Sie sind auf Seite 1von 5

Medienwissenschaft: Berichte und Papiere

164, 2016: Musik im Animationsfilm


Redaktion und Copyright dieser Ausgabe: Ludger Kaczmarek u. Hans J. Wulff.
ISSN 2366-6404.
URL: http://berichte.derwulff.de/0164_16.pdf
Letzte Änderung: 12.1.2016.

Musik im Animationsfilm: Arbeitsbibliographie


Zusammengestellt von Hans J. Wulff und Ludger Kaczmarek

Mit einer Einleitung von Matthias C. Hänselmann:


Phasen und Formen der Tonverwendung im Animationsfilm*

Der Animationsfilm ist ein von Grund auf syntheti- die lange Zeit dominante Animationsform handelt,
sches Medium: Alle visuellen Aspekte – und das 2) gerade der Zeichentrickfilm Prinzipien der anima-
wird besonders am Zeichentrickfilm deutlich – müs- tionsspezifischen Musikverwendung hervorgebracht
sen zunächst künstlich erzeugt werden. Es müssen hat und diese Prinzipien 3) dann auch von anderen
Serien syntagmatisch kohärenter Bewegungsphasen- Animationsfilmformen übernommen wurden bzw.
bilder hergestellt werden, ehe diese durch einzelbild- sich prinzipiell auf diese übertragen lassen.
weise Abfotografierung auf den Filmstreifen ge-
bracht werden können, von wo aus sie sich dann un- Versuche der organischen Verbindung von dynami-
ter geeigneten Vorführbedingungen als konsistenter, scher Malerei (als was sich der Zeichentrickfilm auf-
flüssiger Bewegungsablauf auf die Leinwand proji- fassen lässt) mit koordiniert organisierten Tönen (als
zieren lassen. was man Musik ansehen kann) begannen Anfang des
Was für den Bildbereich gilt, ist im Tonbereich 20. Jahrhunderts mit eher technisch-wissenschaftli-
grundsätzlich nicht anders. Auch die akustischen cher Zielsetzung denn mit künstlerisch-kreativen
Komponenten eines Animationsfilms müssen zu- Ambitionen. Es war Rudolf Pfenninger, der bereits
nächst künstlich hergestellt werden, bevor sie mit um 1922 während seiner Arbeit bei der Münchener
dem Bildmaterial zusammenkopiert werden können. Lichtspielkunst AG (EMELKA) damit begann, unter
Gespräche müssen bildsynchron eingesprochen, Ge- dem Stichwort „gezeichnete Musik“ bzw. „tönende
räusche erzeugt und Musik eingespielt werden, ehe Handschrift“ ein System zur Erzeugung syntheti-
sich der Animationsfilm als das audiovisuelle Medi- schen Tons zu entwickeln, indem er zunächst mit ei-
um konstituiert, als das man ihn seit den 1930er Jah- nem Stift per Hand auf ein Blatt Papier grafische
ren kennt. Zeichen auftrug. Anschließend fotografierte er diese
Das ist evident, da die Kader für Kader vonstat- direkt mit der Filmkamera ab, um sie so auf einen
tengehende Aufzeichnung der Bildspur jede zusam- Lichttonfilmstreifen zu bringen, der dann – von ei-
menhängende Aufnahme von etwaigen szenischen ner Seleniumzelle abgelesen – zum ersten Mal die
Originalgeräuschen unmöglich macht. Gleichzeitig seiner künstlich hergestellten Zeichnungen entspre-
bedeutet das, dass die Bild- und die Tonspur des chenden Töne hörbar werden ließ. Ähnliche Versu-
Animationsfilms sich in einer sehr freien und d. h.: che fanden ungefähr zeitgleich u. a. in Russland statt
in einer flexiblen und kreativ gestaltbaren Beziehung mit den Experimenten von Arseni Michailowitsch
zueinander befinden. Diese künstlerische Freiheit Awraamow, dem bis 1930 entwickelten Variophon
wurde bereits sehr früh bemerkt und experimentell von Evgeny Sholpo und dem Vibroexponator von
ausgetestet, ehe sich audiovisuelle Strategien für den Boris Yankovsky, der 1932 fertiggestellt wurde. All
Animationsfilm festigten, die bis heute auch im diese Versuche folgten jedoch einer primär wissen-
kommerziellen Mainstreamfilm Verwendung finden. schaftliche Motivation.
Der folgende Abriss der wichtigsten Entwick- Erstmals stärker künstlerisch setzte László Mo-
lungslinien der Tonverwendung im Animationsfilm holy-Nagy die Technologie des synthetischen Licht-
legt das Hauptaugenmerk auf den grafisch-maleri- tons für sein Tönendes ABC (1932) ein, indem er die
schen Zeichentrickfilm, da es sich bei diesem 1) um Buchstaben des Alphabets zunächst fotografisch auf
Musik im Animationsfilm // Medienwissenschaft, 164, 2016 /// 2

die Tonspur eines Filmstreifens brachte und dann die Tonpsychologie, die Ruttmann und Fischinger auf
Buchstaben noch einmal als optische Elemente in die Gestaltung des „dynamisierten Bildes“ übertru-
die Bildfelder des Films aufnahm. Auf diese Weise gen. So wird das Lauterwerden eines Tones bei-
erreichte Moholy-Nagy, dass dem Zuschauer spielsweise mit dem Anwachsen eines Bildelements
zugleich die optische Darstellung des Alphabets parallelisiert; kurzen, schrillen Tönen werden spitze,
sowie dessen akustische Übersetzung durch die kurz aufblitzende Formen zugeordnet; „dunkle“
Lichttonabtastung des Projektors präsentiert werden Klangfarben bestimmter Instrumente der Tonspur
konnte. Diese Idee wurde ab 1938 von Norman werden mit dunklen Farben in der Bildgestaltung
McLaren aufgegriffen und weiterentwickelt, so dass korreliert etc.
er etwa in Boogie-Doodle (1941) sogar eine Kombi- Ruttmann erstellte insgesamt vier „Lichtspiele“,
nation von synthetischem und natürlichem Ton ver- deren erstes bereits am 27. April 1921 öffentlich ur-
wendete. Mehrere folgten nach, wie beispielsweise aufgeführt wurde, sowie eine Reihe weiterer, meist
auch Bruno Böttge, der 1966 für das DEFA-Studio zu Werbezwecken bestimmter abstrakter Tonkurzfil-
grafisch Silhouettenketten gestaltete und diese Za- me wie etwa die Filme Der Sieger für Excelsior Rei-
ckenschrift auf die Lichttonspur eines Films über- fen und Das Wunder für Kantorowicz-Liköre (beide
trug. 1922). Fischinger fertigte zwischen 1921 und 1925
vier als „Studien“ bezeichnete abstrakte Tonfilme an
Ungefähr zur gleichen Zeit, als diese ersten Versu- und ist vor allem auch für seine Arbeiten Allegretto
che zur Herstellung von Geräusch und Musik mit (1936), Komposition in Blau (1935) und An Optical
den Mitteln der Malerei unternommen wurden, such- Poem (1937) bekannt.
te man auch nach Prinzipien und Verfahren, wie be- Betrachtet man die Entstehungszeiten besonders
reits vorbestehende Musik in ein harmonisches Zu- der frühen Werke, fällt auf, dass sie im Zeitraum vor
sammenspiel mit animierten Bildinhalten zu bringen der Etablierung des eigentlichen Tonfilms liegen.
sei. Es war der Pionier des kameralosen Films Hans Tatsächlich entwickelte vor allem Fischinger vor der
Lorenz Stoltenberg, der in seiner Schrift Reine Farb- Erfindung und Etablierung des Lichttonverfahrens
kunst in Raum und Zeit und ihr Verhältnis zur Ton- eine Technik zur synchronen Wiedergabe von
kunst von 1920 neben Walter Ruttmann als einer der Schallplatten- und Filmaufzeichnungen, die sich
Ersten theoretische Überlegungen zu den Möglich- wahrscheinlich am Prinzip des Kinetophonographen
keiten einer harmonischen Verbindung von visuellen von Thomas Alva Edison orientierte. Seine Experti-
und akustischen Syntagmen anstellte und dabei auch se in der harmonischen Kopplung von abstrakten
explizit den Film als Medium zur Realisierung einer Bildelementen mit Musikstücken brache Fischinger
solchen Synthese miteinbezog. Auch wenn er selbst während seines Amerikaexils in Kontakt zu einem
nur wenige Anstrengungen unternahm, seine Theo- anderen großen Pionier des „tönenden Trickfilms“:
rie in die Praxis umzusetzen, so konnte er doch be- zu Walt Disney.
reits 1937 in der zweiten Auflage seines Bändchens
u. a. auf Walter Ruttmanns Lichtspiel Opus 1 und Obwohl es immer noch häufig zu lesen ist, war Dis-
Oskar Fischingers Komposition in Blau (1935) ver- ney nicht der Erste, der einen mit Tonspur versehe-
weisen. nen (gegenständlichen) Zeichentrickfilm fertigte.
Diese beiden Arbeiten waren durchweg abstrakt, Bereits im April 1926 hatte das Studio Max Flei-
wurden von – teils eigens komponierten – Musikstü- schers mit dem sechsminütigen My Old Kentucky
cken begleitet und zielten derart auf eine symbioti- Home (1926) die erste Folge der „Song Car-Tunes“
sche Verbindung von Ton und Musik, dass wechsel- produziert. Diese Cartoon-Serie nutzte den von Lee
weise die akustische Dimension der Filme die visu- de Forest auf Basis des Triergon-Verfahrens entwi-
elle und umgekehrt die visuelle Dimension die akus- ckelten Phonofilm, eine frühe Form des Lichtton-
tische erhellen, vertiefen und in ihrer ästhetischen films, bei dem akustische Informationen fotografisch
Wirkung steigern sollte. Sowohl Ruttmann als auch aufgezeichnet werden und sich mittels Verstärker
Fischinger machte sich dabei den Umstand zunutze, und Lautsprecher wieder abspielen lassen. Fleischers
dass die einzelbildweise Aufnahmetechnik des Ani- Cartoons fanden aber nicht in erster Linie deshalb
mationsfilms eine Zuordnung des Bildbereichs zum starken Gefallen beim Publikum, weil sie eine be-
Tonbereich bis auf ¹⁄₂₄ einer Sekunde genau zulässt, sonders ansprechende Ton-Bild-Verbindung her-
also eine quasi kadergenaue Abstimmung von Bild stellten, sondern vor allem, weil sie die Zuschauer
und Ton möglich ist. durch ihr „Bouncing Ball Sing-Along“ zu aktivem
Die Organisation der Bildelemente erfolgte – und Mitsingen animierten: Während der Film akustisch
damit wirkten die beiden prägend für den Animati- ein bestimmtes populäres Lied wiedergab, wurde
onsfilm – in der Regel nach Gesetzmäßigkeiten der dem Zuschauer gleichzeitig visuell der Liedtext dar-
Musik im Animationsfilm // Medienwissenschaft, 164, 2016 /// 3

geboten und – nach einem Prinzip, wie es noch heu- mittels der Ballbewegung die Geschwindigkeit ihres
te beim Karaoke Verwendung findet – mittels eines Spiels und den Zeitpunkt des Geräuscheinsatzes an-
von Silbe zu Silbe weiterhüpfenden Balls angezeigt, zeigte. Aus dem dabei aufgenommenen Tonspurne-
wann welches Wort zu singen sei. Diese kurzen, in gativ und dem Zeichentrickfilmnegativ wurde dann
eine narrative Struktur eingebundenen Lieder zum abschließend ein synchroner Zeichentricktonfilm zu-
Mitsingen waren ungemein beliebt, auch wenn sich sammenkopiert. Präzisiert wurde dieses Verfahren
ihre Gesamtqualität auf keinem sonderlich hohen durch den Einsatz eines Metronoms, dessen Einsatz
Niveau bewegte. Wilfred Jackson im Disney-Studio einführte. Später
Auch Paul Terrys früher Tonzeichentrickfilm revolutionierte Carl Stalling dieses Prinzip durch
Dinner Time, ein nachsynchronisierter Cartoon aus seine Click-Tracks, bei denen es sich um metrisch
der „Aesop’s Fables“-Serie der Van Beuren Studios, exakte Taktschläge handelte, die den Musikern des
der am 14.10.1928 Premiere hatte, konnte, was die Studioorchesters während den Tonaufnahmen über
akustisch-visuelle Gestaltung betrifft, nicht überzeu- Kopfhörer vorgespielt wurden und die – anders als
gen und fiel – da ihm eine involvierende Anbindung die Metronomschläge bei Jacksons Prinzip – in der
der Zuschauer fehlte, wie sie die „Car-Tunes“ Flei- späteren Tonspur nicht hörbar waren.
schers boten – beim Publikum durch. Bei der tonorientierten Animation ist dagegen die
Gegenüber diesen Vorläufern war Steamboat musikalische Einspielung bereits vor der Animati-
Willie, der erste Ton-Cartoon Disneys, der am 18. onsarbeit gegeben und die Animation orientiert sich
November 1928 zur Erstaufführung kam, ein Mei- streng an den Vorgaben der Tonaufnahme. Diese
lenstein in der audiovisuellen Animationsgestaltung Form des Mickey-Mousing hat sich letztlich durch-
und wirkte prägend für alle folgenden Ton-Cartoons. gesetzt, vor allem wohl deshalb, weil sie das beson-
Während vor allem Paul Terry und anfangs auch dere zeichentrickliche Potential ausschöpfen kann,
Fleischer im Tonfilm primär die Möglichkeit zur das darin besteht, dass die frame-by-frame-Filmer-
Herstellung eines umfassenderen Spektakels sahen zeugung eine aufs Einzelbild exakte Taktung zur
und zunächst entsprechend lärmende Filme produ- Tonspur erlaubt. Diese technische Variante des Mi-
zierten, zeigte Disney von Beginn an ein ausgepräg- ckey-Mousing brachte es mit sich, dass zwischen der
tes Bewusstsein und ein feines Gespür für die adä- Herstellung der eingespielten Partituren und der Fer-
quate Korrelierung von Ton und Bild und schuf ein tigung der Animation mitunter eine lange Zeit und
audiovisuelles Gestaltungsverfahren, das mit dem wie beispielsweise bei Disneys Snow White (1937)
Namen seiner berühmtesten Figur auf immer ver- über drei Jahre liegen konnten.
bunden bleiben wird: das Mickey-Mousing. Die Möglichkeit der kadergenauen Synchronisie-
Technisch realisieren lässt sich diese symbioti- rung von Ton und Bild schöpfte Disney bereits in
sche Verbindung von Bild und Ton auf zwei Arten, Steamboat Willie mustergültig aus, indem er nicht
und entsprechend kann man zwischen einer animati- nur bestimmten Objekten und Handlungen der Bild-
onsorientierten Vertonung und einer tonorientierten ebene rein illustrativ passende Geräusche auf der
Animation unterscheiden. Bei ersterer, die auch zu- Tonspur zuordnete und eine begleitende Musikunter-
mindest in Amerika, dem Heimatland des Mickey- malung hinzufügte, sondern die enge Korrelationier-
Mousing, historisch gesehen die frühere Form ist, barkeit von Bild und Ton zur Herstellung einer
wird zunächst die Animation hergestellt und dann höchst künstlerischen textuellen Überstrukturierung
passend dazu eine Begleitmusik erzeugt. Um diese nutzte. So bewegen sich die Figuren nicht nur im
Musik möglichst taktgenau einzuspielen, entwickelte Takt der Musik, sondern vollführen Handlungen, de-
Walt Disneys Bruder Roy zusammen mit dem Ani- ren Geräusch sich minutiös in die Struktur der Mu-
mator Ub Iwerks ein Verfahren, das 1928 als Patent sikbegleitung fügt, bis letztlich ununterscheidbar ist,
eingereicht wurde und das zunächst die Anfertigung ob die akustische Dimension die visuelle illustriert
eines Zeichentrickfilmnegativs vorsah, dessen Ton- oder die visuelle die akustische. Die enge Interaktion
spur vorerst frei gelassen wurde. Aus diesem Film- von Ton und Bild, die seit 1929 insbesondere in den
material erzeugte man dann einen „Partiturfilm“, Episoden der „Silly Symphonie“-Serie des Disney-
d. h. einen Filmabzug, auf den zusätzlich zur Zei- Studios perfektioniert wurde, nutzte Disney bei-
chentrickhandlung per Hand eine Folge von auf und spielsweise kreativ, um mittels der Tonspur dem Zu-
ab hüpfenden Bällen gemalt wurde, die gemäß ihrer schauer Vorausdeutungen über das künftige Bildge-
Auf- und Abbewegung dem Studioorchester zur me- schehen zu geben, um punktuell stark affektiv wir-
trischen Orientierung diente. Dieser Partiturfilm kende Kontraste zwischen Ton und Bild zu installie-
wurde dann so auf eine Leinwand projiziert, dass er ren oder um musikalisch Spannungsbögen über dem
den Musikern und Geräuschemachern des Studios, Bildgeschehen zu errichten.
die gleichzeitig die zugehörige Tonspur einspielten,
Musik im Animationsfilm // Medienwissenschaft, 164, 2016 /// 4

Kennzeichnend für Disney war dabei, dass er positioniert. Dem Trend, der populären Tanzmusik
sich vornehmlich symphonisch-klassischer Musik vor der klassischen den Vorzug zu geben, schloss
bediente, die seinem Anspruch entsprach, künstleri- sich letztlich selbst das Disney-Studio mit seinem
sche Animation auf höchstem Niveau zu schaffen. zweiten Musik-Langfilm Make Mine Music (1946)
Dieses Bestreben gipfelte 1940 in Fantasia, dem an, in dem Stücke u. a. von Benny Goodman und
dritten abendfüllenden Zeichentrickfilm Disneys, der den Andrews Sisters verwendet wurden.
in Zusammenarbeit mit dem von Leopold Stokowski Doch der ideologische Konflikt zwischen Dis-
geleiteten Philadelphia Orchestra entstand und auf neys Hochkulturpathos auf der einen und den avant-
Basis klassischer Orchesterwerke von Bach bis Stra- gardistischen Bestrebungen insbesondere der War-
winsky acht thematisch voneinander unabhängige ner-Cartoons auf der anderen Seite beschränkte sich
Musik-Cartoons bietet. An der Entwicklung des nicht auf die Verwendung unterschiedlicher Musik-
Bach-Segment dieses ästhetisch ambivalenten Kon- stile. Trotz oder gerade wegen der extremen Perfek-
zeptfilms beteiligte sich u. a. auch Oskar Fischinger, tion, zu der das Mickey-Mousing im Disney-Studio
der seine Zusammenarbeit mit Disney allerdings geführt wurde, war vor allem auch dieses Verfahren
nach einer Phase frustrierender Meinungsverschie- bald negativ konnotiert und als sklavisches, unkrea-
denheiten hinsichtlich der künstlerischen Umsetzung tives Prinzip verschrien. Carl Stalling und Scott
aufkündigte und bezeichnenderweise auch auf eine Bradley bemühten sich während ihrer Arbeit für die
namentliche Nennung im Filmcredit verzichtete. Der Warner- und MGM-Cartoons in offener Ablehnung
Film, für den William Garity mit dem sogenannten des Mickey-Mousing, wie es bei Disney praktiziert
Fantasound ein eigenes Surround-Sound-System wurde, um einen freieren und flexibleren Einsatz der
entwickelte, zerfällt in Sequenzen, die wie reiner Musik: Ihre Kompositionen liegen locker über der
Kitsch wirken, und Abschnitte hoher animatorischer Bildhandlung, akzentuieren bestimmte Geschehnis-
Artistik. Von den zeitgenössischen Kritikern und se, bereiten musikalisch Pointen in den Gagbändern
Filmtheoretikern wurde er überwiegend negativ be- der Animation vor und liefern zum Bildgeschehen
wertet, er floppte beim Publikum und führte auf- musikalisch Beiträge von humoristischem Eigen-
grund seiner extremen Produktionskosten fast zum wert, wenn beispielsweise der Auftritt einer in Rot
Bankrott des Disney-Studios. Gleichwohl beein- gekleideten Schönheit mit der populären Melodie
flusste er die Ton-Bild-Koordination im Animations- von „The Lady in Red“ (Allie Wrubel, 1935) unter-
film nachhaltig, rief mit dem Musik-Cartoon eine ei- legt wird oder eine Szene, in der eine Figur eine an-
gene Zeichentrickgattung ins Leben und zog eine dere aufzufressen versuchte, ironisch von dem
ganze Reihe von Persiflagen und Nachahmungen Schlager „A Cup of Coffee, a Sandwich, and You“
nach sich, angefangen bei Robert Clampetts Corny (Joseph Meyer, 1925) begleitet wird.
Concerto (1943) über die Musik-Cartoons Chuck Mit dem Ende des traditionellen Package Book-
Jones wie Long-Haired Hare (1949), Rabbit of Se- ing (Hauptfilm plus Cartoons plus Wochenschau)
ville (1950), What’s Opera Doc? (1957) oder Baton und dem Aufkommen des kaum oder nur limitiert
Bunny (1958) und Tex Averys Magical Maestro animierten starren Fernsehcartoons verlor sich die
(1952) bis hin zu den Parodien Opera (1973) und Technik des Mickey-Mousing jedoch fast vollstän-
Allegro Non Troppo (1976) von Bruno Bozzetto und dig und wird aufgrund des Fehlens einer kreativen
den didaktischen Ten Pieces (2014) von Oliver Weiterentwicklung heute oft antiquiert und kurios
Symth. empfunden und – wenn überhaupt – primär zur
Dem symphonisch-klassizistischen Selbstver- Kommunizierung von Nostalgie oder Albernheit
ständnis Disneys setzte dabei besonders das Warner- verwendet.
Studio sarkastisch-kakophone Musikinterpretationen Es war vor allem auch der Fernsehcartoon, der
entgegen, die nicht nur die verwendeten Stücke aus über Jahrzehnte hinweg den originellen Umgang mit
dem klassischen Konzertrepertoire veralberte, son- den akustischen Möglichkeiten des Animationsfilms
dern auch die Aura der Hochkultur und Kunstmusik blockierte, indem er den narrativen Schwerpunkt
insgesamt dekonstruierte. Es war besonders die Ag- ganz auf den Voice-Over-Erzähler, die Figurenrede
gressivität, mit der das Warner-Studio gegenüber und die mal mehr mal weniger motivierte Begleit-
Disney Position bezog, und nicht so sehr der Um- musik verlagerte. Dieser Umstand führte auch zu je-
stand, dass man ab 1940 meist auf populäre Unter- ne kritischen Auffassung verschiedener Theoretiker
haltungsmusik und Brass-Orchester zurückgriff, des Animationsfilms, die besagt, dass es sich beim
denn bereits seit den frühen 1930er Jahren hatte das Zeichentrickfilm um ein dominant visuelles Medien-
Fleischer-Studio für seine Cartoons vor allem Jazz-, format handelt – eine Auffassung, die sich zuneh-
Blues- und Black-Musik verwendete und sich damit mend und zu recht radikalisierte, als es besonders
von Beginn an klar gegenüber dem Disney-Studio seit dem Aufkommen der Fernsehcartoons nach
Musik im Animationsfilm // Medienwissenschaft, 164, 2016 /// 5

1950 zu einer derart extremen Überbetonung des au-


ditiven Bereichs kam, dass Kritiker häufig von illus-
trierten Hörspielen oder bebilderten Radiosendungen
sprachen. Wenn nach 1950 nach innovativen Bild-
Ton-Korrelationen gesucht wurde, so geschah dies –
mit einigen Ausnahmen wie etwa Chuck Jones Now Arbeitsbibliographie
Hear This (1962) – meist abseits des etablierten Ani- von Hans J. Wulff u. Ludger Kaczmarek
mationsfilmbetriebs in den Arbeiten experimenteller
Künstler und Gruppierungen wie beispielsweise
Norman McLaren, Yōji Kuri, der UPA oder Zagreb Allen, Steven: Audio Avery: Sound in Tex Avery’s
Film. MGM Cartoons. In: Animation Journal 17,1, 2009,
Entsprechend zeigt der Einsatz von Musik und S. 7–22.
Ton im heutigen (narrativen) Animationsfilm kaum Aloff, Mindy: Hippo in a Tutu: Dancing in Disney
noch größere Unterscheidungsmerkmale zur Musik- Animation. New York: Disney Ed. 2008, 175 S.
und Tonverwendung im dominanten Realfilm. Die
Musikspur wird auch im Animationsfilm inzwischen The ballet for hippo ballerinas and their croco-
mit rein struktureller Funktion verwendet, etwa zur dile cavaliers (plus a corps de ballet of ostriches
and elephants) set to Ponchielli’s “Dance of the
Klammerung und homogenen Verbindung einzelner
hours” in Fantasia (1940) is one of the best-
Einstellungen oder Erzählabschnitte. Sie wird einge-
loved scenes in all the Disney animated features.
setzt, um den Zuschauer mittels Leitmotiven in der Many viewers may not realize, however, that this
Handlung zu orientieren oder Figuren zu charakteri- ballet is no mere generalized parody of ballet
sieren. Und sie wird kommentativ eingesetzt, um mannerisms, but is in fact a deeply informed, af-
beispielsweise das affektive Potential romantischer fectionate parody of a famous scene choreo-
Szenen durch eine geeignete Musikuntermalung zu graphed by George Balanchine for the film
steigern oder – im Gegenteil – um dieses zu konter- Goldwyn Follies (1938) and starring his wife, the
karieren. ballerina movie star Vera Zorina. With this se-
Allein in animatorisch gestalteten Musikvideos, quence as a point of departure, the book exam-
die aufgrund ihres Formats prädestiniert scheinen für ines the roles that dance, dancing, and choreo-
kreative Ton-Bild-Lösungen, werden weiterhin in- graphy play in the Disney animated shorts and
tensiver Experimente unternommen. Die Arbeiten features. This chronicle both analyzes and celeb-
von Anthony Francisco Schepperd für die Band rates dance in the Disney studios’ work, while
Blockhead oder für Jack White, Danger Mouse und also investigating behind the scenes to find out
Daniele Luppi geben dafür ebenso beispielhaft Bele- how Disney’s animated dance sequences have
ge wie etwa Cyriak Harris’ Musikvideo für die Band been made.
Eskmo. Gerade diese Beispiele lassen erkennen, Rez. (Dow, Michael) in: Dance Chronicle: Stud-
dass Lösungen für eine adäquate Ton-Bild-Verbin- ies in Dance and the Related Arts 33,3, 2008, S.
dung nicht mehr vordergründig in den traditionellen 494.
Verfahren der Tonpsychologie oder des Mickey-
Alonge, Giaime: Il disegno armato: cinema di ani-
Mousing gesucht werden, die in der Regel eine fein-
mazione e propaganda bellica in Nord America e
teilige Abstimmung der akustischen und visuellen
Gran Bretagna, 1914–1945. Bologna: CLUEB
Filmelemente fordern, sondern in der gewisserma-
2000, xi, 266 S. (Thesis. 1. Serie umanistica. 6.).
ßen „suprasegmentalen“ strukturellen Korrelation
von Intro, Verse, Chorus, Bridge/Solo, Outro auf der Zuerst Tesi di dott., Bologna: Università degli
Tonseite mit geeigneten gecycelten oder geloopten studi di Bologna, Dipartimento di arte musica e
Animationssegmenten auf der Bildseite. Die genann- spettacolo 1998 u.d.T.: Alonge, Andrea Giaime:
ten Beispiele zeigen aber auch, dass das Potential für Cinema di animazione e propaganda bellici in
eine innovative Ton-Bild-Kombination im Animati- Gran Bretagna e Nord America (1914–1945).
onsfilm noch längst nicht ausgeschöpft ist. Ament, Vanessa Theme: The Foley Grail: The Art
of Performing Sound for Film, Games and Anima-
* Der vorliegende Text basiert auf Ergebnissen, die im tion. 2nd edition. Burlington, Massachussetts: Focal
Zusammenhang der Arbeit an meiner Dissertation Der Press 2014.
Zeichentrickfilm. Eine Einführung in die Semiotik und
Narratologie der Bildanimation gewonnen wurden, die Rev. (Hemphill, Jim) in: American Cinemato-
im Frühjahr 2016 in der Reihe Schriften zur Kultur- und grapher. Online edition, Dec. 2009.
Mediensemiotik im Verlag Schüren, Marburg, erscheinen
wird.

Das könnte Ihnen auch gefallen