Plosive gehen auf die entsprechenden sth.


Frikative im Germanischen zurück und haben sich
in den einzelnen ahd. Dialekten unterschiedlich
entwickelt. So wurde germ. /9/ bereits im West-
germ. zu /d/, das im Rhein- und Mittelfrk. be-
wahrt blieb, während es im Oberdt. und Ostfrk. im

133
4.4
Sprachgeschichte
Phonologischer Wandel

Abbildung 4:
Tenuesverschiebung und geringste Sonorität höchste Sonorität
Sonoritätshierarchie
Plosive Affrikaten Frikative Nasale Liquide hohe Vokale sonstige Vokale
Kontrast

Kontrast

Die wichtigsten Isoglossen sind von Norden nach 4.4.3.2 | Nebensilbenabschwächung


Süden:
N die Ürdinger oder ik-ich-Linie Phonologisch unterscheidet sich das Ahd. ganz
N die Benrather oder maken-machen-Linie, die markant von den späteren Perioden des Deut-
von Düsseldorf über Kassel und Wittenberg schen. Der augenfälligste Unterschied besteht dar-
nach Frankfurt an der Oder verläuft in, dass in den unbetonten Nebensilben das volle
N die dorp-dorf-Linie Spektrum an Vokalen vorkommt, selbst Langvoka-
N die Bacheracher oder dat-das-Linie le sind dort möglich. Im Folgenden sind Beispiele
N die Speyerer oder appel-apfel-Linie aus der Verbalflexion angeführt, wo nur /Ɨ/ und
Während die Ürdinger und Benrather Linie allge- /nj/ nicht vorkommen (und wofür Beispiele aus
mein das niederdt. vom hochdt. sowie die Speye- der nominalen Deklination angegeben sind):
rer Linie das mitteldt. vom oberdt. Sprachgebiet
trennen, trennt die Bacheracher Linie das Rhein- e/Ɲ suochen (suchen) / habƝn (haben)
vom Mittelfränkischen und die dorp-dorf-Linie das i/Ư nimis (nimmst) / nƗmƯs
Moselfränkische vom Ripuarischen (vgl. Ernst o/ǀ salbo/salbǀn (salbe/salben)
2005, S. 95). a/Ɨ ginoman (genommen) / gëbƗ
Zeitlich wird die LV II etwa zwischen dem 6. u/nj faru/zungnjn (Zunge)
und 8. Jh. angesetzt und die meisten Forscher ge-
hen von einer Süd-Nord-Ausbreitung aus (vgl. Die Vokale in den unbetonten Silben wurden abge-
Braune 2004, S. 92 f.). Für die Tenuesverschiebung schwächt, d. h. sie haben sich zum Zentralvokal
wird allgemein als erster Schritt eine Aspirierung Schwa entwickelt. Diese Veränderung setzte be-
angenommen. Ob sich daraus zunächst die Affri- reits in ahd. Zeit ein, so erscheinen in den Schrif-
kate und davon der Doppelfrikativ entwickelt hat, ten Notkers von St. Gallen (10. Jh.) in der verbalen
ist dagegen umstritten, aber möglich. In diesem Flexion nur noch e und i, beide allerdings auch
Fall wäre eine Verschiebungskette /p/ > /ph/ > noch als Langvokale (Braune 2004). Im Mhd. und
/pf/ > /ff/ anzusetzen (ebd., S. 90 ff.). Fnhd. setzte sich diese Entwicklung weiter fort
Die unterschiedliche Verschiebung der stl. Plo- und führte in manchen Fällen zur Elision des Vo-
sive je nach lautlicher Umgebung lässt sich durch kals: ahd. gibis(t) > mhd. gibest > fnhd. gibst.
die Sonoritätshierarchie (s. Kap. II.2.1.3.3) erklä- Die Nebensilbenabschwächung steht im Zu-
ren (s. Abb. 4). sammenhang mit der Entwicklung des Deutschen
[p], [t], [k] bilden als [-sonorante], konsonanti- von einer sog. Silben- zu einer Wortsprache (Nüb-
sche Phoneme i. d. R. den Silbenrand (Onset oder ling u. a. 2006, S. 22–26). In Silbensprachen wie
Koda). Damit der Kontrast zur vorhergehenden Sil- dem Italienischen hat jede Silbe annähernd die
be deutlich bleibt (silbenbezogener Wandel), er- ideale Form Konsonant plus Vokal, während in
folgte die stärkste Verschiebung (d. h. zu Frikati- Wortsprachen z. B. komplexe Silbenränder vor-
ven) nur nach den sonorsten Lauten, d. h. nach kommen, die von Konsonantenclustern gebildet
Vokalen. Nach weniger sonoren Lauten dagegen, werden. Die Entwicklung zur Wortsprache ist
d. h. nach Konsonanten (nach Nasalen/Liquiden, letztlich wohl ausgelöst worden durch die Akzent-
in Gemination = nach Plosiven) und am Wortan- festlegung auf die Stammsilbe.
fang (der auf Silben mit und ohne Koda folgen
kann, d. h. u. U. auch nach Konsonant steht) wur-
de weniger in Richtung stärkerer Sonorität (d. h.
nur zu Affrikaten) verschoben.

134
4.5
Sprachgeschichte
Phonologisch bedingter
morphologischer Wandel

4.4.3.3 | Dehnung in offener Silbe, Hauptsache zwei Veränderungen eingetreten: In


Kürzung in geschlossener Silbe offener Silbe wurden kurze Vokale gedehnt und in
geschlossener Silbe Langvokale gekürzt. Daher
Im Übergang vom Mhd. zum Fnhd. sind noch wei- wurde aus mhd. /lë.ben/ nhd. /le:.ben/ und aus
tere phonologische Veränderungen eingetreten, mhd. /d‫ܤ‬:x.te/ nhd. /dax.te/. Eine Erklärung für
die nicht einzelne Laute, sondern die Silbe als diese Veränderungen liefert die Annahme, dass die
Ganzes betreffen. Im Mittelhochdeutschen exis- Optimierung der Silbenstruktur ein bedeutender
tierten vier Formen betonter Silben: Faktor für den Lautwandel ist. Die Optimierung
besteht in einer Vereinheitlichung der Silbenform:
(2) a offene Silbe mit Kurzvokal Ein Kurzvokal plus obligatorischem Konsonanten
b offene Silbe mit Langvokal (Typ 2c) hat das gleiche Silbengewicht wie ein
c geschlossene Silbe mit Kurzvokal Langvokal ohne Konsonant (Typ 2b). Damit be-
d geschlossene Silbe mit Langvokal steht der Reim einer Silbe im Nhd. immer mindes-
tens aus zwei Elementen.
Nach Ramers (1999) kommen im Nhd. als Haupt-
typen nur mehr (2b) und (2c) vor. Es sind in der

4.5 | Morphologischer und lexikalischer Wandel


4.5.1 | Phonologisch bedingter morpho- lung war bereits weitgehend im Übergang zum
logischer Wandel Mhd. vollzogen (s. Beispiele).
Die Konsequenz dieser rein phonologischen
4.5.1.1 | Morphemabbau und Synkretismus Entwicklung ist auf der morphologischen Ebene
ein formaler Zusammenfall verschiedener, ur-
Phonologische Veränderungen betreffen manch- sprünglich getrennter grammatischer Formen, was
mal nicht nur die Lautebene einer Sprache, sie als Synkretismus bezeichnet wird.
können auch Auswirkungen auf die Morphologie,
die nächsthöhere Ebene im Sprachsystem, haben. Definition
Ein prominentes Beispiel aus der Geschichte des
Deutschen ist die bereits vorgestellte Nebensilben-   Synkretismus liegt vor, wenn sich zwei
abschwächung (s. 4.4.3.2), in deren Folge sich die oder mehrere Flexionsmorpheme so entwi-
Vokale in den Endsilben zu Schwa abschwächten. ckeln, dass sie formal nicht mehr unter-
Konnten im Ahd. in Flexionselementen noch alle scheidbar sind.
Vokale, selbst lange, vorkommen, so ist es im Nhd.
nur mehr der Zentralvokal Schwa. Diese Entwick-
Das ist z. B. der Fall bei dem Morphem -e in Tage,
das auf ahd. -a sowie -o zurückgeht und heute de-
Beispiel: Verbalflexion ren Kasuswerte, also Nom., Akk. sowie Gen. Pl.,
ahd. hǀrt-a/-ǀst/-a/-um/-ut/-un markiert. Aus der verbalen Flexion wäre -en ein
> Beispiel: Es geht auf -um (1. Pl.) und -un (3. Pl.)
mhd. hǀrt-e/-est/-e/-en/-et/-en zurück (sowie als Infinitivendung auf diverse Vor-
läufer wie -an/ōn/ēn/en). Synkretismus ist also
Beispiel: Nominalflexion das Ergebnis der Reduktion formal distinkter Flexi-
ahd. Nom./Akk. Pl tag-a onsmorphologie.
> Kasussynkretismus: Das Protoindoeuropäische Kasusschwund
mhd. tage hatte ursprünglich acht Kasus (Nominativ, Genitiv,
Gen. tag-o Dativ, Akkusativ, Ablativ, Lokativ, Instrumental,
tage Vokativ), die auch morphologisch unterschieden
Dat. tag-um, -om wurden. In den meisten neueren indoeuropäi-
tagen schen Sprachen sind viele dieser Kasus heute nicht
mehr erhalten, wobei deren Funktionen von ande-

135
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

ren übernommen wurden. Im Deutschen hat der ist. Diese Vorkommensbeschränkung bewirkte mit
Dativ (eventuell plus Präposition) die Funktionen der Zeit, dass der Umlaut mit dem Merkmal Plural
von Lokativ (an der Wand), Instrumental (mit der assoziiert wurde und heute auch in Pluralformen
Hand), Ablativ (lat. hieme – dt. im Winter) [sowie vorkommt, in denen er nicht phonologisch regulär
dialektal/umgangssprachlich des possessiven Ge- erzeugt worden sein kann. Das trifft unter ande-
nitivs: dem Vater sein Haus] übernommen. rem auf Formen wie Väter oder Gräben zu, bei de-
Genitiv Hier sind nicht nur die Formen, sondern die Ka- nen einzig der Umlaut den Unterschied zur Singu-
sus als solche verschwunden – was die Folge von larform (Vater, Graben) markiert. Der Umlaut
Kasussynkretismus sein kann, aber nicht sein zählt daher nunmehr zu den Allomorphen des
muss. Einerseits muss nämlich nicht jeder Kasus- abstrakten Pluralmorphems.
schwund auf Kasussynkretismus zurückgehen, Ein weiteres Beispiel für die Morphologisierung
wie das Beispiel des Gen. im Deutschen zeigt. Der phonologischer Erscheinungen ist der Ablaut,
Gen. war morphologisch immer schon ein sehr eine Veränderung des Stammvokals, die bei star-
stark markierter Kasus (und ist es im Standard- ken Verben zur Differenzierung des Präterital-
deutschen, wo er noch existiert, immer noch), der stamms vom Präsensstamm dient (z. B. nahm vs.
im Vergleich mit dem Akk. deutlich weniger Syn- nehm-).
kretismus mit anderen Kasus aufweist. Trotzdem
ist er als syntaktischer Kasus für die Markierung
direkter Objekte (vgl. jdn. eines Mordes bezichti-
gen) quasi in Gänze und auch als adnominaler Ka- 4.5.2 | Syntaktisch bedingter morpholo-
sus dialektal und umgangssprachlich überwiegend gischer Wandel
verschwunden. Der Akk., der bereits im Ahd. for-
mal häufig nicht mehr vom Nom. unterscheidbar Syntagmen, d. h. syntaktisch erzeugte Einheiten,
war, existiert dagegen heute noch, wie man an können ebenfalls morphologisiert werden. Damit
Formen der Personalpronomen (z. B. ihn) sehen ist gemeint, dass syntaktische Phrasen als Wort-
kann. Die entsprechenden Genitivformen wie in einheit interpretiert, also univerbiert werden, oder
erbarme dich unser existieren dagegen selbst im freie Morpheme zu gebundenen und damit zu Trä-
Standard nur mehr in sehr formellen oder archai- gern einer grammatischen Funktion werden.
schen Registern. Der Schwund des Genitivs, der in
den Dialekten übrigens bereits vor mehr als
4.5.2.1 | Univerbierung
500 Jahren eingetreten ist, kann also nicht durch
Synkretismus bewirkt worden sein. Andererseits Aus der Kombination zweier syntaktischer Einhei-
zeigt das Beispiel des Akkusativs, der seit dem ten kann sich ein komplexes Wort entwickeln.
Ahd. häufig formengleich mit dem Nominativ ist, Dies war z. B. bei den sog. uneigentlichen oder Ka-
dass Synkretismus nicht automatisch zu Kasusver- suskomposita der Fall: Aus der ursprünglichen
lust führt. Fügung zweier Nominalphrasen (NP), wobei die
erste Konstituente das Kasusmorphem (meistens
Genitiv) trägt, das es in der entsprechenden syn-
4.5.1.2 | Morphologisierung
taktischen Fügung hatte, wurde ein normales
Phonologischer Wandel führt allerdings nicht Kompositum mit der Konsequenz, dass das Geni-
zwangsläufig zur Reduktion der Morphologie wie tivflexiv zu einem Fugenelement umgedeutet wur-
im Fall des Synkretismus. Es können z. B. dadurch de. Deutlich wird das im Bsp. Sonne-n-aufgang
auch Stammvarianten entstehen, die später mor- (der Sonnen Aufgang), da das Nomen Sonne in-
phologisch genutzt werden, wenn mit ihnen eine zwischen die Deklinationsklasse gewechselt hat
grammatische Funktion verbunden wird. Man und die Genitivform heute (der Aufgang der) Son-
spricht in diesem Fall von Morphologisierung. ne lautet (also kein –n mehr enthält).
Umlaut: Wir haben in 4.4.1.1 mit dem Umlaut Voraussetzung dafür, dass eine Nominalphrase
einen phonologischen Prozess kennengelernt, der als komplexes Wort interpretiert werden kann,
Wortstämme verändert hat, wenn das an den waren syntaktische Veränderungen, die die Struk-
Stamm antretende Flexionselement ein /i, i:/ tur der NP betroffen haben. So konnte früher ein
enthielt. Dadurch stehen sich bei Nomen Stamm- Genitivattribut pränominal selbst dann auftreten,
allomorphe wie Gast- und Gäst- gegenüber, wobei wenn das Kopfnomen einen Artikel bei sich hatte.
die umgelautete Form auf den Plural beschränkt So begegnen in dem spätahd. Text Himmel und

136
4.5
Sprachgeschichte
Syntaktisch bedingter
morphologischer Wandel

Hölle Fügungen wie der gotes skimo ›der Glanz In bestimmten syntaktischen Fügungen können
Gottes‹, bei denen der Artikel der vom Kopfnomen neue Flexionsmorpheme entstehen, wenn bestehen-
skimo durch den pränominalen Genitiv gotes ge- de Grenzen zwischen Morphemen wegfallen oder
trennt ist. Heute müsste das Genitivattribut ent- verschoben werden (s. Beispiel zur 2. Pers. Sg.).
weder postnominal realisiert werden oder es Solche Falschsegmentierungen haben gelegent-
wäre, falls doch pränominal, kein mit dem Kopf- lich auch noch in anderen Fällen zu neuen Flexi-
nomen kongruierender Artikel möglich (der Glanz onsendungen geführt. Im Bairischen ist in der 2.
Gottes bzw. Gottes Glanz). Im Laufe des Mhd. Pers. Pl. das Klitikum s, dessen Vollform ös auf
wurde die NP-Struktur dahingehend modifiziert, eine alte Dualform (›ihr zwei‹) zurückgeht, eben-
dass Genitivattribute nicht mehr zwischen dem falls in die Flexion eingedrungen, so dass es dort
Determinierer und dem NP-Kopf intervenieren ös gehds ›ihr geht‹ lautet. In manchen Dialekten
konnten, woraufhin Genitivattribute, sofern wei- führten solche Falschsegmentierungen auch zu
terhin pränominal (und artikellos), als Komposi- pronominalen Formen wie dir (< d + ihr) oder
tionsglied reanalysiert wurden. dös (< d + ös), was offenbar auch mehrfach pas-
sieren konnte, wie Pronominalformen wie das
nordbair. deeds (d + e + d + (e)s) vermuten las-
4.5.2.2 | Grammatikalisierung sen (König/Renn 2006).
Grammatikalisierung verläuft dabei entlang des
Definition folgenden Verlaufsschemas:

Als   Grammatikalisierung bezeichnet man


den Prozess, in dessen Verlauf eine auto- Lexikalisches Wort > Funktionswort
nome lexikalische Einheit allmählich die > Partikel > Klitikum > Affix
Funktion einer abhängigen grammatischen (Flexion > Derivation) > Null
Kategorie erwirbt (Bußmann 2002, S. 260;
Glück 2010, S. 248–249).
  Reanalyse ist ein Prozess, bei dem einem Natürlich muss dabei nicht immer die gesamte
sprachlichen Ausdruck ein neuer kategoriel- Skala abgearbeitet werden. In unserem Fall bildete
ler Status oder eine neue Struktur zugewie- ein Funktionswort, das Pronomen der 2. Pers. Sg.,
sen wird. Reanalyse ist also bei morphologi- den Ausgangspunkt, es entwickelte sich über ein
schem und syntaktischem Wandel involviert klitisches Stadium zu einem Affix, das in einigen
(weitere Beispiele für reanalysierte syntakti- Dialekten (wie dem Alemannischen) inzwischen
sche Strukturen in 4.6.2.1). auch wieder verschwunden ist (ohne übrigens in
die Derivation einzudringen).

Entstehung der Flexionsendung der 2. Pers. Sg. tion, sind sie unbetont und reduziert, d. h. kli- Beispiel
Ein prominentes Beispiel für das Deutsche ist die tisch: In dem bair. Satz Gesdan han-a-da-n geem
verbale Flexionsendung der 2. Pers. Sg.: Im Ahd. (›gestern habe ich dir ihn gegeben‹) bilden die
endeten Verben in der 2. Pers. Sg. (außer im Prä- Pronomen ein Cluster, in dem gegebenenfalls
teritum starker Verben sowie bei den sog. Präter- auch phonologische Prozesse wie Assimilation,
itopräsentia) zunächst noch allein auf -s (z. B. Reduktion, aber auch Epenthese auftreten kön-
wirfis), erst im Lauf des 9. Jh.s trat ein auf das nen. Im konkreten Beispiel ist z. B. eine Art Vo-
Pronomen thu zurückgehendes t hinzu, wodurch kalharmonie zu beobachten, da die klitische
die heute noch gebräuchliche Endung -st ent- Form von ich eigentlich e lautet (vgl. gesdan han-
stand. Die Reanalyse des Pronomens als Teil der e-s bmocht, ›gestern habe ich es gemacht‹) und
verbalen Flexion ist einer syntaktischen Beson- die Form /‫ܣ‬/ als Angleichung an den Vokal des
derheit des Deutschen geschuldet: In Deklarativ- folgenden Pronomens erklärbar ist. Es ist also
sätzen stehen pronominale Subjekte und Objekte durchaus denkbar, dass in einer solchen Wacker-
in der Regel in der sog. Wackernagel-Position, die nagel-Konstellation ein Syntagma wie ahd. wirfis
unmittelbar auf das finite Verb in Zweitposition thu als wirfist thu reinterpretiert wurde.
folgt. Stehen Pronomen in der Wackernagel-Posi-

137
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

In der Grammatikalisierungsforschung gibt es (dnj > du > d). Für den Verlust der Selbständig-
verschiedene Ansätze, die z. T. (manchmal auch keit scheint lautliche Abschwächung aber keine
nur begrifflich) voneinander abweichende Ent- notwendige Voraussetzung zu sein: Das Derivati-
wicklungsstadien postulieren. Im Allgemeinen onssuffix -werk ist gegenüber seinem freien Pen-
werden die folgenden Eigenschaften bei Gramma- dant, dem Nomen Werk, nicht wirklich reduziert.
tikalisierungsprozessen angenommen: Coalescence (Verschmelzung, Fusion): Auf der
Universalität/Unidirektionalität/Irreversibili- morphologischen Ebene hat der Verlust an Inhalt
tät: Grammatikalisierungsprozesse vollziehen sich und Gestalt die Konsequenz, dass die Selbständig-
in der vom obigen Verlaufsschema angegebenen keit des betroffenen Lexems/Morphems allmäh-
Richtung und sind nicht umkehrbar. Diese Ansicht lich verlorengeht, aus einem freien also ein gebun-
ist aber nicht unumstritten, und es wird in der For- denes Morphem wird. Der Übergang von Pronomen
schung auch der umgekehrte Prozess (Degramma- in die Flexion oder von freien Lexemen zu Deriva-
tikalisierung) diskutiert, ein mögliches Beispiel tionsaffixen sind Beispiele für den Vorgang, den
dafür ist der sächsische Genitiv im Englischen, wir bereits kennengelernt haben. Ein anderes sind
weil sich hier ein Affix (Genitiv-s) zu einem Kliti- sog. grammatikalisierte Präpositionen: Eine Form
kum rückentwickelt hat, das an komplexe NPs an- wie am besteht zwar aus der Präposition an und
treten kann (vgl. The woman I met yesterday’s sis- dem definiten Artikel dem, ist aber in bestimmten
ter). Trotzdem ist festzuhalten, dass die weit syntaktischen Kontexten nicht mehr zerlegbar in
überwiegende Anzahl von Beispielen dem obigen die Grundbestandteile. Dies ist der Fall, wenn es
Verlaufsschema folgt. mit Superlativen konstruiert wird (am schönsten
Grammatikali- Desemantisierung (bleaching): Der Zuwachs an vs. *an dem schönsten), während in anderen Kon-
sierungsschritte grammatischer Funktion geht mit semantischer texten der Verschmelzungsgrad geringer ist und
Reduktion einher, d. h. mit einer Abnahme oder eine Ersetzung durch die volle Form nicht unter-
einem Verlust an lexikalischer Bedeutung. Dies bindet (am Haus vs. an dem Haus).
gilt uneingeschränkt, wenn ein lexikalisches Wort
grammatikalisiert wird. Wird dagegen ein Funkti-
onswort wie du wie im obigen Beispiel weiter
grammatikalisiert, kann natürlich keine Deseman- 4.5.3 | Morphologie-intern bedingter
tisierung eintreten. Ein Beispiel für eine mit einer morphologischer Wandel
Desemantisierung verbundene Grammatikalisie-
rung ist das Auxiliarverb haben, dessen ursprüng- 4.5.3.1 | Analogischer Ausgleich
liche lexikalische Bedeutung ›besitzen‹ verloren-
gegangen ist. Im Fall von haben ist das entspre- Dass phonologischer Wandel Auswirkungen auf
chende Vollverb mit der ursprünglichen Bedeutung die Morphologie haben kann, haben wir am Bei-
immer noch vorhanden, häufig verschwindet aber spiel des Synkretismus schon kennengelernt
das freie Lexem nach einer potentiellen Phase der (s. 4.5.1.1). Dort führte phonologischer Wandel zu
Koexistenz mit der Neuerung. So gehen Derivati- einer morphologisch nicht immer vorteilhaften
onssuffixe wie -tum oder -lich auf freie Lexeme Einheitlichkeit von Flexionsparadigmen. Er kann
(toum ›Urteil, Macht‹ bzw. lƯh ›Körper‹, das nur aber auch das Gegenteil bewirken und Flexionspa-
mehr als Leiche in anderer Bedeutung als ›toter radigmen uneinheitlich machen, indem er wie im
Körper‹ vorkommt) zurück, die heute nicht mehr Fall des Umlauts Allomorphie erzeugt. In manchen
existieren. Fällen wird die so entstandene Allomorphie durch
Abschwächung (Attrition): Bei Grammatikali- analogischen Ausgleich wieder abgebaut.
sierung kann auch eine phonologische Abschwä-
chung eintreten, d. h. ein Verlust an lautlicher Definition
Substanz. Insbesondere der Übergang vom Funk-
tionswort zum Klitikum und anschließend zum   Analogischer Ausgleich ist die Reduktion
Affix geht meistens mit lautlicher Reduktion ein- von Allomorphie innerhalb eines Paradig-
her. So liegt der oben geschilderten Entwicklung mas, wobei die Irregularitäten Produkt von
des Pronomens als (Teil der) Verbalflexion eine regulärem Lautwandel (Lautgesetze) sein
phonologische Reduktion zugrunde: Der Langvo- können, aber nicht sein müssen.
kal der ahd. Vollform dnj wird in klitischer Stel-
lung gekürzt oder kann sogar ganz getilgt werden

138
4.5
Sprachgeschichte
Morphologie-intern
bedingter morphologischer
Wandel

Grammatischer Wechsel schen Gesetzes (s. 4.4.1.2) zeigt sich im Ahd. bei Beispiel
Ein Beispiel aus der Verbalflexion ist der sog. bestimmten Verben eine Alternation des wurzel-
grammatische Wechsel. Als Folge des Verner- schließenden Konsonanten:

Infinitiv 1. Sg. Präs. 1. Sg. Prät. 1. Pl. Prät. Partizip


h–g slahan slahu sloug slougun gislagan
d–t lîdan lîdu leid lîtun gilîtan
s–r kiosan kiusu kôs kurun gikoran
f–b heffen heffu huob houbon gihaban

Bei einigen Verben ist der grammatische Wechsel nologische Veränderungen verlor sie jedoch zu-
durch analogischen Ausgleich beseitigt worden. So nehmend die ursprüngliche Transparenz, so dass
hat sich bei nhd. schlagen die auf /g/ auslautende sie heute als unregelmäßige Konjugation bezeich-
Stammform, die ursprünglich nur im Präteritum net wird. Im Gegensatz dazu besitzen die schwa-
vorkam, auch auf das Präsens ausgebreitet. Auch chen Verben eine einfache und regelhafte Syste-
bei heben und küren kann man beobachten, dass matik: Der Präteritalstamm wird durch Anfügung
sich der Präteritalstamm zugunsten des Präsens- eines Dentalsuffixes an den Verbstamm gebildet
stamms durchgesetzt hat (bei küren war die sieg- (z. B. such + t).
reiche Stammform zunächst sogar nur auf den Ablautreduktion: Seit dem Althochdeutschen
Plural und das Partizip beschränkt). ist es zu einigen Vereinfachungen der Bildungs-
Starke und schwache Verben: Auch in anderen weise starker Verben durch analogischen Aus-
Bereichen der verbalen Flexion sind Veränderun- gleich gekommen.
gen eingetreten, die sich als analogischer Aus- Die ursprünglich vier Ablautstufen wurden auf
gleich verstehen lassen. Im Deutschen gibt es bei drei reduziert, da der unterschiedliche Ablaut in-
Verben bekanntlich zwei Flexionsklassen: starke nerhalb des Präteritums zugunsten einer einheitli-
und schwache Verben. Die starken Verben, die ihr chen Form aufgegeben wurde. Bei werfen lauteten
Präteritum mit Ablaut bilden, sind die ursprüngli- die Präteritalformen warf (1. Pers. Sg.) bzw. wur-
chen Verben, während die schwachen Verben fum (1. Pers. Pl.), hier wurde der Plural dem Singu-
überwiegend sekundäre sind, die von Nomen lar angeglichen, während bei werden die Singular-
oder anderen Verben abgeleitet wurden. Je nach form ward den Stammvokal der Pluralform wurtum
Ableitungssuffix (-j-/-ǀ-/-Ɲ-) unterteilten sie sich übernommen hat und zu wurde wurde. Solche Ver-
in drei Klassen. Die starke Flexion war also die einfachungen dienten nicht nur der Reduktion von
primäre, die Bildungsweise war völlig systema- Allomorphie, sondern erfüllten häufig noch eine
tisch und durchsichtig. Durch verschiedene pho- andere Funktion. Mit dem Ausgleich innerhalb des

Ablaut fünf Klassen starker Verben zeigt, die auch als Beispiel
Bei Ablaut (Apophonie) unterscheidet man germ. e-Gruppe bezeichnet werden, vgl. Sonder-
N die Abstufung (die Quantitätsunterschiede er- egger 2003, S. 319 ff.) ist, dass im Präsens die
gibt) mit Voll-, Dehn- und Schwundstufe, und Grundstufe e vorliegt, im Singular des Präteri-
N die Abtönung (diese ergibt Qualitätsunter- tums die abgetönte Grundstufe a und im Plural
schiede) mit Grundstufe (oder Hochton) und des Präteritums sowie beim Partizip Perfekt die
abgetönter Grundstufe (oder Tiefton). Schwundstufe. Für ein Verb der Klasse III wie
Abstufung und Abtönung waren (bis heute in rinnan ›laufen, rinnen‹ ergeben sich im Ahd.
nicht ganz geklärter Weise) das Resultat spezifi- danach folgende Formen: rinnu ›(ich) laufe‹ –
scher Akzentverhältnisse (Nübling u. a. 2006). ran ›(ich/er) lief‹ – runnum ›(wir) liefen‹ – gi-
Im Germanischen wurde der Ablaut dann für runnan ›gelaufen‹ (wobei das u nicht die
die Konjugation systematisiert: Das Grundsys- Schwundstufe darstellt, sondern wohl eine Art
tem (das sich in dieser Form nur bei den ersten Sprossvokal ist).

139
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

Präteritums wird auf die Numerusunterscheidung Person, Numerus oder Tempus kann eine Motiva-
zugunsten einer deutlicheren Differenzierung der tion sein, wie wir gesehen haben. Auch Frequenz
beiden Tempusstämme verzichtet. Man spricht scheint eine gewisse Rolle zu spielen, insofern als
hier auch von Numerusnivellierung und Tem- häufig gebrauchte Lexeme mehr Unregelmäßigkeit
pusprofilierung (Nübling u. a. 2006, S. 63 ff.). in ihrer Flexion tolerieren als seltene. Im deutschen
Aber es gab auch Veränderungen, die dem Um- Verbalsystem gehören die starken Verben zu den
stand geschuldet sind, dass die schwachen Verben Lexemen mit hoher Gebrauchsfrequenz – und ihre
regulär und die starken zunehmend irregulärer Flexion ist im Vergleich zu den schwachen Verben
gebildet werden. Einzelne ursprünglich starke synchron gesehen irregulär. Trotz aller Vereinfa-
Verben sind nämlich entweder vollständig oder chungen und gelegentlicher Klassenübertritte (s. o.)
partiell in die Klasse der schwachen Verben über- besteht aber keine Gefahr, dass sie als Konjugati-
getreten, wobei manchmal starke und schwache onsklasse insgesamt verschwinden. Da sie sehr
Formen nebeneinander bestehen können: häufig gebraucht werden, werden die einzelnen
Formen im mentalen Lexikon abgespeichert. Dass
der Klassenübertritt in jedem Einzelfall mit dem
Beispiele: Klassenübertritt vom starken Rückgang der Gebrauchsfrequenz zusammen-
zum schwachen Verb hängt, kann aber bezweifelt werden (gerade bei
Vollständig: den oben genannten Beispielen bellen und hinken
ahd. bellan, bal, bullun, gibullan ist so etwas nicht anzunehmen). Auch ist eine hohe
> nhd. bellen, bellte(n), gebellt Gebrauchsfrequenz umgekehrt nicht immer ein
ahd. hinkan, hank, hunkun, gihunkan Faktor, der die Regularisierung innerhalb eines Pa-
> nhd. hinken, hinkte(n), gehinkt radigmas unterbindet.
andere Verben: kreischen, melken
Partiell:
backen, backte, gebacken Beispiel: Auxiliar sein
Konkurrenz: nebeneinander von st/swV Das Auxiliar sein ist ein sehr frequentes Lexem,
gären – gor/gegoren vs. gärte/gegärt dessen Flexionsparadigma nicht nur unregel-
glimmen – glomm/geglommen mäßig, sondern sogar suppletiv ist, d. h. sich
vs. glimmte/geglimmt aus Stammformen ursprünglich unterschiedli-
cher Verben zusammensetzt (bin/bist – ist –
sind/seid). In einzelnen Dialekten wie dem
Vorhersagbarkeit Analogischer Ausgleich ist kein ausnahmsloser Zentralhessischen fand trotzdem ein partieller
oder systematischer Prozess, d. h. es ist nicht vor- Ausgleich statt, insofern als die Stammform des
hersagbar, ob er überhaupt eintritt, in welche Plurals auch in die 1. Pers. Sg. eingedrungen ist
Richtung hin der Ausgleich stattfindet und wie (ich sei statt ich bin).
weit er reicht. Das Verb leiden zeigt zwar Ablautre-
duktion (Angleichung der präteritalen Singular-
form an die Pluralform: leid > litt), der grammati-
4.5.3.2 | Proportionale Analogie
sche Wechsel zwischen Präsens und Präteritum
wurde jedoch nicht aufgehoben. Auch existieren Analogie kommt auch noch in einer anderen Form
interdialektale Unterschiede, die zeigen, dass ana- vor, die als proportionale Analogie oder als analo-
logischer Ausgleich nicht zwangsläufig eintreten gische Ausdehnung bekannt ist.
muss: So wurde zwar bei Verben wie verlieren
(ahd. firliosan) oder frieren (ahd. friosan) im Neu- Definition
hochdeutschen der grammatische Wechsel analo-
gisch beseitigt, in manchen deutschen Dialekten   Proportionale Analogie bedeutet die
aber nicht. Im Bairischen lauten die beiden Verben Generalisierung oder Ausdehnung einer
voloisn und froisn, d. h. die Stammformen sind im- morphologischen Regel auf neue Lexeme.
mer noch wie im Althochdeutschen.
Faktoren: Was tatsächlich das Eintreten oder
Unterbleiben von analogischem Ausgleich im Ein- Der bereits erwähnte Übertritt starker Verben in
zelfall steuert, ist schwer zu sagen. Die Nivellierung die Klasse der schwachen Verben ist eher als ana-
oder Profilierung grammatischer Merkmale wie logische Ausdehnung denn als Ausgleich zu ver-

140
4.5
Sprachgeschichte
Lexikalischer Wandel

Beispiel: iz/az-Stämme

Nom. Gen. Dat. Akk.


Frühahd. Sg. lamb lembires lembire lamb
Ahd. Sg. lamb lambes lambe – lamb
Pl. lembir lembiro lembirum lembir

stehen, da hier ein Flexionsmuster auf Verben 4.5.4 | Lexikalischer Wandel


übertragen wurde, die bisher nach einem anderen
flektiert wurden.
4.5.4.1 | Erb- vs. Lehnwortschatz
er-Plural: Im Indogermanischen bestand ein
flektiertes Wort aus drei Bestandteilen: der Wur- Der Wortschatz einer Sprache ist externen Einflüs-
zel, die zusammen mit einem Stammbildungsele- sen in einem wesentlich größeren Ausmaß ausge-
ment den Stamm bildete, sowie dem Flexionsele- setzt als andere sprachliche Ebenen. So nimmt es
ment. In Ansätzen war das System auch noch im nicht wunder, dass der Wortschatz einer Sprache
Althochdeutschen erkennbar: Je nach Stammbil- normalerweise neben dem sog. Erbwortschatz
dungselement wird in der nominalen Flexion z. B. auch einen Anteil aus Lehn- und Fremdwörtern
nach a-, ō-, i- oder u-Deklination unterschieden. aufweist. Das quantitative Verhältnis von Erb- und
Während aber im Gotischen dieses System noch Lehnwortschatz ist von Sprache zu Sprache sehr
sehr transparent ist (z. B. Akk. Pl. dag-a-ns), ist es verschieden – und es ist v. a. das Produkt histori-
im Ahd. vielfach bereits undurchsichtig, da das ur- scher Zufälle, denn Entlehnungen resultieren aus
sprüngliche Flexiv häufig verschwunden ist und Sprachkontaktsituationen, die selbst natürlich his-
das Stammbildungselement als Flexionselement torisch kontingent sind. Die beliebte Rede vom
reanalysiert wurde: dag-a = Stamm+Flexion. Das Deutschen als »entlehnungsfreudiger Sprache« ist
Pluralmorphem -er geht auf ein solches Stammbil- also prinzipiell falsch: Ob entlehnt wird, entschei-
dungselement zurück, das in den sog. iz/az-Stäm- den ja auch die Sprecher, nicht die Sprachen. Im
men in der ahd. Form -ir- vorkam (s. oben). Vergleich zum Englischen verfügt das Deutsche
Im Lauf des Ahd. ist das Stammbildungsele- übrigens über einen wesentlich homogeneren Deutsch:
ment im Singular geschwunden, was sich als Wortschatz, als vielfach angenommen wird. Das eine entlehnungs-
analogischer Ausgleich erklären lässt, d. h. als Englische erlebte im Übergang vom Alt- zum Mit- freudige Sprache?
Angleichung an die flexionslose Stammform im telenglischen eine wirklich dramatische Aufnahme
Nom./Akk. Sg. In einem zweiten Schritt wurde romanischen Wortschatzes, so dass man tatsäch-
das im Plural erhaltene Stammbildungselement lich von einem gemischten Lexikon sprechen
-ir als Pluralmorphem reanalysiert, d. h. die Form kann. Die Grammatik des Englischen wurde aber
lemb-ir wurde als Stamm + Flexion gedeutet, nicht vom Französischen extern am meisten beein-
wodurch das Morphem -ir mit dem Merkmal Plu- flusst, sondern vom Skandinavischen, obwohl des-
ral assoziiert wurde. Die proportionale Analogie sen lexikalischer Einfluss wesentlich geringer war
kam in einem dritten Schritt ins Spiel, als der er- (van Gelderen 2006).
Plural seit dem Spätmhd. auch auf andere Wör- Sprachkontaktsituationen gab es in der Ge-
ter übertragen wurde, die ursprünglich keine iz/ schichte des Deutschen mehrfach:
az-Stämme waren (Kinder, Kleider, Länder, N Lateinisch (6. Jh., 8.–10. Jh., 15.–16. Jh.)
Schwerter, Wörter). N Französisch (Hochmittelalter, 16.–18. Jh.)
Proportionale Analogie folgt also einem gene- N Englisch (8. Jh., ab Mitte des 20. Jh.s)
rellen vierteiligen Schema. Sie wird daher in der Von allen diesen Sprachen wurden Wörter ent-
angelsächsischen Literatur auch als four-part ana- lehnt und mehr oder weniger in den Wortschatz
logy bezeichnet (Hock 1991, S. 171 ff.). integriert. Bei weitgehender Integration werden
dann aus Fremdwörtern Lehnwörter, die oft nicht
mehr als nicht-natives Wortgut erkennbar sind
(s. u.). Der Transfer von sprachlichem Material ge-
schieht in der Regel aus einer sozial dominieren-
den Sprache, doch dies ist keine notwendige Vor-

141
4.5
Sprachgeschichte
Morphologischer und
lexikalischer Wandel

aussetzung, wie die zahlreichen Beispiele von neuen zusätzlichen Bedeutung ›Herr(gott)‹ verse-
Entlehnungen z. B. aus dem Jiddischen ins Deut- hen wurde. Ein aktuelleres Beispiel ist nhd. reali-
sche zeigen. Dass es manchmal auch ohne direk- sieren, das zunächst nur ›verwirklichen‹ bedeutete
ten Sprachkontakt zu Entlehnungen kommt, ver- und das nach dem engl. realize auch die Bedeu-
steht sich von selbst. tung ›bemerken‹ angenommen hat. Das Beispiel
zeigt, dass Lehnbedeutungen selbst bei Lehnwör-
tern auftreten können.
4.5.4.2 | Formen von Entlehnungen
Entlehnt werden können Lexeme samt ihren Be-
4.5.4.3 | Entlehnungen grammatischer
deutungen oder auch nur Bedeutungen. Je nach
Morpheme
ausdrucks- und inhaltsseitiger Entlehnung diffe-
renziert man nach Lehnwörtern und Lehnprä- Entlehnungen betreffen in erster Linie periphere
gungen. Bereiche einer Sprache wie eben das Lexikon, wo-
Pfeffer Lehnwörter sind direkte Wortentlehnungen, bei hier auch wieder wesentlich häufiger Inhalts-
und Pilger die je nach Zeit der Entlehnung unterschiedlich wörter und eher selten Funktionswörter oder
stark in die Zielsprache integriert sein können – grammatische Morpheme entlehnt werden. Die
was wiederum als Indiz für die Zeit der Entleh- Entlehnung syntaktischer Muster kommt noch sel-
nung genutzt werden kann: So müssen z. B. lat. tener vor.
tegula > Ziegel, piper > Pfeffer vor der zweiten Im Deutschen gibt es relativ viele nicht-native
Lautverschiebung entlehnt worden sein, da /t/ > Wortbildungsmorpheme (vgl. Meibauer u. a. 2007,
/ts/ und /p/ > /pf/ bzw. postvokalisch zu /ff/ S. 55 ff.). Die meisten von ihnen kommen aber nur
verschoben wurde, während dagegen lat. pe- zusammen mit nicht-nativen Basen oder Konfixen
legrinus > piligrîm > Pilger, tabula > Tafel auf- vor, so dass sie nicht als vollständig integriert be-
grund der unverschobenen /p/ bzw. /t/ danach zeichnet werden können. Mit nativen Basen kom-
übernommen worden sein müssen. Nach dem binierbar sind dagegen:
Ausmaß der Integration kann unterschieden wer-
den zwischen
N Fremdwörtern: Laptop, Tabernakel etc. Beispiele: Entlehnung von Derivationssuffixen
N assimilierten Lehnwörtern: Mauer, Fenster, Franz. Naff -ie: zunächst Übernahme entspre-
Keller etc. chender Bildungen als Lehnwörter (z. B. mhd.
Lehnprägungen kommen in verschiedenen For- profêzîe ›Prophezeiung‹, vilânîe ›bäurisches Be-
men vor. Von Lehnbildungen spricht man allge- nehmen‹), später Derivation weiterer Nomen
mein bei Wortbildungen mit eigensprachlichem auf Grundlage eigensprachlicher Wurzeln mit
Material nach dem Vorbild fremdsprachiger Wör- -ie (z. B. jegerîe ›Jägerei‹, wüestenîe ›Wüstenei‹),
ter, wie z. B. bei dem nach lat. superfluitas gebilde- -ie durch fnhd. Diphthongierung > Fnhd./Nhd.
ten ahd. Lexem ubarfleozzida (›Überfluss‹). Ein -ei.
anderes Beispiel ist ahd. forakisehan (›vorausse- Franz. Vaff -ier: entlehnt als -irn/-ieren, nach
hen‹) nach dem lateinischen Vorbild providere. Je Entlehnung französischer Verben -ieren auch
nach Enge der Übersetzung werden dabei unter- mit eigensprachlichen Wurzeln verbunden z. B.
schieden: buchstabieren, stolzieren, hausieren.
N Lehnübersetzungen: genaue Glied-für-Glied- Lat. Naff -arius: zur Ableitung von Nomina agen-
Übersetzung (Wochenende für weekend) tis bzw. instrumenti, ahd. -âri z. B. betalâri
N Lehnübertragungen: freiere Übersetzung (Wol- ›Bettler‹, heilâri ›Heiland‹, hat sich zum nhd. -er
kenkratzer für skyscraper) entwickelt.
N Lehnschöpfungen: formal unabhängige Neu-
bildung (Umwelt für milieu)
Von Lehnbedeutungen spricht man, wenn ein na-
tives Lexem seine Bedeutung in Analogie zu einem
entsprechenden fremdsprachigen Ausdruck ver-
ändert: Z. B. diente das lat. dominus ›Herr‹, das
im christlichen Zusammenhang die Bedeutung
›Herr(gott)‹ hatte, als Muster dafür, dass ahd.
truhtin ›Gefolgsherr‹ im selben Kontext mit der

142
4.6
Sprachgeschichte
Wortstellungswandel

4.6 | Syntaktischer Wandel


Syntaktischer Wandel betrifft Veränderungen der b ek hlewegastir holtijar horna tawido
Regularitäten des Satzbaues. Die Anordnung und (Horn von Gallehus, Dänemark, um 400)
hierarchische Beziehung der Satzglieder unterein- ›ich, H. von Holt, Horn machte‹
ander können sich aufgrund externer und interner c ik in watin izwis daupja
Einflüsse (s. 4.2) verändern. Im folgenden Kapitel (Wulfila, Math 3,11; Gotisch)
werden zunächst einige signifikante Veränderun- ›ich in Wasser euch taufe‹
gen der deutschen Syntax vorgestellt (für einen
umfassenderen Überblick vgl. Fleischer/Schallert Im Protogermanischen und in den frühesten Bele- Entstehung
2011 sowie immer noch grundlegend Ebert 1978, gen aus germanischen Einzelsprachen finden sich von V2
2
1999). vereinzelt auch schon Belege für V2 in bestimmten
Kontexten:

(4) a hariuha hait-ika


4.6.1 | Wortstellungswandel
(Brakteat 2 von Sjaelland; Runisch)
›H. heiße-ich‹
4.6.1.1 | Verbstellung
b hva skuli Þata barn wairÞan
Das Prädikat ist zentral für den Satz, denn es legt (Lukas 1,66; Gotisch)
fest, wie viele Argumente vorkommen können ›was soll dieses Kind werden‹
und welcher Art sie sein müssen. Das Prädikat ent-
hält immer ein finites Verb und für das Deutsche Im Althochdeutschen ist im Grunde schon (fast)
(und manche andere Sprache) wird über dessen der nhd. Zustand erreicht, was die Verbstellung
Stellung auch die Satzart festgelegt, d. h. ob es sich betrifft. Vor allem die Verbstellungsasymmetrie
um einen eingebetteten Satz oder einen Hauptsatz zwischen Haupt- und Nebensatz ist schon sehr
handelt und bei letzterem um einen Deklarativ- deutlich ausgeprägt, wie die Eingangsverse des
oder Fragesatz (s. Kap. II.2.3.3). Insbesondere die Hildebrandsliedes (vgl. 5a, b) zeigen. Im Matrix-
asymmetrische Verbstellung in Haupt- und Ne- satz steht das finite Verb gihôrta in Zweitposition,
bensätzen gehört zu den Grundeigenschaften des während das Verb muotin des Nebensatzes die
deutschen Satzbaues – wie auch die sog. Verb- Endstellung einnimmt. Der Matrixsatz enthält au-
Zweit-Eigenschaft, d. h. dass das Verb im Deklara- ßerdem einen vom Wahrnehmungsverb hören se-
tivsatz an zweiter Stelle steht, unabhängig davon legierten Infinitiv (seggen), der sich in der rechten
ob die Erstposition durch ein Subjekt oder ein an- Satzklammer befindet. Das entspricht also exakt
deres Satzglied eingenommen wird. Eine weitere den nhd. Gegebenheiten.
Besonderheit ist die Satzklammer mit dem fini-
ten Verb oder der Konjunktion in der linken Satz- (5) a ik gihôrta dat seggen
klammer – bzw. im Phrasenstrukturmodell in C – ›Ich hörte das sagen‹
und dem (Rest des) Prädikat(s) in der rechten b dat sih urhettun aenon muotin
Satzklammer (s. Kap. II.2.3.3). Die historisch inter- ›dass sich Herausforderer einzeln trafen/bedrängten‹
essante Frage ist nun, wann sich diese Eigenschaf-
ten der deutschen Syntax herausgebildet haben Auch andere Eigenschaften der nhd. Syntax sind
(vgl. dazu Axel 2007; Speyer 2007). seit Anfang des Ahd. belegt: So findet man die V2-
Indogermanisch: In der Forschung geht man Eigenschaft schon im ahd. Isidor (I), vgl. (6a) mit
davon aus, dass im Indogermanischen trotz einer einem Objekt vor dem finiten Verb, und im Tatian
sehr großen Wortstellungsfreiheit als Basiswort- (T) ist V1 bei Entscheidungsfragen (6b) und Impe-
stellung SOV (Subjekt – Objekt – Verb) angenom- rativen (6c), sowie V2 bei selbständigen w-Fragen
men werden kann (3a), was im Wesentlichen auch (6d) bereits fest ausgeprägt. Allerdings sind in den
noch für das Protogermanische galt, wie Runenin- ältesten Texten auch noch Verbend-Deklarativ-
schriften (3b) oder das Gotische (3c) nahelegen: sätze belegt (6e).

(3) a rátham kó nír avart ayat (6) a dhinera uuomba uuaxsmin setzu ih ubar miin hohsetli
(Rig Veda 10.135.5) (I 611)
›Streitwagen wer rollte‹ ›deines Bauches Frucht setze ich über meinen Thron‹

143
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

b quidis zi uns thesa parabola oda zi allen (8) a daz thû maht forasago sîn
(T 529,2) (Christus und die Samariterin 28)
›sagst zu uns diese Gleichnisse oder zu allen‹ ›dass du magst Prophet sein‹
c tout riuua b daz unsih niulazze den tiuual so uram kaechoron
(T 103,1) (Freisinger Paternoster B)
›tut Reue‹ ›dass [er] uns nicht überlasse den Teufel soweit
d uuvo gisahi thu abrahaman versuchen‹
(T 451,7) c dhazs fona dhemu almahtigin fater durah inan ist al
›wo sahst du Abraham‹ uuordan, dhazs chiscaffanes ist
e ir den christanun namun intfangan eigut (I 99 f.)
(Exhortatio 9,5) ›dass von dem allmächtigen Vater durch ihn ist alles
›ihr den christlichen Namen empfangen habt‹ geworden was geschaffen ist‹

Abfolge im Im Nebensatz stehen alle Prädikatsteile in der Man kann davon ausgehen, dass sich bei der Ab-
Verbcluster rechten Satzklammer und bilden ein sog. Verb- folge im Verbcluster seit dem Ahd. im Detail zahl-
cluster. In Verbclustern gilt eine bestimmte Rei- reiche Veränderungen in den einzelnen Dialekten
henfolge: Das untergeordnete Verb geht dem über- ergeben haben: Verbanhebung ist z. B. beim Auxi-
geordneten voran (s. Kap. II.2.3.3.1). Diese strikte liar sein deutlich besser als bei haben und in man-
Abfolge gilt v. a. für zweiteilige Verbcluster beste- chen Dialekten scheint sie bei Modalverben obli-
hend aus Auxiliar (V1) und infinitem Hauptverb gatorisch geworden zu sein, d. h. dort sind nur
(V2), während bei dreiteiligen das Finitum auch Abfolgen wie in (7a, c) möglich. Dass in bestimm-
die Erst- oder Mittelstellung einnehmen kann. Die ten Registern die absolute Endstellung des Fini-
V2>V1-Regel wird vor allem im geschriebenen tums gefordert wird, ist jedoch nicht eigentlich
Standard befolgt, während in den Dialekten auch Produkt von Sprachwandel in einem engeren Sin-
heute noch größere Variation zu beobachten ist, ne, sondern von Normierung.
d. h. je nach Art des V1 (ob Auxiliar oder Modal-
verb und welches dann jeweils) sind auch V1>V2-
4.6.1.2 | Vorfeldbesetzung
Abfolgen zulässig.
Daher ist es nicht erstaunlich, dass auch im Die Grundzüge der nhd. Syntax sind im Wesentli-
Ahd. dieselbe Variation belegt ist. Nicht-Endstel- chen bereits im Ahd. ausgebildet. In den frühesten
lung des Finitums kommt bei zwei- (7a, b) wie Zeugnissen wie dem ahd. Isidor (7. Jh.) finden sich
auch bei den äußerst selten belegten dreigliedrigen noch einige signifikante Unterschiede, die den pro-
Verbclustern (7c) vor: togerm. Zustand repräsentieren. Einer dieser Un-
terschiede betrifft die Vorfeldbesetzung: Während
(7) a dáz ih daz godes lóp niuuolda giloson im heutigen Deutschen höchstens ein Satzglied im
(Reichenauer Beichte 15 f.) Vorfeld stehen kann, konnte das Vorfeld im frühen
›dass ich das Gottes Lob nicht wollte hören‹ Ahd. auch zwei Satzglieder enthalten. Diese Fälle
b dhazs ir man uuard uuordan werden in der Literatur manchmal auch als V3-
(Is 393) Stellung bezeichnet, was allerdings eine irreführen-
›dass er Mensch wurde geworden‹ de Bezeichnung ist. Man kann davon ausgehen,
c dhazs ir in sines edhiles fleische quhoman scolda dass das Verb an der gleichen Stelle wie im V2-Satz
uuerdan steht und lediglich das Vorfeld komplexer ist – z. B.
(I 560 f.) weil die CP (s. Kap. II.2.3.3.3) vielleicht noch mehr
›dass er in seines edlen Fleische kommen sollte werden‹ als eine Spezifikatorposition aufgewiesen hat.
In den meisten Fällen befindet sich bei diesen
Solche Fälle werden in der generativen Syntax als sog. V3-Sätzen zusätzlich eine leichte Konstituente
Verbanhebung (verb raising) bezeichnet. Wird wie ein Pronomen (9a) oder ein Adverb (9b) im
dagegen das Verb noch weiter angehoben, so Vorfeld, es konnten aber auch zwei schwere Kon-
dass eine nicht-verbale Konstituente (in der Regel stituenten wie eine NP und eine PP (9c) sein:
ein Objekt) das Finitum vom Rest des Verbclus-
ters trennt, spricht man von VP-Anhebung oder (9) a erino portun ih firchnissu
VP raising. Auch solche Fälle sind bereits im Ahd. (I 157)
belegt: ›eiserne Portale ich zerschmettere‹

144
4.6
Sprachgeschichte
Wortstellungswandel

b In dhemu eristin deile chuningo buohho sus ist chiuuisso des Objekts handelt und nicht um eine SVO-Wort- Extraposition
chiscriban stellung im Nebensatz, wie sie z. B. im Englischen
(I 263 f.) vorkommt, erkennt man an der V2>V1-Abfolge der
›In dem ersten Teil der Bücher der Könige so ist gewiss Verben, die in einer konsistenten SVO-Sprache wie
geschrieben‹ eben dem Englischen ausgeschlossen ist.
c dher selbo forasago auh in anderu stedu chundida,
dhazs … (11) a daz danne nah ist sumere
(I 348) (M, Matthäus XXIV,32)
›derselbe Prophet auch an anderer Stelle verkündete, ›dass dann nah ist Sommer‹
dass …‹ b daz er kitarnan megi tâto dehheina
(Muspilli 95)
Ein weiterer auffälliger Unterschied in der Vorfeld- ›dass er verbergen könnte Tat irgendeine‹
besetzung ist, dass das Vorfeld in Deklarativsätzen c daz der man harêt ze gote
(v. a. bei Bewegungsverben, Veränderungsverben (Muspilli 27)
und passivischen Konstruktionen) unbesetzt sein ›dass der Mann ruft zu Gott‹
konnte:
Im Lauf des Fnhd. bildete sich die heutige Regel
(10) a uuvrbun thô thie hirta heimuuartes heraus, dass das Nachfeld nur in wenigen Sonder-
(T 89,2) fällen besetzt ist, z. B. durch eine PP oder einen
›kehrten da die Hirten heimwärts‹ eingebetteten Nebensatz. Dies wird z. T. in einigen
b arstarp ouh ther otago Darstellungen auch als Herausbildung der Satz-
(T 363,11) klammer bezeichnet – de facto gab es aber die
›starb auch der Reiche‹ Satzklammer bereits im Ahd., nur war das Nach-
c uuard thô giheilit ther kneht in thero ziti feld noch häufiger besetzt.
(T 183,7)
›war da geheilt der Diener in dieser Zeit‹
4.6.1.4 | Negation
Heute wird das Vorfeld in solchen Sätzen mit ei- Eine zumindest auf den ersten Blick sehr auffälli-
nem pleonastischen Element, dem sog. Vorfeld-es ge Veränderung ist bei der Negation eingetreten.
oder in manchen Dialekten dem Expletivum da ge- Die Beispiele in (12) zeigen die Entwicklung auf:
füllt. In (10a, c) kommt mit dem Adverb thô zwar Im Ahd. wurde die Satznegation durch die Partikel
schon der ahd. Vorläufer des expletiven da vor, al- ni ausgedrückt, die sich klitisch an das finite Verb
lerdings eben nicht in der Vorfeldposition. Daraus anlehnte (unabhängig davon, ob das Verb in der
kann man schließen, dass sich der Status dieser linken oder rechten Satzklammer stand); diese kli-
Position seit dem Ahd. verändert hat. In erzählen- tische Partikel schwächte sich zum Mittelhoch-
den Texten der fnhd. Zeit, z. B. den Denkwürdigkei- deutschen hin zu ne/en ab und wurde durch die
ten der Helene Kottanerin (Wien 1445–1452), ist Partikel niht (< ahd. niowiht ›nichts‹/›in nichts‹)
die Vorfeldposition dann fast ausschließlich mit verstärkt; nach dem endgültigen Verschwinden
dem Expletivum da besetzt (wie das auch heute der klitischen Negation blieb nicht als alleiniger
noch v. a. in süddt. Dialekten üblich ist). Negationsausdruck zurück. Als Satznegation ist
die Partikel nicht weitgehend stellungsfest – es
handelt sich damit also auch um einen Wortstel-
4.6.1.3 | Nachfeldbesetzung
lungswandel.
Im Ahd. und auch noch im Mhd. konnten verschie-
dene Satzglieder, z. B. auch Subjekte oder Objekte, (12) a sí ni mohta inbéran sin
im Nachfeld stehen. Die Möglichkeit der Extraposi- (Otfrid I.8,3)
tion (Nachfeldbesetzung) war im Deutschen zu- ›sie NEG konnte entbehren seiner‹
nächst also wesentlich weniger eingeschränkt: In b Ich enwil es niht erwinden
(11a, b, c) sind es ein Dativ- und ein Akkusativ- (Nibelungenlied C III 117.1)
Objekt sowie eine Präpositionalphrase. Besonders ›Ich NEG-will es NEG lassen‹
interessant ist dabei (11b), weil hier eine indefinite c da er wust das er nit dot was
NP extraponiert wurde, was heute völlig ausge- (Prosalanzelot, S. 16)
schlossen ist. Dass es sich in (11b) um Extraposition ›da er wusste dass er NEG tot war‹

145
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

Diese Entwicklung ist auch als Jespersens Zyklus ned) als Kopf der Negationsphrase reanalysiert
bekannt und fand in anderen Sprachen ebenso wurde (vgl. Weiß 2002), d. h. dass man nun von
statt. Jespersens Zyklus ist eine Generalisierung einer Struktur wie (14) ausgehen kann.
über den äußeren Entwicklungsgang, er sagt aber
nichts darüber aus, wie die Entwicklung auf der (14) NegP
strukturellen Ebene abgelaufen ist. Wenn man,
Spez Neg'
wie in der generativen Syntax üblich, zwischen
Oberflächen- und Tiefenstruktur unterscheidet
VP Neg
(s. Kap. II.2.3.3.3), dann muss prinzipiell keine
Isomorphie zwischen beiden Ebenen vorliegen – ned
und bei der Negation ist das tatsächlich der Fall
(vgl. Jäger 2008). Sollte dies der Fall sein, hätte Jespersens Zyklus
Negationsphrase Es ist üblich, für die Negation auf der struktu- im Bairischen bereits die nächste Stufe erreicht.
rellen Ebene eine Negationsphrase wie in (13) an- In der syntaktischen Grammatikalisierungsfor-
zusetzen, so dass es zwei Positionen gibt, in de- schung wird die Entwicklung von Spezifikatoren
nen negative Ausdrücke stehen können, nämlich zu Phrasenköpfen, wie er im Bairischen vorliegt,
einmal den Phrasenkopf Neg sowie eine weitere als ein weitverbreiteter Grammatikalisierungs-
Position, die als Spezifikator bezeichnet wird. Das pfad angesehen (van Gelderen 2004). Mit der
Negationsklitikum wird in Neg basisgeneriert, das strukturellen Rekonstruktion (Spezifikatoren >
verstärkende Element nicht dagegen im Spezifika- Phrasenköpfe) hat man auch eine Erklärung da-
tor. für, warum Jespersens Zyklus gerade so verläuft
wie er verläuft.
(13) NegP

Spez Neg'
4.6.2 | Verlauf und Ursachen syntak-
nicht VP Neg
tischen Wandels
ni/ne/ø
Wie die Beispiele zeigen, ist auch Syntaxwandel
Diese Struktur unterliegt seit dem Ahd. der Nega- nicht chaotisch. Vielmehr gibt es bestimmte regel-
tionssyntax des Deutschen und sie blieb unverän- mäßige Prozesse (Reanalyse, s. 4.6.2.1) und Ten-
dert. Was sich geändert hat, ist die morphologi- denzen (synthetisch vs. analytisch, s. 4.6.2.2),
sche Füllung des Phrasenkopfes, insofern als das die den Verlauf steuern. Syntaxwandel tritt vor al-
Negationsklitikum untergegangen ist. lem beim Spracherwerb als Parameterwechsel
Mehrfachnegation In manchen Dialekten wie dem Bairischen ist (s. Vertiefungskasten) auf, kann aber auch durch
vermutlich eine zusätzliche Entwicklung eingetre- Sprachkontakt (4.6.2.3) ausgelöst werden.
ten. Im Ahd. gab es eine weitere Besonderheit der
Negationssyntax, nämlich dass das Negationskliti-
4.6.2.1 | Reanalyse
kum auch dann notwendig war, wenn bereits ne-
gierte Indefinitpronomen wie nioman ›niemand‹ Reanalyse ist uns schon als eine Art morphologi-
vorhanden waren. Diese Eigenschaft wird als Ne- schen Wandels begegnet (s. 4.5.2.2). Bei der Ne-
gationskongruenz oder -harmonie (engl. negati- gationssyntax haben wir auch ein Beispiel für
ve concord) bezeichnet und ist im Deutschen zu- syntaktische Reanalyse kennengelernt: die Gram-
mindest auf dialektaler Ebene von ahd. Zeit bis matikalisierung des ursprünglich nur verstärken-
heute belegt. Mit einer Struktur wie (13), in der den Elements nicht zur Negationspartikel. Hier ist
das negierte Indefinitpronomen im Spezifikator zu beachten, dass eigentlich nur dann von syntak-
platziert werden kann, ist die syntaktische Ablei- tischer Reanalyse gesprochen werden kann, wenn
tung kein prinzipielles Problem, da alles, was sich sie mit der Entwicklung vom Spezifikator zum
innerhalb dieser Negationsphrase befindet, se- Phrasenkopf einhergeht, wie das im Bairischen der
mantisch sozusagen als Einfachnegation berech- Fall ist. Nach einigen Analysen ist im Standard-
net wird. In Dialekten wie dem Bairischen, in dem deutschen die Negation nicht weiterhin ein Spe-
diese Mehrfachnegation immer noch möglich ist, zifikator (vgl. Jäger 2008), so dass hier nur die
kann man annehmen, dass die Partikel nicht (bair. morphologische Reanalyse eines Adverbs als Ne-

146
4.6
Sprachgeschichte
Verlauf und Ursachen
syntaktischen Wandels

weil kierte Form des Artikels oftmals ein klitisches d'), Beispiel
Die Konjunktion weil hat sich aus dem Nomen durch Schwa-Tilgung am Nomen (s. 4.4.1.1) so-
Weile entwickelt. Ausgangspunkt der Grammati- wie durch Weglassung der Konjunktion dass an
kalisierung war eine Konstruktion wie mhd. (al) phonologischer Substanz verloren hat. Die so
die wı̄le daz ›die ganze Zeit, in der‹, bei der es abgeschwächte Form, bei der der Artikel vermut-
sich um eine NP handelt, die einen durch die lich durch Assimilation irgendwann gänzlich ver-
Konjunktion dass eingeleiteten Relativsatz ent- schwunden ist, konnte den Eindruck erwecken,
hält. Den Weg zur Konjunktion weil kann man also ob sie den ursprünglichen Relativsatz einlei-
sich so vorstellen, dass dieser komplexe Aus- ten würde – der damit kein Relativsatz mehr war,
druck durch Klitisierung des Artikels an das No- sondern ein temporaler Adverbialsatz.
men (auch in heutigen Dialekten ist die unmar-

gationspartikel vorliegt. Zwischen morphologi- Eine von Axel (2009) vorgeschlagene alternative Er-
scher und syntaktischer Reanalyse ist aber nicht klärung geht davon aus, dass die Konjunktion dass
immer strikt zu trennen (und in der Grammatika- zunächst als Relativsatzpartikel (d.i. Relativsatzkon- dass: vom Relativ-
lisierungsforschung wird diese Unterscheidung junktion) grammatikalisiert wurde – durch Reanaly- pronomen
auch nicht immer gemacht), so dass wir der Ein- se des Relativpronomens das. Im Ahd. ist diese Ver- zur Konjunktion
fachheit halber von morphosyntaktischer Reanaly- wendung hauptsächlich bei Otfrid belegt, temporale
se sprechen werden, wenn wir uns nun zwei wei- dass-Relativsätze finden sich aber vom Mhd. bis
tere Beispiele aus dem Deutschen anschauen. zum Nhd. (s. oben die Ausführungen zur Entste-
Durch morphosyntaktische Reanalyse sind vie- hung von weil oder nhd. Sätze wie das letzte Mal,
le der heutigen Konjunktionen entstanden. Sie ge- dass ich ihn sah). In einem zweiten Grammatika-
hen auf Inhaltswörter oder andere Funktionswör- lisierungsschritt wird die Relativsatzpartikel als
ter zurück (s. Beispiel oben). Komplementierer generalisiert in syntaktischen Um-
Die Reanalyse des Nomens als Konjunktion gebungen, in denen das als Bezugsnomen zum Re-
hatte strukturelle Konsequenzen bzw. ging mit ei- lativsatz fungierende Pronomen im Matrixsatz weg-
ner Veränderung der zugrundeliegenden Struktur gelassen wurde. Der Vorteil dieser Erklärung liegt
einher: Die NP, die eine CP (den Relativsatz) ein- auf der Hand: Die genannten problematischen An-
bettet, wird selbst als CP reanalysiert, weil näm- nahmen der Übertrittstheorie werden vermieden, da
lich der NP-Kopf als C-Element reanalysiert wird, das Lexem, aus dem sich die Konjunktion entwi-
vgl. (15): ckelt hat, schon Bestandteil des relevanten Satzes
ist, der zudem bereits ein Nebensatz ist, so dass
(15) [NP die [N wîle] [CP [C daz] …]] Ÿ [CP[C weil] …] man auch kein Verbstellungsproblem hat. Die
beiden postulierten Entwicklungsschritte (1. Re-
Aus der Bedeutung des Nomens entwickelte sich lativpronomen o Relativpartikel, 2. Relativparti-
zunächst eine temporale Konjunktion, die in ihren kel o Komplementierer) sind wesentlich unpro-
temporalen Bedeutungen ›solange (als)‹ und ›wäh- blematischer und auch in anderen Sprachen
rend‹ noch bis ins 18. Jh. in Gebrauch war. Die nachweisbar.
kausale Bedeutung, die bereits seit dem 14. und
15. Jh. nachweisbar ist, ist vermutlich durch eine
4.6.2.2 | Synthetisch vs. Analytisch
konversationelle Implikatur (s. Kap. II.3.6.1) ent-
standen: Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse Dass Syntax und Morphologie eng zusammen ge-
wurde als Ursache-Wirkung-Relation gedeutet. hören, haben wir schon öfters feststellen kön-
Die Konjunktion dass, mit der Komplementsätze nen. So ist morphologischer Wandel häufig an
eingeleitet werden, ist aus einem Funktionswort ent- bestimmte syntaktische Strukturen gebunden
standen. Traditionellerweise erklärt man die Entste- (s. 4.5.2) oder die Syntax gleicht Defizite der
hung dadurch, dass das Pronomen das, ursprüng- Morphologie aus. Ein bekanntes Beispiel ist das
lich Teil des Matrixsatzes und kataphorisch auf Englische, dessen einst vorhandene Kasusmor-
einen asyndetisch angeschlossenen zweiten Haupt- phologie bis auf Reste im pronominalen Bereich
satz verweisend, in diesen zweiten Satz übergetre- verschwunden ist. Die Funktion der Kasus Nomi-
ten sei, als es als Konjunktion reanalysiert wurde. nativ und Akkusativ ist die Markierung der syn-

147
4.6
Sprachgeschichte
Syntaktischer Wandel

taktischen Funktionen Subjekt und (direktes) vor dem Verb immer das Subjekt ist und die post-
Objekt. Wenn eine Sprache wie das Englische die verbale das Objekt.
entsprechende Kasusmorphologie nicht mehr be-
sitzt, kann sie das über eine rigide Wortstellung (16) a John saw Henry
kompensieren. Im Falle der SVO-Sprache Eng- b Henry saw John
lisch (s. Kap. II.2.3.3.2) heißt das, dass die NP

Zur Vertiefung

Spracherwerb, Reanalyse und Parameterwechsel


Sprachwandel im Bereich der Morphosyntax bedeutet, dass Kinder eine minimal andere Grammatik als die ihrer
Eltern erwerben, weil sie im Verlauf ihres Erstspracherwerbs den sprachlichen Output ihrer Umgebung, der den
Input für ihren Spracherwerb darstellt, teilweise reanalysieren.
Syntaktische Reanalyse heißt, dass einer linearen Abfolge von Morphemen/Lexemen eine neue syntaktische
Struktur zugeordnet wird. Das kann zu einem sog. Parameterwechsel führen. Die dahinter stehende Annahme
ist, dass die Universalgrammatik (UG), die zu den angeborenen kognitiven Fähigkeiten der Spezies Homo sapi-
ens sapiens gehört, aus Prinzipien (d.i. Wohlgeformtheitsbedingungen) besteht, die einzelsprachlich unter-
schiedlich ausgeprägt bzw. festgelegt, d. h. parametrisiert sein können. Eine einzelsprachliche Parametrisierung
kann sich infolge von Reanalysen ändern.
In 4.6.1.1 haben wir gesehen, dass die germ. Sprachen ursprünglich SOV-Sprachen waren, was für das Deutsche
in Nebensätzen immer noch gilt. In anderen germ. Sprachen hat sich die Abfolge von Objekt und Verb umge-
kehrt, und so ist z. B. das Englische heute eine VO-Sprache. Vereinfacht kann man davon ausgehen, dass ein
UG-Prinzip besagt, dass eine VP (mindestens) aus einem Verb (= Kopf) und einem Objekt (= Komplement)
besteht und dass die UG selbst aber keine Angaben zur Linearisierung der beiden VP-Konstituenten macht. Dies
ist dann einzelsprachlich geregelt:
Beispiel: OV > VO (z. B. Englisch und (partiell) Jiddisch)
UG-Prinzip: VP o V NPObjekt
Parameter: V steht links/rechts von NPObjekt
Wie kann es zu so einem Parameterwechsel kommen? Eine denkbare Möglichkeit ist, dass Kinder eine ambige
Evidenz vorfinden, d. h. dass sie sowohl Äußerungen mit OV- wie auch VO-Abfolgen begegnen. Ein Beispiel da-
für ist das Jiddische (Santorini 1993), eigentlich eine OV-Sprache, wie man in (1a) an der Abfolge V2>V1 in der
rechten Satzklammer sehen kann, was ja nur bei Verbend-Sprachen möglich ist. Da aber auch VP-Anhebung
(s. 4.6.1.1) oder Extraposition (s. 4.6.1.3) vorkamen, trafen Jiddisch lernende Kinder in früherer Zeit sowohl auf
OV- als auch auf VO-Abfolgen (1a vs. b). Für die VO-Abfolge gibt es im Prinzip zwei strukturelle Ableitungen:
Man kann sie wie in (1c) über Extraposition aus einer OV-Basis ableiten oder wie in (1d) gleich auf eine VO-
Struktur zurückführen.

(1) a ven der vatr nur doyts leyan kan


b ven er nit veys eyn guti veyd
c ven er nit ti veys [eyn guti veyd]i OV
d ven er nit veys [eyn guti veyd] VO

Die Kinder können also allein aufgrund der Evidenz in (1b) nicht entscheiden, ob die zu erlernende Sprache
eine OV- oder eine VO-Sprache ist. Auch die Vorkommenshäufigkeiten geben keinen eindeutigen Aufschluss da-
rüber: Es kann ja durchaus sein, dass OV- und VO-Abfolgen etwa gleich häufig vorkommen. Tritt nun die ein-
deutige Evidenz für OV – wie etwa die V2>V1-Abfolge im Verbcluster in (1a) – weniger häufig auf, kann das
dazu führen, dass die Kinder Sätze wie (1b) strukturell wie in (1d) reanalysieren.
Damit ist aus einer OV- eine VO-Sprache geworden. Die weiterführende Konsequenz ist dann, dass die neue
Grammatik den Kindern die Produktion von Sätzen wie (1a) nicht mehr ermöglicht. Im Englischen ist dies tat-
sächlich der Fall: Dort sind solche Strukturen ungrammatisch. Im Jiddischen dagegen scheint die Entwicklung
zur VO-Sprache nur zur Hälfte eingetreten zu sein: Nach Santorini (1993) ist das moderne Jiddische eine »ge-
mischte OV/VO-Sprache«.

148
4.7
Sprachgeschichte
Quantitativer
semantischer Wandel

Eine etwas andere Art der Aufgabenverlagerung 4.6.2.3 | Sprachkontakt und syntaktischer
von der Morphologie in die Syntax liegt vor, wenn Wandel
synthetische durch analytische Formen ersetzt
werden. Wenn grammatische Merkmale durch Der Wandel von einer OV- zu einer VO-Sprache,
entsprechende Flexion am Wort selbst ausge- der im Englischen vollständig eingetreten ist, mag
drückt werden, spricht man von synthetischer mit einem weiteren Faktor zusammenhängen,
Bildung. Das Gegenteil davon sind analytische dem Sprachkontakt. In 4.2.3 haben wir bereits er-
Bildungen, die vorliegen, wenn ein Merkmal wähnt, dass dabei wohl skandinavischer Einfluss
durch Umschreibung auf mehrere Morpheme ver- vorlag. Ob ein Wandel extern durch Sprachkontakt
teilt wird. Im Deutschen ist diese Unterscheidung oder intern durch vorangehende phonologische
beispielsweise bei den Tempusformen relevant, oder morphologische Veränderungen bewirkt wur-
wo man neben synthetischen (Präsens, Präteri- de, spielt für den Ablauf als solchen eigentlich kei-
tum) auch analytisch gebildete Formen (Perfekt, ne Rolle, wenn in beiden Fällen der Sprachwandel
Plusquamperfekt, Futur) hat. In der Diachronie beim Spracherwerb entsteht.
kann man häufig beobachten, dass synthetische Bei Sprachkontakt kann es aber auch zu Entleh- Syntaktische Entlehnung
durch analytische Formen ersetzt werden: Kannte nungen kommen, d. h. zur Übernahme fremd-
das Indogermanische z. B. noch ein synthetisches sprachlicher syntaktischer Muster (Lehnsyntax)
Passiv (vgl. das Lateinische), so bildet das Deut- oder zu (qualitativer und quantitativer) Ausbrei-
sche das Passiv analytisch mithilfe des Auxiliars tung eigensprachlicher syntaktischer Muster, die
werden und des Partizips II. Die umgekehrte Ent- mit fremdsprachlichen syntaktischen Mustern
wicklung ist natürlich auch möglich, kam aber übereinstimmen oder diesen ähneln (Konver-
zumindest im Deutschen seltener vor: Ein Bei- genz). So begegnen z. B. syntaktische Latinismen
spiel (allerdings bereits aus germ. Zeit) ist das im Humanistendeutsch: nachgestellte erweiterte
Präteritum schwacher Verben, das mittels des Präsenzpartizipien (ain huswirt gest zu tisch laden-
Dentalsuffixes -t- (germ. -ta) gebildet wird (z. B. de) oder pränominale Genitive zwischen Adjektiv-
leg-t-e). Es ist nicht unplausibel anzunehmen, attribut und Nomen ((bei) dem alten irer vater
dass dieses Dentalsuffix auf das Verb tun zurück- glauben). Die Entlehnung syntaktischer Muster
geht, so dass ursprünglich eine analytische Bil- ist also generell möglich und kann prinzipiell auch
dung vorlag (vgl. Speyer 2007, S. 80 f.). Die Aus- zu einem tiefgreifenden syntaktischen Wandel
gangskonstruktion hatte daher wohl einige (etwa im Englischen) führen, für die Entwicklung
Ähnlichkeit mit den heute dialektal noch sehr der deutschen Syntax spielte die Lehnsyntax aber
verbreiteten tun-Umschreibungen z. B. bei Kon- keine bedeutende Rolle, auch wenn das früher an-
junktiv (ich tät das machen) oder Verlaufsform ders gesehen wurde. Syntaktische Entlehnungen
(er tut gerade essen). ins Deutsche waren immer auf bestimmter Textsor-
ten oder Stilregister beschränkt und verschwanden
nach relativ kurzer Zeit wieder.

4.7 | Semantischer Wandel


4.7.1 | Quantitativer semantischer skriptiven Gehalt eines Zeichens aus, d. h. seine
Wandel Ausdrucksbedeutung. Über die Ausdrucksbedeu-
tung eines Zeichens bestimmt sich seine Referen-
Im Kapitel II.3.2.4 wurden verschiedene Bedeu- tenmenge, d. h. worauf damit Bezug genommen
tungsbegriffe vorgestellt, die in der Semantik ver- bzw. referiert werden kann (im Falle von ›Katze‹
wendet werden. Dort wurde unter anderem ausge- also auf eine oder mehrere Katzen).
führt, dass die Bedeutung eines sprachlichen Im Lauf der Zeit kann sich sowohl die Aus-
Zeichens aus zwei Teilen besteht. Die Bedeutung drucksbedeutung als auch die Menge der Referen-
des sprachlichen Zeichens ›Katze‹ beinhaltet Infor- ten eines Wortes ändern, mit der Konsequenz,
mationen wie, dass es sich um Haustiere handelt, dass die Bedeutung sich erweitert oder verengt.
die vier Beine haben, miauen usw. Diese Informa- Bedeutungserweiterung: Im Ahd. hatte das No-
tionen machen den begrifflichen Inhalt oder de- men tior ›Tier‹ die Bedeutung ›wildes, vierbeiniges

149
4.7
Sprachgeschichte
Semantischer Wandel

Tier‹. Anders als im Nhd. fielen Vögel nicht unter Entwicklung eingeschlagen, da im heutigen Engli-
diesen Begriff: Im sog. Jüngeren Physiologus wird schen das Wort deer nur mehr ›Hirsch‹ bedeutet.
gesagt, dass darin »uon tîeren unde uon fogilen« Die Menge der Referenten von neuengl. deer bildet
berichtet werde (Meibauer u. a. 2007, S. 325). Die also eine Untermenge der Referenten von altengl.
heutige Bedeutung ›nicht-menschliches, nicht- deor, wobei diese Einschränkung Resultat einer
pflanzliches Lebewesen‹ ist Resultat einer Bedeu- Hinzufügung von Merkmalen zur Ausdrucksbe-
tungserweiterung, da Vögel inzwischen auch mit deutung ist (im konkreten Fall etwa Geweihträger,
dem Ausdruck Tier bezeichnet werden können. jagdbar usw.). Bei Bedeutungsverengung erweitert
Bedeutungserweiterungen kommen dadurch zu- sich in gewissem Sinne die Ausdrucksbedeutung
stande, dass ein oder mehrere spezifische Merk- eines Ausdrucks, wodurch seine Anwendbarkeit
male – im konkreten Fall etwa das Merkmal der eingeschränkt wird. Die gegensätzliche Entwick-
Vierbeinigkeit – aus der Ausdrucksbedeutung ge- lung im Deutschen und Englischen zeigt, dass Be-
strichen werden, so dass der Ausdruck auf eine deutungswandel nicht prognostizierbar ist.
größere Referentenmenge anwendbar ist. Etwas
vereinfacht ausgedrückt, kann man sagen, dass
eine Verkleinerung der Ausdrucksbedeutung
(Streichung von Merkmalen) eine Vergrößerung 4.7.2 | Qualitativer semantischer Wandel
der Referentenmenge zur Folge hat.
Vetter und Oheim Ähnlich, aber etwas komplexer ist die Bedeu- Bedeutung im Sinne von Ausdrucksbedeutung
tungsentwicklung von ahd. fetiro ›Bruder des Va- wird auch als deskriptiver Gehalt eines Ausdrucks
ters‹, das im Fnhd. die Bedeutung ›entfernter bezeichnet (s. Kap. II.3.3.1.1). Für den angemes-
männlicher Verwandter‹ angenommen hat. Ur- senen Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks
sprünglich wurden der Bruder des Vaters und der spielen aber darüber hinausgehende Bedeutungs-
Bruder der Mutter unterschiedlich bezeichnet, aspekte eine wichtige Rolle, die herkömmlicher-
nämlich mit Vetter und Oheim. Nachdem diese weise unter dem Begriff der Konnotation (im Ge-
Differenzierung aufgegeben wurde und sich das gensatz zur Denotation) zusammengefasst werden
aus dem Franz. entlehnte Onkel für beide etablier- (zu expressiver und sozialer Bedeutung s. Kap.
te, nahm Vetter eine neue Bedeutung an, die nicht II.3.3.4). Über die Konnotation eines Ausdrucks
nur eine Erweiterung gegenüber der alten Bedeu- wird die Einstellung eines Sprechers/einer Spre-
tung darstellt, sondern zugleich eine Bedeutungs- cherin zu dem vom Ausdruck bezeichneten Ding
verschiebung (s. 4.7.3.2) innerhalb des semanti- transportiert. Solche Einstellungen können positiv,
schen Feldes der Verwandtschaftsbezeichnungen. negativ oder auch neutral sein – und sie können
Bedeutungsverengung: Wie gesehen, hat das sich im Laufe der Zeit ändern.
ahd. Wort tior eine Bedeutungserweiterung erfah- Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) ist
ren. Das damit verwandte und ursprünglich be- bei Ausdrücken zu beobachten, deren Denotat
deutungsgleiche altengl. deor hat eine gegenteilige eine soziale Aufwertung erfahren hat. Ein be-
kanntes Beispiel ist der Marschall. Im Ahd. be-
zeichnete das Wort marahscalc einen ›Pferde-
Beispiele für Bedeutungsveränderung: knecht‹ (marah ›Pferd‹, scalc ›Diener‹), also den
fahren und Fass Diener, der die Pferde besorgt. Daraus wurde
Das ahd. Verb faran (mhd. varn) bezeichnete dann zunächst ein Hofbeamter, der die Pferde
jede Art von Fortbewegung, konnte also auch und das Gesinde beaufsichtigt sowie für die Gäste
für ›gehen‹ oder ›reiten‹ verwendet werden. Im und ihr Gefolge sorgt. Später ging der Bezug zur
Nhd. ist die Bedeutung von ›fahren‹ dagegen Pferdeaufsicht verloren und der Ausdruck be-
eingeschränkt auf die Fortbewegung mithilfe ei- zeichnete städtische Beamte oder einen hohen
nes Fahrzeugs (›etwas fahren‹ – transitiv, ›mit Beamtenposten innerhalb des Deutschen Ordens.
etwas fahren‹ – intransitiv). Greifbar ist die ur- Heute steht die Bezeichnung ›Marschall‹ für ei-
sprünglich weitere Bedeutung noch in dem Prä- nen hohen militärischen Rang.
fixverb entfahren (ahd. intfaran) im Sinne von Doch nicht nur Konkreta können eine Meliorisie-
›entweichen‹. Das ahd. vaz war ein Gefäß jeg- rung erfahren, sondern auch Abstrakta. Im Ahd.
licher Art, während heute Fässer große zylin- hatte das Nomen arabeit noch die Bedeutung ›Müh-
drische Behälter für Wein/Bier/usw. sind. sal, Arbeit‹, im Nhd. ist es dagegen die Bezeichnung
unter anderem für die berufliche Tätigkeit. Der Aus-

150
4.7
Sprachgeschichte
Ursachen semantischen
Wandels

druck ist von seiner Konnotation her neutral, auch 4.7.3 | Ursachen semantischen Wandels
wenn manche ungern in die Arbeit gehen.
Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) Wie die Beispiele insbesondere für Meliorisierung
kommt offenbar häufiger vor als das Gegenteil, die und Pejorisierung gezeigt haben, ändern sich
Bedeutungsverbesserung (Nübling u. a. 2006, Wortbedeutungen häufig mit der außersprachli-
S. 115). Auch hier geht die Bedeutungsentwicklung chen Welt (z. B. Veränderung oder Nicht-mehr-
häufig mit einer Änderung des sozialen Status ein- Existieren bestimmter Gegenstände und Prakti-
her. Die Bezeichnungen aus dem Wortfeld ›Frau‹ ken). Daneben sind kognitive Verfahren wie
geben davon einen guten Eindruck. Man kann hier Metapher/Metonymie sowie der kommunikative
sogar so etwas wie Kettenreaktionen erkennen, wo Gebrauch und seine informativen/rationalen, sozi-
eine Veränderung eine weitere entweder durch alen, ästhetischen Aspekte (Pragmatik: Konversa-
eine Sog- oder durch eine Schubwirkung (drag/ tionsmaximen, Implikaturen etc.) dafür verant-
push chain) veranlasst. Im Mhd. war vrouwe die wortlich, dass sich Wortbedeutungen verändern.
sozial hochstehende Herrin oder Dame, die neu- Die wichtigsten Formen sollen kurz vorgestellt
trale Bezeichnung für alle Frauen war wîp. Ein werden.
Lied Walthers von der Vogelweide beginnt mit der Metapher (Bedeutungsübertragung): Bei ei-
Zeile: Min frowe ist ein ungenædic wîp ›Meine Her- ner Bedeutungsübertragung liegt eine metaphori-
rin ist eine erbarmungslose Frau‹. Heute wird Frau sche Sprachverwendung vor. Eine Metapher ba-
als neutrale Bezeichnung verwendet, während siert auf der Ähnlichkeit zwischen zwei Gegen-
Weib eher abfällig klingt (in Dialekten aber immer ständen oder Begriffen (tertium comparationis),
noch in mhd. Bedeutung verwendet wird). Beide beinhaltet also immer einen Vergleich. Ob die
Bezeichnungen haben sich also verschlechtert, Ähnlichkeit tatsächlich existiert oder durch die
was auch für Frau gilt, obwohl es keine negative Metapher erst postuliert wird, ist dabei ohne Be- Metapher und Metonymie
Konnotation angenommen hat. Bei Frau liegt zu- lang. Je nach Lexikalisierungsgrad kann zwi-
dem eine Bedeutungserweiterung vor. Wenn man schen kreativen, konventionalisierten und lexi-
annimmt, dass diese Ausweitung zuerst eintrat, kalisierten Metaphern differenziert werden (aus-
dann liegt hier eine Schubkette vor. führlicher dazu s. Kap. II.3.4.2).
Ähnlich ist die Bedeutungsentwicklung von Ein illustratives Beispiel ist das Wort Flügel, das
mhd. maget und dierne verlaufen, die zunächst ursprünglich ›Vogelschwinge‹ bedeutete und das
eine ›unverheiratete, junge Frau‹ bzw. ›Dienerin‹ später auf Dinge übertragen wurde, die eine Ähn-
bezeichneten. Das nhd. Wort Magd hat inzwi- lichkeit damit aufweisen. Zunächst war das eine
schen die Bedeutung ›Dienerin‹ und nhd. Dirne Harfe mit entsprechender Form und erst später das
meint ›Prostituierte‹. Je nachdem, welche Ent- heute noch damit bezeichnete Tasteninstrument.
wicklung eher eintrat, lag eine Sog- (Dirne > Inzwischen werden damit auch Dinge wie der Teil
Magd) oder Schubkette (Magd > Dirne) vor. einer politischen Bewegung bezeichnet, wo die
Die Entwicklung von aengl. cwên ›Ehefrau‹ zu Ähnlichkeit mit der Vogelschwinge eher abstrakter
neuengl. queen ›Königin‹ über die Zwischenstufe Natur ist.
›Ehefrau des Königs‹ zeigt übrigens, dass im Be- Metonymie (Bedeutungsverschiebung) basiert
reich des Wortfeldes Frau auch Meliorisierungen auf sachlich-begrifflichen (räumlichen, zeitlichen,
eingetreten sind. Außerdem gibt es auch Beispiele kausalen usw.) Zusammenhängen zweier Gegen-
für qualitativen Wandel, die nicht mit einer Ände- stände/Begriffe, was auch als semantische Konti-
rung des Sozialstatus einhergehen. So hatte ahd. guität bezeichnet wird. Metonymische Prägungen
stinkan ›riechen‹ bzw. stank ›Geruch‹ eine neutrale sind Guillotine (Person o Produkt), Gouda (Ort o
Bedeutung und konnte sogar im Sinne von ›duften‹ Produkt), Brille (Material: berille ›Halbedelstein
bzw. ›Duft, Wohlgeruch‹ verwendet werden. In ei- Beryll‹ o Produkt) oder Ärmel (Körperteil: ›klei-
nem frühmhd. Text (Himmel und Hölle) wird »der ner Arm‹ o Kleidungsstück).
wundertiuro bimenstank aller gotes wolon« (›der
wunderköstliche Würzduft aller Gottesgaben‹) ge-
4.7.3.1 | Pragmatische Ursachen
priesen. Heute ist der Geruch, der mit stinken/Ge-
stank gemeint ist, kein wohlriechender mehr. Neben den beiden grundlegenden kognitiven Ver-
fahren der Metapher und Metonymie sind eine
Reihe pragmatischer Effekte für Bedeutungswan-

151
4.7
Sprachgeschichte
Semantischer Wandel

del verantwortlich, wenn diese nämlich Teil der Diese Kontextbedeutung ist bei während inzwi-
lexikalischen Bedeutung werden. schen Teil der lexikalischen Bedeutung, so dass es
Von ›schwach‹ Euphemismus: Unangenehmes kann durch eine heute temporal oder adversativ gebraucht werden
zu ›krank‹ verschleiernde Ausdrucksweise umschrieben und kann. Analog ist die Entwicklung der Konjunktion
etwas Alltägliches durch eine beschönigende Re- weil zu rekonstruieren: Sie verlief von temporal
deweise hervorgehoben werden. Das führte bei- (18a) zu kausal (18c), wobei ambige Sätze wie
spielweise dazu, dass mhd. kranc, das zunächst (18b) eine Zwischenstufe bildeten. Bei weil ist die
einfach nur ›schwach‹ bedeutete, seine heutige temporale Bedeutung inzwischen untergegangen.
Bedeutung im Sinne von ›nicht gesund‹ erhielt,
weil das Wort beschönigend/verschleiernd be- (18) a weil [›während/solange‹] der hund bellt, so frist der wolff
nutzt wurde, um Kranke damit zu bezeichnen. das schaaf
Ähnlich ist die Bedeutungsverschlechterung von b weil [›während/weil‹] die gemahlin sehr betrübt war,
mhd. dierne zu nhd. Dirne zu erklären – und wohl schickte er seinen tantzmeister
auch von vrouwe zu Frau. Die schmeichelnde An- c weil [›weil‹] es viel regnete, kam es zu einer Überschwem-
rede jedes wîbes als vrouwe hatte diese Verallge- mung
meinerung der Bezeichnung zur Folge. Hier liegt
ein Fall vor, bei dem eine euphemistische Aus-
4.7.3.2 | Lexikalische Beziehungen
drucksweise zur Aufwertung des Bezeichneten
dienen sollte und zur Abwertung der Bezeichnung Wörter und Bedeutungen haben untereinander
führte. vielfältige Beziehungen. In unserem Zusammen-
Kopf Ironie/Sarkasmus: Uneigentliches Sprechen hang sind vor allem Polysemie und Homonymie
liegt auch bei Ironie und Sarkasmus vor, allerdings relevant (s. Kap. II.3.4.3).
steht dabei die vom Sprecher intendierte Bedeu- N Von Polysemie spricht man, wenn ein Lexem
tung im Kontrast zur lexikalischen Bedeutung. Ein mehrere Bedeutungen hat: Man erinnere sich
drastisches Beispiel ist die Bedeutungsentwick- an das Beispiel Flügel, das ja unter anderem ei-
lung des Wortes Kopf: bedeutete es wie das ent- nen Körperteil eines Vogel bezeichnet, aber
sprechende engl. Wort cup im Mhd. noch ›Becher‹, auch ein Musikinstrument. Da die zweite Be-
kam die heutige Bedeutung als Kriegssarkasmus in deutung durch Bedeutungsübertragung aus der
Gebrauch, was offenbar von der Sitte herrührte, ersten entstanden ist, geht man davon aus, dass
dass man menschliche Schädel als Trinkgefäß be- es sich um ein Lexem handelt.
nutzte. In der heutigen Bedeutung verdrängte es N Homonymie liegt dagegen vor, wenn eine Laut-
ab dem 16. Jh. das Wort Haupt. gestalt mit zwei Bedeutungen verbunden, die in
Implikaturen: Bedeutungsaspekte, die zwar keinem erkennbaren Verhältnis zueinander ste-
nicht Teil der lexikalischen Bedeutung sind, aber hen.
mitgemeint werden, werden als Implikaturen be- Homonyme sind häufig etymologisch nicht ver-
zeichnet (s. Kap. II.3.6.1). Diese sind beispielswei- wandte Lexeme, die sich auch in grammatischen
se für die Bedeutungsentwicklung einiger adverbi- Merkmalen unterscheiden können (der/die Kie-
eller Konjunktionen im Deutschen verantwortlich. fer). In diesen Fällen ist die identische Lautgestalt
Konjunktionen Die Konjunktion während hat aufgrund ihres Her- meist ein Zufallsprodukt phonologischen Wandels:
kommens vom Verb währen primär eine temporale Der Kiefer geht auf mhd. kiver zurück, während
Bedeutung: Es drückt die Gleichzeitigkeit zweier die Kiefer aus ahd. kienforaha ›Kien-Föhre‹ über
Ereignisse aus. Handelt es sich dabei um gleich- fnhd. kienfer entstanden ist. Homonyme können
wertige Ereignisse wie in (17a) ist nur die tempo- aber auch das Produkt einer Wortspaltung sein,
rale Lesart möglich. In (17b) bilden die beiden Er- wenn sich die unterschiedlichen Bedeutungen ei-
eignisse aber einen Gegensatz (arbeiten vs. nes polysemen Lexems verselbständigen. Das er-
faulenzen), so dass bei der Äußerung von (17b) kennt man dann beispielsweise an unterschiedli-
ein Vorwurf an den Angesprochenen mitschwingt. chen Pluralformen: Band – Plural Bänder
›Textilstreifen‹ vs. Plural Bande ›(freundschaftli-
(17) a während ich die Fenster putze, kannst du schon mal anfan- che/verwandtschaftliche) Verbindungen‹.
gen zu kochen Homonymenflucht ist die Tendenz, Homony-
b während ich die Fenster putze, machst du ein Nickerchen mie im Lexikon abzubauen. Darunter versteht
man die Einschränkung oder das Aussterben einer
Bedeutung oder Verwendungsweise, die von ei-

152
4.7
Sprachgeschichte
Ursachen semantischen
Wandels

nem lautlich verschiedenen Lexem übernommen spiel dafür ist die Bedeutungsentwicklung von
wird. Ein Beispiel hierfür ist Strauß, was noch im Ross, das heute als Bezeichnung für ein stattliches,
Mhd. auch ›Kampf‹ bedeuten konnte. Diese Bedeu- prächtiges Pferd verwendet wird. Ursprünglich
tung ist noch in Redewendungen wie einen Strauß war es die generelle Bezeichnung für Pferd, aus
ausfechten greifbar, ansonsten aber mit dem Le- dieser Bedeutung wurde es aber durch sein Syno-
xem nicht mehr systematisch verknüpft. nym Pferd verdrängt, einem Lehnwort mittellat.-
Synonymenflucht ist die Bedeutungsdifferen- kelt. Ursprungs, womit zunächst nur Kurier- und
zierung zur Vermeidung von Synonymen. Ein Bei- Postpferde gemeint waren.

Literatur
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153
4.7
Sprachgeschichte
Literatur

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Helmut Weiß

154
5.1
Spracherwerb

5 Spracherwerb
5.1 Einleitung
5.2 Erstspracherwerb
5.3 Früher Zweitspracherwerb
5.4 Sprachentwicklungsstörungen

5.1 | Einleitung
Die Spracherwerbsforschung als Teilgebiet der Psy- 5.1.1 | Einfluss von Anlage und Umwelt
cholinguistik untersucht, wie Sprecher eine oder
mehrere Sprache(n) erwerben, welche Erwerbspro- Wie lernen Kinder sprechen? – ›Indem sie zuhö-
zesse diesen Weg bestimmen und ob die Erwerbs- ren, was die Erwachsenen sagen, und das dann
wege für verschiedene Lerner und für unterschied- nachmachen.‹ Dieser Erklärung, die von einem ge-
liche Sprachen ähnlich verlaufen. Außerdem inter- rade mal sechsjährigen Kind stammt, würden ver-
essiert sich die Spracherwerbsforschung dafür, mit mutlich auch viele Erwachsene zustimmen. Sie
welchen Voraussetzungen Sprachlerner für die Be- entspricht im Wesentlichen der Lerntheorie des
wältigung der Erwerbsaufgabe ausgestattet sind, Behaviorismus, die davon ausgeht, dass Kinder
welche Zusammenhänge zwischen Sprache und Sprache lernen, indem sie gehörte Äußerungen
anderen kognitiven Fähigkeiten wie Intelligenz be- imitieren und positiv verstärkt werden, wenn das
stehen, welche Faktoren den Spracherwerb beein- Gesagte korrekt und angemessen ist (Skinner
flussen und wie Störungen des Spracherwerbs ent- 1957). Die logische Konsequenz wäre, dass Kinder
stehen. Fragen wie diese dienen dazu, spezifische nur genau das sagen könnten, was sie zuvor ge-
Hypothesen – zum Sprachsystem, zur Lernbarkeit hört haben. Dies widerspricht jedoch eindeutig der
oder zur Entwicklung – zu überprüfen bzw. zur Erwerbsrealität, wie die folgenden Beispiele zei-
Entwicklung neuer Hypothesen und Theorien bei- gen (das Alter des Kindes wird jeweils angegeben
zutragen. Neben der Linguistik zählen daher Psy- als Jahre;Monate).
chologie, Pädagogik, Soziologie sowie Mathematik
und Informatik zu den Bezugswissenschaften der (1) A (1;06 Jahre) möchte eine Banane haben.
Spracherwerbsforschung. A: nane.
Eine Sprache kann man in jedem Alter und unter (2) Mutter und B. (3;11 Jahre) basteln mit Stoff.
ganz verschiedenen Umständen erwerben, z. B. auch Mutter: Was machst du da mit dem ganzen Stoff?
als Erwachsener im Fremdsprachunterricht. In die- B: stoffen.
sem Kapitel beschränken wir uns auf den ungesteu- Mutter: Was ist das?
erten Spracherwerb von Kindern, der ohne explizi- B: Na, Stoff aufkleben.
te Unterrichtung in der natürlichen Sprachumgebung (3) C (2;01 Jahre) möchte, dass die Mutter die Babypuppe in den
stattfindet und in dessen Verlauf die Kinder die Spra- Wagen legt.
che so meistern, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten C: Baby rein.
denen der Erwachsenen entsprechen. (4) D (4;07 Jahre) und Mutter betrachten die Knospe einer Blume.
Sprachliche Fähigkeiten umfassen das implizite D: Oh, die Blume muss ja noch aufwachsen.
Wissen über die in der Muttersprache zulässigen Mutter: Was muss die?
Strukturen und deren Interpretation. Diese sprach- D: Na, die ist noch nicht aufgewachst.
lichen Fähigkeiten sind dem Sprecher in der Regel (5) E (4;03 Jahre) und Mutter im Gespräch.
selbst nicht bewusst. Ausdrücke wie ›meistern‹, Mutter: Und weigerst du dich manchmal ins Bett zu gehen?
›kennen‹ oder ›analysieren‹, die seitens des Sprach- E: Ja. Ich gehe gern ins Bett, weil ich so müde bin.
lerners Explizität und Intentionalität nahelegen,
sind daher nicht wörtlich zu verstehen. Kinder reduzieren Silben in Wörtern (1) und erfin-
den neue Wörter wie stoffen (2). Sie verwenden
nicht zielsprachliche syntaktische Strukturen ohne
Subjekt und Verbstamm (3) und existierende Wör-

155
5.1
Spracherwerb
Einleitung

ter wie aufwachsen mit abweichender Bedeutung N Der Sprachlerner benötigt relevanten sprachli-
und mit abweichender Flexion (4), und schließlich chen Input.
interpretieren sie komplexe Strukturen wie sich Die Ansätze unterscheiden sich in den Annahmen
weigern zu anders als Erwachsene (5). Der kind- darüber, welche genetische Ausstattung das Kind
liche Umgang mit Sprache ist kreativ – und zwar für die Aufgabe des Spracherwerbs mitbringt und
offenbar in regelgeleiteter Weise. Daher gilt der Be- welche Rolle die Interaktion mit der Umwelt, ins-
haviorismus als Erklärungsansatz für den Spra- besondere der sprachliche Input, spielt.
cherwerb als überholt. Nativismus: Noam Chomskys (1959) Replik auf
Beginn der Spracherwerbsforschung: Bereits Skinner sowie die Chomsky-Piaget-Debatte 1975
vor dem eigentlichen Beginn der Kindersprachfor- markieren den Beginn der generativen Spracher-
schung Ende des 19. Jh.s wurden Untersuchungen werbsforschung. Dem Nativismus zufolge besitzt
durchgeführt, die aus heutiger Sicht grausamen der Sprachlerner eine sprachspezifische Prädis-
Isolationsexperimente. Um die Frage der Urspra- position, die es ihm ermöglicht, trotz fehlender
che zu erforschen, wurden Säuglinge ohne Kon- systematischer Korrekturen durch die Umwelt
takt zur menschlichen Sprache aufgezogen. Auf und trotz prinzipiell unzureichenden Inputs (po-
diese Weise hoffte man herauszufinden, ob Hebrä- verty of the stimulus)in relativ kurzer Zeit und
isch, Griechisch, Latein, Arabisch oder Phrygisch scheinbar mühelos eine oder mehrere Erstsprachen
die älteste Sprache dieser Erde sei. So hat der zu erwerben (vgl. Pinker 1984; Tracy 2000). Der
ägyptische Pharao Psammeticus bereits im Input ist zwangsläufig unzureichend, da er immer
7. Jh. v. Chr. zwei Kinder von einem Schafhirten nur einen Ausschnitt aller möglichen Sätze einer
aufziehen lassen, dem es verboten war, mit ihnen Sprache darstellt. Die Universalgrammatik, d. h.
zu sprechen. Den Beginn der modernen Spracher- das angeborene spezifisch menschliche Sprachwis-
werbsforschung markieren Tagebuchstudien wie sen, bildet den universellen Bauplan. Durch die
die des Ehepaars Stern (1907/1987). Sie wurden Verarbeitung des Inputs der Sprachumgebung wer-
im Zuge des Behaviorismus durch die Hinwen- den dann bestimmte einzelsprachliche Parameter
dung zur gezielten Untersuchung direkt beob- wie z. B. für die Abfolge von Objekt und Verb
achtbaren Verhaltens abgelöst. Im Kontrast zum (O,V) in der Verbalphrase gesetzt (z. B. OV für das
Behaviorismus, der den menschlichen Geist als Deutsche, VO für das Englische; für die histori-
›black box‹ betrachtet, betont der von Jean Piaget sche Entwicklung s. Kap. II.4.6.2.3). Krosslingu-
etablierte Kognitivismus die menschliche Eigen- istische Ähnlichkeiten, d. h. Ähnlichkeiten über
aktivität (Piaget 1923/1972). In kognitiven Ansät- verschiedene Einzelsprachen hinweg, gelten als
zen wird Sprache als Teilaspekt der Kognition auf- Beleg für die Existenz der Universalgrammatik
gefasst. Spracherwerb beruht demzufolge auf und werden daher erwartet. Anders als im Kogni-
allgemeinen kognitiven Lernstrategien und der tivismus ist das Konzept der Modularität in zwei-
generellen Symbolisierungsfähigkeit des Kindes. erlei Hinsicht zentral. Erstens wird das Sprachsys-
Spracherwerbs- Aktuelle Erklärungsansätze: Neben dem Kogni- tem als ein von anderen kognitiven Fähigkeiten
theorien tivismus zählen die von Noam Chomsky entwi- unabhängiges Modul betrachtet. Es wird daher
ckelte Theorie des Nativismus und der von Je- erwartet, dass der Spracherwerb weitgehend un-
rome Bruner und Catherine Snow begründete abhängig von der non-verbalen kognitiven Ent-
Interaktionismus zu den prominentesten Sprach- wicklung verläuft. Zweitens wird angenommen,
erwerbstheorien (vgl. Klann-Delius 2008). Weitere dass das Sprachmodul selbst modular aufgebaut
neuere Erklärungsansätze sind innerhalb der Opti- ist; die einzelnen Teilsysteme der Grammatik bil-
malitätstheorie, der Theorie des Statistischen Ler- den die Submodule. Daher können z. B. der Auf-
nens, des Konnektionismus und der dynamischen bau des Lexikons und der Syntax unterschied-
Systemtheorie angesiedelt. Die aktuellen Erklä- lichen Erwerbsstrategien folgen.
rungsansätze teilen im Wesentlichen folgende An- Interaktionismus: Ausgangspunkt ist u. a. Bru-
nahmen: ners (1975) Entdeckung, dass Eltern in der frühen
Annahmen aktueller N Der Sprachlerner ist nicht nur passiv, sondern Eltern-Kind-Interaktion ihre Sprache gezielt an die
Erklärungsansätze eigenaktiv. Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes anpassen.
N Der Spracherwerb gelingt unter vielen verschie- Statt eine sprachspezifische Prädisposition für
denen Umweltbedingungen. den Spracherwerb anzunehmen, geht man in in-
N Es findet keine explizite Unterweisung durch teraktionistischen Erklärungsansätzen (usage-
die Bezugspersonen statt. based, emergentist) davon aus, dass Grammatik

156
5.2
Spracherwerb
Spracherwerbsforschung
und Linguistik

aus sozialen Verhaltensweisen entsteht. Es wird sich Relativsätze und W-Fragen zwar auf der Ober-
angenommen, dass Sprache eine Form sozialen fläche (s. Kap. II.2.3.4.1); beiden Strukturen liegt je-
Verhaltens ist und dass das Kind die genetische doch die gleiche Art von Konstituentenbewegung
Prädisposition zur sozialen Interaktion besitzt. zugrunde, die sogenannte W-Bewegung. Zweitens
Der Input spielt folglich eine entscheidende Rolle dienen Ergebnisse aus dem Erst- und Zweitsprach-
für den Spracherwerb. Zum einen erleichtert die erwerb dazu, konkurrierende linguistische Erklä-
an das Kind gerichtete Sprache (motherese), die rungsansätze zu überprüfen. Unerwartete Ergeb-
sich an den sprachlichen Fähigkeiten des Kindes nisse ermöglichen es, neue Forschungsfragen und
orientiert, den Spracherwerb. Zum anderen wird Herausforderungen für die linguistische Theoriebil-
argumentiert, dass Eigenschaften des Inputs wie dung zu identifizieren bzw. selbst zur Hypothesen-
Frequenz und Salienz die Erwerbsreihenfolge be- bildung in der linguistischen Theorie beizutragen
einflussen. Es wird also angenommen, dass häufi- (vgl. Roeper 2007; Tracy 2000). Darüber hinaus wis-
ge und leicht wahrnehmbare Wörter schneller er- sen wir aufgrund einer Fülle von Studien inzwi-
worben werden. Das Konzept der Modularität schen, dass bestimmte Spracherwerbsphasen sowie
spielt keine Rolle. Ähnlich wie im Kognitivismus Schwierigkeiten mit spezifischen Phänomenen (z. B.
wird davon ausgegangen, dass der Spracherwerb mit der W-Bewegung) sprachübergreifend gleich
aufgrund allgemeiner Lernmechanismen erfolgt, sind, während andere (z. B. mit der Verbflexion)
die es dem Kind ermöglichen, auf der Basis des sprachspezifischen Einflüssen unterliegen. In diesen
Inputs aus einzelnen gebrauchsbasierten Kon- Fällen erlauben Daten der sprachvergleichenden
struktionen abstrakte grammatische Strukturen Erwerbsforschung Hinweise auf universelle so-
abzuleiten (vgl. Tomasello 2003). wie sprachspezifische Eigenschaften von Gram-
matiken. Untersuchungen zum Zweitspracherwerb
(s. 5.3) und zu spezifischen Spracherwerbsstörun-
gen (s. 5.4) erlauben außerdem, den Einfluss rein
5.1.2 | Spracherwerbsforschung sprachlicher Mechanismen und Eigenschaften von
und Linguistik anderen Faktoren zu unterscheiden, die nicht das
Sprachvermögen im engeren Sinne bestimmen. Im
Zwischen Spracherwerbsforschung und Linguistik Zweitspracherwerb wird z. B. der Einfluss des Al-
bestehen vielfältige Beziehungen. Erstens eröffnen ters auf den Erwerbsverlauf erforscht. Daten zum
die Generalisierungen und Hypothesen innerhalb gestörten Erstspracherwerb können Aufschluss
der Phonologie, Syntax, Semantik oder Pragmatik darüber geben, ob nicht-sprachliche Faktoren
überhaupt erst die Möglichkeit, theoriegeleitete wie Informationsverarbeitung, Arbeitsgedächtnis
Vorhersagen für den Erwerb abzuleiten. Zwischen oder nonverbale Intelligenz sprachliche Leistun-
deskriptiv verschiedenen Phänomenen lassen sich gen beeinflussen. Damit leisten diese Untersu-
nur aufgrund linguistisch begründeter Strukturähn- chungen auch einen wichtigen Beitrag zur Beant-
lichkeiten phänomenübergreifende Erwerbshypo- wortung der Frage nach der Modularität des
thesen aufstellen und überprüfen. So unterscheiden Sprachsystems.

5.2 | Erstspracherwerb
Der Erstspracherwerb ist der am intensivsten Definition
untersuchte Spracherwerbstyp. Aufgrund einer
Vielzahl von Untersuchungen mithilfe unter- Der Prozess, den Kinder durchlaufen, wenn sie ab Geburt ihre erste
schiedlicher empirischer Methoden wie Spontan- Sprache erwerben, nennt man   Erstspracherwerb. Sprechen die Eltern
sprachanalysen und experimenteller Verfahren bzw. die Hauptbezugspersonen die gleiche Sprache, wächst das Kind
(s. Kasten S. 158) lässt sich inzwischen für viele einsprachig, also monolingual auf. Verwenden Vater und Mutter
Phänomene und Strukturen beschreiben, wie Kin- gegenüber dem Kind ab Geburt unterschiedliche Sprachen, spricht man
der ihre Erstsprache erwerben und wann sie die von doppeltem Erstspracherwerb oder simultanem Bilingualismus. In
zielsprachliche Form, Bedeutung und Verwendung der Erstspracherwerbsforschung untersucht man also monolinguale
meistern (vgl. Rothweiler 2007; Schulz 2007a; und simultan bilinguale (oder auch trilinguale) Kinder.
Szagun 2010).

157
5.2
Spracherwerb
Erstspracherwerb

Der Erstspracherwerb beginnt bereits im letzten auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems,
Drittel der Schwangerschaft mit der Wahrneh- auch abhängig von der untersuchten Sprache, un-
mung von Schallwellen im Uterus. Wann der terschiedlich entwickeln und verändern. Für das
Spracherwerb abgeschlossen ist, ist nicht eindeu- Deutsche nimmt man an, dass Kinder das phono-
tig zu bestimmen, da sich sprachliche Fähigkeiten logische und grammatische System in der Regel

Zur Vertiefung

Experimentelle Methoden in der Spracherwerbsforschung


In der experimentellen Psycholinguistik unterscheidet man zwischen off-line- und on-line-Methoden (McDa-
niel/McKee/Cairns 1996; Sekerina/Fernández/Clahsen 2008). Off-line-Verfahren untersuchen, wie die Lerner
nach dem Ende des Verarbeitungs- und Interpretationsprozesses reagieren. Ausgewertet werden Antwortmuster,
speziell die auftretenden Fehler, sowie Reaktionszeiten. Off-line-Verfahren lassen sich weiterhin danach unter-
scheiden, ob sie das Sprachverständnis oder die Sprachproduktion untersuchen. Gängige off-line-Verfahren zur
Erforschung der Sprachrezeption und des Sprachverständnisses sind Kopfbewegungs-Präferenz-Verfahren,
Wahrheitswert-Aufgaben und Bildwahl-Aufgaben. Bei den Kopfbewegungs-Präferenz-Verfahren wird gemes-
sen, wie lange ein Kind sich bestimmten Sprachreizen zuwendet, die jeweils seitlich vom Kopf abgespielt wer-
den. Das Verfahren ist für Kinder unter zwei Jahren geeignet und wird v. a. eingesetzt, um die Differenzierung
phonetischer Kontraste sowie die frühe morphologische und syntaktische Verarbeitung zu untersuchen. In
Wahrheitswert-Aufgaben sollen die Kinder entscheiden, ob ein vorgegebener Satz zu einer vorgegebenen Be-
deutung, dargestellt durch ein Bild, eine vorgespielte Szene oder einen Film, passt. Bei der Bildwahl-Aufgabe
soll das Kind aus einer Auswahl von zwei bis vier Bildern das zu einem Satz passende Bild auswählen. Diese
beiden Verfahren eignen sich für Kinder ab zwei bzw. drei Jahren und werden vor allem im Ber