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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie*

Von Prof. Dr. Dr. Marcelo A. Sancinetti, Buenos Aires

I.

In einer Abhandlung von Engisch aus dem Jahr 1932, die hinsichtlich der
Entwicklung des Kausalitätsbegriffs im Übrigen Geschichte gemacht hat,
befindet sich ein Beispielsfall, der zum Klassiker geworden ist: Der Vater
eines Mordopfers stößt den Henker zurück, als dieser gerade ansetzt, die –
damals geltende – Todesstrafe am Mörder seines Kindes zu vollstrecken, und
vollzieht gleichzeitig selbst die Hinrichtung, um sein Kind zu rächen 1. En-
gisch wählte dieses Beispiel in seinem Kampf gegen die conditio-sine-qua-
non-Formel, die er durch die „Formel der (natur-)gesetzmäßigen Bedin-
gung“ ersetzen wollte 2. Es bestand allerdings kein Zweifel, dass es der Vater
und kein anderer war, der den zum Tode Verurteilten getötet hatte, auch
wenn seine Handlung hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg
entfallen wäre.
Feuerbach hatte jedoch etwa 100 Jahre zuvor in einem gleich gelagerten
Fall die Auffassung vertreten, dass der Täter „wider die öffentliche Ordnung
als Polizeiübertreter handelt, nicht wider das Recht des andern auf Leben,
als Mörder“ 3.

* Deutsche Fassung von Rechtsreferendar Thomas Kliegel, Düsseldorf.


1 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 15 f.
2 Engisch (Anm. 1), S. 21 ff.
3 v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts,
1. Aufl. 1801, S. 32; auf die Lösung von Feuerbach – konträr zu der von Engisch – wird
nur selten Bezug genommen; vgl. dazu Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothe-
tischer Erfolgsursachen im Strafrecht, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 200 ff., 226,
mit Fn. 84; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 7/94, Fn. 145; Dencker,
Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 71, Fn. 137. E. F. Klein hatte ausgeführt, die Todes-
strafe für vorsätzliche Tötung gelte nicht für denjenigen, „welcher den mit zerbroche-
nen Knochen auf dem Rade langsam Sterbenden durch einen mitleidigen Pistolen-
schuss tötet“. Angeblich solle Feuerbach das anders sehen müssen. Aber Feuerbach
erwidert: „Wer den Geräderten tötet, tötet einen Menschen, der nicht mehr im Schutze
des Staates ist, auf dessen Beschützung also auch nicht das Strafgesetz (ohne sich selbst
zu widersprechen) gerichtet sein konnte.“ (Revision der Grundsätze und Grund-
begriffe des positiven peinlichen Rechts Teil 2, 1800, Vorwort S. XXXVIII f. – Recht-
schreibung modernisiert, Klein zitiert nach der Darstellung bei Feuerbach). – Ich danke
dem Herrn Kollegen Jakobs dafür, dass er mir diese Referenzen über Klein und Feuer-
bach hat zukommen lassen.

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Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Herangehensweisen an den


Fall besteht nicht notwendig ein Widerspruch, da auch Feuerbach nicht die
Kausalität verneinte, sondern lediglich die Bewertung als Tötung, während
Engisch sich allein der Verursachungslehre widmete.
Doch die herrschende Meinung 4 im Strafrecht akzeptiert im Prinzip bis
heute nicht – wenn man vom Fall der „Risikoverringerung“ und vom Pro-
blem des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ absieht –, dass das was ge-
schehen wäre, wenn nicht das geschehen wäre, was geschah, die auf Kausa-
lität basierende Zurechnung ändern kann. Die Fallgruppen der objektiven
Zurechnung, die grundsätzlich die auf Kausalität basierende Zurechnung be-
schränken – nach der vereinfachten und ungenauen Art und Weise, in der
diese Theorie zum Teil dargestellt wird –, beinhalten keinen „Wegfall der
Zurechnung“, wenn eine Reserveursache den gleichen Erfolg bewirkt hätte,
sofern dieser nicht bereits vom Täter herbeigeführt worden wäre. Vereinzelt
wird ein „teilweises Entfallen der Zurechnung“ im Wege der Strafmilderung
vorgeschlagen, je nachdem, wie der hypothetische Verlauf ausgegangen
wäre 5, mehr aber nicht. Das bedeutet, dass die herrschende Meinung den

4 BGHSt. 2, 20, 24; 10, 369, 370; 13, 13, 14 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Straf-
rechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 281 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner
Teil, 36. Aufl. 2006, Rdn. 161; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2005, § 4
Rdn. 11 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rdn. 58 ff.;
Schönke/Schröder-Lenckner/Eisele, StGB, 27. Aufl. 2006, Rdn. 80 vor §§ 13 ff.;
Eb. Schmidt, Arzt im Strafrecht, 1933, S. 161 ff., 200 ff.; Jakobs (Anm. 3), 7/74 ff.; ders.,
Risikokonkurrenz – Schadensverlauf und Verlaufshypothese im Strafrecht, Festschrift
für Lackner, 1987, S. 53 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des
Erfolgs, 1988, S. 562 ff.; Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht,
ZStW 92 (1980), S. 863 ff., 888 ff.; dies, Nomos Kommentar, 2. Aufl. 2005, Rdn. 152 vor
§ 13; Freund, MüKo-StGB, 2003, Rdn. 309 Vorbemerkung §§ 13 ff. A. A.: grundsätz-
lich Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 88 ff., 125 ff.; Arthur
Kaufmann (Anm. 3); Rudolphi, Systematischer Kommentar, 6. Auflage, 26. Lfg. Juni
1997, Rdn. 60 ff. vor § 1; Hoyer, Kausalität und/oder Risikoerhöhung, Festschrift für
Rudolphi, 2004, S. 95 ff., insbes. S. 103 f.; ders, Überbedingte Erfolge, Festschrift für
Jakobs, 2007, S. 175 ff., insbes. 186 ff.; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2007,
9/27 ff.
5 Genauso wie die herrschende Meinung die Möglichkeit ablehnt, dass ein hypothe-
tischer Verlauf die Zurechnung eines realen Verlaufs aufheben kann, akzeptiert sie –
kaum vereinbar mit der grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Relevanz – in bestimm-
ten Situationen, dass das Vorliegen eines hypothetischen Verlaufs, der den gleichen Er-
folg verursacht hätte, die Verantwortlichkeit abschwächen kann; vgl. dazu Engisch
(Anm. 1), S. 18, Fn. 1; Spendel, Der Conditio-sine-qua-non-Gedanke als Strafmilde-
rungsgrund – zugleich ein Beitrag zum Besonderen Teil der Strafzumessungslehre,
Festschrift für Engisch, 1969, S. 509 ff., insbes. 523 ff.; Jakobs (Anm. 3), 7/90 ff., 92;
Frisch (Anm. 4), S. 568, Fn. 220.

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Widerspruch zwischen diesen beiden großen Denkern der deutschen Straf-


rechtslehre grundsätzlich zugunsten der Ansicht von Engisch auflöst, nicht
nur hinsichtlich des Problems der Kausalität, sondern auch im Hinblick auf
die Zurechnung.
So geht Roxin zunächst davon aus, dass „die Zurechnung einer rechts-
widrigen Tatbestandsverwirklichung nicht deswegen ausgeschlossen werden
kann, weil ein Ersatztäter bereitstand, der beim Ausfall des Handelnden die
Tat übernommen hätte“ 6. Hier wendet Roxin Lösung und Begriff von Sam-
sons „Übernahmeprinzip“ an 7. Aber Roxin hält sofort fest, dass die Lösung
sich genauso wenig ändert – und hier löst er sich von Samson –, wenn der Er-
satztäter rechtmäßig gehandelt hätte, weshalb er im Fall des „Henkers“ die
Zurechnung bejaht: „Denn wenn der Gesetzgeber eine tatbestandsmäßige
Handlung allein bestimmten Personen oder Funktionsträgern gestattet, lässt
sich diese Beschränkung nur durchsetzen, wenn das Verbot gegenüber ande-
ren ungeschmälert aufrechterhalten wird“ 8.
Dabei bleibt jedoch offen, ob der in diesen Fällen vorliegende Unwert
des Tatgeschehens dem Unwert jeder anderen Beeinträchtigung desselben
Rechtsguts entspricht, die von keinem anderen anstelle des Täters hätte be-
wirkt werden können, oder ob es sich vielmehr um einen Unwert des Ver-
fahrens handelt, wobei letztendlich eine Handlung verwirklicht wird, die
unter den gegebenen Umständen an sich erlaubt war. Es müsste ein Instru-
ment in der Zurechnungslehre geben, das diesen wichtigen Unterschied
berücksichtigt. Ist also das betroffene Gut in Fällen wie dem des „Vaters, der
anstelle des legitimen Henkers handelt“, das der Unantastbarkeit mensch-
lichen Lebens an sich, oder ist in diesen Fällen vielmehr die Verletzung des
staatlichen Gewaltmonopols von Bedeutung, etwas was der Einzelne sich
nicht anzumaßen hat?
Die Fragestellung besitzt auch heute noch Aktualität, sogar in diesem
konkreten Fall. Die internationale Gemeinschaft hat vor kurzem der Hin-
richtung eines Menschen beigewohnt, der zunächst durch die Invasion einer
mächtigen ausländischen Gewalt von der Macht in seinem Land gestürzt
wurde, dann festgenommen und später den neuen Machthabern des Lan-
des – das er selbst zuvor diktatorisch regiert hatte – übergeben wurde, damit
er in einem „gerechten Verfahren“ verurteilt werde. Der Angeklagte wurde

6 Roxin (Anm. 4), § 11, Rdn. 58.


7 Samson (Anm. 4), S. 125 ff.
8 Roxin (Anm. 4), § 11 Rdn. 60.

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zur Todesstrafe verurteilt, verlangte aber im Prozess für eben diesen Fall,
dass er erschossen und nicht gehängt werde. Es wäre mithin vorstellbar ge-
wesen, dass ein Gefolgsmann des Angeklagten sich diesen Wunsch zu Her-
zen genommen hätte und zur Stunde der Hinrichtung einen Schuss abgege-
ben hätte. Durch den Überraschungseffekt und den Sturz des Körpers wäre
das Erhängen verhindert worden, das „Opfer“ aber an der Schussverletzung
einige Minuten später und damit zur vorgesehenen Hinrichtungszeit gestor-
ben. Die „mutmaßliche Einwilligung“ könnte die Tat nach der herrschenden
Meinung höchstens zu einer Tötung auf Verlangen werden lassen, nicht je-
doch das Unrecht ausschließen. Mit den Worten von Jakobs: „Kraß: Dem
Hinzurichtenden ist garantiert, dass er vom Zuständigen getötet wird“ 9.
Jedoch ist die Enttäuschung dieser „Erwartung“ eher eine Anmaßung
staatlicher Gewalt und nicht die Entziehung des Lebens an sich, das der
Staat bereits für wertlos erklärt hat. Dass der Todesschütze wegen der Ver-
letzung staatlicher Kompetenzen verurteilt wird, stärkt in keiner Weise das
Vertrauen in den Wert des eigenen Lebens, was aber gerade Aufgabe des
Tötungsverbots ist.

II.

Auf der anderen Seite bildet Jakobs in seinem Lehrbuch „einen Oberbegriff
des Verhaltens …, der in der vermeidbaren jeweiligen Erfolgsdifferenz die
Gemeinsamkeit von Handeln wie Unterlassen umfasst“ 10. Ob diese Verhal-
tensdefinition die bestmögliche darstellt, soll hier nicht beurteilt werden; in
jedem Fall ist es richtig, dass, wenn etwas als objektives äußeres Datum, z. B.
ein Erfolg, zugerechnet werden kann, dieses aus einer Differenz bestehen
muss.
Die entscheidende Frage wird jedoch nun sein, welcher Zustand von
Dingen als Grundlage für den Vergleich mit dem durch den Täter verursach-
ten Zustand angenommen wird, um die Differenz festzustellen und, falls
diese existiert, sie auch gerecht zu behandeln.
Die herrschende Strafrechtslehre wählt die Differenz zwischen dem sta-
tus quo ante (ein lebendiger Mensch, ein heiles Glas) und der nach der
Handlung des realen Verlaufs vorliegenden Situation (ein toter Mensch, ein

9 Jakobs (Anm. 3), 7/94 (Gegenposition zu Feuerbach in Fn. 145).


10 Jakobs (Anm. 3), 6/32 (Hervorhebung dort).

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zerbrochenes Glas), um den Erfolg festzustellen. Es scheint jedoch der In-


tuition zu widerstreben, der Zurechnung einer Differenz einen Vergleich der
geschehenen Tat mit der statischen Ausgangssituation des Rechtsgutobjekts
zugrundezulegen, anstatt die nun bestehende Situation mit derjenigen zu
vergleichen, in der sich das Objekt nach natürlicher Entwicklung der Ereig-
nisse befände, wenn die Handlung nicht vollzogen worden wäre.
In anderen Zusammenhängen – z.B. bei der Prüfung des Vorliegens eines
rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstandes – ist es entscheidungs-
erheblich zu wissen, wie die Dinge sich in dem Moment entwickelt hätten, in
dem der Täter seine Entscheidung zu handeln traf. Nur die hypothetischen
Verläufe können die Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung geben.
Insofern ist nicht verständlich, aus welchem Grund dasselbe nicht für das
Unwerturteil einer Handlung gelten soll, wenn die Missbilligung des Risikos
im Sinne der „objektiven Zurechnung“ – oder nach der Unterscheidung von
Frisch der Tatbestandsmäßigkeit der Handlung – von einer Interessenabwä-
gung zwischen der Handlungsfreiheit und den durch die verbotene Hand-
lung geschaffenen Risiken abhängt. Aus welchem Grund sollte die Güter-
abwägung des Angriffsnotstandes aus einer dynamischen Perspektive – ein-
schließlich all dessen, was geschehen wäre, wenn die Handlung nicht vollzo-
gen worden wäre – stattfinden und im Gegensatz dazu die Interessenabwä-
gung hinsichtlich der Missbilligung eines Risikos nur aus einer statischen?
Ist allein der Zustand des Objekts in diesem Moment entscheidend und
nicht, was ihm widerfahren wäre, wenn das Geschehen ohne das Eingreifen
des Täters seinen Lauf genommen hätte?

III.

In der Schuldrechtsdogmatik wird die so genannte „Differenztheorie“ oder


„Differenzhypothese“ hingegen wieder von vielen zur Feststellung eines er-
setzbaren Schadens und dessen Ausmaßes bevorzugt. Auch wenn der Klang
dieses Begriffes äußerlich eine Analogie zu Jakobs’ Definition des zurechen-
baren Verhaltens darstellt, das heißt der „Herbeiführung einer Erfolgsdiffe-
renz“, so versteht man im Zivilrecht unter „Differenzhypothese“ einen Ver-
gleich der durch den Schädiger herbeigeführten Situation mit der Situation,
in der der Geschädigte sich befände, wenn der Schädiger nicht gehandelt
hätte, nicht jedoch einen Vergleich mit dem status quo ante.
Es ist zumindest erstaunlich, dass Strafrechtler, die grundsätzlich in vie-
len Punkten abweichende Ansichten zur herrschenden Meinung hinsichtlich

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der objektiven Zurechnung vertreten, wie Jakobs, Frisch oder Puppe, in die-
sem Punkt der herrschenden Meinung darin beipflichten, dass „Reserveursa-
chen“ die Zurechnung eines durch den realen Verlauf verursachten Erfolges
nicht ausschließen. Die Selbstsicherheit der vorwiegenden Auffassung soll
daher hier in Zweifel gezogen werden, indem zunächst eine kurze Einleitung
zum Stand der Diskussion über die „Differenzhypothese“ in der deutschen
Zivilrechtslehre gegeben wird.
Zur Anwendung der „Differenztheorie“ denkt die sie vertretende Lehre
nicht nur die zu beurteilende Handlung mit der conditio-sine-qua-non-For-
mel hinweg – abgesehen davon, dass der Kausalitätsbegriff selbst aus der
Formel der „naturgesetzlichen Bedingung“ herrührt –, sondern denkt jene
Verläufe hinzu, die sich ergeben hätten, wenn die Handlung, die den tatsäch-
lichen Schaden verursacht hat, nicht vollzogen worden wäre. Auf den ersten
Blick ist diese Lösung sogar durch das positive deutsche Recht selbst im
Wortlaut des § 249 Abs. 1 BGB vorgegeben, der Art und Umfang des Scha-
densersatzes regelt: „Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zu-
stand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende
Umstand nicht eingetreten wäre“.
Im modernen Lehrbuch von Lange/Schiemann 11 wird die Differenz-
hypothese mit folgenden Worten vorgestellt:
„Denkt man in den Fällen hypothetischer Schädigungen den zum Ersatz verpflich-
tenden Umstand hinweg, so wäre dem Ersatzberechtigten der vom Verpflichteten an-
gerichtete Schaden ganz oder teilweise auch entstanden. Das Gesetz sagt zwar nicht
ausdrücklich, dass bei der Schadensberechnung hypothetische Schädigungen hinzuzu-
denken sind. Aber es ist schwerlich zu bestreiten, dass im Rahmen der Differenzhypo-
these nicht nur das schädigende Ereignis hinwegzudenken ist, sondern die Errechnung
des maßgeblichen Saldos ganz allgemein auch die Berücksichtigung von Geschehens-
abläufen erfordert, die nicht stattgefunden haben“ 12.

Auch wenn diese Interpretation plausibel erscheint, kann der Text des § 249
Abs. 1 BGB jedoch genauso gut als bloße Regel verstanden werden, die im
Prinzip die Naturalrestitution anstelle des Schadensersatzes in Geld vor-
schreibt und gleichzeitig zu vollständigem Ersatz verpflichtet (restitutio in
integrum). Aber in jedem Fall leitet sich die Notwendigkeit, Ersatzursachen
bei der Bestimmung eines gerechten Schadensersatzes zu berücksichtigen,
aus dem allgemeinen Grundsatz des Verbots der ungerechtfertigten Berei-
cherung beziehungsweise aus dem daraus abgeleiteten Prinzip der „Vorteils-

11 Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl. 2003.


12 Lange/Schiemann (Anm. 11), § 4 IV (S. 185).

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ausgleichung“ (compensatio lucrum cum damno) ab. Der vom Schädiger her-
beigeführte Vorteil für den Geschädigten besteht gerade in der Aufhebung
des Schadens, der entstanden wäre, wenn der Schädiger nicht gehandelt
hätte. Grunsky fasst dies wie folgt zusammen: „Der Vorteil besteht im
Nichteintritt eines anderen schädigenden Ereignisses“ 13.
Obwohl die „Differenzhypothese“ 14 ihren Ursprung vor langer Zeit
hatte und zumindest bis auf Friedrich Mommsen zurückgeht 15, waren die
deutsche Rechtsprechung und Lehre Anfang des vergangenen Jahrhunderts
grundsätzlich gegen die Berücksichtigung von Reserveursachen. Jedoch
machten sie gewisse Ausnahmen, etwa für den Fall, dass die hypothetischen
Umstände im Moment der Verletzung bereits vorlagen, wie bei anlagebe-
dingten Verletzungsfolgen des Opfers, aber auch in anderen Fällen. In der
grundsätzlichen Ablehnung, Hypothesen zu berücksichtigen, spielte die Be-
vorzugung der Kausalitätstheorie als Zurechnungskriterium eine Rolle.
„Vor allem das RG stützte sich auf die Erwägung, daß die Kausalität der
»Eingriffsursache« durch das Vorhandensein der »Reserveursache« nicht
aufgehoben werde“ 16. Ähnlich argumentierte die frühe Rechtsprechung des
BGH, nach der eine ausgelöste Kausalität nicht mehr aufgehoben werden
konnte: „… weil mit dem Eingriff sogleich der Anspruch auf Schadensersatz
entstanden war und das Gesetz den späteren Ereignissen keine schuldtil-
gende Kraft beigelegt hat“ 17.

13 Vgl. dazu Grunsky, Hypothetische Kausalität und Vorteilsausgleichung, Festschrift für


Hermann Lange, 1992, S. 469 ff., insbes. S. 470; ebenso schon Veith, Anm. RGZ 141,
S. 363, JW 62 (1933), 2641; s. ders., Anm. RGZ 144, S. 80, JW 63 (1934), 1904 f. Vgl.
auch Lange/Schiemann (Anm. 11), S. 183: „Trotz alledem sollte man die der Rechtstra-
dition entsprechende Trennung der Bereiche nicht aufgeben. Eine Integration in die
Lehre von der Vorteilsausgleichung würde sich nur empfehlen, wenn die für diese aus-
gearbeiteten Kriterien auch für hypothetische Schadensfälle nutzbar gemacht werden
könnten, wofür indessen kein hinreichender Anhalt besteht.“
14 Der Ausdruck stammt wahrscheinlich von Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929,
S. 48; vgl. Schiemann, „Neues“ allgemeines Schadensrecht durch Rückfall hinter Fried-
rich Mommsen?, Festschrift für Seiler, 2000, S. 259 ff., 260, Anm. 1.
15 Fr. Mommsen, Beiträge zum Obligationenrecht II, Zur Lehre von dem Interesse, 1855,
§ 16, S. 145 ff.
16 Vgl. Lange/Schiemann (Anm. 11), in Bezug auf RGZ 141, 365; 144, 80; 144, 348, 358,
mit weiteren Nachweisen.
17 BGHZ 29, S. 215, zusammenfassend zur Rechtsprechung des Gerichts.

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IV.

Die prinzipielle Zurückweisung hypothetischer Ursachen kann auf nam-


hafte Vertreter der frühen deutschsprachigen zivilrechtlichen Lehre zählen.
Ich werde hier auf die Darstellung von Andreas von Tuhr und die von Lud-
wig Enneccerus zurückgreifen, auch wenn letztere sich später unter Heinrich
Lehmann in die gegenteilige Richtung entwickelte18.
1. In ihrem Ursprung verfügte die Zivilrechtsdogmatik – ähnlich wie das
Strafrecht – über kein vom Kausalverhältnis unabhängiges, auf die Verant-
wortlichkeit einwirkendes Instrument. Eine Begrenzung fand höchstens
durch Kriterien der Adäquanz statt 19. Es ist also kaum verwunderlich, dass
man sich zur Ablehnung jeglicher Relevanz hypothetischer Kausalverläufe
(einschließlich der tatsächlichen Verläufe, die nach Eintritt des ersten Scha-
dens herbeigeführt wurden und den gleichen oder einen größeren Schaden
hätten anrichten können) bereits dadurch gezwungen sah, dass die Hypo-
thesen die tatsächliche Kausalität nicht verändern.
Zu beachten ist einer der zentralen Abschnitte in der Darstellung von
Tuhrs:
„Keinesfalls wird die Haftung dadurch aufgehoben, daß nach Entstehung des Schadens
neue Ereignisse eintreten, welche denselben Schaden, wenn er nicht schon entstanden
wäre, herbeiführen würden. Wer z. B. durch Fahrlässigkeit den Tod des X verschuldet
hat, kann sich nicht darauf berufen, daß X im Begriff war, ein Schiff zu besteigen, wel-

18 Diese Autoren hatten Einfluss auf das spanischsprachige zivilrechtliche Denken durch
die Übersetzungen der 1. Aufl. von v. Tuhr (durch W. Roces, Madrid, 1934) und der
11. Bearbeitung von Enneccerus/Lehmann (durch B. Pérez González und J. Alguer,
Barcelona, 1954). Die spätere Entwicklung ist, soweit ich weiß, im Allgemeinen unbe-
kannt geblieben.
19 Eine besondere Ausnahme, die im späteren Schrifttum kaum Beachtung fand (evtl.
im Zivilrecht), befindet sich im Buch von Max Ludwig Müller, Die Bedeutung des
Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht, 1912, der neben der Kau-
salität die selbstständige Voraussetzung der „objektiven Rechtsnormwidrigkeit“ prüft
(S. 22 ff., 29), ganz ähnlich wie einige Jahre später Honig in seinem Aufsatz Kausalität
und objektive Zurechnung, in Festgabe für von Frank, Bd. I, 1930, S. 174 ff. Selbst bei
Mommsen (Anm. 15), S. 158, 161 ff., wurde ein Unterschied zwischen Kausalität und
Zurechnung angedeutet: „Außerdem mögen auch hier noch einige Entscheidungen fol-
gen, in welchen es sich nicht sowohl um den Causalnexus zwischen dem eingetretenen
Schaden und der zum Ersatz verpflichtenden Thatsache, als vielmehr darum handelt,
ob eine zur Frage stehende Thatsache in der Weise herbeigeführt ist, daß sie zur Be-
gründung eines Anspruchs auf das Interesse dienen kann“ (Hervorhebung von mir).
Übereinstimmend Schiemann (Anm. 14), S. 266.

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ches später mit allen Passagieren unterging, so wenig er sich darauf berufen kann, daß
X doch einmal gestorben wäre. Denn es bleibt trotzdem wahr, dass der Tod des X, so
wie er sich ereignet hat, durch Verschulden des Täters herbeigeführt wurde“ 20.

Hier taucht vor allem ein doppeltes Problem auf: Einerseits wird hier das
Beispiel einer Tötung angeführt, um die Relevanz hypothetischer Verläufe
zu verneinen, was das Ausmaß, in dem solche Verläufe relevant sein können,
erheblich beschränkt – wenn sie denn relevant sind. Hinzu kommt anderer-
seits, dass – in dem Beispiel von Tuhrs – die alternative Herbeiführung des
Todes durch einen hypothetischen Verlauf in jedem Fall erst später als im
realen Verlauf eingetreten wäre. Die zeitliche Dimension spielte in der späte-
ren Diskussion jedoch eine entscheidende Rolle. Als Samson für die Rele-
vanz hypothetischer Verläufe im Strafrecht eintrat, wählte er das Tötungs-
delikt tatsächlich als Mittelpunkt seiner Argumentation. Aber da das Tö-
tungsverbot zumindest nach aktuellem Verständnis ein absolutes Verbot je-
der Verkürzung der Gehirnaktivität auch nur um eine Sekunde ist, muss jede
Lebensverkürzung im Prinzip unter das Tötungsverbot fallen. Selbst von
Tuhr hebt durch kursive Schreibweise hervor, dass der Tod nach dem alter-
nativen Verlauf erst später („nach der Entstehung des Schadens im realen
Verlauf“) eingetreten wäre. Aber seine Argumentation sagt nichts gegen die
Berücksichtigung hypothetischer Verläufe, wenn der alternative Tod vorher
oder gleichzeitig eingetreten wäre 21. Auch sagt sie nichts gegen deren Be-
rücksichtigung, wenn derjenige, der das „Opfer“ davon abhält, das Schiff zu
besteigen, keine Tötung begeht, sondern bloß einen kleineren Schaden be-

20 v. Tuhr, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, 1924, S. 76 (Her-


vorhebung dort).
21 Hier liegt meines Erachtens der Fehler in der Position von Larenz, Die Berücksichti-
gung hypothetischer Schadensursachen bei der Schadensermittlung, NJW 1950, 487 ff.
(490), wenn er als Antwort auf das Argument von Veiht (Anm. 13), dass die Neutrali-
sierung eines hypothetischen Verlaufs einen Vorteil darstelle, der zugunsten des Schä-
digers bewertet werden solle, kritisch fragt: „Sollte man es tatsächlich als einen „Vor-
teil“ des Getöteten bewerten, dass der gewaltsame Tod ihn davor geschützt, kurze Zeit
später eines anderen Todes zu sterben?“ Im Fall des vorgezogenen Todes allerdings
genügt der durch die Aufhebung des hypothetischen Verlaufs entstandene „Vorteil“
niemals, um den Schaden vollständig aufzuheben, auch wenn er wohl den Schadenser-
satz verringert: Derjenige, der das Leben um eine Minute verkürzt, begeht eine Tötung,
aber er beraubt das Opfer nicht der Perspektive eines „offenstehenden“ Lebens, was
die Höhe des den Verwandten geschuldeten Schadensersatzes empfindlich reduziert.
Das Recht auf Ersatz der angefallenen Beerdigungskosten (§ 848 Abs. 1 BGB) bleibt
erhalten, jedoch nicht der Unterhaltsanspruch (§ 848 Abs. 2 BGB), den Dritte nicht
geltend machen können, wenn der Verstorbene ohnehin keine Überlebenschance hatte.

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wirkt, z. B. eine leichte (oder schwere) Körperverletzung oder eine Frei-


heitsberaubung 22.
Das ist der Fall, wenn das Opfer des von A fahrlässig verursachten Un-
falls drei Monate später im Krankenhaus verstirbt, während das Schiff, wel-
ches das Opfer hätte nehmen sollen, zwei Tage nach dem Unfall, der den re-
alen Verlauf ausgelöst hat, gesunken ist, oder etwa wenn das Opfer sich von
den erlittenen Verletzungen nach der Tat erholen konnte und in der Zwi-
schenzeit mit dem Schiff untergegangen wäre. Es stellt sich die Frage, auf der
Grundlage welchen Prinzips materieller Gerechtigkeit der Verursacher des
Todes oder der Verletzungen einem Schadensersatzanspruch ausgesetzt wer-
den darf.
Natürlich ist auch die gegenteilige Lösung im Hinblick auf die materielle
Gerechtigkeit problematisch. Denn sollte der tatsächliche Verlauf seinerseits
die Möglichkeit, den Schaden dem Verursacher des hypothetischen Verlaufs
zuzurechnen, ausschließen, müsste das Opfer sich auf eine ins Leere ge-
hende Erklärung verweisen lassen: Weder kann es den tatsächlichen noch
den hypothetischen Verursacher zur Verantwortung ziehen. Das ist auch der
Grund dafür, dass eine solch breite Übereinstimmung dahingehend besteht,
die Berücksichtigung einer Reserveursache abzulehnen, „weil, in dem Fall
ihres Eintretens, konsequenterweise ein Dritter für den Schaden verantwort-
lich gemacht werden müsste“ 23. Diese Beschränkung kann aber im Hinblick

22 Der Fall ändert sich grundlegend, wenn es sich nicht mehr um das Tötungsverbot han-
delt, sondern um das Verbot der Sachbeschädigung. Nicht jede Sekunde zerebraler Ak-
tivität eines Rindes ist strafrechtlich geschützt. Wer fahrlässig eine Kuh vom benach-
barten Feld tötet, schuldet keinerlei Schadensersatz, wenn das Gesundheitsamt die Kuh
am nächsten Tag ohnehin notgeschlachtet hätte – es sei denn, es treten besondere Um-
stände hinzu (genau in der Zwischenzeit würde eine wichtige Rinderschau abgehalten).
23 Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Allgemeiner Teil, Bd. I, 14. Aufl. 1987, S. 526 f.;
Frank/Löffler, Grundfragen der überholenden Kausalität, JuS 1985, 689 ff. [insbes.
692]. Einigen Autoren zufolge ist jedoch der Schädiger hier nur in dem Maße verant-
wortlich, in dem der Dritte Ersatz leisten müsste. Vgl. u.a. Esser/Schmidt, Schuldrecht,
Allgemeiner Teil, Bd. I, 8. Aufl. 2000, § 33 IV 1 in diesem Sinne: „Folglich sind nur sol-
che Einwirkungen zu berücksichtigen, für die niemand einstehen muß. Der von dem
Erstschädiger zu ersetzende Nachteil besteht praktisch im Entgang des Ausgleichsan-
spruchs gegen den Zweiturheber.“ Das Prinzip des Ausschlusses hypothetischer Ver-
läufe in Fällen, in denen diese die Verantwortlichkeit eines Dritten ausgelöst hätten, be-
weist die geringe Eignung des Beispiels, mit dem von Thur seine Argumentation
fortsetzt: „Ein Bankbeamter, der am 1. März Wertpapiere aus dem Kassenschrank ent-
wendet, wird nicht dadurch entlastet, daß am 2. März ein Einbruch erfolgt, durch wel-
chen auch die Wertpapiere, die er an sich genommen hat, dem Prinzipal verloren ge-
gangen wären“ (Anm. 20), S. 76. Denn aufgrund der ersten Entwendung hat die Bank

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 671

auf den Verursacher ungerecht sein, wenn der Unterschied zwischen Vorteil
und Schaden sehr groß ist. In jedem Falle genügt die Argumentation von
Thurs nicht, die hypothetische Kausalität außer Acht zu lassen, wenn es kei-
nen für den hypothetischen Verlauf Verantwortlichen gibt und der tatsäch-
liche Verlauf den Zustand des Rechtsguts in keiner Weise – im Vergleich zur
Situation, die auf hypothetischem Wege eingetreten wäre – verschlechtert
hat.
2. Was das Lehrbuch von Enneccerus angeht, so wird das Thema bis zur
10. Bearbeitung von 1928 – der letzten, die dieser bedeutende Autor alleine
herausgab bevor das Werk von Lehmann fortgeführt wurde – mit wenigen
Worten abgehandelt. Auch hier ist zu sehen, in welchem Maße das Problem
ohne nähere Begründung mit dem Kausalitätsbegriff verbunden wird. En-
neccerus führte aus:
„Würde die eine Handlung den Schaden zwar herbeigeführt haben, ist aber, bevor sie
ihre Wirkung entfalten konnte, der Schaden ganz unabhängig davon durch eine andere
herbeigeführt, so ist Kausalzusammenhang zwischen der (ersten) Handlung und dem
Schaden nicht vorhanden. War aber der Schaden infolge der Handlung schon eingetre-
ten, so wird der Kausalzusammenhang dadurch nicht wieder aufgehoben, daß der
Schaden später durch andere Umstände doch eingetreten wäre“ 24.

Jedoch ab der bereits von Lehmann zu verantwortenden 11. Bearbeitung


(1930), ließ dieser zumindest die Möglichkeit durchblicken, dass die gegen-
teilige Auffassung Recht haben könnte, auch wenn dort das Thema noch
nicht in der Form aufgearbeitet wird, wie in der letzten Bearbeitung dessel-
ben Buches von 1958. Als ersten Eingriff in dieses Werk hinsichtlich des in

die Möglichkeit verloren, ihren Anspruch gegen die Räuber zu richten (unabhängig da-
von, ob diese auffindbar sind oder nicht). Aber wenn die Wertpapiere, ohne vorher ab-
gehoben worden zu sein, durch ein Feuer verloren gegangen wären und der Schaden
weder von einer Versicherung gedeckt noch von einer anderen Person verursacht wor-
den wäre, wird der Angestellte keinen – bis auf einen vielleicht „moralischen“ – Scha-
den herbeigeführt haben, unabhängig davon, dass er die Titel an ihren Eigentümer
zurückgeben muss. Vom strafrechtlichen Blickpunkt müsste seine Tat in diesem Fall in
letzter Konsequenz durch die spätere Aufhebung des zunächst herbeigeführten Er-
folgsunwerts als Versuch bewertet werden. Vgl. Arthur Kaufmann (Anm. 3). Dass im
Strafrecht, bei dem es um den Vorwurf der fehlerhaften Motivation geht, der Täter –
zumindest bei Vorsatztaten – lediglich für den Handlungsunwert verantwortlich ge-
macht werden sollte, steht auf einem anderen Blatt.
24 Enneccerus, Recht der Schuldverhältnisse, 10. Bearbeitung, 1928, § 235; siehe auch
Anm. 9 (L. 11, § 3, L. 15, § 1, I. 51, pr. u. § 2, D. ad I. Aqu. 9, 2) und Anm. 10 (L. 7, § 4,
i. f. D. quod vi 43, 24). In der Letzteren ergänzte er: „Anders aber, wenn der Schadens-
ersatz in Form einer Rente zu leisten ist, weil es dann auf das Kausalitätsverhältnis für
jeden Zeitabschnitt ankommt, so daß, wenn ein neuer Umstand eintritt, der denselben
Schaden ohnehin verursacht hätte, insoweit die Ersatzpflicht wegfällt.“

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672 Marcelo A. Sancinetti

Rede stehenden Themas ergänzte Lehmann noch sehr vorsichtig lediglich


Folgendes:
„Es bedarf weiterer Prüfung, ob nicht […] dem Täter die Berufung auf die hypothe-
tische, in Wahrheit nicht zur Wirkung gelangte Ursache zwecks Befreiung von der Er-
satzpflicht zugestanden werden muss“ 25.

Und unter Verweis auf die Beispiele der §§ 287 und 848 BGB als Fälle der
Entlastung des Schuldners aufgrund von relevanten hypothetischen Verläu-
fen, lobte Lehmann die Ausführungen, die kurze Zeit zuvor Philipp Heck 26
zugunsten einer gewissen Berücksichtigung von Reserveursachen gemacht
hatte, als „beachtlich“ 27.
Tatsächlich klingen seine Worte am Anfang nach dem Zungenschlag von
Jakobs, wenn Heck sagt: „Schaden ist nicht die Änderung der Körperwelt,
sondern die zur Zeit der Feststellung des Schadens hervortretende Differenz
des Güterbestands. Es liegt deshalb kein Anlaß vor, bei den hypothetischen
Wirkungen, die wir schließlich einsetzen müssen, die Wirkung der Reserve-
ursache […] auszuschalten“ 28. Anschließend schlägt Heck eine Unterschei-
dung für den Fall vor, dass der tatsächliche Verlauf mit einem zufälligen Ver-
lauf konkurriert oder mit dem eines anderen verantwortlichen Urhebers. Im
ersten Fall muss kein Schaden ersetzt werden, im zweiten deutet sich zu-
nächst die Möglichkeit an, allein den zuerst Handelnden verantwortlich zu
machen – vergleichbar mit der Lösung von Jakobs für die überbedingten Er-
folge 29 –, aber schließlich entscheidet er sich für eine andere Lösung: Beide
Täter sollen zur Verantwortung gezogen werden, der Erste, dessen Verlauf
aufgrund des Eingriffs des Zweiten Reserveursache blieb, sowie der Zweite
als Realverursacher 30.

25 Enneccerus/Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse, 11. Bearbeitung, 1930, § 11, Fn. 14


(entspricht § 235, Fn. 10, der 10. Bearbeitung).
26 Heck (Anm. 14).
27 Enneccerus/Lehmann (Anm. 25), § 11, Fn. 14.
28 Heck (Anm. 14) – der Absatz handelt im Weiteren von den jeweiligen Unterschieden
hinsichtlich der am Anfang seiner Darstellung als Beispiele aufgeführten Fälle.
29 Obwohl bei Vorliegen von Reserveursachen in der Sprache von Jakobs ein Risiko
durch ein anderes ersetzt wird, so soll es sich jedoch nicht um den Fall eines überbe-
dingten Erfolges handeln.
30 Zur Lösung der gemeinsamen Verantwortlichkeit beider Subjekte (der Täter des realen
Verlaufs und der potenzielle Verursacher) gelangte später auch Bydinski, Probleme der
Schadensverursachung nach deutschem und österreichischem Recht, 1964, S. 32 ff.,
94 ff., wobei dieser vorschlug, den § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB anzuwenden. Allerdings
enthält diese Bestimmung keine Regel zur Verteilung materieller Verantwortlichkeit,
sondern löst lediglich eine Beweisfrage.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 673

In den folgenden Auflagen von Enneccerus/Lehmann wurde die Behand-


lung der Reserveursachen jedes Mal ausführlicher, bis in der 15. Bearbeitung
von 1958 eine allgemeine Regel aufgestellt wurde, nach der, obwohl die Kau-
salbeziehung sich weder auflösen noch durch die Konkurrenz hypothe-
tischer Verläufe aufgehoben werden kann, „die haftbarmachende Tatsache
im Hinblick auf eine solche sonst zur Wirkung gelangte ‚Reserveursache‘
(Heck) u. U. bei wertender Betrachtung doch nicht mehr als zureichender
Haftungsgrund für alle ursächlich auf sie zurückzuführenden Schäden aner-
kannt werden darf“ 31.

V.

1. Selbstverständlich genügen diese wenigen Nachweise nicht, um einen


Überblick zum Für und Wider der „Differenzhypothese“ zu geben, einer
Ansicht, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts immer
größere Ausmaße annahm 32. An dieser Stelle interessiert lediglich die Fest-
stellung, dass ein nicht unbedeutender Teil der deutschen Zivilrechtslehre
bei der Ansicht geblieben ist, dass nach dem allgemeinen Grundsatz des
Schadensersatzrechts der § 249 BGB so auszulegen ist, dass hypothetische

31 Enneccerus/Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse, 15. Bearbeitung, 1958, § 15 III 5,


mit ausführlicher Begründung (Hervorhebung dort).
32 Es ist schwierig einen Anfangspunkt für die zunehmende Tendenz zur „Differenz-
hypothese“ festzulegen. Vielleicht ist ein solcher das Urteil des Obersten Gerichts der
Britischen Zone vom 20. 01. 1949 (OGH Köln OGHZ 1, 308 = NJW 1949, 302 [mitge-
teilt von Dr. Hans Krille, R. A. b. OGHBrZ]), das zahlreiche Kritiker hervorrief. Im
Schrifttum vgl. insbes. v. Caemmerer, Das deutsche Schuldrecht und die Rechtsverglei-
chung – Zum Tode von Ernst Rabel, NJW 1956, 569 ff.; ders., Das Problem der über-
holenden Kausalität im Schadensersatzrecht, 1962; Esser/Schmidt (Anm. 23); Lange,
Zum Problem der überholenden Kausalität, AcP 152 (152/53), 112 ff.; Lange/Schie-
mann (Anm. 11); Lehmann, Anm. Urteil des OGH BrZ v. 20. 1. 1949, DRZ 1949, 185;
Lemhöfer, Die überholende Kausalität und das Gesetz, JuS 1966, 337 ff. Zu vermitteln-
den Ansichten vgl. Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996; Larenz
(Anm. 21); ders. (Anm. 23), auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen direkten
(keine Berücksichtigung hypothetischer Verläufe) und indirekten (Berücksichtigung
hypothetischer Verläufe) Schäden. In bestimmten Bereichen ist die Berücksichtigung
hypothetischer Verläufe jedoch aufgrund einer Besonderheit der Materie oder gesetz-
geberischer Entscheidung ausgeschlossen, so z. B. in den Fällen starrer Sätze für be-
stimmte Schäden im Kaufrecht (abstrakte Schadensberechnung) oder bei der Sachver-
sicherung; vgl. dazu m. w. Beisp., v. Cammerer (Anm. 32), S. 8 ff.; Lange/Schiemann
(Anm. 11), § 4, II.

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674 Marcelo A. Sancinetti

Verläufe Berücksichtigung finden. Die Literatur 33 zu dieser Frage ist heut-


zutage sehr unübersichtlich geworden und präsentiert darüber hinaus eine
Diskussion, die bereits mehr als 100 Jahre andauert, ohne dass man zu einer
definitiven Lösung gelangt wäre 34. Es erscheint nicht möglich, einen allge-
meinen Grundsatz aufzustellen, der alle Fallkonstellationen erfasst, vielmehr
beziehen sich die Lösungen bis heute auf bestimmte Fallgruppen mit ge-
meinsamen Besonderheiten.
Damit soll lediglich aufgezeigt werden, dass die überwiegende, totale Ab-
lehnung des Einflusses von Reserveursachen durch die Strafrechtslehre im
Zivilrecht keine Entsprechung findet. Und die Verletzung eines strafrecht-
lich „geschützten“ Rechtsgutes darf im Grundsatz nicht anders behandelt
werden, als dieselbe Verletzung bei zivilrechtlicher Betrachtung. Ob jemand
nun die Bewertung hypothetischer Verläufe auf dem Wege des Zivilrechts
oder dem des Strafrechts in Angriff nimmt, so müssen diese Wege notwendig
in einem gemeinsamen Punkt zusammentreffen, mindestens soweit es den
Erfolgsunwert betrifft, wenn dieser tatsächlich im Strafrecht eine Funktion
ausfüllen soll. Es wäre nicht nachzuvollziehen, wenn eine Tat als vollendete
Untreue (§ 266 StGB) bewertet würde, aber keine Möglichkeit des Scha-
densersatzes bestünde, weil der Schaden aus der Sicht der „Differenzhypo-
these“ (§ 249 BGB) bereits mehr als ausgeglichen wäre; anders gesagt: wenn
der Schaden durch einen Vorteil ausgeglichen wird, dürfte eine vollendete
Untreue nicht angenommen werden 35.
Dessen ungeachtet vertrat vor vielen Jahren ausgerechnet in einem, der
14. Auflage des Lehrbuches von Enneccerus/Nipperdey wohlwollend gegen-
überstehenden Artikel, Werner Niese 36 die Auffassung, dass Straf- und

33 Neben den bereits zitierten Autoren siehe auch die zusammenfassenden Darstellungen
in den Dissertationen von Studhalter, Die Berufung des präsumtiven Haftpflichtigen
auf hypothetische Kausalverläufe – Hypothetische Kausalität und rechtmäßiges Alter-
nativverhalten, 1995, und Heier, Zur Existenz eines einheitlichen Schadensbegriffs im
Sinne der Differenzhypothese unter besonderer Berücksichtigung des Dispositions-
interesses, 2001; vgl. auch Gebauer, Hypothetische Kausalität und Haftungsgrund,
2007.
34 Vgl. Nachweise in Lange/Schiemann (Anm. 11), S. 181, Fn. 3.
35 Genau die entgegengesetzte Auffassung vertretend, Kindhäuser, Zum Vermögensscha-
den beim Betrug, Festschrift für Lüderssen, S. 635 ff., insbes. S. 641 ff., unter 2. u. 3.
Dass die Bestimmung des Schadens durch eine Verrechnung im Strafrecht „unüblich“
ist, ist zuzugeben, aber dass es der „intuitiven Zurechnung des Schadens“ widerspricht,
ist genau das, was hier bestritten werden soll. Es gibt kaum ein grundlegenderes Ge-
rechtigkeitsgefühl als das der Notwendigkeit, Schäden durch Vorteile auszugleichen.
36 Niese, Die moderne Strafrechtsdogmatik und das Zivilrecht, JZ 1956, 457 ff.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 675

Zivilrecht verschiedene Perspektiven hätten und dies auch unterschiedliche


Lösungen rechtfertige, was insbesondere für das Problem der so genannten
„überholenden Kausalität“ gelte. Laut Niese „wendet das Strafrecht … sich
in erster Linie gegen den in der Straftat enthaltenen gesinnungsmäßigen
Handlungsunwert“ 37, während „das Zivilrecht auf den Ausgleich des wirt-
schaftlichen Schadens bedacht ist“ 38 und da es sich um eine Frage der Scha-
densentstehung handele, sei die Erwägung berechtigt und sinnvoll, „ob für
einen Schaden zu haften ist, der auch ohne die haftungsbegründende Verur-
sachung alsbald auf andere Weise eingetreten wäre“ 39.
Meines Erachtens wäre ein Strafrecht wünschenswert, das sich auf die
Frage des Handlungsunwerts beschränken würde. Genauso steht meiner
Ansicht nach fest, dass der eigentliche Bereich für die Berücksichtigung von
Rechtsgutverletzungen das Schadensersatzrecht und nicht das Strafrecht ist,
so sehr man auch die Legitimität seiner Normen mit der „Aufgabe des
Rechtsgutschutzes“ oder vielleicht noch eher mit der Ahndung des „Gel-
tungsverlustes der Norm“ (Normgeltungsschadens) begründen möchte.
Aber soweit das Strafgesetz Strafandrohungen enthält, die zumindest auch
auf der Verursachung schädlicher Erfolge beruhen, kann die – im Grundsatz
richtige – Unterscheidung Nieses nicht die Antwort auf die Frage geben,
warum hypothetische Verläufe zwar im Zivilrecht, aber nicht im Strafrecht
eine Rolle spielen. Auf der anderen Seite würde den hypothetischen Verläu-
fen auch in einem Strafrecht, das sich auf den Handlungsunwert konzen-
triert, die Relevanz nicht völlig genommen, denn vorausgesetzt die Reserve-
ursachen können den Erfolgsunwert entfallen lassen, würde es sogar am
Handlungsunwert fehlen, soweit dem Täter die Existenz der Reserveursache
bewusst gewesen ist.
Die Frage, ob die Berücksichtigung hypothetischer Verläufe ein Problem
der Kausalität, der Grenzen der Zurechnung oder etwa der Schadensdefini-
tion (des ersetzbaren Schadens im Zivilrecht und des durch die Vollendung
verursachten Schadens bei den meisten strafrechtlichen Tatbeständen) ist,
soll hier offen gelassen werden.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist festzustellen:
a) In Fällen des Gewinnverlustes lässt der hypothetische Verlauf die Ver-
ursachung durch den realen Verlauf entfallen, wenn die Reserveursache in

37 Niese (Anm. 36), 463.


38 Niese (Anm. 36), 463.
39 Niese (Anm. 36), 463.

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Bezug auf den angeblich „realen Verlauf“ bereits angelegt war. Das ist darauf
zurückzuführen, dass der entgangene Gewinn an sich der Verlust einer
Chance ist, das heißt einer Hypothese mit gewisser Wahrscheinlichkeit, und
das Zunichtemachen dieses Gewinns kann, wie jeder andere Erfolg, nur ein
einziges Mal bewirkt werden.
b) In den Fällen in denen die Reserveursache schon bereit steht, den glei-
chen Erfolg herbeizuführen, und der reale Verlauf dieser Herbeiführung we-
der zeitlich vorgeht noch den Schaden intensiviert, entfällt die Pflicht, die
Handlung zu unterlassen – bzw. wird durch eine (bloße) Solidaritätspflicht
ersetzt – und damit auch die Zurechnung, auch wenn dies nicht für die Kau-
salität 40 gilt.
c) In Fällen, in denen der hypothetische Verlauf den Erfolg erst nach
dem realen Verlauf bewirkt hätte, wird über den späteren Wegfall des Scha-
dens noch zu sprechen sein.
Die zweite Gruppe enthält die im Strafrecht am häufigsten diskutierten
Fallkonstellationen, die gleichzeitig die größte theoretische Bedeutung ha-
ben. Bevor die entscheidenden Punkte dieser Diskussion (unten VI ff.) erör-
tert werden, soll mit einigen Missverständnissen aufgeräumt werden.
2. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass der materielle
Grund für die Nichtberücksichtigung hypothetischer Verläufe als Grund-
lage für die Befreiung des Verursachers vom „tatsächlichen Schaden“ darin
liegt, dass der „Vorteil“ der Aufhebung des hypothetischen Verlaufs selten
mit der Handlung in einem adäquaten Kausalzusammenhang steht.
Im Zivilrecht wurde lange Zeit die Auffassung vertreten, dass die hypo-
thetischen Schadensursachen in jedem Fall nur dann berücksichtigt werden
könnten, wenn diese in einem adäquaten Kausalzusammenhang stünden (ein
seinerseits „hypothetischer“ Zusammenhang) 41. Aus welchem Grund sollte
der Verursacher der Verletzungen aufgrund des zufälligen Umstandes be-
günstigt werden, dass das Schiff, welches der Verletzte nehmen wollte, spä-
ter sank? Heute wird das Erfordernis der Adäquanz abgelehnt 42. Das hat
seinen Grund: Denn so wie das schlichte Ausbleiben eines Schadens nach
einer Handlung, die einen vom Täter zu vertretenden Schaden nach aller
Wahrscheinlichkeit hätte herbeiführen müssen, eine Ersatzpflicht nicht be-

40 Es sei denn, man bedient sich der Kausalitätsdefinition im Sinne der c.s.q.n.-Formel.
Diese Theorie verteidigend Frister (Anm. 4).
41 Vgl. die Nachweise bei Lange/Schiemann (Anm. 11), S. 186, Fn. 26.
42 Lange/Schiemann (Anm. 11), S. 186.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 677

gründet – so sehr das Nichteintreten des Schadens auch überraschend und


inadäquat ist –, genauso muss auch für ihn entlastend wirken, wenn er sei-
nerseits einen hypothetischen Schadensverlauf aufgehoben hat, vorausge-
setzt, dass auch hier die „Herbeiführung eines Schadens verhindert wird“.
Das wird besonders in Fällen deutlich, in denen eine Untreue den Verlust
erheblicher Gewinne verursacht (entgangener Gewinn), denn wenn der Ge-
winn sich nicht in jedem Fall durch einen anderen Verlauf erzielen ließe, ent-
stünde schon kein Schaden, zumindest nicht aufgrund der entsprechenden
Handlung. Jedoch darf es dann nicht anders bewertet werden, wenn ein
Schaden an einem Objekt bewirkt wird, das im umgekehrten Fall unverzüg-
lich durch einen anderen Verlauf zerstört worden wäre. Mit Lange/Schie-
mann kurz gesagt: „… es [ist] ökonomisch gleichgültig …, ob einer Schädi-
gung eine Vermögensvermehrung gegenübersteht oder ob sie eine sonst
eintretende Vermögensminderung verhindert hat“ 43. Somit wird der Adä-
quanzzusammenhang, der notwendig ist, um die Verantwortlichkeit zu be-
gründen, nicht benötigt, um dieselbe aufzuheben.
3. Der andere anscheinend befremdliche Gesichtspunkt ist die rückwir-
kende Aufhebung des Erfolgsunwerts, den hypothetische Kausalverläufe
zur Folge hätten, wenn der hypothetische Schaden erst nach dem tatsächlich
eingetretenen Schaden entstanden wäre. Ist es so, dass das Sinken des Schif-
fes die Vollendung eines Verletzungsdelikts aufhebt, das bereits „vollendet
war“?
Neumann-Duesberg vertrat lange Zeit gegenüber dem Obersten Ge-
richtshof (Brit. Zone) 44 und Knappe in polemischer Art und Weise: „Es ist
zwar richtig, wenn der OGH und jetzt Knappe 45 sagen, alle späteren den
Schaden verringernden Ereignisse müßten zur Berechnung des Schadens
ebenso berücksichtigt werden wie spätere den Schaden vergrößernde Ereig-
nisse. Der OGH und Knappe sind aber den Beweis schuldig geblieben, daß
hypothetische Ursachen den Schaden verringern. Diesen Beweis können sie
auch nicht erbringen. Ein einmal vorhandener Schaden wird nämlich durch
eine nachträgliche hypothetische Ursache nicht wieder beseitigt. Die hypo-
thetische Ursache füllt das durch die Täterhandlung entstandene Loch nicht
wieder aus“ 46.

43 Vgl. die Nachweise bei Lange/Schiemann (Anm. 11), S. 182.


44 OGH Köln, OGHZ, 1, 308 = NJW 1949, 302 (zu diesem Fall s. o. Anm. 32).
45 Knappe, Das Problem der überholenden Kausalität, 1954.
46 So z. B. in Neumann-Duesberg, Einzelprobleme der überholenden Kausalität, JZ 1955,
263 ff. [insbes. 265], (Hervorhebung dort).

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678 Marcelo A. Sancinetti

Dennoch, für denjenigen, der die Aufhebung des Schadensverlaufs als


einen den Schaden ausgleichenden Vorteil bewertet, besteht der Beweis, den
Neumann-Duesberg zu führen in Anspruch nimmt, aus einer bloßen Defini-
tion. Im Übrigen handelt es sich sowohl im Zivilrecht als auch im Strafrecht
weder bei der rückwirkenden Verringerung eines Schadens noch bei seiner
rückwirkenden Aufhebung um eine Anomalität. Was nicht „aufgehoben“
werden kann, ist der Normbruch (laut Niese der Handlungsunwert), der den
wahren „Riss im Weltgebäude“ darstellt, während die Vollendung rückwir-
kend aufgehoben werden kann, genauso wie diese im Hinblick auf die Ver-
letzung der Verhaltensnorm zurückwirkt. Der Bruch der Verhaltensnorm ist
bereits abgeschlossen, bevor der Schadenserfolg eintritt, und auch wenn die-
ser Erfolg nach der herrschenden Strafrechtsauffassung eine „das Unrecht
und die Schuld erhöhende“ Wirkung hat – vielleicht wenn der Täter viele
Jahre nach der Tat in seinem Bett liegt und schläft 47 –, so handelt es sich im
Hinblick auf den Zeitpunkt, in dem der Täter den Entschluss fasst, gegen die
Regel neminem laede zu verstoßen, um eine rückwirkende Erhöhung. Den-
noch bleibt gänzlich unbeachtet, dass eine andere nachfolgende Tatsache den
Erfolgsunwert aufzuheben in der Lage ist und damit das Ausmaß von Un-
recht und Schuld einem bloßen Versuch entspricht (oder einer erfolglosen
Fahrlässigkeit). Dementsprechend müsste im Zivilrecht das Prinzip des
„späteren Wegfalls des Rechtsgrundes“ (§ 812 Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. BGB –
conditio ob causam finitam) auf solche Fälle angewandt werden (der zu-
nächst wirksam entstandene Anspruch auf Schadensersatz entfällt aufgrund
der nachfolgenden Tatsache [Reserveursache]). Und so wie in einem Straf-
prozess, in dem wegen der Begehung eines („bloßen“) Versuches Anklage
erhoben worden war, der Täter wegen vollendeter Tat bestraft werden kann,
wenn der Erfolg während des Verfahrens eintritt, kann der Täter auch „nur“
wegen Versuches bestraft werden, wenn der spätere Verlauf den Erfolgs-
unwert aufhebt.
Dass nachträglich eingetretene Umstände den Tatvorwurf mehr als ein-
mal ändern können, ist nicht willkürlicher, als es sonst im Allgemeinen der
Fall ist, wenn der Schuldspruch wegen fehlerhafter Motivation von tatsäch-
lichen Erfolgen des Täters in der Außenwelt abhängen soll. Nur der Norm-
bruch selbst steht unverrückbar fest.

47 Vgl. Armin Kaufmann, Die Dogmatik im Alternativ-Entwurf, ZStW 80 (1968), S. 34,


50 f.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 679

VI.

Der Ausgangspunkt der den hypothetischen Verläufen im Strafrecht Bedeu-


tung zumessenden Ansicht ist bekannt. Für ein Strafrecht, das seine Legiti-
mation im „Rechtsgutschutz“ sieht, besteht kein Anlass, anzunehmen, dass
die durch die Norm auferlegte Pflicht fortbesteht, wenn „die Befolgung der
Pflicht dem konkreten Tatobjekt nichts nütze“ 48. Das ändert sich auch
nicht, wenn man die Aufgabe des Strafrechts in der „Stabilisierung von Ver-
haltenserwartungen“ oder dem „Ersatz des Normgeltungsschadens“ sieht.
Denn die vorrangige Frage ist hier, aus welchem Grund die Norm, indem sie
eine derartige Erwartung aufstellt, weiter ein Verhalten fordern sollte, das
auf den Fortbestand des Gutes gar keinen Einfluss hat – im Unterschied zu
der Erwartung, die man zurecht aufstellen kann, wenn das Alternativverhal-
ten das Gut unbeschädigt belassen hätte. Was an dieser Stelle in Frage steht,
ist nicht allein, ob an sich ein „Normgeltungsschaden“ vorliegt, sondern ob
die Norm sogar für solche Fälle weiterhin eine Pflicht auferlegt.
Wer das Unterlassungsdelikt in den Mittelpunkt der dogmatischen Be-
trachtung rückt, kann sich – genauso wie bei der Fahrlässigkeit und dem
Versuch – einfacher von den naturalistischen Fehlanschauungen hinsichtlich
des Prototypen der strafbaren Tat, dem vorsätzlich vollendeten Begehungs-
delikt, befreien 49.
Nicht nur bei der Unterlassung beruht – genauso wie bei dem Abbruch
rettender Kausalverläufe – die Zurechnung des Erfolges an sich auf der
Berücksichtigung einer Hypothese. Dazu kommt, dass es dort selbstver-
ständlich erscheint, dass eine Pflicht zu einer „Rettungshandlung“ nicht be-
stehen kann – so wie eine einen rettenden Verlauf unterbrechende Handlung
nicht verboten sein kann –, wenn diese nur zu dem Ergebnis führte, dass der
Erfolg durch einen anderen Verlauf einträte. Wenn sich z. B. in dem Netz
eines Fischers ein Mann verfängt, der gerade von einem anderen Boot ins
Wasser gefallen ist und als Nichtschwimmer bereits zu ertrinken droht, nun
durch das Netz zwar über Wasser gehalten wird, ihm sich dabei aber ein Seil

48 Samson (Anm. 4), S. 116; Rudolphi (Anm. 4), Rdn. 60; Frister (Anm. 4), 9/28; Hoyer
(Anm. 4 f. [FS Rudolphi]), S. 104 f.
49 Vgl. Sancinetti, Festschrift für Jakobs, 2007, S. 583 (wo zwar ein größerer Unwert der
Vorsatztat gegenüber der fahrlässigen Tat anerkannt wird, aber weder des vollendeten
Delikts gegenüber dem [beendeten] Versuch noch der Begehung gegenüber der Unter-
lassung).

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680 Marcelo A. Sancinetti

unglücklicherweise so um den Hals legt, dass er zu ersticken und nicht zu


ertrinken droht, so wäre es geradezu irrational, dem Fischer eine Pflicht da-
hingehend aufzuerlegen, das Seil zu kappen. Dieses droht zwar zusammen
mit dem Sog der Strömung seinen Erstickungstod herbeizuführen, das Be-
freien des Mannes würde jedoch auf alle Fälle ebenfalls binnen Kurzem sein
Ertrinken bewirken.
Das Argument ist umkehrbar: Warum sollte es ihm verboten sein, das Seil
zu durchtrennen, damit der Tod durch Ertrinken verhindert wird, wenn
ohne sein Eingreifen der Tod durch Ersticken herbeigeführt wird? Unab-
hängig davon, welche Verhaltensweise der Fischer wählen würde, sie wäre
erlaubt, gerade weil es im Ergebnis gleichgültig ist. Der Grund, warum der
Fischer in diesem Fall nicht verpflichtet ist, das Seil zu kappen, so wie er
es wäre, wenn das Opfer schwimmen könnte, leitet sich nicht daraus ab,
dass er, hätte er es durchtrennt, ein Begehungsdelikt begangen hätte, das
„schwerwiegender“ als die Unterlassung des Durchtrennens in Garanten-
stellung wäre. Denn wenn der Verunglückte eindeutige Zeichen gemacht
hätte, das Seil zu durchschneiden, obwohl er Nichtschwimmer war, könnte
der Fischer wohl aus Achtung vor der Handlungsfreiheit des Mannes zum
Schnitt verpflichtet sein – nicht aber aus Achtung vor dessen Leben, soweit
die Wahrscheinlichkeiten des Todes und des Momentes seiner Herbei-
führung sich entsprächen.
Die herrschende Meinung müsste konsequent wegen Tötung auf Verlan-
gen bestrafen, wenn der Fischer unter diesen Umständen das Seil durchtren-
nen würde, gerade weil den Täter nach dieser Meinung die Tatsache nicht
entlasten kann, dass, hätte er das Seil nicht gekappt, ein anderer Verlauf den
gleichen Erfolg bewirkt hätte. Sie müsste genauso zur Bestrafung gelangen,
wenn der Fischer nicht das Seil durchtrennen würde, weil auch hier dem
Einwand, dass „ich es nicht kappte, weil der Mann ertrunken wäre, wenn ich
es getan hätte“, entgegengehalten werden könnte, dass hypothetische Kau-
salverläufe nicht berücksichtigt werden. Zumindest die Theorie des Erfolges
„in seiner konkreten Gestalt“ müsste zu dieser Absurdität führen. Das Pro-
blem könnte sicherlich dadurch umgangen werden, dass die beiden Alterna-
tiven des Erstickens und des Ertrinkens als bloße irrelevante Variationen ein
und desselben Risikos (= „hilflos auf dem Wasser treiben“) betrachtet wer-
den können, womit auch die herrschende Meinung zu einem adäquaten Er-
gebnis käme. Aber dies verschafft vielleicht einen Eindruck davon, wie dif-
fus die Grenzen zwischen der Variation eines Risikos und der Ersetzung
eines Risikos durch ein anderes sind. In jedem Fall würde diese Strategie in

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 681

dem von Dencker 50 vorgeschlagenen, im Übrigen sehr ähnlichen Beispiel,


scheitern, in dem ein Bergsteiger an einem Seil in einer Steilwand hängt und
von einem herunterfallenden Felsbrocken erschlagen zu werden droht, als
das Seil von einem anderen durchtrennt wird und er durch den Sturz auf den
Boden zu Tode kommt – zur gleichen Zeit zu der ihm der Felsbrocken den
Schädel zerschmettert hätte 51.
Deshalb wird hier grundsätzlich und ohne kritische Auseinandersetzung
von der Position Samsons ausgegangen und seine folgenden zwei Prinzipien
werden angenommen: a) das Intensivierungsprinzip 52 (= Es ist nur der Ver-
lauf verboten, der den Zustand des Rechtsguts verschlechtern würde – wo-
bei das Problem bestehen bleibt, dass jeder strafrechtliche Tatbestand dahin-
gehend ausgelegt werden muss, wann eine solche Verschlechterung bei
diesem anzunehmen ist) und b) das Übernahmeprinzip 53 (= Die selbsttätige
Durchführung einer Handlung, die sonst unrechtmäßig von einem Dritten
durchgeführt worden wäre, verhindert die Anwendung des „Intensivie-
rungsprinzips“; das heißt, die Pflicht wird nicht deshalb aufgehoben, weil
ein anderer bereit gestanden hätte, sich ebenso zu verhalten). Danach hätte
in unserem Ausgangsfall Feuerbach und nicht Engisch Recht.

VII.

Erst vor kurzem hat Frisch54 eine bemerkenswerte Anstrengung unternom-


men, um die Conditio-Formel in einen normativen Sinnzusammenhang zu
stellen. Ihr Zweck sei nicht, aufzuklären, wie Kausalität entsteht, sondern
eine „schlichte normative Aussage zum Inhalt des Kausalzusammenhangs
im Strafrecht“ 55 zu geben. Auch die genannten „Ergänzungsformeln“ der
Conditio-Formel, zu denen auch gehört, dass hypothetische Verläufe „den

50 Dencker (Anm. 3), S. 76.


51 Sogar eine leichte Abweichung von Sekunden der Hirntätigkeit dürfte abhängig von
der Gestaltung des Falls irrelevant sein: Wenn in dem bekannten Beispiel Samsons, in
dem die Weiche eine Lokomotive verstellt wird, so dass diese von einer Lawine getrof-
fen wird, die allerdings beide Gleise trifft, das Gleis auf das die Lokomotive umgelenkt
wurde, kürzer wäre, würde sich das Leben entsprechend der Verringerung der Distanz
verkürzen. Aber diese Verkürzung könnte irrelevant sein, genauso wie in dem Fall des
Fahrers der nicht in der ersten möglichen Sekunde bremst, in der er eine Person auf
dem Boden liegen sieht, die er in jedem Fall überfahren wird.
52 Samson (Anm. 4), S. 96 ff.
53 Samson (Anm. 4), S. 125 ff.
54 Frisch, Festschrift für Gössel, 2002, S. 51 ff.
55 Frisch (Anm. 54), S. 53 (Hervorhebung dort).

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682 Marcelo A. Sancinetti

Kausalzusammenhang nicht in Frage stellen“, werden von ihm als norma-


tives Urteil in dem Sinne verstanden, dass solche Bedingungen „normativ
bedeutungslos sind“ 56. In diesem Zusammenhang spielt Frisch auf die nor-
mative Forderung an, dass ein doppeltes Scheitern der Zurechnung zu ver-
meiden sei, welches aufträte, wenn „der tatsächliche Verursacher auf den
hypothetischen Verlauf verweisen, der nicht zum Zuge Gekommene aber
wiederum mangels Verursachung nicht verantwortlich gemacht werden
könnte“ 57. Frisch sieht den Sinn der Conditio-Formel außerdem darin, dass
sich nicht immer eine auf Naturgesetzmäßigkeit beruhende kausale Erklä-
rung finden lässt, auch wenn Erfahrungswerte dafür sprechen, dass es „ohne
das jeweils betreffende Verhalten nicht zu dem eingetretenen Erfolge ge-
kommen wäre“ 58.
Der Widerspruch, den man an dieser Stelle erheben kann, zielt darauf,
dass ein normatives Verständnis den Erfolg danach zurechnen müsste, ob
dieser ohne das Verhalten nicht bewirkt worden wäre. Das kommt allerdings
dann nicht in Betracht, wenn man dem Realverlauf eine ausschließende Wir-
kung „im Rechtssinne“ hinsichtlich der Reserveursachen beimisst, die den
Erfolg ohne einen relevanten normativen Unterschied ebenfalls herbei-
geführt hätten. Soweit der hypothetische Verlauf auf die rechtswidrige
Handlung eines Dritten zurückgeht, liegt der normativen Aussage, dass ein
solcher Verlauf die Kausalität (oder die Zurechnung) nicht ausschließe, zu-
grunde, dass die Zurechnung (nach Samson das Übernahmeprinzip) an-
sonsten Schwierigkeiten bereiten würde. Aber wenn niemand für diesen
hypothetischen Verlauf verantwortlich gewesen wäre, ist keine Grundlage
für die normative Aussage ersichtlich, dass die Handlung Ursache ist, weil
ohne sie der Erfolg nicht herbeigeführt worden wäre, wenn man andererseits
die Berücksichtigung hypothetischer Verläufe verwirft.
Folgende Beispiele führt Frisch 59 an, um die Brauchbarkeit der Conditio-
Formel zu belegen:
1. Ein „Gehilfe“ hat dem Täter die zur Ausführung der Tat notwendigen
Informationen geliefert.
2. Ein Fahrer hat einen anderen Verkehrsteilnehmer derart verletzt, dass
das Opfer per Krankenwagen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Bei dem Transport kommt es dann zu einem tödlichen Unfall.

56 Frisch (Anm. 54), S. 56 (Hervorhebung dort).


57 Frisch (Anm. 54), S. 56.
58 Frisch (Anm. 54), S. 65.
59 Frisch (Anm. 54), S. 65–68.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 683

3. Eine Person betrügt eine andere, um diese zu einer Vermögensverfü-


gung zu ihren Gunsten zu veranlassen.
Für einen etwaigen Kausalitätsnachweis, so Frisch, würde uns die logi-
sche Einsicht genügen 60, dass der Diebstahl nicht ohne die Informationen
(so) hätte durchgeführt werden können, dass ohne die ursprüngliche Verlet-
zung ein Krankenwagentransport nicht erforderlich gewesen wäre und dass
ohne die falschen Beteuerungen das Opfer der Täuschung die Vermögens-
verfügung nicht getroffen hätte.
Denkbar sind jedoch auch folgende Gegenbeispiele: Der Täter, der die
Informationen von seinem „Gehilfen“ erhielt, wollte gerade eine Anleitung
zur Hand nehmen, die vielleicht sogar hilfreicher für die Tatbegehung gewe-
sen wäre, als jene Ratschläge. Bei dem Unfall, der den Nottransport erfor-
derlich machte, hätte das Opfer eine Mitverantwortlichkeit getragen, gerade
weil es selbst noch viel waghalsiger über eine Autobahn fuhr, als später der
Fahrer des Krankenwagens, so dass die Situation nach dem Unfall das be-
reits bestehende Risiko nicht erhöhte. Das Betrugsopfer erklärt, dass es das
Geld dem „Betrüger“ vermacht hätte, selbst wenn es die wahre Situation ge-
kannt hätte 61.
Dass in diesen Fällen der Handlungsunwert unverändert bleibt, steht
fest 62; dass auch ein Erfolgsunwert vorliegt, jedoch nicht.
Solange Wege gesucht werden, um die Berücksichtigung dieser Hypothe-
sen zu vermeiden (z. B. „konkret“, „auf diese Art und Weise“, „so“, etc.),
bleibt die „normative“ Sichtweise der conditio sine qua non meines Erach-
tens ohne jede Bedeutung. Sie hätte im Gegenteil nur dann einen wirklich
deutlichen normativen Sinn, wenn man sie wörtlich nähme, das heißt, wenn
sie im Sinne der „Differenzhypothese“ ausgelegt würde. Ob diese Aus-
legung auf Grundlage des Kausalbegriffs (Frister), durch eine besondere De-
finition des tatbestandsmäßigen Erfolges (Samson) oder als Bestandteil der
objektiven Zurechnung (Rudolphi, Hoyer) erfolgt, ist zweitrangig, vor allem
gibt sie Frisch darin Recht, dass bereits der Kausalitätsbegriff („im Rechts-
sinne“) ein normatives Prinzip enthält.

60 Frisch (Anm. 54), S. 66.


61 Ähnlich der Fall in BGHSt. 13, 13 ff.
62 Möglicherweise verfällt sogar der Handlungsunwert in dem Fall, in dem der „Gehilfe“
tatsächlich überflüssige Informationen gibt (Bsp.: Der Täter liest die Anleitung, die er
bei sich führte, in jedem Fall bis zum Ende durch.), wenn dem angeblichen Gehilfen
bewusst ist, dass seine Aufgabe überflüssig ist und er nur vor dem Täter als Kenner des
Fachs dastehen möchte.

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684 Marcelo A. Sancinetti

VIII.

Dennoch weigert sich die herrschende Meinung strikt, im Unterschied zum


Zivilrecht, in dem die Differenztheorie eine entscheidende Rolle spielt, die
Relevanz von Reserveursachen anzuerkennen: „Das Vorhandensein einer
Ersatzursache, die mit Sicherheit oder möglicherweise den gleichen Erfolg
zu annähernd gleicher Zeit herbeigeführt hätte, hindert … die Zurechnung
des Erfolges nicht.“ 63
1. Wenden wir uns zunächst den Argumenten von Puppe zu, mit denen
sie diese Haltung begründet, insbesondere weil ihre Erfolgsdefinition – der
Erfolg als Verschlechterung der Situation – an das Intensivierungsprinzip
von Samson erinnert, auch wenn sie nicht seine Konsequenzen daraus zieht.
Tatsächlich sagt Puppe einerseits mit Recht, dass der herrschenden Mei-
nung eine „Theorie des Erfolges“ 64 fehlt, während es schon eine Theorie der
Handlung, des Unrechts, der Erfolgszurechnung gibt. Als Gegenposition
dazu bietet Puppe eine normative Bestimmung für denjenigen an, der eine
kausale Erklärung verlangt, nämlich der Erfolg als „nachteilige Veränderung
eines gegebenen Rechtsgutsobjekts“ 65. „Jeder objektive Tatbestand ist also
aufzuspalten in die vorauszusetzende Ausgangssituation und deren nachtei-
lige Veränderung. Die letztere ist der tatbestandsmäßige Erfolg, der kausal
zu erklären ist.“ 66 Der Begriff der „nachteiligen Veränderung“ ist nützlich,
um exakt zu klären, wer wofür verantwortlich ist und in welchem Ausmaß,
weil es sich bei der „nachteiligen Veränderung“ um einen quantifizierbaren
Begriff handelt, was erklärt, dass der Täter nur für einen Teil des Gesamt-
schadens verantwortlich sein kann67, so wie auch „ein Schaden mit einem
gleichzeitig vom Täter bewirkten Nutzen für das geschützte Interesse sal-
diert werden darf“ 68. Dies wird hinsichtlich besonderer Delikte häufiger an-
genommen, wenn es auch nach Puppe allgemeine Konsequenz für den tatbe-
standsmäßigen Erfolg als „nachteilige Veränderung“ sein muss.
Dennoch verneint Puppe auf der anderen Seite, dass dies impliziere, die
Relevanz hypothetischer Verläufe anzuerkennen. Nach meinem Dafürhalten
verpflichtet diese Definition jedoch, diese zu berücksichtigen. Denn um

63 Siehe Anm. 4.
64 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 62 vor § 13 (Hervorhebung dort).
65 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 73 vor § 13 (Hervorhebung dort).
66 Puppe (Anm. 4 [Der Erfolg]), S. 880 f.
67 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 74 vor § 13.
68 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 77 vor § 13 (Hervorhebung dort).

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 685

festzustellen, ob ein Verlauf zu einer nachteiligen Veränderung „der Aus-


gangssituation“ geführt hat, kann man nicht aus der Ausgangssituation die-
jenigen Verläufe ausblenden, die bereits drohten, das Gut zu zerstören – es
sei denn, dass dieser Verlauf noch von dem rechtswidrigen Tun eines Dritten
abhing. Damit nähme man dem Täter sein Recht, Ersatzleistungen zwischen
dem verursachten Nachteil und dem vermiedenen Nachteil zu widerspre-
chen. Es gibt keinen Grund, in dem Aufheben eines Verlaufes, der den
gleichen oder einen größeren Schaden herbeigeführt hätte, nicht doch einen
relevanten „Nutzen“ zu sehen. Es ergibt keinen Sinn, dass dem Opfer die
Ersetzung eines Verlaufes durch einen ex ante weniger gefährlichen zu Gute
kommt und dem Täter trotz dieser Besserstellung gesagt wird, dass er
nichtsdestoweniger „die Anfangssituation verschlechtert hat“.
Aber Puppe berücksichtigt die Reserveursachen nicht: „Es ist also grund-
sätzlich kein Argument gegen die Zurechnung, dass die Befolgung der
Rechtsnorm im Einzelfall die Lage des Rechtsgutsobjekts nicht verbessert
hätte“ 69. „Dem liegt die Auffassung zugrunde [ergänzt Puppe], das Unrecht
bestehe nicht in der Verursachung einer Verletzung, sondern in der Ver-
schlechterung des Chancensaldos eines Rechtsgutsobjekts (Erfolg als Diffe-
renzbegriff)“ 70. Gegenüber diesem Begriff ist ihr zufolge „die herrschende
Auffassung vorzugswürdig“, die den Verletzungserfolg „als ein wirkliches,
objektiv feststehendes Ereignis“ betrachtet 71.
Wenn man sich fragt, was die Grundlage dieser Bevorzugung ist, stößt
man auf Folgendes: „Es ist im Interesse der Achtung der Rechtsgüter und
auch der besseren Sicherung ihres Bestandes, dass unsere Rechtsordnung
dem Bürger die (nicht durch erlaubtes Risiko oder Rechtfertigungsgründe
gedeckte) Verletzung von Rechtsgutsobjekten auch dann verbietet, wenn
diese dem Untergang geweiht sind“ 72. Es bleibt hier jedoch unverständlich,
wie allein durch das Festhalten an einer Norm, die in diesem Fall ohnehin
völlig gleichgültig für das Bestehen des Rechtsgutes ist, ein größerer „Re-

69 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13 (Hervorhebung dort).


70 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.
71 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.
72 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13. Das im Text direkt anschließend Gesagte gilt
auch für das Argument Puppes, welches sich schon bei Jakobs findet (Anm. 4), S. 61;
ders. (Anm. 3), 7/74, wonach „eine schlechte Prognose dem Rechtsgutsobjekt grund-
sätzlich nicht seine normative Bestandsgarantie nimmt“ (NK, Rdn. 152 vor § 13 [Her-
vorhebung dort]). Es ist jedoch gerade fraglich, warum in einem solchen Fall derartige
(Bestands-?)Garantien überhaupt bestehen sollten. Vgl. dazu Dencker (Anm. 3),
S. 76 f., Fn. 155.

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686 Marcelo A. Sancinetti

spekt vor den Rechtsgütern“ und eine „verbesserte Sicherung ihres Bestan-
des“ geschaffen werden soll. Welches wäre der in diesem Fall gesicherte
Respekt? Demgegenüber kann man sich genauso wenig auf einen Erfolgs-
begriff im Sinne „eines objektiv feststehenden“ Ereignisses berufen. Denn
wenn der Erfolg eines Tatbestandes von einer normativen Auslegung ab-
hängt, wie Puppe richtigerweise sagt, weil „nicht einmal der tatbestands-
mäßige Erfolg ‚wertfrei‘ bestimmt werden kann“ 73, dann ist ein Erfolg nicht
etwas uns „objektiv Gegebenes“, sondern etwas, das aufgrund eines Wertur-
teils bestimmt wird. In diese Bewertung müsste allerdings einfließen, dass
dank des realen Verlaufs, welcher das Gut beschädigt hat, Schadensverläufe
aufgehoben worden sind. Zumindest darf es ausgehend vom „objektiv Ge-
gebenen“ nicht zu einem belastenden Faktor werden.
Puppe besteht darauf, dass „der Bürger nicht in Spekulationen über die
Zukunftsaussichten eines Rechtsgutsobjekts eintreten dürfen soll, mit dem
Ziel, es seinerseits straflos vernichten zu können“ 74. Das Argument, dass es
dem Bürger nicht erlaubt werden kann, „in Spekulationen einzutreten“,
müsste, wenn es denn richtig wäre, auch für die Rechtfertigungsgründe gel-
ten, die hinsichtlich der Erforderlichkeit notwendigerweise auf einer Pro-
gnose der Entwicklung des Tatgeschehens und der zukünftigen Aussichten
der betroffenen Güter beruhen. Auch beim Unterlassen und der Unterbre-
chung hypothetischer Verläufe muss der Täter in diese „Spekulationen“ ein-
treten. Das Wort „Spekulation“ seinerseits klingt nach der Möglichkeit, dass
der Täter in Wahrheit Zweifel hat, inwieweit die Erfolgsaussichten sich
unterscheiden, das heißt er nicht absolut sicher ist, dass seine Handlung auf
den Fortbestand des Rechtsguts ohne Einfluss ist. Dagegen ist einzuwenden,
dass im praktischen Leben niemand sicher sein kann, dass seine Handlung
straflos ist, wenn der Einfluss auf den Fortbestand zweifelhaft ist, denn er
wüsste erstens, dass er sich damit bereits im Bereich der Versuchsstrafbarkeit
befindet, und zweitens (unterstellt, dass das Argument dazu führte, sich in
Fahrlässigkeitstaten ebenso zu verhalten – ein höchst konstruierter Fall: Spe-
kulationen über Hypothesen bei vorsatzlosen Taten!) wird der Täter wissen,
dass derjenige, der über seine Tat im Nachhinein urteilt, seine Handlung
ohne jeden Zweifel als Verschlechterung der Bestandschancen des Gutes be-
werten könnte. Im Übrigen könnte man rein theoretisch in diesen Fällen die
Handlung als vollendete Tat bestrafen, wobei der Erfolgsunwert nur dann

73 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 73 vor § 13.


74 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 687

ausgeschlossen wird, wenn Sicherheit darüber besteht, dass die Bestands-


chancen objektiv zumindest relativ gleich geblieben sind. Die Risikoer-
höhungstheorie führt z. B. zu dieser Situation und es stellt sich die Frage, ob
der Grundsatz in dubio pro reo nicht unanwendbar wird, wenn u. a. das Er-
gebnis des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht eindeutig wäre 75. Wer
darin die „Entziehung eines Grundrechts des Beschuldigten“ sieht, müsste
darauf achten, dass es jedenfalls schlechter ist, dem Täter in den Fällen, in
denen mit Sicherheit gleiche Bestandsaussichten bestehen, die Straflosigkeit
zu verweigern. Denn die Ansicht, die dem Bürger den Grundsatz in dubio
pro reo entzieht (wenn sehr zweifelhaft ist, dass der hypothetische Verlauf
gleichwertig ist), spricht ihm zumindest in den Fällen Straflosigkeit zu, in
denen die andere Auffassung ihn ohne weiteres beschuldigt (wenn feststeht,
dass der Verlauf genauso schwerwiegend war wie der tatsächliche bzw. sogar
schwerwiegender).
Puppe gibt außerdem zu bedenken, dass man bei Beurteilungsfehlern des
Täters, die sich nachteilig auf das Rechtsgut auswirken, einen Tatbestands-
irrtum annehmen müsste 76. Jedoch kann man diese Frage nicht endgültig auf
der Ebene des objektiven Tatbestandes entscheiden, nur weil man Angst hat,
wie sich dies auf den subjektiven Tatbestand auswirken würde. Nach dieser
Herangehensweise wären alle Tatbestandselemente für die angestrebte Strafe
„hinderlich“, weil sie sich neben ihrem objektiven Vorliegen in der Psyche
des Täters widerspiegeln müssen, um festzustellen, dass er vorsätzlich han-
delte. Jedoch werden in den übrigen Irrtumsfällen Beurteilungen dieser Art
nicht getroffen. Wenn der Täter wirklich guten Glaubens irrte, ohne Zweifel
an der Irrelevanz seines Tuns in Bezug auf die Beschaffenheit des Gutes zu
haben, wird er sich in einer dem Tatbestandsirrtum oder je nach den Um-
ständen des Falles dem Irrtum über das Vorliegen der objektiven Vorausset-
zungen eines Rechtfertigungsgrundes (wenn man in bestimmten Fällen die
Reserveursache als Fall eines ausnahmsweise erlaubten Risikos betrachtet)
vergleichbaren Situation befinden. Aber die Angst vor Fehlvorstellungen
über ein Unrechtselement kann nicht die objektive Bedeutung dieses Ele-
ments verändern.

75 Natürlich besteht im Zivilrecht eine breite Übereinstimmung darüber, dass die Beweis-
last hinsichtlich der Auswirkungen des hypothetischen Verlaufes bei dem tatsächlichen
Verursacher liegt. Dazu vgl. anstelle vieler, Lange/Schiemann (Anm. 11), 4, XI
(S. 198 f.); die Gegenmeinung wird möglicherweise allein von Lemhöfer (Anm. 32),
S. 341, 343, vertreten. Zur Ansicht von Mommsen siehe auch oben, Anm. 15.
76 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.

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688 Marcelo A. Sancinetti

Puppe führt als letztes Argument dafür ins Feld, dass „Kausalverläufe,
die nicht stattgefunden haben, den Täter grundsätzlich auch dann nicht ent-
lasten, wenn sie sich bereits im Zeitpunkt seiner Tat für den objektiven Be-
obachter mehr oder weniger deutlich abzeichnen“ 77. Ihr zufolge ist die Ma-
xime „,was fällt, das darf man auch noch stoßen‘, demnach keine gute
Maxime für das Recht“ 78. Dieser Satz betrifft praktisch uns alle in unseren
tiefsten moralischen Überzeugungen, weil wir gewohnt sind, uns in das
Schicksal des Opfers nicht einzumischen, wenn für dieses nichts mehr getan
werden kann oder wenn zwar noch etwas getan werden kann, aber dies uns
nichts angeht oder wir nicht die geeigneten Retter sind. Wenn jemand jedoch
ein anderes Verhalten wählt, kann ihm vorgeworfen werden, dass die Mehr-
zahl von uns bevorzugt, dass das Schicksal ohne äußeren Einfluss seinen
Lauf nimmt? Der Gebrauch des Wortes „stoßen“ deutet einen Kreislauf an.
Doch müsste zunächst geklärt werden, warum das Gut zu „stoßen“ den
Austausch eines Giftes durch ein gleichartiges oder schwächeres, aber im
konkreten Fall genauso tödliches, bedeuten würde. Die Tatsache, dass das
Gut durch die bestehenden Umstände bereits gestoßen wird, ist Bestandteil
der Anfangssituation des Gutes, auf die der Täter trifft. Natürlich ersetzt der
Täter den bestehenden Verlauf dadurch, dass er sich in diesen einschaltet,
aber im Saldo verschlechtert er nicht die Anfangssituation.
2. Wahrscheinlich eine der anschaulichsten Arbeiten zur Risikokonkur-
renz und gegen die Berücksichtigung hypothetischer Verläufe ist der Beitrag
von Jakobs zur Festschrift für Lackner 79. Jakobs unterscheidet grundsätz-
lich zwischen bloßen Variationen desselben Risikos und der Ersetzung eines
Risikos durch ein anderes: „Wenn das Risiko identisch bleibt, geht durch
Berücksichtigung von Hypothesen keine Erklärungsmöglichkeit verloren“ 80.
Hingegen ist ihm zufolge „… die Berücksichtigung von Hypothesen nur
innerhalb eines Risikos angebracht, aber bei der Konkurrenz mehrerer Risi-
ken falsch“ 81. Die praktische Durchführbarkeit dieser Unterscheidung ist
mehr als einmal bezweifelt worden 82, soll hier aber als richtig unterstellt
werden.
77 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13 (Hervorhebung dort).
78 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.
79 Jakobs (Anm. 4).
80 Jakobs (Anm. 4), S. 56.
81 Jakobs (Anm. 4), S. 56 (Hervorhebung dort).
82 Diese Unterscheidung befürwortend, vgl. u. a., E. A. Wolff, Kausalität von Tun und
Unterlassen, 1965, S. 17, 22 ff.; Wessels/Beulke (Anm. 4), § 6 Rdn. 195; Roxin (Anm. 4),
§ 11 Rdn. 54. Gegen die Durchführbarkeit der Unterscheidung Samson (Anm. 4), S. 45,
110 ff.; Dencker (Anm. 3), S. 77; zweifelnd Sancinetti (Anm. 49), S. 588, Fn. 27.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 689

Die Argumente, die Jakobs als Grundlage dafür anführt, hypothetische


Verläufe nicht zu berücksichtigen, sind zwar beeindruckend, stellen aber
nicht zufrieden. Sowohl die Berufung auf die „normativen Garantien“ des
Gutes 83 als auch die Suche nach einem Sinn „in der Tabuisierung von Hand-
lungen mit bestimmten Folgen für ein Gut“ 84 erscheinen zirkulär. Von wel-
chen Handlungsfolgen ist hier die Rede, wenn für den Fall, dass die Hand-
lung nicht durchgeführt würde, die Folgen die gleichen wären? In welchem
Sinn handelt es sich demnach um Folgen der Handlung? Dass es ein „Tabu“
zu schützen gilt, kann keine Rechtfertigung sein. Auch die Vernachlässigung
der „Handlungsgestalt“ kann keinen Grund darstellen 85. Die Handlungs-
gestalt als solche könnte etwas nur als abstraktes Gefährdungsdelikt oder
reines Tätigkeitsdelikt brandmarken, wenn es seinerseits einen Grund dafür
gäbe – und dieser besteht jedenfalls nicht darin, dass die Handlung mit ei-
nem Erfolgsunwert einhergeht. Wenn im Übrigen die Handlungsgestalt ent-
scheidend wäre, dürfte sie dieses nur für den Fall unschädlicher Variationen
innerhalb ein und desselben Risikos sein, was jedoch nicht der Fall ist. Diese
Fülle von Prinzipien ist jedoch nicht das Entscheidende der Meinung, was
zu analysieren ist.
Die tatsächliche Befürchtung, eine befreiende Wirkung hypothetischer
Verläufe im Hinblick auf die Verantwortlichkeit des tatsächlichen Verursa-
chers anzuerkennen, betrifft das Dilemma der doppelten Neutralisierung
der Verantwortlichkeit für den Erfolg 86, das in diesem Fall aufträte: „Der
wirkliche Verlauf wird zur Erklärung nicht herangezogen und der hypothe-
tische kann, weil er irreal ist, nicht herangezogen werden; der Schadensein-
tritt ist dann überhaupt nicht mehr erklärbar.“ 87

83 Vgl. oben Anm. 72, mit Nachweisen.


84 Jakobs (Anm. 4), S. 62, Fn. 13.
85 Jakobs (Anm. 4), S. 60, Fn. 11.
86 Ausgerechnet Dencker (Anm. 3), S. 76 ff. schlussfolgert, obwohl er aufzeigt, dass die
herrschende Meinung nicht in der Lage ist, das Argument der Irrelevanz der den realen
Verlauf verursachenden Handlung für den Rechtsgutschutz zu widerlegen, und er sich
dabei als Mittel zur Kritik der Argumente von Jakobs bedient (dort Fn. 155), dass die –
hier so bezeichneten – Fälle der „reziproken Neutralisierung der Zurechnung“ als
Beweis für die Undurchführbarkeit der Lösung Samsons zu werten sind (Dencker
[Anm. 3], S. 83). Die reziproke Neutralisierung ist jedoch sogar für die herrschende
Meinung in bestimmten Fällen unvermeidlich, wenn man das Dogma, dass jede Zu-
rechnung eines Erfolges seine Verursachung voraussetzt, stringent anwendet. Das fin-
det auch Denckers Zustimmung.
87 Jakobs (Anm. 4), S. 56.

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690 Marcelo A. Sancinetti

Das ist der Grund, warum Jakobs sich der Ansicht entgegenstellt, wo-
nach „nicht erst die Verwirklichung eines Risikos enttäuschen und der Er-
klärung bedürfen [soll], sondern schon das Entstehen einer Lage, in der ein
Gut nicht mehr zu retten ist“ 88, als ob es auf den „Rechtsgutchancensaldo“
ankomme 89. Wiederum gegen dieses Argument führt er an: „Diese Lehre
scheint sich freilich dem schon angeführten Dilemma der Hypothesen-
berücksichtigung auszuliefern …: Eines der Risiken scheidet aus, da das an-
dere in Reserve steht, und dieses scheidet aus, da es sich nicht verwirklicht
hat“ 90. Oder wie er es in seinem Lehrbuch darstellt: „Ganz parallel der Feh-
lerhaftigkeit der Formel von der conditio sine qua non führt bei der Feststel-
lung der Risikoverwirklichung die Berücksichtigung von Hypothesen zu
Fehlern, wenn ein Ersatzrisiko bereitsteht. Das zu prüfende Risiko und das
Ersatzrisiko blockieren gegenseitig die Feststellung ihrer Verwirklichung“ 91.
„Deshalb geht bei diesem Verfahren“ – so liest man noch in seiner Abhand-
lung zur Risikokonkurrenz – „Zurechnung verloren“ 92.
Trotz dieses entschiedenen Widerspruchs räumt Jakobs für den Fall, dass
ein austauschbares Gut betroffen ist, ein, dass die Gegenansicht „durchge-
hen“ mag, gibt aber zu bedenken, dass „bei einem höchstpersönlichen Gut
das Ansehen des Guts leiden dürfte, wenn man es ohne vernünftigen Grund
vernichten kann, nur weil es sowieso nicht mehr zu retten ist“ 93. Danach
wäre es unterschiedlich zu beurteilen, ob jemand „Löcher in die Bordwand
eines Schiffes“ schieße oder Schüsse „in die Köpfe der Besatzungsmitglie-
der“ abfeuere 94. Im ersten Fall könne man an dem Vorliegen einer Sachbe-
schädigung zweifeln, im zweiten nicht an dem eines Totschlages. Hier wird
allerdings über die Tatsache hinweggegangen, dass der „Kopfschuss“ eine
Verschlechterung der Situation herbeiführt (Intensivierungsprinzip), die ge-
rade auch nach der Auffassung Samsons bereits durch den Totschlagstatbe-
stand erreicht wird. Sicherlich gibt es Unterschiede hinsichtlich des betroffe-
nen Strafrechtstatbestandes 95, aber in Bezug auf das Totschlagsdelikt ist
notwendig ein Fall zu bilden, der keinerlei Intensivierung bewirkt, so wie in
unserem Beispiel des Fischers oder dem Bergsteigerfall von Dencker.

88 Jakobs (Anm. 4), S. 60.


89 Jakobs (Anm. 4), S. 60.
90 Jakobs (Anm. 4), S. 60.
91 Jakobs (Anm. 3), 7/75.
92 Jakobs (Anm. 4), S. 62.
93 Jakobs (Anm. 4), S. 63.
94 Jakobs (Anm. 4), S. 63.
95 Samson (Anm. 4), S. 143, Fn. 1.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 691

Andererseits würde sich, wenn die Berufung auf hypothetische Verläufe


auch nur für Sachbeschädigungen möglich wäre, hier das Dilemma der rezi-
proken Neutralisierung der Verantwortlichkeit für den Erfolg stellen: Muss
derjenige, der den Untergang des Schiffes verursachte, für den Gesamtwert
des Schiffsrumpfes aufkommen, oder ist ihm die Tatsache anzurechnen, dass
aufgrund der Löcher im Rumpf bereits vor dem Schiffbruch eine Seefahrt
unmöglich geworden war? Dabei handelt es sich jedoch um einen Wert, für
den auch der zweite seinerseits nicht haftet, weil, ohne dass ihm dieses be-
kannt gewesen wäre, ein Schiffbruch bevorstand.
Die Möglichkeiten dieser doppelten Neutralisierung führen bei Jakobs
weit darüber hinaus. Denn er stimmt tatsächlich einer Berücksichtigung der
hypothetischen Verläufe im Rahmen der Strafzumessung zu und auch so-
weit man eine Tat als „abstraktes Gefährdungsdelikt“ oder „Versuch“ be-
handeln kann 96, was auf einmal das Dilemma der doppelten Neutralisierung
des Erfolgsvorwurfes hervorriefe: Dem Verursacher des realen Verlaufes
wird der Erfolg nicht zugerechnet, weil ihm der Erfolg schließlich im Rah-
men der Strafzumessung „abgezogen“ wird, während er dem Reservetäter
nicht zugerechnet wird, weil er ihn nicht verursacht hat!
In welchem Maße wird demnach nicht auch Jakobs von dem Dilemma
der reziproken Neutralisierung der Zurechnung betroffen?

IX.

Dieses Dilemma muss als eigenständiges Problem der Zurechnungslehre be-


trachtet werden, das in verschiedenen Zusammenhängen auftaucht, soweit
man vom Dogma der Verursachung als unverzichtbare Voraussetzung der
Verantwortlichkeit für einen Erfolg ausgeht. Aus diesem Grund muss es
durch ein Zurechnungsprinzip gelöst werden, welches hier als „Vertre-
tungs-“ oder „Übertragungsprinzip“ bezeichnet werden soll.
1. Das Dogma leitet sich wahrscheinlich aus der Tatsache ab, dass im
Kausalzusammenhang ein Zusammenhang gesehen wird, „den es gegenüber
irgendwelchen normativen Verwässerungen abzuschirmen gilt“ 97. Die
Frage, die nun tatsächlich zu stellen ist, ist die, ob nicht sowohl für das zivil-
rechtliche Vertretenmüssen als auch für die strafrechtliche Verantwortlich-

96 Jakobs (Anm. 3), 7/90 ff., 7/92.


97 Frisch (Anm. 54), S. 57.

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692 Marcelo A. Sancinetti

keit die Verursachungslehre in bestimmten Fällen durch ein Zurechnungs-


prinzip ersetzt werden muss.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Fälle in denen man aufgrund der
Verursachungslehre nicht zu einer gerechten Lösung gelangt. Um mit einem
Fall zu beginnen, der die herrschende Meinung, Jakobs hier ebenfalls einge-
schlossen, ins Dilemma der (doppelten) Nichtzurechnung führt, stelle man
sich einen solchen mit fehlendem subjektiven Rechtfertigungselement vor, in
dem die vom Täter nicht bemerkte Notstandslage ihrerseits zuvor von ei-
nem Dritten herbeigeführt worden war, dem der Tatausgang zugerechnet
werden müsste, wenn dieser sich als Rettungshandlung dargestellt hätte.
Beispiel: B wirft eine Holzplanke in die Richtung von C, der zu ertrinken
droht, weil er von A ins Wasser gestoßen worden ist. Die Planke verletzt C,
erlaubt ihm aber, sich an dieser festzuhalten und dadurch über Wasser zu
bleiben. B hatte die Notstandslage nicht bemerkt.
Äußerlich handelt es sich hinsichtlich des Verletzungsrisikos, welches –
sogar bis hin zum Tod – durch das Zuwerfen der Holzplanke entstand, um
die Situation eines mutmaßlichen Einverständnisses. Die Entwicklung des
Tatgeschehens führt schließlich zur (unbewussten) Rettung. Für den Fall,
dass die Rettungshandlung von der tatsächlich bestehenden Gefahr des Er-
trinkens motiviert gewesen wäre, wäre der von dieser Handlung herbeige-
führte Tatausgang dem A zurechenbar. Denn Handlungen, die die Verwirk-
lichung eines Risikos begrenzen sollen, sind eine Form der Realisierung des
Anfangsrisikos98. Aber hier liegt der Fall anders, denn B handelte in Un-
kenntnis der Notstandslage, so dass es an der (relevanten) Kausalbeziehung
zwischen der Handlung des Ersttäters und der des Zweittäters fehlt.
Für die herrschende Meinung, genauso wie für Jakobs, verhindert der
Fall des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements bei objektivem Vor-
liegen des Notstandes, dass der Erfolg dem zufälligen Retter zugerechnet
wird (= Bestrafung des Versuches) 99. Aber dann ergibt sich als Saldo, dass B
als Verursacher der Erfolg nicht zugerechnet wird, aber auch nicht dem A
zugerechnet werden kann, da dieser ihn nicht verursacht hat (zumindest
nicht in relevanter Weise). Somit hätte man auch hier eine reziproke Neu-
tralisierung der Zurechnung: Niemand ist für den Erfolg verantwortlich.
Einen Fall anderen Typus, aber mit ähnlichem Ergebnis – auch wenn
sicherlich sehr konstruiert – schildert Frister 100: A vergiftet C. B, der von

98 Vgl. Jakobs (Anm. 4), S. 62, Fn. 12.


99 Jakobs (Anm. 3), 11/22 ff.
100 Frister (Anm. 4), 9/19.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 693

dieser Situation keine Kenntnis hat, feuert einen Schuss auf C ab. Der Schuss
führt dazu, dass C das Gift erbricht, welches ihn unmittelbar darauf getötet
hätte. C stirbt etwas später an den Schussfolgen. Für diejenigen, die wie
Frister 101 und Toepel 102 die Conditio-Formel ohne die „Korrekturen“ der
„Ergänzungsformeln“ anwenden, hat keiner der beiden Handelnden eine
Erfolgsbedingung gesetzt. Aber auch wer die Kausalität der Handlung von
B anerkennen wollte, dürfte ihm jedenfalls nicht den Erfolg zurechnen, zu-
mindest soweit er sich der Ansicht anschließt, dass die Verzögerung der
Herbeiführung des Todeserfolges eine Verantwortlichkeit wegen Totschla-
ges nicht begründet103. Jedoch könnte nach der Verursachungslehre der Tod
auch nicht dem A zugerechnet werden. Wer ist also für den Tod verantwort-
lich?
Frister und Toepel lehnen mit beachtlichen Argumenten sogar im Fall der
so genannten „alternativen Kausalität“ das Vorliegen eines Kausalzusam-
menhangs ab. Also wenn „A und B eine volle tödliche Dosis in das Getränk
gegeben haben“, so dass „sowohl die Handlung des A als auch die des B hin-
weg gedacht werden kann, ohne dass der Tod des C entfiele“, ist weder A
noch B für den Erfolg kausal geworden, obwohl natürlich der Erfolg entfal-
len wäre, wenn keiner der beiden gehandelt hätte 104. Denn das so genannte
„kausale Feld“, das heißt „die übrige Welt unter Absehen vom zu prüfenden
Faktor“, muss man laut Toepel bei der Prüfung des fraglichen Faktors un-
verändert lassen105.
Meiner Ansicht nach ist die Frage zweitrangig, ob in solchen Fällen ein
Kausalzusammenhang besteht. Entscheidend dürfte sein, dass man nicht an-
nehmen sollte, dass in diesen Fällen die Zurechnung des Erfolges verloren
geht. Es ist richtig, ein Zurechnungskriterium zu schaffen, welches das
Dogma der Verursachung als Voraussetzung für die Verantwortlichkeit
überwindet.
2. Für die herrschende Meinung ist in den Fällen „alternativer Kausali-
tät“ selbstverständlich Verursachung und deshalb Verantwortlichkeit gege-
ben. Jedoch ist die Lösung weder auf die Unterlassung noch auf den

101 Frister (Anm. 4), 9/5 ff., 21 ff., 27 ff.


102 Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgs-
delikt, 1992, S. 53 ff.; ders., JuS 1994, 215 ff.
103 Vgl. Dencker (Anm. 3), S. 74; Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 68, in Auseinandersetzung
mit Jakobs (Anm. 3), 7/17, Fn. 19.
104 Frister (Anm. 4), 9/9 ff.
105 Toepel, JuS 1994, 216, Fn. 13.

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694 Marcelo A. Sancinetti

Abbruch rettender Kausalverläufe übertragbar. Um die Situation der „alter-


nativen Kausalität“ auf die Unterlassung zu übertragen, ist im Gegenteil er-
forderlich, dass die Rettungshandlung nur durch die Kumulation des Tuns
beider Garanten Erfolg haben konnte. Nur so könnte jeder einzelne die Ret-
tungshandlung selbst vereiteln, das heißt den Erfolg herbeiführen. Beispiel:
Herr C erleidet einen plötzlichen Herzinfarkt. In der Nähe gibt es nur einen
einzigen Krankenwagen. Der Nachbar B, der die Notlage bemerkt, beeilt
sich, die Reifen des Krankenwagens zu beschädigen, damit C nicht geholfen
wird und stirbt. Jedoch ruft A, die sich um den C kümmernde Kranken-
schwester, in Kenntnis des Ernstes der Situation, den Krankenwagen nicht,
während C selbst dazu schon nicht mehr in der Lage ist. In diesem Fall ent-
spricht die Situation derjenigen eines Falles alternativer Kausalität, denn es
genügt die Handlung des B (Vereitelung einer möglichen Rettungshandlung)
oder die Unterlassung der A (Nichtdurchführung der Rettungshandlung)
für die Herbeiführung des Erfolges. Jedoch neutralisiert jeder, dem An-
schein nach, die Relevanz der Unterlassung bzw. Handlung des anderen.
Anfang des vergangenen Jahrhunderts tauchte in der zivilrechtlichen
Literatur üblicherweise der Fall zweier Lieferanten auf, die sich beide ver-
pflichtet haben, einem Fabrikanten innerhalb einer bestimmten Frist jeweils
ein Teil einer Maschine zu liefern. Beide kommen in Verzug, wodurch der
Fabrikant die Maschine nicht einsetzen kann und dadurch einen Schaden er-
leidet. In diesem Fall kann die Verspätung von einem der beiden Lieferanten
hinweg gedacht werden, ohne dass der konkrete Schaden entfiele, so dass
nach der Conditio-Formel die Nichtleistung von keinem der beiden in ur-
sächlichem Zusammenhang mit dem Schadenserfolg zu stehen scheint. Das
bringt Enneccerus dazu, festzustellen, dass „es also nicht ausnahmslos richtig
ist, daß die zu Ersatz verpflichtende Tatsache eine condicio sine qua non des
Schadens sein müsse“ 106. Heinrich Titze 107 reichte im Gegensatz dazu für
einen ähnlich gelagerten Fall (A beauftragt X mit dem Bau einer Fabrik und
Y mit der Bestellung der notwendigen Maschinen, um ein Fabriketablisse-
ment zu eröffnen) eine speziell auf die Vermeidung dieses Dilemmas der
reziproken Neutralisierung der Verantwortlichkeit zugeschnittene Lösung.
Denn ein solches Ergebnis, so Titze, „das liegt auf der Hand, muss an einem
Fehler leiden“ 108. Er bejahte folglich zu Gunsten des A einen Anspruch auf

106 Enneccerus (Anm. 24), § 235 II Fn. 8.


107 Titze, Die Unmöglichkeit der Leistung nach deutschem bürgerlichen Recht, 1900,
S. 127; siehe dazu auch M. L. Müller (Anm. 19), S. 16.
108 Titze (Anm. 107), S. 127.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 695

Schadensersatz gegen beide Schuldner, weil dieser wegen des Verzuges des
einen Lieferanten den anderen nicht als Verursacher des entgangenen Ge-
winns in Anspruch nehmen kann. In der Literatur wurde bei diesem Fall re-
gelmäßig unterstellt, dass die Nichterfüllung der beiden Schuldner „gleich-
zeitig“ stattfand. Aber wie müsste man entscheiden, wenn eine der beiden
Leistungen bereits vor der anderen unmöglich geworden wäre? Wäre es
nicht vertretbar, die Ansicht Titzes nur auf den Schuldner zu reduzieren, der
zuerst die Leistungserbringung endgültig unmöglich gemacht hat?
Erteilen wir erneut Jakobs das Wort. Ihm zufolge „haftet, wenn mehrere
Personen ein Kind nur gemeinsam retten können, nur derjenige, der sein
Versagen als erster perfekt macht“ 109. Jakobs befürwortet diese Lösung im
Zusammenhang mit den überbedingten Erfolgen. Aber dann müsste die glei-
che Lösung auf die alternative Kausalität im Fall der Begehung übertragbar
sein: Nur der zuerst Handelnde dürfte verantwortlich sein, denn bei Ein-
greifen des Zweiten legt die Norm diesem bereits keine Pflicht mehr auf,
weil seine Handlung für die Herbeiführung des Erfolges gleichgültig ist. Wie
sollte tatsächlich eine zweite, mit der ersten vermischte Giftdosis, die da-
durch zur Teilursache wird, als „naturalistisches“ Datum Berücksichtigung
finden, wenn in jedem Falle klar war, dass der Teller mit Essen bereits völlig
zureichend vergiftet war.
Sogar das Beispiel, mit dem Jakobs seine Lösung für den Fall überbeding-
ter Erfolge veranschaulicht (ein Fahrstuhl ist über das erlaubte Gewicht be-
laden, aber trägt seinerseits aufgrund einer Destabilisierung des Antriebs-
systems weniger als vorgesehen), wäre in der Lehre vor Jakobs Lösung
womöglich als Fall alternativer Kausalität behandelt worden, indem beide
rechtswidrig Handelnden ohne Rücksicht auf den Ersttäter verantwortlich
gemacht worden wären.
Die Ansicht jedoch, dass es richtig sein könnte, dem zuerst Handelnden
die Tat anzurechnen, wird bereits sehr früh, aber nur selten in der Literatur
vertreten. 1912 schilderte M. L. Müller 110 einen Fall, in dem A und B jeder
für sich entschlossen ist, zwei Züge zusammenstoßen zu lassen, weshalb A
dem Weichensteller ein starkes Schlafmittel einflößt und B, der davon nichts
weiß, diesen fesselt und knebelt. Danach kommt es zum Unfall. Müller hielt
es für falsch, dass niemand der beiden Handelnden für den Erfolg verant-
wortlich sein sollte. Und auch wenn er die Zurechnung gegenüber beiden

109 Jakobs (Anm. 3) 7/84.


110 M. L. Müller (Anm. 19), S. 16 f.

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696 Marcelo A. Sancinetti

Tätern bejahte, äußerte er Zweifel hinsichtlich dieser Lösung, indem er zu-


gab, dass „man daran denken könnte, die Bedingungseigenschaft hinsicht-
lich des zeitlich früheren Moments … zu bejahen“ 111, obwohl er nicht klä-
ren konnte „wie das zeitliche Verhältnis für den Bedingungszusammenhang
entscheidend sein soll“ 112. Heute könnte man diese (richtige) Intuition – die
Müller darüber hinaus nicht weiter entwickelte – damit erklären, dass der
Zweittäter eine bloße Überbedingung des Erfolges setzt.
Aber wenn die Lösung Jakobs für diese Fälle richtig ist, beinhaltet dies
eine starke argumentative Kraft zu Gunsten der Ansicht Samsons. Aus wel-
chem Grund sollte nicht die gleiche Lösung gelten, wenn der Erfolg bereits
durch die Handlung des A verursacht ist und ein neuer, von B ausgelöster
Verlauf diesen mit der gleichen Konsequenz ersetzt?
Wenn jedoch beide Nichterfüllungen gleichzeitig geschehen, sind beide
Betroffenen verantwortlich, obwohl man sogar dort – mit Frister und Toepel –
nicht nur im Sinne der Conditio-Formel, sondern auch nach der Formel der
naturgesetzlichen Bedingung eine Verursachung verneinen könnte: Kann
man vertreten, dass das Nichtrufen des Krankenwagens durch die Kranken-
schwester Ursache für die ausgebliebene Rettung des Patienten ist, wenn
doch gar kein Krankenwagen verfügbar war? Wendet man die Ansicht
Titzes, die M. L. Müller für unübertragbar auf das Strafrecht hielt, ihrem
Sinn nach an, müsste man annehmen, dass in Fällen der Gleichzeitigkeit die
Verantwortlichkeit auf den durch jeden Rechtsbrecher gesetzten Bedingun-
gen beruht, die es unmöglich gemacht haben, den jeweils anderen als „alleini-
gen Verantwortlichen“ zu betrachten. Die Setzung dieser Bedingungen muss
ihrerseits die persönliche Verantwortlichkeit jedes Einzelnen begründen.
3. In der Festschrift für Jakobs hat Hoyer 113 die Lösung von Jakobs für
den Fall der überbedingten Erfolge auf einen Fall der Beihilfe übertragen, in
dem der zuerst Handelnde A dem Täter C eine das Höchstgewicht des Auf-
zuges – der in diesem Fall keine eigenen Fehlfunktionen aufweist – überstei-
gende Last übergibt, womit C diesen zum Absturz bringen will, während
etwas später der zweite Handelnde B dem C mit dem gleichen Ziel ebenfalls
eine ähnlich schwere Last übergibt. C benutzt die zweite Last und der Auf-

111 M. L. Müller (Anm. 19), S. 17, Fn. 1. Es ist bemerkenswert, dass Mezger (Strafrecht,
1931, S. 116, Fn. 21) in diesem Fall nur den Zweittäter als verantwortlich betrachtete,
während laut Engisch (Kausalität, 1931, S. 27, Fn. 5) beide verantwortlich sein sollten,
so wie es letztendlich auch – allen Zweifeln zum Trotz – Müller andeutete.
112 M. L. Müller (Anm. 19), S. 17, Fn. 1.
113 Hoyer (Anm. 4 [Festschrift für Jakobs]), S. 186 ff.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 697

zug stürzt tatsächlich ab. Laut Hoyer kann nur A als Gehilfe verfolgt wer-
den, auch wenn C nur die von B bereitgestellte Last benutzt. Dabei handelt
es sich um eine bloße Übertragung der Lösung auf die Beihilfe, die Hoyer 114
bereits in seinem Beitrag für die Festschrift für Rudolphi im Hinblick auf die
Täterschaft vorgeschlagen hatte: A vergiftet das Getränk des C. B tauscht das
von A vergiftete Glas gegen ein von B selbst vergiftetes aus. Obwohl der Tod
des C im Hinblick auf die Bedingung (sowohl nach der Conditio-Formel als
auch nach der Formel der naturgesetzmäßigen Bedingung) durch die Hand-
lung des B eintritt, betont Hoyer, dass, „wenn dagegen eine reine Risikobe-
trachtung angestellt wird, B durch sein Verhalten keinerlei zusätzliches Ri-
siko für das Leben des C begründet hat, da der von ihm vorgenommene
Austausch der Gläser an der Art und Dosierung des Gifts nichts änderte und
somit auch die Wahrscheinlichkeit und den Zeitpunkt des Erfolgseintritts
nicht beeinflusste“ 115.
Die gleiche Lösung wurde in meinem Beitrag für die Festschrift für
Jakobs116 sowohl hinsichtlich der Täterschaft (B bringt eine Bombe an, die
durch einen Kontaktfehler mit einer anderen zuvor von A platzierten
Bombe diese ausschaltet, so dass die Herbeiführung des Erfolges durch die
Bombe des B verzögert wird – Abwandlung eines Falles von Samson) als
auch der Beihilfe (C und D streiten sich nicht – wie in einem Fall von En-
gisch – um denselben Baseballschläger, um diesen A zu geben, damit er mit
diesem B schlägt, sondern hier hat C seinen Schläger bereits A übergeben
und erst danach macht D das Gleiche mit seinem weniger schweren Schläger.
A schlägt B schließlich mit diesem zweiten Schläger.) angedeutet. Von Hoyer
weiche ich nur minimal hinsichtlich der Begründung, warum der zuerst
Handelnde den Erfolg zu verantworten hat, ab. Im Wesentlichen jedoch
stimmen wir überein.
Dass A im Falle des von B durchgeführten Austausches der Giftdosis we-
gen vollendeten Totschlags zu bestrafen ist, erklärt Hoyer wie folgt:
„A dagegen hat aktiv ein unerlaubtes Risiko für das Leben des C geschaffen, indem er
zuvor reinen Wein mit Gift vermischte. Das Verhalten des B nicht als Schaffung eines
neuen Risikos zu bewerten, heißt zugleich auch, dass es trotz des Verhaltens von B der
Art und der Höhe nach bei dem alten, von A geschaffenen Risiko geblieben ist. Also
war es immer noch die dem A anzulastende Steigerung des Erfolgsrisikos, die sich
schließlich auch im Erfolgseintritt niedergeschlagen hat. Demzufolge ist A im Unter-
schied zu B für die Tötung des C ursächlich geworden und kann wegen vollendeten

114 Hoyer (Anm. 4 [Festschrift für Rudolphi), S. 103 f.


115 Hoyer (Anm. 4 [Festschrift für Rudolphi]), S. 104.
116 Sancinetti (Anm. 49), S. 590 f., Fn. 34.

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698 Marcelo A. Sancinetti

Tötungsdelikts bestraft werden. Im Ergebnis leuchtet es ein, dass (nur, aber auch jeden-
falls) entweder A oder B ein vollendetes Begehungsdelikt vorgeworfen werden kann.
Objektiv verschlechtert hat jedoch allein A die Überlebensaussichten des Opfers“117.

Diese Erklärung ist von Puppe als das Ergebnis einer Vermischung von Kau-
salität und Risikoerhöhung bewertet worden118. Der Titel des ersten Bei-
trags von Hoyer zu diesem Thema trägt zu diesem Eindruck bei: „Kausalität
und/oder Risikoerhöhung“. Wenn man nun den Vorschlag Hoyers und das,
wovon er tatsächlich handelt (oder handeln sollte), etwas eingehender be-
trachtet, so geht es um die Einführung eines selbstständigen Zurechnungs-
prinzips, das es erlaubt, dem von X geschaffenen Risiko, welches sich als
solches nicht realisiert hat, die Verwirklichung eines von Y später eingescho-
benen Verlaufes anzulasten, der die Bestandsaussichten des Gutes nicht ver-
schlechterte. Und weil es – umgangssprachlich ausgedrückt – „die Schuld
von X“ war, dass Y die Chancen nicht verschlechtert hat, muss der an sich
verwirklichte Verlauf des Y dem X zugerechnet werden, der schließlich
tatsächlich die Bedingungen gesetzt hat, aufgrund derer das Risiko nicht
mehr Y zugerechnet werden kann. Hoyer kann in dieser Weise verstanden
werden, denn zum einen beruft er sich auf einen in anderem Zusammenhang
stehenden Vorschlag Jakobs119, nach dem „Kausalität strafrechtlich als ein
Derivat der Zurechnung einzustufen ist“, – was so zweideutig ist, dass es in
die eine oder die andere Richtung verstanden werden kann – und zum ande-
ren bezieht er sich zum Ende seiner zweiten Abhandlung auf etwas, das mei-
nes Erachtens – beeinflusst von der Lösung Titzes – entscheidend ist: „A
muss verantwortlich sein“, so Hoyer, „gerade wegen der durch ihn bewirk-
ten Entlastung des B“ 120. Nach dieser Auffassung verwirklicht der als zwei-
ter Handelnde – der Täter des Verlaufes, der den Erfolg tatsächlich her-
beiführte – in diesen Fällen durch seine Handlung einen Verlauf, der dem
zuerst Handelnden zurechenbar ist. Er vertritt ihn in diesem Sinne – „Über-
tragungsprinzip“.
Der zuerst Handelnde muss mithin die Verwirklichung eines durch die
Handlung eines anderen entstandenen selbstständigen Risikos auf sich neh-
men, wenn nicht sicher ist, ob sein eigenes Risiko sich verwirklicht hätte
oder nicht. Aber darin ist keine Ungerechtigkeit zu sehen, weil der Grund
dafür, dass er dieses vom Zweittäter geschaffene Risiko vertritt, darin be-

117 Hoyer (Anm. 4 [Festschrift für Rudolphi]), S. 104.


118 Puppe (Anm. 4 [NK]), Rdn. 152 vor § 13.
119 Jakobs, Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 421.
120 Hoyer (Anm. 4 [Festschrift für Jakobs]), S. 188.

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 699

steht, dass sein eigenes Risiko bereits ihm zurechenbare Bedingungen ge-
setzt hat, die erst durch die Zweithandlung unerheblich werden. Ausgehend
von der Risikoersetzung belasten oder entlasten die Unwägbarkeiten des Er-
folges oder des Scheiterns des zweiten Verlaufes den Ersttäter, als ob es sein
Verlauf wäre (als Ausgleich hat der Zweite den Ersten vom Risiko der Ver-
wirklichung seines eigenen Verlaufes befreit).
Selbstverständlich ist für diejenigen, die im Handlungsunwert den allein
möglichen Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Vorwurf sehen, die
Bedeutung des Übertragungsprinzips viel geringer. Relevanz hätte es beson-
ders dann, wenn der Zweittäter in Kenntnis der bereits risikobehafteten
Situation handelte (= dies ließe sogar den Versuch entfallen). Aber für ein
Schadensersatzrecht, wie es zum Beispiel dem Zivilrecht eigen ist, sollte das
Übertragungsprinzip unabdingbar sein.

X.

Das Übertragungsprinzip würde es erlauben, in den meisten Fällen zu einem


gerechten Ergebnis zu gelangen, in denen sich ansonsten das Dilemma der
doppelten Neutralisierung der Zurechnung ergibt. Tatsächlich würde es dies
in allen Fällen vermeiden, in denen es der herrschenden Meinung nicht ge-
lingt. Stellen wir das Prinzip also anhand von anderen Beispielen auf die
Probe.
1. In dem bekannten „Feldflaschenfall“ – 1925 von McLaughlin 121 er-
dacht und von Hart/Honoré 122 weiterentwickelt – ist die Situation die Fol-
gende: „A befindet sich auf dem Weg in die Wüste. B füllt heimlich eine töd-
liche Dosis Gift in die Feldflasche von A. A nimmt diese Feldflasche mit in
die Wüste, wo C ihm diese in dem Glauben, dass sie Wasser enthalte, raubt.
A verdurstet“123.

121 McLaughlin, Proximate Cause, in „Harvard Law Review“, vol. 39, n.º 2 (1925),
S. 149 ff., insbes. S. 155, Fn. 25. In der Originalversion des Autors entleerte der zuerst
Handelnde die Feldflasche und füllte sie mit Salz. In diesem Fall wäre es möglich, ein-
fach die Kausalität hinsichtlich des Ersttäters zu bejahen, weil seine Handlung einen
Tod durch Verdursten bereits bedingte und die Entwendung eines mit Salz gefüllten
Gefäßes eine bloße Überbedingtheit des Erfolges bewirkte, genauso wie im Fall des
nicht gerufenen Krankenwagens, wenn dieser ohnehin nicht kommen konnte.
122 Hart/Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl., Oxford, 1985, S. 239.
123 Hart/Honoré (Anm. 122).

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700 Marcelo A. Sancinetti

Wenn man davon ausgeht, dass das Gift A getötet hätte, sobald er einen
Schluck getrunken hätte, verhält sich die Situation erneut parallel zu dem
Fall des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements. Der Erfolg kann
dem Zweittäter (C) nicht zugerechnet werden, weil er die Lage des Opfers in
jedem Fall verbessert hat. Aber für diejenigen, die an der Kausalität als Vor-
aussetzung der Zurechnung festhalten, könnte der Tod genauso wenig dem
Ersten (B) zugerechnet werden, weil er ihn nicht verursacht hat. Allerdings
bleibt die Zurechnung gegenüber B bestehen, gerade weil er solche Bedin-
gungen gesetzt hat, aufgrund derer die Tat dem Zweiten nicht mehr zuge-
rechnet werden kann. C hat eine Tat vollendet, die weiterhin B zuzurechnen
ist, auch wenn C von dieser objektiven Übertragung nichts wusste. Wenn er
die gegebenen Umstände gekannt hätte, müsste der Fall auch von der herr-
schenden Meinung auf diese Weise gelöst werden, weil die (veränderte) Vor-
stellung des C von der Tat die Zurechnung gegenüber dem Ersttäter erlau-
ben würde. In Anwendung des Übertragungsprinzips ist dieser innere Vor-
gang im Kopf des Zweittäters jedoch nicht erforderlich, um den Verlauf dem
Ersten zuzurechnen.
Damit muss man für einen geringen Teil der „dolus generalis“-Fälle die
„Versuchslösung“ korrigieren, die aber in den übrigen Fällen aufrechterhal-
ten werden soll 124. Das ist der Fall, wenn eine erste vorsätzliche Handlung
den Erfolg nicht verursacht, diesen aber verursacht hätte, wenn derselbe
Täter nicht eine zweite Handlung vorgenommen hätte, deren Erfolgsver-
wirklichung ihm aufgrund der bereits durch die erste Handlung gesetzten
Bedingungen nicht zugerechnet werden kann. Dieses gälte z.B. – nach einem
Fall von Jakobs 125 –, wenn dasselbe Subjekt (vorsätzlich) das Futter einer
Viehherde und sodann das Trinkwasser (aber nun fahrlässig) vergiftet, mit
dem Ergebnis, dass die Tiere aufgrund des zuerst genossenen Wassers ster-
ben, aber der durch das Wasser verursachte Tod – diese Annahme ist hier zu
unterstellen – für den Eigentümer günstiger gewesen ist als es der Tod durch
das Futter gewesen wäre, z. B. weil die Überreste auf diese Weise besser ver-
wertet werden konnten (= die Vollendung ist der Ersthandlung „durch
Übertragung“ zuzurechnen). Natürlich bestehen Zweifel, wo die Grenzen
eines solchen Prinzips zu ziehen wären126.

124 Sancinetti, Festschrift für Roxin, 2001, S. 349 ff.


125 Jakobs (Anm. 4), S. 62.
126 Es könnte dem Gerechtigkeitsgefühl widersprechen, das Prinzip z. B. auch dann anzu-
wenden, wenn das Opfer selbst für den zweiten Verlauf verantwortlich ist. Ist der Fall
etwa anders zu lösen, wenn das Opfer unabsichtlich und ohne von der Vergiftung zu
wissen das Wasser aus der Feldflasche verschüttet? Wissentlich oder nicht, das Opfer

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Hypothetische Kausalverläufe und die Differenztheorie 701

2. Das Übertragungsprinzip sollte auch im Schadensersatzrecht Anwen-


dung finden, dem vornehmlichen Bereich des Erfolgsunwertes, und selbst-
verständlich auch in Fällen, in denen die Tat dem Zweittäter in einer Hin-
sicht, aber nicht in anderer zugerechnet werden kann. Um die Lösung von
den der – heute so bezeichneten – „antizipierten Kausalität“ eigenen Proble-
men zu veranschaulichen, bezogen sich die römischen Rechtsgelehrten127
auf den „Fall des Todes des Sklaven“, der bereits durch einen Ersttäter töd-
lich verwundet war und dann kurz vor Eintritt des Todes mit einer Lanze er-
stochen wird. Der Fall wird heute gewöhnlich so dargestellt, dass A dem
Opfer eine tödliche Dosis Gift verabreicht und B es, kurz bevor das Gift
seine Wirkung entfaltet, erschießt.
Dadurch dass B als Verursacher des Todes das Leben des Opfers ver-
kürzt hat, hat er einen Totschlag begangen, ohne dass dies grundsätzlich von
der Tatsache beeinflusst wird, dass das Opfer im Sterben lag. Mit Blick auf
den Schadensersatz, den B schuldet, ergibt sich jedoch höchstens ein An-
spruch der Verwandten auf die Bestattungskosten (§ 844 Abs. 1 BGB), nicht
aber z. B. auf Ersatz des entzogenen Unterhalts (§ 844 Abs. 2 BGB), noch
auf eine andere Entschädigungsleistung, die auf der Aussicht eines unbeein-
trächtigten Weiterlebens beruht. Denn das Opfer hatte im Zeitpunkt der
Handlung des B tatsächlich bereits keine solche Aussicht mehr, sondern auf-
grund der Handlung des A eine drastisch reduzierte „Bestandschance“. Die
Lebensjahre, die der Täter in gewöhnlichen Totschlagsfällen dem Opfer
„entzieht“, waren in diesem Fall durch die Handlung des Ersttäters „bereits
entzogen“, während der Zweite das Leben nur um einige Stunden verkürzt
hat. Auch wenn die Handlung des A zusammengefasst einen bloßen Tot-
schlagsversuch in Tateinheit mit vollendeter Körperverletzung darstellt,
müsste er einen größeren Schaden ausgleichen als B, der den Totschlag be-
gangen hat 128.
Auf den ersten Blick könnte man zu dieser Lösung kommen, ohne sich
auf das Übertragungsprinzip zu berufen, indem jeder Verursacher für seine

sollte weiter seine Obliegenheiten zur Selbsterhaltung erfüllen, damit die Tat auch wei-
ter dem Ersttäter zugerechnet werden kann. Anders gesagt: Das Übertragungsprinzip
wirkt nicht im Kopf des Opfers. Wenn also bereits feststeht, dass dem Herzpatienten
nicht von einem Krankenwagen geholfen werden kann, weil ein Nachbar die Reifen
zerstochen hat, verwirklicht sich jedenfalls dann das Risiko nicht, wenn der Patient
selbst entscheidet, den Krankenwagen nicht zu rufen.
127 Vgl. etwa Mommsen (Anm. 15), S. 155, Fn. 16.
128 Das Strafrecht sollte über ausreichende Mittel verfügen, um diese Lösung in der Straf-
zumessung zu beachten. Der bloß fakultative Charakter der Strafmilderung des Versu-
ches ist ein möglicher Weg, löst aber nicht den gesamten Problemkomplex.

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702 Marcelo A. Sancinetti

eigene Handlung verantwortlich gemacht wird (Verursachungslehre). Aber


der Schein trügt. Denn gegen den Anspruch der Verwandten des Verstorbe-
nen auf Geldrente (§ 844 Abs. 2 BGB) könnte A in der Tat vorbringen, dass
er dem Opfer nicht mehr als Bauchschmerzen zugefügt habe, da dessen
Leben ex post durch die Handlung des B beendet worden sei. Das heißt, dass
A den Verwandten tatsächlich den beanspruchten Unterhalt nicht vorenthal-
ten hat, weil er dem Toten „nicht einen einzigen Tag seines Lebens ent-
zogen“ hat. Seinerseits könnte aber B gegen den ihn selbst betreffenden An-
spruch auf Geldrente einwenden, dass er den Verwandten viel weniger
Unterhalt vorenthalten habe, weil sich das Opfer durch die Handlung des A
bereits in einem Zustand befunden habe, in dem es keine Hilfe mehr gegeben
habe. Zur Verantwortlichkeit des A hinsichtlich der „Unterhaltskosten“
könnte man also nur dann gelangen, wenn der Ausfall der Verantwortlich-
keit des B durch die Handlung des A verursacht worden ist. Auch wenn die-
ses Argument scheinbar ebenso gegen B gewendet werden könnte (denn er
verhindert den Eintritt der Wirkungen der Handlung von A), muss die zeit-
liche Reihenfolge der Handlungen, genauso wie im Fall der überbedingten
Erfolge, die Verantwortlichkeit bestimmen.
Sicherlich kann das Übertragungsprinzip, genauso wie die komplexe
Problematik der Anwendung der „Differenztheorie“ im Schadensrecht 129,
im Detail auch dogmatische Probleme hervorrufen, die nur schwer zu lösen
sind. Aber sie gibt einen Kurs an, der zu einem guten Ende führen kann.

XI.

Im Vergleich zur Länge des Textes sind die Schlussfolgerungen kurz:


1. Die im Schadensersatzrecht zu § 249 BGB und zum Prinzip der „Vor-
teilsausgleichung“ (Ausgleich des Gewinns mit dem Schaden) entwickelte
„Differenzhypothese“ ist grundsätzlich richtig und verdient auch im Straf-
recht Beachtung.
2. Gleiches gilt für die Einschränkung, dass die „Differenzhypothese“
nicht eingreift, wenn der hypothetische Verlauf die Verantwortlichkeit eines
Dritten bewirkt hätte, den der Geschädigte aufgrund des realen Verlaufs

129 Es ist schwierig ein System frei von Widersprüchen zu schaffen, weil es im Schadens-
recht Bereiche gibt, in denen aus bestimmten Gründen die Berücksichtigung hypothe-
tischer Verläufe ausgeschlossen ist; vgl. dazu oben, Anm. 32 a.E.

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nicht in Anspruch nehmen kann. Der Grund liegt darin, dass durch die
„Schuld des Verursachers“ der Geschädigte den hypothetischen Schädiger
nicht in Anspruch nehmen kann. In bestimmten Fällen jedoch, in denen der
Dritte die Risikohandlung bereits vollständig durchgeführt hatte, greift diese
Einschränkung nicht ein.
3. Beide Grundsätze entsprechen den von Samson vorgeschlagenen Prin-
zipien der „Intensivierung“ und „Übernahme“. Sie haben zur Folge, dass
das traditionelle Verbot der Berücksichtigung von Reserveursachen bei der
Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf ein Verbot der Be-
rücksichtigung noch nicht vollständig durchgeführter Reservehandlungen
zu reduzieren ist.
4. Das Dilemma der reziproken Neutralisierung der Zurechnung eines
Schadens – der reale Verursacher beruft sich auf den bereits vom hypotheti-
schen Verursacher geschaffenen Verlauf, während der hypothetische Verur-
sacher sich darauf beruft, dass er den Erfolg nicht verursacht hat – muss mit-
tels eines selbstständigen Zurechnungsprinzips überwunden werden, nach
welchem dem Ersttäter die Verwirklichung eines von einem später Handeln-
den vollzogenen Verlaufes zugerechnet wird, wenn dieser aufgrund der vom
Ersten gesetzten Bedingungen die Bestandschancen des Gutes nicht ver-
schlechtert hat. Die Verwirklichung dieses neuen Verlaufs ist dem zuerst
Handelnden zurechenbar („Übertragungsprinzip“).

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