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Herausgegeben von
Bert van den Brink, Marcus Düwell,
Herman van Doorn und Wolfgang Eßbach
Das \\ierk einschließlich aller seiner Teile iSI urheberrechdich geschützt. Jede Vern'er-
tung außcrhalb der engen Grenzen des Urheberrechrsgesetzes iSI ohne Zustimmung des
Verlages unzulissig und strafbar. Das gih insbesondere für Verviclfaltigungen, übcrstt-
zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in dekuoni-
schen S)'slemen.
ISB 3-7705-3880-3
o 2(0) Wilhclm Fink Verlag, München
Einbandgeslaltung: E\'el)'n Zieglcr, München
Her5leUung: Fcrdinand Schöningh GmbH, Padcrborn
Inhaltsverzeichnis
VorwOrt 7
J Geschichte
Keimpe Algrn
Vi/tU philoJophio dlix. Zum Verhältnis von Philosophie
und Politik bei Cicero 11
Herta Nagl-Docekal und Ludwig Nagl
Augustilluslektüren im Kontext der Gegenwansphilosophie 24
Ria van der Lecq
Thonuls von Aquin: Geschichte, Philosophie und Politik 39
Henning Ottmann
Was ist neu im Denken Machiavellis? 48
Theo Verbeek
..Göttliche Verwaltung", Spinoza über Demokratie und Theokratie 60
Wolfll"ng Eßbach
Subversion. Kritik und Korrektur als Theorie-Praxis-Modelle 129
Hermann Schwengel
Von Luhmann zu Hege!. Zum Wandel politischer Konstellationen 138
Gerard Raulet
Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus. Zur Problematik
der französischen Cüo}"cnnetC: 146
Ben van den Brink
Politische Philosophie und Geschichte. Plädoyer
für eine aspektivische Flexibilität des politischen Denkens 155
Wilhelm Berger
Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation? 167
Marcus Düwell
Naturbeherrschung und Versöhnung. Probleme einer philosophischen
Reflexion auf das Verhältnis von atur, Technik und Politik 179
Gunzelin Schmid Noerr
Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
Zur Legitimität der moralischen Fragen nach dem Allgemeinwohl 191
Jan Bergsrra und Albert Visser
Heilserwartung in der Informatik 204
Jan Hein Hoogsrad
The revolution shou1d be te1evised 217
Norben Bolz
Warum es intelligent ist, nett zu sein 225
Raimar Zons
Ruby Tuesday 235
Herman van Doorn
Philosophie und PholOgraphie oder Triumph des Bildes? 246
Personenregister 267
Vorwort
"Die Frage nach Versöhnung, Glück und Heil ist die Folie, vor der sich in der
Philosophie, von Anfang an, die Frage nach der Wahrheit artikuliert.'<·
Mit diesem Satz eröffnet \'('iIlern van Reijen. dem dieser Band zurn 65. Ge~
burtstag gewidmet ist, einen seiner Aufsätze über das Heilsversprechen und
umreißt damit zugleich die Konturen seiner philosophischen Wdtsicht. In der
PhiJosophie dreht es sich für van Reijen um Wahrheit, aber Wahrheit ist kein
letztes Ziel. Ziel ist vielmehr Versöhnung. Glück und Heil. Van Reijen ist es,
wie so viele anderen Philosophen vor ihm, bisher nicht gelungen, über Versöh-
nung. Glück und Heil letzte Wone zu sprechen. Man wäre sogar versucht zu
sagen, daß die Frage nach der Wahrheit sich in van Reijens Philosophie vor der
Folie einer existentiell notwendigen, aber von Anfang an zum Scheitern verur-
teilten GraJssuche artikuliert. Begrifflich-analytisch orientierte Philosophen
flüstern schljeßlich nicht nur im Utrechter Fachbereich, daß düstere kontinen·
tale Kollegen wie van Reijen die Vorstellung vom menschlichen Glück viel-
leicht nicht ganz unabsichtlkh so formulieren, daß sie dem Menschen per dtfi-
nilionem unerreichbar bleiben muß. Die Tl1Igik und die Melancholik, dje mit der
Vorstellung des unerreichbaren Glückes einhergehen, bleiben nur durch Ironje
erträglich. In dem Balanceakt zwischen Tragik, 1elanchoLie und Ironie haben
die düsteren Philosophen der l\loderne eine eigene Form des Glücks finden
können. Dieser Balanceakt ermöglicht es ihnen, ein Wohlbefinden zu erfahren,
das zwar keineswegs ein volJends versöhntes oder glückliches ist, aber doch
Ergebnis der mutigen Gralssuche nach dem Unmöglichen - und eben deshalb
eine bessere als jede andere im Leben hienieden mögliche Form des Wohlbe-
findens.
Mit diesen kurz umrissenen zentralen Themen von Versöhnung, Glück und
Heil wird ein Spektrum wissenschaftlicher Bemühungen umrissen, das in ganz
unterschiedlichen Kontexten im Hinblick auf Fragen der praktischen und der
politischen Philosophie und ihrem Verhältnis zu der Idee der Geschichte ver·
folgt wird. Gcschicllle ist für van Reijen immer ein wichtiges Thema gewesen,
weil er als poljtischer Philosoph und Sozial philosoph die Fragen nach Versöh-
nung und Wahrheit immer auch im Lichte politischer und sozialer Utopien
und Zukunftsvorstellungen wahrgenommen haI. Ob nun in Auseinanderset-
\'(fillern V2n Reijen, .. Der ~lessi2s und der letzte GOtL Heilsversprechen bei Benj2-
min und Heidegger", in: Narben Bolz, WilJem V2n Reijen (Hrsg.), Htihl.,rsprrrht",
München 1998, S. 116.
8 VorwOrt
zung mit Problemen von Identität und Subjektivität,2 mit dem Begriff der Auf-
klirung in der frühen Kritischen Theorie,) mit den Debauen zwischen ,,;\'10-
demen" und ..Postmoderneo"4 und •• überalismus" und "Kommunitarismus«s
oder mit den philosophischen Ideen Benjamins und Heideggers 6 - immer ging
es um die Frage, ob und inwiefern die Philosophie versuchen saUte, der Men-
schengemeinschaft dabei behilflich zu sein, ihre Zukunft im Lichte ihrer Ver-
gangenheit :autonom und human zu gestalten.
Dabei macht schon dieser schJagljchtartige Überblick über Themen und De-
batten auch deutlich, daß Versöhnung und Wahrheit für \'V'illem van Reijen
nicht nur theoretische Begriffe in eschatologisch-apok3.l)'ptischer Ferne, son-
dern stets auch einen konkreten Aspekt seiner Arbeit darstellen. Es fallt un-
mittelbar auf, daß Willem van Reijen stets kontroverse Debatten aufsucht und
versucht, diese füreinander fruchtbar zu machen. Dabei geht es ihm weder um
vordergründige Vergleiche noch um obernächljche Vermittlungsversuche. In
jeder dieser Auseinandersetzungen geht es ihm darum, die Kontroverse offen
auszutragen: "Ich war immer davon überzeugt [...}, daß es genauso wenig Sinn
hat, Philosophien miteinander zu vergleichen wie Kunstwerke. Man sollte sie,
so meinte ich, jeweils mir ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit ernst neh-
men. Und eine Phjlosophie nimmt man nur ernSt, wenn man sie mit ihrem
Anspruch, nicht nur einige richtige, sondern die einzig richtigen Kriterien für
die Unterscheidung wahr/falsch zu bieten, akzeptiert."7 l\·lit dieser Haltung un-
erbittlicher Prüfung der philosophjschen Ansprüche stürzte sich van Reijen in
alle Debatten, die sich in den letzten dreißig Jahren im Spannungsfeld von Ge-
schichte, Politik und Philosophie aufgetan haben. Es ging dabei um den Ver-
such, am Anspruch auf Wahrheit festzuhalten und doch im Spannungsfeld der
unterschiedlichen Positionen den philosophischen Gehalt von Kontroversen
stets besser zu verstehen.
2 Willem van Reijen. Bt.'Njlstin, JJ",tilil Nnd Sinn, Srultgarl 1975 (Habililll.tionsschrift).
Siehe fur eine vollständige übersicht über van Reijens Publikationen die Bibliogra-
phie hinten in diesem Buch.
} WiJ1ern van Reijen. Ado,."o zlir Ehljiihflln,g. Hannover 1980; ders.• J-Iorlr.hrimtr, I-Ianno-
ver 1982: ders. Philosophit (lls Kri/ile, Königstein i. Ts. 1984; ders. "Die lJ;(1ltlelik drr
ANfleliirlinl. gdesen als Allegorie", in: Willern van Reijen, Gunzellin Schrnid Nocrr
(I-Irsg.), Di(lltlelile dtrAlifleliirll"1. 1947-1987, Frankfurt a. l\L 1987.
• Dietmar Kamper. Willem van Reijen (I-Irsg.), Dit IInt'OlItndtlt Vt,."lInjt, Frankfurt a. M.
1986: Willem van Reijen. "Moderne versus Postmoderne. Die Allegorisierung unse-
rer Zeit". in: S. BUrischer und W. Donner u. a. (Hrsg.), Pos/modt,."t: Phi/osophrm und
Ara/miet, Bern 1989; ders... Labyrinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der
Postmoderne;" in: ders. (Hrsg.). Alltgorit lutd MtI(I,,(holit. Fnnkfurt a. M. 1992.
• Willem van Reijen, .. Die Beweislast der politischen Philosophie", in; Bert van den
Brink, Willem "an Reijen (Hrsg.), ßi'ltrgmlluhaft. Rtthl Mild Dtltlolera/it, Frankfufl
a. M. 1995.
• Norbert Bolz, Willem van Reijen, If/(llur Btllja/1tin, Fnnkfurt a. M. 1991; \'(Iillem "an
Reijen... Der Messias und der lerzte Galt"; ders.• Dtr Sth.·(I't!'·(I/J Mild Paris. Rr'YJIII/io-
, "irr Mt/aphorile bti Htid'l,glf' Nlld ßtIlj(l/1till. Munchen 1998.
\Villern \'an Reijen, Dtr Sth.·a"Z"·a/J Nlld PQris, S. 8.
Vorwort 9
Diese Haltung der Überbrückung von Grenzen findet sich nicht allein im
philosophischen Werk van Reijens, sondern auch in seinem gesamten Wirken.
Als Pendler zwischen Deutschland und den Niederlanden hat van Reijen einer-
sein philosophische Bemiihungen aus Deutschland in Phänomenologie, Her-
meneutik und Kritischer Theorie in die Niederlande vermittelt und zugleich
aus niederländischer Perspektive in Deutschland publiziert wie kein anderer.
Das schlägt sich auch in seinen vielfachen institutionellen Verankerungen nie-
der: Er hat in Deutschland studiert, promovien und habilitien, ist Ordinarius
in den iederlanden und zugleich Honorarprofessor in Freiburg. Aber Über-
brückungen finden sich auch in Willems Tätigkeit in Utrecht: in der jahrelan-
gen Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften und dem
in zahlreichen Zeitungsartikeln belegten Versuch, Philosophie in öffentliche
Auseinandersetzungen zu tragen. Und schließlich in seiner Tätigkeit als lang-
jähriger Dekan der Philosophischen Fakuhät, in der Willem durch seine koUe-
giale und vermittelnde Art nicht vor Konflikten zurückscheute, aber doch an
einer Atmosphäre der Offenheit, des gegenseitigen Respekts und der wissen-
schaftlichen Auseinandersetzung gearbeitet hat, die schlichtweg angenehm und
fruchtbar ist.
Die skizzierten wissenschaftlkhen Interessen van Reijens haben die Heraus-
geber dazu inspiriert, eine Reihe von Schülern, Freunden und Kollegen um
Beiträge zu bitten, die sich mit den Möglichkeiten philosophischer Reflexion
im Hinblick auf Politik und Geschichte beschäftigen. Im Hinblick auf die
Möglichkeit, rationale Maßstäbe für die politische Praxis zu entwickeln, hat das
Geschichtsbild in den vielC'n Konzepten der Moderne eine große Rolle ge-
spielt. Um dem philosophischen Wissen gegenüber der alltäglichen Welt ein
gewisses Maß an Unabhängigkeit und doch eine gewisse Wirksamkeit im Hin-
blick auf die politische Praxis zu verschaffen, war die Geschichtsauffassung
vieler Philosophen der Moderne häufig linear und fonschrittsorientien. Sie
wolhen zumindest pragmatisch die MögHchkeit von Fortschrit[ und gezieher
Entwicklung offenhalten. Im Hintergrund standen dabei häufig Annahmen im
Hinbl.ick auf eine mögliche Versöhnung von menschlicher Natur und mora-
lisch-politischen Zielen im Verlauf der Geschichte. Von der anderen Seite wur-
de entweder die Unabhängigkeit philosophischen Wissens von geschichtlicher
Bedingtheit angezweifelt oder doch über philosophisches Wissen ein Anwen-
dungsverbo! verhängt. Die gezielte praktische Anwendung philosophischen
Wissens wird bisweilen für kontraproduktiv, gef.-ihrlich oder fur unmöglich
angesehen. Die Geschichtsauffassung kann die der "ewigen \'(liderkehr des
Gleichen" sein, möglicherweise in Verbindung mit der These, man könne sich
aus der "empirischen Zeit" der ewigen Wiederkehr nur mit einem revolutionä-
ren, praktisch-philosophisch nicht begründbaren Sprung befreien.
Diese kurzen thematischen Bemerkungen machen deutlich, daß Willem "an
Reijens Themen um Versöhnung und Heil mit zentralen geschichtsphilosophi-
schen Hintergrundannahmen der ugitimationsdiskurse der politischen Philo-
sophie zusammenhängen, die es lohnt in historischer und systematischer Per.
10 VorwOrt
spektivc näher zu beleuchten. Daher versucht der vorljegende Band auch hi-
Storische und systematische Perspektiven miteinander zu verbinden. Während
in einem ersten Teil dem Verhältnis von Geschichte, Politik und Philosophie
im Hinblick auf verschiedene kJassische AutOren von Cicero bis Spinoza nach-
gcg;togen wird, lokalisiert der zweite Teil dieses Thema in verschiedenen philo-
sophischen Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Der dritte Teil um-
reißt aktuelle Debatten, in denen das Thema in unterschiedlicher Weise \Ton
Bedeutung ist, in denen uns Phänomene wie hip-hop, Technikcthik und lo(or-
mauonslcchnologie in teils recht ungewöhnlicher Perspektive entgegentreten.
Wir haben den Eindruck, daß die hier geschaffenen Konstellationen den Raum
zwischen Philosophie, Geschichte und Politik in Fragmenten aus Geschichte
und Gegenwart erfassen, die sie zwar weder ohne weiteres als Trümmer er-
scheinen lassen, die erSt im Geiste der Allegorie als Bruchstücke eines uner-
kannten Bauplans gelesen werden können, noch als Versuch, alle Dinge so zu
betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Doch als
zentrale Elemente einer philosophischen Reflexion, die sich auf der Suche
nach einer humanen Welt der Offenheit, Vorläufigkeil, Vieldimensionalität
und Widersprüchlichkeit dieses Bemühens bewußt ist. Darin - so scheint uns
- ist diese Sammlung in der Tat eine geeignete Feslg<tbe für Willem van Reijen.
Die Herausgeber
Keimpe Algra
I
Über mehr als zwanzig Jahre war Marcus Tullius Cicero einer der mächtigsten
Männer Roms. In den sechziger und fünfziger Jahren des erSten vorchristli-
chen Jahrhunderts spielte er eine herausragende RoHe als Politiker und Redner.
Geboren 106 v. ehr., war er 80 v. ehr., also mit sechsundzwanzig Jahren, zum
erstenmaJ in einem politischen Prozeß aufgetreten (die diesbezügliche Rede
kennen wir noch heute als Pro S~xl(J Rosrio Amtrino), mit Einunddreißig hatte er
das erste Staatsamt (Quaeslor in Sizilien) bekleidet und mit Dreiundvierzig die
höchste Stellung im Staat (das Konsulat) erreicht. Dank seiner publizierten
Reden und Briefe können wir uns ein recht ausfuhrliches Bild von seiner Per-
sönlichkeit bilden. Man könnte beinahe sagen, es gebe im ganzen Altertum nie-
mand, von dessen Leben und \Virken wir eine so unmiuelbare Vorstellung ge-
winnen können.
Dieser J\'!ann der Praxis war aber auch Autor rhetorischer und philosophi-
scher Schriften - zwei Kategorien, die er übrigens selbst in engem Zusammen-
hang zueinander zu betrachten pOegte. 1 Die philosophischen Schriften, auf die
wir uns hier konzentrieren werden, wurden von der Nachwelt nicht immer in
gleicher Weise gewürdigt. Einflußreich waren sie in der römischen Kaiserzeit
(Augustinus wurde bekanntlich in seiner Jugend durch die Lektüre des Hortm+
Siehe umen Anm. 8 und 19. Die beste allgemeine EinfUhrung in Ciceros philtmphit(l
(auch in ihrem Zusammenhang mit den rhetorischen \'I;'erken und mit einer hen'or-
ragenden DokumeOlation der Forschung des letzten Jahrhundens) ist Gawlick &
Görler 1994. Weitere ",'ichtige Studien sind Bringmann 1971 und Leonhardl 1999.
Zur Biographie: Raw$on 1975.
12 Geschichte
,iu! zur Philosophie geführt, Conftnionu 1Il, 4), im i\littelaher (die TI/Jeu/anot
Dhpolalionu und De offtdh gehörten damals zum Kanon) und in der Neuzeit (so
fanden die skeptischen Gegenargumente zu den Gottesbeweisen im dritten
Buch des De nalura dtortim ein spätes Echo in David Hurnes 1779 postum ver-
öffentlichten Dia/ogllU Conrtrning Na/ural Religion). Man betrachtete Ciceros phi-
losophieo als Fundgrube philosophischer Meinungen und Argumente, von denen
man sich anregen lassen oder die man kritisieren konnte, und man war bemüht
philosophisch Brauchbares aus diesen Werken herauszuarbeiten. Die Frage
nach der Stellung Geetos im weiteren Umfeld der antiken Philosophie und die
Frage nach der Originalität seiner Arbeiten waren aJso durchaus unwichtig.
Das änderte sich aber, als vom 18. Jahrhunden an die Philosophiegeschichte
sich zu einer Disziplin SII; genens zu entwickeln begann. Jetzt war es angebracht,
klar zu unterscheiden zwischen denjenigen, die die Entwicklung der Philoso-
phie mitbestimmt harten, und denjenigen, die man eher als Epigonen oder Ek-
lektiker betrachten soLlte. Die Folgen dieser "Historisierung" der Philosophie-
geschichte für das Cicerobild waren zumindest anfänglich überwiegend nega-
tiv. So bezeichnet Hegel in seinen Vor!ullngtn iibtr d;t GmhidJlt der Philosophit
(1817) Cicero als "eine trübere Quelle, weil er zwar viele ach richten enthält;
aber da es ihm überhaupt an philosophischem Geiste fehlte, so hat er die Phi-
losophie mehr nur geschichtlich zu nehmen verstanden". 2 Cicero habe ent-
sprechend ..das Medium des Räsonierens, nicht des Spekulierens" gewählt J -
selbstverständlich, denn "das schöne Latein des Cicero kann sich nicht in tiefe
Spekulation einlassen".· Zu einem mehr ausgewogenen Verständnis der histo-
rischen Stellung und Bedeutung des Philosophen Cicero kam es erst in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jetzt erkannte man, daß für die hellenisti-
sche Philosophie des Ciceronischen Zeitalters - also fUr die Philosophie des
erSten vorchristlichen Jahrhunderts - die Originalitätsfrage weniger angebracht
iSI oder zumindest priiziser formuliert werden solhe. Auch andere Philosophen
waren damals vor allem bemüht, die vorgefundenen S}'steme der Akademie,
der Stoa oder des Epikureismus zu verfeinern und zu verteidigen. Mit andern
Worten: "räsonieren", nicht spekulieren, war gerade die Aufgabe, welche die
meisten Philosophen dieser Periode sich stellten. Ihre etwaige Originalität be-
stand demgemäß nicht in s)'stematischen Neuerungen, sondern in der An der
Verwendung des herkömmlichen l...laterials. Wichtig dabei ist die Vorausset-
zung, die Philosophie sei primär Lebensphilosophie: die verschiedenen Schu-
len bieten nicht nur je eine kohärente Weltanschauung, sondern auch prakti-
sche Anweisungen zur Lebensführung.
Dieser praktische Aspekt tritt auch in Ciceros Arbeiten klar hervor. Er zeigt
sich auf mehreren Ebenen. Erstens hat seine philosophische SchriflSlellerei
SEine üste mil Abkürzungen von Titeln von Ciceros Ar1x:ilen findet sich in der Bi-
bliognphie am Ende dieses Aufs2tus.
6 ND I, 9 ..omnes autem eius partes atque omnia membra lum facillume noscuntur
cum tOiae quaestiones scrilxndo explicantur".
1 ND I. 7 "eI si omnia philosophiae pnecepta referuntur ad vilam, arbitnmur nos el
pubLicis el prh':uis in rebus ell praestitisse qu.ae ratio el doctrina praescripserit". Vgl.
auch Q. Fr. I, 1, 28. DlIZu auch Fuchs 1956 und Kumanieck)' 1960.
8 Zum merschied zwischen praxisoriemierter politischer Reflexion, politischer
Theorie und politischer Philosophie siehe 'eschke-Hemschke 2003.
14 Geschichte
II
Philosophisches Material findet man nicht nur in den theoretischen Schriften,
sondern auch in Ciceros öffentlichen Reden und in seinen persönlichen Brie-
fen. 9 Wie er 20m Anfang der Schrift Vt na/lira dtorum betont, waren schon seine
fruhen Reden von philosophischen Maximen erfüllt und war er ..gcrnde dann
20m meisten mit der Philosophie beschäftigt. wenn sich das 20m wenigsten zeig-
tC".1O In einem Brief an den Stoischen Politiker M. Porcius Calo stellt er fest,
sie heide hätten die Philosophje "ins Forum", abo in das Zentrum der poLiti-
schen Aktivität gerückt. 11 Nicht zufallig aber erschienen die philosophischen
Schriften Ciceros gerade in zwei relativ kurzen Perioden, in denen er durch die
politischen Umstände selbst von aktiver politischer Betätigung mehr oder we·
niger ferngehalten wurde. Während des ersten Triumvirats (Caesar, Crassus,
Pompeius), in den fünfziger Jahren, schrieb er Oe re pub/im und De /rgibll1. Als
in dem 49 entbrannten Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius Caesar
schließlich als Sieger gegen die römische Verfassung die Alleinherrschaft zu er-
werben versuchte, konnte Cicero als Verfechter der republikanischen Wene,
der sich außerdem in dem Bürgerkrieg an die Seite von Pompeius gestellt hatte,
politisch überhaupt keine Funktion mehr erlangen. Die in diesen Jahren ent-
standenen philosophischen Schriften (wie De jinibus, Oe nalura dtorum, Ot dh'j-
nahont, Atadtmica, Oe offidjs) sollte man demgemäß nkht mehr als komplemen.
täre. theoretische Bemühungen zu einer aktiven politischen Praxis betrachten,
sondern eher als Versuche, seine politischen Ziele nunmehr mll anderen Mit·
tein zu verfolgen. Wie er am Anfang des zweiten Buches von Dt dit'jnaljone
deutlich macht. war er bemüht mit seiner philosophischen Schriftstellerei sei-
nen Dienst an der ffentHchkeit fortzusetzen. Dabei hatte er nicht nur ein
kulturelles Programm vor Augen - indem er den Römern die griechische Phi-
losophie in Hauptlinien auf lateinisch zur Verftigung stellen wollte -, sondern
auch ein erzieherisches - man könnte auch sagen: im weiteren Sinn politisches
- Ziel, denn er wollte die zeitgenössische Elite, vor allem die Jugend, unter·
richten und moralisch auf die rechte Bahn bringen. 12 Zumindest die politi-
schen Werke der fünfziger Jahre scheinen diese Zielgruppe auch tatsächlich cr·
reicht zu haben, denn in einem Brief an Cicero (Mai 5 I) schreibt sein Freund
9 Die theoretischen Schriften zur Rhelorik könnle man muürlich als philosophisch im
breiteren Sinne betrachten; siehe dazu Gawlick & Görler 1994, S. 1016. Zu den phi.
losophischen Aspekten der Reden siehe z. B. Grilli 1987. Zu den Briefen Grifftn
1994.
10 ND 1, 7: "ei cum minime videbamur, turn maxime philosophabamur, quod et or:nio·
nes dedaraOl refertae philosophorum seOlenLiis eie:'.
11 Fa"'. XV, 4, 16: "nos phiJosophiam veram illam et anLiquam, quae quibusdam otii es-
se ac desidiae viderur, in forum atque in rem publicam atque in ipsam aciem paene
deduximus".
12 Dip. J, 4 ..quod cnim munus rei publicae afferre maius meJiusve possumus, quam si
docemus alque erudimus iu\·en{ut~m".
Algra, Vitat philofophia dllx 15
M. Caelius Rufus (Fom. VIII, I): "Deine politischen Schriften werden von allen
gelesen" (Illi polilid libn omnibuJ ,!igtnl), wobei "allen" sich in diesem Kontext
selbstverständLich auf die führenden Schkhten Roms bezieht. Welchen Effekt
er mit den pbiloJopbirn zu erzielen hoffte, können wir vielleicht einem Brief an
Atticus (vom 9. Juli 44) entnehmen, in dem er beschreibt, wie er nicht nur mit
seinen Ratschlägen, sondern auch mit seinen Schriften seinen effen Quintus
Cicero, den Sohn seines Bruders, zur richtigen politischen Stellungnahme
überzeugt hat (Nlloli animo in nm publirom quoli nOJ ,,'OINmUJ JUINnlJ fil).13
Die Frage liegt dann aber nahe, wie, nach Cicero, die pbiloJophüclJe Bildung
der Elite einen polih"ffbtn Effekt erzielen könnte oder erzielen solhe. Diese Fra-
ge läßt sich, wie wir sehen werden, auf verschiedenen Ebenen beantworten.
Ein Indiz für eine erste, noch recht allgemeine Antwort entnehmen wir der
Tatsache, daß Cicero Platen bewunderte und von dessen Forderung, die Philo-
sophen müßten zu Herrschern, die Herrscher zu Philosophen werden, be4
trächtlieh beeinflußt war. 14 In diesem Rahmen sollen natürlkh zuerst die of-
fenbar an Platen angelehnten politisch-philosophischen Schriften der fünfzi-
ger Jahren betrachtet werden. Im Proömium der Schrift Dt n pub/iea bekämpft
Cicero zuerst (Rep. I, 1-9) den epikureischen Quietismus - anhand dessen viele
angeblich glaubten, man solle sich der politischen Praxis fernhahen -, um dann
zu behaupten, daß führende Politiker von einer politischen Philosophie unter4
Stützt werden sollten (Rtp. I, 10-1 I). Im zweiten Buch läßt er Scipio die Bedeu-
tung der Persönlichkeit betonen: immer sind es die Einzelnen gewesen, die mit
ihrer Chanktertugend und Einsicht den Staat stufenweise zu der besten Ver-
fassung geruhrt haben. Und der ideale Staatsmann steHt mit seinen Tugenden
ein Exemplum fur die Bürger dar fRLp. 11,69: u/ od imilolion,,,, JU; ,,'Ocal o/ioJ, ul
Jtlt fp/mt/ort animi tl tÜnt fliOt firul Jpuu/um protbtal eh·ibuJ}. In einem gewissen
Sinne ist also der tugend ethische Aspekt wichtiger als der legalistisch-politi-
sche. Im Proömium des drinen Buches (Rtp. 111, 5) lobt er die Vereinigung
praktischer Erfahrung und theoretischer Vertiefung, die er den Lesern als eine
Verbindung römischer Pragmatik und griechischer Philosophie vorstellt. Im
fünften Buch schHeßlich entwickelt er eine Theorie über die Bildung des prin-
ctPf oder gubtnlalor rti pub/ient. Dies alles bildet insgesamt eine Art Erziehungs-
programm für die römische politische Elite.
Es handelt sich hier also im wesentlichen um eine tugendethische Konzepti-
on, nach der die Sicherung des Staates nicht primär von seinen Institutionen,
sondern vom Ethos seiner Bürger und vor allem vom Ethos seiner Führer be-
stimm( wird. Eine solche Konzeption finden wir bekanntlich auch anderswo in
der Geschichte der antiken politischen Philosophie. Sie tritt klar hervor aus
Pl3tOns Po/iltia, und auch Platons mißlungene Bemühungen, am Hofe von
l) All. XVI, 5. 2: ..sie enim commutalus est IONS et scriptis meis quibusdam quae in
rnanibus habebam et adsiduitale oralionis et praeceptis Ul (ali animo in rem publicam
quali nos volumus rUluru5 si I".
l~ Zum PlalOnbild Cieeros. siehe Long 1995a.
16 Geschichte
15 Alt. VIII, 11, I: "consumo igitur omne tempus considerans quanta vis sir illius vin
Algra, ViI,u philolophio d/lx 17
siert er. anhand der stoischen Theorie der /en/hikon/a (o.fIida, Pflichten) die Po-
Litiker Sulla, Caesar und, ptr i11lplicotiont11l, Amonius und stellt ihnen ein Ideal-
bild gegenüber, nach dem sich der PoLitiker bewußt ist, daß er die "Maske des
Staates trägt" - also den Staat verkörpen - und daß er demgemäß dessen digni-
/0$ vergegenwärtigen soll 16
un soll man aber aus den platonischen AnkJängen in De rt pllblira oder aus
dem platonischen Wortlaut in dem oben zitierten Brief an Atticus iiber Caesar
nicht schließen, Ciceros politische Ethik komme der orthodox platonischen
nahe. Das Konzept des idealen Staatsmannes wird bei ihm nicht mit der Er-
kenntnis transzendentet Werte in Verbindung gebracht. Exemplarisch ist nicht
der Jenseits-Philosoph der platonischen Poliltia, sondern der Staatsmann+Phi-
losoph, so wie Cicero es selber war. 17 Demgemäß erkennen wir in seiner Skizze
des Idealbilds die Elemente seiner eigenen philosophischen Bildung in der
zeitgenössischen Akademie bei Phi Ion von Larissa und Antiochus von Aska-
lon. 18 Einerseits folgt er nämlich im großen und ganzen dem gemäßigten Skep-
tizismus der "neuen" Akademie Phiions, indem er uns den idealen PhiJoso-
phen als einen vorfünn, der die vorhandenen philosophischen Meinungen ein-
ander gegenübersteHt und versucht, in einer rhetorisch-philosophischer Praxis
des pro tI contra düplI/ari herauszufinden, welche Theorie man flir die wahr-
scheinlichste halten kann. So schilden er uns am Anfang der Schrift De na/Nra
dtof'H11I den idealen Akademiker. Dieser kenne alle philosophischen Systeme
und sei um der Wahrheit willen imstande, sowohl ftir als auch gegen alle diese
Systeme zu argumentieren: "Wenn es schon eine große Aufgabe ist, die Lehren
einer einzc:lnen Schule zu verstehen, wie\'iel größer ist die dann ftir alle Schu-
I.::n? D;e müssen aber diejenigen auf sich nehmen, die 5ich vorgencmmen ha·
ben, sowohl gegen als auch für alle Philosophen zu disputieren, um die Wahr-
heit zu finden. Ich selbst behaupte gewiß nicht, daß ich die Fähigkeit zu einem
'1uem nostris <Iibris> saris diligenler 1... 1 expressimus. tenesne igitur moderatorem
illum rci publicae '1uo referre "dimus omnia? (... 1huic moderatori rei pubblic2e be2-
fa civium vit2 proposita est 1... [ hoc Gnaeus noster cum 2ntea numquam turn in hac
causa minime cogitavit. dominatio quaesita a utroque est, non id aCtum, be:l.t.a et ho-
nesta civitas ut esset". Zum philosophischen Himergrund der Ciceronischen Kon-
zeption der rrs publica siehe Ferrary 1995 und Schofield 1995. Zum Verhältnis zwi-
schen Philosophie und Politik in der späten Republik im allgemeinen siehe Griffin
1989.
16 Off I, 124: .,est igitur proprium munus m2gistnHuS imellegere se gere re personam d-
vit2tis debere'lue eius dignit2tem el decus susrinere, sef'.'2re leges, iura describere, e2
fidci suac commiSS2 meminisse'·. Dazu 2uch Lang 1995b.
17 Fur ein Beispiel dieser SclbSlzufriedenheit siehe Off I, 77-78. M2n soll 2ber 2uch
solche P2SS2gen "on einem lu~nde{hischen Gesichtspunkt aus betrachten: es han-
delt sich nicht um die Verherrlichung rein persönlicher Merkm:ale, sondern es wird
ein Charakter!TpMJ 21s exemplarisch d2rgeslellt. ~f1l,de mil der Absicht, auch .andere
zur achfol~ herauszufordern.
18 Zu Phiion und Anriochus (und ihr Verhältnis zueinander) siehe Barnes 1989 und
Görler 1994.
18 Geschichte
so großem und schwierigen Unternehmen erlangt habe. Dass ich danach ge-
strebt habe, erkläre ich dagegen gcrne."19 Andererseits aber stellt sich gerade
bei diesem probabilistischen Verfahren des öftcren heraus, daß die Position
der antiocheischen "alten" Akademie - ein synkretisierendes Amalgam von
Platonismus ohne Transzendenz und Stoizismus - zu präferiercn sei. Ein Bei-
spiel findet man am Ende des ersten Buches von De legiblls (Leg. I, 58-63), wo
Cicero die philosophische Weisheit als Erzeuger der guten politischen Praxis
(I, 62: tarollJ paretu esl ed,uoln'xqlft sapientia) bezeichnet - die Weisheit, von der
sein eigenes Leben, wie er sagt, ganz und gar geprägt worden ist (I, 63: millI
studio leneor qlloequt mt ellm, qllicumqut SlIm, ifftcil).
Es stellt sich also heraus, daß Cicero - wie sehr auch das Ideal des Staats-
mann-Philosophen als solches platonischer Herkunft war und wie sehr auch
Platon in dieser Hinsicht fur ihn exemplarisch war - auf jede Form von Tran~
szendenz verzichtet: Die Werte, die das Leben und das Verhalten des Politikers
prägen sollen, enmimmt er einer probabiJistischen Dialektik, in deren Rahmen
er - und nicht nur er, sondern auch der ideale Politiker - sich dann letztlich,
ohne Sicherheit und nur aus Plausibilitätsgründen, zu der stark stoisch anmu-
tenden antiocheischen Position bekennt.
III
Mit dem Hinweis auf diese tugendethischen Aspekte ist aber dje Frage nach
dem Verhältnis zwischen Philosophie und Politik bei Cicero noch nicht er-
schöpfend behandelt. Denn die Frage läßt sich auch auf mehreren konkreteren
Ebenen beantworten. Wie lassen sich, nach Ansicht Ciceros, die Werte und
Tugenden, die der ideale Politiker aus der Philosophie herausbekommen wird,
praktisch im römischen Kontext der späten Republik verwenden?
Erstens ist zu bemerken, daß die Philosophie nicht allein für die Persönlich-
keit des Politikers eine bildende Rolle spielen kann, sondern daß sie ihm auch
bei seiner alltäglichen rhetorischen Arbeit nützljch sein wird. Dieser Aspekt
tritt klar und bemessen hervor im Orator, wo Cicero mehrfach betOnt, daß
nicht nur die Ethik, sondern auch die Logik und die Physik für die oratorische
Praxis hilfreich sind. 2o Es handelt sich dabei natürlich nicht um Stil oder rhctO-
19 ND I, 11-12: "si singulas diseiplinas pereipere magnum est, quanto maius omnis?
quod faeere iis necesse est quibus propositum est veri reperiendi causa et contra om-
nis philosophos et pro omnibus dicere. euius rci tantae tanamque diffieilis faeuha-
tem conseeutum esse me non profiteor, secutum ersse prae me fero".
20 Or. 16: "nee vero sine philosophorum diseiplina genus et speeies euiusque rei eeme-
re, neque eam definiendo expüeare ncc tribuere in partes possumus nce iudicare
'1uae vera, quae falsa sint, neque eemere eonsequentia, repugnantia videre, ambigua
distinguere. quid dicam de nawra re rum, cuius eognitio magnam orationis suppeditat
copiam? de vita, cle officiis, de virtute, de moribus sine multa earum ipsarum rerurn
disciplina aUf diei aut imellcgi posse?". Ausfuhrlieher Or. 113-119, und vor allem De
Algra. Vitat philoJophia dux 19
orat. 1J I. 56-90. Die Physik wird natürlich vor allem dienSlbar sein. wenn es sich um
Fragern mil Bezug auf das Weltbild und die Religion handelt (cf. Div. 11, 149: "religio
propaganda 1...1 quae eSI iunCfa eum eognitione naturae").
2\ Griffin 1989, S. 36.
Z2 D;'I. 11. 148-149: "Nam el rnaiorurn instituta tueri saeris eaerimoniisque retinendis
sapientis est (... ) quan1 ob rem UI rcJigio propaganda etiarn eS[, quae est iuneta eum
cogniuone muurae, sic superstitionis stirpes ornnes eiidendae;'.
lJ ND J, 3-4: .. In specie aUlem ficlae simulationis sicut reliquae virtules ilem pietas in-
esse non polesi, cum qua simul sancutalem et religionem tolli necesse est; quibus
sublatis penurbatio vitae sequitur et magna confusio, atque haud sdo an pietate ad-
versus dcos sublata sublara fides euam et societas generis humani et una e"cellenus-
sima virtus iustitia loUatur".
24 A(ad. 11, 140; "alteram si sequare, muha ruunl el maxime communitas cum hominum
genere. cuitas, amicitia. iustitia, reliquae virtutes". Siehe dazu ""'eiter AJgra 1995, S.
115-118.
20 Geschichte
zwischen Philosophie und Politik ein wechselseitiges ist. Die Philosophie soll
nicht nur die Politik begründen, sondern umgekehrt soUen die politischen
Konsequenzen der respektiven philosophischen Systeme auch die probabilistj.
sehe WahJ fUf das eine oder das andere System mitbestimmen. Diese enge Ver-
knüpfung dieser zwei Bereiche wird letztendlich dadurch ermöglicht, daß es
sich im wesentlichen um zwei Aspekte der Bildung oder der Persönlichkeit des
idealen Politikers handelt.
IV
Schließlich soll darauf hingewiesen werden, daß Ciccros Bemühen, das Ideal-
bild eines Politikers darzustellen und dieses Idealbild mit einer Wiederherstel-
lung der herkömmlichen römischen mons zu verknüpfen, keine vereinzelten
Phänomene in der Staats theoretischen Debaue der Caesarischen Zeit waren.
Oberhaupt spielte in der Antike die Ch:trakterstirke der Politiker eine wichtige
Rolle sowohl bei ihrer Selbstdarstellung als auch bei der An und Wcise, in der
sie in der Dcbattc andcrcn begegnercn. 25 Wahrschcinlich hatte schon um 58
der epikureische Philosoph Philodem von Gadara scinen Gulen Kiinig gemaß Ho-
",er geschrieben und das Buch seinem adligen Patron L. Calpurnius Piso Cae-
soninus, dem Schwiegervater Caesars, gewidmet. Diese Schrift reiht sich zwar
in die Tradition hcllcnistischcr Fürstcnspiegel, kann aber als einc stillc Mah-
nung, nicht an einen Monarchen, sondern an die gesamte Führungsschichr der
römischen Rcpublik, verstanden werden. 26 Caesar hat auch offenbar selbst ver-
sucht, sich als einen weisen, milden Führer darzustellen, kurz, als einen Herr-
scher im Sinne des Ideal bilds Philodems. 21 Hermann Strasburger hat eine Rei·
he von Indizien gesammelt, die darauf hinweisen, daß es im philosophischen
Spätwerk Ciceros eben auch in einem solchen konkreten Sinne ein politisches
Programm gibt. Cicero habe durch die \,\/ahl seincr Personagen und durch ein
2S Das Phänomen spieh übrigens auch noch in der r-,'!oderne eine häufig unlerschätzte
Rolle. So hat \'(fills 1990. S. 35-36. darauf hingewiesen. daß die Drogenpolitik des
amerikanischen Präsidenten Reagan, die faktisch ohne Erfolg war, doch als erfolg-
reich erfahren wurde. nur weil der Präsident die erwünschte Attitude ,'erkörperte:
.,Neither the sexual nor the drug revolution was reversed. or eyen held Statie by the
Reaga.ns' exhortation TO ,say no'. but these developmenu were made somehow en-
dur20ble b)' being treated as 2onom20lous. Re20ga..n m20de it possible tO live with change
while not accepting it..'· Siehe ferner 20uch Kochin 2002. dem ich dC'n HinwC'is 20uf
Wills verdanke.
26 Zur Tradion hellenistischer Flirstenspiegel siehe jetzt Schofield 1999 mit weiteren
Venl.'eisen.
n Siehe dazu den Brief Caes20ts an Oppius und Cornelius vom 5. Mirz 49. Alt. IX, 7:
.. haec nova sit ratio vincendi, ut misericordia et liberalitate nos muniamus"; vgl. auch
Zecchini 1998. S. 151.
Algra, Vi/nt philosophin d#lx 21
Netz politischer Anspielungen die Schriften der vierziger Jahre zu einem Auf-
ruf gegen Caesars Gewaltherrschaft verdichtet. 28
\'(las das Element der römischen Tradition anbetrifft, soll hier noch auf die
in den fünfziger Jahren veröffentlichte De n pNb/iro von L. AuruncuJeius Coua
hingewiesen werden, in der betont wurde, daß nicht die Optimaten, sondern
Caesar mit seiner ..neuen Politik" gerade als einziger f:ih.ig ware, die ns pNb/iro
und die pdsri mom auf dje Höhe ihrer besten Zeiten zurückzuführen. Dagegen
wurde in der anonymen KOlIsh·INlion du &mNbiJ von seiten der radikalen Opti-
maten zu zeigen versucht, daß die popl/lons im Begriff waren, die beiden
Grundpfeiler des Staates, die Autorität des Senats und die öffentliche Religion,
insbesondere die oNspirio, umzustürzen. 29 Ohne Zweifel soll die Hervorhebung
traditioneller Begriffe wie (on(ordio und die Verteidigung der Religion bei Cice-
ro auch vor dieser Hintergrund betrachtet werden.
In einem gewissen Sinne reihen sich also die philosophischen Werke Cice-
ros, soweit sie ein politisches Programm beinhalten, in eine zeitgenössische
Debatte ein. Was aber die Position Ciccros innerhalb dieser Debatte auszeich-
net, ist sein Bemühen, sowohl das Ideal bild des Politikers als auch die Ideale
der römischen Tradition philosophisch zu unterstützen und zu vertiefen. Sei-
nes Erachtens kann man das machen und soll man das auch machen, weil die
Philosophie in allen Bereichen des Lebens eine flihrende Rolle spielen soll. In
den \'(Iorten des berühmten Prosahymnus im fUnften Buch der TIISNi/onat Dis-
Pl/folionu 01, 5): ,.i/ot philosophio dNX.
28 Slfasburger 1995.
19 Siehe Zecchini 1998, 153--154.
22 Geschichte
Abkürzungen
AClld. - Academin
Au. - EpislUlae ad Atticum
Oe orou. - Oe or:uore
Div. - Oe divin:uione
Fa",. - EpiJllllor adjaJltiliarrs
ug. - Oe legibus
ND - De nalMra d,Orln"
Off - Dt ojfidis
Or. - Orator
Q. Fr. - EpiJ,,,!<u ad Quint'u" fraI"'"
Rep. - Oe re publicll
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Hena Nagl-Docekal, Ludwig Nagl
Augustinuslektüren im Kontext
der Gegenwartsphilosophie
Nicht ohne ein gewisses Pathos wird heute vielfach die Überzeugung zum Aus-
druck gebracht, daß durch die Denkbewegungen der Gegenwartsphilosophie
vormoderne Fragestellungen und Konzeptionen schlicht obsolet geworden sei-
en. Insbesondere mit Bezug auf jene Kapitel der Philosophiegeschichte, in de~
neo der Ausgangspunkt des Denkeos in theologischen Problemstellungen lag,
scheint der Gestus einer vollständigen Abkehr weithin Konsens zu finden.
Doch iSt der Preis flir diese Distanznahme nicht sehr hoch? Möglicherweise
enthalten die als ataviStisch empfundenen Entwürfe, bei aller Kontextbezogen-
heit, dennoch Fragen, die im Zuge der pauschaJen Verabschiedung nicht ge-
löst, sondern lediglich aus dem Blickfeld gerückt wurden? So wäre es denkbar,
daß eine Relektüre, die nicht bloß histOrisch-philologischen Intentionen folgt,
sondern die ein fremd gewordenes Denken aus dem Kontext der Gegenwarts-
philosophie heraus aufzuschließen sucht, Differenzierungspotentiale für die
heutige Debatte erbringt. Vorliegende Studien in dieser Richtung geben Grund
zur Annahme, daß ein weiteres Verfolgen dieses Weges sich als lohnend erwei-
sen könnte. Um dies exemplarisch zu erläutern. gehen die folgenden AusfUh~
rungen der Augustinusrezeption im Rahmen unterschiedlicher Theoriekonstel-
lationen der Philosophie des 20. Jahrhunderts nach: Es soll gezeigt werden, wie
Hannah Arendt und Jean-Fran~ois Lrotard das Werk Augustins auf ihre jeweils
spezifischen Problemstellungen beziehen. Dabei fallt gerade angesichts der
Differenz dieser beiden Zugänge ins Auge, daß - in unabhängiger Überein-
stimmung - zwei Elemente des Denkens Augustins aus dem Blickwinkel der
Gegenwart besondere Beachtung erfahren: erstens die Thematisierung des
Selbst im Sinne der Formulierung "Questio mihi factus sum"; und zweitens die
Verschärfung des Endlichkeitsaspekts von Praxis und die damit verknüpfte Vi-
rulenz des Themas "Hoffnung"l.
, Die Fr2~. ob Augustinus bei Arendt und Lyotllfd eine "adiqu:ue" oder "zulissige"
Deutung erfahren h:u, ist nicht Thema der folgendC'n Ausführungen; diese konzen-
trieren sich vielmehr auf den Versuch, im Rückgriff auf August.inus Theorieelemente
zu gewinnen, die die zeitgenössische Debatte voranbringen können.
N agl. Doc~k:a 11 Nagl, Augusli nu sl~k t Ür~n 25
2 Gedruckt erschien diese Dissert2tion unter dem gleichen Titel in Berlin, 1929.
1 Vgl. Elisabeth Young-Bruehl. HOf/lfob Artlfaf: For UI.V pf fht U7orIJ, Ne"" Haven,
Conn., 1982, S. 366--370, 494, 499; Hauke Brunkhorn, Halff/ob Am,af, München
1999, S. 27. In diesem Zusammenhang erscheint auch signifikant, daß die Hannah
Arendt gewidmete und in entscheidenden ASIXkten an ihrem Werk oriemiene Stu-
die Ernst Vollraths - Vii Rdeolfstrltkti,If dtr fHJlitisrlNIf UrtdlJlerofl, SlUugan 1977 -
Arendt$ Auseinandersetzung mit Auguscinus an keinem Punkt nachgeht.
.. Margaret Cano\'an, HOlflfob Artlfaf. A RLilfftrprtfati'If pf Hrr Po/i/irs/ ThfJM~bt, Cam-
bridge 1992, S. 279.
26 Geschichte
S Die Publikation war mit dem Verlag Crowell-Collier vcrlraglich vereinbar! gewesen.
Nach ArendIS Tod war die (nicht von der Autorin selbst besorgte) Übersetzung ins
Englische umt den von Arendt vorgenommenen Veränderungen und Ergänzungen
nur in der Nachlaßableilung der Library of Congress. WashingtOn D.C., zugänglich.
6 Hannah Arendt, Utv alld Sai", /!lIgllsti"t. edited and with an imerpretive essay by Jo-
anna V«chiarelli Scott, Judith Chelius Stark, Chicago und I..ondon 1996.
7 Ronald Ikiner, "Love and Worldliness: Hannah Arcndt's Rcading of Saim AUguSli-
nc". in: Larr}' Mar, Jerome Kohn (Hrsg.), Ha""ah /!rr"d,. T..,,,~ Ytar1 uttr, Cam-
brid~. Mass., und London 1996, S. 269-284, hier 276.
8 Dt.: Hannah Arendt, V"", l..Lbt" du Gnstts. 2 Bde., München 1979.
9 Joanna Vecchiarclli Seon. Judith Chclius Stark, nRcdiscoycring Hannah Arendt". in:
H2o.nnah Arcndt,!Art 4"J S4i"t /!JlgNsH"t, a. a. 0., S. 115-212. hier 135 f.
10 Arendt, Ul~ a"J 54i", /!lIl,lIsti"t, a. 20.. 0 .. S. 100 f.
Nagl- DocekaI / Nagl. Augu sun uslek IÜ re n 27
Dabei lenkt sie den Blick darauf, daß unser Leben bzw. Überleben nur dadurch
möglich ist, daß wir in eine menschliche Gemeinschaft eingebunden sind, dje
durch die Verflechtung der Partikularinteressen gekennzeichnet ist - durch ein
"wechselseitiges Geben und Nehmen"lI, wie Augustin es ausdrückt. Zu den
Elementen dieser gegebenen Gemeinschaft gehört auch ein Aspekt von
Gleichheit, insofern alle Menschen das Schicksal der Endlichkeit teilen. Doch
ist diese Art des Zusammenlebens, so Arendt, nicht das letzte WOrt. Wir wis-
sen zugleich, daß wir auf die biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten
nicht eingeschränkt sind, sondern daß wir sie zu transzendieren vermögen.
Arendt interpretiert in diesem Zusammenhang den Gedanken des "Nicht·von-
dieser-Welt-Seins"l2. Es sind vor allem Erfahrungen der Entfremdung, die uns
die Möglichkeit eines Heraustretens deutlich machen. In djesen Erfahrungen
werden die einzelnen zunächst auf sich selbst zurückgeworfen, doch werden
sie sich gerade in der Vereinzelung ihres Selbstseins bewußt. Arendt unter·
streicht hier die Bedeutung der von Augustinus gewählten Formulierung: .. I
have become a question tO myselr'13. Die fiir sie entscheidende Frage geht nun
dahin, wie ausgehend von dieser Vereinzelung eine andere Gemeinschaft auf·
gebaut werden kann, die nicht mehr von vorgegebenen Konditionen bzw. vom
System der Bedürfnisse abhängig ist, sondern sich dem gemeinsamen Handeln
der Menschen verdankt l4 . An diesem Punkt kommt der Begriff "Liebe" ins
Spiel.
Indem Arendt jenen Gedanken Augustins nachgeht, die das Verhältnjs der
einzelnen zu Gott - das "coram Deo esse"IS - betreffen, entwickelt sie einen
alternativen Begriff von Gleichheit: Wenn die Menschen ihre Endljchkeit tran-
szendieren, sind sie nicht mehr bloß vom gle:chen Sch:c1:saJ betroffen, son-
dern Gleichheit wird fur sie zum expliziten Thema. In djesem Sinne liest
Arendt die Forderung der Nächstenliebe: ..[EJqual.iry is made explicit in a defi-
nite sense. The explicitness of equalüy is contained in lhe commandment of
neighborly love. The reason one should love one's neighbor is that the neigh-
bor is fundamentally one's equal."16 Anders gesagt: Aus der Entdeckung von
Gleichheit in diesem Sinn erwächst eine Verpflichtung gegenüber den Mitmen-
schen, die die einzelnen aus ihrer Vereinzelung herausführt. "Esrrangement it-
sclf gives rise 10 a new tOgethcrness, that is, a new being wit.h and for each
other."17 Diese neue Art des Milcinandcrhandelns äußert sich in Form der kri-
tischen Auseinandersetzung mit der bestehenden, vorgegebenen Gesellschaft.
lt Ebd.. S. 101.
12 Ebd., S. 104.
1J Ebd .. S. 5. Vgl. Auguslinus, C",jtUÜUIt/ X, 33, 50.
1. Siehe d:u gesamle Kapilel "Pan 111. Sodal Life". in: Arendl. u,~ I",d Sai"t A/III,/IIJh"',
a. a. 0., S. 9S-112.
l) Arendt, Lo,~ a"d Sai", Alig/lllti"t, a. ~. 0 .. S. 105.
16 Ebd.. S. 106.
17 Ebd.. S. 108.
28 Gc:schichl(:
Die ursprüng(jche wechselseitige Abhängigkeit wird nun ersetzt durch die Be-
ziehung wechselseitiger Liebe: "This oe\\' social Life which is grounded in
Christ, is defined by muruallove (... ], which replaces mutual dependence."18
Wenn aber die Verpflichtung dem Nächsten gegenüber darauf hinausläuft, ge~
meinsam gegen die alte Gesellschaft - "ag:linsl the old socicry"19 - vorzuge-
hen, so bedeutet das, daß Arendl Liebe auch als Widerstand definiert.
In der näheren Erläuterung dieser Zusammenhänge arbeitet Arendt eine
Differenzierung heraus, in der ein Grundgedanke ihrer politischen Philosophie
angelegt ist; Sie erörtert den zugleich universalistischen und individualistischen
Charakter der Liehe. Die universalistische Perspektive liegt darin, daß aus dem
Begriff "Nächster" grundsätzlich niemand auszuschließen ist. Aufgrund der
Gleichheit aller Menschen haben wir kein Recht auszuwählen: "Mutual love
lacks the element of choice; we cannot choose our ,beloved'."zo Doch wäre es
ein l\.1.ißverständnis, dies im Sinne einer allgemeinen, dem Menschengeschlecht
als ganzem geschuldeten Zuwendung zu verstehen 21 • Da dje Liebe in der Ver-
einzelung ihren Ursprung hat, ist mit dem Ausdruck ,. ächsrer" jeder/jede
einzelne als Individuum gemeint. ..Love does nOt turn tO humankind but ('0 the
individual, aJbeit every individual. In the community of the new society the hu-
man race dissolves imo its many individuals."22 Auf der letzten Seite ihrer Dis-
sertation hält Arendt fest, daß mit Augustins Deurung des einzelnen "coram
Deo" nicht weniger geleistet ist als die Entdeckung der Individualität. "God is
the source of each and every individual. Ir is at this point that the individual is
discovered."23 An genau diesem Punkt knüpft der Begriff der "Natalität" an,
der in Arendts Konzeption des "PoLitischen" von so zentntler Bedeutung iS1 24 •
Auch dieser Begriff bezieht sich bekanntlich nicht auf die bloße Faktizität der
leibLichen Geburt und der damit erfolgenden Positionierung in der Gene-
rationenkette, sondern darauf, daß die einzelnen durch ihr Handeln einen Un-
t.erschied machen können. Demnach kommt mit jedem/jeder einzelnen etwas
Neues in die Welt; "it was for the sake of novit20S (... 1 that man was created
1... 1 he is able tO act as a beginner"25. Unter dieser Perspektive formuliert
18 Ebd., S. 108.
19 Ebd., S. 108.
20 Ebd., S. 110.
21 Arendt räumt freilich ein, daß manche von Augustins überlegungen zur Nichsten·
liebe - bei Ausblendung ihres Kontextes - im Sinne einer "sublime indiffen::nce" ge-
lesen werden könnten, das heißt dahingehend, daß mit dem Begriff des Nächsten
nur die abstrakte Qualität des Menschseins, ...nOt everyone in his concrete unique-
ness", angesprochen ist. Vgl. ebd., S. 43.
22 Arendt, LA,.v {llld S{lillt AII/luti." a. 21. 0., S. 111.
13 Ebd.• S.llt f.
24 Die Bedeutung der Dissertation für diesen Grundgedanken Arendrs erläutert 2Iuch:
Julia Kristeva, Hall1fah Arrntit, New York 2001, S. 44 ff.
n Arendt, Ut"e a"d Sai", AI/gI/stint, a. a. 0., S. 55. Arendt "erwe.ist an die.ser teile auf
die Differe.nz der Begriffe "initium" und "Principium".
Nagl-Docekal/Nagl, Augustinuslektüren 29
Arendt den Maßstab rur die kritische Auseinandersetzung mit den jeweils gege-
benen Verhältnissen: Eine Politik, die sich nicht dem Vorwurf aussetzen will,
Menschen zu mißachten, hat Arendt zufolge auf die Besonderheit der einzel-
nen Bedacht zu nehmen und .. Pluralität" zu ihrer Zielsetzung zu machen. Es
scheint somit nicht überzogen, wenn festgestellt wurde, Arendts Kritik der
Moderne habe Augustinische Wurzeln 26• Noch in einem ihrer letzten Essays -
..What is Freedom?" (erschienen posthum, 1977) - schreibt Arendt Augustinus
die Leistung zu, die im Christentum angelegte neue Idee poLitischer Freiheit
formuliert zu haben; es findet sich, schreibt sie, eine "valid political idea of
freedom in Augustine,m.
Wenn nun davon auszugehen ist, daß Arendts Konzeption des .. Politi-
schen" auch als ein Versuch gesehen werden kann, die hier entdeckte "politi-
sche Idee von Freiheit" auf die Bedingungen der Gegenwart zur Anwendung
zu bringen, so erhebt sich die Frage nach der Tragfahigkeit dieses Versuches.
Die in den letzten Jahren intensivierte Auseinandersetzung mit Arendt brachte
die Formulierung einiger schwerwiegender Einwände mit sich. Aus dem Blick·
winkel der Kritischen Theorie und der Kantischen Tradition der Rechtsphilo-
sophie wird insbesondere moniert, daß Arendts Denken Defizite hinsichtlich
der sozialen Asymmetrien sowie der Bedeutung von Gesetzgebung und recht-
lich-institutioneUen Strukturen aufweise 28. Indem Arendt - so lautet einer die-
ser Einwände - aufgrund ihrer Fokussierung der Einzelnen eine republikani-
sche Konzeption von Öffentlichkeit in den Vordergrund rückt, läßt sie die
Begrenztheit der Güter und die dadurch bedingte "Situation von Konnikt und
Konkurrenz" weitgehend unberücksichtigt. Unter dieser Perspektive stelle sich
ihre Konz.eption a1;; cir.e "schlechte Utopie" dar?9. Auf d:ese Diskuss:o:l kann
hier nicht niher eingegangen werden; doch bei aUer Berechtigung, die manche
der vorgebrachten Einwände haben mögen, scheint die Lcistungsfahigkeit des
Arendtschen Ansatzes unbeStreitbar. Sie liegt zum einen in der z.eitdiagnosti-
sehen Rele\'anz. So hat Arendts Kritik an dem durch die Konsumgesellschaft
verursachten "Selbsrverlust" nichts an Brisanz verioren JO . Auch das Plädoyer
26 Auf "the Augustinian root of Arench's critique of modcrnity" weisen Scott, Stark,
"Rediscovering Hannah Arcndt", S. 115, hin.
27 Arcndl, J-1annah, "Wha! is Freedom?", in: dies., Behnln PalI and FNINrr: Eighl EXUr1llS
in PolilitalThoNghl, New York 1977, S. 167. Arend! nennt es auch "das Verdienst Au-
guslins", daß er "höchst u.'ahrscheinlich der geistige Urheber und sicher der größle
Theoretiker christlicher Politik ist". In: dies., Z.'Ürhl" V"l.a"gtwhtil Nntl ZN/eJmfl.
Ob""gm im polililf/N" Dt"kt" J, München 1994, S. 91.
28 Vgl. Albrechi Wellmer. "Hannah Arend! über die Revolution", in; den.• Rt~VJINlio"
Nltd J"ltrprrlaIiOlt, Amsterdam 1998, S. 4>-75; Hauke Brunkhorst, Ha''',ah Amldl.
a. a. 0., S. 124 ff.
29 Otfrie<! Höffe, "Politische- Ethik im Ge-sprich mit Hannah Arendl", in; Peter Ke-m-
per (Hrsg.), Dit 2l1h"fl du PDlitilf/N". AlIlhlidu iJllj Ha""iJh A""tll, Frankfurt am
Main 1993, S. 27 f.
30 "gi. das Kapitel "P2lhologien des Selbsl und der Welt;; in; Rahel Juggi, Welt N"d Pt'-
30 Geschichte
für "Pluralität" erwies sich als eine wichtige theoretische Weichenstellong. vor
allem in bezug auf die Probleme, mit denen sich rnulticlhnische bzw. multikul·
turelle Gesellschaften konfrontiert sehen. So formuliert 5c)'la Benhabib ihre
Version eines ..procedural concept of the public spacc" im Rückgriff auf
Arendrl l . In diesem Kontext wurde auch deutljch, daß die zeitgenössi.sche fe-
ministische Theoriebildung entscheidende Differenzierungen von Arendt bt:-
ziehen kann)2. Indes steht fUf manche der Überlegungen Arendts eine solche
ReakruaLisierung noch aus, obwohl sie wünschenswert wäre; dies gilt insbeson-
dere für Arendts Kritik an einer Gerechtigkeitstheorie, die so vom National-
Staat her denkt, daß sie hinsichtlkh der prekären Lage der Flüchttioge und
Staatenlosen keine angemessene Lösung bereitzustellen vermag, sowie für
Arendts damit verbundene Forderung, daß dje Individuen als solche Rechte
haben müssen)).
RU'. ZM", o"fhrop6logiJ(hu, Hi"ftrl,rNnd dtr GmllsrhojlJluitile Honnoh ArtndfJ, Berlin 1997,
S. 86-98.
JI Vgl. Seyb. Benhabib, "Feminist Theory and Hannah Arendt's Concept of Public
Sphere", in: Walter Brogan, James Risser (Hrsg.), A",triron Contin",fol Phi/(J/opb.J. A
~oJt,., Bloomington, Indiana, 2000, S. 372-390. Benhabib steht Arendt keineswegs
unkritisch gegenüber; sie teih vielmehr den Vorbehalt, daß Arendts politische Theo-
rie die nötigen normativen Grundlagen vermissen lasse. Vgl. Seyla Benhabib, Han"oh
An"df. Dit 111tlol1rhtJlüt!Je Denletri" Jt,. Mod".,/t, Hamburg 1998, bes. S. 301-309.
J2 Vgl. Bonnie Honig, Ftmi"irf l"ftrprtfofio"J of Ha""ah An"df, University Park, Pennsyl-
vania, 1995. Arendt äußerte sich freilich zur Frauenbewegung ihrer Zeit höchst vor-
behaldich, doch gibt Honig mit gutem Grund zu bedenken, daß sich die heutige fe-
ministische Theorie wesen dich unterscheidet von jener, die Arendr zurückgewiesen
hat. Wenn heute frühere Annahmen einer geteilten weiblichen Identität und gyno-
zentrisch orientierte politische Programme ihre Aktualität verloren haben, so liegt
diese Enrwicklung auf einer Linie mit Arendrs Insistieren auf der Besonderheit aller
Einzelnen. Vgl. Bonnie Honig, .. Inuoduction", in: ebd., S. 2.
JJ Vgl. Axel Honneth, "Die Chance, neu beginnen zu können. Ober Hannah Arendt
und die Bedeutung ihres Werkes rur das 20. und 21. Jahrhundert", in: U/tra/llre", 09/
02, S. 44-45. Siehe auch Sidonia BlättIer, "Zwischen Universalismus- und National-
sruukritik. Zum ambivalenten Status des Nationalstaats bei Hannah Arendt", in:
D,MlHbt ZtiUrhrijf fir Phi/oJophit 48 (2000), 5, S. 691-707.
J4 Ntben Hannah Arendt habtn sich so unttrschiedliche Denker wit Ludwig Wittgen-
stein und Jacques Dtrrida ausführlich mit Augustinus b!=schiftigt; sithe dazu, einlei-
tend, Ludwig Nagl, "Drei Augustinus-Lekriirtn: Wittgenstein, Derrida, Lyotard", in:
Milan Znoj (Hrsg.), HtgtlotYJ" JfOpM (FeStschrift für Milan Sobotka, Prag (in Druck).
Nagl-Docckal/Nagl, Augustinuslektüren 31
tards unvoUendet gebliebene Schrift Tht Confusion 0/ Aliglistint. J5 Wie die Her·
ausgeberin Dolor~s Lyotard a.nmerkt, ist der uns vorliegende Text "scarcely
half of the projeced work" (CA V11). Er um faßt zwei Hauptteile, einen Essay
("which brings together [Wo texts written in 1997") und ein" otebook, a col-
lection of scanered elements that h:1ve nevenheless been arranged, each being
of a distinct lcind" (CA VB). Im folgenden konzentrieren wir uns auf Erwä·
gungen im ersten Teil, näherhin auf dessen Schlußpassagen, die die Titel "Ani-
mus", "Fissure", "Trance" und "Laudes" tragen (CA 46--57).
In den genannten Abschnitten des Texts geht es Lyotard darum, die Augu.
stinische invocolio Vti als einen Ort disruptiver (Denk-)Erfahrungen kenntlich
zu machen, die (obzwar in den Conftuionu beschrieben) das Beschreiben - so-
weit es eine verständige, an der "binären Klarheit" (CA 47) orientierte Tätig.
keit ist - an den Rand seiner Leistungskraft führen. Lyotard nimmt dabei, text-
hermeneutisch, die (lnnen-)Perspektive des Augustinus ein. Dieser, der Beken-
nende - so Lyotard - schreibt seine Bekenntnisse nieder, ist also deren "Au·
tor"; in dieser Tätigkeit selbst findet er sich jedoch zugleich vor als "geschrie-
ben": "I have been wrirten in my life, so sa)'s the confessant to himself, and I
h:1ve understood nothing, forever relating anything that happens to myself,
forever reading events at their face value" (CA 46). Die paradoxe Einsicht "I
have been wrinen" ist, obzwar sich um sie die com/usio dreht, jederzeit zugleich
überdeckt durch das Bild der autarken Autorenschaft: ein Bild, das den Bild·
sprung des Aufschwungs zum Unendlichen unverständlich macht. Alles, was ge-
schieht, beziehe ich auf mich, den Handelnden/Schreibenden; alles wird so
gesehen, wie es Pn"ntd v;slo zu sein scheint, das heißt aber: nichts wird verstan·
den. ,,Animus, thc intdleet" (CA 46), spielt ir. dieser Situ::.tior. eine Doppelrol-
le: Er ist, einerseits, 21s sem2ntische Ordnungs form aller Schrift. auch der be-
kennenden, fUr den Denkenden/Schreibenden unverzichtbar, zum anderen je·
doch zugleich die Grenze (oder die Eingrenzung?) jener Einsicht, die die im:o-
folio trägt. (Auch in philosophiegeschichdich späteren Thematisierungsversu.
ehen des Absoluten, bei HegeI, z. B., bleibt dieses - 2.ls Gegenstand djalekti-
scher Begriffsbewegung - dem Verstand unzugänglkh, obgleich der Verstand,
im 1'1I10dus der Artikulation, unverzichtbar ist: er "kann nicht geschenkt wer-
den", insofern er erSt möglich macht, d2ß das Absolute, indirekt, in seinen ab-
L)'OIards AugustinusJektüre ist - wie das Denken Lyorards überhaupt - "nach \'\Iin-
genstein" angesiedeh (siehe J. F. L)'Olard, "Nach Wingenstein", in: den.: Grabmal
des Intellektuellen, Wien 1985); das heißt, es beerbt jenes Interesse Wingensteins an
Augustinus, das (",'ie dasjenige Kanu) einsetzt am Rande theoretisch-kognitiver Dis-
kursi,·it2t: ..\'(lu also Augustinus im Irnum, wenn er Gou auf jeder Seite der Confes-
sionen anruft?" Nein, so Wingenstein: Weder er noch der Buddhistische Heiljge
"waren im Irrtum, aulkr ""0 sie eine Theorie aufstellten". (Ludwig \'('iugenslein,
"Bemerkungen über Fruers Golden 8ough", in: ders.: Vortrag ibtr Ethik, Frankfun
a. M. 1989, S. 29.)
JS D:l zur Zeit noch keine deutsche übersetzung vorliegt, wird im folgenden nach der
amerik:.tnischen Ausgabe zitiert: Jean Ff:ln~ois Lyotard, Tht CO/lftslio" oJ Auglllti"e,
Sranford, California 2000 (= CA).
32 Geschichte
writing" wird nicht von einer Bekehrung, die bereits stattgefunden hat, ..be-
richtet", das Schreiben selbst ist vielmehr Akt der conversio (eines Prozesses im
Zeichen der .. fis sure", des Hinundhergehens, eine von Unsicherheit und Skep-
tizismus interprenetrierte Suche, die nicht ..beendet" ist): ..No, confessive weit-
ing beus the fissure along with it", so Lyotard...Augustin confesses his God
and confesses himself not because he is converted: he becomes converted or
tries tO become converted while malcing confession" (CA 49). Erst in dieser
zerrissenen Denkbewegung wird der Augustinische Text möglich: als .. recipro-
cal balance of enigma and demonS[ration". Diese (unmöglich scheinende) Ba-
lance zwischen rationaler Demonstration und (Verstandes-)Rätsel verunsichert
das Selbstvertrauen, das onimNS (in egologischer Reflexion) aufzubauen be-
ginnt: ein Selbstvertrauen, das durch den Blick auf die memon"o als den giganti-
schen Um- und Vorraum jede!' rationalen Arguments gestärkt wurde. Denn, so
schien es, .. lanimus] knows [... ) how to find itself in time. Memory is its strong
point, its stOmach, writes Augustine, but more than that: memory is the mind
itself" (CA 46 f.). Das ist - bei Lyotard - zwar knapp formuliert: die uns in un-
serem eigenen Inneren offenstehende, erinnerte Welt macht jeden djskursiven
Verstandesschluß aUererst möglich, ist somit Kondition des Ich (obzwar nicht
sogleich das Ich selbst). Freilich: alles, was überhaupt Gedankeninhalt werden
kann, ist erinnert (oder erinnerbar) im Ich, auch das Absolute. Hat das diskur-
sive, erinnerungsf:ihige Ich - der diskursive onimNJ - das Absolute somit ..in
seiner Macht"? ..Tbe mind stocks data in its vast stores of memory; it finds
them in their place, recognizes them, and effortlessly recalls them. If it has met
God, il will remember so, a.nd wiIJ recognize rum" (CA 47). Das hieße freilich,
daß die Erkennbarkeit Gott('s an die Kapa~ität des Ir.h geknüpft ist, dieser Er-
kenntnis f:ihig zu sein. Der in/ellecllls bekommt somit die RoUe der Präkondi-
tion, des unbedjngt Vorauszusetzenden auch für die mögliche Kognition/Re-
kognition des Absoluten - jenes Absoluten, das zugleich erSt das eigen/Iich Un-
bedingte sein soll. Wie läßt sich diese Aporie auflösen? Einerseits scheint oni-
mNS alles zu strukturieren: ..Animus harps on that it has God in its store, it re-
assures itself, reassures its competence." Zum anderen jedoch ist dieser Inhalt,
Gou, (schon seiner bloßen Semantik nach) nicht einfach ein Produkt unseres
"Vermögens", ihn zu erfahren, nicht ein selbstgewirktes Phantasma. Wie aber
kann animus seine Grenze (die es auch dem Absoluten zieht) überschreiten?
..Anima, the soul-body" - die Augustinjsche Denkfigur einer vernehmenden
Vernunft - subvertiert, so Lyotard, alle (protocartesianische) Verstandesgtwtß·
heil und Verstandessicberheit. Zwar weiß schon animJu, formaliter, um dje Se-
mantik des Absoluten (das heißt um die Elemente seines MögLichkeitsraums),
dieses ist schon - irgendwie - ..in the mind". Als ein wirkliches Absolutes ist es
jedoch nirgendwo ..in seiner Macht". ,,Animo, the soul I...) asks: where then
did I find mee so that I might learn thee? For in my memory thou wen not be-
fore I learnt mee. Where wert mou (... ] if not in thine own self, far above my-
self, in /e fNpro me?" (CA 50 f.). Das Verhältnis von Ich und Absolutem, so
scheint es, kehrt sich - don wo es wirklich wird - um: ist djese Umkehrung
34 Geschichte
mation und die egologische Erkenntnis, daß das Ich im ~'ledium von Zeit und
Gedächtnis konstituiert ist - führt nirgendwo durch Ableitung - mit "dedukti-
ver" Konsequenz - notwendig zum Absoluten. Der reale Aufschwung, die in-
lJO(oho Dti, hat andere Struktur. Lyotard erkundet deren Andersheit - mit Au-
gustinus und über Augustinus hinaus - auf (zumindest) dreifache Weise: er-
stens als Versuch ..intuitiver Schau", das heißt auf einem \Xfeg, den ani",a vor 4
schlägt. den anifNlIJ (kantianisch avant le leure) aber als ungangbar beein-
spruche Zweitens (und an der Grenze dieses erSten Versuchs): im Pra.:\7Jhori-
ZOnt des Hoffens (auch hier: kamianisch); und drittens im Modus einer - die-
sen Praxisbezug dimensionierenden - "tgaliv./it"ilal;'ltn Diskursivität: das heißt
durch ein Umkreisen des Absoluten in seiner Absenz - einer Abwesenheit, die
freilich Gegenwart aufblitzen läßt (ohne sie je theoretisch zu "fixieren").
Zunächst zum erSten Versuch: zur Hoffnung, die i",,'O{alio als eine Aktuali-
sierung des "Engelsgleichen" im Menschen zu deuten, als Intuition und ..Tran-
ce". "Would a,,;ma, the soul, then be an angel that can see God in the light of
God, in ehe heavenly pan of the heavens, as if it could break ehrough the he:l\1'
\'ault of the firmament and burst through the skin of (he skies? [... ) Ani",IIJ de 4
c1ines to write, tQ describe such an absurdiry, and the mi nd lays down ehe
stillls" (CA 51). Der diskursive Verstand sieht hier jeden Weg versperrt. A"i",a
freilich setzt auf diesen Aufschwung, auf eine Trance, die sich, poetisch invo-
zierbar, konstant im Hintergrund der conversio/confessio hält. Lyotard deutet
diesen Aufschwung - den er, in postmoderner Brechung, mit sexuellen Kon-
notationen durchsetzt - als Überwältigung, als eine "Urszene" im Freudschen
Sinn, als "the violent assault of an encounter" (CA 52). In dem, was in dieser
Szene geschieht, kehrt sich das Verhältnis zwischen Ich und Absolutem um:
nicht Augustinus nähert sich dem Absoluten, umgekehrt: er wird "gelesen'"
penetriert - in einem "encounter without witness", das sich der binären Logik,
der an;",lIs und Inunoria folgen, entzieht. Diese rszene - die dem Trancebild
des Aufschwungs zum Absoluten zugrunde liegt - beschreibt Lyotard so: "The
scene is primitive, not locarable in memory. The absolute ere watched us, AU 4
gustine says, he looked through the Jattice of our nesh, he caressed us with his
voice, and we hasten on his scent like drunk hounds. We believe we take hold
of the divinc, bUI then, a1l of a sudden, his calm cnraptures us, and uncovered,
Nagl-DocekaI/Nagl, Augustinuslektüren 35
lashed, outside ourselves, for one moment we find ourselves gaping in his bea~
"rude" (CA 53).
Dieses .,Hingerissenwerden" ("enrapment'') terminierr nirgendwo in der
Ruhe eines "geregelten" Verhälrnisses zwischen Ich und Absolutem. Nicht nur
ist es dem djskursiven Verstand, animus. unnachvollziehbarj es bewirkt auch
praktisch - im Handlungssystem - keine Ruhe und Sicherheit, sondern ein Be-
wußtsein von Unangemessenheit. Zu-spät-Kommen, Ermattung. kurzum, ei-
nen Erfahrungsraum von Insuffizienz.
Im Trancebild der Penetration kommt zum Ausdruck, daß das Absolute und
das Endliche sich berühren. Dies läßt eine Spur des Absoluten in uns zurück.
freilich - so liest Lyotard Augustinus - keine erinnerbar-explizierbare: die
Spur, in der sich die "Engelartigkeit" des Menschen bündelt, läßt sich, z. B.•
nicht durch das ontologisierte Theologumenon der Ebenbildlichkeits/ehre ex-
trapolieren. Lyotard beschreibt. was in diesem tranceartigen Berührungsmodus
geschieht - in einer Weise. die Augustinjschen Metaphern postmodern
resituiert - so: "The majestic one takes the schoolboy like a woman. opens
hirn, turns hirn inside out, turns his dosest intimacy into hjs shrine. pmetrale
nlem", his shrine in me. The absolute, absolutely irrelative, outside space and
time. so absoluteIe)' far - there he is fOt a moment lodged in the most intimate
part of this man. Limits are rcvetsed, the inside and the outside. the before and
the after. these miscries of the mind" (CA 53).
Die diskursive Distribution. in der animus sich jederzeit ausdrückt. wird
nicht nur "aufgehoben" durch Entgrenzung. sondern - so Lyotard - unter-
worfen, ..gedemütigt" (CA 47). (Zu dieser Transkription des Augustinischen
Textes werder. wir s?äter, kritisch. zur;:ickkehren.) Frei!ich: Damit das, W3S d3s
Trancebild kündet, njederschreibbar wird, muß Augustinus sich der Semantik
einer publiken Sprache bedienen: wie weit führt das - unvermeidlich - zurück
in die theoretischen Limits und die praktiJehen EndJichkeitsräume des Ich?36
Theoretisch stellt sich die Situation - wie LYOlard sie bestimmt - so dar: "The
soul has not penetrated ioto the angclic spheres. but a lillle oj the abJolJlle - is it
thinkable? - has encrypted itself within it, and the soul knows nothing of it"
(CA 53). Der Aufschwung ist nicht einfach das Werk des endlichen Ich, son-
dern ein - Ilnerinnerbaru, der "Macht" der memoria nicht verfügbares - Eindrin-
gen des Absoluten in die Seele (wie freilich ist das denkbar, so fragt animus und
Lyotard mit ihm?) Erinnert muß ja etwas werden, auch wenn aus dieser Trance
)6 Mit der inneren Suukrur von Trance und Mystik (und den Grenzen ihrer rationalen
Exploration) hat sich \X/illiam James in seinen Gifford Lcctures (Vorlesung XVI und
XVII, "Mysticism''), The I/an'eliu OfRtligious Exptn'tnce. New York 1902, beschäftigt.
\'(/ingenstein war von dieser Schrift fasziniert (und, wie d2s Ende des Traetatus deut-
lich macht. auch theoretisch von ihr beeinflußt); über diese Rezeptionslinie gehen
meines Erachtens indirekt - wie die vorliegende Augustinuslektüre indiziert - Ele-
mente der Jamesschen Studie in das ("nachwingensteinsche") Denken Lyot2rds ein.
36 Geschieht(:
nirgendwo die tOtale prale./;ube Ver:inderung des leh folgt, sondern CCW3.S :tode·
res: wie Lyotard behauptet, vor allem die schärfere Akzenruierung des Wissens
um Endlichkeit und Defizit: ..Marked with such a trance, the soul can think of
nothing but of retuming TO its comes (... ) He [Augusüne) is even more the 50n
of Ad3.m 2nd of sin, more bcholden (han ever to responsibilicies previously
taken on, :tnd ill the more f2.lIible, since thete is oow added [0 thc passions
ag.tinsr which he struggles an im~tuous ardor whose strident tones, for lack of
memory, resonate ",imin hirn without sourcc" (CA 55). Daß das Absolute sich
im Ich - als Spur, .,ein wenig" - priisentie~ heißt zugleich, so Lyot3.rd, daß es
von dieser Präsenz kein (theoretisch oder philosophisch stimmiges, publik ex-
plizierbares) Bewußtsein gibt. Die Gegenwart des Absolut'en bleibt, so mag es
scheinen, IIngegenwärtig: ein Horitpnl endlicher Erfahrungen, der sich selbst
der DarsteIlbarkeit entzieht. Dieser prekäre Status hat gravierende Folgen, die
sich nicht zuletzt in der Lebenspraxis manifestieren: keines der Probleme ist
gelöst, das Gefühl der Unangemessenheit, des "Zu-spät-Kommens", der Unsi-
cherheit wächst. Der Aufschwung der Trance organisiert nirgendwo die Auflö-
sung der Spannungen des Ich, ja macht die Grenzen von animlls schärfer sicht·
bar. "How could conversion give hirn light? It exempts him from nothing, it
makes everything ring false, the iUusionary and the lrue. He prays: Bm thou, 0
Lord my God, look upon me, hearken, and behold, and pity and heal me. Thou
in whose eyes I am now become a problem tO myself, aod that is my languor,
'-pSt tJllonglior I1ItIlS" (CA 55).
Dort, wo sich die Schwierigkeiten von Gedankenbewegung eins zeigen: im
Scheitern einer glückenden, endgiiJcigen Aufhebung des Endlichen im Unend-
Lichen durch "Intuition", treten - in Lyourds Augustinuslektüre - zwei weitere
Denkfiguren, die die Erkundungen von Denkfigur eins redimensionieren, in
den Raum: erstens - unter Einklammerung der Möglichkeit, das Absolute
theoretisch zu pddizieren - die Hoffnll1lg als der (praktische) Ort der Auflösung
einer - sieh zuspitzenden - Krise der Endlichkeit (ein kantianiseh inspirierter
Wegl 7): "Here lies the whole advantage of faith: to beeome an enigma tO one·
sel(, to grow old, hoping (ar the solution, the resolution (rom the Other. Have
mere)' upon me, Yahwh, for I am languishing. Heal me, for my banes are
worn" (CA 55). Und, kurz darauf, expliziter, in "Laudes": "Listen: for by hope
we are already saved, la/vi farH IlImlll, hope has made us safe, it has aJready
made o( us, children of the night and of darkness (hat we were, children of the
day and light. Hope does not wait, presence recurs with it, the unbearable light
o( raputure is there" (CA 57). In der Hoffnllng - dem Handelnshorizonl des Ge-
derzeit endlich bleibenden) Handelns - wird das (wieder) gegenwärtig, was sich
der theoretischen Präsentierbarkeit entzieht: die Gegenwärtigkeit des Hoffens
J1 Freilich: bei Kam sind die innere Struktur und die Grenzen des Handelns - anden
a.1s bei l)"otard - extensiv erkundigt. Vgl. dazu: Onon. 0' eill, ..Vemunfcigc: Hoff-
nung. Tanner L.ccture 1 uber Kanu Religionsphilosophie", in: ludwig Nagl (Hrsg.):
Rolli!,;'" ,,6th Jtr RLIi!,i'.lltririk. Wi~n und Berlin 2003. S. 86-110.
Nagl-Doc~kal/Nagl, Augustinuslütür~n 37
Lyotard läßt sich weit ein in die (prä- und posthegeIsche) Dialektik von End-
Ijchkeit und Absolutheit, die die Conftuionu des Augustinus strukturiert - viel
weiter, als die meisten zeitgenössischen Philosophen, die Augustinus lesen.
Seine Lektüre restrukturiert freilich in ihrem Zentrum - im Trancebild der
"rapturc", in dem das Absolute das endliche Ich überwältigt - den Augustini-
schen Text, postmodcrn, in eine Richtung, die eine Reihe von Fragen hervor-
ruft.
Lyotard drückt den zentralen Gehalt seiner Relektüre der intY)Colio gelegent-
Ijch auch so aus: "I, the apparem slObjecr of the cor:fessive phrase, fir.ds hirn-
self, rather loses hirnself, undone at all ends. And while he confesses his sub-
mission tO lures (... ), while he disavows abject worldliness, he passes under an
even more despotic authority, he must accept and savor a quite different ra-
dical heteronomy under the law of an unknown master of whom he obstinate1y
de1ights in makjng hirnself the subject" (CA 77). In dieser Transposition wird
deutlich, daß Lyotard Augustinus' Inkorporieren des Göttlichen im Endlichen -
entsprechend der neuen Imagologie einer sexuell konnotienen "enrapture" -
als radikale Helerollo,,,ie liest.
Diese Extrapolation - daß der invokalorische Aufschwung, genau betrach-
tet, in der lustvollcn Unterwerfung unter einen "unknown master" endet - ent-
sprichl, so scheint es, dem Augustinischen Selbstverständnis insofern nühl, als
das, was Lyotard den "Meister" nennt - das göttliche Du - im Augustinischen
Diskurs weder &iinzlirh "unbekannt" bleibt (wenngleich das absolute Du auch
nirgendu'o sich 'YJIISlijndi~er Bekanmheit öffnet), noch - als ein .,liebendes Du"
- die radikal heteronome "Unterwerfung", und sei sie auch IJlshYJII, fordert. Wir
blicken deshalb zum $chJuß mit einiger Distanz auf Lyotards Augustinuslektü-
re und skizzieren, fragend, einen Einspnlth, der bei seiner Rede von .. Unterwer-
fung" einsetzt. Augustinus selbst verwendet die Terminologie, die Lyotard zur
Beschreibung des Verhältnisses endlich/absolut heranzieht, nicht. Wie läßt
38 Geschichte
sich der Unümhüd zwischen dem semantischen Gehalt, den das Absolute in
der Optik des Augustinus hat - das heißt dem Konzept eines litbt1ldtn Gottes,
zu dem der Anrufer sich als in einem Verhältnis der Ebenbildlichkeit Stehend
sieht - und der Autorität jenes ,.unbekannten Meisters" deuten. dem sich, Lro-
t3rd zufolge, die ;l1l-'O(olio !luh!o/l htltTOlIom unterwirft? Ist solch ein triebdyna-
misch überformtes re-reacling des Verhiltnisses Ich/Absolutes schlüssig? Oder
ist es nur der Auftakt zu einer (aus der Optik des Augustinus reduktiven) psy-
choanalytischen Dekonstruktion der Aufschwungbewegung? Endet - in den
Kategorien des Augustinischen Liebesbegriffs gesprochen - die imlocotio, genau
betrachtet, in einer cHpMiloJ, die auf ein radikales Dominierrwerdcn abzielt (das
heißt: in einer - triebdynamisch radikalisierten und gebrochenen - "Selbster-
mächtigung des Ich')? Zweifellos hat L)'otard recht, daß - im Umfeld der Prä-
determinationsspekulation - bei Augustinus die Gefahr der Heteronomie gege+
ben ist. Zugleich aber ist "amor Dei" bei Augustinus 'ieJb~t nirgefldwo substi-
tuierbar durch Instrumentalisierung oder gar: dNrrh die unI 11m InJlrJlmmla/isitrl-
1Jftrdm. Die identische Nichtidentität von Ego und Absolutem kann, semantisch
schlüssig, nicht ersetzt werden durch die Strukturlogik eines bloßen merwer-
fungswunsches. Dies, so scheint es, macht Lyotard in seiner postmodernen Re-
semamisierung der intl()(otio als "Trance" unsichtbar, obzwar er zugleich - in
der Triplette seiner Lektüren der fonjt/lio - weit in deren innere Struktur ein-
dringt.
Ria ,'an der Lecq
letztere, das Begreifen der \'(feh als EntwickJung. war seiner Meinung nach im
~tittelaJ[eT nicht so unbekannt, wie man manchmal umerstdk "Doch wurde
das Hervorgehen eines Dinges aus dem anderen nur in der naiven Gestalt di-
rekter Forrpflanzung oder Verzweigung gesehen, und ausschließlich durch 10·
gische Deduktion auf die Dinge des Geistes angewandt."4 Der Symbolismus
dagegen sucht die Verbindung zwischen zwei Dingen nicht in ihrem ursächLi·
ehen Zusammenhang, sondern in ihrer Bedeutung und in ihrem Ziel. Der Sym-
bolismus ist stärkstens mit dem (Neu-)Plaronismus verbunden, wie er sich im
Mittelalter entwickelt hal. s Alles hier auf der Erde wird als eine Abspiegelung
von den Vorstellungen in ",mit dhina gesehen, entweder als Ergebnis einer
Emanation oder als Folge eines freien Schöpfungsaktes Gottes. Jedes Ge-
schöpf ist also ein Zeichen, das auf seinen Schöpfer "erweist.
Der Christ wußte außerdem, daß er dazu berufen war, an einer größeren
Gemeinschaft als der irdischen teilzunehmen: nämlich an der nt'i!tU Dti. Diese
Gemeinschaft Gottes rekrutiert ihre Einwohner aus aUen Völkern der Erde,
und sie wächst, je länger es die Welt gibt. Während sich die antike Moral auf
das Leben hier auf der Erde bezog, war es für den Christen viel wichtiger, daß
er an der höheren Gemeinschaft teilnehmen würde, dje alle vemunftbegabten
Wesen mü ihrem Schöpfer bilden können. 6
Gilson zufolge war die Konsequenz dieses Bewußtseins, daß die Vorstellung
der Geschichte als eines Zyklus, einer ewigen Wiederkehr, die so gut zum grie.
chisehen Norwendigkeitsdenken paßte, durch eine lineare Geschichtsauffas-
sung ersetzt wurde: Jeder Mensch hat eine individuelle Geschichte, die sich in
einer geraden Linie bis zum Tod entfaltet. Je älter ein Mensch wird, desto
mehr Wissen erwirbt er und desto mehr Einsicht bekommt et; so lange, wie
seine Kräfte das zulassen. Wenn er schließlich stirbt, war seine Mühe nicht um·
sonst, denn W2.S für den individuellen Menschen gilt, gilt auch für die Gemein-
schaft, in der er lebt. Darum gibt es in der politischen und sozialen Ordnung
genauso wie in der Wissenschaft und der Philosophie einen Fortschritt. Jede
Generation profitiert \Ton den Leistungen der vorhergehenden. Jeder Philo-
soph, ob er nun AristoteIes heißt oder Thomas, leistet einen eigenen Beitrag an
der Entdeckung der einen Wahrheit. Die Geschichte kennzeichnet sich also
durch einen Fortschritt im Streben nach Perfektion. Gilson zu folge beschauten
die Menschen im Mittelalter die Weltgeschichte als ein schönes Gedicht, des-
sen Bedeutung für uns erkennbar und vollständig ist, weil wir den Anfang und
das Ende davon kennen.' Die Geschichte entfaltet sich wie ein Plan, der in
endlicher Zeit und bestimmten Entwicklungsstufen folgend abläuft. Dies alles
führt zu einem geordneten Verlauf der Geschehnisse in der Zeit. Die Vorarbeit
wurde von den Griechen, den Juden und den Arabern erledigt, aber die Men-
• Ebd.
5 Huizinga spricht hier über "platonischen Idealismus".
6 Gilson, L 'Esprit, S. 368.
7 Ebd., S. 372.
van der Lecq, Thomas von Aquin 41
sehen im Mittelalter sahen die Zeit, in der sie lebten, als die bedeutendste. Gil-
sons Auffassung von dem linearen Geschichtsverständnis der Menschen im
Mittelalter ist nicht unumstritten. Vor allem im Hinblick auf das Werk von
Thomas von Aquin kann man sich fragen, ob Gilsons Bild wohl stimmt. Im
folgenden will ich mich zuerst mit der Frage beschäftigen, ob Thomas eine zy-
klische oder eine lineare Geschichtsauffassung hatte; danach werde ich die da-
mit zusammenhängende Frage beantworten, ob die thomistische Philosophie
einen Beitrag zum Festlegen von ethisch-politischen Zielen im Geschichtslauf
liefern kann. Meine Schlußfolgerung wird sein, daß sie dies in bezug auf die
Ethik nicht kann, wohl aber in bezug auf die Politik.
• Siehe K. Kremer, Dit ntNplaloniuht Stin.rphiloJophit lind ihn IYlir.hng ON! Thol1JO.r /IOn
Aquin, Leiden 1971.
42 Geschichte
vom Hier und Jetzt und Je/os als Endziel des historischen Prozesses. Beide Ele-
mente bestehen gleichzeitig und hängen davon ab, wie der Mensch die Wirk-
lichkeit erfährt: alle religiöse Zeit ist zyklisch (vertikal) und alle geschichtliche
Zeit ist linear (horizontal), denn der religiöse Mensch kehrt dorthin zurück, wo
er herkam. Der Mensch im Hier und Jetzt hingegen hat eine Vergangenheit
und eine Zukunft. 9 Vor allem der erste Teil dieser Schlußfolgerung bedarf eini-
ger Erläuterung.
9 M. Seckler, Das Hti!;l1 dtr Ctuhichlt. Cuchichlslhto!ogüc!Ju Dtnkm bt; TbOl1/as j,'(Jn Aquin,
l\Iünchen 1964, S. 156.
10 Summa Theologiae (51) lallat 3, 7. Seckler weist auf viel mehr Texte hin, die diese
Ansicht leilen.
11 ST I/al/at 106, 3.
12 Seckler, Htil in dtr Cmhichlt, S. 66.
van der Leeg, Thomas von Aquin 43
SeIhen. Bei Thomas ist dies jedoch nkht der Fall. Die Metapher des Kreises ist
nicht beabsichtigt, um zu suggerieren, daß es nichts Neues unter der Sonne
gibt, sondern um anzudeuten, daß für alles gilt, daß Ursprung und Ziel iden-
tisch sind. 13 Diesen Gedanken kann Thomas übrigens ausgezeichnet mit der
aristOtelischen Ursachenlehre kombinieren. Die verschiedenen Ursachen (ejji-
(iens, finalis, formaliJ, moterioliJ) sind für ihn nicht wirklich verschieden, sondern
sie sind verschiedene Aspekte desselben Prozesses. Wirkursache und Form-
ursache sind miteinander verbunden, da Wirkung dasselbe ist wie Formung.
Jedes natürliche Ding entsteht dadurch, daß GOtt ihm Sein gibt; das tut er
durch die Form (for'Hn dot we). Die Form ist auch das Ziel des Dinges; ohne
Ziel kann nichts sein. Vor allem das Verhältnis zwischen r01lso ejjin"enJ und (01lJO
JinoliJ ist jetzt wichtig. Dieses wird ausgedrückt in der FormeL eJficienJ COIfJtJ Ji-
nis, Jillis causa ejjicienJ. 14 Anders ausgedrückt: Die Wirkursache ist vom Ziel
formgesteuert, aber das Ziel verdankt sein Scin der Wirkursache.
13 Ebd.,S. 51.
14 Ebd., S. 53, weist hin auf: In V ~letaph. Lee!. 2, nr 775.
15 Siehe ST laIbe gg 2, 3 und 4.
16 Siehe für eine ausführliche Unterstützung dieser Schlußfolgerung: D. J. M. Bradley,
Aquif/oS on thf TU'ojold HJIIlI(lfI Cood. RrasoH and HJI"faN Hoppi/ltJS il/ AqNina's Mora!
SritJ/u, Washington D.C., 1997.
17 I3radley, Aquinas (5. 527), spricht hier von .. the deep paradox confronting the Tho-
mistic philosopher. Philosophical reason. beginning with the natural desire for hap-
piness, demonslrateS that human nature cannot be satisfied by an}' end naturally at-
tainable, and concludes that only a supernamnr.l end, the vision of the divine es-
sence, could satisfy man's natural desire."
44 Geschichte
stische Philosoph basien seine Ethik auf das Wissen um das übernatürliche
Ziel, aber dieses Wissen ist von theologischer An. Eine systematische teleolo-
gische Ethik, die auf dem natürlichen Ziel des Menschen beruht, ist für ihn als
Philosopbtn also unmöglich. 18 Die thomistische Philosophie kann also nichts
zum Festlegen von ethischen Zielen im Geschichtslauf beitragen, da diese Zie-
le für den Philosophen nicht zu erkennen sind.
Gilt diese Schlußfolgerung nun auch für die thomistische politische Philo-
sophie? In seiner politischen Philosophie scheim Thomas, stärker als in seiner
Ethik, von AristoteIes inspiriert zu sein. Im Kontext mit dem oben Beschriebe4
neo ist das auch verständlich, da Politik eine typische Angelegenheit des Hier
und Jetzt, der Aktualität darstellt. FÜ,r AristoteIes schloß die politische Philoso-
phie bei der Ethik an. Der Mensch ist per definition ein rationales, mit Sinnen
ausgerüstetes lebendes Wesen (animal rationale). Er unterscheidet sich von den
(anderen) Tieren dutch seine Rationalität. Diesen Aspekt seiner selbst muß der
Mensch darum auch perfektionieren, um so gut wie rnöglichMensch zu sein.
Hierin erkennen wir die (horizonraJe) teleologische Auffassung von der Natur,
die für AristoteIes so wichtig ist. Diese Auffassung besagt, daß jedes Wesen da-
nach strebt, so gut wie möglich die eigene Natur zu perfektionieren. Dies ist
ein physischer - man kann sOWlr sagen metaphysischer - Standpunkt. Dies hat
aber auch Folgen für die Ethik, denn mit einem gut funktionierenden Verstand
kann der Mensch bestimmen, was gut und schlecht isr. 19 Der Verstand sorgt
auch dafür, daß ein Mensch sprechen und kommunizieren kann. Und da die
Natur nichts ohne Grund tut, eignet sich der Mensch von Natur aus dazu, in
einer Gemeinschaft zu leben. Anders gesagt: der Mensch ist ein politisches
Tier. Dies alles führt dazu, daß der Staat als ein Naturprodukt angesehen wird.
In einer Gemeinschaft kann der Mensch seine eigene Natur am besten aus·
drücken. Dem Leben in der Gemeinschaft ist es zu verdanken, daß der Mensch
ein glückliches und tugendhaftes Leben haben kann. Die Natur ist also die trei-
bende Kraft. Was in Gesetzen festgelegt wird, ist das, was von Natur aus gut
ist. Die Natur wirkt sozusagen durch den Verstand und den Willen von denje-
nigen, die die Gesetze machen: den Bürgern. Auf der Basis dieser Gesetze wird
die Gemeinschaft auf ihr letztendliches Ziel hin geleitet und gesteuert: das bo-
11111" COIIJflJlme. Wenn der Staat von einem Fürsten geleitet wird, dann muß diese
18 Dies ist natürlich anders bei dem Aristotelischen Ethiker, fur den das letztendliche
Ziel des Menschen in diesem Leben liegt.
19 In der Elbira Niroma(hta spielt die praktische Vernunft eine wichtige RoUe beim Fin~
den des besten Miuelweges zwischen zwei Extremen, das heißt des tugendhaften Le-
bens.
van d~r Lecq, Thomas von Aquin 45
sieht, bedeutet dies nkht, daß ein guter Mensch automatisch ein guter Bürger
wäre oder um~kehrt. Es ist aber schon so, daß das uben in einer Gemein-
schaft als guter Bürger dazu beitragen kann, daß jemand ein glücklicher
Mensch ist. Das voUkommene Glück besteht AristoteIes zu folge aUerdings in
der philosophischen Kontemplation, einer Aktivität, für die man die Gemein-
schaft eigentIich nicht benötigt.
Wenn wir uns in die politische Philosophie Thomas von Aquins vertiefen,
faUt ab erstes auf, daß dje Kommentare auf AristoteIes' Elhito und Polilito
nicht sehr informativ in bezug auf Thomas' eigenen Standpunkt sind. Er er-
weist sich als ein sorgfältiger user des Werkes von AristoteIes, erklärt es, und
fügt nur an einer einzigen Stelle eine kritische Bemerkung hinzu. Seine eigenen
Auffassungen können wir in seinen theologischen Werken und in einem klei-
nen Werk mit dem Titel De regimine pn'ncipNm lesen. 20 Was Thomas darin dar-
legt, läuft auf das folgende hinaus: er übernimmt zum größten Teil die Theorie
von Aristoteles, aber nicht ohne weiteres; genau wie in seiner Metaphysik be-
nutzt er in seiner politischen Philosophie das Gedankengut von Aristoteies als
Fundament für ein christliches Gebäude, welches mit dem neuplatonischen
Partizipationsdenken verwandt ist.
In der politischen Theorie von Thomas spielt seine Theorie des Naturgeset-
zes eine zentrale Rolle. 21 Das Naturgesetz kann man als eine Brücke zwischen
Gott und den Menschen begreifen. Die Philosophje von Thomas ist genauso
wie die des AristoteIes von teleologischer Art: jedes Ding strebt von atur aus
nach seiner eigenen Perfektion. Aber für Thomas ist es wichtig, daß die atur
von Gon geschaffen ist und an den Gedanken seiner Vernunft teilnimmt. Das
Naturgesetz ist darum njcht selbständig, sondern Teil einer hieruchischen
Ordnung. Ganz oben steht das ewige Gesetz, das ist die göttliche Vernunft, die
das niversum leitet. Darunter finden wir das Naturgesetz, als dje Teilnahme
der rationalen Schöpfungen am ewigen Gesetz. Alle geschaffenen Dinge neh-
men am göttlichen Plan teil, aber Menschen tun dies auf eine besondere \Veise,
nämlich indem sie Verstand (rolio) erhalten haben, anders gesagt: sie sind nach
Gottes Bild geschaffen. Dadurch nehmen sie teil an der göttlichen Vernunft,
wodurch sie von Natur aus die Neigung haben, nach dem Guten zu streben.
Unten in der Hierarchie stehen die menschljchen Gesetze. Diese sieht Thomas
als das Anwenden des (allgemeinen) Naturgesetzes auf konkrete Fälle. So ist
zum Beispiel das Gebot "Du sollst nicht töten" Teil des Naturgesetzes, das
praktische Handhaben dieses Gesetzes ist jedoch Aufg2be des menschlichen
Richters und Teil der menschlichen Gesetze. Die menschlichen Gesetze kön-
nen nie mit dem aturgesetz in Konflikt geraten, da die Vorschriften des Na-
turgesetzes die Ausg2ngspunkte bilden, auf deren Basis die menschlichen Ge-
setze formuliert werden. Der Begriff ..Naturgesetz" war nicht neu - er bescand
bereits im zwölften Jahrhundert und basierte auf dem Werk von Augustinus -,
aber die teleologische Bedeutung. die Thomas dem Begriff umer Einfluß von
Arisroteles gab, war wohl neu.
Etwas Vergleichbares macht Thomas mit AristoteIes' Theorie vom Staat als
Naturprodukt. Auch diese übernimmt er, aber wiederum als Fundament fUr
sein christliches Gebäude. Auch für Thomas ist der Mensch von Natur aus ein
politisches und soziales Tier (anima/ po/iticum t/ $orialeJ. Die Zu fUgung t/ sodale
kann rollO als eine Erläuterung des Begriffes "poliliomJ" ansehen, womit gleich-
zeitig angegeben wird, daß der griechische Stadtstaat nicht die einzig denkbare
Gemeinschaft ist, in der ein Mensch Tugendhaft leben kann. Es geht darum,
daß das Umgehen mit anderen dem Menschen von atur aus eigen ist. Tho-
mas' Auffassung zufolge muß die Integration des Individuums in ein größeres
Ganzes als eine Bereicherung seiner Persönlichkeit verstanden werden und
nkht als etwas, das auf Kosten des Wertes des menschlichen Individuums
geht.
Wo AristOteies den Menschen als Bürger vom Menschen als Mensch unter-
scheidet - ein guter Mensch war nämlich nicht autOmatisch ein guter Bürger
und umgekehrt - unterscheidet Thomas den ~'lenschen aJs Bürger vom Men-
schen als Christen. Während bei AristOteIes die Gcmeinschaft dafür sorgen
muß, daß der Mensch ein tugendhaftes und glückliches Leben fUhren kann. ist
das tugendhafte Leben bei Thomas auf das Leben nach dem Tod gerichtet,
denn erst dann kann das echte Glück erreicht werden. Das bonNm (omnIHne,
nach dem der Staat strebt, ist also rur den Menschen als Christ kein eigentli-
ches Ziel. sondern nur ein Zwischenschritt auf ein weiter weggelegenes, höhe-
res Ziel hin. Die Funktion des Staates, als Teil der natürlichen Ordnung, muß
also im Rahmen der gärdichen Leitung der Welt verstanden werden und ist
dieser untergeordnet. Der Staat ist bei Thomas auch nicht ob tintiger verant-
wortlich für das tugendvoLlc Leben der Bürger. Er darf sich nur mit dessen
äußerer Erscheinungsform beschäftigen; rur das Seelenheil des Individuums ist
schließlich nur die Kirche verantwortlich. Und so wie die Seele über dem Kör-
per stcht, steht die Kirche über dem Staat. Demzufolge ist die Autorität der
kirchlichen Macht größer als die der weltlichen Macht.
Die ideale Staatsform ist für Thomas die Monarchie. In der i\'lonarchie, die
Thomas vor Augen hat, verdankt der weltliche Fürst seine Autorität vor allem
dem Volk, das ihn unterstützen und ihm gehorchen muß. Der Fürst erwirbt
seine Macht, indem er zum Besten seiner Untertanen regien. Wir erkennen
hier ein aristotelisches (populjstisches) Element in der politischen Theorie von
Thomas. Aber wichtiger ist doch das christliche (theokratische) Element in sei·
ner Theorie: aUe Macht kommt direkt oder indirekt von Gott. Der Papst emp-
fangt seine Macht direkt von Gort, und der weldiche Fürst ist, wenn es darauf
ankommt. der kirchlichen Autorität untergeordnet. Theoretisch liegt die I,acht
der Kirche ausschließlich auf dem spirituellen Gebiet, llber der Staat muß in
allen weltljchen Dingen der Kirche gehorchen. Theorctisch ist das für Thonns
kein Problem, da ein weiser Fürst das bonHI1I (On/n/Hne anstrebt. Und was das bo-
van der Lecq, Thomas von Aquin 47
nJUII commUllt ist, kann mit dem natürlichen Verstand herausgefunden werden.
Kirche und Staat können also nie im Streit miteinander sein, genausowenig wie
Theologie und Philosophie das können.
]\'Iit dem Gedanken, daß der Mensch außer ein Christ auch noch ein Bürger
ist, fühn Thomas etwas Neues im Hinblick auf seine Vorgänger ein. Es ist na-
türlich nicht so, daß es im Mittelalter zwei verschiedene Sonen Menschen
gäbe: die Gruppe Bürger und die Gruppe Christen. Es geht hier um einen for-
melJen Unterschied zwischen zwei Aspekten eines jeden Individuums: als t\1..it-
glied der christlichen Gemeinschaft betrachtet, ist er Christ, als Mitgljed der
weltlichen Gemeinschaft ist er Bürger. Obwohl nach Thomas' Ansicht das Ziel
des Menschen als Bürger (das bOllfUII comnJJllU in diesem Leben) dem Ziel des
Menschen als Christ (beatitudo nach diesem Leben) untergeordnet ist (und in
dessen Dienste steht), war es sicherlich revolutionär zu behaupten, daß politi-
sche Autorität, unabhängig von Glaube und Kirche, einen gewissen Wert habe,
wenngleich dieser tatsächlich nicht viel ausmachte. Es konnte zu der Schluß-
folgerung führen, daß es auch ein Naturgesetz und einen Staat geben könne
ohne Gmt. Daß diese Schlußfolgerung tatsächlich gezogen wurde. kann man
aus der Tatsache schließen, daß die theokratische Theorie im Mittelalter
schließlich verloren hat. In der Theorie des Philosophen Marsilius von Padua
aus dem vierzehnten Jahrhunden war die Rolle der Kirche so gering, daß man
diese ruhig "trivial" nennen darf. Das war natürlich nicht Thomas' Absicht,
aber das Paradoxon ist, daß es nur geschehen konnte, nachdem er dafür ge-
sorgt hatte, daß das Gedankengut von AristOtcles akzeptiert werden konnte,
ohne daß der Kirche dadurch geschadet wurde. Er hat die Scheidung zwischen
Glaube und Vernunft, zwischen Kirche und Staat schlicßlkh selbst mit mög-
lich gemacht.
Auf dem Gebiet der politischen Philosophie hat Thomas - entgegen seinen
Absichten - gezeigt, daß es sehr gut möglich ist, ein ungläubiger thomistischer
Philosoph zu sein. Das gleiche gilt für die Metaphysik und die Erkenntnistheo-
rie. Auf dem Gebiet der Ethik scheint dies nicht möglich zu sein, aber der tho-
mistische Philosoph kann dennoch einen Beitrag bei der Bestimmung politi-
scher Ziele im GeschiclHslauf leisten, auch wenn die Ziele den letztendlichen
Zielen des Menschen als Christ immer untergeordnet bleiben.
Henning Ottmann
I
Machiavel1i gilt als Begründer des neuzeitlichen politischen Denkens. Unter
seinen Händen verwandelt sich das Genre der Fürstenspiegel. Aus einem Buch
zur Erziehung christlicher Fürsten wird ein Handbuch der Techniken des
Machterwerbs und der Machtsicherung. Der Principt löst die alte Einheit von
Politik und Ethik auf, wie sie für die klassische Philosophie kennzeichnend ge-
wesen war. 2 Mit Machiavelli beginnt die Autonomisierung der Politik, ihre Lö~
sung von der Moral. Auch wenn Machiavelli das WOrt "Staatsraison" noch
nicht verwendet, rechnet man ihn doch zu den Begründern der neuzeitlichen
Staatsraisondoktrin. Die Einheit von hones/unI und utjJt, wie sie etwa Cicero in
De o.fficiis verteidigt, wird von Machiavelli aufgelöst. Für ihn kann politisch
nützlich sein, was moraHsch fragwürdig oder verboten ist. Der Fürst kann und
soU sein Won njcht halten, wenn es ihm zum Nachteil gereichen würde. 3 Er
muß nicht mehr gerecht, milde, fromm etc. stin, sondern es nur noch zu sein
schtintn. Politik wird zur Kunst der Vorspiegelung, zur Schauspielerei, zur gro~
ßen Simulation.
Bei MachiavelU vollzieht sich ein Bruch mit dem kJassischen politischen
Denken sowie mit den Fürstenspiegeln der christlichen Tradition. Der Fürst
wird von seiner Bindung an die Religion gelöst. Religion wird nur noch aus der
Perspektive der poljtischen Nützlichkeit wahrgenommen. Sie wird zum bloßen
Instrument der Poljtik. Die christliche Zeitvorstellung wird abgelöst durch ein
zyklisches Denken. An die Stelle der EschatOlogie und der Ausrichtung aller
Zeit auf das Ende tritt das Auf und Ab einer sich einmal hier, einmaJ dort kon-
zentrierenden Energie des Politischen, der vir/u. Diese ist eine Handlungsforrn
ohne letzten Sinn und Ziel, verschrieben allein dem faktischen Erfolg. Ihr Ge-
genspieler ist eine launische forluno, die mit der christlichen Vorsehung nichts
mehr gemein hat, sondern eine irrationale M,acht des Geschehens ist.
Ein Bruch mit der Tradjtion des klassischen politischen Denkens und mit
dem Christentum ist in Machiavellis Lehre unverkennbar. Ob es sich aber um
ein ntlieJ Denken handelt, steht auf einem ganz anderen Blatt. MachiaveUj ist
ein großer Verehrer der Autoren der Antike. Das führt dazu, daß er manche
ihrer Lehrstücke geradezu sklavisch reproduziert, um nicht zu sagen plagüert.
Was prima fade revolutionär zu sein scheint, ist bei näherer Betrachtung meist
njchts als eine bereits in der Antike wohlbekannte und vielerörterre Lehre. Der
nterschied zwischen MachiaveUi und den klassischen Denkern besteht nur
darin, daß l\hchiavelli begrüßt, was die Klassik verwirft. Aber nichts, von Ma-
chiavellis Politikbegriff im allgemeinen bis zu seinen einzelnen Empfehlungen,
ist wirkJjch neu. Machia\'elli hat nur, was längst bekannt war, wieder ausgegra·
ben und sich im Unterschied zur kJassischen Tradition zu eigen gemacht.
Der Begriff des AutOrs hat sich erSt im 18. Jahrhundert dutchgesetzt. Zur
Zeit MachiaveUis war es üblich, sich bei den klassischen Autoren zu bedienen.
Oft "zitiert" Machiavelli aus dem Kopf. Manchesmal nennt er seine QueUe,
manchesmal verschweigt er sie. Die Frage, was ist ntu im Denken Machiavems,
zielt nicht auf eine moraljsche Diskreditierung der Person. Ziel der Frage ist es
vielmehr, zu untersuchen, was an den angebHch so umstürzlerischen Lehren
Machiavellis altbekannte Lehrstücke sind. Hat man dies erSt einmal erkannt,
läßt sich um so genauer bestimmen, was "neu" im Denken MachjaveUjs ist.
II
Was ist neu im Denken MachiaveLLis? icht die Grundthese des Pn'nripe, nicht
die einzelnen Ratschläge an den Fürsten, nicht die PoiÜlk des "Scheins", nicht
die Symbole von Fuchs und Löwe, nicht der Republjkbegriff der Diuorsi, nicht
die Theorie der Mischverfassung, nicht der Kreislauf der Verfassungen, nicht
die Sicht der politischen Theologie. Dies und vieles andere mehr verdankt sich
vielmehr Machiavel1is antiken Quellen. Im Pn'ndpt sind dies vor allem Aristote-
les, Cicero und die Sophistik. In den Discorsi "paraphrasiert" Machiavelli Livi-
us'" Polybios 5, Tacitus und Xenophon 6 . In anderen Werken sind es andere Au-
lOren der Antike, aus denen er seine Stoffe und seine Thesen nimmt. In der orlt
dello gutfTa ist es vor allem Vestigius' tpilomo ni mi/ilon's, die Bibel der Kriegs-
führung im Mittelalter. In der ";10 des Cosl1'Ucao Coslrol'oni borgt sich Machia-
velli die Sentenzen von Diogencs Laertius 7 .
• Whitfidd 1971.
5 SliSSO t 988: Bd. I, S. 3--118.
6 StllmmC'n 2002.
•
Stt1lluS$ 1972: S. 291.
50 Geschichte
Athenern, diese würden das \Vort ..gerecht" durch das \VOrt ..nützlich" erset-
zen 10. Der MeLier-Dialog ist ein einziges Streitgespräch über den Konflikt zwi-
schen Machtpoljtik und Sittlichkeit oder Gerechtigkeit und utzen. Das Werk
des Thuk)'djdes ist, auch wenn der Historiker eigentlich vor der überreizung
der Machtpolitik wunen will, übers:i.t mit J\-laximen der poljtischen Opportuni-
tät. Strasburger ll hat sie einmal zusammengestellt, um die Ähnlichkeit mit Ma-
chiavellis politischen Ratschlägen zu dokumentieren l2 . Reinhardt hat die Ähn-
lichkeit der Krisenlage hervorgehoben, in der sich Thukydides und Machiavelli
befanden. "Beide sind sie große Patrioten, heide als Politiker verschmäht von
ihren Vaterstädten ... Beiden sind Moral und Macht zwei Größen, die nicht
mehr in einer und derselben Richtung aufgehen ..... 13.
Was zunächst so umstürzlerisch klingt, MachiaveUis Politik des "Scheins"
und der Schauspielerei des Fürsten, auch sie ist nichts :tls eine Reproduktion
wohlbekannter antiker Lehren. Einmal abgesehen davon, daß die Demagogen
bereits bei Platon als Schauspieler, als eine An Volksschauspieler, gelten - der
größere Erfolg des nur "scheinbar Gerechten", auch das ist ein Argument, das
aus der Sophistik stammt. Platon legt es seinem Bruder, der in der Polittia den
advocatus diaboli spielt, in den Mund!". Eine weitere heiße Spur führt zu Ari-
stotcles, einer der wichtigsten Quellen rur MachiaveUis Pn'ntipt und die dort
empfohlene Politik des Scheins. In den T)'rannis-Kapiceln seiner Politile 15 hat
Aristoteles den Tyrannen geraten, sie sollten wenigstens Monarchen zu sein
..scheinen". AristoteIes' Überlegung war dabei folgende. Mit den traditionellen
Mitteln eines Tyrannen, der Erzeugung von Kleinmut (mikropsychia), dem
Säen von Mißtrauen, der Schaffung ohnmächtiger Bürger etc. war nach aUen
Erf~h;uagen eine Tyr:o:.nai:; nicht auf Da~er zu s:abilisier::n. Wollte ein Tyrac.n
eine stabiJe Herrschaft errichten, mußte er wenigstens so tun, ..als ob" er ein
Monarch wäre. AristoteIes scheint hier ein .. Machi:l\'ellist" avant la lerrre zu
sein 16 , auch wenn er wohl im Sinne seiner Philosophie des Ethos gehofft ha-
ben mag, daß ein Tyrann, der den Monarchen spielt, sich der Gewohnheit rich-
tigen Handelns irgendwann einmal nicht mehr entziehen kann, er wenigstens
teilweise auch ein Monarch wird.
Es ist hier nicht der Ort, mit Aristotcles zu streiten, ob seine Empfehlungen an
den Tyrannen mit dem Charakter seiner Politik vereinbar sind. Jedenfalls ist es
so, daß fast alJe Ratschläge, die Machiavelli den Fürsten zur Sicherung ihrer
Herrschaft erteilt, den Empfehlungen des A.ristoteles für Tyrannen - sagen wir
- "nachempfunden" sind. Dies gilt sowohl für den Inhalt der Ratschläge als
auch für deren Reihenfolge. Schon Botero muß behauptet haben, der Prinapt
sei nichts als eine Wiederholung des zweiten Tyrannis-Kapitels aus der Aristo-
telischen Polilile 17 , der neue Fürst somit nichts als der alte Tyrann. Friedrich
Mehmel l8 und Dolf Sternberger l9 haben bereits auf die zahlreichen Wiederho-
lungen aristotelischer Ratschläge aufmerksam gemacht, die sich im Prifldpt
vom 15. K2pite1 an finden. Sie lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen,
daß man M:achiavelli die Kenntnis des Griechischen abstreitct 20. Vermutlich
hat MachiaveUi Brunis übersetzung der Aristotelischen Politik benutzt, so wie
er für andere griechische Texte Übersetzungen zur Hand hatte.
Machiavelli übernimmt den bei Aristoteles wichtigsten Rat. daß der Tyrann
Haß und Verachtung meiden so1l21. Aristotelisch ist die Empfehlung, daß der
Fürst Ehrungen selber vornehmen, Haß Erregendes aber auf Umergebene ab-
wälzen soll 22. A.ristOtelisch ist der Rat, daß der Fürst sich den Anschein geben
soll, ein sparsamer Haushalter der öffentlichen Mittel zu seinli. Ebenso aristo-
telisch ist die Empfehlung, sich der Übergriffe auf Frauen zu enthalten 24 . Das
Kapitel 17 des Principt, das von Grausamkeit und Milde handelt, erinnert an
den Rat des Aristoteles, daß der Tyrann nicht auf die Furcht, sondern auf die
Ehrfurcht der Bürger setzen so1l25. Allerdings spielt in dieses Kapitel noch eine
andere, ebenfalls antike Lehre mit hinein.
Es geht im Kapitel 17, das die Frage nach "Gnusamkeit und Milde" des
Fürsten stellt. um die berühmte Sentenz "oderint dum metuam", "mögen sie
mich hassen, wenn sie mich nur fürchten"26. Dieses WOrt soU ein Lieblings-
spruch des Caligula gewesen sein 27 • Geprägt hatte das Wort der Dichter Accius
(1. Jh. v. Chr.). und diskutiert wird es bei verschjedenen Klassikern wie Cice-
ro 28 oder Seneca 29 . Machiavelli hilt sich auch hier an die antike Fragestellung.
Er stellt die klassische Antwort jedoch auf den Kopf. Alle Klassiker, von Xe-
nophon bis Cicero, argumentieren rur eine Politik, die auf die Zuneigung der
Untertanen setzt. Machiavelli dagegen meint. es sei ..sicherer. gefUrchtet als ge-
Liebt zu werden"JO. AlJerdings wird diese Abweichung von der klassischen Leh-
re in den DücorJi wieder relativiert. Dort wird dem Fürsten dann doch zu
..Leutseligkeit. Menschlichkeit•.Milde" geraten. und zwar mit Berufung auf Xe-
nophons KYfJIpiidii3 1• Härte und Strenge werden an dieser SteUe der Republik
empfohlen.
Die SchJüsselbegriffe Machiavellis L7rtN und fOrll/no - handelt es sich hier um
euschöpfungen? In gewissem Sinne erhalten diese Begriffe ein eigenes Ge-
präge. In der L7rlit schwingt das Pathos der Renaissance mit, das Vertrauen in
die Schöpferkraft des Menschen, die Tatkraft, die EntschJossenheit., das Zu-
packende. Die ftrluna ist in Abgrenzung von der christlichen Vorsehung ein
launisches Geschick, die Gunst der Sterne, eine Sache der Glücksritter, der wa-
gemutigen Söldner und entschlossenen Machthaber. Und doch ist auch in den
Schlüsselbegriffen Machiavellis mehr antikes Erbe. als es prima facie der Fall
zu sein scheint. VirlN ist in gewisser Hinsicht immer noch virluJ. In ihr treten
immer noch die Mannhaftigkeit und die Tapferkeit besonders hervor, der vir
und die vii. Die fortuna ist von Polybios' Tyche kaum zu unterscheiden. Auch
bei Polybios ist das Geschick nicht mehr die stoische Vorsehung oder die gÖtt-
liche Lenkung der Geschichte, sondern eher schon der Zufall oder das. was
man rational nicht mehr erklären kann. Glück oder Tüchtigkeit - die Alternati-
ve als solche ist ein Erbe antiker FragesteUungen. Immer wieder wird die Alter-
native erörtert bei AristoteIes, bei den Stoikern oder bei Plutarch. Ob etwa
Alexander seine Weltherrschaft eher dem Glück oder eher der Tüchtigkeit zu
verdanken habe, war ein beliebtes Thema der Peripatetiker und Stoiker. Ma-
chia'lelJj greift es in den DiJ~orJi mit Bezug :ö.uf Plut:.rch auf32. Machiavelli teih
mit den Klassikern die ~'Ieinung, daß man alles daran setzen soU~ auf Tüchtig-
keit zu setzen und sich von der Gunst des Glücks unabhängig zu machen. Eine
gewisse makzenruierung der klassischen Lehre liegt nur darin. daß Machia-
veUi t'irtN und fortuna als gleich starke Mächte begreift}3. Bei Aristoteles war
eindeutig. daß das Glück zwar immer auch vom Zufall und von den äußeren
Gütern abhängt, sich aber mehr der Tüchtigkeit als dem Zufall verdankt. Eine
Halbierung der Anteile entspricht der klassischen Lehre nicht.
Die berühmten Wappentiere des .. neuen Fürsten", der Fuchs und der Löwe,
die Symbole von üst und Gewalt, auch sie sind nichts als ein Zitat J4 . Sie be-
gegnen an zwei prominenten, MachiaveLli bekannten Stellen. Die eine ist De of-
jiciil 1. 13, die andere Plutarchs Biographie du LYJander35 . In der Lysanderbiogra-
phie he.ißt es: ,,\'(/0 die Löwenhaut nicht hinreichte. da müßte man noch den
\'(I'enn wir uns dem zweiten Hauptwerk ~hchiavellis. den DisrorJi. zuu'enden,
dann wird noch deuilicher, wie abhängig Machiavelli von den Vorbildern der
Antike ist. Sein Ideal der Republik modeUiert er anhand von Livius' Ab Krbt
(o"diJa. deren zehn erste Bücher er seinem Werk zugrunde legt. Livius war ein
biederer, theoretisch nicht sonderlich versierter Historiker. Von ihm nimmt
Machiavelli meist nur die historischen Beispiele, die exemplo repulikanischer
,,·irlu!. Für seine Deutung der republikanischen Verfassung und rut manches
andere mehr stützt er sich dagegen weitgehend auf Polybios, dessen amen er
in den Discors; nicht nennt. Es sind drei fur Machiavellis Denken bedeutende
Grundlehren, die er dem Polybios emlehnt.
Da ist trs/tns die Kreislauftheorie der Verfassungen, die aus dem 6. Buch der
His/on"tn des Polybios übernommen wird. Sie wird von Machiavelli ausführlich
und ohne jede signifikame Veränderung in Discorsi I, 2 wiedergegeben; in ei-
nem weiteren Sinne könnte sie sogar die Anregung für das zyklische Ge-
schichtsdenken Machiavellis gewesen sein. Da ist tfPtiltns die Polybianjsche po·
litische Theologie, Polybios' Lob der politischen Nützlichkeit der Religion der
Römer 37 . Dieses kehrt in der instrumentellen Auffassung von Religion wieder,
die die Religionskapite1 der Discors; auszeichnet 38 . Da ist schließlich Jn)/ms Ma-
chiavellis Übernahme der Polybianischen ?fischverfassungslehre, nach der
Rom eine Mischverfassung gewesen sein soll und jede Republik eine Misch\'er.
fassung zu sein hat.
Machiavellis Abhängigkeit von Pol)'bios ist in zwei der genannten Fälle eine
gendezu sklavische. Sowohl die Kreislauftheorie als auch die Mischverfas·
sungslehre werden ohne jeden Abstrich einfach reproduziert. Das ist um so er-
staunlicher, als es sich um primitive, schematisierte und im Grunde falsche
Lehren handelt. Die Kreislauftheorie des Polybios ist eine völlig unhistorische,
schematische Konstruktion. Das Sechser-Schema der Verfassungen wird ein·
fach in Bewegung gesetzt, so als ob es sich um eine immer wiederkehrende hi·
storische Abfolge handeln würde. Die These von der J\-1.ischverfassung Roms
war schon falsch, als Polybios sie vortrug. Rom besaß keine Mischverfassung,
sondern eine vom Adel und vom Senat dominierte Verfassungsform. Zu einer
wohltemperierten Balance zwischen Adel und Volk haue es Rom nie gebracht.
Der Grieche Polybios hatte Rom einfach ein griechjsches Verfassungsschema
übergesrülpl. Daß MachiaveUi die Kreislauftheorie und die Mischverfassungs-
lehre einfach wiedergibt, läßt an seinem guten Urteil zweifeln. Es zeugt davon,
daß er manche der antiken Quellen einfach abgeschrieben hat.
III
Was aJso ist neu im Denken Machiavellis? Nicht die berüchtigte Grundthese
des Prinript, nicht die einzelnen Ratschläge an den Fürsten, nicht die Lehre von
der Republik und von der Mischverfassung und vieles andere mehr. " eu" an
seiner Lehre ist allenfalls der Dtnhtil. die Zuspitzung aller Fragen auf klare Al-
ternativen (entweder dies oder das); es ist ein Denkstil, der zur Entscheidung
und zur Handlung drängt. Immer wird eine klare Alternative benannt: Staaten
sind entweder Republiken oder Fürstentümer, entweder ererbt oder neuerwor-
ben, entweder an Fürsten gewöhnt oder frei, erworben entweder durch l:irlN
oder jorlNIIQ, durch Verbrechen oder die Gunst des Volkes usf. Immer wird
durch das politische Denken eine Option herausgeschält und eine Entschei-
dung vorbereitet.
Ein eigentümliches Gepräge erhalten die Begriffe Machiavellis des weiteren
dadurch, daß der Florentiner 1500 Jahre Christentum im Rücken hat. Zwar
möchte er diese Zeit wohl einfach überspringen. Aber es ist die historische
Lage, welche die Begriffe Machiavellis farbt. Ein Satz wie das berühmte WOrt,
"er liebe das Vaterland mehr als die Seele"so, könnte in der Antike so nicht ge-
äußert werden. In der Antike war das Leben selbstverständlich in der Politik
zentriert. Das WOrt Machiavellis setzt, auch wenn der Florentiner das Chri·
stentum als eine politisch verderbliche Religion kritisiert, die mit dem Chri-
stentum gekommene Spannung von irdischem Glück und jenseitigem Heil,
von irdischer und himmlischer Stadt voraus. Die Verschiebung der Interessen
vom Jenseits zum Diesseits, von der Kirche zum Staat, von der Religion zur
Politik ist bei MachiaveJli immer auch durch das bedingt, was er als Christen-
tum und Mittelalter hinter sich bringen will.
Hier ist Machiavelli einmal nicht der Faszination der prächtigen Bestien wie
Cesare Borgia erlegen. Vielmehr kehrt er, sei es gewollt, sei es ungewolJt, in
den Hafen der Tradition zurück.
Der Pn'nript hinterläßt beim Leser einen faden Nachgeschmack. Allzusehr
ist der Autor bemüht, skandalös zu wirken und den Leser zu provozieren. Der
angebliche "Realjsmus" ist nur ein Deckmantel für die Feier einer AUeinherr+
schaft, deren Unterschied zur alten Tyrannis allein darin besteht, daß der Be-
griff der Tyrannis entfallen ist und der neue Fürst über kein kritisches Gegen-
bild mehr verfügt. Am Maßstab des Erfolges gemessen, der nun an die Stelle
des traditionellen Kriteriums der guten Herrschaft tritt, war Machiavellis Vor-
bild des neuen Fürsten, Cesare Borgia, ein Versager. Daß politisches Verb re-
chertum Erfolg hat, daran darf man heure genauso zweifeln wie in der Antike.
Nichts ist instabiler als eine Tyrannis. Der bloße Anschein guter Herrschaft
wirkt nur so lange, als er als Schein nicht durchschaut wird. Machiavelli bedarf,
um seine Politik schlüssig zu begründen, der Theorie einer immer korrupten
und nicht lernfähigen r.'lenge. Aber auch diese Annahme hält der Florentiner
nicht konsequent durch. Sie verträgt sich mit seiner Lehre von der Republik
nicht. Eine solche bedarf nicht nur der virlu eines Gründers, sondern der virlu
der Bürger selbst. So kann es denn auch einmal heißen, das Volk sei "weiser
und beständiger als ein Alleinherrscher"s2. Jedenfalls genügt es, daß ein Volk
soviel Einsicht besitzt, Schein und Sein unterscheiden zu können. Dann dürfte
es langfristig durch eine Politik der Täuschung nicht zu beherrschen sein.
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Theo Verbeek
"Göttliche Verwaltung"
Spinoza über Demokratie und Theokratie
Wie bekannt, hört Spinozas Politischer Traktat gleich nach Beginn des Hallpt-
stücks über die Demokratie auf, ohne daß einem klar wird, was Spinoza von
djeser Verfassungsart denkt. Ob das anders wäre, wenn Spinoza seine Schrift
vollendet hätte, mag dahingestellt bleiben; handelt es sich doch beim Politüchtn
Traktat um eine wissenschaftliche und weniger um eine wertende, evaluative
Diskussion. Aber auch im Theologisch-politischm Traktat bleibt es im ganzen un-
klar, in welchem Sinne man Spinozas Beurteilung der Demokratie verstehen
soll. Dennoch findet man häufig dje Idee vorgetragen, Spinoza sehe die Demo-
kratie als wünschenswert und möglich an und glaube, daß - wenngleich sie
jetzt nicht realistisch sei - die Menschheit eines Tages einen solchen Fort-
schritt gemacht haben werde, daß auch eine demokratische Verfassung mög-
lich sei. 1
Es gibt freilich nichts, das diese Auffassung belegt. Nicht nur findet man
bei Spinoza überhaupt keine allgemeine Verteidigung der Demokratie, auch
hat er keine Philosophie der Geschichte, die sie als Zukunftserwartung legiti-
miert - ganz im Gegenteil scheint seine Geschichtsauffassung durch und durch
pessimistisch zu sein. Das hjstOrisch-komextuelle Argument dagegen, die Pro-
vinz Holland sei für Spinoza ein konkretes, "demokratisches" Ideal gewesen -
belegt durch sein Lob für die Amsterdamer Stadtverwaltung2 - ist wohl kaum
geeignet, eine solche Vermutung zu legitimieren. Zwar wurde in den meisten
niederländischen Städten ..das Volk" irgendwie politisch vertreten, aber Am-
sterdam wurde ausnahmsweise seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vönig ari-
stokratisch verwaltet, ohne daß "das Volk" irgendwelchen Zugang zur Regie-
rung hatte.} Wichtiger jedoch ist dje Tatsache, daß die Verfassung Hollands -
I Alexandre ~h.theron, Jndividll tl (O",,,,lInallll (hez Spinoza, Paris 1969; den., Lt ehn"JI tt
/e Ja/1I1 du ignorantJ (hez SpinoZa, Paris: Aubier-Monlaigne, 1971; Jonathan Isud, Ro-
di(al En/ighttn",tnt, Oxford 2OOl.
2 TIP, xx, Gebhardt 111, S. 245-246. Spinon wird zitiert in der kJassischen Herausga-
be von earl G. Gebhardt (5 Bde., Heidelberg 1925-1987).
3 Cf. Roben Fruin, "Bijdrage tot de geschiedenis van het burgemeesterschap van Am-
sterdam tijdens de Republiek", in: De tiji va" Dt lf/i" m Willem IJJ: Hi!lorlJ(ht opJltllm
I, Den Haag 1929, S. 70-107.
Verbeek, ..Göttliche Verwaltung" 61
hier als eine der sieben Provinzen zu verstehen - von Spinoza selber als arisw·
kratisch interpretiert wird. 4
Dennoch machen es die wenigen Außerungen über Demokratie, die es bei
Spinoza tatsächlich gibt, unmöglich, die Frage als völlig unbestimmbar zu
übergehen. Zu diesen rechne ich den Anfang der zweiten Hälfte des TheologiIch-
politischen Traktats, wo Spinoza ausführt, daß er besonders die Demokratie als
Gegenstand nehme, weil sie unserer "natürlichen Freiheit" am nächsten stehe.)
"Natürliche Freiheit" ist allerdings ein doppelsinniger Ausdruck. Denn tat-
sächlich wäre eine Freiheit, die nur "natürlich" ist und nicht von der Vernunft
vermittelt, etwas Erschreckendes. Befremdender noch ist die Behauptung, daß
das wichtigste Thema des Theologisch-politischen Traktats eben die DemoKratie
sei, denn tatsächlich ist die einzige Verfassung, die eingehend besprochen
wird, die Theokratie, von der allgemein angenommen wird, daß Spinoza sie zu·
rückweist. Aber soll das nicht vielmehr heißen, daß TheoKratie für Spinoza
eine An Demokratie ist und damit daß Demokratie zu einer überwundenen
Vergangenheit gehört? Das ist die Frage, die ich mir in diesem Beitrag stellen
werde. Letzten Endes verteidige ich dabei eine dreifache These: 1) Für Spinoza
ist die Theokratie das einzig realistische Modell einer "demokratischen" bzw.
"republikanischen" Verfassung; 2) eine Religion kann nur dann politisch-theo-
kratisch umgesetzt werden, wenn sie gewissen Bedjngungen genügt; 3) weil das
Christentum diesen Bedingungen nicht genügt, sei die Theokratie - und damit
die Demokratie - nicht länger möglich.
I
Eines der wichtigsten Konzepte, die im Theologisch-politischen Traktat verwendet
werden, ist dasjenige des "Willen Gottes" - "Konzept" freilich im alltäglichen
Sinne verstanden, weil ein "Wille Gones" überhaupt nicht vom Verstand ge-
dacht, sondern lediglich von der Einbildungskraft vorgestellt werden und des-
halb auch nicht bestehen kann. Der Wille Gottes ist am besten als metaphori-
scher Ausdruck der von Kausalität, Uniformität und InteUigibilität geprägten
Regel zu verstehen, wonach die Dinge sich ändern. Die Kausalüät eines Ge-
setzgebers aber, die ja von den Affekten und Vorstellungen seiner Untertanen
vermittelt ist, wäre einem Wesen, in dem Wollen und Denken identisch sind,
völlig fremd. 6 Das ist die These, nicht nur der Ethik, sondern auch des 4. Kapi-
tels des TheologiIrh-politiIehen Traktats. Dennoch spielt die Vorstellung eines ge-
setzgebenden Gottes im Theologisch-politischen Traktat eine wichtige Rolle, einer-
• TP, IX. § 14. Der Unterschied zwischen .. Hollandus" (Holländer) und .. Belga" (Nie-
derländer) wird öflers übersehen, ist aber für den Zeitgenossen überaus wichtig.
5 TTP, x\'i, Gebhardt 111, S. 195.
6 Für eine ausführlichere Diskussion verweise ich auf meine Arbeit Spinozo's Theologiro·
politiral Treatist: Explorin!, "thf 117ill of God". Landon 2003.
62 Geschichte
seits weil Spinoza sie für die allein wesentliche Vorstellung jeder Offenba-
rungsreligion ansieht, andererseits weil er den Souverän als den einzigen Ver-
treter des "WiIJen Gottes" betrachtet. Jede Offenbarungsreligion wäre also nur
relevant, insoweit sie ein göttliches Gebot enthält; die von Gott auferlegten
Pflichten hingegen seien nur in einem politischen Kontext gültig und nur inso-
weit sie vom Souverän sanktioniert werden.
Es ist gegen diesen Hintergrund, daß die Konzepte von "Theokratie" und
"Demokratie" ihren paradoxen Sinn erhalten. Denn wenn der Wille Gottes nur
von einem jrdjschen Souverän vermiueh werden kann und wenn es ohne eine
solche Vermittlung keine Pflichten geben kann, dann sind Theokratie und De-
mokratie Anomalien. Wenn "theokratisch" jede Verwaltung ist, in der Gon der
Souverän ist, dann wird er nkht spezifisch vertreten - das Volk wäre also für
seine Gesetzgebung auf sich selbst angewiesen. Wenn dagegen "demokratisch"
jede VerfassllOg !st, in der das Volk der Souverän ist, dann gibt es außer dem
Volk überhaupt keinen irdjschen Vertreter des Willens Gones - das Volk wäre
also abermals auf sich selbst angewiesen. Allerdings ist dies eine tendenziöse
Auffassung von Theokratie - gibt es doch Theokratien, in denen "der Wille
Gones" hauptsächlich von Propheten und Priestern (oder Mullahs und Ayarol-
las) vertreten wird. Eine nähere Betrachtung lehrt aber, daß Spinoza solche
Verfassungen überhaupt nicht "theokratisch" genannt hat.
1m Tbeologi1Cb-politi1Chen Traklal findet man zwei Analysen der jüdischen
Theokratie, die erste im 5. Kapitel, die zweite im 17. und 18. Kapitel. Was sie
gemeinsam haben, ist die Idee, daß der Auszug aus Ägypten die Juden in den
Naturzustand zurückversetzte, daß jedermann also aufs neue überlegen mußte,
ob er sein Recht über alles behalte oder aber es andern übergebeJ Die Juden
aber entschlossen sich, "ihr Recht, nkht einem sterblichen Menschen, sondern
Gon allein zu übertragen". 8 Gon wat ihr Souvetän - die RaUe des Mose war
bestenfalls die eines geistigen Beraters. Man stiftete also eine Theokratie. Spi-
noza stipuliert aber, daß djes "demokratisch" geschah, das heißt auf Grund ei-
nes Vertrags, der freiwillig von aUen unterschrieben wurde. 9 In Wirklichkeit
aber war, im Worte Spinozas, die Souveränität Gones "nur Sache der Mei-
nung, denn faktisch behielten dje Juden völlig ihr souvcränes Recht" - selbst·
verständlich, möchten wir einwenden, denn tatsächlich gibt es nach Spinoza
keincn Gon-Gesetzgeber: "Wie in ciner Demokratic, übergaben sie alle ihr
Recht im gleichen Maße, und schrien wie mit einer Stimme: ,Alles was der Herr
redet, wcrden wir tun', ohne sich um einen Vermittler zu kümmern." Alle hät-
7 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 205; cf. v, Gehhardt 111, S. 74-75. In Ägypten waren die
Juden an das Gesetz Pharaos gebunden, soweit dieses nicht dem natürlichen göttli-
chen Gesetz entgegengesetzt war (TTP v, Gebhardt 111, 72), das heißt soweit sie
ohnmächtig waren, dem Gesetze Pharaos zu widerstehen.
8 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 205-206.
9 TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 206, verweisend nach 2. Mose 19: S. 4-5. Die Bibelzitate
sind der revidierten Lutherübersetzung entnommen.
Verbeek, "Görtliche Verwaltung" 63
ten "im gleichen Maße Teil an die Verwaltung des Staares".IO Das "theokrati-
sche" Prinzip wäre also eine kollektive Fiktion, die eine "demokratische" Ver-
fassung verhüllt.
Es ist um so wichtiger, dies zu betonen, als Spinozas Vorstellung im 2. Buch
Mose (Exodus) kaum belegt werden kann. Nicht nur ist dort, selbstverständ-
lich, von der Subjektivität der theokratischen Vorstellung überhaupt keine
Rede; auch die Rolle des Mose wird anders eingeschätzt. Er "setzte sich um
dem Volk Recht zu sprechen" (2. Mose 18:13) und lehne dem Volk "die Sat-
zungen Gottes und seine Weisungen" (2. Mose 18:16); er schlug einen Bund
vor (2. Mose 19:3-6) und teilte Gott die Antwort des Volkes mit (2. Mose 19:8)
- seine Rolle war also die eines Vermittlers, das heißt eines Souveräns. Auch
der Unterschied zu Spinozas Version im 5. Kapitel soll in Betracht gezogen
werden. Dort heißt es einfach, daß es "Mose leicht war die Souveränität zu
behalten"ll - also wäre er von Anfang an Souverän und bliebe es auch. Die
Vermutung Hegt daher nahe, daß es im t 7. Kapitel genau um den "demokrati-
schen" Aspekt djeses Verfahrens geht - und dann ist es nicht ohne Bedeutung,
daß das "demokratische" Experiment nur kurz gedauert hat. Denn wenn Gott
die Juden zu sich rief, "flohen sie und blieben in der Ferne stehen" (2. Mose
20: 18); und sie baten Mose, in ihrem Namen mit Gott zu sprechen: "Laßt Gott
nicht mit uns reden, wir könnten sonst sterben" (2. Mose 20: 19). 12 Nach Spi-
noza heißt das, daß Mose Souverän wurde, denn "nur er hatte fouan das
Recht, Gott zu befragen, die Antwort Gottes dem Volke mitzuteilen und das
Volk zu Gehorsam zu zwingen".I) Anders also als bei Hobbes genügt die Tat-
sache, daß Mose Prophet war, nicht, um diese neue Verfassung "Theokratie"
zu nennen. Ganz im Gegenteil handle e:; :;ich um eine absolute Monarchie,
denn "was sie jetzt versprachen, war nicht, wie erst, alJes zu tun, was Gott ihnen
sagen würde, aber was Gau Most sage". 14
Nach dem Tode Mose änderte sich alJes abermals: "Das Recht, die Gesetze
zu interpretieren und die Antwort Gottes dem Volke mitzuteilen, gehörte Ei-
nem; und das Recht den Staat nach dem Gesetz zu verwalten einem Ande-
ren" .1> Das Resultat ist theokratisch: "dies war weder Demokratie, noch Ari-
stokratie, noch Monarchie, sondern Theokr3tie".16 Dafür gibt es nach Spinoza
folgende Gründe: 1) ein Tempel soll gebaut werden, wie ein Palast für den
Souverän; 2) der Hohe Priester ist Interpret des Gesetzes; 3) das Land wird
aufgeteilt zwischen den Stämmen Israels; 4) Josua erhält das Recht, Gott zu
befragen; 5) endlich sollen alle Männer zwischen zwanzig und sechzig Waffen
tragen und Treue schwören, nicht ihrem Hauptmann oder dem Priester, son-
dern GouY Was macht diese Verfassung theokratischer als die Regierung von
Mose? Nicht der Tempel und der Eid der Soldaten, denn gleiches könnte man
sich leicht unter Mose vorstellen. Außer der Teilung des Landes ist das einzig
Neue die Tatsache, daß d.ie weltliche und die geistige Macht auf zwei Instanzen
verteilt sind, die aber, weil heide unter dem göttlichen Gesetz stehen, aufeinan-
der angewiesen sind. 18 Der Staat ist also nie Gesetzgeber, sondern allein Dic+
oer des einmal gegebenen Gesetzes. Andrerseits kann auch keiner das Gesetz
usurpieren, weil der Staat von einem delikaten Spiel von cbuk! ond bolonct! ge-
kennzeichnet ist.
Spinozas Vorstellung hat allerdings mythische Züge. Sein Haupuext ist ja 4.
Mose 27:21: "Und er 00sua1 soll treten vor Eleazar, den Priester, der soll für
ihn mit deo heiligen Losen den Herrn befragen. Nach dessen Befehl sollen
aus- und einziehen er und alle Israeliten mit ihm und die gotnze Gemeinde."19
Hobbcs interpretiert diesen Text ..theokratisch" in dem Sinne, daß Josua dem
Priester im strikten Sinne untergeordnet sei - Eleazar wäre also der eigentliche
Verwalter (zwar im Namen Gottes, aber dasselbe gilt auch für Mose).20 Spino-
za dagegen betont Josuas relative Unabhängigkeit. Josua sei "Fürst" (pn"ncepJ).2l
Er habe das Recht, Gou zu befragen, Gehorsam zu erzwingen und Kriege zu
führen - alles gemeinsam mit den Priestern und den anderen Fürsten, also
nicht wie ein Souvcrän. Aber seinerseits könne der Hohe Priester GOtt nur
dann befragen, wenn er dazu von der weltlichen Führung beauftragt wird - wie
Josua war er also Dicner des Gesetzes. 22 Endlich habe die wirkliche Macht das
Volk,
Das ganze Volk sollte jedes siebte Jahr zusammenkommen an einem gewissen Platz.
um sich vom Priester über das Gesetz unterrichten zu lassen. Auch war jedermann
verpflichtet, das Buch des Gesetzes andächtig zu lesen und wieder zu lesen (5. Mose
31:9, usw., und 6:7). Wenn die Fürsten also vom Volke respektiert werden wollten,
dann mußlen sie, in ihrem eigenen Inu:resse, regieren nach dem Gesetz, das ja jeder-
mann kannte. 23
Das Volk wäre sich selbst sein Gesetz - und sei es nur, weil es in Freiheit den
göttlichen Willen als Gesetz umarmt hatte. Auch diese Verfassung mutet daher
"demokratisch" an, besonders weil aUe gleich waren unter dem Gesetz. Und
tatsächlich, wenn Spinoza später auf die Episode der "Richter" verweist,
spricht er davon als von einer, "in det das Volk regiere"?' Spinoza sieht diese
Episode also als ein zweites demokratisches Experiment, das aber, anders als
das erste, für einige Zeit wenigstens gelingt, nicht nur weil es jetzt ein geschrie-
benes und unveränderliches Gesetz gibt (denn das macht es für das Volk un-
nötig, sich selbst ein Gesetz zu geben), sondern auch weil es eine Teilung der
Mächte gibt (denn sie macht es unmöglich, das Gesetz zu IISNrpienn). Theokra-
tie wäre also eine An republikanisch+konstitutioneller Verfassung, die grund-
sätzlich "demokratisch" wäre, weil sie sich auf Freiheit und Gleichheit stützt.
II
Die posltlve Beziehung zwischen Theokratie und Demokratie soll dennoch
nicht übertrieben werden. Denn nach Spinoza ist in jeder Verfassung das Volk
faktisch die mächtigste Instanz. Schließlich sei ja das Recht des Souveräns (iNS
SI/"'I/Iot POfUfofis) nichts anderes als "natürliches Recht, wie es von der Macht,
nicht eines jeden Individuums, aber der Menge des Volkes, einguchriinkf
wird".2s Das Paradoxon jeder Staatsbildung ist ja, daß der Staat nur zustande
kommen kann, wenn das Volk sich dem Willen eines Mächtigeren unterwirft,
aber daß diese Unterwerfung an sich eine Einheit erzeugt, die dem Volk mehr
Macht gibt als dem Souverän. Keine Regierung kann also völlig absolut sein -
wenn das Volk die ~hcht eines Souveräns nicht länger fürchtet (weil es seine
Freiheit, se;ne Religicn oder seine 2.lten Sitten für wichtiger häl~), dann hat er
keine. 26 Die Begrenzung der souveränen Macht wird nur in der "Demokratie"
aufgehoben, da in ihr das Volk selber Souverän ist. Sie wäre also die einzige
"völlig absolutc" (omnino oIHOINIn) Verfassung. 27 Angenommen, daß Spinoza
diese MaximaJisicrung von Macht für wünschenswert (oder "natürlich'') hält
(weil gegründet im \'(fesen "Goltes"), dann wäre die einzige wichtige Frage, ob
eine "demokratische" Verfassung auch möglich sei. Das scheint tatsächlich der
Fall zu sein:
Ohne das natürliche Recht zu vereinbaren, ist es möglich eine Gemeinschaft zu for-
men und einen Venrag in guter Treue zu behahen, wenn nur jedermann alle seine
Macht der Gemeinschaft übertrage, die also als einzige das souveräne natürliche
Recht über alles behalte 1.../ Ein solches Recht der Gemeinschaft wird ,Demokratie'
genanOl, die man also definiere als eine einheitliche Versammlung von Menschen,
die gemeinsam das souveräne Rechl besitzen über alles, das in ihrer Macht sei. 28
29 t'tbnche lesen hier eine Verteidigung der Vcnragstheorie (und sehen darin einen "(li-
derspruch mit dem PotitiJ(hen Traktat). Das scheim mir unzutreffend, nicht nur weil
in diesem Passus nichts mehr als die prinzipielle Möglichkeit eines Vertrags ange-
sprochen wird, sondern auch weil die Verbindlichkeit des Vertrags. wenn es eine sol-
che gibt, nicht auf dem Vertrag als solchem, wohl aber auf dem Imeresse beruht, das
die Kontraktanten daran haben, am Vertrag festzuhahen.
JO TP, ii. § 13-17; cf. Eth. IV, prop. 35, cor. 1-2. Für die Definition von "Demokratie"
siehe TP. xi, § 1.
31 TIP, xvi. Gebhard[ 111, S. 193.
32 Über Van den Enden siehe ie[zt Israel, Rodifol Enlightennltnt. S. 175-184.
Verbeek, "Göttliche Verwaltung" 67
III
Nach Spinoza ist dcr Zweck des Staates, den ,,\Vahnsinn der Lust zu vermeiden
und die Menschen innerhalb der Grenzen der Vernunft zu behalten".33 Dies
soll natürlich nur im kollektiven Sinne verstanden werden - Zweck des Staates
sei es nicht, aus jedermann einen Philosophen zu machen, sondern eine Um-
welt zu schaffen, in der die meisten "vernünftig" handeln (das heißt in Frieden
zusammen leben). Zunächst soll diese praktische "Vernünftigkeit" wesemlkh
unvernünftige Motive haben und allein von dcr Macht des Souveräns (bzw. der
Furcht der Untertanen) abhängen. Jot Macht und Furcht allein genügen aber nje-
mals. Im Gegenteil, die Leute gehorchen am besten, wenn sie die Idee haben,
"frei" zu sein. JS Diese Idee vermag nur subjektiv zu sein - einzig wichtig sei,
daß die Regel, die sich jeder "freiwiHig" als Norm auferlegt, auf dasselbe ab-
zielt: nämljch auf Friede und Einheit. Das Beispiel der Juden zeigt, wie wichtig
in dieser Hinsicht die Reljgion sein kann. Denn Mose gab seinem Volke eine
Religion, damit es seine Pflicht nicht nur aus Furcht, sondern aus Zuneigung
(dttlOlio) erfüllt. 36 Zwar gründet devotio auf Einbildungskraft, kann also nie wah-
re Freiheit erzeugen, macht aber den Menschen weniger abhängigY Jemand,
der seine Pflicht aus Liebe zu Gon tut, wäre aJso "freier" als jemand, der das-
selbe aus Furcht tut. Endlich, da man nicht annehmen kann, daß eines Tages
alle r\'lenschen vernünftig sein werden - jedenfalls gibt es bei Spinoza nicht
den geringsten Hinweis darauf -, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß De-
mokratie als sich auf Freiheit und Gleichheit stützende Verfassung nur in ihrer
"theokratischen" Gestalt prinzipiell bestehen kann. Das macht die Frage, war-
um ;heokra~je nicht länger möglich sei (wie Spirioza versichert), übera;.as wich-
tlg.
IV
Am Anfang des 18. Kapitels des TbeologiJ(lJ.politisrlJen Traktats behauptet Spino-
za, daß tJI/ sielJ die theokratische Verfassung der Juden dauerhaft hätte fortbe-
stehen können J8 - Ursache ihres Untergangs wäre also nicht das theokratische
Prinzip als solches, sondcrn entweder die konkrcte \X!cise, wie es von Mose
ausgearbeitet wurde, oder die historische Lage des Volkes Israels. ßeides
scheint der Fall zu sein. Denn einerseits betont Spinoza ausdrücklich die Tat-
sache, daß dje konstitutionelle Lage der Priester verfehlt sei (weil ihre Privi1cgi.
co sie verhaßt machten); andrerseits führt er aus, daß Theokratie jetzt unmög-
lich sei. 39 Nicht allein sei sie nur für eine geschlossene Gesellschaft geeignet,
sondern Gon hätte auch "durch seine Jünger" offenbart, daß "sein Vertrag
nidit ist festgelegt auf steinernen Tafeln, aber vom Geist Goues in des Men-
schen Herzen geschrieben".40
Das Argument über die Priester ist komplex und kann dahingestellt bleiben
- offensichtlich handelt es sich um einen Vcrfassungsfchler, der korrigiert wer-
den könnte. Wichtiger sind die beiden anderen Argumente. Das erste ist leicht
zu verstehen. Das Fundament einer Theokratie ist eine Offenbarungsre1igion,
das heißt eine Erzeugung der Einbildungskraft. Und da diese veränderlich ist,
könne die Religion nur in ihrer Reinheit erhalten werden, wenn die Gläubigen
nicht fortwährend fremden Vo'Csrellur'lgen au~geset7.t sind. Der zweite Grund
aber bezieht sich auf die Natur des Christentums, dabei handelt es sich um eine
Anspielung auf den Zwtiten Korintberbritj:
Ihr seid unser Brief in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von aUen Men-
schen. Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern
Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Time, sondern mit dem Geist des lebendi-
gen Goues, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure
Herun. (2 Kor. 3:2-3).
Was man mit diesem Text hier machen kann - Spinoza zitiert ihn auch um die
Idee eines Kanons zurückzuweisen 4l -, läßt sich wahrscheinlich auf zwei oder
drei Punkte reduzieren: 1) das Won des christlichen Gottes ("Liebet euch')
hat nicht die Form eines Gmtzu (es ist nicht auf steinerne Tafeln geschrieben),
sondern es ist ein sentimentalülhu Prinzip (aber im Herzen); 2) es beansprucht
universale Gültigkeit (es wird von allen Men1Chen gelesen) oder aber 3) es ist an
sich irrelevant (es wird von aUen schon gekonnt). A.lso, zum erSten, wäre der
Wille des christlichen Gottes kein Gesetz (im Sinne eines Handlungsgebors),
sondern ein Gesinnungsgebot. 42 Um Gesetz zu werden, muß man es "interpre-
tieren", und dafür braucht man einen irdischen Souverän, den es in einer
Theokratie grundsätzlich nkht gibt. Eine christliche Theokratie wäre demnach
eine Verfassung ohne Gesetz. Dann gälte Gones Wille für alle Menschen, oder
aber er wäre an sich trivial - jedenfalls könnte GOtt demnach nicht Souverän
einer spezifischen Nation sein. Eine christliche Theokratie wäre somit undenk~
bar.
v
Spinoza zeigt also das Folgende: Falls es für das Fortbestehen des Staates not-
wendig ist, daß die Bürger das Gemeinwesen als höchstes Ziel ihres Handeins
wählen, dann müßten sie sich entweder einem starken Souverän unterwerfen,
oder aber sehr spezifische Handlungsmaximen miteinander teilen. Das letztere
konnte Spinoza sich nur in Form einer nationalen Religion vorstellen - der
Gedanke Rousseaus, das Gemeinwesen könne als solches Gegenstand leiden-
schaftl.icher - quasi reljgiöscr - Gefühle sein, ist ihm noch fremd. Eine Demo-
kratie wäre also unmöglich und ein starker Souverän notwendig. Die Tatsache,
daß wir heute einerseits demokratisch regiert werden, ohne eine gemeinschaft-
liche Religion zu haben, während andererseits der Rousseausche Nationalismus
seine Glaubwürdigkeit völ.lig eingebüßt hat, könnte der wichtigste Grund sein,
dieses Problem bei Spinoza zu studieren.
1. Einleitung
Kürzlich stellte der tschechische Präsiden! Väclav Havel einen treffenden Ver·
gleich an. Er verglich das Schicksal der intellektuellen Erbschaft des Philoso-
phen und ersten, großen Präsidenten der Tschechoslowakei, Thomas G. Masa-
Tyk (1850-1937), mit dem wechselhaften Schicksal seiner Statuen. I Zu Zeiten
von f\lasar}'ks Tod konnte man sie im ganzen Land antreffen. Während der Be-
setzung dt.!rch die Nazis ab September 1938 versch'vanden dil'" Statuen au!': dem
Blickfeld, um einige Jahre später, nach der deutschen Niederlage, wieder zu
erscheinen. Die kommunjstische Machtergreifung im Jahre 1948 brachte eine
weitere Veränderung. Ich kann mich nicht erinnern, während meines Studiums
in Prag (1963--1964) irgendeine Masaryk-Statue gesehen zu haben, weder in-
ncrhalb noch außerhalb der Goldenen Stadt. Das einzige was ich gesehen
habe, war ein Sockel in der Stadt meiner Freundin, von dem man sagte, daß er
zu besseren Zeiten eine Statuc Masaryks getragen habc. Der Prager Frühling
(1968) war zu kurz, um daran viel zu ändern. Erst nach der friedlichen Revolu-
tion von 1989 erschien f\'lllsar}'k wieder auf tschechischen Straßen und Plätzen.
Die öffentliche Achtung und auch die Zugänglichkeit von Masar)'ks Ideen-
reichtum unterlag vergleichbaren Schwankungen. Obgleich die Flut seiner eige-
nen Veröffentlichungen nach seiner Wahl zum Präsidenten (1918) langsam ver-
ebbte, entstand eine Vielzahl von Studien über sein imellekrueUes Werk. 2 Je-
In sdn~m VON'Ort \"on AI:ain Soubigous großartig~r Biogr:aphie \'00 Masar)'k, Tho·
IWas MasaryJ!.. Paris, 2002.
2 Sieh~:t. ß. Masaryks ßibliographi~ in Teil IV von O. A. Funda. TINmfal Garril,lIr Ma-
lilryk. Still philolDphiJrhtl, rrligi;m IIl1d PDlitilfhrJ Dtdlll. ßero 1978. Bei der Gdegeo-
heil von Masar)'ks 80. G~buftstag wurde zum ßeispid ein~ F~slSchfift in z""'ei Bin-
72 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
doch änderte sich auch dieser Tendenz durch die deutsche Besetzung. Und wie-
derum wurde die Wiederbelebung von Masaryks Studien nach dem Krieg durch
die politischen Ereignisse des Jahres 1948 unterbrochen. Als die Nachfolger
von unin an der Macht waren, war es kaum zu erwarten, daß sie die Ideen des
Mannes propagieren würden, den Lenin selbst als seinen wichtigsten ideologi-
schen Gegner beschrieben hatte. 3 Zur Zeit der Kommunisten konnte man u'c-
der an tschechischen Univccsitiit'en noch In anderen öffentlichen BiblJotheken
\'(lerke von oder über Masaryk finden," Als ich an meiner Dissertation über die
politische und soziale Phjlosophie Masar)'ks arbeitereS, gelang es mir, mit der
Direktorin der Pager Universitii.t'sbibljothek in Kontakt zu kommen. Im Ver-
trauen berichtete sie mir, daß die Masaryk-Kollektion nicht zerstört, sondern
"nur" vor der Öffentlichkeit weggesperrt worden sei. All dies wurde anders
nach der friedLichen Revolution. Außer dem ständigen Strom neu herausgegebe.
ner und übersetzter Werke Masaryks 6 erschienen auch zahlreiche Studien über
ihn, entweder Monographien, Sammelbände oder Aufsätze - oft in Folge von
Konferenzen oder Kolloquien - oder auch Zeitschriftenartikel.
Jetzt werde ich dieser Flut von Veröffentlichungen einen neuen Aufsatz
hinzufügen. Ich weiß, daß Willem an meinem "Helden" inreressiert ist. "Ich
sollte mehr über diesen Mann wissen", gestand er mir während einer Umerhal·
tung nach meiner Rückkehr von einer Masaryk-Konferenz, die kürzlich in Pa-
ris stattfand. Es war daher nicht schwer fur mich, ein passendes Thema fur die-
se Festschrift zu finden. Alle Themen, die die Herausgeber der Festschrift mir
antrugen, konnten mit Masaryk in Beziehung gebracht werden. So hat er - was
PoHtik und Geschichte angeht - eine wichtige Rolle bei den Versuchen ge-
spielt, Österreich-Ungarn zu reformieren und seit 1914 sogar zu revolutionie·
ren. Dabei wirkte er sowohl als Philosoph wie auch als Politiker. Während des
Ersten Weltkriegs reiste er von den Vereinigten Staaten nach Rußland - dessen
Philosophie und Kultur er besser kannte als jeder andere ausländische Sachyer-
ständige -, um für die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates zu
kämpfen. Er war in Moskau, als die bolschewistische Revolution ausbrach, und
1
Für DClails über Masaryks Leben siehe die in Anmerkung 1 genanOle Biographie
, von A. Soubigou.
i\bn könnte darauf etwa kommen durch P. Rijpkemas Sltllt J>ujtrfionism and Ptrsona/
FrudolN (Diss. Universität Amsterdam, 1995), wo er das Konzept eines kommunira-
ristischen Liberalismus einführt, S. 77 ff. Aber SOg,lr Rijpkema häh die Diskussion
nicht für abgeschlossen. In bezug auf die Bedeutung dieser Debatte siehe (trotz eini+
ger Vorbehalte) auch D. f\'!ilIer, "Communitarianism: Left, Right and Center", in:
ders., CiliZtnJhip {wd Nalion{l/fdenlity, Cambridge, 2001, S. 97-109.
74 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
stanCls als eine Interpretation des Menschen als freies und rationales Wesen zu
verstehen ist. "Diese unsere Natur kommt zur Geltung, wenn wir gemäß den
Grundsätzen handeln, die wir wählen würden, wenn djese unsere Nawr sich in
den Bedingungen der Entscheidung ausdrückt."12
Eine wichtige Kritik der Kommunitaristen richtet sich auf genau diese Be-
schreibung der Charakteristika der menschlichen Person hinter dem Schleier
des Nichtwissens. Sie halten diese Beschreibung für eine Konstruktion, die es-
sentielle Eigenschaften des echten menschlichen Subjekts ignoriert. Wenn die4
se essentiellen Eigenschaften nicht berücksichtigt werden, dann verlieren die
Gerechtigkeitsprinzipien, die im Urzustand gewählt würden, viel von ihrer
Glaubwürdigkeit. Es geht nicht so sehr darum, welche essentiellen Eigenschaf-
ten das repräsentative menschliche Subjekt hat, sondern welche ihm fehlen.
Demnach ist es - gemäß Maclntyre - essentiell für ein menschliches Wesen,
daß es am sozialen Leben teilnimmt und somit eine soziale Identität aufbaut;
daß es Teil einer Gemeinschaft ist und somit in sich entwickelnden Traditio-
nen eingebunden ist. Die Identität des Menschen wird im Grunde konstituien
durch seine Lebensgeschichte, das heißt durch eine historische Erzählung,
worin auch andere als die Person selbst - der Autor der Erzählung - auftreten.
Diese Erzählung soll zur Einheit gebracht werden, welche den höchsten Wen
im menschlichen Leben darstelh. 13
Sande I erachtet Rawls' sogenanntes "ungebundenes Selbst" für unreali-
stisch. Die menschl,iche Person ist gebunden, das heißt, sie hat Bindungen, die
für sie bestimmend sind. Niemand kann sich selbst begreifen, ohne die eigenen
Beziehungen und Bindungen an andere Personen und Institutionen zu berück-
sichtigen. 14 CharIes Taylor ist nicht weniger kritisch gegenüber der liberalen,
"atqmistischen" Konzeption der menschlichen Person als Macintyre und San4
del. ls Aber für seine Kritik ist es typisch zu betonen, daß Güter und Werte für
=in richtiges Versteh<;:n der menschlichen Person wichtig sind. Es ist irrefüh-
rend, die Mcnschen im Urzustand als neutralc Indjvidllcn zu beschreiben, de-
rcn ökonomische Rationalität sic in die Lage versctzt, aus cinem nicht beson-
ders reichhaltigen Angebot von Werten zu wählen. Das Leben von echten
Menschen ist von ihren grundsätzlichen Ansichten über die Werte des mensch-
lichen Lebens stark beeinnußt. Die sogenannten Wette des Lebens können
nicht einfach auf schlichte Vorlieben beschränkt werden. Es ist eher so, daß
die Lebenswene sich erst vor dem Hintergrund einer Horizont konstitutiver
Werte zeigen. Ein konstitutiver Wert - wie die Idee des Guten im PlatOnismus,
GOtt im christlichen Denken oder (als eine mehr immanente Version) die Ver 4
11 Ibid., S. 288.
IJ Siehe A. Maclntyre, Du Vtrlust du Tugtnd, Frankfurt a. t-.t 1987. insb. Kap. 15.
14 Siehe M. J.SandeI, Lib,ralis!ll and tbt Limits oJ Justiet, Cambridge 1982, S. 177-183.
IS C. Taylor. "Atomismus", in: B. van den Brink, W. van Reijen (Hrsg.), ßÜ'1,t'1,m/l-
schqft, Ruht lind Dt!llokmlit. Frankfurt a. M., 1995. S. 73-106.
76 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Wenn wir djese Frage beantwonen, müssen wir darauf achten, nicht einem
ebenso schlichten wie falschen und völlig irreführenden Argument auf den
Leim zu gehen. Es lautet; Masar)'k war kritisch gegenüber dem Liberalismus
seiner Zeit. Darum kann cr nicht als Liberaler angesehen werden. Aus djesem
Grund wird er eher ein Kommunitarist sein. Diese Argumentation ist allein
schon deshalb unzutreffend, weil der tschechische politische Liberalismus des
späten neunzehnten Jahrhunderts nicht dasselbe ist wie der anglo-amerikani-
sehe soziale Liberaljsmus des späten zwanzigsten JahrhundertS. Aber selbst
wenn es Ähnlichkeiten zwischen beiden Formen des Liberalismus gäbe, kann
n:iän daraus noch nichts über J\hsaryks Neigung zum Kommunitarismus
schließen. Um dieser Schlußfolgerung auch nur den Schein von Gültigkeit zu
geben, muß erst gekJärt werden, welche Kritik Masaryk an dem Liberalismus
seiner Zeit übte.
Masaryks wichtigster Kritikpunkt am Liberalismus seiner Zeit war dessen
Gleichgültigkeit gegenüber den religiösen Dimensionen des Lebens im allge-
meinen und der Politik im besonderen. Dies war ein wiederkehrendes Thema
in einer Reihe von Veröffentlichungen im letzten Jahrzehnt des neunzehnten
Jahrhunderts, in welchen Masaryk ein politisches Programm aufgrund seiner
besonderen Ansichten bezüglich der tschechischen Geschichte seit der Hussi-
tenbewegung entfaltete. 22 Masaryk hatte ein tiefgehendes Interesse an be-
stimmten Sinn fragen, wie zum Beispiel der Bedeutung der (tschechischen) Ge-
schichte und des menschlichen Lebens und - allgemeiner - an umfassenden
Theorien über das Leben und die Welt. Für ihn spielten Begriffe wie "Gott",
"Vorbestimmung" und "Ewigkeit" in diesem Forschungsgebiet eine wichtige
RoUe, welches das Interesse von allen Menschen verdient, die doch "sub specie
aeternitatis" leben. 23
Nun wäre es ein großer Fehler zu behaupten, daß heutige liberale Philoso-
phen an religiös beladenen Fragen, wie etwa der nach der Bedeutung und dem
Sinn des menschlichen Lebens und der Geschichte, kein Interesse hätten. Die·,
ser Vorwurf würde eher für den Neopositivismus zutreffen, der behauptet, daß
religiöse - und auch moralische - Äußerungen bedeutungslos seien. Anhänger
dieser Denkrichtung gehören jedoch zu einer früheren Generation. Diese
Mode ist in der Philosophie mittlerweile beinahe ausgestOrben, wenn sie nicht
sogar schon begraben ist. Jedenfalls ist ein Liberaler wie Rawls weder ein Neo-
positivist noch in rdjgiöser Hinsicht desinteressiert. Insofern scheint Masar ks
Kritik am tschechjschen Liberalismus nicht auf das moderne anglo':"artl~--nk:ani
sehe liberale Denken zuzutreffen, jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit..
Liberale haben jedoch - im Gegensatz zu Kommunitaristen - eine starke
Neigung, politische Philosophie von religiösen und metaph)'sischen Themen
22 Siehe z. B. T. G. Masar}'k, jan Hlis. Nase ObroZtni a Nase ~formoce, Oan I-Ius. Unsere
Renaissance und unsere Reformation) Prag 1923, S. 42 f., ders., CtJ!eo OMZleo/No5t
Nynejs; Krise, (Die tschechische Frage - Unsere hcudge Krise) Prag 1948, S. 118, 148.
23 Siehe für mehr Delails und Verweise: Van den ßeld, HHmonitJ, S. 29-37.
van den Beld, Der Philosoph Masaryk 79
frei zu halten. Rawls ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. 24 Eine zentrale
normative politische Frage - wie etwa: wie sollten die Grundzüge der Gesell-
schaft aussehen - geht jeden an. Es handelt sich dabei um eine öffentliche An-
gelegenheit und keine private. Aus diesem Grunde sollten diverse Themen, die
mit religiösen oder anderen umfassenden Anschauungen des Lebens zu tun
haben, bei der Behandlung von Fragen der politischen Philosophie keine Rolle
spielen. Sie gehören zum privaten, nicht zum öffentlichen Lebensbereich. Um
dies in der richtigen Perspektive zu sehen, sollte man natürlich beachten, daß
die liberale politische Philosophie aus den Zeiten der europäischen Religions-
kriege stammt. Das größte Problem war damals, wie Menschen mit verschiede-
nen religiösen Ansichten friedlich in einer Gesellschaft zusammenleben kön-
nen; oder - mit anderen \'(lonen - wie das Übel des Bürgerkrieges überwunden
werden könne.
Masaryks wichtigster Einwand gegen den Liberalismus seiner Zeit richtet
sich gegen den grundsätzlichen Ausschluß des religiösen Glaubens aus der
normativen, politischen Diskussion. Dieser Einwand würde durchaus auch auf
den heutigen politischen Liberalismus zutreffen. Normative politische Überle-
gungen sollten nicht unter Ausschluß von Antworten auf fundamentale Fragen
bezüglich der Bedeutung des menschlichen Lebens und der Welt angestellt
werden. Religiöse unclandere umfassende Weltanschauungen sind von direkter
politisch-philosophjscher Bedeurung.
Bringr diese Sicht der Dinge Masaryk den Kommunitaristen näher? Wir ha-
ben im vorigen Abschnitt gesehen, daß einer der Gründe, weshalb die Kom-
munitaristen die Grundzüge von Rawls' Gerechtigkeitskonzeption als unzu-
länglich ansehen, seine wenig gehaltvolJe Beschreibung der menschlichen Per-
son ist. Essentielle Eigcnschaften werden nicht berücksichtigt. Jetzt ist die ent-
scheidende Frage, ob für die Kommunitaristen Religiosität cine der wichtigen
Eigenschaften der menschlichen Person ist, die in normativcn politischen Dis4
kussionen nicht übersehen werden darf. Die Antwort auf unsere Frage hängt
davon ab, was Religiosität bedeuten soll. Wenn sie als eine mehr oder wen.iger
umfassende Lcbens- und Weltanschauung angesehen wird, die dem menschli-
chen Leben Richtung gibt, anstan als eine spezielle Religion, dann iSLeine be-
jahende Amwon nicht zu weit hergeholt. Man muß hier beachten, daß Taylors
konsfimtiven Werte so viel faltig sind wie PJatOns Idee des Guten, der Gott des
Christentums und - mehr immanent - die Verpflichtung durch die j\'lenschen-
rechte. Und auch MacJmyre gesteht ein, daß das TeloJ, das Gute eines mensch-
lichen Lebens, das in seiner narrativen Einheit besteht, für verschiedene Men-
schen recht unterschiedlich ausfallen kann. Wenn wir Religion und Religiosität
also in diesem weiten Sinne verstehen, kann wohl kaum geleugnet werden, daß
- zumindest für manche Kommunitaristen - Religiosität ein essentielles Merk-
mal der menschlichen Person ist. Religion in diesem Sinne sollte in normativen
politischen Diskussionen eine Rolle spielen. Vor einigen Jahren verteidigte f\'li·
chael Sande! diese Position ausdrücklich, während eines l-Iarvard-S)'TIlposiums
(an dem auch Rawls teilnahm) in einem Plädoyer für die Einbeziebung morali-
scher und religiöser Gesichtspunkte in politischen Diskussionen. 25 Es scheint
in diesem Punkt also einen Konsens zu geben zwischen den Kommunitarislcn
und r.·fasal)'k. Es ist jedoch noch eine offene Frage. ob sie über die geeignete
Rolle und Funktion sowie den geeigneten Inhalt der Religiosität in einer politi-
schen Diskussion ebenfaUs einer Meinung wären. Trotz der Umerschiedlich-
keit der Ansichten, die es in dieser Hinsicht unter Kommunitaristen gibt, kann
man wohl sagen, daß sie an Masar)'ks Seite stehen würden bei dessen starker
Ablehnung des Gebrauches von Religion in politischen Diskussionen als M.inel
zu unabhängig davon bestimmten Zwecken. 26 Auf der anderen Seite ist es, vor-
sichtig ausgedrückt, zweifelhaft, ob sie ihm in seinem - natürlich nicht seinem
•
einzigen - Argument für soziale Gerechtigkeit zustimmen würden. Dieses be-
sagt, daß menschlkhe, unsterbliche Seelen einander nicht gleichgültig gegen-
überstehen können: Sie sind Gleiche. 27
Es gibt noch ein anderes Gebiet, auf dem Masaryk und die Kommunitari-
sten übercinstimmen. Es iSt einer der Grundsätze des Kommunitarismus, daß
das menschliche Leben cssentiell in Gemeinschaften eingebettet ist und an ih-
nen teilnimmt; nicht zuletzt an der politischen Gcmeinschaft (dem Staat) mit
seiner besonderen Geschichte und Sprache. 28 Masaryk hätte keine Probleme,
diese grundlegende Ansicht zu tcilen. Tatsächlich hat er sie bereits sehr viel
früher vertreten. Seine Trilogie der neunziger Jahre - Culeß O/aZIuI (die Tschc-
chische Frage), fale nynljli KriJe (Unsere heutige Krise) und Jan HMJ - können
gut als eine Ausarbeitung dieser Ansicht in bezug auf die Situation der Donau-
monarchie angesehen werden. Masaryk zufolge ist die tschechische nationale
Identität ein Produkt der Hussitcn-Bewegung des funfzehmen und sechzehn-
ten Jahrhunderts, also das Werk von religiösen Leitcrn wie Jan Hus, Petr Chel-
cicky und Jan Amos Komensk)' (Comenius). Sie ist eher mit der populären
tschechischcn protestantischen Reformation als mit der von Habsburg er-
zwungenen römisch-katholischen Gegenreformation verbunden. Masaryks
Kampf für eine Dcmokratisierung des Staates und der Gesellschaft und - dem-
zufolge - für die Reform der Donaumonarchie kann am besten vor diesem
Hintergrund verstanden werden. 29
Es gibt jedoch ejnen wichtigen Punkt, in dem Masaryk sich von den Kom-
munitaristen unterscheidet. In den Reihen der letzteren kann ein unmißver-
ständlicher Hang zum Relativismus festgestellt werden. Dieser Anti-Un.iversa-
lismus ist oft mit ihrer Kritik am Gedankengut der Aufklärung verbunden wor-
den, wonach dje Vernunft dje Menschheit in ihrem Streben nach dem Wahren
und Guten vereinigen würde. Dieses Vorhaben erwies sich als eine U1usion.
Den Kommunitaristen zu folge härte es kaum anders sein können. da menschli-
che Personen unvermeidlich in verschiedene Gemeinschaften und Traditionen
eingebertet sind. Masaryk hingegen ist ein Universalisc. Obwohl er die Verbun-
denheit der Menschen mit ihren Institutionen und Traditionen erkanme, zog
er daraus keine relativistischen Schlüsse. Als er zum Beispiel in den achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Frage beschäftigt war. sprach sich
;"'lasaryk für eine Lösung "im Sinne unserer histOrischen, nationalen Ideale.
also im Sinne der Ideale der Menschheit" aus. Und in einer Veröffentlichung
für tschechische Arbeiter betOme er erneut, daß "ldJie Menschheit das Ziel
von uns allen ist: das Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geht
nicht nur uns, sondern aUe Menschen an [... ] Wir sind nur insofern besonders
als unsere Geschichte uns dies gelehet hat und wenn wir diesem Ideal am näch-
sten kamen."30 Also sollten Normen und Werte - ~hsaryk zufolge - universel-
le Gültigkeit haben.
In dieser Hinsicht ist er zweifellos, zu einem gewissen Grad, ein Vertreter
des Gedankenguts der Aufklärung; und er steht Kam und Ra:.vls Gedenfalls
dem Rawls der Theorie der Gerechtigkeit) näher als den Kommunitaristen. Es
gibt jedoch mehr über t\hsaf)'ks Universalismus zu sagen. Seine religiöse Fun- /,
dierung sollte hervorgehoben werden. Was letztendlich vom Postmodernisten
und Atheisten Nietzsche als eine platonische und christliche Illusion abgewie.
sen wutde,}1 akzeptierte dagegen sein Zeitgenosse Masaryk: daß Wahrheit so-
wohl in der Wissenschaft als auch in der Moral und der Religion gefunden wer-
den kann und daß diese Wahrheit in Gott fundiert ist. Moralnormen soUten,
Masaryk zu folge, nicht nur als menschlkhe Konventionen verstanden werden,
gebunden an eine Zeit und einen Ort und erfunden, um die menschliche Zu-
sammenarbeit zu erleichtern. Moralische Werte übersteigen die vergängliche,
empirische Welt. Moralische Normen und Werte sind in einer transzendenten
Realität verwurzele, die Masaryk ..GOtt" oder .. Ewigkeit" nenm.:n Mit dieser
Überzeugung übersteigt Masaryk die Antithese zwischen Liberalismus und
Kommunitarismus und schwimmt gegen den Strom des Modernismus und des
..!'ostmodernismus. Darum ist er mir jedoch nicht weniger lieb.
4. Schlußfolgerung
So kommen wir zu einer Schlußfolgerung. Unsere leitende Frage war: Wo zwi-
schen den Liberalen und den Kommunitaristen sollte Masaryk eingeordnet
werden? Die Antwort ist: auf keiner Seite. Unsere spezifischere Frage war: In-
wiefern können wir Masaryk als einen kommunitarischen Denker ansehen?
Hier lautet die Antwort: Es hängt davon ab. Wenn es um grundlegende norma-
tive politische Fragen geht, sollte man nicht von emscheidenclen Eigensch!1f-
ren der Menschen abstrahieren, wie zum Beispiel ihrer nationale Identität
(Sprache und Geschjchte) und Religiosität. Auf der anderen Seite unterscheidet
sich Masaryk von den Kommunitaristen durch seinen Universaljsmus. Hierin
kommt er dem Liberalismus näher, jedenfalls dem des jüngeren Rawls, wenn
wir über die religiöse Basis von Masaryks Universalismus hinwegsehen.
Bernd Stiegler
Die Berliner Kindbeil kann - auch in ihrer beharrlichen Umschreibung und Neu-
bestimmung - als ein Vcrsuch gelesen werden, solche Formen herauszubilden.
Meine Überlegungen zielen auf eine Bestimmung der Beziehungen zwischen
Texr und Bild im Zusammenhang der Thcorie des Gedächtnisses und der Ge-
schichte. In einem ersten Teil konzentriere ich mich auf erkenntnistheorcti-
\X'aher Benjamin, CtJ(lHll1ltlte Srhrijitn, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972 H. Im folgenden werden jeweils nur der Ti-
tel des z.itierten Textes, der Band der Guanln/tlltn Srhrijitn und die Seite angegeben,
z. B. hier: DlIs PassagtnlJ1erk, GS V, S. 596.
2 Btrlintr Kindhtit um NtunZthnhundtrt, GS IV, S. 256.
3 Berlintr Kindhtilul1l NtunZthnhundtrt. Fawmg Itlzltr Hllnd, GS VII, S. 385.
84 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
,
, Ebd.
, Berlin,r Nlfdhtit 11m Numz,h"hlmdtft. FawUll, le/Zler Hand, GS V1I, S. 385.
Ebd.
86 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
sich darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, wenn auch noch
so schleierhaft, die Linien des Kommenden wie Gipfelzüge sich abzeichnen"lO,
als Entsprechung zur Seite gestelJt. Das Gedächtnis zeichnet die Bilder der
Vergangenheit auf, die der Schreibende in die Ordnung der Schrift überträgt.
Auch er wird bestimmt als Medium der Aufzeichnung und Übertragung der
Bilder. Dem Gedächtnis und der Gegenwart des Schreibenden kommt es zu,
als Medien zugleich das Verlorene und das sich abzeichnende Kommende er-
scheinen zu lassen. Beide sind als Medien durch ihre Transparenz gekenn-
zeichnet. Die Dichte und das Erscheinen der Bilder der Vergangenheit und des
Kommenden sind bedingt durch die Transparenz dieser Medien, die, um den
Bildern Gestalt verleihen zu können, ihre eigene Gestalt verlieren müssen. Die
Übersetzung der unwiederbringlichen Vergangenheit und des erscheinenden
Kommenden erforden ein Zurückrreten der Formen des Gedächtnisses und
des Schreibenden, der somit seine Individualität zugunsten einer Übertra-
gungsform verliert.
Zugleich ergibt sich eine weitere Übersetzungsaufgabe: Das Gedächtnis und
die Gegenwan des Schreibenden müssen eine individuelle Erfahrung in eine
allgemeine übersetzen. Nur so kann sich spätere geschichtliche Erfahrung prä~
formieren, nur so können ihre Formen prä figuriert werden. Gedächtnis und
Gegenwan des Schreibenden sind Übertragungsmedien im doppehen WOrt-
sinn: Sie vollziehen komplexe Übersetzungsoperationen (so z. B. von der Ver-
gangenheit in die Zukunft, der individuellen Erfahrung zur allgemeinen) in der
Übertragung von Bildern.
Das Gedächtnis und die Gegenwart des Schreibenden werden beide als Me~
dien bestimmt und stellen die beiden entscheidenden Elemente der Theorie
der Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit dar. Als techni-
sches Medium entspricht dem Gedächtnis die Phowgraphie, während der
Schreibende die Ordnung der Bilder in die der Schrift überträgt. Die Theorie
der Erinnerung wird in der Berliner Kindbeil nicht nur in Analogie zur Phowgra-
phie entwickelt, sondern kann auch als Interpretation der Photographie gele-
sen werden. Somit ergibt sich ein unmittelbarer Zusammenhang mit anderen
Texten, wie z. B. dem Kunstwerk-Aufsatz, dem Passngenu1erk oder der Kleinen
Guchicble der Pholograpbie. Wenn Benjamin im Kunstwerk-Aufsat:t. feststelh, daß
die technische Reproduktion "um neunzehnhundert einen Standard erreicht,
auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ih-
rem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu un-
terwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen
Verfahrungsweisen eroberte"l1, so gilt djes auch für die Berliner Kindheil Ud!
Ntunzebnbunderl. Die von Benjamin konstatierte Rückwirkung der Reprodukti-
onstechnik auf die Kunstwerke und der zunehmende "Sinn für das Gleicharti~
ge"12 prägt die Konstruktion des Textes und seine zentralen erkenntnistheore-
tischen und poetologischen Kategorien.
Es gilt, die Erinnerung als photographische Belichtung mitsamt ihten In-
Strumenten und Gesetzen noch genauer zu bestimmen. Benjamin bezeichnet in
der Berliner Chronik das Gedächtnis als "Platte des Erinnerns"13 und vergleicht
die Zeit des Lebens mit der Belichtungsdauer. Die Bilder des Gedächtnisses
gleichen Photographien, welche die "Platte des Erinnerns" festgehalten hat.
Das Gedächtnis als "Schauplatz der Erkundung der Vergangenheit" ist nicht
nur eine Art Phoroalbum, das die Bilder der Vergangenheit sammelt, sondern
auch der Apparat, der sie aufzeichnet. Das Ich bzw. die Gegenwart des
Schreibenden als zweites Element der Mediemheorie der Erinnerung weist
ebenfalls diese Doppelstruktur auf. Das Ich des Schreibenden ist nicht nur für
die Belichtung der Bilder erforderlich, sondern leistet zudem ihre Übertragung
und wechselseitige Übersetzung in die Ordnung der Schrift. Das Gedächtnis
und die Gegenwart des Schreibenden sind die beiden korrespondierenden Mo-
mente in der Erinnerungsmaschine als Photographie. Das Gedächtnis ist die
Platte, die durch das Ich des Schreibenden in der Verschriftlichung der Bilder
in spezifischer Weise belichtet wird. Für die Belichtung der Platten des Erin-
nerns ist allerdings nicht die Dauer, sondern die Intensität des Lichts entschei~
dend. Die Bilder sind wie Photographien notwendig aus ihrem Zusammenhang
gerissen, sind Momentaufnahmen, festgehaltene Augenblicke, die ihre Bedeu-
tung gerade durch die Fragmentarisierung und Zerstörung des Kontextes der
Gewohnheit gewinnen. Benjamin beschreibt die
Fälle, wo die Dämmerung der Gewohnheit der Plane jahrelang das nötige Licht ver-
sagt, bis dieses eines Tages aus fremden Quellen wie aus entzündetem Magnesium-
pulver aufschießt und nun im Bilde einer Momentaufnahme den Raum auf die Plane
bannt. 14
Im Mittelpunkte dieser seltnen Bilder aber slehen stets wir selbst. Und das ist nicht
so rätselhaft, weil solche Augenblicke plötzlicher Belichtung gleichzeitig Augenblik-
ke des Außer-Uns-Seins sind und während unser waches, gewohntes, taggerechtcs
Ich sich handelnd oder leidend ins Geschehen mischt, ruht unser tieferes an anderer
Stelle und wird vom Chock betroffen wie das Häufchen ~hgnesiumpulver von der
Slreichholzflamme. IS
Die Bilder werden 50 In doppelter Hinsicht entwickelt: Durch das Opfer des
Ich in seiner aufglühenden Erscheinung werden die Bilder aufgezeichnet, in
der Schriftordnung der Erzählung werden sie entfaltet. Die Belichtung der
photographischen Gedächtnisplaue bedarf der Suspendierung des gewohnten
Ichs und der Belichtung durch das tiefere verborgene. Dieses tiefere Ich wird
abe,r zugleich durch bestimmte Eindrücke überhaupt erSt wahrnehmbar und
aktiv, allerdings nur, um sich in der Belichtung des Erinnerungsbildes zugleich
aufzulösen und in ihnen zu verschwinden. Es ist nur in diesem flüchtigen Mo-
ment. Das blitzhafte Erscheinen des tieferen Ichs oder, um eine Formulierung
des Surrealismus-Aufsatzes aufzunehmen, diese "Lockerung des Ich"16 belich-
tet wie ein Magnesiumblitz dje Bilder des Gedächtnisses, die dann, gleich Pho-
tographien, in der Betrachtung der Sammlung wieder erscheinen. Die Theorie
des Gedächtnisses bestimmt die ..profane Erleuchtung"l7 als photographische
Belichtung. Gedächtnisbilder haben dank dieses Eingehens des Ich ins Bild im
Akt der Belichtung die Fähigkeit, die Wahrnehmung zu verändern. Die Ekstase
des Ich im Chock belichtet in ihrer radikalen Punktualität, der blitzhaften Er-
kenntnis des erscheinend verschwindenden tieferen Ich dauerhafte Bilder des
Gedächtnjsses, in denen das Ich, das im Moment der Belichtung sich von ei-
nem Subjekt in ein aufgezeichnetes Objekt verwandelt, wie ein Gespenst den
Dingen anverwandelt erscheint. Auch das tiefere Ich ist nur im blitzhaften f..'to-
ment dieser verwandelnden Beljchtung festwhahen. "So, als ein im Jetzt der
Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten",lB heißt es im
Possogenwerk.
Die Bilder der Btrlintr Kindhtit zeichnen das Verschwinden des Ich in den
Bildern auf, sie sind Bilder des Verschwindens im Bild. Die Geschichte des
chinesischen Malers, der in seinem Bild verschwindet, ist ihr Sinnbild.
Ein Park war darauf dargesldh, ein schmaler Weg am \'(fasser und durch einen
Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Ein-
laß bol. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in
dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr srill, kehrte
sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spah. 19
15 Ebd.
16 DtrSiima/isHulJ, GS 11, S. 297.
17 Ebd.
t8 Das POJJogmwtrk, es v, 592.
19 Berlintr Kindhtit Nm NtNnzehnhNlldtrt, es IV, S. 262 f.
Sliegler, Profane Erleuchtung als photographische Belichtung 89
Im Kunstwcrk~Aufsatz
wird diese Geschichte mit der Theorie der Sammlung
in Verbindung gebracht. Der chinesische Maler ist Sinnbild der Betrachtung
als Sammlung:
Der vor dem Kunsl\.verk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses
Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines
vollendeten Bildes erzählt.2(I
Die Brr/inrr Kindheit Nm NrNnzrbnhNndtrt ist eine Sammlung von Gedächrnisbil-
dern, die eine Sammlung in der Situation der Zerstreuung ermöglichen sollen.
Der Augenblick der Belichtung, der Zerstörung der Gewohnheit und der Ent~
deckung des tieferen Ich stiftet einen Zusammenhang, der nicht in der Form
einer Dauer oder Linearität, sondern in der Eröffnung eines Raumes der Kor-
respondenzen und Ähnlichkeiten gedacht wird. Das Gedächtnis ist ein Samm-
ler der Bilder, die ihrerseits die Erinnerungen versammeJn. Der im Lesen oder
Betrachten sich Sammelnde geht in die Bilder ein und vollzieht eben jene Be-
wegung, die der BeUchtung zugrunde gelegen hatte. Erinnerungsbilder kon-
zentrieren Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen und ermöglichen
rückblickend die Übersetzung von Zeit und Raum. "Im Sosein jener längstver-
gangnen Minute", schreibt Benjamin in der Kltinrn Curhichte der Pbotographir
über die Daguerrotypien, "nistet das Künftige noch heut und so beredt, daß
wir, rückblickend, es entdecken können.,,21
Die Erinnerung und das Gedächtnis werden in Kategorien der Wahrneh-
mung bestimmt. Erinnerung und Gedächtnis sind Wahrnehmungsphänomene,
Erscheinungen einer besonderen Wahrnehmung, die das Ich in das "Univer-
sum der Verschränkung"22 übersetzt. Die blitzhafte Erkenntnis des tieferen
Ich und sein magnesiumgleiches Verglühen in der chockhaften Wahrnehmung,
die allein dauerhafte Gedächtnisbilder zu produzieren vermag, führt zu seinem
bildgewordenen Verschwinden.
Dies Opfer unseres tiefsten Ichs im Chock ist es, dem unsere Erinnerung ihre unzer-
störbarsten Bilder zu verdanken hat. 23
Die Erinnerung wandelt durch das Schattenreich des Vergangcnen, um ein~
zeine Bilder festzuhalten, in denen sich eine Erfahrung konzentr:iert, die, ob-
wohl sie sich von der Zeit als Ablauf und Fluß des Lebens radikal absetzt, ge~
schiehrlich ist. Phowgraphien suspendieren die lineare Ordnung der Geschich-
te, eröffnen aber dennoch eine geschichrliche Beziehung, die sich der Ordnung
der Bilder verdankt und durch sie gestiftet wird. An die Stelle des Ablaufes der
Zeit oder desjenigen, "was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht",24 tritt die
Ordnung des Raumes, der Augenblicke und des Unstetigen. An die Stelle der
Aurobiographie, der Schrift des eigenen Lebens, treten die Übertragungen der
Lichtschrift der Bilder.
Roland Barthes versucht in seinem Buch Die helle Kaf!"l/tr die Geschichdich~
keit der PhotOgraphie durch einen Epikurä..ismus des Erinnerungsbildes und
der Wahrnehmung zu bestimmen. Dort heißt es:
Die Pholographie ist wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von ei·
nem realen Objekt, das einmal war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen,
der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die PholOgraphie des ver-
schwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine An Nabel-
schnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mil meinem Blick:
das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die
ic.h mit diesen, oder jenen teile, die einmal photOgraphiert worden sind. 2!>
Die Photographie stellt für den Blick durch das Licht eine körperliche Bezie-
hung ohne Körper und einen Zusammenhang ohne geschichtliche Kontinuität
her. Sie bildet eine An technische Lichthaut des Dargestellten, die auch der
Betrachter wahrnehmen kann und die so zu seiner eigenen wird. Die Abwesen-
heit des Referenten und seine historische Unwiederbringlichkeit werden cr~
setzt durch sein körperloses körperliches Bild. Die Phorographie ist das Me-
dium eines Übersetzungsvorganges: Die phorographische Plane wird belichtet
durch das vom Dargestellten ausgehende Licht, das der Betrachter nun seiner-
seits empfangt. Benjamin notiert im PaS.fagmu1erk eine Bemerkung aus dem COJI-
sin Pons von Balzac, die diese Übertragung der Phorographie mit der Überset-
zung der Ideen assoziert:
Ainsi, de meme que les corps se projeucnt reellemcnt dans l'atmosphere cn y laissant
subsister ce speclrc saisi par le dagucrri:otype qui I'arrete au passage; de meme, !es
idees [... 1 s'impriment dans ce qu'il faUl nommer I'atmosphere du monde spirituel
[... ], y vivent spectralemenl [... ), CI des lors cenaines creatures douees de facuhes
rares peuvent parfaitement apercevoir ces formes ou ces traces d'idees. 26
gchören, nicht in der An genereller sondern jener, die nach der Lehre des Epikur
aus den Dingen ständig sich absondern und unsere Wahrnehmung von ihnen bedin-
gen. 28
Die Bilder der Berliner Kindheit gehören dem 19. Jahrhundert in einer beson-
deren Weise an: Sie gehen aus ihm hervor und bedingen gleichzeitig seine
Wahrnehmung oder, anders formuliert, sie stehen auf der SchwelJe zu einem
Raum, aus dem sie stammen und den sie zugleich eröffnen. In der Berliner ClJro-
niA? vergleicht Benjamin PholOgraphien mit Bahnhöfen. Beide sind bereits
technisch überholt: An die StelJe des Bahnhofs sind die Straßen und dje Autos,
an die der Photographien der Film getreten. Die Photographien sind ein über-
kommenes technisches Medium, deren Wahrnehmungsmöglichkeiten nur noch
einige wenige Dinge entsprechen. Der Film, so Benjamin, trägt dem "heutigen,
fließenden, funktionalen Dasein,,29 eher Rechnung, verfehh jedoch die histori-
sche und räumliche Schwellensituation zu Beginn des Jahrhunderts, die die der
Berliner KindlJeit ist. Phowgraphien und Bahnhöfe sind Eingänge in die Stadt
und die Topologik des Textes; sie stehen auf der SchweBe, wo das Weichbild
der Außenviertel 30 in den Stadtraum übergeht, wo sich Außenbild in Innenbild
verwandelt.
Das Motiv der Schwelle konzentriert in der Berliner Chronik die verschiede-
nen Dimensionen der gefordenen Übersetzungsleistung: die Schwelle des Jahr-
hunderts, zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Weichbild und Stadt-
raum, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen histOrischer Unwieder-
bringlichkeit und Prä figuration späterer geschichtlicher Erfahrung. Die bei den
der Ponrätphowgraphie gewidmeten Passagen in der zweiten Fassung der Ber-
liner Kindheit und im Kafka4Aufsatz bzw. in leicht abgewandelter Form in der
Kleinen Geschichte der Photographie verbinden diese historische und wahrneh-
mungstheoretische Schwellensituation mit einer Bestimmung des Bildes als
Medium der Übersetzung.
28 Ebd .• S. 489.
19 Ebd., S. 470.
30 Vgl. auch Braunschweig-Myslowitz-r\'larseille.
92 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
senktet Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Bü-
schel von Pleureusen birgt, die sich in einem Gartentisch ergießen. Ganz abseits,
neben der Portiere, srand die ~Iutler Starr, in einer engen Taille. Wie eine Schneider-
figurine blickt sie auf meinen Samtanwg, der seinerseits mit Posamenten überladen
und von einem Modeblatt zu stammen scheint. Ich aber bin emstellt vor Ähnlichkeit
mit allem, was hier um mich isl. Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel haust
im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. leh
halte sie ans Ohr. 31
Die Ähnlichkeit mit den Dingen steht der Ähnlichkeit mit dem eigenen Bild
entgegen. Die Ral..1osigkeit, "wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst verlangte"32,
ist das Gegenstück zu der in der Sprache aufblitzenden Ähnlichkeit, die "die
Wege, die in (das) Innere [der Welt] fühnen"33, aufweist. Durch das Mißverste-
hen des Kinderliedes und die Gespensrwerdung der Muhme Rählen in die
überall erscheinende Mummerehlen werden für das Kind und den Erinnernden
unter der Bedeuwngsoberfläche- der Sprache liegende Ähnlichkeiten zwiscben
den Dingen wahrnehmbar und - in der verschrifdichenden Erinnerung - auch
die Assoziation von Texten möglich. Der Text nimmt die Unterscheidung zwi-
schen Oberfläche und Tiefe, der wir in der Bestimmung des Gedächtnisses als
photOgraphisches Verfahren bereits begegnet sind, wieder auf. Um in die Tiefe
zu gelangen, muß nicht nur die Gewohnheit durchbrachen, sondern auch die
Bedeutung zerbrochen werden.
Die Muhme wird zur Mumme, zur Maske oder Verkleidung, in die sich der
Betrachtende mummeln kann. Die Mumme wird ihrerseits zum Mummeln, das
heißt zum undeutlichen Reden, das seinerseits das Mummeln als das Sich-in-et-
was-Einhüllen gestattet. Die Mummerehlen kann als Gespenst immer neue Er-
scheinungen annehmen, im "Affen, welcher auf dem Tellergrund im Dunst
von Graupen oder Sago schwamm,,]4 oder im Mummelsee erscheinen oder zu-
mindest vermutet werden. Die Mummerehlen als Sinnbild der Erscheinung der
Ähnlichkeiten vermummt den Wahrnehmenden und übersetzt ihn in die Über-
tragungen dieser Medien. Das Verschwinden im Bild im opfernden Aufblitzen
des tieferen Ich und das Sich-in-die-Dinge-Hüllen dank der in der Sprache auf4
blitzenden Ähnlichkeiten sind miteinander verbunden. Auch das Kinderbild
verhüllt den Dargestellten, der zugleich Betrachter ist, und eröffnet ein Feld
von Ähnlichkeiten und Übersetzungen.
Die Zusammenhänge, die hier als Erscheinungen der gespenstischen Gestalt
der Mummerehlen beschrieben werden, erscheinen, wie der in Fortführung des
Abschnütes Die MU"'"ltreMtn entstandene Aufsatz Ober daJ ",j",etiJrbe Ver"'iigen
formuliert, blitzartig. Text und Schrift der Berliner Kindbtit als Beschriftung der
photOgraphischen Erinnerungsbilder werden zum
31 Berliner Kindheit um NeunzehnhHndert, GS IV, S. 261. Vgl. auch die frühere Fassung der
Beschreibung der Photographie, die den Titel "Die Lampe" trägt.
32 Ebd.
33 Ebd.
J4 Ebd., S. 262.
Stiegler, Profane Erleuchtung als photographische Belichtung 93
Fundus, in dem [... , sich das Vexierbild formen kann. So ist der Sinnzusammen-
hang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig Ähn-
liches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann. 3S
Die Bilder des Gedächtnisses sind nicht nur wesentlich doppeldeutig, sondern
gest:luen zudem die Verbindung und den Austausch einzelner Elemente. Die
vom Gedächtnis aufgezeichneten Bilder erweisen sich als abkünftig von einer
fundamentalen Verschränkung von Bild und Sprache, von wahrnehmendem
Ich und wahrgenommenen Dingen. Die Bilder des Eingehens des Ich in die
wahrgenommene Weh sind die Bedingung der ?'Iöglichkeit des Erscheinens
und Belichtens der Gedächmisbilder.
Der Abschniu über das Kinderbild Benjamins hat das mit dem Gedächtnis
verbundene technische Medium selber zum Gegenstand. Die photographische
Erinnerungsmaschine zeichnet ihrerseits eine Photographie auf.
Die Beschreibung der Photographie, ihre Beschriftung vollzieht eine dop-
pelte Bewegung; einerseits rückt sie das eigene Bild des tieferen Ich, das nicht
in die Erscheinung eingehen kann, da es nicht mit sich selbst ähnlich werden
kann, von der vermeintlich norwendigen Ähnljchkeit mir der PhotOgraphie ab,
andererseits macht sie das "Hineinwachsen ins Bild", die Entstellung durch
Ähnlichkeit wahrnehmbar.
Die Beschreibung vollzieht die Rekonstruktion von Blickräumen: des Blik-
kes auf das bereits fertige Bild, das aus dem Boudoir oder der Folterkammer
hervorgegangen ist; den Blick zur Muuer am Rande der Tür, auf der Schwelle
zum Raum, die ihrerseits auf den Posierenden schaut; den Blick auf die histori-
sche SchweUensiruation und die nun leere, unbewohnte, verlassene Muschel
des neunzehnten Jahrhunderts. All diese Blickräume sind njcht nur durch das
Exil der histOrischen Unwiederbringlichkeit gezeichnet, sondern auch geprägt
durch das bereits vollzogene Verschwinden des Ich, das nun, in den Erinne-
rungsbildern, verwandelt in die Erscheinung triu.
Das Bild des neunzehnten Jahrhunderts und die PhotOgraphie bleiben als
Lccrbilder zurück, als Weichbilder, die ihrerseits einen anderen Zugang erfor-
dern. Die Porträtphorographie zeichnet das Bild des gewohnren, taggerechtcn
Ich auf; die Beschriftung der Phorographie durch die Erzählung, das heißt die
Übersetzung der durch das Opfer des tieferen Ich beljchteten Bilder in den
Zusammenhang eines Textes, zeichnet das Verschwinden im Bildraum nach.
Auch in der Erinnerung an das Kinderbild erscheint das Motiv des Opfers.
Das Schattenreich des Photographen, der nach dem Bild giert, wird zu den my-
thologischen "Scharren des Hades, (die] nach dem Blut des Opfertieres"36 dür-
sten. Die Unterlcgung der Erinnerungsbilder durch zahlreiche Mythologeme,
die vor allem in den späteren Fassungen des Textes deutlicher ans Licht treten,
ist auch für die Phorographic zentral. Die Photographie steht in der Tradition
Diese Beschreibung entspricht in nuce dem Verfahren der Berliner Kindbeit. Die
Auflösung der Lebensbilder und das Entstehen neuer gehorchr einer Logik der
Übersetzung der verschiedenen Bildebenen, die auf eine Sprachtheorie zurück-
geht. Bilder, und zu ihnen gehön auch das der PholOgraphie, gehen nicht der
Sprache voran, sondern gehen aus ihr hervor. Das Gedächtnis der Platte des
Erinnerns zeichner Bilder auf, die den Austausch des Dargestellten ermögli-
chen. Die Medien der Übenragung sind f>.'ledien der Übersetzung ihrer Inhalte.
Das Kinderbild von Kafka, das Benjamin im Kafka-Aufsatz beschreibt, wird
auch lesbar als Transformation des Kinderbildes Benjamins. Benjamin als Kaf-
ka und Kafka als Benjamin erscheinen als Vexierbild der Photographie des Ge-
dächtnisses in der Berliner Kindbeil I,", NeHnzehnbHndert.
Theodor W. Adorno bemerkte, ohne um die Doppelbelichtung des Bildes
zu wissen, in einem Brief vom Dezember 1934, den Benjamin in seinen Noti-
zen zur Überarbeitung des Kafka-Aufsatzes kopiene, daß es ..kein Zufall lsei],
daß von den Anekdoten eine: nämlich Kafkas Kinderbild ohne Auslegung
bleibt. Dessen Auslegung wäre aber einer Neutralisierung des Weltalters im
Blitzlicht äquivalenr."38 Der Text der Berliner Kindheit versucht diese Neutrali-
sierung im Blitzlicht des Gedächtnisses. Auch in ihm fehlt dem Kinderbild der
entscheidende Kommcntar, der erst in der Übersctzung in Gestalt des Bildes
Kafkas crscheint.
Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die "arme kurze Kindheit" ergreifender
Bild geworden. Es Stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhun-
derts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig
zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. rDie Fassung der .,Kleinen Ge-
schichte der Photographie" fügt hinzu: "zwischen Exekution und Repräsentation",}9
ß. S.I Da Stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten über-
ladenen Kinderanzug der ungefahr sechsjährige Knabe in einer Art von Winterland-
schaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten
Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken ei-
nen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich
traurige Augen beherrschen die ihnen vorbeslimmle Landschaft, in die die Muschel
eines großen Ohrs hineinhorcht. 40
Repräsentationen, so stipuliere ich, sind Dinge, die durch ihre eigene Anwe-
senheit das Abwesende anwesend machen. Für die politische Philosophie ha-
ben sie die Funktion eines Scharniers. Und dabei brauchen wir nicht nur an
demokratische Repräsentation zu denken. Frank Ankersmit zu folge ist das
Thema der Repräsentation primär. l Es geht ihm jedoch nicht um die
epistemologische Frage nach der Richtigkeit der Repräsentationen, sondern
um das "ästhetische" Argument, dem zu folge die Repräsentation den Willen
des Volkes nicht nur spiegelt, sondern vor allem auch formt. Anne Phillips
unterscheidet die politische Repräsentation mittels Ideen von der mittels An-
wesenheit. 2 Können die Imeressen der Gruppen mit Propositionen ausge-
drückt, paraphrasiert werden, oder sind sie so einmalig, daß sie von tvlenschen,
die diese Interessen teilen, vertreten werden müssen? Can white men play (he
blues? Die Frage, ob die Philosophie Maßstäbe für die praktische Politik geben
kann, wird möglicherweise ein wenig zu früh gestellt. Dieser Frage müßte eine
ästhetische Erläuterung der Repräsentation vorangehen, die die Phänomenolo-
gie unserer Erfahrung der Repräsemation berücksichtigt. Eine Repräsemation
steht in Beziehung zum repräsentierten Abwesenden, aber in erSter Linie auch
immer - durch ihre eigene Präsenz, ihren Stil - zum Beobachter, für den sie
anwesend ist.
Diese Phänomenologie wurde im vorigen Jahrhundert mit zwei brauchbaren
Metaphern beschrieben; mit Metaphern, die in der analytischen Tradition kei-
ne promineme Rolle gespielt haben. Ich ziele hier auf den Aura-Begriff von
Walter Benjamin und auf Jacques Lacans Konzept vom Spiegelstadium. Beide
Metaphern beziehen sich auf die An- und Abwesenheit des Wahrgenommenen,
und von beiden werde ich zeigen, daß sie versuchen, etwas über die Grenzen
unseres Begriffs der Repräsentation zu sagen. Dies werde ich mit I-lilfe der
analytischen Ästhetik tun. Ich werde Gregory Curries Reaktion auf Roger
Scrutons These verwenden, die besagt, daß Phows sich wie Spiegel verhalten
und daß sie sogar mit Pornographie vergljchen werden können, da sie unser
Verlangen nach direktem Kontakt mit dem Repräsentierten befriedigen. Ich
beginne bei Scruton.
F. Ankersmil, Antht/;( Poli/ia: Poli/i((/I Philosophy ßqond F(/t/ ,md V (/hu, Stanford 1996.
2 A. Phillips... Dealing with Differencc: A Politics of Ideas or a Politics of Prcsencc?",
in: Goodin und Peni, (ed.), Confrmpomry Po/i/im/ Phi/osophy. An An/h%gy, Oxford
1997, S. 174-184.
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens 97
Scrutons Spiegel
Roger Scruton meint, daß ideale Photos - Photos als Photos - keine Kunst
sind, da sie in der Behandlung ihres Materials keine Ansicht bezüglich des Re·
präsentierten zeigen können.) Das können sie nicht, da sie - im Gegensatz zu
Gemälden - nicht Schritt für Schritt aufgebaut werden. Bei einem Gemälde, so
Scruton, muß der Künstler immer wieder Abwägungen machen beim Aufbau
seines Gemäldes, und darin wird sich seine Sicht des Dargestellten offenbaren
GedenfaUs wenn er "gut" ist).4 Dieses Argument ist in der heutigen Situation
entscheidend und daher auch für Benjamins Aufsatz über das Kunstwerk. 5 Im
Gegensatz zu Gemälden werden Photos mit einem einzigen Druck auf den
Knopf gemacht und dann mittels eines streng kausalen chemischen Prozesses
entwickelt und abgezogen bis zum Endresultal. Das gibt den PhotOS ihre Be-
weiskraft: was wir auf einem Photo sehen, hat es gegeben (ob etwas genau so
war, wie es auf dem Photo aussieht, ist eine andere Frage). Außerdem erkJärt
dieses Verfahren die genaue Übereinstimmung des Photos mit dem Abgebilde-
ten, was Scruton dazu bringt, Photos eher mit Fenstern oder Spiegeln als mit
Gemälden zu vergleichen. Ob man nun an einem Fenster steht oder ein PhotO
von der Aussicht aus dem Fenster anschaut, das genauso groß wie das Fenster
ist, man sieht - sofern sich vor dem Fenster nichts bewegt - keine Unterschie-
de. Dies wäre anders, wenn man nicht ein Photo, sondern ein Gemälde an-
schauen würde. Tatsächlich repräsentiert ein PhotO ein Geschehen tl1 dtloif. die
Dinge, die nebeneinander stehen, nebeneinander, die Farben identisch usw.
Die Verführung, Scruton zuzustimmen, ist groß.
Dieser Verführung muß man jedoch widerstehen, meint Gregory Currie in
seinem Buch InJogt ond Mind. 6 PhotOS sind nicht mit Fenstern und Spiegeln zu
vergleichen, und dies kann einfach an hand von Scrutons Beispiel gezeigt wer-
den. Man stelle sich das Fenster und das identische PhotO vor und trete einen
Schritt nach links. Das Photo wird sich nicht ändern, aber die Aussicht aus
dem Fenster um so mehr: Im Blickfeld links verschwindet z. B. ein Baum aus
der Sicht, und rechts erscheint ein Fahrrad. Ein Photo ist eine Repräsentation,
ein Ding. Ein Ausblick aus dem Fenster ist keine Repräsentation, sondern eine
Wahrnehmung. Der Unterschied ist, Currie zufolge, daß Wahrnehmung ego-
zentrisch ist: in einer Wahrnehmung ist der wahrnehmende Körper das - meist
nicht reflektierte - Zentrum der Wahrnehmung. Bei einer Abbildung ist der
wahrnehmende Körper nicht das Zentrum, was deutlich wird, wenn wir diesen
Schritt zur Seite treten und merken, daß sich im Abgebildeten nichts ändere
Was wir in einer Abbildung sehen, sehen wir nicht egozcntrisch. 7 Das Photo
ist hier und jetzt anwesend, aber was es abbildet, ist an einem anderen Platz zu
einer anderen Zeit: abwesend. Was wir durch ein Fenster sehen, ist verbunden
mit dem Hier und Jetzt des Wahrnehmenden, und so ist es auch mit Spiegeln.
Auch Spiegel haben eine andere (phänomeno-)Logik als Repräsentationen.
Aber bei Spiegeln passiert erwas Merkwürdiges: man sieht darin etwas, das man
auch schon auf eine andere Art kennt.
Lacans Spiegel
Jacques Lacan hielt am 17.Juli 1949 in Zürich seinen klassischen Vortrag über
das sogenannte Spiegclsradium. 8 Ein Kind von einem halben Jahr kann im
Spiegel sein eigenes Bild erkennen. Bei einem Affen würde es bei diesem Er-
kennen bleiben, aber das Kind begreift, daß das Bild manipuliert werden kann,
weil es leer ist, und fangt an, Gebärden zu machen. Dadurch bekommt es Ein-
sicht in die Beziehung zwischen sich selbst und dem Bild und zwischen seinem
Körper und den Objekten und Körpern, mit denen es sich durch den Spiegel
umgeben weiß. Das Kind kann noch nicht laufen, aber bewegt den Kopf nach
vorne und bemerkt den vergänglichen Aspekt des Bildes. Abgesehen von der
Frage, ob diese spiegelbildliche Identifizierung die Schablone für spätere sozia-
le Identifizierungen bildet, will Lacan vor allem festhahen, daß das Ego hier
eine fiktive Richtung einschlägt, wie sehr wir später auch vor allem mittels so-
zialer Prozesse mit unserer eigenen Wirklichkeit ins reine kommen. Lacan er-
klärt:
"Die tOtale Form des Körpers l... J ist ihm nur als ,Gestalt' gegeben, in ei-
nem Außerhalb [... 1 wo sie ihm aber als Relief in Lebensgröße erscheint, das
sie erStarren läßt, und einer Symmetrie unterworfen wird, die ihre Seiten ver-
kehrt - und dies im Gegensatz zu der Bewegungsfülle, mit der es sie auszustat-
ren meint." OL, 64).
Aber was will uns Lacan damit eigentlich genau sagen? Was ist eine Gestalt
(in diesem oder einem anderen Zusammenhang)? Was bedeutet "als Relief in
lebensgröße" ("relief de stawre'')? Und vor alJem: Warum bringt der Spiegel
das Ego auf eine fiktive Spur? Ein Spiegelbild suggeriert tatsächlich eine eigen-
tümljcbe Imitation des Ichs. Eine Abbildung, die anderen Menschen zwar äh·
nelt - die "ein Mensch da draußen" ist -, die aber nicht wie wirkJjche Men-
schen einen eigenen Willen besitzt und diesen entsprechend auch nicht durch
die WiUkürlichkeit ihrer Reaktionen unter Beweis Stelle. Das Kind muß die
Geistigkeit seines eigenen Spiegelbildes darum analogisch "konstruieren". Es
erlebt sich selbst nämlich nicht "dort", sondern "hier". Ich glaube, daß das
Kind bei dieser Konsr.ruktionsleistung keinen Erfolg haben wird, wenn es
nichr bereits imstande ist, eine Empathie mit wirklichen Personen zu erfahren.
Daß das Kind diese Konstruktion über Analogien entwickeln muß, macht das
Spiegelstadium so merkwürdig.
Lacans Gedanke, daß der Spiegel das Bild fixiert, überzeugt iedoch nicht.
Daß das Spiegelbild das Bild des Subjekts symmetrisch umdreht, ist evident
und nur in einem schwachen Sinn eine Verfremdung. Wer einem Kind deutlich
machen will, daß es Essensreste auf seiner linken Wange hat, kann am beseen
auf seine eigene rech tC Wange weisen - so geräuschlos verdiskontiert das Kind
die horizontale symmetrische Umkehrung. Bei einem Spiegel tut es dies, indem
es gestikuliert und sein Spiegelbild synchron genau die gleichen Bewegungen
machen sicht: diese Bewegungen sind es, die das Erleben des Spiegelstadiums
erst ermöglichen. Bewegung und Fixierung widersprechen einander jedoch -
siehe Sermons Photo neben dem Fenster. Der Theoretiker könnte nach Wahl
das Fixieren des Spiegels mit der Art und Weise vergleichen, in der ein Film
Bilder auf dem Bildschirm fixiert. Dann würde er aber falschlicherweise einen
Anachronismus verwenden, denn das Kind versteht das Konzept des Film-
bildes sicherlich noch nicht - genausowenig wie die ersten Kinobesucher, die
in L'Arrivte d'lIn train J La Ciotat (Auguste und Louis Lumiere, 1895) aus Angst,
von dem Zug überfahren zu werden, aus dem Saal ranmen. Auch sie konmen
sich noch keine Vorstellung von dem Begriff "Film" machen. Kann man viel·
leicht vom Spiegelbild sagen, daß es das Original fixjert, wie es auch drej Di-
mensionen auf zwei zu reduzieren scheim? Wer dies jedoch tut und dje Reduk-
tion der Dimensionen als eine Fixierung des Bildes ansieht, sieht sich mit dem
Argument von Currie konfrontiert.
Der tiefste Unterschied zwischen dem Subjekt und seinem Spiegelbild ist
die Anwesenheit des Geistes. Das Subjekt weiß, daß es selbst einen hat (wenn
dieses Wissen auch unreOektien ist), es sicht jedoch keinen Anlaß, davon aus-
zugehen, daß sein Spiegelbild auch einen hat. Sein Geist ist nämlich "hier",
und die anderen Wesen, die das Kind um sich herum sicht, beweisen das Beste-
hen ihres Geistes (in den Augen des Kindes) vermutlich ständig, indem sie
nicht dasselbe wie das Kind tun - lind schon gar nicht simultan - sondern auf
das Kind reagieren. Das Kind weint, und die liebe, sanfte Mutter präsentiert
ihre Brust, oder tut dies gerade nicht, usw. Ich spekuljere nicht über die Frage,
ob ein so junges Kind sich schon eine Vorstellung von anderen geistigen We-
100 van Gerwen. Hauch auf dem Spiegel
sen machen kann, sondern nur über das Kriterium mittels welchem sich das
Kind vermutlich davon überzeugen wird, daß es sie gibt.
Das Kind könnte verwirrt sein, wenn es den Begriff "Geist" mitreis des
Spiegels lernen würde, in dem es ein Wesen sieht, von dem es sicher weiß, daß
es einen Geist hat, obwohl es nicht über den sozialen Weg des willkürliche Re-
aktionen, sondern mit Hilfe. der AutOrität der ersten Person zu diesem Wissen
gekommen ist. Und nun muß das Kind auf einmal mittels des Spiegels lernen,
daß man auch aufgrund des Äußeren eines Menschen herausfinden kann, ob
jemand einen Geist hat. Dies ist tatsächlich ein problematischer \'(leg, da das
Spiegelbild, wie gesagt, dem Subjekt seinen Geist nicht durch Reaktionen, son-
dern durch eine äußerliche Ähnlichkeit zeigt: indem es genauso aussieht und
genau dasselbe tut.
In diesem Sinne, so könnte man Scruton recht geben, ist das SpiegelblId gut
mit einem Photo zu vergleichen, sogar besser als mit dem Ausblick ails einem
Fenster. Die Geister, die mit Körpern assoziiert werden, sind weder in einem
Spiegel, noch auf einem Photo ..da", Genau dies gilt für Abbildungen, jedoch
nicht für Menschen, die man draußen laufen sieht. So können wir bei diesen
Bildern also drei Stufen des Egozentrismus unterscheiden: das Wahrneh-
mungsbild ist völlig egozentrisch; das Fensterbild ist - obwohl es eingerahmt
ist - genauso vollkommen egozentrisch; das Spiegelbild, auch eingerahmt, ist
egozentrisch, aber nicht völlig: nichr, wenn es um das Bild des Wahrnehmen-
den selbst geht. Wenn wir andere egozentrisch sehen, dann sehen wir ihr Äu-
ßeres und Inneres auf demselben Platz: da. So lehrt uns der Spiegel ein funda-
mentales Gesetz über Abbildungen (und Phoros): daß sie nur das visuelle Äu-
ßere zeigen und bezüglich ihrer "Durchsichtigkeit" zum geistigen Inneren der
abgebildeten Personen mit mehr oder weniger mangelhaften Suggestionen aus-
kommen müssen,
Aber warum reagiert Lacan hierauf mit der Behauptung, daß die Entwick-
lung des Kindes durch das Spiegelstadium eine fiktive Rkhtung einschlägt?
Das Bild im Spiegel ist nämlich selbst keine Einbildung, es existiert wirklich.
Genausowenig ist es Einbildung, daß es um das Spiegelbild des Kindes selbst
geht - durch seine Gebärden Stellt das Kind dies fest. Daß das im Spiegel re-
flektierte Wesen einen Geist hat, ist keine Einbildung - das Kind weiß dies aus
eigener Erfahrung, wenn auch unreflektiert. Der einzige - wenn man es so
nennen möchte - fiktive Aspekt ist die Annahme, daß das Bild "dorr" im Spie-
gel einen Geist hat, aber warum solhe man dies fiktiv nennen? Sollte man nicht
besser sagen: Was das Subjekt hier tut, besteht darin, etwas, das die Eigen-
schaften einer Repräsentation hat (plattheit, "Dortheit'J, als eine Abbildung
zu verstehen, das heißt als etwas mit einer visuellen Oberfläche, in dem wir et-
was anderes (als diese Oberfläche) sehen können, wo wir mittels gebräuchli-
cher emphatischer Erfahrungen, geleitet durch Eigenschaften von dem in der
Abbildung gezeigten, einen Geist hinein projektieren, obwohl er dort in Wirk-
lichkeit nicht ist. Dieser in einen abgebildeten Körper hineinprojektierte Geist
basiert zwar auf Eigenschaften der ..Abbildung", aber das allein macht den
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts 101
Geist noch nicht fiktiv. Dieses ist essentiell für unser Verständnis davon, wie
Abbildungen etwas Abwesendes anwesend machen. 9
Lacans Ausarbeitung der fiktiven Richtung ist übrigens interessant, da sie
uns Einsicht in das präsentierende ElemeOl von Abbildungen gewährt, in ihre
eigene Anwesenheit. So vergleicht er das SpiegelbiJd mit dem späteren Image
von jemandem. Lacan sieht verschiedene Analogien mit der Biologie: Kann
man sagen, daß das Imago einer Raupe vergleichbar vorgeht, als ein Bild eines
zukünftigen Selbst, das weder begriffen noch wirklich vorhergesehen ist und
schon gar nicht reflektiert und selbslbewußt gewählt wird? Die weibliche Tau-
be wird erst reifen, nachdem sie eine andere Taube gesehen hat; eine Heu-
schrecke wird sich erst zu einer Zugheuschrecke entwickeln, nachdem sie das
Bild von Zugbewegungen gesehen hat: bei Artgenossen in einem passenden
Stil (eine Analogie mit der Rolle von Schönheit im Erogenen). Aber nun genug
über die Psychologie des Spiegels. ~'lir geht es hier um die Abwesenheit des
Anwesenden, so nahe es auch ist, um das, was \"'alter Benjamin ..Aura" nennt.
Benjamins Aura
Benjamin meint, daß technische Reproduktion die Aura des Repräsentierten
zerStört. Intuitiv sehe im mir jedoch, daß jede Abbildung dies tut: jede Abbil-
dung entfernt das Repräsentierte vom egozentrischen Hier und Jetzt. Es ist
aber genauso sehr kennzeichnend für Repräsentationen (und Kunstwerke), daß
sie selbst für ihre Zuschauer, Zuhörer, Leser usw. anwesend sind. Obwohl Ge-
mälde manchmal etwas abbilden und Gedichte etwas beschreiben, beschränkt
sich ihre Bedeutung nur selten darauf, dies in Wone zu kleiden. In der Kunst
ist das Paraphrasieren "verboten". "Man muß es selbst sehen, um darüber ur-
teilen zu können."10 Wenn eine Abbildung in eigener Anwesenheit das Abwe-
':I Siehe meinen Beitrag "De oOlologische drogreden in de analytische esthelica", in: AI-
ge/llun Nearr/anas Tijasrbn]t voor If'1ijsbrgmtr, 94 (2002), S. 109-123. Siehe auch: D. 1\12-
lravers, ..The Paradox of Ficlion: Thc Rep()rt versus the Perceptual Model", in: Hjort
und Laver (Hrsg.), Emotion ana ,hr Arls, Oxford 1997, S. 78-94. Darin wird das Argu-
ment enfaltet, daß unsere normalen emotionalen und moralischen Reaktionen auf
Abbildungen nicht angepaßt sind weil das Abgebildete fiktiv ist (in den Fällen, in de-
nen dies tatsichlich so ist), aber weil es nicht "hier und jetzt", sondern abgebildet ist.
10 Rich:ud \'(loJlheim nennt dies das "principle of acquaintance" (Venraulheitsprinzip).
\,\lollhcim, .,Art and Evalualion", in: Ar/ lI"a in Ob/erls, zweite Ausgabe, Cambridgc
1980, S. 227-240. Hans-Georg Gadamer sieht hierin den Grund für die Gleichzeitig-
keit aller Belr.l.chtungen eines Werkes. Siehe H.·G. Gadamer, "Ästhetik und Herme·
neutik", in: K!einrSchriftrn H. Inttrpnlationtn, Tübingen 1967, S. 1-8. Siehe R. van Ger-
wen, .,Gadamer o\'cr gelijktijdigheid", in: Ftir & rlr/ir, V/2,2001, S. 120-128. Barthes
spricht über das "puncfum" \'on Photos, eine realistische Beweiskraft, die man erfah-
ren muß. Siehe R. ßarthes, /.A Cbaml"., Clai,." Paris 1980. Feied bezeichnet minimalis-
tische Kunst (und Instalhl.lionen) als den Versuch, alle Kunst auf Anwesenheit zu be-
schränken. Siehe M. Fried ...Art and Objecthood", in: ArtJof'Nm, Califomia 1967.
102 "an Gerwen, Hauch auf dem Spiegel
sende anwesend macht und die Frage entsteht, wie abwesend das Abwesende
eigentlich ist oder wie die Anwesenheit des Zuschauers in der Abbildung be-
rücksichtigt ist, dann fragen wir auch, welchen moralischen Anspruch das Ab-
gebildete möglicherweise auf das Eingreifen des Zuschauers erhebt. Die Abbil-
dung ist hier und jetzt, genau wie der Spiegel. Das Abgebildete ist nach dem
gleichen Maßstab (es geht hier nicht um "Meter') jedoch noch weiter weg als
das Spiegelbild: nicht aUein das mentale Leben der abgebildeten Personen,
sondern der ganze Zusammenhang muß bei einer Abbildung in der Wahrneh-
mung des Beschauers aktiv durch dessen Phantasie konstituiert werden. (Der
Gespiegelte kennt die Umgebung um den Spiegel hcrum - das ist nämlich die
Welt. in der er sich befindet.) Wir machen uns das Abgebildete zu eigcn, aber
wie "eigen" genau? \X'ie dicht müssen wir es an uns hetankommen lassen?
Viele Unternchmungen der gegenwärtigen Kunst gehen auf diese Fragen
ein. Performances und InstaUationen wollen den Zuschauer so dicht in das
Kunstwerk hineinziehen, daß das Kunstwcrk zu einem Wahrnehmungsobiekt
wird, in dcm es überhaupt keine Abwcsenheit mehr gibt: das ist cher ein Ritual
als eine Repräsentation. Bei einer Repräsentation wird im Wahrgcnommenen
nicht-egozentrisch etwas andcrcs gcsehen, während man sich in einem Ritual
die wahrgenommene Entität oder das wahrgenommenc Gcschehen selbst fils
etwas andcres vorstcllt. In unserem Kunsterleben gibt es einige unverkennbar
rituelle Aspekte, aber es ist die Frage, ob Kunst im Rahmen unseres Kunst-
verständnisses völl.ig riwalisiert werdcn kann. Setzt Kunst nicht voraus, daß
ein Abwesendcr im Spiel bleibt? Marina Abramowicz hat einmal eine Perfor-
mance aufgeführt, in der sic sich mitten in einem Stern aus Feuer befand. Das
Publikum fühlte, daß der Geist der Künstlcrin den vcrletzlichcn Körper zer4
störerischem Feuer aussetzte, und erfuhr die Spannung, wie die eines wir-
kungsvollen Kunstwerkes. Niemand merkte allerdings, daß das Feuer den Sau-
erstoff aus dcm Stern wegsaugte und daß Abramowicz das Bewußtsein verlor.
Ein Arzt im Publikum sah dies jcdoch; er sah, daß sie ihren Fuß, der ins Feuer
geraten war, nicht zurückzog, und schleppte sie aus dem Feuer. Sein Eingriff
war direkt moralisch gefordert, durchbrach jedoch die Performance. Es ist ent-
weder das Eine oder das Andere. Einc Ptrsol/a und nicht-egozentrische Imer-
pretation sind zwei Seiten der gleichen Medaille der Kunstbetrachrung. 11 So-
bald sich jemand als vollständige Pcrson - cgozentrisch - von eincm Kunst-
werk ansprechen läßt odcr - umgekehrt - sobald jemand als vollständigc Per-
son das Kunstwcrk ist, kann es nicht um Kunst gehen. Die Definition von
Kunst iSI hier nicht meine Sorge. Es geht darum, daß die Person des Perfor-
mers ferne sein kann, so nahe sie auch ist.
ISI das Ich, das ich im Spiegel sehe, so eine Persona rur mich? Schwierige
Frage. Es wird schon \'on mir erwartet, direkl moralisch auf das zu reagieren,
was ich im Spiegel (und somit in meiner Nähe) sehe: ich nehme keine kunstge-
rechte Einstellung ein. Aber andererseits sehe ich mich selbst schon so, wie
andere mich sehen, als ein Äußeres, auf dessen Basis man auf ein Inneres
schließen kann. Ich sehe mein Äußeres und werde das daran anpassen, wie ich
von anderen gesehen werden will, usw. (Hierzu passen Lacans biologische Bei-
spiele). Es ist kein Zufall, daß wir, in einer ntersuchung der Weise, in der Re-
präsenlationen wahrgenommen werden, immer wieder auf psychologische Fra-
gen stoßen. Auch \'('illem van Reijen geht es - in einem neueren Beitrag über
messianische Tendenzen in Benjamins Aura-Begriff - um die Eifahrung der
Aura, und das gilt auch für Benjamin selbst. I2
Benjamin bezeichnet die photOgraphische Reproduktion als das Ende der
Aura der Kunst. Tatsiichlich siehl, wer die Reproduktion eines Gemäldes an-
schaut, nicht das Gemälde selbst - und dies ist keine akademische, sondern
eine ästhetische oder phänomenologische Frage: die Anwesenheit des Gemäl-
des, die Farbe auf der Leinwand ist hier reduziert auf seine Abbildung. Empi-
risch gesehen ist das nicht bei allen Gemälden gleich schlimm - ein Magritte,
Willink oder Escher leiden darunter weniger als ein Rembrandt oder Freud. Es
ist jedoch ein logischer Angriff auf das Konzept von Kunst - in diesem Fall
auf die Kunstform der Malerei. Man kann die These auch so lesen: dass Photo-
graphie im all~meinen die Aura des PhotOgnphienen (was das auch sein
möge) zerstört und daß sie versäumt, diese durch eine neue Aura (die des Pho-
tos) zu ersetzen. Solche Ersatzauras gibt es auch schon bei Gemälden. Das
Photo ist flach und scheinbar durchsichtig, sogar wesentlich pornographisch
(ScrutOn). In der Theorie der Photographie wurden genügend Versuche unter-
nommen, auch bei Photos eine Aura zu identifizieren: Roland Barthes nennt
dies "Punctum", und Benjamin selbsl versuch I es auch in seiner "Kleine Ge-
schichte der PhotOgraphic".u Er ruft in Erinnerung, wie die "exakteste Tech-
nik [die der Photographie; RvGI einen magischen Wert geben rkannJ, wie ihn
für uns ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann" (KGP, 371). (Ich ignoriere
das !\'lystische "nie mehr".)
Am Anfang beschuldigte man Daguerre einer "teunisehen" Verleugnung
der "Unmöglichkeit, die flüchtigen Spiegelbilder fest zu halten" (KGP, 369).
Tatsächlich kann man ein flüchtiges Spiegelbild nicht festhahen, denn das ist
"mein" Bild, das in einer dialeklischen Beziehung zu meinem Selbstbewußtsein
steht. Das Festhahen eines Spiegelbildes würde diese Aura sicher zerstören. In
jedem anderen Zusammenhang wissen wir es mittlerweile aber besser: Photo-
II \'(I. van Reilen ..• Bre:athing the Aura - The Hol)'. ,he Sobt:r Bre:ath'·. in: TlNtllJ, CI,lllirr
o"d SMitlJ. 18/6 (2001). S. 31-50.
13 \'('. Benjamin, Guommtllt S,hrijt,,,. li/I. 1978. $. 368-385. Von jetzt an: KGP.
104 van C(:rwen, Hauch auf dem Spiegel
Sobald in der Erfahrung der "Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Er-
scheinung hat", ist der Wahrnehmende "dabei": das Wahrgenommene ist dann
in das Bewußtsein seiner egozentrischen Wahrnehmung integriert. Während
Currie eine beinahe objektive Beschreibung der Wahrnehmung gibt. finden wir
bei Benjamin eine eher subjektive. Wenn wir Aura wahrnehmen (atmen), dann
begreifen wir unsere Beziehung zum Wahrgenommenen. Genau wie beim
Spiegel begreifen wir, daß der Kontext des Wahrgenommenen unsere eigene
Welt ist, hier und jetzt.
Die Sache hat also einen doppehe Slruktur: Es ist nicht nur so, daß das
Modell sich der Kamera hingibt, der Beschauer des Photos muß sich auch sei·
nem eigenen Voyeurismus fügen. Die soziale Gegenseitigkeit, die den egozen-
trischen Blick auf den Andern kennzeichnet und die - Benjamin zufolge - eine
Erfahrung der Aura im besten Sinne des Wones ist. 16 ist auch der Ausgangs-
punkt von Lacans Analyse des Spiegelstadiums und von Curries Kritik an Sc ru-
IOn. Daß Benjamin unsere Erfahrung der Aura als einen Atem beschreibt, sagt
viel. icht - wie van Reijen behauptet - weil Atmen eine Wahrnehmung des
Tastsinnes ist (Atmen ist keine Wahrnehmung), sondern weil Atmen und das
Egozentrische der Wahrnehmung immer zusammen auftrelen: nichts ist nor-
maler als zu atmen, wenn man, egozentrisch, die Aura eines Blickwechsels er-
fahn. Das Prinzip des Wohlwollens gebietet uns die Schlußfolgerung, daß Ben·
jamin dies auch gemeint haben muß. Denn sobald wir uns des Atmens als
Wahrnehmung bewußt werden, ist es aus mit der Ruhe und Offenheit, die not-
wendig sind, um eine Aura zu genießen. \X'enn der Atem sich aufdrängt, gerät
das Subjekt in Panik über das eigene Fortbestehen. Das Atmen ist ein integra-
ler Aspekt der egozentrischen Wahrnehmung. Es ist beinahe genauso selbst-
verständlich wie unsere körperliche Anwesenheit selbst; die Anwesenheit, die
wir da vor uns widergespiegelt sehen. Es sei denn, daß unser Hauch den Spie-
gel beschlägt und aU es Anwesende. wie nahe es auch sein möge, in Nebel auf-
lösL"
16 Gesammelte Schriften, 11/2. 1978. S. 646. Zitien in: V:an Reijen, ..Aur:l", S. 42.
17 Ich d:anke vor :allem meinem Kollegen Willem \':ln Reijen für seinen inspirierende
An- und Ab.....esenheit während des Komponierens dieses Artikels.
Uwe Steiner
Nicht erst Heidegger hat rur das von ihm emphatisch so genannte Denken die
tvletapher des Weges gefunden. Bereits in Benjamins Trauerspielbuch wird
Methode als Umweg definiert. Als ein solcher Umweg erwies sich ihm die Dar-
steUung. Die überzeugung, daß die Darstellung der Wahrheit sich in Gestalt
von Konfigurationen vollziehe und zu voUziehen habe, gehört zu den weitrei-
chenden philosophischen Einsichten Benjamins, die in der Rezeption seines
Werkes nicht ohne Wirkung geblieben sind. In seinen eigenen methodologi-
sehen berlegungen ist sie mit einer von ihm gelegentlich so genannten alten
?.'ia.xime der Dialektik verbunden, derzufolge eine "Überwindung von Schwie·
rigem durch Häufung desselben" zu erwarten sei. Demnach wäre also davon
auszugehen, daß in einer Konfiguration eine Steigerung von Komplexität das
Bild nicht trüben, sondern klaren würde. Der Gedanke ist zu verflihrerisch, um
ihn nicht auf Benjamin selbst anzuwenden. Die folgenden Überlegungen un-
ternehmen einen solchen Versuch. Indem sie in die Diskussion um Benjamin
und Heidegger den Namen Max Webers einbringen, schlagen sie einen Umweg
vor, von dem sie hoffen, daß er hinreicht, um eine historische Konstellation
wenigstens in mrissen deutlich werden zu lassen.
I
"Links hatte noch alles sich zu enträtseln 1... 1" lautete der programmatisch zu
verstehende Titel eines Sammelbandes, der Ende der siebziger Jahre eine Zwi-
schenbilanz der Benjamin-Forschung zog. Zwar gehörte die von aktuellen po·
litischen Interessen geleitete \Xliederentdeckung Benjamins durch die Studen-
tenbewegung im Erscheinungsjahr 1978 bereits der Vergangenheit an. Den·
noch schien auch das differenziertere Bild, das die mit dem Erscheinen der Gr-
lammtllrn Srhrifttn einsetzende akademisch-philologische Rezeption zu zeich-
nen begann, dem Herausgeber eine unparteiliche Beschäftigung mit dem Autor
nicht zu erlauben. Das titelgebende Zitat war einem Denkbild entnommen, in
dem Benjamin sich die Optionen vergegenwärtigte, die dem bürgerlichen Intel·
lektuelIen im Wehbürgerkrieg zu Beginn der dreißiger Jahre noch verblieben
Steiner, Philosophische Um- und Abwege 107
waren. l\'!.it dem Unternehmen, Benjamin in den Kontext seiner Zeit zurückzu-
stellen, war für die von Burkhardt Lindner eingeladenen Beiträger die Ein4
schä[Zung verbunden, "daß sich aus der Rekonstruktion der Auseinanderset-
zungen der Vorkriegsintelligenz nachhaltige Anstöße für gegenwärtige Proble-
me ergeben".]
Inzwischen haben sich die Anzeichen verdichtet, daß in Sachen Benjamin,
um in seinem eigenen Bild zu bleiben, auch "rechts" so manches der Enträtse-
lung harre. Nach einer Reihe von Aufsätzen liegen mittlerweile zwei l\olonogra4
phien über Benjamin und Heidegger vor, deren Nähe zu behaupten noch un-
längst als skandalös empfunden wurde. Noch Willem van Reijens Studie rech-
net mit Lesern, denen die "trotz grundsätzlicher Differenzen" konstatierten
"Parallelen und Konvergenzen zwischen den Philosophien Heideggers und
Benjamins" anstößig erscheinen könnten. 2 Vor diesem Hintergrund geht er der
grundsätzlichen Frage nach, ob es eine "innere Beziehung zwischen der Me-
thodologie einer Phjlosophie und der mit ihr verknüpften politischen Option
gibt".) Um den womöglich als noch skandalöser aJs seine Ausgangsfragestel-
lung empfundenen Preis einer Rettung der be,iden Philosophen als Metaphysi-
ker, die neben der Metaphysik noch das Selbstmißverständnis ihrer Umsetzung
in politische Praxis ejnt, meint er Heidegger und Benjamin einander und zu-
gleich den politisch Korrekten unter seinen Lesern näherbringen zu können.
Demgegenüber wirft Stefan Knoche in seiner Studie die Frage nach Sinn
und Grenzen der Vergleichbarkeit zweier Autoren auf, die "sich nicht gesucht
haben".4 Gegenüber van Reijen insistiert er darauf, daß die metaphysische Di-
stanz zur \X/elt der diskursiven Aussagen, in der für van Reijen der Unterschied
zwischen rechts und links zur tjllQfJtiti nigligtablt schwindet, für Heidegger und
Benjamin nicht im glcichen M,aße gehe. Ohne die Verdienste der älteren Studie
zu leugnen, die die viel faltigen Überschneidungen des Benjaminsehen und des
Hcidcggerschen Denkens vorzüglich zugänglkh mache, erscheint Knoche die
Vergleichbarkeit doch erSt unter der Voraussetzung eines "fundamentalen Un-
terschiedfsj der Geschichtlichkeits-ßegriffe" sinnvol1. 5 Einem bei Benjamin
um den Begriff der Gegenwart zentrierten, diskontinuierlichen Begriff der Ge-
schichte stehe die "PriviJegierung der Zukunft" bej Heidegger entgegen, die
auch durch dic nach Sein lind Zeit vollzogene Kehre zum seinsgeschichtlichen
Denken nicht grundsätzlich revidiert werde. 6
ßurkhardl Undner (Hrsg.), "Links baJte 1l0fh fIt/ti sifh ZII mlriitstln f...}" Il7atttr Bmja-
mifl im Konllxt, Frankfurt a. M. 1978, S. 10.
2 Wiltem van Reijen, Dtr Sfhu'fl'ZU'r:'/d 111111 Pan·s. Htidtgger lind Benjamin, München 1998,
S. 8.
3 Ebd., S. 18.
4 51efan Knoche. Bnl)dmifl - Htidtggtr. Ober Grll'all. Dit PotiliJimmg dtr Kllnst, Wien
2000, S. 11.
5
Ebd., S. 179.
6 Ebd., S. 28 f. und S. 47.
108 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
II
Unter vergleichsweise entspannten Zeitumsländen absolviert demnach \'(/alter
Benjamin heute ein Pensum, das Georg Lukacs und Theodor W. Adorno be-
reits zu bestehen hatten. Womöglich ist es kein Zufall, daß die entsprechenden
Studien in einem Zeitraum erschienen, in dem der Benjamin gewidmete Sam-
melband die Zeit für reif befand, ihn in den historischen, keineswegs aus-
schließlich philosophischen Kontext zu stellen. Denn zeitbedingt provokativ
gerieten mit Lukacs und Adorno zwei bedeutende Repräsentanten der Vor-
kriegsintelligenz in den Blick, von denen man sich im Rückgriff auf die Debat-
ten der zwanziger Jahre nachhaltige Anstöße für gegenwärtige, nicht zuletzt
politische Probleme versprach. Damit aber provozierte man zugleich die Wie-
derkehr des im linken Diskurs der Gegenwart Verdrängten.
Zu Luden Goldmanns fragmentarischer Studie über Lukdcs und Heidegger
haue vermeintlich Heidegger selbst an prominenter Stelle das entscheidende
Stichwort gegeben. An zwei Stellen von Sein und Zeil nämlich ist, zudem in An-
führungszeichen, von der "Verdinglichung des Bewußtseins" die Rede, dem
Schlüsselbegriff von Georg Lubcs' vier Jahre vor Heideggers Abhandlung er-
schienener Aufsatzsammlung Geschichte und KlauenbewußlIein. Lukacs selbst hat
Goldmanns Lektüre von Sein Imd Zeit als Replik auf sein eigenes, nicht zuletzt
für Benjamins Zuwendung zum Marxismus bahnbrechendes Werk mit der Be-
merkung abgetan, das Thema habe eben in der Luft gelegen. 7 Wie Goldmann
zeigte, werden die unbestreitbaren Antagonismen gerade im Nachweis ihrer
gemeinsamen philosophischen Grundlage zwar nicht unversöhnlicher, aber in
ihrer Genese verständlicher. Wie Heideggers Fundamentalanalyse des Daseins
läßt sich auch Lukacs' neomarxisusche Konzeption eines Subjekts der Ge-
schichte vor dem Hintergrund einer philosophischen Auseinandersetzung mit
dem neukanuanischen Transzendentalismus verstehen. Der Weg, der von die-
sem gemeinsamen Ausgangspunkt zur Konzeption eines revolutionären Sub-
jekt-Objekts der Geschichte einerseits und zum ,eigentlichen Dasein' anderer-
seits führt, zeichnete für Goldmann zugleich auch den Weg einer "analogen
Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der politischen Stellungnahmen der
beiden Denker [vorl, das heißt der Beziehungen Heideggers zum Nationalso-
zialjsmus und der Lukacs' zum Stalinismus".8
Wie gegenüber Lukäcs, der ihm gelegentlich den maljziösen Vorwurf mach-
te, seinen eigenen Bekundungen zu folge den "Hitlerismus nur in einem Kier-
7 Georg Lukacs, ..VorwOrt" (1967) in: G. L., CmhidJlt und KlaJJtnbeu'lißtuin. Sludim iibtr
",aoollü(bt Dialtlelile (1923), Neuwied 1976, S. 23. Die von Goldmann auf Lukacs be-
zogenen Stellen sind in Stin lind Ztil, §§ 10 bzw. 83, nachzulesen (Martin Heidegger:
Stin und ltil, 12. AuO. Tübingen 1972, S. 46 bzw. S. 437).
8 Lueien Goldnlann, l..JIko(J und Htidtggtr. Na(hgtlmunt Frag"'tnlt. Texleinrichtung und
Einleitung von Youssef Ishaghpour. Neuwied 1975, S. 102.
Steiner, Philosophische Um- und Abwege 109
III
Mit Blick auf die historischen Debatten könnte es sich als sinnvol,1 erweisen,
den in ihrer Erörrerung konstatierten Konflikt von metaphysischem Anspruch
und politischem Selbstmißverständnis nicht als abschljeßende Auskunft, son-
dern vielmehr als Ausdruck einer - ihrerseits - historischen Konstellation zu
betrachten. Denn der beobachtete Konflikt zwischen Phjlosophie und Politik
setzt implizit die Unvereinbarkeit beider voraus. In diesem Sinne, nämlich als
einen mit zunehmender Rationalisierung irreversiblen Prozeß der Ausdifferen-
zierung der Wertsphären, der in deren intransigenter Eigensinnigkeit mündet,
hatte Max Weber die Moderne verstanden. Mit großer Überzeugungskraft
9 Georg Lukacs: Von Nirl!{Ifhr biJ Hillrr odrr Drr frro!ionolÜI1I1U lind dir drllmht Polilik,
Frankfurt a. M. 1966, S. 25.
10 Hermann Mörchen, Adorno ulld Hridt!J!,tr. Unlrnufhung tintr philoJophiJrhm K011ll1ll1l1ika·
lionJ/ltnJftigtrlllll,. SlUugart 1981, S. 588. Dieser Studie hatte Mörchen eine kürzere Be-
trachtung der l>.'\acht- und Herrscha(tskonzcptionen vorausgeschickt: H. M., MOfhl
Jif/d HtrruhaJt im DtJlkm I/()n Htidrggtr lilld Adorno, Srungart 1980.
II Ebd., S. 24.
12 I-{ans Ebe1ing, "Adornos Heidegger und die Zeit der Schuldlosen", in: PhiltJJOphiuht
RlindJfholl 29 (1982), S. 194.
110 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
konnte deshalb Narben Bolz Webers Rede von der Entzauberung der Welt als
Kontrastfolie evozieren, um den philosophischen Diskurs der zwanziger Jahre
als einen "Auszug aus der entzauberten Welt" zu begreifen, in dessen Sog die
politisch-philosophischen Extreme sich berühren. 13 Hier lohnt es sich jedoch,
die Ausgangslage ein wenig näher ins Auge zu fassen.
Als Marun Heidegger in einem Fernsehinterview aus Anlaß seines 80. Ge-
burtstages um Stellungnahme zum zum al an den Universitäten laul werdenden
Wunsch nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnjsse gebeten wurde,
antwortete er mit einem Selbstzitat. Offenbar schien es ihm im studentenbe-
wegren Jahr 1969 den Zeitgeist ebenso treffend auszudrücken, wie schon vor
vierzig Jahren: "Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die
BehandJungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Viel-
faltigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisa-
tion von Universitäten und Fakultäten zusammen- und durch die praktische
Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehahcn. Dagegen ist die Ver-
wurze!ung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgeslOrben.,,14 Auf die-
se Passage hatte er bereits in dem drei Jahre zuvor gewährten, jedoch erst post-
hum zur Veröffentlichung bestimmten Spitgtl-Interview verwiesen. Das Zitat
entstammt der Antrittsvorlesung, die er 1929 unter dem Titel: "Was ist Meta-
physik?" bei der Übernahme des Husserl-Lehrstuhls in Freiburg gehalten hatte.
Im Kontext des Spiegel-Gesprächs sollte das Zitat das Grundmotiv erhellcn, das
ihn im Jahre 1933 bestimmt hatte, in ebenfalls politisch bcwegten Zeiten das
Rektorat der Universität Freiburg zu übernehmen. 15
Die Wurzeln des in dem Zitat ausgedrückten Gedankens lassen sich bis auf
die Vorbetrachtung zur "Wisscnschaft und Universitätsreform" zurückvcrfol-
gen, mit denen der Privatdozent 1919 seine Vorlesung über die "Idee der Phi·
losophie und das Weltanschauungsproblem" eröffnete. Mit Max Weber, dessen
Münchner Rede im selben Jahr im Druck erschien, teilt Heidegger, wie Stcven
Crowcll gezeigt hat,16 die Einsicht, daß die zunehmende Spezialisierung in den
\'I?issenschaften den Charakter der Universitäten grundsätzlich geändert habe
und dementsprechend das Selbstverständnis derjenigen, die die Wissenschaft
als Beruf betreiben, einer Neubestimmung bedürfe. Man kann jedoch durchaus
Webers Diagnose zustimmen, ohne sich dessen Folgerungen zu eigen zu ma-
chen.
13 Norben Bolz, AUJzug aUJ der mtzaubertm IFe/t. PhiloJophmher ExtremiJ1IluJ ~iJ(:ht1l dtn
IVtltlt.ritgen, t-,'Iünchen 1989.
14 "Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser", in: Martin Htidtggtr im Gt-
Jprärh. Hrsg. von Günther Neske und Ernil Kenering. Tübingen 1988, S. 21.
15 "Spiegel-Gespräch mit Marcin Heidegger", in: Marfin Htidtgger illl Gupriich, S. 83. Vgl.
Martin Heidegger, "Was ist Metaphysik?" in: M. H., IVtgmnrktn, Frankfurt :10. M.
1967.5.2.
16 Vgl. Steven Gah Crowell: ..Philosophy as a Vocation: Heidegger and Universit}· Re-
form in the E:Iorly Interwar Years", in: S. G. c., HUJJerl, Htidtggtr, and fhtSpoct ojMto-
ning. PafhJ tou'ard TranJctndtnfa/ Phtnomtn%gy, Evanston, IL 2001, S. 152-166.
Steiner, P~ülosophische Um- und Abwc=ge 111
\'7Max \X'eber, ..Wissc=nschaft als Bcruf", in: f\'I. W., Guommtlle AllfltilZt ZIiT Il7illt1l-
f(h4I1!thn, hrsg. \'on Johannes Winckelmann, Tübingc=n. 7. Aufl. 1988, S. 608 (I-Ier-
vorhebung im Original).
18 Marun Heideggc=r, Vit lJu dtr Phil()lophit lI11d das lWtllallsthoNN1IgsprtJbltm. In: M. H., Gt·
samlaNsgobt. Bd. 56/57, hrsg. "on Brend Hc=imbüchel, Frankfurt a. M. 1987, S. 5.
19 Heidc=ggc=r, Still Nlld 2til, unpag. eS. 1) (Hervorhebung im Original).
20 Heideggcr, Stin lind 2til, § 74, S. 382-387. Hierzu Jürgen Habermas: Der philosophisdN
ViskoliTS dtr Modtnu. 211'iilJ Vorlmmgm, Frankfurt a. J\L 1985, S. 184-190. sowie Ders.,
.,Hc=idegger - Werk und Wdtanschauung, in: Viclor Farias, Htidrggtr u"d fitr Noli01l01-
IOZitllislfllll. Mit einem Vorwon von Jürgen J-1abermas, Frankfurt a. M. 1987, bc=s. S.
21-22.
112 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Das Bild der Universität, wie es sich Weber und Hcidcggcr unmittelbar nach
dem Krieg darstellt, entspricht weitgehend dem, das der junge Benjamin kurz
VOf dem Krieg in seiner Rede als neu gewählter Präsident der Berliner Freien
21 W:aher Benj:amin, ,.D:as Ldxn der Srudenu:n", in; W. B., Gua","'tlft S(hrijttll. 7 Bde.
und Supp!., unter M-itwirkung '·on Theodor W. Adorna und Gershom Schalem,
hrsg. von RolfTiedemann, Frankfurt a. M. 1972-1999, Bd. li/I, S. 75.
22 W:aher Benj:amin, "Di:aJog tiber die Rdigiosit2r der Gegenw:art;;, Gua",,,,tlte S(hrijttll.
Bd. 11/1. 5.29.
lJ An Ludwig Strauss vom 10. Oktober 1912, in: Walter Benjamin: Guamlltllte 6ritJt,
Steiner, Philosophische Um- und Abwege 113
auf einen Anhänger des Monismus. Die auf die Lehren Gustav Theodor Fech-
ners sich gründende pantheistische \X1eltanschauung des Monismus übte um
die Jahrhundertwende einen nicht zu umerschätzenden Einfluß auf das geistige
Leben im wilhelminischen Deutschland aus. Als eine Ersatzreligion, deren
Credo die unbegrenzte Perfektibilität der Welt preist, ersetzt der Monismus die
traditionelle Religion und Metaphysik durch den Glauben an Wissenschaft und
technischen Fortschritt. Dieser Religion des Kapitalismus setzt Benjamin in
seinem Dialog die "Ehrlichkeit des Dualismus" entgegen. 24
IV
Von dem Dialog über die Religiosiliit der Gegenwart von 1912/13 führt ein direkter
Weg zu dem vermutlich 1921 niedergeschriebenen Fragment über Kapitalismus
als Religion, in dem Benjamin Mal' Webers Rede von der "schicksalsvoUsten
Macht unsres modernen Lebens: dem KapitalüllI1u"25 in den religiösen Klartext
zurückübersetzt. Weber beim Wort nehmend, will Benjamin den Kapitalismus
seiner Struktur nach als eine essentiell religiöse Erscheinung beschreiben. In
dem Fragment wird der Kapitaljsmus als eine Religion beschrieben, in der der
doppelsinnige Begriff der Schuld die Stelle vertritt, die in Webers Theorie der
Moderne der Begriff der Rationalüät eingenommen hatte. Wenn Benjamin aus-
drücklich erklärt, den "Abweg einer maßlosen Universalpolemik" vermeiden
zu wollen,26 macht er sich eine wichtige Prämisse der Religionssoziologie We-
bers zu eigen: Das Fragment wender das Verfahren der beschreibenden, sich
jeder Wertung enthaltenden Soziologie auf Webers eigene Gegenwarrsdiagnose
an.
Die Rechtmäßigkeit, den Kapitalismus als "eine" Religion zu betrachten,
hatte das Fragment aus der Beobachtung abgeleitet, daß er sich derselben Be·
dürfnisstruktur verdanke wie die "sogenannten Religionen". Demnach würde
eine Religion, die sich als Religion vom Kapitalismus provoziert sicht, nur die-
se fundamentale Gemeinsamkeit bekräftigen und damit letztljch im Bann des-
sen verbleiben, wogegen sie sich polemisch abzugrenzen trachtet. Die unauf-
haltsame Dynamik, die der Kapitalismus entfaltet, finder in den Unrergangs-
visionen der Apokalypse reiches Anschauungsmaterial, aber keinen religiösen
Sinn. Deshalb macht es auch keinen Sinn, ihm theologisch entgegenzutreten.
Nicht mit religiöser Polemik, sondern einzig mit revolutionärer Politik iSt dem
Kapitalismus auf seinem eigenen Terrain zu begegnen.
hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, 6 Bde., hrsg. von Christoph Gödde und
I-Ienri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995-2000, Bd. I, S. 71.
2. Walter Benjamin... Dialog über die Religiosität der Gegenwart", CutllHINtlle Schriften.
ßd. 11 /1, S. 32.
2S ~hx \X/eber: ..Vorbemerkung". in: M. W., GuaflllHtlft AJljiiit!{t !{Jlr RtiigioIlSlo!(jologit,
hrsg. von Johannes \Vinckelmann, 3 Bdc., Tübingen, 9. Aufl. 1988, Bd. I, S. 4.
26 Walter Benjamin, .,Kapitalismus als Religion". GuaINmtllt Schriften, Bd. VI, 100.
114 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Es ist ein hier sich abzeichnender, spezifischer Begriff des PoLitischen, der
Benjamin eine Alternative zum Abweg der Universalpolemik eröffnet. In sei-
nen Bemühungen um ein Verständnis dessen, was das Politische philosophisch
sei, bezeugt sich in seinen frühen Schriften ein grundsätzliches Bemühen,
durch eine Abgrenzung unterschiedlicher ,Ordnungen' die Geltung tradierter
Begriffe und die in ihnen nicht zuletzt sprachlich kodifizierten Bereiche des
Denkens und der Wirklichkeü zu überprüfen. Dies, und nicht etwa etymologi-
sches Interesse, Liegt dem Versuch zugrunde, "die alten Worte Schicksal und
Charakter aus der terminologischen Fron zu befreien und ihres ursprünglichen
Lebens im deutschen Sprachgeiste aktual habhaft zu werden", 27 den Benjamin
in einem diesen heiden ,Worten' gewidmeten Aufsatz unternahm. Wenn denn
nach Webers resignierter Einsicht der Kapitalismus das ,Schicksal' unsrer Epo-
che ist, dann erkundet Benjamins Aufsatz, welches sprachliche Leben unter der
verkrusteten Oberfläche des Schicksalsbegriffs sich philosophischer Einsicht
eröffnet. Eine Ordnung, so lautet sein Befund in dem ungefahr gleichzeüig mit
dem Fragment entstandenen Essay, "deren einzige konstitutive Begriffe Un-
glück und Schuld sind und innerhalb deren es keine denkbare Straße der Be~
freiung gibt (denn soweit etwas Schicksal ist, ist es Unglück und Schuld), eine
solche Ordnung kann nkht religiös sein". Sie bezeuge vielmehr cine "dämoni-
sche Existenzstufe der Menschen", die im Recht Gestalt angenommen habe. 28
Die Ordnung des Rechts, in der die Menschen ihre Beziehungen unterein-
ander und zu den Göttcrn regeln, ist in einem Akt sich fortzeugender Gewalt
gegründet. Diesen Gedanken verfolgt Benjamin in der um die Jahreswende
1920/21, also ebenfalls in zeitlicher Nähe zu dem Fragment über den Kapitalis-
nIli! 011 Religion niedergeschriebenen Kn'tik der Gewalt, die in dem zu Lebzeitcn
21 An Hugo VOll Hofmannsthai vom 13. Januar 1924, GtJommelle Brieft, Bd. 11, S. 409.
28 Walter Benjamin, "Schicksal und Charakter", GtJomme!le Schriften, Bd. 11/1, S. 174.
29 Ebd.
Steiner, Philosophische Um- und Abwege 115
"das Messianische" erschließt. Das Profane an der Idee des Glücks auszurich-
ten aber heißt für Benjamin zugleich den Gedanken des Gottesreiches aus die-
ser Ordnung auszugrenzen. Deshalb hat die Theokratie für ihn "keinen politi-
schen sondern allein einen reHgiösen Sinn". Als von der Theologie abgegrenz-
ter Bereich aber bleibt die Politik gleichwohl auf die Theologie bezogen. Eben
deshalb nennr Benjamin ihren Geltungsbereich ,profan'. Im Gedankengefüge
der "mystischen Geschichtsauffassung", die das Theologisch-Politiuhe Fragment
darlegt, ist alles Irdische letztlich allein um den Preis seines Untergangs mit
dem Gonesreich verbunden. Das Ziel der Politik ist Glück; ihre Methode aber,
wie es abschließend heißt: "Nihilismus·'.30 Sofern sich Politik Ziele setzt, hat
sie diese auf die Ordnung des Profanen zu beschränken. Indem sich Politik auf
das Profane beschränkt, sind ihre Zielsetzungen, jenseits des ihren Geltungs-
bereich begrenzenden Horizonts, letztlich nichtig.
v
Unter der Voraussetzung einer Limitierung religiöser Ansprüche wird das
Glück Benjamin zur zentralen Kategorie der irdischen, profanen Bestimmung
des Menschen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich seine Bestimmung darin
erschöpft. Vielmehr ist das Profane per definitioneni auf das Heilige bezogen. Die
wie immer spannungsgeladene Abgrenzung einer von unbedingten morali-
schen und reljgiösen Ansprüchen freien, im spezifischen Sinne politischen
Ordnung ist keineswegs gering zu schätzen. Immerhin gehörte es zu den Kern-
stücken von Webers Theorie der Moderne, die Politik als Beruf von den POStu-
laten religiös überanstrengter ethischer Postulate zu befreien. Das zentrale Ar-
gument seiner überlegungen, daß nämlich "das spezifische Minel der legitifllen
Geulall!afllkeil rein als solches" es sei, was die Besonderheit aUer ethischen Pro-
bleme der Politik bedinge,31 dürfte in Benjamin einen aufmerksamen Leser ge-
funden haben. Es ist nicht auszuschließen, daß der veriorengegangene, großan-
gelegte Aufsatz über den "wahren Politiker", als dessen Bruchstück sich die
Kn'lik der Geulalt erhalten hat, seine entscheidende Inspiration ebenso einer in-
versen Lektüre von Webers Politik aIJ Beruf verdankte, wie das Fragmenr über
Kapilamom! aIJ Religion eine enrsprechende Lektüre der ReligionJJo~jologiuhen
Au/Iiitze zur Voraussetzung hatte. In beiden Fällen macht sich Benjamin die
Prämissen Webers zu eigen, um sie radikal weiterzudenken.
Das Gradnetz der Ordnungen, das Benjamins seinem philosophischen
Nachdenken zugrunde legt, beschreibt eine irreduzible Komplexität, wie sie
Max Weber als entscheidendes Kennzeichen der Moderne erkannt hatte. Erst
vor diesem Hintergrund ist Heideggers Verteidigung der Provinz ebenso viel-
sagend wie Benjamins Exil in Paris, der von ihm sogenannten Hauptstadt des
neunzehnten Jahrhunderts. Gleichsam auf dem Umweg über Heidc1berg ge-
langt Benjamin in das Herz der Moderne, in die Stadt Baudelaires, der die ~'Io
derne in seiner Dichtung zur Anschauung brachte und in seiner Poecik zum
Begriff erhob.
Rolf Wiggershaus
"Wer wird denn die Deutschen für die Nazis verantwortlich machen: wir wis-
sen doch ganz genau, daß sie mit der gleichen Begeisterung zu Stalin oder den
General Motors übergehen!" So im November 1944 Max Horkheimer in einem
Brief an Theodor \VI. Adorno. Das war eine sarkastische Anspielung njcht etwa
auf eine deutsche Strategie der Exkulpierung, wie sie ja erSt nach Kriegsende
auftreten konnte und dann tatsächlich auftrat. Es war vielmehr eine sarkasti-
sche Anspielung auf eine Sicht der Vorgänge in Europa, wie Horkheimer sie
im Exilland USA als Konsequenz der don herrschenden Mentalität erlebte.
Mjt selbstbestimmten und verantwortlichen Individuen wurde gar nicht mehr
gerechnet - weder in der Realität noch in der Wissenschaft. So jedenfalls sah
es Horkheimer, der sich um diese Zeir als Wissenschaftlicher Leiter eines groß-
angelegten Projekts zur Erforschung des Antisemitismus in New York aufhielt.
Dabei kooperierte das emigrierte Institut für SoziaJforschung mit dem Ameri-
can Jewish Committee. Das Ziel war, in Amerika zur Verhinderung dessen bei-
zutragen, was sich in Europa ereignete.
In einem nach Kriegsende in den USA entstandenen Aufsatz über "Freu-
dian Theory aod the pattern of Fascist propaganda" meinte Adorno: "lt may
weil be the secret of fascist propaganda that it siropl)' takes men for wh at they
are: the true children of today's srandardized mass culture, largely robbed of
autonomy and spontaneity, instead of setting goals the reaJization of which
would transcend the psychological slaJlu quo no less than the sodal one 1... 1
Fascist propaganda has only to reproduct the existent mentality for its own
purpose 1... 1"2 Nicht zufallig standen in der Dialtklik der Aufkliimng die Verar-
beitung der amerikanischen und die der deutschen Erfahrung, das Fragment
über "Kulrurindustrie" und das über "Elemente des Antisemitismus", und
zwar in dieser Reihenfolge, in direkter Nachbarschaft. Die empirischen Unter-
suchungen, für die die "Elemente des Antisemitismus" den philosophisch-
theoretischen Interprerationsrahmen abgaben, fanden ihren Niederschlag vor
allem in der AUlhon'lnn'an Persof/alily, an der Adorno leitend mitwirkte. Die Per-
sonen, die dabei auf ihr faschistisches Potential hin untersucht wurden, waren
also US-Amerikaner. Die Resultate erinnerten an die Ergebnisse einer ersten
empirischen Untersuchung des Instituts im Europa der frühen dreißiger Jahre.
So wie man seinerzeit wenig entschiedene Sozialjsten entdeckt hatte, so in den
USA wenig entschiedene Demokraten.
Dieser Kontext macht noch einmal deutlich, wie Horkheimers Sarkasmus zu
verstehen ist. Es war schwierig, hart über Deutsche zu urteilen, wo doch ohne
eine weitverbreilete gesellschaftliche und ökonomische Konstellation und
ohne Duldung, ja Zustimmung und sogar Unterstützung von außen nicht hätte
geschehen können, was das nationalsozialistische Deutschland in Europa an
Ungeheurlkhem anrichtete.
Horkheimer und Adorno erlebten als emigrierte jüdische LinksinteUektueUe
..Auschwirz" von den USA aus und sahen darin einen Tiefpunkt westlicher
Kultur. Weil sie die Dialektik und die Desrruktivität des westlichen Moderni-
sierungsprozesses fur gravierend und umfassend hielten, war die Bedeutung
von "Auschwitz" als deutschem Verbrechen in ihren Augen relativiert. Für den
eine Generation später geborenen Jürgen Habermas, der 1956 ans nach
Deutschland zurückgekehrte Institut für Sozial forschung kam und Adornos
Assistent wurde, fielen nach Kriegsende Befreiung vom Nationalsozialismus
und Information über "Auschwitz" ungefahr zusammen. Er entwickelte eine
Theorie des westljchen Modernisierungsprozesses, in der dessen Pathologien
relativ leicht genommen wurden, "Auschwitz" aber als von Deutschen ver-
schuldetes und von Deutschen zu bewältigendes Verbrechen um so schwerer
wog.
Damit sind zugleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von älterer Frank-
funer Schule und Habermas angedeutet. In beiden Fällen spielt Auschwitz als
Signatur des 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle. Aber für die älteren
Emigranten Horkheimer und Adorno bedeutet es die Katastrophe der europäi-
schen Zivilisation. Für Habermas, der sich einmal selbst aJs Produkt der reedu-
cation bezeichnete, ist es im wesentlichen ein deutsches Problem, das das euro-
päische Projekt der ["loderne nicht in Frage stellt. Ein nach Auschwitz proble.
matisiertes deutsches Geschichtsbewußtsein könnte in seinen Augen sogar die
Tendenz des westlichen Modernisierungsprozesses hin zu postnationalen
Identitäten fördern.
lruth, but much more draSlically within the division of labor and leisuTe, of private
morals and business principles, of private and public life, and in innumerable other
aspects of the existing order. Whar Facism docs with respecl tO the personaliry is
only tO manipulatc consciously and skillfully a break which irself is based on the
most fundamental mechanisms of this socicry . [... 1 I cannot see any reason why this
anempl of the Nazis should collapse from within, fOt intrinsic reasans. 5
Die Pointe dieses InterpretationsmodeUs bestand darin, daß das, was auf den
erSten Blick als ..Sprengstoff', als Zersetzungs- und Verfallssymptom erschien,
bei genauerem Hinsehen als erfolgreiche Herrschaftsform, als dynamische dau-
erhafte Struktur begriffen werden konnte. Auch dabei lief die Sicht der deut-
schen Verhältnisse wieder darauf hinaus, daß es sich dabei teils um eine extre·
me Ausformung, teils um einen radikalen Schub kapitalistisch-bürokratischer
Modernisierung handle.
Man kann in der Tat sagen: Was der Erste Weltkrieg gewissermaßen neben-
bei bewirkt hatte, nämlich die Enteignung der Erfahrung und der Fähigkeit zur
Wahrnehmung von Zusammenhängen, wurde im Dritten Reich und im Zwei-
ten Weltkrieg zu einer ständig gezielter verfolgten Strategie, nämlich zur Her-
an züchtung bzw. Forcierung eines gespaltenen Bewußtseins mittels Konsum·
kultur und l\hssenmedien, Volksgemeinschaftsideologie und rassistischer Pro-
paganda.
Untersuchungen wie die unter dem Titel Das gespaltene Bewußtseill vereinigten
Aufsätze Hans Dieter Schäfers über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit
von 1933 bis 1945 haben deutlich gemacht, wie gut die Strategie der national-
sozialistischen Diktatur funktionierte, die Verbindung zu den Werten der Vor-
kriegszeit und des künftigen Friedens nicht abreißen zu lassen und Hand in
Hand mit der Aufrüstung eine Konsumkultur nach US-amerikanischem Muster
und mit US-amerikanischen Waren zu fördern. Wollte man Horkheimers Bild
von Deutschland knapp formulieren, dann könnte man sagen: an Deutschland
mit seiner KJassik- und Idealismus·Tradition, seinen linkshegelianischen Radi-
kalismen und seiner Arbeiterbewegung knüpfte ein Outsider des Bürgertums
wie Horkheimer besonders hohe Erwartungen, die in besonderem Maße ent-
täuscht wurden, Statt die bürgerliche Welt mit ihrer Unterwerfung unter die
AutOrität des Marktes, ihrer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und ihrer Unfa-
higkeil zu einem wirklich kultivierten Lebensstil, mit dem "Nebeneinander zar·
tester Rücksichtnahme, harmloser Gutmütigkeit und zynischer Härte"6 hinter
sich zu lassen, bOl Deutschland das e,rschreckende Schauspiel einer beschleu-
nigten und äußersten Zuspitzung des glücks verneinenden und Erkenntnis ver-
achtenden Ethos der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, eines antidemokra-
tischen nationalen Aufbruchs.
5 Brief Horkheimer-Neumann, 2, Juni 1942. in; Horkheimer es, Bd, 17, S, 292.
6 Max Horkheimer, .. Egoismus und FreiheilSbewegung". in; Zeitsrhrijt ftir Sotf'olfor-
srhNng (Zl'S) 1936. S. 227.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal? 121
neo sozialen Gefüges durchbrachen, hjehcn sie auch gewisse Grundmocivc des
Kampfs um politische Emanzipation am Leben, die in der geschäftigen Atmo-
sphäre der in den westlichen Ländern herrschenden politischen Realitäten ver-
gessen worden waren. [...] Die Tatsache, daß die große deutsche Philosophie
weniger und mehr war als nur politische Philosophie, bringt eine Ambiguität
der Deutschen selbst zum Ausdruck. Wenn sie niemals wirkliche Citoyen wur~
den und so teilweise unzivilhiert blieben, wurden sie doch auch niemals völlige
Bourgeois, söhnten sich also nicht selbstgefallig mit dem intellektuellen und
poLitischen starus qua aU5,,,9
Bei eben dieser Ambiguität der Deutschen setzten Horkheimer und Adorno
an. Vor allem gilt das für Adorno, der darin eine erstaunliche Kontinuität be-
wies und darin seit den Zeiten der Weimarer Republjk einig war mit der Frank-
furter Schule mehr oder weniger nahestehenden Linksintellektuellen wie Wal·
ter Benjamin und Ernst Bloch. Es ging um ein Ansetzen bei der Ambiguität
der Deutschen auf dreifache Weise: es galt, diese Ambiguität klar darzulegen;
es galt, ohne Berührungsängste nach dialektisch brauchbaren Erbschaften Aus-
schau zu halten; es galt schließlich, die Deutschen zum renektierten Umgnng
mit ihrer eigenen Ambiguität zu bringen, so daß an die Stelle einer split per-
sonaliry Ambiguitätstoleranz trat.
1n seiner Antwort "Auf die Frage: Was ist deutsch" führt Adorno vorsichtig
als spezifisch deutsch an "dies Ineinander des Großartigen, in keiner konven-
tionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen".10 Aber
was heißt das? Adorno gibt eine dreifache Antwort darauf. Die eine heißt:
"Drang zu unendlicher Herrschaft [im politischen Bereich, R. W.] begleitete
die Unendlichkeit der Idee, das eine war nicht ohne das andere."l1 Damit ist
offenbar gemeint, daß ein alle Grenzen mißachtender großartiger Radikalismus
des Geistes untrennbar verknüpft ist mit einem alle Grenzen mißachtenden
monStrösen Radikalismus imperialistischer Politik. Andererseits heißt es bei
Adorno auch, daß "die idealistischen Philosophien und Kunstwerke nichts to-
lerierten, was nicht in dem gebietenden Bannkreis ihrer Identität aufging".12
Damit wäre bereits jegliches Grenzüberschreiten, gleich in welchem Bereich,
dem geistigen oder dem politischen, monstrÖS, weil es kein Grenzüberschrej-
ten mit offenem Sinn für das jenseits der Grenze liegende Andere war, sondern
ein Ausweiten des Herrschaftsbereichs und eine ignorante Integration des An-
deren. Eine dritte Antwort besagt, daß das Großartige grenzüberschreitenden
Geistes unter geeigneten Bedingungen zum Wegbereiter der Monströsität einer
grenzüberschreitenden Politik werden kann.
, Ebd., S. 192 f.
10 Theodor W. Adorno, "Auf die Frage; Was ist deutsch", in: ders., SlidJ}JIOrlt, Frankfurt
a. M. 1969, S. 105.
11 Ebd.
12 Ebd., S. 105 f.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal? 123
Werk rein, ohne aUes Verdeckende in ihrem Furchtbaren und Verstrickten laut
wird, ist es trotz seiner mythologisierenclen Neigung doch, es mag wollen oder
nicht, AnkJage gegen den Mythos."15 Die stets argumemative, vor dem Hinter-
grund der Überzeugung von der Vielschichtigkeit und dem Bedeutungswandel
der Werke auf konkrete ästhetische Sachverhalte eingehende Adornosche Art
des emphatischen Umgangs mit Kunst praktizierte beispielhaft Offenheit für
AmbivaJemes und Eindringen in die Komplexität von Gegenständen. Was
Adorno anzustoßen suchte, war nicht weniger als die Bildung der deutschen
Hörer. Betrachter, Leser zu künstlerischer Mündigkeit.
Verdächtiger war da das Harmlose als das mit Monsuösität Behaftete. "To-
day". so Adorno in dem oben erwähnten Entwurf für eine Umersuchung dar·
über...Wh at National Socialjsm Has Done to the Ans". "we find the heritage
of this denunciatory notion [of Kulturbolschewismus, R. W.) among some of
the sincerest foes of the Hiderian system. The world has become so ugly and
terrifying. so runs the argumem. that an should no longer dweil upon distorted
forms. discords and everything branded as being destructive, but should return
to the realm of beauty and harmony. The world of destruction. terror and sa-
dism is the world of Hit.ler. And art should show its opposition to it by going
back to its tradition al ideals."16
Wenn Habermas unter anderem in einem umer dem Titel "Die Hypotheken
der Adenauerschen Restauration" 1994 veröffentlichten Interview daran erin-
nerte. daß die kulturelle Öffnung der Bundesrepublik nach Westen gegen die
restaurative Dumpfheit der Adenauer-Periode mühsam genug durchgesetzt
werden mußte, dann hatte er dabei vor allem Adorno als herausragende
Schlüsselfigur im Sinn. Adorno war nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner
endgültigen Rückkehr nach Westdeutschland Anfang der fünfziger Jahte viel-
leicht der einzige, der eine Verbindung herstelhe, ja verkörperte zwischen
deutscher, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichender ambivalenter kultureller
Tradition und westlicher Moderne.
15 Ebd., S. 549 f.
16 Adorno, es, Bd. 20.2, S. 422.
Wiggershaus, Was iSI deutsch? Was ist normal? 125
11 Jürgen Habermas, "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie", in: ders., Eint Arl
S(hadtnJab.ridehutg, Frankfurt a. M. 1987, S. 142.
18 Brief Horkheimer-Gerslenm2ier, 10. Juni 1963, in: Horkheimer, GS, Bd. 18, S. 549.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal? 127
und des geheimen Grolls. "Mit dem Hitlerreich, als es noch groß und mächtig
war, dje Arbeitslosigkeit durch Diktatur kurierte und fast den Krieg gewann,
ebenso wie mü der Niederlage, haben die Deutschen eine Erfahrung gemacht,
die andere Völker, etwa Frankreich, durch ältere, umjubelte Diktaturen und
deren Niederlagen, einmal gewon.nen und fast schon wieder vergessen haben.
Die Gewaltherrschaft war in Deutschland krasser, weil sie in der Entwicklung
später kam, wirksamerer Techniken sich bedienen konnte und ein schlechteres
Gewissen übertönen mußte als frühere Tyranneien anderswo. Einmal haben
die Alliierten Frankreich von Bonaparte befreit, der sonst Europa erobert hät-
te. Wenn die Jugend in Zukunft für ihre demokratische Verfassung einstehen
und dje Verächter der Menschenrechte im Osten oder Westen selbst verachten
soll, so muß sie in einem schwierigen inneren Prozeß die Unverletzlichkeit der
Person erst als Idee sich zu eigen machen und an der deutschen Geschichte die
unendliche Bedeutung individueller wie kolJektiver Freiheit einsehen lernen.
I... J Die Nazi-Episode darf nicht bloß ein dunkler Fleck in der eigenen Ge-
schichte blejben, sie kann als eines der schmerzlichen historischen Erlebnisse
des eigenen Volks erinnert werden, durch die es mündig wird. [... 1Um ihre ge-
fährdete Kultur zu bewahren, müssen die Völker dieses Kontinents [... J daran
denken, daß sie jeden Augenblick in Frage steht. Sie bedürfen der Fähigkeit,
auf die Illusion zu verzichten, die in ihrem Innern lauernde Barbarei sei tot."19
Horkheimer schickte den Brief dann nicht dem Präsidenten des deutschen
Bundestags, sondern einen Durchschlag dem hessischen Minister für Erzie-
hung und Volksbildung als Anregung für den Unterricht. Worauf HOtkheimer
resigniert verzichtete und was ja in der Tat ohne entsprechende Partner auf
seiten der Vertreter einer postfaschistischen deutschen Identität nicht von ei-
nem Überlebenden getan werden konnte, hat Jürgen Habermas sich zur Aufga-
be gemacht: das Gespür dafür wachzuhalten, daß "nur die schmerzhafte Ver-
meidung eines doch nur zudeckenden Bewußtseins von ,Normalität'" auch in
Deutschland nach der Adenauerzeit einigermaßen normale Verhältnisse er-
möglichte, daß Normalität in Deutschland nur eine schwierige sein kann. Spe-
zifisch deutsch wäre dann nicht mehr das Ineinander von Großartigem und
Monströsem, sondern eine besonders verständigungs bereite und weitgehende
Akzeptierung des Anderen, Abweichenden dank einem besonders ausgepräg-
ten Bewußtsein fur die Zerbrechlichkeit und Gefährdetheit der eigenen Identi-
tat.
In der von Habermas entwickelten Variante kritischer Gesellschaftstheorie
liegt der Akzent auf einer Kritik der Verständigungsverhältnisse. Im Licht sei-
ner Teilnahme als Intellektueller an der öffentlichen Erörterung deutschen
Selbstverständnisses zeigt sich, daß das eng zusammenhängt mit einer genera-
tionsspezifischen Erfahrung. Eine traumatische Vergangenheit verlangt nach
der Auflösung scheinhafter Akzeptanzen und der Herausbildung einer poljti-
19 Ebd., S. 551 f.
128 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
I
Wissen soll anwendbar sein. Prax..isferne Bildung, Grundlagenforschung, wis-
senschaftliches Liebhabertum, v3!folbunclierencle Renexion - sie sind vielleicht
dann noch eine gewisse Zeit an Universitäten geduldet, wenn sie glauben ma-
chen können, daß in ihrem Bereich auf wundersame Weise demnächst etwas
entsteht, das irgendwo zum Wohle eines kJcineren oder größeren Teils der
Menschheit angewandt werden kann. In dieser rarendrangvoUen Atmosphäre
von WissensgeseLlschaft haben Disziplinen, die zur Erfindung, Herstellung
verkaufbarer Güter oder der AusbiJdung von Fachpersonal mit unersetzbaren
Fähigkeiten beitragen können, massenkommunikative Vorteile vor den Fä-
chern, deren Identität an große Theorie gebunden islo Es ist das Glück der So-
ziologie, daß sie zumindest in Europa die spannungsvolle Nähe zu der Art von
Philosophie gewahrt hat, die nicht als historische oder kognitivistische Spezial-
disziplin abgedankt halo Wer heute in Sozial- und Kulrurwissenschaften nach
anspruchsvollen Modellen für Theorie-Praxis-Verhiltnisse Ausschau hält, in
denen nicht praxisorientiert theoretisiert, sondern theorieorientiert Praxisfor-
men thematisiert werden, wird bald auf drei Theorietraditionen und Denk-
Schulen stoßen, deren umerschjedliche Auffassungen über Jahrzehnte Gegen-
stand von zum Teil sehr unfruchtbaren Abgrenzungsdebanen gewesen sind:
"Poststrukturalismus", "Kritische Theorie" und "Philosophische Anthropolo·
gie". Die intellektuellen Grabenkämpfe von "Struktur" versus "Geschichte",
"Geschichtlichkeit" versus "Anthropologie", "Subjektverendung" versus "Au-
thentizität", "Vernunft" versus "biologistischer Irrationalismus" und andere
mehr haben dabei aHzuoft verdeckt, daß mit diesen Richtungen drei Themen
im 20. Jahrhundert aufgebrochen sind, die für das sehr alte Iheona Cilltl praxi ei-
nen neuen Zugang versprechen.
Nimmt man zum Beispiel Michel Foucauh, Theodor W. Adorno und Hel-
rnuth Plessner als Repräsentanten, so ließe sich sagen: Bei Foucault geht es
neben vielem anderen um das Verhältnis von Surrealismus und Strukturaljs-
mus, um dje Beziehungen zwischen Kunstpraxis und Wissenschaftspraxis, zwi-
schen Poesie und Präzision, zwischen Suggestion und Rationalität. - Bei Ador-
no geht es um das Risiko der Fortsetzung des Marxismus aJs einer Fortsetzung
der revolutionären Tradition Europas, ob man sie nun in der alten Welt, im
130 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Mittelalter oder in der Neuzeit beginnen läßt. - Bei Plcssncr geht es um das
Verhältnis von Biologie und Kultur des Menschen, das sich mit den dramati-
schen Fortschritten der Humanwissenschaften und ihrer technischen Anwen-
dungen neu stellt. - Foucault, Adorno und Plcssner sind insofern beliebige
Namen, sie dienen als Abkürzung von Problem beschreibungen, die sich im 20.
Jahrhundert bei zahlreichen InteilekrueUcn wiederfinden lassen. Man könnte
auch sagen, es geht um die drei Antinomien von Lebenskunst und Wissen 4
II
Das Verhältnis von Theorie und Praxis stellt sich je nach Wahl des Rahmens
etwas anders dar. Die wichtigsten bekannten Rahmungen seien hier proviso-
risch gegliedert. Dabei werden die Differenzen überbetont. In der Denkge~
schichte des Theorie-Praxis-Problems sind vermutlich Mehrfachnutzungen der
Rahmenbestimmungen das eigentlich Interessante.
Den historisch frühesten Rahmen bildet vielleicht der Rahmen des Heiligen
und des Profanen. Die TheoriesteIle nimmt hier eine Prophetie oder ejne Visi-
on ein, oftmals handelt es sich um Erscheinungen des Traumes. Es ist eine be-
sondere Qualität spiritueller Erfahrung, die sich dann einstellen kann, wenn
der Druck des Alltags ruht und die Tätigkeit der praktischen Lebensgestaltung
ausgesetzt ist. Daß das Bereitmachen für die göttliche Inspiration seinerseits
zum Teil sehr umständliche rituelle Praktiken erforderlich macht, ist bekannt.
Aber diese Praktiken sind Pseudo-Praktiken, sie sind abgehoben von dem, was
in unheiligen Handlungsbereichen getan wird. Theorie ist in diesem Rahmen
transzendierend, Praxis verbleibt in der Immanenz. Theorie richtet sich auf
den Bereich des AußeraUtäglichen, sie soll gerade in Spannung zum gewöhnli-
chen Tun und Lassen treten und weitabgewandt ein Reich eröffnen, das nicht
von dieser Welt ist.
Neben die religiöse Rahmung kann diejenige gestellt werden, die in der For-
mel "Philosophie und Leben" vorljegt. So sei Thales, während er sich mit den
Sternen beschäftigte, in einen Brunnen gefallen und habe sich von der lachen-
den Dienstmagd aus Thrakien sagen lassen müssen, er wolle Dinge am Himmel
zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor den Füßen
liege, verborgen bleibe. Hans Blumenberg hat die zahlreichen Versionen dieser
Eßbach, Subversion, Kritik und Korrektur 131
Geschichte von Platon bis Heidegger als eine "Urgeschichte der Theorie"
nacherzählt. Das Denken wird hier als eine Abstraktion vorgestellt, die von der
RaumzeitstelJe des Körpers wegführt, so daß schon ein kJeiner Schritt zum
nfall führt. Diese Theorie kann auch graue Theorie werden, die vom bunten
Traum des Lebens Abschied genommen hat. Es ist die unempirische Theorie,
die gegen das Pathos des "Wirklichen", sei es als "wirkJichen Menschen" Feu·
erbachs, sei es als "Studium der Wirklichkcit" bei Kar! ,fanc in Anschlag ge·
bracht wird. Oft ist es eine Art Idealismus, der diese TheoriesteIle einnimmt.
eine handlungslose Selbstbesinnung oder Reflexion, in der man Arnold Gehlen
zufolge gar keine \'(/irklichkeit erfahrt. Umgekehrt entsteht solche Reflexion als
ein Kreisen in sich, wenn Handlungschancen verwehrt sind oder wenn Praxis-
räume verschlossen erscheinen, weil die Fallhöhe zwischen dem orientierenden
Leuchten der Sterne und den banalen Hindernissen einer Wegstrecke zu groß
ist. Eine insistente DauerreOexion ist nach Helmut Schelsky bekanntlich nicht
institutionalisierbar, und wo sich Reflexionseliten gebildet haben, gilt für ihn
buchtitclgebend "Die Arbeit tun die anderen".
Sonntägliche Vision und Alltag, die Theorie des Himmelsgewölbes und die
praktischen Schritte - in beiden Rahmungen ist die Praxisseite nur umrißhaft
als eine Seite, die einen Abstand zur Theorie hat, eingeführt. Wollte man wei-
tere Differenzierungen entwickeln, so ließen sich in idealtypischer und heuri·
stischer Hinsicht drei differenziertere Theorie-Praxis-ModeUe bilden:
I. Kopfarbeit und Handarbeit,
2. \Xlissen und l'o-lacht sowie
3. Projekt und Experiment.
1. Die Theorie·Praxis· Vermittlung kann in der marxistischen ünie als Unter·
schied von Intellektuellen und Proletariern, von Kopfarbeit und Handarbeit
profiliert werden. Der junge Mars: hat in Anschluß an Moses Heß' europapo-
litisches Konzept eines Bündnisses deutscher Theorie und französischer Praxis
sein generalisiertes k1assentheoretisches Bündnis von Philosophie und Proleta-
riat entwickelt. Dabei ist die Theorieseite als gründliche Philosophie oder spä.
ter häufiger als Kritik bestimmt, während auf der Praxisseite schwankend mal
"Herz" und mal "Hand" als Metaphern dienen werden. Beide könnten heute
als Solidaritätsfahigkeit des Einzelnen und als Organisation der Arbeit über-
setzt werden. Darüber hinaus erscheim die Praxisseite als in verschiedener
Weise so .. materialistisch" konnotiert, daß der a.Ite Gegensatz von Geist und
Natur weitertransportiert werden kann. Die marxistische Arbeitsteilungslehre
ist in den Narrativen \'on der Entstehung der Arbeitsteilung schwankend. Zu-
nächst ist die Arbeitsteilung von Mann und Frau im Geschlechtsakt begründet.
dann gilt als größte Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit die Tren-
nung \'on Stadt und Land.
In der Kritischen Theorie jedenfalls ist das Motiv hochpräsent. Bei Adorno
mit einem besonderen Interesse am Einzelsubjekt. Meine These ist. daß das
Theorie·Praxis-ModeU vom Typ Kritik wesent.lkh dieser Tradjtion, Theorie-
132 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
III
Nach dieser systematischen Skizze möchte ich Verflechtungen der drei Model-
le ein Stück weit theoriegeschichtlich entwickeln. Subversion, Kritik und Kor-
rektur haben jeweils eine enorme inteJIektuelle Vorgeschichte, bis sie die Ge-
stalt gewonnen haben, die Foucault, Adorno und Plessner ihr gegeben haben.
Hilfreich ist es, genauer auf die Urszene um 1900 zurückzugehen, in der in der
Grundlagenkrise moderner Wissenschaft die Einheit von Natur- und Geistes-
wissenschaften so zerbricht, daß diese Kernspaltung sich innerhalb der einzel-
nen Domänen fortlaufend fortsetzt. Natur- und Geisteswissenschaften treten
in dem Moment auseinander, da sowohl für den Naturbegriff wie fur den
Geistbegriff neue wissenschaftliche Rahmungen erforderlich werden. Sowohl
Philosophische Anthropologie und das Modell der Korrektur als auch Kriti-
134 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
sehe Theorie und das Modell der Kritik wie auch die Spannung zwischen Sur4
realismus und Strukturalismus, die für den späteren Poslstrukturalismus maß-
geblich werden wird, haben in derselben Krise ihren Ursprung. Ich erinnere
nur stichwortartig an einige Zusammenhänge.
Oie alte VorsteUung einer Gesetzesratio, die der atur immanent ist und die
menschlicher Intellekt nach und nach durchsichtig machen kann, weil er selbst
de,r narurimmanenten Gesetzlichkeit angehört, muß angesichts biologischer
und psychologischer Forschung fallengelassen werden. Die stabile Beziehung
physikalischer Naturgesetzlichkeit, die sich im zeitlichen empirischen Gesche-
hen zeigt, zum erkennenden Vernunftsubjekt, das sich seiner zeitlosen Ver-
nunftfunktion sicher ist, wird fraglich, wenn z. B. nach Hirnschädigungen bei
Aphasikern oder bei Versuchspersonen nach Einnahme von Rauschmitteln
nicht nur Ausfallerscheinungen zu vermelden sind, sondern aus dieser Natur
heraus sich relativ geschlossene Sonderwelten einer anderen Wahrnehmung
lind eines anderen Denkens bilden. Mit diesen und anderen Forschungen, z. B.
mit Uexkülls protokybernetischer Umweltlehre, werden biologische Phänome-
ne vom physikalischen Naturbegriff ein Stück weit distanziert und in eine neue
Beziehung zu psychischen Erfahrungs- und Erlebniswelten gebracht, für deren
Emschlüsselung nicht zuletZf die Psychoanalyse genutzt werden konnte. Die
Aphasiker von Gelb und Goldstein, Freuds Traumdeurung und die Rauschmit-
telexperimeme, sie kehren als Bezugspunkte bei Plessner und Adorno ebenso
wieder wie im Surrealismus und Strukturalismus als den beiden Hauprquellen
für das Denken Foucaults.
Während biologische und psychologische Forschung sich aus dem allgemei-
nen Physikalismus des Naturbegriffs herausarbeiten, in dem Zug um Zug Dif-
ferenzierungen zwischen Anorganischem und Organischem und solchen zwi-
schen Organischem und Psychischem hervortreten, pluralisiert sich mit den
Fortschritten von ethnologischer, soziologischer und histOrischer Forschung
das, was als menschlicher Geist bislang kohärent und eindeutig vorgestellt
wurde. Kunst, Religion und das Wissen selbst stehen nicht mehr niederen Le-
bensphänomenen absolut entgegen, sondern werden daseinsrclativ. Ausgear-
beitet werden Korrelationen von Natürlichkeit lind Künstlichkeit, einmal -
Marx weiterschreibend - der natürlichen Lebensgrundlagen und der Wirt-
schaftsweise, dann - Freud weiterschreibend - der biologischen Sexualfunktio-
nen und der Familienformen mit allen Sex-Gendcr-Verhältnissen, sowie
schließlich - Nietzsehe weiterschreibend - des vitalen Dominanzstrebens und
der Formen von Recht und Politik. Über Wahrheit und Wissen kann man seit-
dem nicht mehr sprechen, ohne sich mü Fragen von Historizität und Kultur-
relativität auseinanderzusetzen. Die GeschichtJichkeit der \'(lehsicht und die
topologische Streuung nebeneinanderliegender und ineinander verschachtelter
Wehen ist in den Referenzen z. B. Plessners auf Dilthey, Adornos auf Man:
und Foucauhs auf den Surrealismus stets präsent.
lvlit diesen Entwicklungen erwies sich die philosophische Bastion des Neu-
kantianismus, das heißt der strikten Scheidung ideographischer Wertewissen-
Eßbach, Subversion, Krilik und Korrektur 135
IV
Abschließend noch emige Überlegungen zu der Frage: Tragen die drei Theo-
rie·Praxis·Modelle noch heute und für die Zukunft? Die Antwort ist einfach:
Solange keine neuen Konzepte erkennbar sind, bleiben uns nur die, die skiz-
ziert wurden. Wenn nun keine neuen Konzepte vorliegen, sondern wir auf eine
postmoderne Reflexion der Konzepte der Moderne des 20. Jahrhunderts ver-
wiesen sind, so bleibt freilich immer noch die Umwegfrage: wie steht es mit
den gesellschaftlkhen Bedingungen, an die Subversion, Kritik und Korrektur,
an die ein Denken im Geiste Foucaults, Adoroos und Plessners gebunden wa-
ren. Wie haben sie sich verändert und wie werden sie sich vielleicht verändern?
Eßbach, Subversion, Kritik und KorreklUr 137
Ich gehe davon aus, daß die drei Theorie-Praxis~Modelle historisch auf ver-
schiedene Weise mit Institutionen und Bewegungen verflochten waren: das
Korrekturmodell Philosophischer Anthropologie mit der Idee und Institution
der niversität, das Subversionsmodell des PostslrukturaLismus mit dem
Avamgardismus in der Kunst und seinen Ansprüchen auf die Gestalt des le-
bens, das Kritikmodell der Kritischen Theorie mit dem Schicksal des InteUek~
tuelIen in revolutionären Bewegungen.
Wenn wir also die Chancen des Modells Korrekrur heute abschätzen wollen,
ist der Blick auf den Zustand der Institution Unh'ersität zu werfen. Dabei geht
es nicht nur um die innerwissenschaftliche Frage, wie nach der Verwandlung
der Philosophie in ein Spezialfach zwischenfachliche Korrekturen kommuni-
ziert werden können, wie Wissenschaft als Lebensform möglich ist. Es geht
genauso darum, welche Chance zu an Würde orientierter Korrektur von Staats~
praxis heute noch bestehen. Es ist nämlich fraglich, wie lange sich die Univer-
sität als staatliche Anstalt gegen die Korruption des Staates und der staatstra-
genden Parteien zu verteidigen in der Lage sein wird. Korruption entsteht be-
kanntlich da, wo es nicht gelingt, Macht und Würde zu verbinden.
Wenn wir die Chance des Modells Subversion heute abschätzen wollen, ist
das Verhältnis von Künsten und J\'ledien in den Blick zu nehmen. Viele
surreale OarsteUungstechniken sind heute integraler Bestandteil der Massen~
kultur geworden, und man ist unsicher, ob es überhaupt noch ästhetische
Avantgarde geben kann. Auf l\'fedienwirkung berechneter Terrorismus hat die
Schockwirkung der Kunst bei weitem überboten.
Wenn wir schließlich die Chance des Modells Kritik heute abschätzen wol-
len, gilt es als Intellektueller wie eh und je nach revolutionären Bewegungen
Ausschau zu halten, die aus ihrer Lage heraus Gerechtigkeit fordern, weil sie
ein Glücksversprechen empfangen haben. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob
das Molekül aus Revolution und Bewegung zerfallen ist. Denn die derzeit
größte und dramatischste Bewegung, die weltweite Migration, hat noch keinen
revolutionären Charakter angenommen.
Subversion, Kritik und Korrektur als drei Theorie-Praxis-Modelle sind in
ihrer historischen Gestalt bei Foucault, Adorno und Plessner an Voraussetzun-
gen gebunden, von denen nicht sicher ist, ob sie noch gegeben sein werden. Es
ist ungewiß, ob für die Antinomie von Heilsversprechen und Herrschaft in
weltweiten Prozessen der Migrationen ein identifizierbarer Ort sich findet, von
dem aus Kritik möglich ist. Es ist nicht minder ungewiß, ob die Antinomie von
Lebenskunst und Wissenschaft im Horizont der Ausbreirung massenmedialer
Apokal)'psen und Erregungskünsle noch durch subversive Praktik bearbeitet
werden kann. Es ist schließlich auch ungewiß, ob in der Antinomie von Würde
und Vereinseitigung angesichts der Erosion der Idee einer "unbedingten Uni·
versität" und ihrer technischen Umstellung von Institution auf funktionale
Organisation noch wesentliche Korrekturmöglichkeiten bestehen. Es sind viel-
leicht gerade diese drei geschichtlich-praktischen Ungewißheilen, die das Fort-
leben subversiver, kritischer und korrektiver Philosophie: sichern.
Hermann Schwengel
wiederum aJs Akteur zu behaupten sucht 2 - dringt vor. Integration ist in man-
cher Hinsicht die Schwundforrn der alten politischen Figur der Aufhebung, der
die Widersprüche, die einmal zur Notwendigkeit der Aufhebung führten, gar
nicht mehr bewußt sind, der ein trivialisierter Begriff der politischen Gemein-
schaft ausreicht. Integration ist in so vieler Hinsicht ein Nicht-Begriff gewor-
den, der der Schärfe des liberalen Denkens der Differenzierung nur ein Gefühl
entgegenzusetzen vermag. Atmosphärisch bilden Luhmann und Schumpeter
zwei Seiten derselben Medaille, der die politisch-symbolische Welt des Integra-
tionsdenkens - und IdentitälSdenkens - keine eigene Währung entgegenzuset-
zen vermag. Diesen Zusammenhang gilt es zu durchbrechen.
2 Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Dir ,ulle IlVeilord"lIrJg, Frankfurt a. M./
N~w York, 2000, S. 402.
:} Vgl. zum folgenden Rudolf Stichweh, Die l/YtltgmllJ(haft. SoZi%giJ(be A"o!Jun, Frank-
furt a. M. 2000, S. 15 ff.
Schwengel, Von Luhmann zu Hegel J 41
satzes offenbar, nämlich daß es keinen Begriff gibt, der Stadt und Staat auf ei-
nen Nenner zu bringen vermag, die poljtisch-geographischen und soziolo~
gisch-funktionalen Argumemationslinien laufen nebeneinander her, ohne sich
wirklich zu schneiden.
Demgegenüber läßt sich mit Luhmann jede Interaktion und jedes Ereignis
in den Modi von Interaktion, Organisation und Gesellschaft beschreiben, so
daß die Perspektiven vor Ort zusammengefühn werden können. Die imerme-
diäre Systemebene Organisation - die mediale Kommunikation eingeschlossen
- ist zemrale Zugangs- und Vermittlungsagemur zwischen lokaler und globaler
Weh. Verbunden mü diesem Primat der Organisation sind zwei weitere leiten-
de Hypothesen, die eine nennt Stichweh die "Undsoweiter"-Hypothese, die
andere die Dekomextualisierungsthese. Die eine bedeutet, daß in jeder lokalen
Interaktion bereits der Keim der nächsten angelegt ist, daß jede Verflechtung
die Möglichkeit weiterer globaler Verflechtung einschließt und Macht gegen-
über der Verweigerung von Globaljsierung bedeutet. Dekomextualisierung be~
deutet wie bei Anthony Giddens. daß Professionen, kommunikative Medien
wie Vertrauen und generalisierte Symbole aus ihren historischen Zusammen-
hängen entbettet sind, neu zusammengesetzt und verbreitet werden. Diese Tri-
as von Organisation, permanemer Anschlußwahrscheinhchkeit und Embet~
tung drückt die strukturelle Dominanz der Funktionssysteme, monetäre Öko-
nomie und mediatisierte Kultur aus, während die Engführung von Politik und
Gesellschaft - liberal oder marxistisch akzentuiert - demgegenüber zurücktritt.
Daran wird die Kritik der Konstellation Luhmann anzusetzen haben.
Das Faszinosum der Systemtheorie rührt auch aus der Tatsache, daß hier die
Überdetermination von Begriffen wie Arbeit endgültig anerkannt zu sein
scheint und damit Raum für - beobachtersensible - Kommunikation geschaf-
fen wird. Systemtheoretiker wissen allerdings, daß damit Begriff und Sache der
Arbeit nicht erledigt sind. Jungluhmannianer wie Dirk Baecker sprechen des-
halb erneut von der Form der Arbeit, unter Verwendung des Formbegriffs von
George Spencer-Brown, ..in dem festgehaJten ist, dass eine Bestimmung 1... 1
von was auch immer (hier: zum einen der Arbeit, zum anderen jedoch auch des
Begriffs der Arbeit) eine Unterscheidung l... J voraussetzt. die die bestimmte
Seite [... 1 von einer unbestimmten Seite [... 1 unterscheidet. Eine Form enthäh
beide Seiten der Umerscheidung lind dje Operation ihrer Unterscheidung. l... J
Der imeressante Punkt bei diesem Formbegriff ist, dass diese Bestimmung
zum einen auf das hin gelesen werden kann, was sie bezeichnet, zum anderen
auch auf den sie begleitenden unbestimmten Raum hin, von dem sie sich ab·
setzt, und zum dritten auf die Operation der Unterscheidung selbst hin, die
konkret vollzogen werden muss, soll die Umerscheidung zustande kommen
und Bestand haben" (Baecker, 2002, S. 207). Wem die Arbeitswelt heute zu
kompliziert wird, der mag sich auf den klassischen Arbeitsbegriff zurückzie-
hen, den Baecker zurückweist, nämlich daß Arbeit immer dann stattfindet,
wenn körperliche Kraf[ aufgewendet wird. Es gibt immer wieder einmal Remi-
niszenzen an diesen Arbeitsbegriff, etwa wenn der Hisroriker Paul Nolte die
142 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
das er eröffnet hat. Frei nach Mao Tse Tung: Vom Berge aus beobachten, wie
sich die Tiger im Tal zerfleischen. Wenn heute von knowledge brokers die Rede
ist, von spin doc/ors und Denkfabriken, globalen intellektuellen Zirkeln und stra-
tegischen Netzwerken, die an die Stelle der kontroversen Inreraktion von Poli-
tik, Wirtschaft und Geist treten, f.'inde die kühle Distanz, die systematische Su-
che nach funktionalen Äquivalenten für histOrische Problem lösungen und det
Übergang von der Soziologie zur Biologie als posthistorischer Leitwissenschaft
in der System theorie vieUeicht eine Sprache. Die Elitentheorie funktioniert al-
lerdings nur, wenn in den beiden anderen Bereichen, den der gesellschaftlichen
Arbeit und globalen funktionalen Beziehungen Erfolg zu beobachten ist. Dar-
an sind unter dem Zeichen von Terror und Krise Zweifel angebracht.
schnell wie amerikanische ELüen mit Fukuyama die Geschichte für beendet er-
klärt hahen, nehmen sie die Weltgeschjchte wieder auf und strafen die europäi-
schen Inszenierungen der Differenz mit Verachtung. Auf allen diesen drei Fel-
dern lassen sich HegeIsche Motive mobiljsieren, die für die Vermittlung von
Theorie- und öffentlicher Debatte von hohem Interesse wären.
Die zentrale Stellung von Organisation, permanenter globaler Anschluß-
fähigkeit und Entbettung hat in der KonstelJation Luhmann einen Primat der
Wirtschaftskulrur begünstigt. Demgegenüber ist das HegeIsche Motiv eines
Primats der Beziehung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft interessant, de-
ren Vermjttlung die winschaftskulturellen Wahl prozesse formatiert. Diese
Vermittlung verlangt intermediäre Gewalten, die sich gegen ständisch-sozial-
strukturelle VerkJumpung wie liberale Verflüssigung der politischen Beziehun-
gen zu definieren haben. Verbunden ist diese Vermittlung mü der Drift der
Zentren historischer Entwicklung vom Orient zum Okzident, von Oberitalien
nach Großbritannjen, von Europa nach Amerika, vom Atlantik zum Pazifik.
Eine gelungene Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staatlichkeit ist
mit einer exemplarischen Stellung in der Entwicklung globaler Zivilisation ver-
bunden und umgekehrt. Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte und
Rechtsphilosophie sind wieder im Zusammenhang zu lesen. \'(lährend sich in
der liberalen Debatte das Motiv der Anerkennung weitgehend aus dem Kon-
text der Arbeit gelÖSt hat und als wechselseitige Anerkennung politischer und
kultureller Bürgerschaft ihr Ziel bestimmt, ist die Grundierung der Anerken-
nung in der Arbeit das Motiv, das Hegcl für Mau' Kritik des industriellen Ka-
pitalismus wie unsere des Informationskapitalismus so interessant werden
läßt. 4 Das unselbständjge Bewußtsein, der Knecht, ist der eigentliche Produ-
zent, weil er sich direkt in produktive Arbeü auf die Natur bezieht. In die
Form der Arbeit ist die Machtbeziehung zum Herrn von der erSten Vermitt-
lung an eingelassen. Während Fukuyama in seinem "Ende der Geschichte"S
Hegels Aktualität noch außerhalb und gegen die Ökonomie in der Risikobe-
reitschaft des herrschaftswiJligen Akteurs gesehen hat, ist unter den Bedingun-
gen des informationsindustriellen Kapitalismus gerade der Gestaltungs- und
VermittiungswiUe in und mit der Ökonomie erneut Ursprung der Aktualität
HegeIs. Spielen wir mit HegeIs Motiven. Wenn sich alte und neue Ökonomie
durchdringen, steht den nichts als abhängigen Datenknechten die vermittelte
Selbständigkeit der Symbolherren zunächst abstrakt gegenüber: im Symbol-
produzenten ist dem DatenknedH das Fiir-!ich-Stin ein anderes. Das ist aber
nur der Anfang, denn im BiJdungsprozeß des informationsindustrieUen Geistes
wird das Für-sieh-Sein als ein eigenes Für-sich reflektiert, das heißt, durch die
Informationsarbeit bildet es sich zur reflektierten Subjektivität o11-und-flir-tich
heran und wird dem Herrn dadurch gleich. Nach diesem Muster gilt es, die In-
formationsökonomie und ihre globale Struktur - im Kontexr des Hegclschen
Motivs - zu betrachten. Schließlich und endljch ist das Motiv einer allgemei-
nen Klasse interessant, die dem Ethos der föderativen und subsidiären WeItre-
publik verpflichtet, repräsentative Elitendifferenz - und Elitenkonflikt - öf-
fentljch darstellt, um den Widersprüchen der Globalisierung angemessene
Wahl- und Identifikationsprozesse zu ermöglichen. Von der preußischen allge-
meinen Klasse führte schon ein geheimer Pfad zur progressivistischen ameri-
kanischen universal clou, die durch Intellektuelle wie Walter Lipman und Lionel
Trilling repräsentiert wurde und ein besseres amerikanisches Erbe darstellt als
der heutige partikularistische Bellizismus Washingtons. Die widersprüchliche
Existenz der allgemeinen Klasse erlaubt es, ansonSten unerträgliche Kontro-
versen wie zwischen Reljgion und Kultur auszuhaJten, ganz wie die allgemeine
preußische Klasse den Protestantismus mediatisierte. Dabei mag die Vernunft
intensiver, \'erbindlicher und expressiver werden als in ihrer okzidentalen Ver-
fassung.
Alles in allem hat die Anrufung der vergangenen KonsteUation Hege! den
polemisch-kritischen Sinn, an den Grenzen der Konstellation Luhmann ein
neues Spiel zu eröffnen. Es ist der Zusammenhang der drei skizzierten Motive,
der uns nötigt, in dieser vermittelten Weise wieder von Hegcl zu sprechen,
obwohl die historische Zeit zweier Jahrhunderte dazwischen liegt. Hegels Mo-
tive sind am Vorabend der Durchdringung der europäischen Gesellschaft
durch die industrielle Revolution formuljert, am Vorvorabend der Verschje-
bung der okzidemalen Machtdynamik über den Atlantik und noch ohne Ah-
nung, welche Arbeit den Geist in der Vermittlung globaler Zivilisationen noch
erwartet. Vielleicht bringt es die Globaljsierung aber mit sich, daß diese früh-
modernen Motive dazu beitragen, die spätmoderne Abkühlung des Politischen
in Europa aufzuheben .
•
Gerard Raulet
Demokratie, Republikanismus,
Multikulturalismus
Zur Problematik der französischen Citoyenneti
In meinem Buch Kan/: His/oire e/ cilrqenneli' habe ich versucht, der herrschen-
den moralistischen Interpretation von Kants politischer Philosophie entgegen-
zuarbeiten, indem ich den Akzent auf eine "Teleologie« des Republikanismus
gesetzt habe. Implizit war meine Zielscheibe eine bestimmte Form des Ultra-
Republikanismus, die stark in der Tradition der französischen laizistischen
Ideologie verwurzelt ist, sei sie nun von rechts oder von links, und deren Ver-
hängnis darin besteht, die Frage der Rechte du.rch die Frage nach den Pfljchten
zu ersetzen. 2
Ebenso verhängnisvoll erweist sich aber auch die umgekehrte Tendenz, die
im Zuge der wachsenden Fragmentierung, ja Tribalisierung der Gesellschaft
die Grundlage eines gemeinsamen Rechts immer mehr durch partikularistische
Rechtsansprüche ersetzt und Staatsbürgerrechte über Gerichtsentscheidungen
anerkennen läßt. Diese EntwickJung hat zur Folge, daß die Cilrqenntti zwar
nicht mehr nur eine Ordnung der Pflichten ist, dafür aber immer mehr als eine
Unordnung der Rechtsansprüche erscheint. Die Gleichung, auf der die repu-
blikanische Ideologie beruhte - die Gleichung von den Pflichten und den
Rechten, oder besser gesagt von der Pflicht und den Rechten -, scheint sich
überlebt zu haben. Immer häufiger werden der Comeil d'Etat oder der Europäi-
sche Gerichtshof der Menschenrechte aufgefordert, über Menschenrechte zu
entscheiden. Diese Tatsache macht eine wachsende Spannung zwischen Men-
schen- und Staatsbürgerrechten manifest, während gerade die Verbindung zwi-
schen Menschen- und Staatsbürgerrechten das Hauptziel der Grundrechte aller
rechtsstaatlichen Verfassungen war und folglich in jedem Rechtsstaat prinzipi-
ell gesichert ist. In keinem Rechtsstaat dürfen, zumindest im Prinzip, die
Grundrechte eingeschränkt oder beseitigt werden. Ganz offensichtlich sind wir
aber in eine Phase der Turbulenz eingetreten, wo auf der einen Seite diese
Eines muß festgehahen werden: Die Cilqyenneli hat sich als die moderne ra-
tionelle Version der gemeinschaftlichen Werte Iierstanden Jwd durcbgeulzl. Sie hat
diese in einem Rechtsstaat institutionalisiert, der zugleich Ausdruck der Zivil-
gesellschaft ist und etwas darstellt, was man in Analogie zur Idee der "zweiten
Natur" eine "zweite Gemeinschaft" nennen könnte. Der Historiker Claude Ni-
colet hat darauf hingewiesen, daß die Ciltryenneti neben den Zi'lilrechten für jedes
Individuum auch, wenigstens nach der französischen Auffassung, Biirgerrtthtt
impliziert, die die "Zustimmung zu einem Konsens, eine Art ,Glaubensbe·
kenntnis' erfordern, das mit bestimmten Einstellungen oder Dogmen unver-
einbar ist".3 Dieses Moment der Rationalisierung ist freilich in eben demselben
Maße problematisch, wie es im Gegensatz zu den unüberlegten, gleichsam na-
tun.vüchsigen Zugehörigkeiten rational ist. Die Auflösung föderaler Staaten,
wie etwa die UdSSR oder Jugoslawien, belegt dies, aber wir würden uns irren,
wenn wir meinten, daß diese Problematik nur solche an sich schon prekären
Gebilde betrifft. Die Ciloytnne/i impliziert vielmehr immer die Problematik der
..lntegration", und dies um so mehr, als der moderne Staat die Nation erst
recht schafft und damit die Nationalität notwendigerweise an zweite Stelle ge-
genüber der Ci/oymne/i trin: die revolutionären Verfassungen Frankreichs defi-
nieren sie ja als Treue zur Verfassung.
Die so verstandene Nation ist aus vielen Gründen ein sehr labiler Komplex.
Es ist auch kaum zu bestreiten, daß es in der Ci/oyenne/i selber ein Ausschlie-
ßungsmoment gibt, das vom Begründungsakt von Identität, den sie darstellt,
untrennbar ist. So hat während der Französischen Revolution die politische
Durchsetzung der Ciloyenne/i die Form eines Feldzugs gegen die Dialekte, vor
allem in den Grenzgebieten, angenommen. Dieser Nationalismus entsprang
zwar aus den edelsten Absichten, er war kein partikularistischer NationaEsmus,
sondern war universalistisch und fortschrittlich gesinnt. Nichtsdestoweniger
wurde er mit einigem Recht als imperialistisch abgestempelt, als eine Verein-
nahmung des Allgemeinen, als ein Besonderes, das sich für das Allgemeine
ausgab. Wie sehr wir sie in der französischen Verfassungstradition auch gleich-
zusetzen neigen: die Ci/oymne/i ist zugleich national und universalistisch, die
No/ionolilii/ ist ihrerseits immer partikularistisch und setzt immer eine Vielzahl
von anderen Nationalitäten voraus. Seit der Französischen Revolution haben
sich unsere Verfassungen bemüht, diesen Gegensatz zu schlichten: Französi-
scher Staatsbürger sein bedeutet von französischer Nationalität zu sein; Aus-
länder, die an den mit der französischen Staatsbürgerschaft verbundenen Bür-
gerrechten teilhaben wollen, müssen sich einbürgern lassen. im Guten wie im
Schlechten haben andere Verfassungen den Unterschied aufrechterhalten: so
konnte man in der UdSSR sowjetischer Bürger jüdischer Nationalität sein. In
der französischen Tradition wie freilich auch in ihrer kolonialen Ver~ngenheit
.} Claude Nicolet: L 'idee ripNblicaint tn Franu (1789-1924), Paris 1982, 1994, S. 371. Vg1.
hierzu RauJet, Chroniqut dt l'uPO{t puhlte, Paris 1994, S. 227 f.
Raulet, Demokraue, Republikanismus, Multikulruralismus 149
gab es hingegen für Mohammedaner, die auf ihren religiösen und bürgerlichen
Sonderstarus nicht verzichten wolhen, keinen Zugang zur französischen
Staatsbürgerschaft bzw. Nationalüät. Bestenfalls konnten sie innerhalb des
französischen Reiches ein arabisches Königreich bilden. Für sie gab es nur
eine Alternative: Unterwerfung oder Integration.
Unter Integration versteht die französische republikanische Tradjtion die
uneingeschränkte Bejahung der bürgerlichen Gesetze und des patriotischen
"Glaubensbekenntnjsses". Wiewohl wir heute unsere kolonialistische "Blüte-
zeit" hinter uns haben, bleibt dies ein Stein des Anstoßes in der Debatte um
Integration. Inwiefern kann man die französische Staatsbürgerschaft gewähren
und dabei eine andere "nationale" Zugehörigkeit dulden? Prinzipiell sollte man
bei der Beantwortung dieser Frage wahrscheinJjch zwischen individuellen Wi·
derständen einerseits und der ausdrücklichen Ablehnung des republikanischen
Vertrags durch konstituierte ethnische oder nationale Gruppen andererseits
unterscheiden. In Wirklichkeit ist mittlerweile eine solche Unterscheidung in-
sofern schwierig geworden, als in vielen Fällen die ethnisch-religiösen Identitä·
ren künstliche, reaktive Folgeersche,inungen sind, die aus individuellen Integra-
tionsschwierigkeiren resultieren und bloß zum Sinnangebot der ethnischen und
religiösen Ideologien greifen.
Das aUes wirft das Problem des Umgangs mit den Differenzen auf. Da man
sie nicht ignorieren kann, soll man sich bemühen, ihrer Anerkennung ein d}'na-
misches Modell der Cilqyetmtli abzugewinnen, anstatt einen Ultrarepublikanis-
mus zu vertreten, der der Republik nicht nur ihre Dynamik nimmt, sondern sie
in die Sackgasse eines unauflöslichen Konfljkts mit ihren Widersachern
zwängt. Ich habe in meinen beiden Büchern über Kant und über die CiIf!YtntUli
versucht, eine solche dynamische Konzeption herauszuarbeiten.
Dabe,i ist mir aufgefallen, daß gerade das Traktat 2unI ewigen Fn'edert, dessen
"Kosmopolitismus" man gemeiniglich übcrstrapaziert4, es vielmehr mit der
Schwierigkeit aufnimmt, die "das Andere" fLir die republikanische Verfassung
darstellt. Was Kant nämlich schon beim Übergang zur zweiten Ebene, der des
Völkerrechts, einführt, ist ein "Recht" auf Andersheir oder zumindest eine Be-
rücksichtigung der Andersheit, die beim Übergang zur dritten Stufe, der Welt-
bürgerljchkeit, die voreilige Verallgemeinerung der Republik verbietet.
Die Verv.'andtschaft dieser Kantschen Position mit den ersten revolutionä-
ren französischen Verfassungen, die ganz ausdrücklich die doppelte Sraatsan·
gehörigkeit ausschlossen und vor allem die Zugehörigkeit zu einem despoti-
schen Staat und den Status eines französischen Staatsbürgers für unvereinbar
hielten, ist unübersehbar. 5 Die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten
des Kant.schen Modells impliziert deshalb auch eine Auseinandersetzung mjt
4 50 Habermas: Konlsltfrt du Eu'igm Fnrdtns _ (JUS dtl11 hiflonsrhen Ahslond Ilon 200 Jahnn,
Frankfun a. M. 1996.
5 VgJ. Raulei, "Citoyennete, nationalite, internationalite", in: I'Et'lnemenl eNropitn 11
(1990) sowie Chroniqut de I'uport puh/ir, 3. a. 0., 5. 216-234.
150 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
der französischen Debatte über "Integration", das heißt mit einem politischen
ModeU, das sich einerseits als allgemeingültig versteht und sich deshalb an-
maßt, im vorläufig beschränkten Rahmen einer Staats nation bzw. eines natio-
nalen Staates das Ziel der Weltrepubtik zu verkörpern, andererseits aber mit in-
neren und importierten religiösen und nationalen Identitätcn rechnen muß und
dabei diese Differenzen respektieren soll, um eben dieses Ziel nicht zu verder-
ben. Aus diesem Grund muß in jedem republikanischen Staat wenn auch kein
Recht auf Andcrsheit, so doch die TalJtJfhe des Andersseins anerkannt werden,
eine Tatsache, die norwendigerweise mit der vorbehaltlosen Identifikation des
republikanischen Bürgers mit dem republikanischen Rechtsstaat in Konflikt
gerät. Dieser Konflikt ist ein Widerstreit der Republik mit sich selbst, gleich-
sam eine "Antinomje der Republik". Dieser Widerstreit stellt für sie insofern
eine unumgängliche Herausforderung dar, als die republikanische Denkungsart
sich gerade an ihm zu bewähren hat.
Zwar beruht das republikanische System auf den drei komplementären und
unlöslichen Prinzipien der Freiheit des Menschen als Mensch - als transzen-
dentales !eh denke und moralisches Subjekt -, seiner Abhängigkeit als Untertan
einer StaatsgewaJt - das heißt als empirisches Ich - und der Gleichheit aller
Bürger vor dem Gesetz, die durch das Recht die Freiheit und die Abhängigkeit
miteinander vermittele Aber gerade wegen der vermittelnden Funktion, die die
Gleichheit der Bürger - die zugleich Untenanen und Menschen sind - in ihr
erfüUt, setzt diese Konstruktion der Republik das Modell eines Übergangs vor-
aus. 6 In teleologischer Hinsicht ist aber nicht die Gleichheit, sondern die Ungleich-
heit die Triebfeder der historischen Dynamik. Gerade mit diesem scheinbaren
Widerspruch hat es die republikanische Verfassung aufzunehmen. Sie soU, ja
sie muß einerseits das schon erreichte Entwicklungsstadium rechtlich kodifi-
zieren und sichern, andererseits soll sie aber diese Kodifizierung so handha-
ben, daß sie die historische Dynamik nicht zum Stillstand bringr. Es geht hier
um die Auffassung der Gleichheit, die Kant im zweiten Abschnitt von Theon'e
Imd Praxis darsteUt, wo er zwischen der formalen Gleichheit vor dem Gesetz
und der weiterbestehenden natürlichen Ungleichheit unterscheidet. Letzrere
kann weiterbestehen, ohne ersterer Abbruch zu wn. Bei aller formalen Gleich-
heit wird somit im republikanischen System selber eine dynamische Spannung
aufrechterhalten, ohne welche diejenigen, die entweder noch nicht zur republi-
kanischen Gesinnung reif sind oder - was gegebenenfalls dasselbe bedeuten
kann - von einem nicht republikanischen Land kommen und aufgefordert wer-
den, sich zur Republik zu bekennen, von dem Fonschritt ausgeschlossen und
im Stich gelassen würden.
Hier soU an den Streit der Fakilltiiten und an die zwei Jahre vorher erschiene-
ne Schrift Verkündigung des naben Absthlmus eines Traktates zum ell1igm Frieden in
6 Vgl. Raulet: "Citizenship, otherness and cosmopolitism in Kant", in: Rada Ivekovic,
Neda Pagon: OJbtrbood and NaJion, Ljub1iana, Paris 1998.
Raulet, Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus 151
dtr Phi/oJophit erinnert werden, die beide die Publizität der Maximen als If/idtr-
Jlnil verstehen - aJs das Recht und die Aufgabe. über Meinungsunterschiede
öffent.lich zu debattieren, weil erst eine solche Debatte die Überwindung des
Dogmatismus und Obskurantismus ermöglicht. Aus denselben Gründen ver-
bietet die republikanische Denkungsan das Verschweigen oder gar Unterdrük-
ken der Differenzen. Wo ein Widerstreit besteht, soll er öffentlich zum Aus-
druck gebracht werden, selbSt und vor allem dann, wenn seine Auflösung, aus
den erwähnten teleologischen Gründen. nicht von heute auf morgen gesche-
hen kann. Darüber hinaus soU aber dieser Konflikt als ein dynamischer und
nicht e[Wa bloß als Hindernis und Störung behandelt werden. Konkret gespro-
chen: Die ungleiche Reife zur republikanischen Gesinnung und die importierte
kuhurelle Verschiedenheit der Sprachen und Religionen dürfen nicht bloß nor-
mativ vom republikanischen Standpunkt aus be- bzw. verurteilt werden. son-
dern sie sollen als dynamische Differenzen aufgefaßt werden. Es verhält sich
bei Kant so, daß die Republik trotz ihrer lückenlosen formalrechtlichen Kon-
struktion in teleologischer Hinsicht erst dann am Leben erhalten werden und
um sich greifen kann - worum es ja letztlich geht -, wenn sie die inneren und
importierten Ungleichheiten und Differenzen nkht gleichzuschalten versucht,
sondern innerlich anerkennt und sogar inszeniert. Dazu soU die republikani-
sche Publizität - als eine politische Öffentlichkeit verstanden, die den \'(fider-
streit zur Debatte stellt - dienen.
Die Republik ist, wie wir vorhin sagten, die moderne rationeUe Version der
gemeinschaftlichen Werte. Als solche steht sie zur bürgerlichen Gesellschaft in
keinerlei Widerspruch: ist es doch gerade die bürgerliche Gesellschaft, die sich
durch die republikanische Verfassung zugleich als ation und als Rechtsstaat
konstituiert. Also kann nach der eigenen Logik des französischen Republika-
nismus das Moment des Staates, der Verfassung, des Republikanismus von der
Rto/iliit der Zivilgesellschaft nicht entkoppelt werden. Zwar scheint es zur Zeit
Schwierigkeiten haben, um der Realität einer tark differenzierten, ja zersplit-
terten bürgerlichen GeseIJschaft angemessen zu begegnen. Doch ist dies noch
kein genügender Grund, sich unbedacht der Position der amerikanischen Neo-
kommunitaristen anzuschließen, die bewußt oder unbewußt das Argument
Rousseaus wiedenufnehmen, nach dem die demokratische Republik sich nur
für die kJeinen Staaten eigne. 7 Gerade in Frankreich - einschließlich seiner Ko-
lonien - hat das republikanische Modell seine Brauchbarkeit für eine "große
Nation" bewiesen - wenn auch mit den Grenzen. die ich mich hier bemühe.
genauer zu umreißen und ernst zu nehmen.
7
"gI. Michael \"('alzer: .. Republic:lInism is :lIn integrated and unit:lll)' doctrine in which
energy and commitment are focused primarii}' on the poLitic:lI1 realm. It is a doctrine
adapted (in both its classiC:lI1 and neocl2ssical forms) 10 the needs of smalI, homoge-
neaus communities, where ei"il soeiety is radicall)' undifferend:llled" ("The Comrnu-
nirarian Critique of Liberalism", in Po/itiro/ Thto'J. 18/1 (1990), S. 20).
152 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Zugleich erweist sich die amerikanische Erfahrung, wie sie die amerikani-
schen eokommunitaristen verzeichnen, angesichts der Atomisierung der Zi-
vilgesellschaft als lehrreich. Die Bilanz, die t...Uchael J. Sande! zieht, stimmt in
vielerlei Hinsicht mit der heutigen Problematik des französischen Modells
überein. Die amerikanische Auffassung der "nationalen Republik" mit ihrem
Patriotismus und ihrem Kult der bürgerlichen Tugenden hat der zunehmenden
Heterogenität der bürgerlichen Gesellschaft nicht standhalten können und
wurde abgelöst von der liberalistischen Auffassung einer ..prozeduraJen Repu-
blik". in der die gerechte Prozedur an die Stelle des Bekenntnisses zu gemein-
sa.men \'(Ierten und Zielen getreten ist. 8 Es ist in diesem Kontext nicht das ge-
ringste Verdienst des amerikanischen eokommunitarismus, verstanden zu ha-
ben, daß die Zersplitterung der Gesellschaft nicht als ein Verhängnis gesehen
werden muß, dem man unbedingt das Festhalten an einer idealen gemein-
schaftlichen Kohäsion entgegensetzen solle, sondern auch als die Realität und
als die unumgängliche Bedingung der Demokratie.
Während Habermas die Rettung der Demokratie von einer argumentativen
Verständigung abhängig macht, die gleichsam die Öffentlichkeit der Aufklä-
rung rekonstiruieren soll, muß man viel eher bei den wirklichen Erscheinungs-
formen der .,Demokratie" ansetzen - also von unten, und das heißt, daß man
von dem ausgehen muß, was sich etwa tagtäglich in unseren Vororten ereignet:
auch von jenem verzerrten "Dialog", den die Konflikte zwischen den "Ban-
den" bzw. zwischen ihnen und .,der Gesellschaft" (repräsentiert etwa in Über-
griffen auf Stadtbusse) trotz al/tm darstellen. 9 Was sich da regt, ist das Streben
nach einer toralen Umwälzung des etablierten "kommunikativen HandeIns".
Daß man die solcherart gewaltsam geltend gemachten, unter der Ebene
sprachlicher Kommunikation liegenden, aber durchaus "expressiven" und auf
ihre Weise "performativen" "Sprachspiele" nicht akzeptieren muß, versteht
sich von selbst. Es ist sogar die Aufgabe des Citoytn, sie n;tht zu akzeptieren.
Damit ist aber das Problem nicht erledigt. Es steht vielmehr an, unsere norma-
tiven Antworten auf die Probe zu stellen. IO
Mit Recht bemerkt Albrecht Wellmer:
Es gibt ja keine Instanz außerhalb des demokratischen Diskurses - weder Philoso-
phen noch Verfassungsgerichte -, die hier unanfechtbare und der Kritik entzogene
Entscheidungen treffen könnten. Also können nur im Mtdium des demokratischen
Diskurses dessen eigene Grundlagen gesichert und auf Dauer gestellt werden. Den·
, Michael J. SandeI, "The Procedural Republic and the Unencumbered Sdf", in:
Po/i/üa/ Thto'J 12/1 (1984), S. 81-96; d!. Olxrsetzung: "Die vetfahrensrechdiche Re-
pubHk und das ungebundene Selbst", in: Axel Honneth (Hrsg.): KDllfllfMnitansmlls.
Ei"t Dtbattt ibtr dit IIfDralistbt" Cnmdlall" .oJmur GmllsthDjft", Frankfurt, ew York
1993, S. 18-35.
9 Vgl. hierzu Raulet: "Zur gesellschaftlichen Re:l1.itit der Postmoderne", in: Heinz-
Hermann Krüger, Absthitd ,.'()" dtr AMfJeI,;",,,!,. Opladen 1990.
10 Vgl. zu den hier folgenden überlegungen Raulet: Apolol,it dt /0 NfD.Jt1lntfi, a. a. O.
Raulet, Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus 153
km läßt sich dies nur dann, wenn man den demokratischen Diskurs nkht nur als ein
Netzwerk von Institutionen und Assoziationen sieht, sondern zugleich als ein Netz-
werk von ÖjJentlithktiten. I1
Wellmers Bemerkung zielt auf eine Vorstellung, die Habermas und Michael
Walzer gemeinsam istY Für beide ist die bürgerliche Gesellschaft ein Netz
von Assoziationen, die das politische System "belagern"l3, aber auf keinen Fall
bereit sind, auf seine Vermittlung zu verzichten. 14 Walzer nennt dieses Ver-
hältnis "demokratischen Sozialismus" und sieht in ihm die größtmögliche Be-
hauptung echter Volkssouveränität. Was die Bürger vereinigt, ist weniger eine
Ethik, sei sie das Produkt der gemeinsamen Geschichte oder eine republikani-
sche Moral, sondern lediglich die Politik. 15 Und das heißt, daß das eigentliche
"Vehikel der Demokratie" die Differcnz ist l6 , also daß der Widerstreit zum
"normalen" Modus der Integration geworden ist: "Je stärker die partikuJaristi-
sehen Identitäten der einzelnen Männer und Frauen sind, desto stärker müssen
sie als Staatsbürger auftreten."17 Deshalb muß dje Öffentlichkeit "bedeutend
erbitterter und streitsüchtiger, intoleranter und fanatischer"18 sein, als es für
unser aus dem 18. Jahrhundert stammenden Modell denkbar ist.
Daß auch das französische IntegrationsmodeU, das sich insofern für ver-
bindlich hält, als es sich zugleich als Recht und als Moral versteht, als Verfas-
sungspatriotismus und als republ.ikanische Moral, keittt Ausnahme bildet und sich
von diesen Debatten wedcr ausnehmcn kann noch darf, steht völlig außer
Zweifel. Das bedeutet freilich ci ne tiefgreifende Infragestellung unserer Vor-
stellung sozialer und politischer Integration - eine Infragestellung, die auf je-
den Fall ehcr teleologisch denn moralisch ansetzen sollte 19 und dem Wider-
streit sein Recht einräumen müßte - das heißt: längerfristige, ja noch ungese-
hene, innovative Integrationsprozesse dulden muß, ohne deshalb auf das
Grundkonzepr der Republik verzichten zu müssen, nach dem es nur ein l\'len-
schenrecht gibt und deshalb auch nur ein Bürgerrecht geben kann, soweit die
republikanische Verfassung dem Menschenrecht genügt und einen Ruh/JJ/aal
begründet.
Ben van den Brink
I
Politische Philosophie wird oft - als ginge es dabei um eine Selbstve,rständlich-
keit - als normativ-theoretische Disziplin aufgefaßt. Diese Disziplin ziele auf
eine aUgemein verbindliche Theorie, aus der sich normativ verbindliche Ant-
wonen auf praktisch-politische Fragen ableiten ließen. Beispiele dafür sind
normative Theorien der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des demokratischen
Rechtsstaates. Zu den großen zeitgenössischen Vertretern dieser Zugangsweise
gehören ohne Zweifel John Rawls und Jürgen Habermas; ihre KJassiker sind
Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kam und
G. W. F. Hege!. Trotz der vielen Unterschiede zwischen den polhisehen Theo-
rien dieser Denker ist es bei doch jeder dieser Theorien möglich, bestimmte,
recht allgemein gehaltene normative Aussagen über Begriffe wie "Staat", "Ge-
seilschaft", "Recht" oder "Demokratie" zu machen. Das läßt sich wohl am be-
sten dadurch erklären, daß diese Begriffe eigentlich immer aufgrund von vor-
hergehenden, mit wissenschaftlicher Strenge und Systematik aufgestellten, ge-
setzmäßig verfaßten Theorien über Rationalität, Vernunft, Moral usw. entwik-
kelt wurden. Die normativen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Recht,
Demokratie usw. ergeben sich somit recht eindeutig aus dem größeren, gesetz-
mäßig verfaßten philosophischen System. Mit vor-theoretischen, in der politi-
schen Praxis vorfindlichen Auffassungen haben sie nur insofern zu tun, als
diese sich implizit an genau den Regeln und Gcsetzmäßigkeiten der prakti-
schen Rationalität orientieren, die sich nach einer möglichst umfassenden phi-
losophischen Analyse als für die politische Praxis grundlegend erweisen.
Die größte Schwäche dieser normativ-theoretischen Zugangsweise ist von
alters her nicht ihre Konzentration auf Regeln, Gesetze und Prozeduren des
richtigen Denkens und Handeins gewesen, sondern vielmehr ihr Hang diese -
sobald sie einmal aufgedeckt worden sind - in einen Stand von Zeit- und Ort-
losigkeit zu erheben. Kritiker dieser Neigung zum Denken I1Ib spuie oelemilnliJ
heben seit eh und je hervor, daß das philosophische Denken durch das Streben
nach einem solchen Gesichtspunkt seinen kritischen Bezug zur Praxis verliert,
anstatl ihn - wie besonders von philosophischen Letztbegründern angenom-
156 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mco - zu gewinnen, I Die hier zur Debatte stehende Frage stellt für jedes poli-
tisch-philosophische Denken mir systematischem Anspruch ein fundamemales
Problem dar. Einerseits sucht die poljrjsche Philosophie nach einem möglichst
wahren und allgemeinen Begriff von z. B. politischer Subjektivität, Souveräni-
tät, sozialer und politischer Kooperation, Voraussetzungen wirksamer und ge-
rechter institutioneller Ordnungen usw. Andererseits kann die politische Philo-
sophie immer nur konkrete Gestalten von politischer Subjektivität, Souveräni-
tät, Kooperation und institutioneller Ordung wahrnehmen. Wer annimmt -
und ohne unbegründbare Annahmen kommt man in dieser Diskussion nicht
weit -. daß sich hinter der Kulisse der im Laufe der Zeit wandelnden, konkre-
ten Gestalten des Politischen keine eigentlichen, zeit- und ortlosen Regeln,
Gesetze und Prozeduren des richtigen Denken und Handelns verbergen, wird
den Versuch, aus einer Vielheit von konkreten Erscheinungen einen zeit- und
ortlosen normativen Kern des Richtigen abzuleiten, nicht verstehen.
Nun muß gleich betont werden, daß normativ-theoretische, systematische
politische Philosophie nicht per dljiniliontn, nach einer zeit· und ortlosen, unj-
verseUen Geltung strebt. Sie kann sich der Gefahren des Denkens sub specie
oelernilali! durchaus bewußt sein. Davon zeugen z. B. die späteren, explizit po-
litisch-philosophischen Werke von sowohl John Rawls wie Jürgen Habermas. 2
Es ist durchaus verteidigbar, wenn eine normative politische Theorie nur für
einen bestimmten - z. B. modernen und westlichen - Kontext eine zwingende
Geltung beansprucht und sich in anderen Kontexten eher als ein bescheidenes
Gesprächsangebot versteht. Wo Autoren wie Rawls und Habermas selbst beto·
nen, daß der normative Gehalt ihrer politischen Theorien an erster Stelle an
die modernen, westlichen, posttraditionellen Gesellschaften adressiert ist, de-
ren historische Existenz und konfliktreiche Entwicklung selbst eine Vorausset-
zung der Entwicklung ihrer Theorien ist, halten sie entschlossen die dialekti-
sche Spannung zwischen stets wandelnden konkreten politischen Formen ei-
nerseits und aufs AIIgemeine - aber nicht auf naive Zeit- und Ortlosigkeit -
zielende Theoriebildung andererseits aufrecht.
Wenn eine politische Theorie Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Prozeduren
artikuliert und systematisiert, die implizit in einer gewissen Praxis gegeben
Siehe dazu Willem van Reiien, "Die Beweislast der politischen Philosophie", in: Ben
van den Brink, Willem van Reijen (Hrsg.), Biirgtrgmll!rhoft, Ruh/ und Dtmokrotit,
Frankfurt a. M. 1995, S. 466-489.
2 John Rawls, PoliliJ(htrUbtraliJmuJ, Frankfurt a. M. 1998; Jürgen Hllbermas, Faktizität
und Gtllung: Bti/riigt zur DiJkJlrJthtorit du Ruh/J und du dtmo!erotiJrhen R1rhtJJtlUltJ,
Frankfurt a. M. 1992. Beide Autoren heben hervor, daß die Regeln, Gesetze und
Prozeduren poliliJrhtr Kooperation komextllbhängiger gedacht werden müssen als
aus ihren früheren Arbeiten zu Grundvoraussetzungen moralischer und sozialer Ko-
operation herausgelesen werden kann. Vgl. John Rawls, Eint Thtorit dtr Ctmhtigluil,
Frankfurt a. M. 1975; Jürgen Habermas, Theon't dtJ !eomflluni!eotil/tn HondtlnJ, 2 Bde.,
Frankfurt a. M. 1981; ders., Morolbtll1ußtJtin und !eommuni!eatives Handtln, Frankfurt
a. M. 1983.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte 157
sind, dann stellt sich die Frage, inwiefern eine an Regeln, Gesetzmäßigkeiten
und Prozeduren sich orientierende politische Philosophie nicht immer einen
spezifischen freiheitverbürgenden Aspekt des politischen Handelns aus dem
Auge verlieren muß, nämlich die Kreoliviliil des Handeln!. Selbst wenn es mög-
lich wäre, transzendentale Kriterien des richtigen Gebrauchs der praktischen
Vernunft aufzustellen und aus ihnen Regeln und Prozeduren für das praktische
Handeln abzuleiten, würde die praktische Philosophie mü dieser Annäherungs-
weise nicht imstande sein, das Moment des Neuen, die das "Normale" spren-
gende Kreativität des Handeins zu erfassen.) Und Gleiches gilt für jede eher
pragmatisch eingestellte politische Theorie, die politisches Handeln letztlich
doch in Regeln und Prozeduren fassen will. Einer spezifischen politischen Pra-
xis wird immer unrecht getan, wenn ihre theoretische Erfassung das Moment
der Kreativität des menschlichen Handelns und Utteilens verfehlt. Die Regeln,
Gesetzmäßigkeiten und Prozeduren, die wir heute aus der Praxis ableiten, kön-
nen im Prinzip morgen schon überholt erscheinen, weil das Handeln eines ein-
zigen Individuums oder einer Gruppe von Menschen sie in einem ganz neuen
Licht erscheinen lassen könnte.
Auf diese Problematik haben auch die besten normativ-theoretischen Theo-
rien keine gute Antwort. Auch wenn solche Theorien auf eine noch so gewis~
senhaften Studie konkreter politischer Formen und Praktiken zurückgehen,
werden sie nicht vermeiden können, im Lichte neuer politischer Handlungen,
Strategien und Entwicklungen in vielen Aspekten schnell überholt zu wirken.
Es ist kein ZufalJ, daß Theoretiker wie Rawls und Habcrmas ihr CEuvrc immer
wicder neuen Tatbcständen in dcr Gcsellschaft, wie z. B. dem Feminismus,
dem Multikulruralismus oder der Globalisierung, angepaßt haben. Eine norma·
tive politische Philosophie, die sich der Gcfahrcn ihrer Zeit- und OrtS-
gebundenhcit und ihrer Ohnmacht gegenüber der Kreativität des Handelns
nicht bewußt bleibt, wird rasch anachronistisch wirken.
II
Dies ist meines Erachtens der wichtigste Grund, warum es immer eine sich
nicht auf normativ-theoretische Ratschläge konzentrierende politische Philo-
sophie geben wird. Eine bestimmte, genealogische Version einer solchen anti-
systematischen politischen Philosophie interessiert mich hier besonders. Sie
3 Vgl. Hannah Arendt, Vita ArJiJ'fl, München, 61989, S. 183: "Die Zerbrechlichkeit der
Einrichtungen und Gesetze, mit denen wir immer wieder versuchen, den Bereich der
menschlichen Angelegenheiten halbwegs zu stabilisieren, hat mir der Gebrechlich-
keit oder Sündhaftigkeit der menschlichen Narur nichts zu tun; sie ist einzig dem ge-
schuldet, daß immer neue Menschen in diesen Bereich fluten und in ihm ihren Neu-
anfang durch Tat und Wort zur Geltung bringen." Allgemein zu dieser Problematik,
siehe Hans Joas, Die Krtallz,jliir du HOlldtlnI, Frankfurt a. M. 1992.
158 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
4 James Tully, "Political Philosophy as a Critical Activity", in: Po/iH(al Theory 30/4
(2002), S. 534.
~ Friedrich Nietzsche, Zur Gmtalogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Kn'tiStbe 5111-
dienauJrbe, Band 6, hrsg. von G. CoHi und t>.L Montinari, München, Beflin, New
York 1988; Michel Foucault, ObtTIJ1achen lind Strafen, Frankfurt a. M. 1977; James
Tully, Slrange Mulliplicity: ConJJilulionaliJf11 in an Age of Dit'trJity, Cambridge 1995;
Quentin Skinner, Libtrty bifore UbtraliJm, Cambridge 1998.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte 159
III
leh habe bereits festgestellt, daß die genealogische Zu~ngsweise eine große
Pluralität politischer Formen zunächst beschreibt und bestehen läßt, um gera-
de dadurch politischen Subjekten einen ganz spezifischen Freiheitssinn vermit-
teln zu können, der aus der Perspektive einer aufs Allgemeine zielende Theorie
verborgen bleiben muß. Das Problem dieses letzteren Theorietypus ist es, daß
er fast zwangsläufig der Suche nach einem normativen Kern, nach Quellen der
Legitimität verhaftet bleiben muß. Die Geschichte ist für die normativ-theore-
tische, systematische Philosophie eben sehr oft ejn Sich-Entfalten eines ganz
bestimmten - ehen des nebligen - Denk- und Handlungsrypus. Vielleicht muß
8 Siehe für eine ausführliche Diskussion und Kritik, van den Brink, Tbe Trager!Y oj Ube+
ralism, Albany, NY, 2000, S. 85-125. Siehe auch Michael Walzer, VmJHnjt, Politik Hltd
Ltidmsrhafl. De.fitite liheraler Theon·e, Frankfurt a. M. 1999.
9 Jürgen Habermas, "Volkssouveränität als Verfahren", in: Habermas, Faktizitöt Hltd
CeltHltg: ZNr Dis!r.Jlrstheone du Ruhts Nnd du demo!r.ratiJrhtJt Ruhtsstaats, Frankfurt :l. M.
1992, S. 600-631.
10 Ebd., S. 601.
11 Ebd., S. 604-605.
12 Siehe dazu Dale K. Van Kley, The ReligiONS Ongim oj the Frtnrb RevolNtion: Fro'" Colt-in
10 the eh·il ConstiJHtion, New Haven 1999.
13 Habermas, "Volkssouveränität", S. 608-609.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte \6\
Praxis zu entfliehen, stellt Habermas sodann fest, daß aus "der Sicht politi-
scher Theorie [...] Geschichte zum Laboratorium rur Argumente [wird]."I"
Was folgt, ist nicht so sehr eine politisch theoretische Reflexion auf historische
EntwickJungen, sondern eine konzeptuelle Analyse ideologischer Interpreta-
tionskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Demokraten und Libera-
len, zwischen Sozialisten und Anarchisten sowie zwischen Konservativen und
Progressiven. Die Analyse endet in Habermas' bekannter prozeduraler Auffas-
sung des demokratischen Rechtsstaats.
Habermas muß am Ende der konzeptuellen bung feststellen, daß eine
.,prozeduralisierte ,Volkssouveränität' nicht ohne die Ruckendeckung einer
entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und
Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gitllOön/in
Bevölkerung [wird] operieren können: keine vernünftige poljtische Willensbil-
dung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt."IS Wahr-
scheinlich um diese auf individuell-dispositioneller Ebene stark unterbelichtete
Lebenswclt als "radikal" innerwe!tlich und nach metaphysisch denken zu kön-
nen, weist Habermas tugendethische und neo-aristotelische Verständnisse zivi-
ler Verantwortung (die auch schon am Ende der achtziger Jahre des letzten
Jahrhunderts aufgrund des Einflusses des Kommunitarismus gewiß nicht un-
einflußreich waren) kurzerhand zurück. ,."(fenn das normativ angesonnene po-
litische Verhalten zumutbar sein soll, muß die moralische Substanz der Selbst-
gesetzgebung, die bei Rousseau kompakt zu einem einzigen Akt zusammenge-
zogen war, über viele Stufen des prozeduralisierten Meinungs- und WiUensbil-
dungsprozesses auseinandergezogen werden und in \'iele kleine Partikel zerfal-
len. Es muß gezeigt werden, daß die politische Moral nur noch in kleiner Mün-
ze erhoben wird. ,,16 Habermas meint hier wohl, daß es in einer indi\,jdualisti-
sehen, pluralistischen, privatistischen und systemisch immer komplexer gewor-
denen Kultur weder weise noch wünschenswert wäre, das Funktionieren der
verfahrensrechtlichen Republik in ethisch anspruchsvollen, perfektionistischen
zivilen Attituden zu gründen. Und es ist gewiß auch besser, die dezentrierte
Bürgerschaft mit Hilfe sorgfaltig gestalteter Prozeduren der Meinungs- und
Willensbildung und des Rechtsstaates in stabile Institutionen einzubinden. Das
heißt nun aber nicht, wie vor allem die jüngere libuo!t Literarur zeigt, daß eine
verfahrensrecht.liche Republik ohne einen gewissen an Tugenden sich orientie-
renden zivilen Perfektionismus auskommen kann. 17 Habermas' schlecht ver-
hüllte Wut auf den politischen Aristorclismus und auf den durch Edmund Bur-
ke inspirierten politischen Konservatismus - Traditionen, die sich bekanntlich
H Ebd.. S. 610.
15 Ebd., S. 626-627.
Ebd.. S. 62 .
,-
16
Sithc= z. B. Peler Btrkowitz, VirlNt o"J rM Moki"l ~ MtNiu." Libtro/islft, Princc=ton:
PrincC=t'On Universiry Press 1999; John Tom2lsi. Ubtro/islll h!JrnuJ flurin, PrinCC=lOn:
PrinCC=lOn niversit)' PrtSS 2001.
162 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mit Fragen der zivilen Tugend ernsthaft auseinandergesetzt haben - kann nicht
verhindern, daß sein eigenes Plädoyer für eine radikal inncrweltliche, nachme-
taph)fSiSche, egalitäre "emgegenkommende" Lebenswelt unverständlich bleibt,
solange wir uns darunter keine substantiellen, zivil-ethischen Dispositionen
vorstellen,t8 Zudem wäre es nicht nur unmöglich. sondern auch intolerant,
Bürger dazu zu verurteilen, allein "nach metaphysische" Motivationen für zivi-
les Handeln zu haben. Das dem demokratischen Rechtsstaat ,,[E]ntgegenkom-
men" von Lebenswelten ist in westlichen Demokratien gewiß nkht immer nl-
dikal innerweltlich und nachmetaphysisch motiviert gewesen und ist es auch
heute nicht immer. Davon zeugen nicht nur die ernstzunehmende Demokratie-
auffassungen vieler Kirchen, religiös inspirierter sozialcr Bewcgungen und
christdemokratischer Parteien, sondern auch die lebhaften philosophischen
Debatten der Gegenwart über dje moralische Begründung der Menschenwür-
de. 19
Habermas' Essay illustriert eine gewisse Inflexibilüät des normativ+theoreti-
sehen politischen Denkens, die darin besteht, im Umgang mit der politischen
Geschichte Aspekte politischen Handels nicht ernst nehmen zu können, die
nicht in den Rahmen der eigenen normativ-theoretischen Perspektive passen.
Die Zugangsweise leidet sozusagen unter einer großen aspektivischen Inflexi-
bilität. 2O Noch vor kurzem hat Michael Walzer mit wünschenswerter KJarheit
gezeigt, wie nicht primär deliberative Kernphänomene der Demokratie wie die
soziale Organisation von Solidarität, Loyalüät, Mitgliedschaft und das Aushal-
ten von kommunikativ vorcrst unlösbaren Spannungen des Pluralismus aus der
Sicht des deliberativen Paradigmas nicht ausreichend beschriebcn, geschweige
denn verstanden werden können. 21 Die Ausblendung solcher nicht diskursiver
Aspekte der PoUtik führt allzu häufig in ein recht eindimensionales und idealj-
sierendes Verständnis der Politik als eine Arena der reinen Argumcntation zwi-
schen völlig aufgeklärten Bürgern, in der die Komplexüäten der nur zum TeiJ
wirkJich diskursiv strukturierten alhägljchen politischen Praxis fast vollständig
ausgeblendet werden. Aspektivische Inflexibilität im normativ-theoretischen
Denken führt zu einem verarmten theoretischen Politikbegriff, mit dessen Hil-
fe die Kluft zwischen Idealtheorie und politischer Praxis gerade deshalb so
IV
Bekanntlich hat Michel Foucauh in Auseinandersetzung mit Kants Aufsatz
.. Beann.\'orrung der Frage: Was ist Aufklärung?"12 die kritische. aufkJärerische
Halrung definiert als ..die Kunst, nicht regien zu werden bzw. die Kunst, nicht
auf diese Weise und um djesen Preis regiert zu werden".23 Foucault zufolge
hängt diese kritische Haltung nicht so sehr mit dem re\'olutionären Bewußtsein
des späten 18. Jahrhunderts zusammen, sondern vielmehr mit der christlichen
Operation der "Lenkung zum Heil", der ..Menschenregierungskunst", die sich
von der frühen Neuzeit an über immer mehr soziale Bereiche, also nicht nur
innerhalb des religiösen Bereichs, verbreitct. 24 Diese Entwicklung der religiö-
sen, sozialen, moralischen, iuridischen und wissenschaftlichen Regierungstech.
nik rief nun aber Foucault zufolge des öfteren eine Haltung hervor, die sich
dem Regierrwerden nicht fügen will, die er - wie oben zitiert - als eine kriti-
sche Halrung beschreibt. In der für Foucauit so wichtigen Konstellation von
Macht, Wahrheit und Subjekt bedeutet dies folgendes: "Wenn es sich bei der
Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individu-
en zu unterwerfen - und zwar durch i\lachtmechanismen, die sich auf \'(Iahr·
heit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher
sich das Subjekt das Recht herausnimmt. die Wahrheit auf ihre Machteffekte
hin zu befragen und die lacht auf ihre Wahrheüsdjskurse hin. Dann ist die
Kritik die Kunst der freiwilligen nknechtschaft, der reflektierten Unfügsam-
keit. In dem SpieJ, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die
Kritik die Funktion der Enrunterwerfung."25
Aus normativ-theoretischer Sicht ist diese Sichrweise in komplett, wenn
überhaupt verständlich. In einer legitimen politischen Ordnung wäre das Ziel
der Regierungsimensivierung nicht die Unterwerfung, sondern die Befreiung
der Subjekte. In einer solchen Ordnung wäre Kritik nicht bloß zur "Entunter-
werfung" der Subjekte da, sondern zur (\Xlieder-)Herstcllung der Legitimität
der politischen Ordnung. Die Konstellation "Macht, Wahrheit, Subjekt" wäre
in einer solchen legitimen Ordnung des "Spielens" mit Macht, Wahrheit und
den Subjekten enthoben. Macht wäre legitime Macht, Wahrheit gründete in ei-
!2 Imm.anuel K:lnt, "ße.ant\1.·ortung der Fr.ag~; \'(/28 ist Auf'kJirung?'\ in; Imm.anuel
K.ant. ll?t'rka.lfSgaM ßd. XI (Schrifl~n zur Anthropologi~, G~schichlSphilosophi~, Po·
lilik und Pid.agogik). hrsg. \"On Wilhdm Weisch~del, Ff1lnkfurt a. M. 1977, S. 53-61
(A 481-494).
II Michel FOUC1Uh, U71lJ ;J/ Krifild B~rhn 1992. S. 12.
24 Ebd.. S. 10.
II Ebd. S. 15.
164 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
26 Ebd., S. 17-18.
27 Ebd., S. 34.
28 Ebd., S. 35.
" Ebd., S. 36.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte 165
dukt sondern als deren Effekt erscheinen päßtJ".30 Ein Produkt wäre ein zwin·
gendes Resultat einer Konstellation von sozialen Einnüssen und Intentionen.
Foucault spricht von einem Effekt, weil das Resultat anders hätte sein können:
"Subjekte. Verhahenstypen, Entscheidungen, Optionen" spielen beim In·Er·
scheinung.Treten einer Singularität eine so große RoUe. daß der Eindruck hi-
storischer Determinierung vermieden werden muß. 31 Auch wird dem Eindruck
entgegengewirkt, daß das Entstehen von Instanzen und Systemen der Akzep.
tabilität Resuhat eines - im wesentlichen stets gleichförmigen - 1 etzes von
Beziehungen verstanden werden kann. Er spricht von strategischen, gegensei-
tigen Einwirkungen verschiedener Macht-. Wissens- und Subjektivitätsfakto-
ren. Gerade in dieser antideterministischen, antagonistischen Sichrweise ver·
birgt sich die aspektivische Flexibilität eines Denkens, das vor allem in Fou-
caults späteren Schriften zu erkennen ist. Nicht nur in der Offenheit ange-
sichts verschiedener Hintergründe spezifischer Verständnisse von Wahrheit,
Subjektivität, Wahnsinn, Sexualität und politischer Freiheit, sondern auch und
gerade in dem Aufklärungsgedanken, "nicht regiert zu werden, jenes entschie-
denen Willens - einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus sei-
ner Unmündigkeit herauszutreten".32
Die genealogische Umgangsweise mit der Geschichte wird hier zu einem
philosophischen tlbOl, das dem Ziel des Verstehens der Bedingungen politi-
scher Freiheit in einer nicht ideal(theoretisch)en Welt gewidmet ist. 33 Wo das
idul· und normativ-theoretische Denken bezüglich der kontingenten. nicht-
idealen Welt immer wieder - an sich richtig - deren Nichtlegitimität feststellt,
versucht die genealogisch inspirierte Sicht zu erkunden, wie ein Leben unter
noch so nicht-idealen Bedingungen doch mit einem Sinn für politische Freiheit
verbunden werden kann. Politische Freiheit ist nicht nur gegeben, wenn die
Gesellschaft gerecht und wohlgeordnet ist. Sie ist auch und gerade dort gege·
ben, wo Subjekte sich mit mehr oder weniger Erfolg organisieren, um Teil-
aspekte ihrer Unterworfenheü, ihrer nmündigkeit zu bekämpfen. Die Orga-
nisation kann Kommunik:uionsverhälrnisse oder gerechte sozial·ökonomische
Veneilungsmechanismen betreffen, sie kann Formen der Anerkennung und
der M.ißachtung betreffen, der Organisation von Solidarität und Loyalität,
Prinzipien oder auch Anwendungsprobleme der demokratischen Repräsentati-
on, symbolische Formen des Widerstands, des Verständnisses und der histori·
sehen Bedeurung beStimmter ziviler Tugenden usw. Eine politische Philoso-
phie, die versucht, in ihren historischen und s)'stematischen Aspekten die Vid·
falt politischer Probleme und poLitischer Praktiken nirhl auf einen wesentlichen
normativen Kern der einen praktischen Vernunft zurückzuführen, schildert
keine ideale Weh, sondern vermittelt einen Freiheitssinn, der in der um'cr·
söhnten Welt vielleicht fundamentaler ist als die Suche nach politischer Legiti-
mität: den Sinn, anders denken und handeln zu können aJs vorgegeben. M.it
diesem Sinn fangt Freiheit an, und zu ihm muß die politische Philosophie,
wenn sie ihren Hang nach grolkr. aber allzu idealistischer Theorie zügeln will,
immer wieder zurückkehren. Damit überlasse ich die vorgestellten Aspekte
dem Freiheitssinn des Lesers.
III Aktuelle Debatten
Wilhelm BergeT
I
Wer nur mit einer gewissen Verkrampfung an Diskussionen teilnimmt, in de-
nen die Probleme der Welt zur Debatte stehen, wird auch in eine Stimmung
des Unbehagens geraten, wenn die Frage nach der Relevanz der eigenen philo-
sophischen Arbeit für die polhisehe Praxis aufgeworfen wird.
Es wäre ein Kurzschluß, diese Stimmung auf den alten Widerspruch zwi-
schen Theorie und Praxis zu projizieren: Eine Philosophie formu!jert Konzep-
te. von denen sie meint, sie könnten von der politischen Praxis vernünftiger-
weise nicht zurückgewiesen werden. Die Praxis aber verweigert nicht erst die
Annahme der Ansprüche, die an sie adressiert sind, sie nimmt schon den Zu-
stellversuch gar nicht oder allenfalls nur als Emertainment wahr. Der Wider-
spruch wurde vom deutschen Karikaturisten Seifried zumindest zeichnerisch
schon vor Jahren aufgehoben: Da steht ein Philosoph vor einer großen Menge
von Leuten und ruft: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Und die Proleta~
rier antworten im Chor: Gute Idee, gebongt, machen wir!
Die Stimmung des Unbehagens wird also eher mit einem anderen Problem
zu tun haben. Die Vermutung liegt nahe: Es handelt sich um das Problem der
Selbstda rstell ung.
Jeder kennt die Szene: Ein Philosoph referiert, zum Beispiel vor einem Pu-
blikum von Politikern zum Beispiel über das Thema Ethik und Medizin. Kaum
iSI der Vortrag zu Ende, kommt die Frage: Schön und gut, aber was sagen Sie
denn jetzt konkret: Ist Sterbehilfe ethisch vertretbar, ja oder nein? Der Refe-
rem ist weder Utilitarist noch Theologe. Die daraus folgende Verweigerung ei~
ner definitiven Antwort provoziert sogleich die Feststellung: Mit Ihrem Gere-
de können wir politisch nichts anfangen, das hat keinerlei praktische Relevanz!
Das ist für den Philosophen unangenehm, denn immerhin wurden seine Reise
und sein Aufenthah, sogar ein kleines Honorar gezahlt, und da möchte er am
168 Aktuelle Debatten
liebsten rufen: Sie irren sich, meine Damen und Herren, meine Rede ist ebenso
vorausserzungsvoll wie reich an Konsequenzen, es folgen daraus Imperative
für das politische Handeln und sogar eine politische Ethik in der technologi-
schen Zi\·ilisation! Und wenn Sie es bis jetzt nicht verstanden haben, werde ich
es eben noch einmal in einfachen Worten wiederholen.
Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die haben Schwierigkeiten mit
einem bestimmten Gestus der Selbstdarstellung, der weit verbreitet ist, mit ei-
nem Gestus, der immer schon weiß, was Sache ist, und mit einer Form der
Selbstdarstellung, die oft das Wort "wir" gebraucht: "Wir" stehen VOf der Her-
ausforderung, und daher sollen "wir" und daher müssen "wir" l... J Und wer
diese Schwierigkeiten hat, will am liebsten gleich zugeben: Ja, Sie haben recht,
was ich gesagt habe, hat keinerlei praktische Konsequenzen und soll auch kei-
ne haben, es folgt daraus insbesondere keine politische Ethik in der technolo+
gisehen Zivilisation.
Was also tun in dieser Ambivalenz? Ein alter Trick liegt nahe, den schon
Aristoteles empfohlen hat: Man wende seine persönliche Ambivalenz ins Ob-
jektive, indem man sage: Diese Ambivalenz hat nichts mit meinen persönlichen
Defekten, sondern mit den Problemen des Themas selbst zu tun.
Zunächst ist damit folgendes erreicht: Das persönliche Problem der Selbst-
darstellung wird zum philosophischen Problem der Darstellung, und dieses
Problem ist tatsächlich eines der wichtigsten Probleme insbesondere der ge-
genwärtigen Philosophie. Denn schon prinzipiell gilt: Vielleicht im Gegensatz
zu anderen Formen des Wissens kann kein Denken, das den Namen Philoso+
phie für sich in Anspruch nehmen will, sein Gedachtes einfach als gegeben
voraussetzen und ihm dann Begriffe zuordnen oder Ansprüche zustellen. Cle-
mens-Carl Härle hat das auf die Formel gebracht: "Zwischen dem Denken und
dem Gedachten waltet ein Intervall, dergestalt, dass die Darstellung des Ge-
dachten für die Philosophie zu einer Aufgabe sui generis wird.'" Dieses Imer+
vall ist letztlich eine unaufhebbare Differenz, und die Philosophie ist nicht ihre
Leidtragende, sondern ihre Sachwalterin. Darstellung heißt dann nicht das di-
daktische, sondern das theoretische Problem einer Über-setzung, eines Setzens
über dieses Intervall, das Problem einer Über-setzung, die zugleich die Diffe-
renz nicht kurzschließt.
Also steckt in diesem Inrervall zweierlei: einerseits "die Möglichkeit der Phi-
losophie" und andererseits die Gefahr, daß die Philosophie zu einem "Jargon"
oder zur "Etikette" wird, das sind wieder zwei Wone von Clemens-Carl Härle.
Jargon wiederum heißt wörtlich: Sprache der jeweils Eingeweihten, allgemeiner
also: Darstellung, die um die jeweilige Sache immer schon weiß. Und Etikette
ist eine erstarrte, offizielle Umgangsform, die in einem bestimmten gesell-
schaftlichen Bereich gilt, Etikett ist zugleich ein Klebeschild, somit kann über+
Clemens-Carl Härle, "Karte des Unendlichen", in: ders. (Hrsg.). Karten Zu "Tauund
Plo/ea/u", Berlin 1993, S. 104.
Berger, Gibt (:5 (:in(: politisch(: Ethik? 169
setzt werden: Darstellung, die ein jeweils schon existierendes "Wir" repräsen-
tieren, also gleichsam mit sich selber bekleben, somit etikettieren will.
ach diesen Vorkehrungen kann dem Thema nahegetreten werden: Gibt es
eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation? Die Frage scheim
unsinnig: Gibt es nicht eine Inflation ethischer Diskurse? Die Frage lautet jetzt
aber präziser: Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikette?
Wenn so gefragt wird, dann wird nach den Bedingungen der Möglichkeit ge-
fragt, jenseits von Jargon und Etikeue zu gelangen.
II
Zwei Diskurse. mit denen Philosophen in jüngerer Zeit entweder öffentliche
Aufmerksamkeit erregt haben oder sich von dieser Aufmerksamkeit erregen
ließen. fuhren die Denkfiguren des Jargons und der Etikette genauer vor Au-
gen: die Debatte über Humangenetik und die Diskussionen zu den Ereignissen
am 11. Septem ber 200 I.
Wenn der Vortrag Rrgtln flir dtn Mtnsrbtnparlr.. Ein Anlll-'Orlscbrtibtn Zl/nI Bntl
iibtr drn HIIHJOflÜ",,,S2, den Peter Sloterdijk 1999 gehalten hat, als Beispiel fü.r
den Jargon herangezogen wird, ist die Bemerkung wichtig: Damit steht nicht
ein "gegenaufklärerisches Raunen" zur Kritik, und das Motiv kann auch nicht
jene Eifersucht sein, die ein Autol'" der Wochenzeitung DIE ZEIT empfunden
hat, als er auf deI'" Fahrt zum 18. Deutschen Kongreß für Philosophie in Kon-
stanz vom Taxifahrer gefragt wurde: Ah, Sie fahren zum Sioterdijk? Es geht
viel mehl'" um eine ernst zu nehmende Konsequenz.
Es ist bekannt, daß rur Sioterdijk die Enn.vicklungen der Gentechnologie zu
einer " mstelJung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur
pdinatalen Selektion" führen. Das ist richtig: Selektion geschieht, indem sich
beStimmte. zum Beispiel von KnnkeO\'ersicherungen definierte Normen
durchsetzen. was dazu fühn, daß für eine pränatal diagnostiziene Krankheits-
wahrscheinlichkeit kein Risiko übernommen und der Fötus abgetrieben wird.
Also fordert Siotcrdijk eine bewußte genetische "Merkmalsplanung". Diese
braucht Kriterien. Die Herausforderung wäre nun nicht die Korrektur schon
vorhandener Eigenschaften, sondern die Denkmäglichkeit ihrer aktiven Züch-
tung. Deshalb fordert Sioterdijk eine "gattungspolitische Entscheidung", eine
Entscheidung gegen ein Progl'"amm von "KJeinzüchtern" und fül'" ein Pro-
gramm von ..G1'"Oßzüchtern des Menschen (... ) Superhumanisten 1... 1 und
Übermenschenfreunden". Die Frage: wer sind diese G1'"Oßzüchter? ist nicht
einfach abzuweisen. Die Mehrheit will ihre Kinder ja vielleicht wirklich nul'" als
, Peter Sloierdijk, "Rrgrln fLir den Menschenpark. Ein Am\vorlSchr(:iben zum Brief
über den Humanismus", Vortrag im Schloß Elmau 1999. (Die folgenden Zitate
stammen aus der vom Verlag Suhrkamp über Inlernet verbreiteten Texlversion.)
170 Akruelle Debatten
Kopien ihrer selbst, oder, wenn es hoch kommt. als Klone von Arnold
Schwarzenegger oder Pamela Anderson. Sioterdijk lobt Platon, und bei Platon
ist es der philosophische Staarshine, der über ein "züchterisches Königs-
wissen" verfugt. der diejenigen .. auskämmt", deren "Eigenschaften" verhin+
dem, daß "der Menschenpark zur optimalen Homöostase gelangt".
Das philosophische Königswissen steht in Differenz zum Ganzen, weil es
dieses Ganze noch einmal darstellt: Wo die Gattung sich längst kleingezüchtet
hat, wissen dje Philosophen um die Bedingungen der Möglichkeit des "Höher-
züchrens", sie wissen um eine gauungsgeschichtliche Differenz, die zugleich
aus sich heraus inhaltlich über den augenblicklichen Zustand hinausweist: Das
ist die allgemeine Denkfigur des Jargons. Eine Distanzierung von Sloterdijk ist
möglich, aber die Denkfigur trin in vielen Kontexten auf: Wer zum Beispiel im
Namen des ökologischen Fortschritts spricht, nimmt ein Königswissen in An-
spruch, über das die Masse nicht verfugt: Ich weiß, was war, was jetzt ist, und
was sein wird oder zu sein hätte, und während dje Leute ihre überschwemmten
Keller auspumpen, rede ich davon, daß ich mich schon vor zehn Jahren bei
den Grünen engagiert habe. Damit geschieht gleichzeitig eine Entpolitisierung
im klassischen Sinne, nämlich die Distanzierung des Problems aus seinem
Kontext heraus und in eine schon fertige Lösung hinein.
In den Diskussionen zu den Ereignissen am 11. September 2001 sind viele
Beispiele für die Denkfigur des Jargons zu finden, aber mehr noch für die
Denkfigur der Etikette.
Eine Illustration ist nur scheinbar leichter, weil die plakative Formel vom
Kampf der Kulturen zum Ausgangspunkt genommen werden kann, die Samuel
P. Huntington ausgearbeilet hat. J Auch hjer ist eine billige Distanzierung nicht
möglich. Der eigentlich problematische Gehalt dieser Formel ist kein progno-
stischer, sondern ein erkenntnistheoretischer: Die kulturelle Differenz wird als
absolute dargestellt, aber dabei muß die Existenz der Kulturen ihrer Praxis,
zum Beispiel der Praxis der Konfrontation oder der Begegnung, vorausgesetzt
werden. Selbst im Zustand der globalen Durchmischung existieren Kulturen
primär, um sekundär in Konflikt zu treten. Sie sind Entitäten, denen das Merk-
mal der Präexistenz zukommt: Sie laufen ihrem gegenwärtigen Sein immer vor4
aus.
Huntingwn liefen damit ein Modell des kJassischen Kulturbegriffs. Denn
wie auch immer man Kultur definiert., ob mü Johann Gonfried Herder als Le-
bensgestalt und Lebensform von 1 ationen, Völkern und Gemeinschaften,
oder mit Ernst Cassirer aJs "symbolisches ni versum", stets ist mit diesem Be-
griff das Faktum einer je schon existierenden und damit jeder konkreten Be-
gegnung und Konfrontation histOrisch vorauslaufenden Einheit angesprochen.
Das ist offensichtljch, wenn von westlichen Werten gesprochen wird. Aber
auch ein positiver Begriff der Multikulturalität, die Aufforderung, Differenzen
)
VgJ. Samuel P. Huntington, Kamp! Jt, KNll1mn, München 1997.
Berger. Gibt es eine politische Ethik? 171
III
Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikene? Es wurde be-
hauptet, daß Jargon und Etikene zugleich andeuten, worin "die Möglichkeit
der Philosophie" bestehen könnte.
Zunächst repräsentieren Jargon und Etikene zwei Bedingungen der Mög-
lichkeit \'on Ethik: die Bedingung der Denkbarkeit einer gattungsgeschichtli-
chen Perspektive und die Bedingung der Denkbarkeit einer ihrer Praxis je
schon vorauslaufenden Kultur. Zwei der wichtigsten Ethikenrwürfe in der ge-
genwärtigen Philosophie zeigen das auf. Sie zeigen gleichzeitig auf, daß diese
heiden Bedingungen nur gesetzle Bedingungen sein können, rur die man sich
zu entscheiden hat.
Das Modell rur den erSten Enrwurf ist jene Ethik, die Hans Jonas schon
1989 vorgestellt hat. 6 Jonas kjppt den kategorischen Imperativ Immanuel
Kanrs aus der Kritik du Prakliuhtfl I/trnllnft von 1788: .. Handle nur nach derje-
nigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein aUgemeines
Gesetz werde", in eine geschichtliche Dimension: Handle so, daß du auch die
zukünftige j\'lenschheit in deine Überlegung einbeziehst. Diesem Kunstgriff ist
die Kontinuitäl der Gattungsgeschichte als Bedingung der Möglichkeit von
Ethik vorausgesetzt: Geschiclne ist ein Werden, das durch eine kohärente Dy-
namik vorangetrieben wird, eine Kette von Gründen, die sich über die Zeit
und daher auch in die Zukunft hinein fortpflanzen. Nur so ist ein wirkliches
Erbe der Gegenwärtigen denkbar, das die Künftigen betreffen wird.
Aber zugleich weiß Jonas zweierlei: Erstens, daß, anders als bei Kam, im
Imperativ nicht das eigene Interesse und das Allgemeine zusammenfallen:
\,\'ährend es vernünftig ist, die Zeitgenossen so zu behandeln, wie man es von
ihnen auch in bezug auf sich selber erwartet, kann den Heutigen die zukünftige
~ Slavoj Zilek, Ein Pllit/(!Jtr fir dit Inloltra"v "'lien 1998, S. 73.
S Ebd., S. 77.
6 Vgl. Hans Jonas, DaJ Pn'"tfp I 'ml1lBVJl111"1.. Vtmub tin" ElbiJeftir dir Irrh"ologüdn Zi,;·
Iilalion, Frankfurt :11. M. 1989.
172 Aktuelle Debatten
Menschheit auch völlig egal sein. ncl zweitens, daß man heute, vor allem we·
gen der Komplexität technologischer Konstruktionen von Wirklichkeit, eben
nicht wissen kann, welche Auswirkung ein bestimmtes Tun oder Umerlassen
fut die Künftigen haben wird: Eine bestimmte Erfindung kann eine andere
Erfindung ermöglichen, die heute noch undenkbar ist. und diese Erfindung
kann segensreiche oder katastrophale Folgen haben. Daher muß man sich im
vollen Sinne des Wortes dafür entscheiden. die Kontinuität der Gattungsge.
schichte zu wollen. Und wenn man sie will, muß man immer wieder neu Fra·
gen beantworten, die nicht beantwonbar sind.
Für die Figur der Diskursethik kann die Thtorit du leoltmllmiJealiL'tn HondtlnI
von Jürgen Habermas zum Beispiel genommen werden. 7 Hier gilt der Dissens
als Bedingung der Möglkhkeit von ethischer Kommunikation. Konsens muß
unterstellt werden im Hinblick auf Regeln, die den kommunikativen Streit
möglich machen: Im Prinzip ist das die doppelte Übereinkunft, daß man nicht
ein letztes, gewalttätiges WOrt sprechen wird und daß man immer auf eine Me-
taebene ausweichen wird, um den Dissens zu managen. Damit ist aber ein Wil-
le vorausgesetzt: In das "Haus der Verständigung" erhält nur Eintritt, wer fa·
hig oder willens ist, diese Regeln zu befolgen, nur jemand, für den der Wille
zur Verständigung der Praxis der Verständigung schon vorausläuft, also je-
mand, der im Sinne der bisherigen Argumentation "Kultur" hat.
Habermas ist davon überzeugt, daß dieser \'(lille vernünftig ist. Sein ganzes
Projekt einer Rekonstruktion des historischen Materialismus im Geiste der
Kritischen Theorie ist auf diesen achweis ausgerichtet. Aber er weiß gleich.
zeitig, daß man sich fur diesen Willen entscheiden muß, oder präziser: daß sei-
ne Möglichkeit politische, soziale und auch individuelle Voraussetzungen hat.
IV
Mkhcl Foucault diskutiert die Frage, warum die Vererbungsgesetze des Gregor
Mendcl im 19. Jahrhundert von den Wissenschaften nicht wahrgenommen
werden konnten: "Ein Satz muß komplexen und schwierigen Erfordernissen
entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehören zu können. Bevor
er als ,wahr' oder ,falsch' bezeichnet werden kann, muß er [... ) ,im Wahren
sein'."s Das kann paraphrasiert werden: Eine Handlung oder ein Denken muß
komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um überhaupt Ge-
dachtes einer bestimmten Ethik sein zu können: Es muß bereits "im Guten
sein", ehe der ethische Diskurs anheben kann, oder es selber bleibt dem ethi-
schen Diskurs unzugänglich. In diesem Sinne markiert das Wissen um die Vor-
aussetzungen von Habermas und Jonas gewisse Grenzen: Weil sie die Denk-
•
Vgl. Jürgen Habermas. Thtorit JtJ 1eD",,,,NnileD,iI'tn HOllJtlns, 2 Bände. Ftankfun a. M.
1981.
, Michel Foucault, Di, OrJ"M"1. JtJ DisleMrm, München 1974, S. 24.
Berger, Gibt es eine politische Ethik? 173
v
Gibt es eine poLitische Ethjk jenseits auch der Bedingungen, die eine Ethik der
Verantwortung und eine Diskursethik annehmen?
Es ist bekannt, daß der Begriff Ethik sich wortgeschichtlich herleitet vom
griechischen WaTt ttbor. eigentlich der Ort des Wohnens, erst abgeleitet: Sitte,
Gewohnheit, was auch vom Wohnen kommt, also: der Ort des gemeinsamen
Wohnens. AristoteIes sagt: .. Das Edle und Gerechte ([ ... J) zeigt solche Unter-
schiede und solche Unbeständigkeit, daß man vermuten könnte, es beruhe nur
auf dem Herkommen und nicht auf der Natur."lo Damir ist das Problem einer
politischen Ethik präzise umschrieben: Was das Konkreteste regelt, beruht in
radikalster Weise auf einer politischen Übereinkunft. Weil diese Spannung nje
aufzuheben ist, bedeutet Ethik bei Aristoteles kein System \'on fertigen lösun-
gen, sondern die ständige Aufgabe, den ethos zu gestalten: Ethik ist im Gegen-
satz zur l\'loral, wie sie schon Cicero als System von morts, als System von Re-
geln definiert hat, im radikalen Sinne prozessual.
Unter den Bedingungen der technologischen Zivilisation ist der präexistie-
rende Boden dieses Prozesses, sind die vorausgesetzte gattungsgeschichtliche
Kontinuität und die vorausgesetzte Kultur nicht denkbar. Gibt es eine politi-
sche Ethik in der technologischcn Zivilisation? Zwci zentrale Bedingungen ih·
rer Möglichkeit wurden suspendiert. Es bleibt als Ausgangspunkt nur die The-
se: Der prozessierende ethos kann aus dem Ereignis gestaltet werden.
Die Verwendung dieses Begriffs ist mißverständlich, weil der Begriff in ein
Lab)'rimh philosophischer Traditionen hineinweist. und schwierig, weil die
geistige Grundmöblierung so beschaffen ist. daß in der Konfrontation mit dem
Ereignis sofort ejn metaphysischer Kurzschluß eintritt. Friedrich Nietzsche
spricht in diesem Zusammenhang von einer tiefen ps)'chologischen nmög-
Metaebenen erzeugt werden: Amerika. und die islamische Welt. die Gemein·
schaft der Gesunden und die Gemeinschaft der Kranken [... 1Was ist, ist singu-
läres Ereignis. Aber es ist gerade nicht außerhalb jeder Wirklichkeir. Es ist
doch, es exiscien, und zwar aJs Deplazienes, als völlige Abwesenheit eines zu·
reichenden Grundes und eines tragenden Bodens, und gerade daher kann es,
was es ist, nur sein einzig als Exponienheit in Relationen und Differenzen.
VI
Damü sind zwei Bezugspunkte fUf ein ethisches ·foddl gewonnen: ein Aus-
gangspunkt: Ereignis, und ein Horizont: Relationen und Differenzen. Aber
heide Pole blieben starr, wären sie nicht für ein Denken und für ein Sein pro-
blematisch. Das sich selbst problematische Ereignis trägt den Namen Existenz
oder Dasein: ein Sein, dem sein Da zum Problem wird, eben weil es nicht in
sich ruht, sondern nichts anderes ist als Exponiertheit in die Relationen und
Differenzen.
Es gibt eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation: Sie ist eine
Praxis in dem durch diese beiden Pole bestimmten Spannungsfeld.
\'\las ist dieses Spannungsfeld konkret? achdem alles mögliche suspendiert
wurde, kann nur mehr gesagt werden: Die Existenzen sind, was sie sind, als
Exponiertheit in die Relationen und Differenzen, und die Relationen und Dif-
ferenzen sind die Relationen und Differenzen der Existenzen. Aber das heißt
positiv und konkret: Der tlhoJ ist die Ko-existenz: nicht Amerika oder Europa,
nicht die Kultur oder die Natur, sondern die Relationen und Differenzen, als
die sich die singulären Existenzen exponieren. Jean-Luc Nancy hat einen Be-
griff für diese extreme Spannung erfunden: "undarsl'ellbare Gemeinschaft".
.,Die singulären Seienden erscheinen zusammen: Dieses Zusammen-Erschei-
nen macht ihr Sein aus." Und weiter: ..[...] das Sein der Gemeinschaft iJll ... 1
die Exposition der Singularitäten. "12
Was für eine Praxis kann in einem solchen Spannungsfeld geschehen? Aus
den zwei Polen ergeben sich zwei Werte: Soll das weitgehend reduzierte Mo-
dell funktionieren, impliziert es die Entscheidung, Existenz und Ko-cxistenz
aJs unhintergchbare Werte anzusetzen.
Es handelt sich tatsächlich um eine Entscheidung, die inhaltlich nicht weiter
begründet werden k2nn. Ist das zugegeben, wird das Eingeständnis leichter,
daß ein Denken und ein Handeln, das die beiden genannten Werte nicht an-
nehmen kann, dem r-.·Iodell ebenso inkommensurabel bleibt. Diese Grenze re-
sultiert nicht aus den schon komplexeren Voraussetzungen einer Diskurs- oder
Veranrwortungsethik, sondern aus dem Gedanken, daß die Akzeptanz des blo-
ßen Daseins eines anderen und die Annahme, daß dieses Dasein zugleich ein
Mitsein mit Anderen ist, Minimalbedingungen von Ethik überhaupt darstellen.
lJ ~hrtin l-lcidegger, Die StlbsthrbauplJutg dry dtufsrhtn Un;/Itrlitiil. Dos Rektorat 19))/34,
Frankfurt 3. M. 1990, S. 15, S. 21, S. 12, S. 14, S. 18.
178 Aktuelle Debatten
Und wieder AristoteIes: In der von ihm intendierten ethischen Praxis geht
es um die rechte Mitte. Das ist nicht der faule Kompromiß oder das Mittelmaß,
sondern der ständig neue Ausgleich zwischen im Grunde nicht auszugleichen-
den Positionen. Im hier skizzierten Modell heißen die Positionen Existenz und
Relationen und Differenzen. Ebenfalls von AristoteIes stammt der Satz: "Die
Extreme scheinen einander gegenüberzustehen, weil die Mitte keinen Namen
har."14 Der ständig neue Ausgleich zwischen nicht auszugleichenden Positio-
nen ist die konkrete Praxis der Politik. Die Aufrechrerhaltung der Spannung
zwischen den Positionen und die Verteidigung einer Namenlosigkeit im aristo-
telischen Sinne ist ihre Voraussetzung. Die Praxis und dje Voraussetzung dar-
zustellen ist die Aufgabe einer politischen Ethik: An diesem Punkt kommuni-
ziert sie mit einer Institutionstheorie: Institutionen wären dann dynamische
Wirklichkeiten, in denen Widersprüche prozessiert werden. 15
Was folgt für das Problem der Selbstdarstellung? Die Ambivalenz bleibt be-
stehen. Aber ihren beiden Seiten können jetzt zwei würdigere Selbstdarstellun-
gcn zugeordnet werdcn: der einen Seite, der Verweigerung von Praxis, die
Selbstdarstellung des Heraklit. Über ihn schrieb Friedrich Nietzsehe: "Er
brauchte die Menschen nicht."16 Das heißt positiv: Sein Denken verweigert
sich dem Apriori der Praxis und der Verständigung, dem Apriori der Ge-
schichte und der Kultur. Seine Schriften, die er auf den Stufen des Tempels der
Artemis niederlegt, gewinnen den Sinn aus der hermetischen Abgeschlossen-
heit ihrer Sätze. Damit aber halten sie die Möglichkeit eines Außen fcst, dic
Möglichkeit eines Werdens, das sich keiner geschichtljchen Gewordenheit, kei·
ner vorausgedachten Geschichte oder Kultur unterwirft. Diese Abwendung
macht es leichter, die zweite Seite der AmbivaJenz zu entfalten: die Hinwen-
dung zur Praxis, zu den Relationen und Differcnzen. Das ist dic Haltung des
Sokrates. Aber nicht des platonischen, didaktischen Sokrates, der unter der
Maske der Bescheidenheit um seine Wirkung besorgt ist, sondern die eincr Fi-
gur, die ununterbrochen schwätzt, und die nicht aufhören kann zu schwätzen,
einer Figur, von der Sören Kierkegaard anerkennend schreibt: "Er hat nichts
hinterlassen, darnach eine spätere Zeit ihn beurteilen könnte."17
1. Einlei tung
Das Verhältnis des 1enschen zur Narur isr heute in unterschiedlichen Kontex-
ten Gegenstand von Diskussionen. eue technologische Möglichkeiten er-
leichtern das Leben der Menschen, haben jedoch auch einen gravierenden Ver~
brauch an Rohstoffen mit sich gebracht. Das quantirative Wachsrum der Welr~
bevölkerung sowie veränderte Ansprüche an die Lebensqualität in den reiche-
ren Ländern geben der Erfahrung von Knappheit eine neue Qualität. Natur-
veränderungen von teils bedrohlichem Ausmaß sind aJs Ergebnis von Umwelt-
verschmutzung zu beobachten. Immer gezieltere Eingriffe in die Natur werden
technisch möglich und scheinen auch ökonomisch erforderlich, wobei viele
Langzeitauswirkungen kaum absehbar sind. Schließlich verändert sich das Na-
rurverhälmis dadurch, daß auch die biologische atur des Menschen in neuer
\X'eise zum Gegenstand gezieher Gestaltung gemacht werden kann. Nuur bzw.
unser Umgang mü atur ist für dje Philosophie insofern nicht mehr allein zen-
traler Gegenstand von Erkenntnistheorie und aturphilosophie, sondern wird
vielmehr zu einem Thema der praktischen Philosophie.
NalurbthtrrHhung iSI zugleich mit den philosophischen Selbstinterpretatio-
nen der Moderne tief verbunden. Das gilt für die Spekulationen des Deutschen
Idealismus ebenso wie für Marx und Nierzsche. Lange Zeit bewegte sich die
aufkommende technik philosophische Diskussion in den Bahnen jener Deu-
tung von Naturbeherrschung sowie vom Verhältnjs von Technik und Narur,
die durch die frühe kritische Theorie, durch Martin Heidegger oder die kulrur-
philosophischen und anthropologischen berlegungen Arnold Gehlens und
anderer vorgegeben waren. 1 Im Hinblick auf das Phänomen der arur-
beherrschung verlieren die philosophischen Differenzen dabei zum Teil ihr
Gewicht. aturbeherrschung wird nicht allein im Komext der Moderne siru-
Vgl. etwa Hans Achterhuis (Hrsg.), Vi milo! van Je !uhnitk., Bllarn 1992.
180 Aktuelle Debatten
ten gerade nicht so zielgerichtet zur Anwendung kommen. Die moralische und
soziale Problematik ist vielmehr darin zu suchen, daß diese Techniken mit al-
len Möglichkeiten und Begrenzungen in komplexen Gesellschaften zur An·
wendung kommen und die Rückwirkungen und unkontrollierbaren Effekte, die
daraus entstehen, kaum absehbar sind. Gendiagnostik und Selektion fUhren
nicht zwangsläufig zur Menschenzüchrung, sondern erzeugen soziale Dynami.
ken, deren soziales PotentiaJ wir gar nicht überschauen. Dabei ist nicht nur an
die weitere EmwickJung der l\·Jedizin zu denken, sondern auch an die Erwar-
tungen gegenüber der 1I.·ledizin, an den mgang mit Behinderungen oder die
Wahrnehmung und Erfahrung von Schwangerschaft. Die Extrapolation von
Sioterdijk vereindeutigt ein komplexes Szenario in einer Weise, daß die morali-
schen, politischen und philosophischen Herausforderungen überhaupt njcht in
den Blick geraten. Aufklärung und Handlungsorientierung werden auf diese
Weise wohl kaum erreicht. Die Diskussion wird eher zu einem Beispiel dafür,
wie eine Diskussion über konkrete Probleme des Umgangs mit Natur umer
den Begriffen von Naturbeherrschung und Versöhnung besser nicht geführt
werden sollte.
Aus Anlaß der Festschrift für Willem van Reijen sollen die genannten Dis-
kurse aufeinander bezogen werden. Dabei geht es mir zunächst einmal um eine
Verortung der gegenwärtigen Situation des 1 aturverhältnisses, in einem weite·
ren Schritt um eine Beschreibung des klassischen Diskurses von t aturbeherr-
schung, um anschließend einige Perspektiven für die weitere Diskussion zu
skizzieren. Die gegenwärtigen Umweltdiskurse tauchen dabei in philosophi.
sehen Konstellationen auf, die viel faltige Berührungen mit dem Denken Wil-
lern van Reijens aufweisen.
, Besonders die Debatte um die dup u%g] ist hier zu nennen. Vgl. etwa die Beiträge
von Arne Naess und Holmes Roiston in dem Band von Angelika Krebs (Hrsg.),
Nallirtihile, Frankfurt a. M. 1997.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung 183
, Etwa: i\hnfred Frank, "Ist Selbstbewußtsein ein propositionales Wissen?" In: ders.,
SdbJlbeullWlsein lind SelbJltrlemnlniJ. EJJf!JJ ZNr analyHJrhtn Phi/ofoph;e der Subjele/;v;liil,
Stullgan 1991, S. 206-251.
184 Aktuelle Debatten
Ein weitergehender Schutz der Natur scheint im Widerspruch mit den Fun-
damenten einer liberalen Fre,iheitsordnung. Eine Beschränkung von Freiheits-
rechten im Hinblick auf den Schutz der Natur bedarf einer eigenen Rechtferti-
gung, die in einer liberalen Rechtsordnung schon deshalb problematisch ist,
weil die Natur oder Teile derselben nicht selbst als Rechtsträger auftreten kön-
nen und die Erhebung von Natur zu einem KolJektivgut, das Freiheitsrechte be~
schränkt. den Bereich vertretbarer Freiheitsbeschränkungen problematisch er-
weitern würde. Alle Versuche, den Kreis der Rechtsträger seinerseits auf natürli-
che Einheiten auszudehnen, scheinen aber die Struktur von Rechtsverhältnissen
in problematischer Weise zu gefährden. In weitgehend anthropozentrisch kon 4
3. Naturbeherrschung
in geschichtsphilosophischer Perspektive
Nun bietet sich in der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine
Reihe von Deutungszusammenhängen an, die Naturbeherrschung weit zentra-
ler mit Grundelementen der praktischen Philosophie, Geschichte, Politik und
dem Selbstverhältnis des Menschen vermitteln. Naturbeherrschung scheint für
die Dialeklik der Alljkliirung mit fundamentalen Momenten der menschlichen
Existenz zusammenzuhängen. Die Emanzipationsgeschichte des Menschen ist
als Widerstand gegen die Übermacht der Natur zu begreifen. Naturbeherr 4
s Mall: Horkheimer und Theodor W. Adorno, "Begriff der AufkJärung", in: dies., Diu-
lektik der AMfkliirung. Philosophüche Fragl1lente, Frankfurt 2. M. 1969, S. 7-41.
Düwdl, Nalurbeherrschung und Versöhnung 185
auf, und aus dieser Grundbewegung und den daraus erwachsenden, wenngleich
nicht beabsichtigten dialektischen Gegenbewegungen sind Geschichte und Po·
litik zu verstehen. In der Lokalisierung von Narurbeherrschung in der mensch·
lichen Sprachlichkeit gibt es zudem einen breiten Konsens. Wenn Adorno und
Horkheimer Sprache als Abwehrbewegung gegen Narurübermacht ausmachen,
Benjamin in der Sprache eine "totalitäre Nützlichkeitsideologie"6 am Werke
sieht und Heidegger den Verlust an Gelassenheit - "als Möglichkeit, das Sein·
zu·lassen'" -, so wird deutlich, daß die TOtalität von Herrschaft fundamental
in die Sprachlichkeit eingelassen ist.
un isr diese Interpretationsfolie einer TOtalität von Herrschaft, die atur-
beherrschung und gesellschaftlkhe Zusammenhänge in einen gemeinsamen In·
terpretationshorizont rückt, durchaus aus einer Reflexion auf Sozialverhältnis·
se erwachsen. In Frankfurt wurden Studien zu sozialen, politischen und kultu·
rellen Phänomenen durchgeführt, in Utrechr Modernisierung als Projekt mit
allen Paradoxien untersucht. 8 Kritische Sozialwissenschaft war in erster In·
stanz Betrachtung des Sozialen und legte die Totalität von Herrschaft und so-
mit auch von Naturbeherrschung als tieferliegende Interpretationsebene hinter
der Betrachtung deformierter Sozialverhältnisse frei. Dieser Schritt wird je·
doch im Hinblick auf die Veränderungen im Umgang mit der atur bedeut·
sam. Der Stand \'on Technik und Naturbeherrschung hat dann etwas zu tun
mit den Grundlagen von Humanität und Gesellschaftsformung. In Zeiten, in
denen Natürlichkeit bedroht ist und zugleich die Reaktionen von Natur auf
technische Enrwicklungen als Bedrohung erlebt werclen, bekommt diese Tie-
fenhermeneutik der Abgründe der Moderne eine besondere Dramatik.
Zukünftigen Frankfurter Generationen wollte es nicht mehr so recht ein·
leuchten, das Drama des historischen und sozialen Geschehens im Horizont
eines Natur und Geschichte übergreifenden Herrschaftsgeschehens zu inter·
pretieren. Stau Geschichte und Politik als Ausfluß einer Dramatik des Subjekts
hinsichtlich des aturverhältnisses zu sehen, sollte die Sphäre des Historisch·
Politischen in ihr eigenes Recht gesetzt werden. Das Drama instrumenteller
Rationalität wurde im Rahmen vorgängig kommunikativer Verhältnisse inter·
pretien und Anerkennungsrelat.ionen als Interpretationsfolie von histOrischen
Zusammenhängen gewählt. Das Drama der Naturbeherrschung verschwand so
weitgehend aus dem Blick, erschien als Relikt einer sprach philosophisch noch
unerleuchreten Subjekt-Objekt.Metaph)'sik. licht allein in Frankfurt. sondern
auch an vielen anderen Orten erfuhren seit den siebziger Jahren praktische
Philosophie, politische Philosophie und Ethik eine Renaissance. In diesem Zu·
6 Willem van Reijen, Dtr S{hu:(J'Z"'ald "nd Pan·i. Htidtggtr untl Benjamin, München 1998,
s.
157.
7 Ebd., S. 145.
8 Hans van dn 1..00 und Willem van Reijen. Modmrüitnllll.' Projtlu ,,"t1 PariJtlox, Mun-
ehen 1992.
186 Aktuelle Deb2uen
9 Jürgen I-Iabermas, Die ZlilelinJi dtr mtnJthlirhtn Na/llr. Allf dtl1/ W'tg ZII ti,ur libtralm Eil·
gmile? Ff2nkfurt 2. 1\-1. 2001.
10 Albrecht \l'e11mer, ..Wahrheit. Schein. Versöhnung. Adornos 2sthetische Renung der
Modernität", in: ders., ZNr Dif1lt1eJi!e JYJ" Modmlt lI"d POJ/",odmlt. Vtnullljikritile nf1rb
Adomo, Fra.nkfurt 3.. M. 1985, S. 9-47.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung 187
Wahrheit ge-stiftet wird. 11 Benjamin erwartet eine neue Perspektive auf die
Geschichte von einer ästhetischen Radikalisierung der Moderne. In Adornos
Ästhetik, die so stark auf abstrakte Kunsrwerke konzentriert ist, erhäh das
Narurschöne geradezu eine Schlüsselposition. Das Naturschöne ist für Adorno
nicht ein Residuum von ästhetischer nmittelbarkeit vor aUer kultureUen Ord4
nung. Es ist auch nicht - wie rur Hegel - allein ein Element, das in die Vorge-
schichte der Ästhetik eingeordnet werden muß. Noch weniger ist es als ästheti-
sche Kompensation für technische Naturbeherrschung zu begreifen l2 . Adorno
erhofft vielmehr Rettung des Nicht-Identischen in künstlerischen Konfigura-
tionen. Technik, also Narurbeherrschung, wird im Medium des ästhetischen
Scheins radikalisiert, und in diesem Vorgang läßt das Kunstwerk Versöhnung
aufblitzen. Dabei denkt sich Adorno das Naturschöne als die Zielvorstellung
des Kunstwe,rks. Das Kunstwerk strebt dem 1 aturschönen nach, um in der
Weh technischer Artefakte den Schein von Versöhnung auf-scheinen zu las-
sen, den das Naturschöne bewußtlos antizipiert. 1J Nicht Natur als solche, aber
das Naturschöne scheint ein Versprechen abzugeben auf Versöhnung jenseits
des Banns von Herrschaft!4. Die Einlösung dieses Versprechens ist geschichts-
philosophisch weder garantiert, noch hat das Versprechen selbst irgendeine
andere Basis als das Erleben des Menschen, darüber kann Adornos objektivi 4
stische Schreibweise nicht wirklich hinwegtäuschen. Und gleichwohl wird hier
ein Moment von Versöhnung faßbar, ohne das wir vielleicht nicht einmal eine
Vorstellung hätten, wie ein versöhntes Verhältnis zur Natur überhaupt vor-
stellbar wäre. Zugleich ist diese Idee des Narurschönen auf eine Realisierung
im Kunstwerk angewiesen, um zur Anschaulichkeit zu gelangen.
In der neueren Diskussion ist diese Entdeckung des Naturschönen vielfach
wieder aufgegriffen worden.!5 Charakteristisch für diese Diskussion ist jedoch
die Ablösung von geschichtsphilosophischen Perspektiven. Das alurschöne
11 Die KunSI iSI Geschichle in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichle gründel."
••
Martin Heidegger, Dtr UrSpTH"1, dn KunsllNTkJ, Slullgart 1982, S. 80.
12 joachim Riller, "Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Ge-
sellschaft;', in: ders., SNbjeklit:iliil, Frankfurt a. M. 1974, S. 141-163.
13 "Kunst fislj, anstalt achahmung der Nalur, Nachahmung des Naturschönen."
Theodor w. Adorno, AJlhrliJ{he Theorir, Frankfun a. ~1. 1970, S. 111." atur hat ihre
Schön heil daran, daß sie mehr zu s:agen scheint, als sie iSI. Dies Mehr seiner Kontin-
genz zu entreißen. seines Scheins mächlig zu werden, als Schein ihn selbsl zu be-
stimmen, :als unwirklich :auch zu negieren, ist die Idee von Kunst:' Ebd., S. 122.
Jot "D:as alUrschöne ist der in die Im:aginalion tr:lnsponiene, d:adurch vielleicht :abge-
goltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang de.r Vögel; kein Fühlender. in dem e[-
w:as von europäischer Tradition überlebl, der nicht vom Laut e.iner Amsel nach dem
Regen geruhrt würde. Dennoch lauen im Ges:ang der Vögel d:as Schreckliche, weil er
kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorchl, der sie befangt." Ebd., S. 104 f.
15 Martin Seel, E;,tt AJIIHtik drr NalNr, Frankfurt a. M. 1991. Marcus Dü",,'e1I. ASlhrlü{hr
Erjahf'1inl, Nnd Moral ZNr BedeMlunl, dn ASlbtlisrhm Jiir dir HanJlNngupielräMme du Mm-
uhrn, Freiburg, 2. AuO. 2000. Anne Kemper, Unt!erftigbare NatNr. /iJlbelik. A"lhropolo-
git M"d Elhik du UmlJ'el/JlhNlzu, Frankfurt a. M.. New York 2000.
188 Aktut:llt: Debatten
wird dafür plädiert, die bisherigen ganz auf den Menschen orientierten Kon-
zeptionen von Moral und Politik hinter sich zu lassen und auch nicht-mensch-
liche Naturentitäten jcne moraljsche Rücksicht zukommen zu lassen, die wir
uns gegenseitig schulden. Dieser leuere Schrin stellt jedoch einen weitgehend
inflationären Gebrauch sozialer, moralischer und poLitischer Begriffe und Ka-
tegorien dar, der im Hinblick auf die Konsequenzen für den Schutz von Indi-
vidualrechten extrem fragwürdig iSt. 16 Ohne das hier im einzelnen begründen
zu können, scheim es zumindest plausibel, die kJassischen Schutz konzepte in
Moral, Recht und Politik um Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes zu er-
weilern und zugleich die Begriffs- und Kategorienbildung, die aus menschli-
chen Sozialverhältnissen emstammen, zu belassen. Für diese Operation ist eine
philosophische Reflexion, die auf Versöhnung jenseits von Herrschaftsverhält-
nissen orientiert ist, wohl kaum erforderlich.
un ist auch in anderer Hinsicht der Erklärungs- und Orientierungswert ei-
nes Geschichts- und Politikkonzepts fraglich, das aus der Beherrschung von
Natur seine Dynamik gewinm. In einem Versöhnungskonzept sind im Grunde
alle Fragen auf das Verhältnis von Geschichte zu einem ihm transzendemen
Zustand gerichtet. Angesichts des stetcn Rückbezugs zur Transzendenz bleibt
die D).namik innerhalb der Geschichte gleichsam stabil. Die konkreten histori-
schen Phänomene sind allesamt nur ein Verweis auf ein Jenseitiges. Wenn Na-
turbchcrrschung und ihre fatale Dynamik in das Wesen von Technik und Polj-
tik eingelassen ist, steht alle geschichtsinterne Entwicklung untcr dem steten
Vorzeichen der fatalen Entwicklung, ohne das weitere Differenzierungen mög-
lich und sinnvoU sind. Die Erläuterung histOrischer Enrwicklungszusammen-
hänge steht unter diesem abstrakten Vorzeichen, und die Möglichkeit, konkre-
te Entwicklungen von aturbeherrschung und Technjkenrwicklungen norma-
tiv zu beurteiJen, emfallt.
Die geschichtsphilosophische Rückbindung des Mensch-Natur- Verhältnis-
ses scheint also aus vielerlei Gründen problematisch, wenn es um das Ver-
ständnis und die moralische und politische Beurteilung unseres praktischen
Umgangs mit Natur gehl. Zugleich ist das Naturverhältnis jedoch von zemra·
ler Bedeutung für unsere politischen Gestaltungsräume und das eigene Selbst-
verhältnis. Insofern ist die Auseinandersetzung mit Narurbeherrschung oder
aIlgemciner dem Umgang mit atur nicht ein materiales Thema neben ande-
rcn, sondern eine unvermeidliche Herausforderung für unser moralisches und
politisches Selbstverständnis. Wenn wir aber Natur jenseits totaler aturbe-
herrschung denken, setzen wir den Standpunkt der Versöhnung zwar nicht als
16 Dazu: ta Eser. "Einschluss St2tt Ausgrenzung _ Menschen und ':uur in der Um-
wehethik". in: Marcus Düwell und Kbus Sleigleder (Hrsg.), BitNthik. Ehre Ei".flihnmg,
Fnnkurt 3. M. 2003. S. 344-353. l\hrcus Dü",'ell. "Zum Verhältnis von Elhik und
Recht - umweltelhische Perspektiven", in: Monik3 Bobben, l\hrcus Düwell und
Kurt Jax (Hrsg.), UmM,tlt- Ethik - Ruht. Tübingen 2002, S. 8-28.
190 Aktuelle Debatten
utopisches Telos voraus, aber doch als Bezugspunkt der Reflexion; zumindest
transzendieren wir die Bahnen unserer jetzigen kulrucellen und zivilisaroci·
sehen Möglichkeiten.
Das Verhältnis zur arur, die Begrenzung technischer Verftigba.rkeir und
die Möglichkeit, das eigene Selbsrverhälrnis anders als in technischer Selbstver-
fügung zu denken, sind von zentraler Bedeutung für die Konstüuierung mora-
lischer und poLitischer Subjektivität. Naturressourcen sind nicht allein Gegen-
stände des Besitzes, die allein unter Vertcilungsgesichtspunkten bedeutsam
sind. Die Existenz freiheitlicher Gesellschaften, die Möglichkeiten von eigen-
verantwortlichem Handeln und die Selbstwahrnehmung als moralische Subjek-
te sind mit der philosophjschcn Antwort auf das Verhältnis des Menschen zur
Natur in der fortgeschrittenen Moderne intern verbunden. Dabei ist es keine
verantwortbare Möglkhkeit. den Differenzierungsgewinn von Demokratie,
Menschenrechten und geregelten Machtverhältnissen mit eschatologischen
Versöhnungsperspektiven einzuebnen. Für Ethik und politische Phjlosophie
ist es jedoch eine zentrale Aufgabe, ihre Kategorien, Begriffe und materialen
Gegenstände unter der Perspektive zu reflektieren, ob ein Verhältnis zur Tarur
gedacht werden kann, das nicht auf Naturbeherrschung reduzien bleibt, und
seinen Stellenwert zu bestimmen.
Gunzelin Schmid 1 oerr
Ende November 2Q02 einigten sich die EU-Agrumi ni ster auf Regeln zur Kenn-
zeichnung technisch \'erindener Ld)(:nsnUuel. Demnach müssen ubensmiuel dann
zwingend ~kennzeichnet werden. u'enn sie mindestens zu 0,9-/. gentechnisch ver-
iindene Organismen beinh:ahen. Diese Prozentzahl ist weile:r umstriuen. Immerhin
bezeichnete ein Sprecher der Umweltorganis:ation Greenpeace die Regelung 1lIis welt-
weit beispielhaft.
Schmid Noerr, W20S hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? t 93
Wir kommen so zu einem erSten Ergebnis, daß die bei den alternativen An-
nahmen einerseits zu unsicher. andererseits in sich unstimmig sind. Das bedeu·
tet a~r auch. daß die AI/erna/it't selbst JalSfh kons/f7/ierl ist. Tatsächlich beging
unser Genforscher den - wiederum typischen - Fehler, einen Teilbereich sei·
nes eigenen, engeren Tätigkeitsfeldes als maßgeblich für das Problem im gan·
zen auszugeben. Dieser Teilbereich ist die Verträglichkeit der Lebensmittel in
bezug auf die körperliche Gesundheit, wobei er offenbar auch annahm, daß
dies hier und jetzt feststellbar sei, also von der Unbestimmtheit langfristiger
Folgen absah.
Nun gibt es jedoch offensichtlich auch andere wichtige Bereiche, die von
technologischen Eingriffen betroffen sein können, z. B. die natürliche Umwelt
oder die persönliche Autonomie. Diese dürfen bei einer solchen Entschei-
dungsfindung nicht unberücksichtigt bleiben. Hinsichtlich der na/iirlichen Um-
nIl blendete der Experte die Folgen aus, die dadurch eintreten können, daß
die genmanipulierte Pflanze unter Freilandbedingungen teils weiter mutieren,
teils auf andere Bios)'steme einwirken kann. Damit können. so wird gelegent-
lich behauptet, gefahrliehe Kettenreaktionen ausgelöst werden. die schlechthin
unüberschaubar sind. Allerdings betrifft diese Frage tatsächlich nicht erst die
Kennzeichnung der Waren für den Verkauf, sondern schon die Zu lässigkeit
der Produktion der Ausgangsorganismen.
Ein anderer zu beachtender Bezugspunkt ist die Autonomie der Konsumen-
ten. Er ist hier von maßgeblicher Bedeutung. Selbst wenn die Mehrzahl der
Experten von der Unschädlichkeit der neuen Technologieprodukte überzeugt
wäre, dürfte diese Ansicht den KOnJNmenten nicht oktroyiert werden, solange es
bei einem quantitativ relevanten Anteil der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber
genmanipuliert'en Lc:bensmitteln gibt. Ein gesetzlicher Verzicht auf Kenn-
zeichnung genmanipulierter Lebensmittel, der vorrangig den Verkaufs-
interessen folgte. würde die Autonomie der Konsumenten unangemessen be-
einträchtigen, zu der, im Rahmen der eigenen Belange, auch die Freiheit des
Nichtwissens und der persönlichen EOlscheidung aufgrund von Irrtum gehört.
Unter Einbeziehung vor allem der Respektierung der persönlicher Entschei-
dungsfreiheit kommen wir also zu dem Ergebnis, daß eine Kennzeichnung der
Lebensmittel moralisch geboten ist, und zwar selbst dann, wenn die Mehrzahl
der Experten von ihrer Unschädlichkeit überzeugt wäre. Das unter diesem As-
pekt erfreuliche Resultat der tatsächlich so erfolgten politischen Entscheidung
demonsuien die ethische Folgerichtigkeit wenigstens einer EinzeIentschei-
dung. Das besagt allerdings noch wenig über ethisch geforderte Steuerungs.
möglichkeiten in anderen Bereichen technischer Entwicklungen und ihrer Aus-
wirkungen. Charakteristisch für die politische Entscheidungsfmdung ist, daß
ethisc.he Argumente niemals in der hier angeführten Reinform vorkommen,
sondern immer in einer komplexen Gemengelage von Meinungen, Interessen,
Kompetenzen und Betroffenheiten. Deshalb ist im nächst.en Schrift zu überle·
gen: Wie bewerten wir Technik?
194 Akruelle Debatten
dar, wobei sich der Nutzen auf einen einzelnen, eine Gruppe, eine Institution
oder die Gesellschaft als ganze beziehen kann. Bewertet wird Technik hjer un-
ter Regeln der Klughtit: .. Es ist klug, A zu tun. um B zu erreichen." Betrachtet
man die Technjk nach KJugheitsregeln unter einem übergeordneten, möglichst
objektiven Gesichtspunkt, dann betreibt man dtsknplillt Technikfolgenab-
uhiitzung. Diese zeigt die faktischen oder zu erwartenden Resultate und damit
das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten unter gegebenen Bedingungen und
Zielvorstellungen auf.
2
Vgl. Christoph Hubig, Eva Jelden, "Werkzeug, Maschine, System", in: Christoph
Hubig,Jürgen Albers (Hrsg.), TuhniJebunrlung, \Xleinheim 1995, S. 13 fr.
Schmid Noerr, \,\'as hilft die Ethik bei der Einschät2ung der Technik? 195
-----------
KJugheitsregeln ethische Prinzipien
Nun ist mit dieser formalen Aufgliederung noch nicht gesagt, welche Be-
deurung den einzelnen Bewerrungsinstanzen tatsächlich zufallt. So könnte die
Annahme. daß wir heute üben.viegend nicht mit, sondern in der Technik leben,
auch bedeuten, daß ethische Erörterungen kaum mehr liefern als nachträgliche
Rechtfertigungen im Kampf widerstreitender Interessen. Die neuere Diskussi·
on um die Möglichkeiten der Technikethik schließt dabei fast nahtlos an die
Auseinandersetzungen um das Verhälmis von Politik und Philosophie an, die
ihrerseits so alt wie diese selbst sind.
)
UIrich Beck. Gege"giftt. Die orgnnisitrle UfII'trn"lWorllühluil, Fnnkfurt a. l'.1. 1988, S. 194.
Schmiel Noerr, Was hilfl die Ethik bei der Einschätzung der Technik? 197
• Vgl. Wolfg.lIng Krohn, Gerh2rd Krücken (Hrsg.), RisluJ"fe Tubnoltlgü,,: &jk:o..·ion lind
Rq,ltlo/;on. Fnnkfurt a. M. 1983.
198 Aktuelle Deballcn
mein die theoretische Reflexion dessen, was moralisch für richtig oder gUI ge-
halten wird, wobei er dann allerdings die deskripLive Ethik (als soziologische
Beschreibung und Deutung des Moralischen) gegenüber der normativen Ethik
(als philosophische Begründung und Rechtfertigung des moralischen Sollens)
privilegien. Als empirisch faßbare Entsprechungen rur moralische Werte sieht
Luhmann Achtung und Mißachtung an. Entsprechend bestimmt er Moral als
"eine besondere An von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung und ~'Iiß
achtung mitführr",5 Luhmann hält die - sei es deontischen, sei es konsequen-
tialistischen - Begründungen der normativen Ethik zwar nicht von vornherein
für falsch, aber angesichts des heutigen Stands der Moral und des ethischen
Problem bewußtseins für unangemessen. "ivtoraJ" erscheint so in einer soziolo-
gisch-externen Perspektive und nicht, wie in der philosophischen Ethik vor-
rangig, in der internen Perspektive der moralisch Urteilenden selbst.
Luhmann konzeptualisien die moderne Gesellschaft (etwa seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts) als System, das nicht mehr hierarchisch, sondern funk-
tional gegliedert ist. Auf diese \'(leise differenziert sich die Gesellschaft in je-
weils autonome Teilsysteme, zum Beispiel \'(lissenschaft, Politik, Recht, Kultur,
Schule, Liebesbeziehungen (und eben auch Technik). Diese funktionieren ent-
sprechend einer je besonderen binären Codierung. In der Wissenschaft gilt
vorwiegend das Kriterium "wahr/unwahr", in der demokratischen Politik die
Entgegensetzung "Regierungs macht/Opposition" usw. Das Neuartige dieser
Codierungen gegenüber vormodernen Gesellschaften besteht nun nicht zuletzt
darin, daß sie sich von der Codierung "moralisch gut/schlecht" abgekoppelt
haben. Während die vormodernen Gesellschaften durch weitgehend statische
Rollenzuweisungen und moralische Normierungen integriert waren, existiert in
der ~Ioderne kein normatives Zentrum mehr, das den Anspruch erheben
könnte, die Entfaltung der djsparaten Handlungssysteme zu steuern. Auch d:as
moderne Leitbild individueller Autonomie taugt nicht zu einem solchen Zen 4
trum, weil es bloß formaler Art ist und die einzelnen in ihren Handlungsprä-
ferenzen inhaltlich gerade nicht festlegt. Jedes gesellschaftliche Handlungssy-
stem hat also seine eigenen Funktionskriterien, die mit dem moralisch Guten
und Schlechten nichts zu tun haben, ja mit diesen Bewertungen im Interesse
ihres Funktionierens nicht vermischt werden dürftn.
Die moralische Kommunikation ist nun aber auch kein Funktionssystem
unter anderen, denn sie bezieht sich nicht auf jeweils systemspezifische Lei-
stungen, sondern eben :auf die Achrung oder Mjßachrung einer Person als gan-
zer. Das bedeutet, daß sie soziologisch gesehen orllos und adress:atenlos ge-
worden ist, über:all und nirgends zugleich, fast immer störend. Keineswegs, so
Luhmann, fördert die moralische Kommunikation die ihr zumeist zugespro-
chene Bereitschaft zu Gewaltlosigkeit, vielmehr ist ihr die Tendenz zum pole-
, Niklas Luhm:mn. l'aradigm 10$1: Ober dit elhiJrh, PJPt:x·io" dtr ,oHoral, Frankfurt t. 1\'1.
1989, S. 17 f.
Schmid Nocrr, Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? 199
, Luhmann, "Ethik als Rcnexionstbeorie eier Moral", in: ders., GtJt/luhaflJJtntlUNr Hnd
StouUJlik. Studien !{Hr lf/iJJtnssOiio1ogit dtr modtrntn Gtstlluhajt, Bd. 3, Frankfurt a. 1\'1.
1989, S. 367.
7
Aber iSI die Analogie wirklich zwingend? Die AUloren des Glossars zu Niklas Luh-
manns Theorie sozialer SYSleme (Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Espo-
200 Aktuelle Debauen
raUsch gut ist, erweist sich, im Sinne Luhmanns, damit als unentscheidbar. Sie
ist Ausdruck seiner Infrageste1lung des moralischen Selbstverständnisses der
Ethik. Luhmann zieht daraus den Schluß, daß es "die vielleicht vordringlichste
Aufgabe der Ethik [heute istJ, vor Moral zu warnen"a, oder, weniger appellativ
formuliert, den Anwendungsbereich der moralischen Kommunikation gesell-
schaftsrheorctisch zu limitieren und "sinnvolle Anwendungsbereiche von I\'[o~
Tal zu spezifizieren"9.
Das klingt immerhin vernünftig. 1O Gerade im Fall des besonderen Gegen-
stands unserer Überlegungen, der Ethik der Technik, gibt es genug ernst zu
nehmende Gründe, sich vor IUusionen zu hüten. Appelle an das Gute im Men-
schen haben zumeist keine Chance auf Gehör, vor allem wenn machtvolle in-
teressen ihnen entgegenstehen. Und bloßes Moralisieren hilft nicht nur nichts,
sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit von den entscheidenden Problemen
ab. Aber muß nicht gerade auch eine ambivalenzbewußte und moral-
limitierende Ethik ihren Differenzierungen und Warnungen einen moralischen
Wert zuschreiben? Ist der Zirkel der Selbstreferentialität überhaupt vermeid-
bar? Luhmann betont selbst, daß dies unmöglich ist, daß also "jede Begrün-
dung von Aussagen über Ethik und Moral selbstreferentiell angelegl sein
muß"ll. Jedoch bleibt bei ihm unklar, was dies für die Ethik bedeuten soll. Ei-
nerseits will er den engen Zirkel der tIIoralischtIJ Selbstreferentialität durch den
weiteren und unverfanglicheren Zirkel der so':(jologisdJen Selbstreferentialität
(nach der auch Ethiker als Beschreiber moralischer Kommunikation gesell-
schaftlich kommunizieren) ersetzen. Andererseits gesteht er zu, daß die Ethik
als Selbstreflexion der Moral in ei.nem strikten Sinn gar nicht anders kann, als
sich selbst als etwas Gutes (und nicht erwas Schlechtes) zu wollen. Wenn es
SilO, Frankfurl a. r-,,1. 1997), das von einem souveränen überblick über die weitläufige
Luhmannsche Theorielandschaft zeugt, paraphrasieren ausführlich das klassische
Lügnerparadoxon, während sie dessen logische übertragung auf die funktionalen
Systeme (5. 133) oder die Moral (5. 120) nur behaupten, nicht aber begründen. Die
gesamte Lehre von den unvermeidlichen Paradoxien und ihrer "kreativen Asymme-
uisierung" scheint vor allem dazu notwendig zu sein, um den theoretischen Ge-
bUrisfehler zu kompensieren, der in der sachlich unangemessenen Starrheit der ,.bi-
nären Codes" liegt. Wie ließe sich im Ernst Demokratie auf die Alternative Regie-
rung-Opposition, wie die der Wissenschaft auf wahr-falsch, und wie die Moral auf
die alternative Zuschreibung gut-böse reduzieren?
8 Luhmann, Paradigm 10$1, S. 41. - Warum aber sollte das Warnen und Mahnen des de-
skriptiven Ethikers grundsätzlich weniger steril sein als das von Moralisten, wie Luh-
mann es an Theologen des 17. Jahrhunderts <"gI. ebd., S. 11 f.) oder an sozialen Pro-
testbewegungen der Gegenwart ("Ethik als ReOexionstheorie der Moral", S. 436) be-
mängelt?
9 Luhmann. "Ethik als ReOexionstheorie der Moral", S. 436.
10 Tatsächlich ist Luhmann ja nicht der erste Ethiker, der in moralischer Absicht die
dunklen Seilen des Moralischen thematisiert.
II Luhmann. Paradigf11 10$1, S. 35.
Schmid Noerr, Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? 201
thie mit dem Glück der lenschheit und eine Empörung über ihr Elend"12 dar.
Sie haben ihren On und ihren Adressaten in den (bei Luhmann nicht mehr
vorkommenden) Subjekten, insofern deren ReflexionspOtcnciale über ihre so-
ziale Fungibilität überschießen.
12 David Hurne, Eine UnltrsJlCb'lng iibtr die Pri"t?pim der Mornl (1777), SlUttgart 1984, S.
216 f.
Schmid Noerr, \X'as hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? 203
Eines der traditionellen ethischen Kriterien ist das des "größtmöglichen Nut-
zens für die größtmögliche Zahl", wie es der englische AufkJärer Francis Hut·
chenson schon 1725 formulierte. Gerade im Zusammenhang der Technikbe-
wertung spielt es eine wichtige RoUe. Jedoch wird durch die Folgeprobleme
der zeitgenössischen Technologien auch die Grenze der Anwendung dieses
Prinzips aufgewiesen. Im erwähnten Beispiel der politischen Regulation der
Gentechnologie wären die Bürgerrechte auch nur Faktoren in der Nutzen-
bilanz, die gegen eine Verbesserung der Erträge verrechnet werden können.
Darüber hinaus macht die Unbestimmbarkeit vieler Technologiefolgen eine
zuverlässige Nutzenbilanz zumeist illusorisch.
Die Ethik der Technik mu? die Achtung von Personenrechten in besonde-
rer \X!eise auszeichnen. Personenrechte sind immer individuelle Rechte, mit
denen die eigenen Enrwicklungsmöglichkeiten in der Abwehr gegenüber Ein·
schränkungen seitens anderer Personenrechte geschützt werden sollen. Aus
der Wechselseitigkeit dieser Perspektiven ergibt sich der Vorrang der negativen
(Abwehr-)Rechte vor den positiven (Entfaltungs-)Rechten.
Ein wichtiges Verfahrensprinzip hinsichtlich des Umgangs mit Technik ist
öffentliche Transparenz, eine demokratische Kultur der Aufmerksamkeit und
Information. Transparenz ist eine zentrale Forderung der Ethik der Entschei-
dungen. Schon bei Kam findet sich eine entsprechende Formulierung, dje ge-
radezu auf den Umgang mit riskanten Technologien (wie die eingangs analy.
sierte Gentechnologie) gemünzt sein könnte: "Alle auf das Recht anderer Men-
schen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität ver-
trägt, sind unrecht".l) Publizität vertragen nur solche Verfahren, die seitens
der Betroffenen auch zustimmungsf.ihig sind. Demnach ist eine Technik dann
illegitim, wenn ihre handlungsleitende Moral nicht allgemein akzeptabel ist. Al·
lerdings: Auch Transparenz ist nicht alles. Die Legitimation von Entscheidun-
gen durch demokratischen Konsens beruht darauf, daß Entscheidungen prinzi.
piell auch durch neue lll1ehrheiten rcvidierbar sind. Technik hat aber zuneh-
mend unrevidierhare Folgen. Das iSI eine entscheidende Grenze des ethischen
Dis ku rspri nzi ps.
13 Immanuel Kam, ZUIN rll!igm Frirdrn (1795), In: ders., SiiHllli,hr IlYrrkr, hrsg. von G.
Hartenstein. Bd. 6, Leipzig 1868, S. 449.
Jan Bergstra und Alben Visser
1. Einleitende Bemerkungen
Wir kennen \Villem van Reijen als einen pragmatischen Dekan. Gegensätze
überbrückt er offenkundig mühelos, und Konflikte werden abgebaut, da er
sehr unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander stehen lassen kann. Auch in
seinem philosophischen Werk spielt es eine wichtige Rolle, scheinbar kaum
miteinander verträgliche Autoren und Standpunkte zusammenzuführen.
Willem wirft in seiner Antrittsvorlesung, die er kürzlich in Freiburg gehalten
hat, die Frage auf: "Kann Philosophie politisch sein?" Er beantwortet diese
Frage mit einem zweifachen Ja: Die eindeutig politisch ausgerichtete Philoso-
phie von z. B. Habermas ist politisch, aber auch die Distanz zum politischen
Alltag von Heidegger und Benjamin stuft er als politisch ein. Wir reformulie-
ren van Reijens Frage im "orliegenden Beitrag folgendermaßen: .,Kann Infor-
matik politisch sein?" nsere Frage ist mindestens ebenso sinnvoll wie die von
van Reijen, da zwischen der Philosophit, von der in van Reijens Frage die Rede
ist, und der Informatik in unserer Frage eine Reihe von Verbindungslinien be-
stehen - wie gezeigt werden soll. Auch wir kommen zu einer zustimmenden
Antwort. Als Teil der Antwort benennen wir eine Reihe moralisch I gehaltvol-
ler Ziele der Informatik, die wir als eine politische Agenda für die Informalik
auffassen. Genau wie van Reijen sehen wir den politischen Aspekt sowohl auf
einer expliziten als auch auf einer impliziten Ebene: Es gibt explizite politische
Elemente auf der Agenda - aufgefachen in Bekämpfung von J\'lonopolbildun.
gen über die Forderung nach offenen Regeln und offenen Quellen (open
sources) bis hin zur Ermöglichung von IP-Adressen für jeden - und es gibt
weniger explizite politische Elemente, wie etwa bestimmte Ansprüche an Com-
puterprogramme und ihre Überprüfung mit Hilfe der Instrumente der Logik.
Das letztere hat auch eine moralische und - auf der Ebene systemischer Zu-
sammenhänge - eine poljtische Dimension. Unsere politische Informatik steht
weit stärker .,auf den Barrikaden" als van Reijens Politische Philosophie, die
In diesem Beitrag hai das Ethürw Bezug zur Frage nach dem gulen Leben (Optio-
nen) und du Morali$r/H Bezug zu dem, was ".jr uns als Menschen gegenseitig an Re-
spekt schuldig sind (pnichten). Die philosophische Beschiftigung mit sowohl dem
Ethischen als auch dem Moralischen nennen wir Ethik. NormatilJ werden wir in ei·
nem weiten Vernindnis gebrauchen, so daß auch Vorschläge fUr die Gestaltung \'on
Compulerprogrammen normativ sein können.
Bergstr-a/Visser, Heilserwarrung in der Informatik 205
, Auch Heidegger kann als jemand gesehen ",,'erden, der eine neue Spnche entwickel-
te, um die Einsichl in d-as Sein besser ausdrücken zu können.
206 Aktuelle Debanen
Die Informatik beginnt mit der Einsicht, daß die zweite Gleichung unwahr ist
oder - besser ausgedrückt - nicht ro ipso wahr ist. Aus der Tatsache, daß etwas
- in der einen oder anderen Weise - menschliches Produkt ist, folgt noch
nicht, daß wir dieses Erwas auch verstanden haben (in irgendeinem Sinne \"on
Verstehen). Es gibt verschiedene Faktoren, die zu dem Nicht-Verstehen oder
der 1 icht·Verstehbarkeit beitragen. Da ist z. B. die Rolle des Ausprobierens,
oder da ist das Faktum, daß ein kleines Stück Technologie das Produkt der Zu-
sammenarbeit einer großen Anzahl Menschen mit sehr spezialisierten Tätigkei-
ten darstellt. Die Informatik stellt sich nun die konstruktive Aufgabe, mensch.
liehe Produkte in den Bereich dessen zu bringen, was im vorhinein verstanden
ist. Das Verstehen kann dabei gesehen \\'erden als Zweck in sich selbst, aber es
hat noch eine Reihe weiterer Vorteile. So wissen wir von empirisch getesteten
Programmen z. B, nicht sicher, wie diese sich in völlig neuen Kontexten ver-
halten werden. So ist es z,B, sehr schwierig ein unvollständig verstandenes
Programm an neue Aufgaben anzupassen.
Wir werden das übliche Verständnis von Infor1lJatik in diesem Artikel noch
dadurch erweitern, daß wir auch mehr oder weniger moralische Überlegungen
in ihren Aufgabenbereich einbeziehen. Wir denken, daß der Übergang \'om
normativen Charakter der Informatik, wie sie in Abteilungen für Computer4
wissenschaften betrieben wird, zu den stärker moralischen Überlegungen die-
ses Artikc:ls ein weni~r großer Schritt ist, als man naiver Weise anzunehmen
geneigt ISt.
Worin unterscheidet sich nun die Infonnatik von der Philosophie? Es gibt
keine Gründe anzunehmen, daß eine solche Grenze sauber gezogen werden
kann. Die Informatik ist formaler, als es die Philosophie im allgemeinen ist,
wenngleich z. B. die Logik als philosophische Disziplin auch nicht weniger
formal ist als die Informatik. Die Informatik greift im allgemeinen nicht expli-
zit auf die philosophische Tradition zurück, doch das gilt auch für manche
analytische Philosophen. Darüber hinaus spielt die Logik, wie sie in der Philo-
sophie verankert ist, in der Informatik eine wichtige Rolle. In der kognitiven
Robotik - die von manchen übrigens mehr zur Künstlichen Intelligenz als zur
Informatik gezählt wird - spielen philosophische Theorien zur Intentionalität
eine wichtige RoUe. Die Informatik ist vor allem auf den Computer konzen-
triert. Aber warum sollte es nicht auch eine Aufgabe der Philosophie sein kön 4
nen, sich mit dem Compucer zu beschäftigen? Die starke Beschäftigung der In-
formatik mit Korrektheit scheint direkt an philosophische Anal)'sen anzu 4
schließen, wie etwa die Anal)'se des Wahrheitsproblems durch Tarski.
Wenn wir nun die Blickrichtung verändern und von der Philosophie aus
nach der Informatik schauen, dann \\'ird deutlich, daß es viele philosophische
Fragen im Zusammenhang mit der Entwicklung \'on Computern gibt. Es gibt
natürlich die Mensch 4Compurer4Analogie. Sie wird in der Künstlichen Imelli4
genz untersucht. Darüber hinaus macht die Entwicklung des Computers deut-
lich, daß unsere Umgebung abstrakter ist, als frühere Philosophen dachten. Ty-
pische Fragen in diesem Komext lauten etwa: IWas sthtn u,ir, .'tnn u,;r in tintn
Bergstra/Visser, Heilserwartung in der Informatik 207
BildJfhirm schaNtn? 1l7as sind Gtgtnsföndt in tintnt COHlpNftr? Menschen können mit
solchen Objekten in einem intentionalen Verhältnis stehen. Peter kann glück-
lich sein, wenn er den ersten Tyrannosaurus im Spiel Nanosaur erlegt halo Pe-
ter kann bereits auf der Suche nach dem zweiten sein. Ein besseres Verstindnjs
der menschlichen Umgebung wird ipso factO ein besseres Verständnis vom
Menschen darstellen. Der Computer ist eine Ausbreirung der menschlichen
mgebung, eine AJlsbrrifNng du MtlIschtn. Die Mensch-Maschine-Imeraktion
wird auch in der kognitiven Ergonomie untersucht.
Ferner ist da der rätselhafte Erfolg der Apriori-Analyse vom Begriff des Al-
gorithmus durch Turing. Diese Analyse beansprucht, den Begriff Algorithmus
erschöpfend zu beschreiben. Wenn wir diesen Anspruch als überzeugend anse-
hen, dann fUhrt das unmittelbar zu Fragen nach den Strukturen von Einsicht
und den Möglichkeiten der Wesensschau. Wenn wir den Anspruch hingegen
nicht als überzeugend ansehen, dann benötigen wir eine ausgearbeitete Wider-
legung von Turings Überlegungen. Die moderne Entwicklung der Quamen-
computertechnologie scheim für diese Problematik unmittelbar relevam zu
sem.
Schließlich ruft die Entwicklung der Informatik moralische Fragen hervor,
wie sie in Abschnin 4 unseres Beitrags veranschaulicht werden sollen; Fragen,
die mehr in das Gebiet der Ethik fallen.
Zusammenfassend können wir sagen, daß die Informatik - inklusive der
akademischen Informatik - eine deutlich normative Seite hat. Sie ist sowohl
auf Apriorizität gerichtet als auch auf einen kontingenten historischen Prozeß
bezogen. In dieser Spannung gleicht sie der Philosophie. Und noch ein weite-
rer Bezugspunkt zur Philosophie ist hier zu ergänzen: Viele philosophische
Probleme haben mil Gegenständen der Informatik zu tun.
eingesetzt wird.) Wir geben im folgenden zwei Gründe an, warum diese Idee
irreführend iSl.
Zum Ersten ist eine Technologie selbst kein Instrument, sondern vielmehr
Gener:uor einer Vielzahl von Instrumemen. Technologien sind oft zweckoffen
(open ended). Das bedeutet. daß eine Technologie nicht einen vorgegebenen,
in ihr Wesen eingebauten Zweck oder eine übergreifende Anwendung hat,
sondern daß dje Entfaltung dessen, was wir mit der Technologie tun woHen
und können, selbst Teil des EnrwickJungsprozesses dieser Technologie ist; In-
formations- und Kommunikationstechnologie (lnformacion- and Communica-
tion Technology = 1Cl) - der GegenWind dieses Essays - ist ein ausgezeich-
netes Beispiel für eine solche zweckoffene Technologie. 4 Die Entfaltung von
Zwecken einet Technologie ist selbst nicht notwendig zweckrational.
Unser erster Grund, warum es irreführend ist. eine Technologie als ganze
unter dem Label Jnstrumentalität zu sehen, besteht also in der Tatsache, daß
die mit einer Technologie verbundenen Zwecke nicht einzigartig sind und
auch nicht feststehen. Ein zweiter Grund besteht darin, daß die Entwicklung
von Technologien zu einem Teil über uns kommt. Die Initiative und Entwick-
lung einer Technologie ist längst nicht immer als Wahl oder gar als wohlüber-
legte Wahl zu verstehen. So behandelt z. B. Jared Diamond in seinem sehr un-
terhaltsam geschriebenen Buch den Aufstieg des Landbaus. achdem er dar-
auf verwiesen hat, daß das Leben der frühen Bauern in vider Hinsicht unol/raJr.-
h"t'tr war als das Leben der Jäger und Sammler, schreibt er:
(... 1 Wh:n actuall)' hapJXned was not 20 discovery of food production, nor 2n inven-
tion, as we might first assume. There was often not even 20 conseious choice between
food produnion :and hunting.g:athering. I...) food production evolved as :a b)'-pro-
duct of decisions m:ade \/o.ithout awareness of their consequences. 5
) Instrumentalitiü hat manchmal einen negativen Beiklang. Das Instrumentelle sei das
Uneigentliche. Diese Bewertung scheint uns nicht berechtigt zu sein. Der wohlerwo·
gene Einsatz eines Mittels, unl ein Ziel zu erreichen, ist :ausgesprochen menschlkh.
Natürlich ist es f2lsch. wenn :alles um uns herum lediglich als Mittel angesehen wird,
um Ziele zu erreichen. Jedoch aus der Tatsache, daß es falsch iSt, allein Pudding zu
essen, folgt doch auch nicht, d:llß mit dem Pudding etw:llS nicht stimmt.
.. Man könnte vielleicht denken. daß das Ziel von leT in der ErmägLichung eines welt-
weiten etzwerks von Informations- und Kommunikationsversorgung besteht.
Selbst wenn dies zutrife, muß angemerkt werden. d:aß dieses so gesch:affene Netz-
werk selbst ein ~[jttel fUr vielfältige weitere Zwecke d:arstellen würde. Ferner scheint
es zweifelh:aft, ob z. B. Gruppenspiele via \"('eh sinnvoll als Information oder als
Kommunikation bezeichnet werden können.
5 Jared Di:amond, GMffJ, Uf1llJ UffJ Jtul A JlMrl hi/tory oJ tL'trybod.J /or tht IMt I J,OOO JturJ.
Vintage 1998, S. lOS f.
Bergstra/Visser, Hcilserwarrung in der InformlUik 209
in der Pharao Thamus gegen den GOtt TQ(h - nach dieser Erzählung der Er·
finder der Schrift - argumentiert, daß die Schrift zum achlassen des Ge·
dächtnisses führen werde.
Bisweilen treten Zukunftserwartungen in Verbindung mit Technologien
dergestalt auf, daß eine Technologie verspricht, ein unmittelbar einleuchtendes
Ziel volJständig zu realisieren. Der Erfolg der medizinischen Wissenschaft
ehva soll dazu fuhren, daß ansteckende Krankheiten vollständig ausgerottet
werden. Der Erfolg des L:lndbaus verspricht, dem Hunger in der Weh ein
Ende zu bereiten. Je "offener" eine Technologie jedoch ist, desto djffuser sind
solche Erwartungen. Im Fall von ICT wird die Zukunftserwartung durch dje
Hypothese widergegeben, eine qualitativ gute und frei zugängliche ICT sei
auch fur uns alle gut. Diese Zukunftserwartung geht davon aus, daß die Ent·
wicklung und Ausbreitung von ICT erfolgen wird. Allein in welcher Richtung
dies geschehen wird, ist nicht deutlich. Die Heilserwartungen in bezug auf ICT
beziehen sich eher auf eine Situation idealer Entwicklung, in der eine angemes·
sene Balance zwischen Freiheit und Kontrolle besteht und in der hinreichende
demokratische Einnußmöglichkeiten auf diesen Prozeß gegeben sind. Die
Utopie von leT kann wie folgt umschrieben werden:
Man hofft :wf eine Welt, in der jeder mitdenken k2nn über und mit:lrbeiten bnn :In
den ICT·Strukturen; eine Weh, in der im Grundutz rur jeden ein vergleichb:lrer
Zugang zu diesen Strukturen besteht. so wie das jetzt bereits Hir Luft und Wasser
angestrebt wird; eine \'(relt, in der wichtige lCT·Beschlüsse demokratisch und auf-
grund von wissenschaftlichen Einsichten zustande kommen. In so einer Weh hai ein
jeder das Recht. detaiUierte Einsicht in Struktur und Gegenstand von Computen)'.
sternen zu erhalten, von denen seine/ihre Existenz abhängig ist sowie das Recht,
daran - faUs gewünschl und auf Basis demokratischer Prozesse - Verinderungen
vorzunehmen. Das ist eine \'I':'eh. in der jeder Zugriff hat auf die ihn selbst betreffen-
de Information, die per Computer gesammelt, verarbeitet und \'erbreitet wird.
Man beachte, daß diese topie sich nicht auf die Frage bezieht, welcher Ge-
brauch von dieser Technologie gemacht wird. Es ist kompatibel mit der Uto·
pie, daß einige Anwendungen weniger wünschenswert sind.
Es gibt verschiedene Hindernisse für eine gelingende Entwicklung einer
Technologie. Wir nennen hier allein das Erbschaf[s·Problem (Iegacy problem).
Frühere Investitionen in Gegenstand A verhindern, wegen Kompatibili[ätspro-
blemcn, weüere Investitionen in Gegenstand B. obwohl B - wenn es in ent·
sprechendem Maßs[ab eingefUhrt wird - unter den heutigen ms[ändcn deut·
lieh besser ist als A. Ein weiteres Problem ist die Bildung von Monopolen. Es
kann z. B. ein ;"'Ionopol auf den Gebrauch einer Technologie geben. Ein gutes
Beispiel dafür ist die Entwicklung der Schrift. Sowohl der Gebrauch von Kon·
sonanten als auch der Gebrauch von Spatien (Zwischenräume zwischen den
einzelnen Wörtern) sind Techniken, die das Lesen effizienter machen. Sel[sam
ist nun, daß vor der EinfUhrung von Buchstaben in das phönizische Alphabet
aUe mediterranen Sprachen mit Spatien geschrieben wurden. Mit der Einfuh·
rung von Buchstaben verschwand das Spatium, und man ging über zur scriptu-
210 Aktuelle Debatten
ra continua. Es gibt ausführliche Belege dafür, daß die Verbindung von Buch4
staben mit Spatien ein viel effizienteres Lesen möglich macht als die Ve""cn-
dung von Buchstaben ohne Spatien. Das Fehlen eines Zwischenraums zwi-
schen den Wörtern macht lautes Lesen beinah unvermeidlich. Warum ging je.
doch eine werrvoUe Technik einfach so verloren? Paul Saenger nennt in seinem
Buch eine Reihe möglicher Gründe. 6 Einer davon hat mit der Tatsache zu tun,
daß der Gebrauch der Schrift einer Elite vorbehalten war.
FinalJ)'. the notion thai the greater portion of the population should k autonomous
and sdf-motivated readers ,,'as entirdy foreign [0 thc ditist literate mentaliry cf the
andent ",orld. For thc litcrau:, the rc:action 10 thc difficulties of lexic:l1 :lccess uising
from scriptur:l cominu:l did not sp:lrk tbe desire tO m:lke SCripl e:lsier [0 decipber,
but resulted instead in tbe deleg:ltion of mucb of tbe labour of reading and writing
to ski lied slaves, who acted as professional readers and scribes. It is in tbe context of
a society with an abundant supply of cheap, intellec[u:llly skilIed bOOr tbat andent
attitudes toward reading must be comprehended and the ready and pervasive accep-
tance of the suppression of ward separation throughout the Roman Empire undcr-
stood.
• P:lul S:lcnger, Space bt/nm .·vmls. Tbt orig;,r 0/ sik", rtoJi"/,, $t:lnford 1997, S. 9-14.
B~rgstra/Viss~r. H~ils~r.l.'arlung in d~r Informatik 211
hier eher der aktuelle Stand der Umsetzung des Fachgebiets verstanden als die
Wissenschaft selbst. Es ist allerdings im Falle der Informatik schwierig - wenn
nicht unmöglich -, die Entwicklung der Wissenschaft unabhängig vo~ der
technischen Entwicklung zu sehen.
Die fUnf Punkte werden in Gestah von Zielsetzungen formulien, die uns
moralisch vorzugswürdig erscheinen.
:lnein2nder anschließen. Technische 1 ormen sind offen, wenn jeder von ihnen
Kenntnis erlangen kann. Offene technische armen geben jedem Produzen~
ren die Möglichkeit, TeiJelememe herzustellen, die in ein Ganzes eingepaßt
werden können, das möglicherweise auch aus Teile1cmenren besteht, die von
anderen Produzenten hergestellt worden sind. Das Durchsetzen von techni+
sehen Normen wird als der aussichtsreichste Weg angesehen, MonopolbiJdun-
gen auf System niveau zu verhindern. Auf Komponentenniveau können n::l.{ÜC-
lieh stets Monopole bestehen oder entstehen, aber mit diesen kann man einfa-
cher umgehen.
Die moralische Vorzugswürdigkeit des Arhcirens mit offenen technischen
Normen gegenüber geschlossenen technischen Normen folgt aus dem Anti-
Monopol-Prinzip.7
Diese Überlegungen hinsichtlich offener technischer Tormen und die fol-
genden berlegungen über offene bzw. freie Quellen sind weitgehend von der
nterscheidung zwischen Software und Hardware abhängig. Diese Unterschei-
dung erscheint zur Zeit als eine Errungenschaft, die sich dauerhaft durchge-
setzt hat. Es ist allerdings möglich, daß Entwicklungen in der Hardware diese
Unterscheidung unterlaufen. Man beachte, daß eine Software-Komponente in
einem System eine auswechselbare Komponente ist. Vollständig integrierte
Hardware hat keine auswechselbaren Komponenten, genausowenig wie das
Gehirn eine präzise zu lokalisierende oder gar abtrennbare Komponeme "Nie-
derländische Sprachkompetenz" aufweist.
Neben dem öffentlichen Charakter von offenen Standards (demokratisches
Eigentum) ist auch eine offene Art der Entwicklung dieser Standards wichtig.
Innerhalb der Internetgemeinschaft ist bereits seit zwanzig Jahren ein systema-
tischer und überall 2..Is ehrlich und demokratisch angesehener EntwickJungs-
prozeß im Gange. Dieser Entwicklungsprozeß selbst ist seinerseits wieder ein
offener faktischer Standard.
l\·h.n möchte denken, daß offene technische Normen lediglich ein Instru-
ment darstellen, um Monopole zu durchbrechen. Aber der Besitz von solchen
Normen ist auch in Zeiten von Bedeutung, in denen Monopole erwünscht
sind, weil diese Normen die Bedingungen schaffen, unter denen ein Monopol
zu allen Zeiten wieder aufgebrochen werden kann, sofern dafür eine Notwen-
digkeit besteht. Aus diesen Gründen ist das Streben nach offenen technischen
ormen ein geeignetes, eigenständiges Element auf der Tagesordnung einer
politischen Informatik, unabhängig von den konkreten Effekten bei der Zer-
schlagung von Monopolen.
, Ein ~merkenswertes Beispiel findet man in einem Intef\'jew mit Klus undsman
in: Monique Kooijmans, .. 11 vragen over de computer \':I.n prof. dr. Klus Lands-
man". UvA·Unk, 35, S. 14-15, ovember 2002. Er macht don in :lußergwöhnlich
scharfen Formulierungen einen Lieferanten rur den Mangel an einheitlichen, offenen
Standards an der Universitäl von Amsterdam veranrwort.lich.
Bergstr2/Visser, HeiJscrwanung in der Informatik 213
Die Gegenüberstellung offene QueUen/ freie Quellen hat mit der techni-
schen Reproduzierbarkeit - einem Kernthema von Benjamin - von Software
zu tun und mit der Aufhebung von Begrenzungen solcher Reproduzierbarkeit.
Weil Software eigentlich auf einem höheren Abst.raktionsniveau lebt, entwor-
fen und durchdacht wird als die Hardware, auf der sie arbeitet, ist es unange-
messen, die Software mit spezifisch für die Hardware hergestellten Kompila-
tionen davon zu identifizieren. Eine Kompilation ist einfach zu reproduzieren,
aber der wirkliche Reproduktionsprozeß ist die erneute Kompilation in eine
andere Hardwarcarchitektur. Dafür ist Zugang zu (eine Kopie von) der Quelle
notwendig.
Interncts nicht damit gerechnet hat, daß Computer so billig werden könnten,
daß jeder davon einige besitzt. Die Lösung dafür lautet IPv6 (Internet Proto·
koll Version 6) mit 2 132 möglichen Adressen. Wenn wir einen Computer pro
Kubikmeter einräumen, dann stehen für einen Kubus mit einer Kante von ei-
ner Milliarde Kilometer Adressen zur Verftigung, das entspricht sechmal dem
Abstand zur Sonne. Ein Szenario, in dem IPv6-Adressen erschöpft sein könn-
ten, ist daher auch im Augenblick nicht vorhanden. Aus moralischer Perspekti-
ve gesehen ist IPv6 eine offene technische Norm von der I ETF (lnternet En·
gineering Task Force), die zum ersten auf eine adäquate demokratisch-merito·
kratische Weise durch eine Reihe sogenannter RFCs (das heißt Requests for
Comment) eingerichtet wurde, die zum zweiten technisch durchführbar ist und
die zum dritten den Mangel an IP-Adressen gemäß jeder Einschätzung auf vie·
le Jahre hinaus beheben kann.
IPv6 hat natürlich in technischem Sinne einen willkürlichen Charakter.
Wenn man z. B. eine repräsentative Demokratie einrichten will, dann steht
man auch vor Entscheidungen, etwa über den zahlenmäßigen Umfang der
Volksvertretung und die minimale Frequenz von Wahlen. Die Präferenz von
IPv6 rühn von der Norwendigkeit her, über die technische Seite der ReguJie·
rung von IP-Adressenraum einen breiten Konsens zu erzielen. Alternativen für
IPv6 sind allein dann vernünftig, wenn so ein Konsens im Hinblick auf diese
Alternativen genausogut erreichbar iS[o \Venn man daher in die Richrung eines
adäquaten Prozesses von Konzepten und Konsensbildung denkt, mit dem Ziel,
jedem genügend Adressenraum zu gar-antieren, dann entsteht in der Tat ein
starkes und nicht primär ökonomisches Argument rur I Pv6. Das gibt I Pv6 eine
kulturelle und politische Bedeutung.
Das Internet auf der Basis VOn IPv6 besitzt die Möglichkeit, sich zu der
größten und meist verbreiteten, durch Menschen geschaffenen Infrastruktur
zu entwickeln. Dies Infrastruktur wird zunehmend der Träger von allen Wahr·
nehmungen und Informationsprozessen und Informationsgehalten außerhalb
der biologischen Substanz. Mit IPv6 bietet sich vielleicht eine dritte Technik
an. Benjamin und Heidegger bilden beide einen Gegensatz zwischen erster und
zweiter Tcchnik. 8 Erste Technik ist Herrschaft über die Na/ur, zweite Technik ist
ZusllllllllellspitlllJi/ der No/ur. Nun müßle dann eine dritte Technik ZIiSaUlHltflJpiel
{mischefl MenJ(h lind l\rItflJch sein, ulobei fjelle Modolilii/en sich durchse/zen (lPv6).
5. achwort
\'('ir haben in unserem Beitrag das Bild einer Informatik mit moralischem Am-
litz entworfen. Diese Informatik richtet sich auf die Veränderung der \'(felt.
8 \l;'i1I~m van Reij~n. Dff Sfh.·a"Z"·alJ lind Paris. RnVlh,Ho"tirt AltlaphoriA: hti Htid'u.er "nd
8'''1a",i". München 1998.
216 Aktuelle: Debatten
Auf diese Weise stellt sie ein treffendes Gleichnis für dje Philosophie dar, ",i(
Kar! Marx sie sich vorstellte. Das Verstehen der Welt verschwindet in unserer
Perspektive allerdings nicht auS dem Blickfeld. Veränderung sollte sich - so-
weit möglich - in verständlichen Schritten vollziehen. Darüber hinaus ist der
utopische Endzustand, auf den sich unsere HeilsCN'3rtung bezieht, ein Zu-
stand. in dem wie in keinem anderen Verstehen möglich ist.
Jan Hein Hoogstad
In einem Zeüalter, in dem das Fernsehen eine immer größere Rolle zu spielen
begann, die Politik hingegen an den Rand des öffentlichen Interesses gedrängt
wurde, war Gil Scott-Heron unzeitgemäß. l\'Üt seinem Song .,The revolution
will not be televised" wollte er eine mkehr beider Tendenzen bewirken. Der
Song war zum einen eine Kritik am Medium selbst und rief zum anderen zur
Revolution auf. .. YON »Iill nol hat:e 10 JIIorry abONI a dove inYONr bedroom, a tigtr inYONr
lank, or Iht gianl inYONr loiltl bOllll. Tht rtI'OINlion will nol go btlltr ",.ilh Cokt. .. Scon-
Heran zitierte Klischees aus dem Fernsehen und deckte so die h}'pnotisierende
Wirkung auf, die dieses 1edium auf Menschen hat. Zugleich erlöste er damit
die H}'pnotisienen von ihrem Bann. Obwohl der Song unleugbar Wirkung er-
zielte, genügte er doch nie seinen ursprünglichen Ansprüchen. "The revolution
will not be televised" versagte darin, sein beabsichtigtes Publikum zu errei-
chen; die Menschen hörten sich nicht Scou-Herons Platten an, sie sahen fern.
Politische Philosophen heute sollten sich in acht nehmen, nicht in die glei-
che Sackgasse zu geraten wie Gil Scott·Heron. Sie müssen anerkennen, daß
Politik nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihr Medium geändert hat. Die zeit-
genössische politische Landschaft setzt sich aus Logos und Slogans zusammen
und nicht aus Manifesten und tiefschürfenden Interviews. Vilem Flussers Es-
sa}' .,The political in the age of technical images" zeigt, daß die rumänische Re·
volurion \'on 1989 ein politisches Ereignis war, das nicht nur einfach im Fern-
sehen gezeigt wurde, sondern ausschließlich im Fernsehen stattfand. In dieser
Revolution waren Journalisten und Reporter keine externen Beobachter, son-
dern sie waren die eigentlichen Revolutionäre. Indem sie auf die strategischen
Möglichkeiten des telegenen l\'lediums setzten, bestimmten sie aktiv den Lauf
der Ereignisse. Im Gegensatz zu den meisten politischen Philosophen haben
sie verstanden, daß Politik sich nicht mehr in erster Linie in Texten, sondern in
Tönen und Bildern manifestiert.
In Vi/a ArJivo behauptet Hannah Arendt, daß die Distanz zwischen Philoso-
phie und Politik nicht erst für dieses Zeitalter kennzeichnend ist, sondern das
Ergebnis eines historischen Prozesses ist. Laut Hannah Arendt war Sokrates
der erste Philosoph, der den sogenannten "bias theoretikos" und den "bias
polirikos" nicht mehr erfolgreich \'ereinen konnte. Seinen Blick von den be-
ständig wechselnden politischen Phänomenen ins Reich der ewigen Ideen wen·
dend, geriet er zwar in Konflikt mit der Polis. Doch weder sein Gerichtsver-
fahren noch seine anschließende Verurteilung konnten die Bewegung, die er
initiiert hatte, aufhalten. Nach Sakrales' Tod wurde die Philosophie von den
218 Aktuelle Debatten
Straßen und Marktplätzen in die Schulen und Akademien geholt. Der ..bios
theOrelikos" und der .,bios politikos" drifteten immer weiter auseinander. Dies
lag vor allem claran. daß Sokrales' achfolger es gar nicht versuchten, die Dif-
ferenz zwischen heiden Berekhen zu verringern, sondern diese vielmehr insti-
tutionalisierten. Durch dje Abgrenzung von der politischen Sphäre wurde der
Philosophie eine Aura von Objektivität verliehen, die sie versrändlicherweise
nicht verlieren wollte. Philosophen können leicht bestimmte Praktiken kritisie-
ren oder über sie urteilen, ohne selbst Schaden davonzutragen, weil sie sich
vornehm aus ihnen heraushalten. Jedoch hat die Philosophie, weil sie sich im-
mer stärker vom .,bios politikos" zurückzog, jede Macht, überhaupt einzugrei-
fen, verloren. Sie verwandelte sich von einem aktiven Teilnehmer in einen ex-
ternen Beobachter, ein Resultat, das durch die historisch verwurzelte Treue zur
Gutenberg-GaJaxie noch verstärkt wurde. Philosophische, externe Kritik hat
ihren Einnuß verloren und das nicht allein aufgrund ihres lnha.ltes, sondern
auch weil sie ihr gesuchtes Publikum verfehlt. Selten reflektieren Philosophen
den eigenen Gebrauch ihrer Medien, und so verpassen sie den Anschluß an die
modernen Kommunikationsformen. Politische Philosophie sollte keinen siche-
ren Abstand wahren, sondern muß seine aktive Rolle im "bios politikos" wie-
derfinden. Die immanenten i\'löglichkeiten der neuen Medien zu erforschen,
statt sie einfach abzulehnen, wäre ein erster Schritt, dies zustande zu bringen .
..The revolution will not be televiscd", sondern sie hat in den Ghettos von
New York stattgefunden. Gil Scon-Heron sprach nicht von irgendeiner Revo-
lution in seinem Song; er bezog sich explizit auf den Kampf des schwarzen
Mannes um Anerkennung. Scon-Heron unterstützte die Politik der Black Pan-
thers aktiv und verschrieb sich ihrer Idee, Kunst direkt auf die Straße zu tra-
gen. Sein Song kritisierte die Haltung einiger Hauptakteure der Black-Power-
Bewegung, die diese Strategie aufgeben und sich statt dessen lieber darauf kon-
zemrieren wollten, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen. Er warnte da-
vor, daß die weiße, verantwortliche Führung die schwarzen Bürger nicht für
wichtig genug erachten würde, um über sie zu berichten. "Tbe revolution lI,ill not
be right back after 0 IIIeuoge about ° ut/)ite tomado, ut/lite lightning, or ut/)ite people. "
Nicht nur war das Fernsehen das dominante Medium seiner Zeit, es war auch
jenes Medium, das die schwarzen Bürger 'Im radikalsten ausschloß und deshalb
das erklärte Ziel von Scou-Herons Kritik war. Solange die schwarzen Bürger
fernsähen, würde ihnen die Revolution entgehen.
In ihrem Buch On Rtt:ollition zeigt Hannah Arendt, daß Medienaufmerksam-
keit auch immer schon einen entscheidenden Einfluß auf das Revolutionsver-
ständnis selbst gehabt hat. Das erste Kapitel, "The Meaning of Revolution",
beinhaltet eine Rekonstruktion der Geschichte des modernen Revolutionsbe-
griffes. Nach Ansicht Hannah Arendts wurde die heutige Bedeurung dieses Be-
griffes bedauerlicherweise von der erfolglosen Französischen Revolution ge-
formt und nicht von ihrem erfolgreichen amerikanischen Gegenüber. Im Ge-
gensatz zur einigermaßen unspekrakulären amerikanischen Revolution zog die
Hoogslad. The revolution should be televised 219
, Manin Heidegger, Interview in Der Spitgel (1976), Nr. 23, S. 214. Obwohl d2S Inter-
view 2m 23. September t 966 sultf2nd, bestand Heidegger darauf, daß es erst POSt-
hum verÖffent..licht würde.
220 Aktuelle Debatten
"Thc: revolution will not be televised". sondern sie ist auf eine Schallplatte ge-
preßt worden. Gil Scott·Heron legte sein Gedicht über einen Jazzrhythmus
und schuf damit die Formel, auf die sich Hip-hop gründen würde. Diese Ent-
deckung brachte ihm den Spitznamen Godfather of Hip-hop ein. Seon-Heran
teilte sich diesen Titel mit DJ Afrika Bambaataa, der einer der ersten war, die
die musikalischen fo,,'löglichkeiten von Plattenspielern Mine der siebziger Jahre
ausloteten. Diese heiden Pioniere stehen zusammen rur die zwei fundamem2-
len Elemente des Rap: 171-'0 lurn/ab/tl and a milTOphont. 2 Der Anfang des Hip-hop
verbindet sich mit der EinfUhrung der Mischpulte in den Clubs. Zunächst wur-
de dieses Gerät benutzt, um fließende Übergänge beim Plattenwechseln zu er-
reichen. Hip-hop DJs jedoch taten sich darin hervor, daß sie ihre Plattenspieler
in vollwertige Instrumente umwandelten. Anstatt die tatsächlichen Songs zu
spielen, konzentrierten sie sich auf die Beats verschiedener Schallplatten. Sie
bevof7.ugten besonders die Stücke zwischen Refrain und Strophe, in denen
Melodie und Gesang aufhören und allein Baß und Perkussion weiterspielen.
Mit zwei Plattenspielern und einem Mischpult konnte der DJ diese sogenann-
ten break beats verlängern und kombinieren; eine Tätigkeit, die später mit der
Erfindung des Sampiers vereinfacht wurde. Der Hip-hop DJ initialisiene eine
Revolution in der Musik, indem er die Tradition wiederverwenete, anstatl sie
zu entsorgen.
Weder einen radikalen Bruch mit der Tradition heraufbeschwörend noch sie
einfach wiederherstellend, verbindet Hip-hop heide genannten Revolutions-
begriffe. Schon seine Abhängigkeit von schon bestehenden Tonaufnahmen
schafft eine unverbrüchliche Verbindung zur Verg.mgenheit. Die BetOnung
der Idee des Respekts im Hip-hop übernimmt, ist also keinesfalls akkzidental,
sondern wird durch das Medium selbst garantien. J Hip-hop könnte also nie
einen radikalen Bruch mit der Geschichte erzwingen, denn ohne sie könnte er
gar nicht existieren. Und dennoch handelt es sich hier auch nicht um eine
schlichte Wiederholung der Vergangenheit. Die bestehenden Beats werden zu
ganz neuen amalgamiert. Darüber hinaus werden rhythmisierte Strophen über
die Beats geschichtet, und somit wird eine völlig andere Musik geschaffen.
Beats und Raps kombinierend, verwandeln DJs und MCs alte Arrangements in
vielschichtige neue. Sie enrwickehen einen alternativen Revolutionsbegriff,
nicht indem sie theoretische Texte ver faßten, sondern indem sie die immanen-
ten Möglichkeiten eines alten und eines neuen Mediums verwendeten, um dem
Begriff Form zu geben.
Hip-hop schuf eine Revolution, die sich nicht gewahsam zur Tradition ver-
hielt, sondern sie mit Respekt behandelte. Neuerung und Tradition werden in
, m genau zu sein, setzt sich Hip-hop 21s ~n2nOle Trinit21 ZU$2mmen; R2p Musik
(auf den sich informell auch als Hip-hop be:zo~n wird), Graffiti und Breakdance.
)
Auch wenn der Respekl \'or der Tradition zuerst vom Hip-hop institutionalisiert
worden W2r, so char2kterisiert er alle Formen schwaner Musik vom Jazz bis zum
R&B.
Hoogslad, The revolution should be lelevised 221
..The revolution will not be televised", sondern sie wurde in den Kinos alJer
Welt gezeigt. Die Revolution des schwarzen Amerikas ist das zentrale Thema
von Spike Lees Do the fight thillg, ein Spielfilm über einen RassenkrawaU in
Brooklyn am Ende eines heißen Sommertages. Genau wie Gil Scou-Heron
hebt Lee den Konflikt zwischen der Straßenverbundenheit und dem Kampf
um Medienaufmerksamkeit hervor. Er übersetzt die komplexe Problematik
und ihre Geschichte in eine konkrete Situation. Im Film werden die J\'ledien
von der sogenannten u'illl tif filme in Sal's Pizzeria. einem kleinen italienischen
Familienbetrieb, der in einer von Schwarzen dominierten achbarschaft Liegt,
repräsentiert. Aufruhr entsteht, als Sal sich weigert, Photos von schwarzen Be-
rühmtheiten - oder, wie er es selber darstdh, von nicht-amerikanisch-italieni-
sehen Leuten - an seiner Wand aufzuhängen. Im Laufe des Tages heizt sich die
Spannung zwischen den schwarzen und den italienischen ach ba rn so weit
auf, daß die Schwarzen die Pizzeria schließlich niederbrennen. Gegen Ende
des Filmes hängt ein geistig zurückgebliebener Mann, der den Spitznamen
Smiley trägt, ein Photo von Martin Luther King und Ma1com X an die bren-
nende Wand der Stars. Das Ziel ist erreicht worden, jedoch nur gegen einen
unglaublich hohen Preis: die vollständige Zerstörung des Systems, dessen An-
erkennung man sich in erSter Unie hatte erkämpfen wollen.
Hip.hop spielt eine zentrale Rolle in Do IM right thing. .. Fight the power"
\'on Public Enem)' ist der Leitsong des Films. Dieser Aufruf zur Revolution ist
unablässig aus Radio Raheems Gheno Blastcr zu hören und verärgert auf diese
\X'eise die älteren und nicht-schwarzcn Einwohner der achbarschaft. Radio
Raheem trägt zwei riesige Ringe: der eine an seincr linken Hand besagt Haß,
der an seiner rechten Hand Liebc. Licbe steht für die friedliche Strategie, mit
der ;\'lartin Luther King die Rassenungerechtigkeit bekämpfte; Haß symboli-
222 Aktuelle Debatten
siert den gewaltsamen Weg von Ma1com X und den Black Panthers. Ohne über
die heiden Möglichkeiren zu uncilen. zeigt Spike Lee, daß es zwei Arten der
Revolution gibt: die gewaltsame und die nicht gewaltsame. Seiner Meinung
nach sind heide Srr3tcgien unlösbar miteinander verknüpft, die linke Hand
kann nicht ohne die rechte existieren. Der Tag ist lang, und die Bereitschaft,
eine friedliche Lösung zu finden, groß, aber nicht unendlich. Wenn d.ie Ziele
am Ende des Tages nicht erreicht worden sind, wird Gewalt zur legitimen,
wenn auch unbefriedigenden Option. Do Iht righllhing beschreibt das Aufein-
anderpralJen zweier grundlegender Werte des Hip-hop: Respekt vor der Tradi-
tion und das Recht, diesen Respekt zu zeigen. Der erste \'('ert stellt den revolu-
tionären Aspekt des Hip-hop dar und ist keineswegs notwendig mit Gewalt
verbunden. Ohne die Möglichkeit jedoch, die Botschaft unter die r.,·lenschen zu
bringen, ist jede Revolution sinnlos, und an diesem Punkt schließlich kommt
Gewalt ins Spiel. Gewalt ist kein notwendiger Teil von Revolutionen; sie ist ein
Versuch, Medienaufmerksamkeit zu erhalten. Spike Lee schlägt genau die Um-
kehrung von Gil Scott-Herons Erklärung vor. Thc revolution should bc telc-
vised, denn ohne Medien kann sie ihr Zielpublikum nicht erreichen. Wie die
rumänische Revolution bewies, sind nicht länger die Straßen und M,arkrplätze
die einflußreichsten Plätze, an denen geschichtsrelevame Information aufbe-
wahrt und übertragen wird - das Fernsehen ist es. Jeder, der seine Revolution
auch anerkannt wissen will, muß nach Medienaufmerksamkeit streben.
"The revolution will not be tclevised", und sie war es auch nicht, bis sie ge-
walttätig wurde. Wie sich herausstellte, hatte Seott-Heron mit seinem Song das
Schicksal des musikalischen Genres und dessen kulturelle Bewegung be-
schwört. The revolution was not televised; Tatsache ist, daß der Hip-hop kaum
erwähnenswerte Medienaufmerksamkeit bis Ende der 1980er erhielt, obwohl
er den Lebensstil in den Großstädten Amerikas während dieser Dekade be-
stimmte. Erst mit dem Gangster Rap geriet Hip-hop in den vollen Blick des
Fernsehers. Um ihrer Ausgrenzung ein Ende zu setzen, hatten sich die Hip-
hop Künstler die kJassische Strategie des Trojanischen Pferdes zu eigen ge-
macht; unter dem Deckmantel einer neuen Revolution schoben sie den Medien
eine Neuauflage der alten unter. Sie nutzten die Entstehung des Musikvideos
und verwandelten die bisher mangelnde Anwesenheit der Schwarzen im Fern-
sehen in deren Omnipräsenz." Die selbsterklärten Gangster umgaben sich mit
einem grotesken Maß an Gewalt. Die Medien aber waren nicht in der Lage,
diese Übertreibungen, wie man sie sonst aus dem Zeichemrick kennt, zu er-
kennen, und behandelten die Gangster Rapper wie eine ernst zu nehmende
• Zu Beginn war das Sendenetz MTV e.ine Festung 'Il'eißer Rockmusik, die es :ablehnte,
Hip-hop zu spie.len. ~it kleinere, un:lbhiingige Kanile wie BET und BOX Zusch:au·
er von MT\' :lbwuben, indem sie Hip-hop Videos sendeten, h:lt r.·(TV seine Politik
geändert_
Hoogst:ad, The revolution should be televised 223
Gefahr für die Gesellschaft, die daher ihre Aufmerksamkeit verdiente. D:as
Tragische war. daß die Gangster Rapper auch bald selbst ihre Rolle ernst zu
nehmen begannen. Der zunehmenden Gewalt fielen schließlich sogar mehrere
prominente Hip-hop Stars zum Opfer. s So viel Erregung um den Gangster
Rap steigerte jedoch dessen kommerzielle Attrakti"ität. Seit Anfang der Neun-
ziger erschienen Hip.hop Künstler oft in der Werbung. Sogar Scou-Herons
kritische Feststellung wurde in einen Werbeslogan umgewandelt. "Tbe rtf,.'Oluh"on
is basketball BasJwball iJ Ihe trulh skandierte der Rapper KRS-One 1995. um
it
•
5 Tupac Shakur, Biggie SmalJs and Big L, neben weiteren, aber Gerüchte, daß einige
dieser Morde inszeniert worden waren und daß diese Künstler noch am Leben seien,
halten sich.
6 Um ihn zu verteidigen, sei gesagt daß KRS-One eigentlich bekannt ist rur seinen po-
litisch und sozial engagienen Rap" Duiiber hinaus waren Gil Sc.ott-Heron selbst,
Rapper Chuck D und der Produzent Hank Schocklee - heide Mitglieder von Public
Enemy, die wahrscheinlich politisch revolutionärste Band des Hip-hop - an der Pro-
duktion dieses Werbespots beteiligt.
224 Aktuelle Debauen
(an Quun and on Iht nrxl ont, she's a jolet. .. Diese Heuchelei wurde weiterhin von
Sarah Jones und DJ Vadim in ihrem Song ..Vour revolution" herausgestellt,
einer leuinterpretation von Scott-Herons Klassiker von 1970. ,,)'our revolution
will nol happen be/wttfl thrIt thighs" singt 5amh Jones in ihrem Versuch, der weib-
lichen Perspektive auf den Gangster Rap eine Stimme zu geben. Es liegt Ironie
darin, daß gerade dieser Song in den Vereinigten Staaten wegen des explizit
sexuellen Songtextes verboten wurde. während die meisten der gewaltsamen
Gangster Songs nicht zensiert wurden. Als Reaktion auf dieses Verbot nutzte
Sarah Jones die Möglichkeiten eines aufkommenden ~'fediums, um mehr Auf·
merksamkeit auf ihre Botschaft zu lenken. Sie leitete eine Medienoffensive im
Internet in die Wege, um sich gegen die Zensur zu wehren. "Your Revolution"
konnte gratis von einer Webseite7 heruntergeladen werden, und die große Auf.
regung um die Zensur sorgte für die nötige Werbung für den Song. Ober
..Your Revolution" wurde nun wahrscheinlich mehr berichtet. als wenn er
nicht auf den Index gesetzt worden wäre. Im Gegensatz zum ,Jritnd,litin,g Itgtnd
ond proto-ropptr" Gil Scon-Heron mied Sarah Jones die 'Iedien nicht. sondern
machte sie sich fur ihre Sache zunutze. Ihr Erfolg beweist, daß es für jede Re-
volution essentiell ist, Medienaufmerksamkeit zu erhalten.
Philosophie, genauso wie Hip-hop, nahm ihren Anfang auf der Straße. Beide
Bewegungen wurzeln ursprünglich in einem Dialog mit dem alltäglichen Leben
und der damit verbundenen Tradition. Die Philosophie jedoch tauschte bald
ihre aktive RaUe im ..bias politikos·' gegen eine isolierte Existenz im "bios
theoretikos" ein. Hip-hop aber kann sich unmöglich von seinen Wurzeln tren·
nen, denn der Respekt ihnen gegenüber ist notwendig in ihrem Medium defi·
niert. .,Block people utill be in tbe streets lookingfor 0 brighttr d'!J." Gil Scou-Heron
haue recht damit, die Bedeutung des ..bios politikos" zu betonen, aber er irrte
sich darin, anzunehmen, daß dieser sich ausschließlich in den Straßen zutrüge.
Heute hat das Fernsehen als dominierendes Informationsmedium den Markt-
platz ersetzt. Scon·Herons Rat, auf die Aufmerksamkeit der Medien zu ver·
zichten, würde bedeuten, daß Revolutionen sich selbst zu einer Existenz im
Untergrund verurteilten. Indem sich die Philosophie aus dem "bias politikos"
zurückzog und sich auf das Medium Text beschränkte, nahm sie Scott-Herons
Rat vorweg und schloß sich selbst dadurch von jedem praktischen Einfluß aus.
Philosophen sollten wieder ein aktives politisches Leben führen - und dabei
nicht nur die Themen der Politik diskutieren, sondern auch ihre Medien nut-
zen. The re\'olution should be televised, denn sonst wird sie unbemerkt blei·
ben.
7 www.yourre\.olutionisbanned.com
orbert Bolz
Je größer eine Gruppe ist, desto rationaler ist es für den einzelnen, das Verhal-
ten der anderen als "natürliche Umwelt" zu behandeln - etwa statistisch. Man
geht vernünftigerweise davon aus, daß das eigene Verhalten keinen Einfluß auf
das Verhalten anderer hat. l\'lan nimmt eine Zeitung aus dem Kasten oder eine
Kerze in der Kirche ohne zu zahlen; man schleicht sich in eine Veranstaltung
ein; man springt über die Absperrung der Haupnribüne - und es entsteht kein
sichtbarer Schaden. Soziologen diskutieren dieses Problem unter dem Titel
Free·Rider. Unser Steuersystem etwa ist so komplex, daß es chaotisch wirkt.
Deshalb gibt es keinen Anreiz fur Kooperation. Und deshalb ist die natürliche
Reaktion unsoLidarisches Verhalten, aJso Steuerhinterziehung - oder doch zu-
mindest die Anwendung der 1000 legalen Tricks.
Man kann es auch so sagen: Je größer eine Gruppe ist, desto geringer sind
die Realisationschancen für gemeinsame Interessen, weil der Beitrag des ein-
zelnen kaum wahrnehmbar ist. Und öffentliche Ressourcen werden rasch von
allen ausgebeutet, weil jeder der Mäßigung des anderen mißuaut. Das ist die
Tragödie der öffendichen Güter, die gel1lde die moderne Gesellschaft kenn-
zeichnet. Dem entspricht präzise das soziologische Grundphänomen der "im-
munüy in numbers.. l : Ich parke in der zweiten Reihe oder gehe bei Rot über
die Ampel, wenn genügend andere es tun. Der Schaden, den das egoistische
Verhalten des einzelnen anrichtet, ist in den meisten Fallen tatsächlich kaum
meßbar; das gih ja selbst fur das Reinigen eines Schiffstanks auf hoher See.
"Aber wenn jeder so handeln würde 1... 1" Deshalb ruft alle Welt nach Ethik.
Von Groucho Marx stammt die Formel: Tbe kt.} 1o sliuess in blisiness is honesry
ond fair dealing. lfYOIi (an fake I/JoI, YOIi 'tJt goI il made. Isr Moral in der Wirtschaft
tatsächlich bloßer Schein? Ich werde im folgenden versuchen, eine Business-
Ethik zu konturieren, die sich vom Egoismus des bürgerlichen Besitzindivi-
dualismus genausoweit entfernt häh \vie von den überspannten Forderungen
einer universalistischen foral. Mir geht es dabei um eine quasi mathematische
Begründung des moralischen Minimums und damit die Beantwortung der Fra~
ge ,,\\?ie überlebt die Freundlichkeit in der \'('eh?"
Die brauchbarsten Überlegungen zur ModelIierung unseres Problems bietet
nach wie \'or die Spiehheorie. Ihre Simplifikationsgewinne sind zunachst be-
trächtlich, denn wenn man eine Situation als Spiel betrachtet, weiß man, was zu
tun ist. Angemessene Komplexität wird dann dadurch aufgebaut, daß jeder
sich zugleich auch als eine Figur im Spiel des anderen konstruiert. "Players are
embedded in the game." 2
un gibt es zwei Möglichkciten, zu spielen (was man im Englischen besser
verdeutlichen kann als im Deutschen). Entweder man spieh, um zu spielen,
oder man spielt, um Probleme zu lösen: playing games versus so/ring games/pro-
blems. Spielen um des Spie1ens willen ist ein lokales Handeln; dagegen verfolgt
das problemlösende Spielen globale Ziele. Wer Lust am Spiel hat, muß also
anderes im Auge behalten als die Frage nach dem Gewinnen. Man kann es
auch so sagen: Wer weitcrspielen will, muß an der Gleichheit des Gegners in-
teressiert sein. Bayern 1ünchen kann selbst nicht wünschen, jedes Jahr Deut-
scher Meister zu werden. Das Playing Games hat also ein primäres Interesse an
organisierter Gleichheit. Das Solving Games wird dagegen beherrscht von der
Frage, wer gewinnt. In der Kooperation der gegeneinander Spielenden bewä.hrt
sich eine lokale Geschicklichkeit; dagegen zielt die spiel theoretische Rationali·
tät immer schon aufs Endspiel.
Skills, Geschicklichkeiten als lokale Rationalitäten werden eigentlich unab-
hängig von Ergebnissen und Lösungen bewertet. Und nur mittelmäßige Spieler
folgen einer Strategie im spieltheorctischen Sinn. Gute Spieler lasscn sich nicht
von ihren eigenen Strategien versklaven. Deshalb sehen sie auch nicht weit
voraus, sondern begrenzen ihre Visionen. Diesen Unterschied gilt es im Auge
zu behalten, wenn wir uns im folgenden auf die Spiele des Problemlösens kon-
zentrlcren.
Es gibt ein von Merril Flood vor gut fünfzig Jahren erfundenes Spiel, das
uns fragt, ob sich zwischen der Herrenmoral der Z)'niker und der Sklaven-
moral der Gutmenschen eine Kooperationsmoral der Egoisten entwickeln
kann, ohne daß dabei auf irgendwdche "universaLiscischen" Prinzipien zurück-
gegriffen werden müßte. Zwei Gangster werden wegen einer gemeinsam ver-
übten Straftat in getrennten ZelJen festgehalten und vom Gefangnisdirekmr
mit dem Vorschlag konfrontiert, den jeweils anderen gegen Strafminderung zu
verraten. \'(fenn beide dichthalten, können sie nur wegen eines geringeren Ver-
gehens bestraft werden und bekommen jeweils drei Jahre Haft. Wenn einer
den anderen verrät, bekommt der Geständige ein Jahr und der andere zehn
Jahre. Wenn sich beide gegenseitig verraten, bekommen sie sechs Jahre Haft.
Nach einigem Überlegen wird sich jeder der heiden entscheiden, den anderen
zu verraten, denn das bringt ihm in jedem Fall das bestmögliche Ergebnis: Hält
Alter dicht, so bekommt Ego sdbst nur ein Jahr Gefangnis. Gesteht Alter
auch, so bleibt Ego immerhin die Höchststrafe erspart. J
Aus der Perspekti\'e des einzelnen ist es also rational, das Gefangenendilem-
ma aggrcssi\' zu spielen. Denn wie auch immer sich der andere verhält: Verrat
bringt das beste Ergebnis für den einzelnen. Doch das theoretisch Zwingende
ist nicht unbedingt auch klug. Die indi\,idueUe Rationalität führt ja für beide
Spieler zu einem schlechten Ergebnis. Zugespitzt lautet das Dilemma: Jeder ist
besser dran, wenn er egoistisch ist, aber beide sind besser dran, wenn sie ko-
operativ sind.
Wer meint, dieses Szenario sci einem Mathematikerhirn entsprungen und
hätte mit dem wirklichen Leben nichts zu tun, muß nur einmal wieder in die
Oper gehen - und zwar in Puccinis Tosca. Die Story ist rasch erzählt. Der kor-
rupte Polizeichef Scarpia verurteilt Toscas Liebhaber Cavaradossi zum Tode.
Nun bietet Scarpia Tosca einen Deal an: Sex gegen Leben - wenn sich Tosca
ihm hingibt, dann weist er das Erschießungskommando an, nur Platzpatronen
zu laden. Logisch eröffnen sich vier Möglichkeiten: 1. Scarpia bekommt Tosca
und Cavaradossi bleibt am Leben. 2. Scarpia bekommt Tosca, aber Ca\'aradossi
wird doch erschossen. 3. Cavaradossi wird verschont, aber Tosca gewährt kei-
nen Sex. 4. Beide betrügen sich gegenseitig. Es kommt nicht zum Sex, und Ca-
\'aradossi wird erschossen. Diese letzte Möglichkeit ist bekanntlich die der Sto-
ry von Puccini.
Gegen die Invisible Hond Adam Smiths, die bewirkt, daß der Egoismus eines
jeden zum allgemeinen Guren führr, demonstriert das Prisoner's Dilemlllo, wie
die Rationalität des Egoismus zum allgemeinen Schlechten führt. Im Gefange-
nendilemma geht es also immer darum, daß die rationale Wahl des einzelnen
nicht zur optimalen Entscheidung führt. Es brennt im Kino, und alle rennen
zum Ausgang. Die dadurch entstehende Panik ist unmittelbare Folge: individu-
ell rationalen HandeIns. Natürlich würden olle Kinobesucher besser fahren,
wenn sie alle dem Kooperationsgebot "Verhalten Sie sich ruhig!" folgen wür-
den. Aber jeder einzelne handelt völlig rational, wenn er um sein Leben rennt.
Das Gefangenendilemma zeigt diesen Widerspruch zwischen individueller
und kollektiver Rationalität bzw. zwischen spiellheoretischer Rationalität und
erfolgreichem Verhalten in Reinform. 4 Wir haben es hier mit Problemen zu
(un, für die es keine technische Lösung gibt. Sie entstehen immer dann, wenn
der andere auf meine Wahl anrwortet; und was auch immer nun geschieht - es
Es w:aren n:uiirlich :luch :lndere Z:lhlenwerte möglich - Bedingung dazu ist nur, daß
T> R > P > S ; oder :Inders :lusgedriickt. d:lß D/C > C/C > 0/0 > eiD: \\'o~i
gehen muß, daß (T + S): 2 < R.
D:lr:lus ergibt sich folgende Payoff.M:urix des Gcf:lngenendilemm:ls:
C (kooper:ltiv) D (aggressiv)
C (kooperativ) 3,3 0,5
D (:lggrcssiv) 5,0 1,1
• Und das wird Philosophen zur Verzweiflung treiben: In komplexen SilUationen
bringt "bounded rationality" (Herbert Simon) offenbar bessere Ergebnisse als un-
boundcd rationalir}'.
228 Aktuelle Debatten
wäre auch anders möglich. Auf diese einzige Notwendigkeit der modernen
Welt. nämlich Kontingenz, kann man sich nur schlecht einstellen.
m mit einer Rationalität jenseits des menschlichen Verstehens operieren
zu können, braucht man "Denkprothesen«.5 Im Falle unseres Gefangenendi-
lemmas könnte man etwa an eine An Mehr.\'crcigkeitstra..ining in Computcrsi-
muJationen denken. Was verändert sich. wenn die Spieler häufiger aufeinan-
dertreffen? Werden sie sich aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit indivi-
dueller Rationalität anders entscheiden und kooperativ verhalten? Genau das
hat Robert Axelrod in seinen berühmt gewordenen Computerturnieren unter-
sucht. Was geschieht, wenn man das Dilemma iteriert und verschiedene Strate·
gien gegeneinander antreten läßt? Mit derartigen Fragestellungen ersetzt eine
neue, generative Sozialwissenschaft die Erklärung sozialer Phänomene durch
ihre Computersimulation (bouom up). Stau "Can you explain it?" fragt man
jetzt "Can you grow it?"
Das wichtigste Ergebnis dieser Computerturniere lautet: Der Erfolg eines
Programms hängt von seiner Umwelt ab. Es gibt also keine umweltunabhängi-
gen Spielregeln für Sieger. \X'as jeweils die beste Strategie ist, hängt vom Ver-
halten des Gegenspielers ab. Mit anderen \"(forlen: Wenn man die Zukunft in
Betracht ziehen muß, gibt es keine "beste" Strategie. Es kann deshalb nicht
darum gehen, ein Programm zu optimieren, sondern nur darum, es robust zu
gestalten.
Was Robustheit heißt, läßt sich nun sehr genau durch fUnf Eigenschaften
definieren, die denn auch den Kernbestand der gesuchten Kooperationsmoral
ausmachen. Das robuste Programm ist
- IItll, das heißt kooperationsbereit; die einfachste Definition von "neu" lau-
tet, nie mit einer Aggression zu beginnen;
- pro,,'o::jtrbar, es läßt sich also nicht ausbeuten; es ist bereit, wenn nötig zu-
rückzuschlagen;
- 'JtrsMm/üh, und das heißt im Kern: vergeBlich - es genügt die Erinnerung an
den letzten Spielzugi das robuste Programm ist also auch nach einer Aggres-
sion noch kooperationsbereit6;
- lIidJl tijtrsüchtig - das Geheimnis des Erfolgs liegt d:1rin, den anderen nicht
um seinen Erfolg zu beneiden;
transparent, während man in Nullsummenspielen die Strategie verheimlichen
muß, muß man sie in ichtnuUsummenspielen veröffentlkhen.'
doch alle. Doch wie ges:J.gt: Es gibt keine umweltun:J.bhängig bem: Str:J.tegie. Auch
TFT hat seine Schwächen. So ist das Programm der robusten Nettigkeit schwach im
Umgang mit nicht-responsiven Strategien wie ALL 0 (immer :J.ggressiv) - aber auch
ALL C (immer nell). Denn TFT muß im Umga.ng mit dem Z}'nikerprogr:J.mm einmal
den Sucker's Pa}'off einstreichen und kann sich auf der anderen Seite nicht von an-
deren neHen Strategien unterscheiden. VgJ. hierzu vor allem Robert Axelrod, Tht
Et'Dbtlion Df CD-Dptrnlion, London 1990.
• Die ßinarisierung des Sozialen im Gefllongenendilemma ist natürlich nur eine mögli-
che i\'lodellierung unseres alltäglichen Erlebens. Dieses Angebot ist :J.ber immerhin
lIonspruchsvoller :J.ls das der Politik, die uns Ein""rlit,luiJ einbläuen möchte. TINA
lautet das Liebljngsakron}'m der grolkn Politiker: there is no alternative - nämlich
zu ihrer Politik. Auch "Commitment", dieser ReLigionsersatz der neueren Manage-
mentliteratur. zerstört die Plausibilität von Alternati\'en. Dem ist allerdings nicht mit
Phantomen ""'ie •.Objektivität" oder "Um'oreingenommenheit" beizukommen; das
macht eine schöne. paradoxe Formel \'on Maf)' Douglas und Aaron Wild:J.\·sk)", RisA:
lind Clllllm, tondon 1983, S. 212. deutlich: Wer Varierät und Alternativität kulti"ie~
ren, :J.lso Optionen offen halten möchte. braucht .•a systematic commitment [0 non-
commitmem". Mit dem Entweder/Oder von cooperate und defect erreichl die Mo-
dellierung des Sozialen die Z,nill·trligluil. Erst die Iterierung des Gefangenendilem.
mas bringt dann einen drilltn IIY,rl ins Spiel. Dieser "Rejeklionswert" (C. Günther)
zur binären Wahl cooperate/defect ist der Ausstieg aus der Beziehung: exil. Für die
nellen Menschen genügt der Kooperationsgewinn im Umgang mil anderen nenen
Menschen - und die Möglichkeit des Abbruchs der Beziehung mit unkooperativen.
Funktional äqui\'alent zu t>.~il ist die Option DJlrnriJ... die öffentliche Ächtung der
Free-rider. Allerdings ist es sehr kostspielig. Trittbrettfahrer auszuschließen. Eine
Norm zur Geltung zu bringen. hat ..enforcement COStS", so Roben Axelrod. Tht
C••pkxi!] of CtKJptrllliDIf, Princeton NJ 1997, S. 52: die Polizei rufen, eine Aussage
machen - d:J.s kostet Zeit und Nerven; das "''Ürde m:J.n sich gerne ersparen. Deshalb
braucht man eine Meta.norm: Nicht nur die Rechtsbrecher mussen bestraft ",'erden,
sondern auch diejenigen, die RC'chtsbrecher nicht bestrafen. lur so gewinnt der Fre-
vel an dC'n öffentlichen Gutem eine ..artificial noticeability" Oerome Rothenberg).
9 Die Anwendung dieses Schemas auf Politik liegt auf der HlIond: Die Linke ist gut-
gläubig (q und riskiert, ausgebeutet zu werden. Die Rechte ist mißtrauisch (0) und
hat Angst vorm sllcker's pa)"off (5).
230 Aktuelle Debatten
10 Her\xrt Siman. TIN Sn',,,m of tht Artiftrial. 3. AuO., Cambridge Mass. 1996. S. 45.
11 Martin Mayer. TIN Ba"kt,.s. lew York 1974, S. 280.
Bolz, \'('arum es intelligent ist, nett zu sein 231
rationen, daß es intelligent ist, nett zu sein. Allerdings lassen Axelrods Compu-
terturrucre auch keinen Zweifel daran, daß der nette Einzelne in einer Welt
von FiesLingen keine Chance hat. Die Netten müssen schon als Gruppe auftre-
ten, und es ist eine strikt mathematische Frage, wie groß die Sekte der Netten
sein muß, um der Invasion der Freundlichkeit zum Erfolg zu verhelfen.
\'(Jer dagegen Erfolg hat. indem er die Dummheit der anderen ausnutzt, zer-
stört dlmit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Mit anderen Worten: Wer
nicht nett ist, hat kurzfristig Erfolg, zerStÖrt aber langfristig die Bedingungen
seines Erfolgs. Räuberische Strategien zerstören also ihre eigenen Erfolgsbe-
dingungen. Und genau umgekehrt ist das Programm der robusten ettigkeit
eines, das gewinnt, ohne andere zu besiegen. Es begreift den Erfolg des ande-
ren als Bedingung des eigenen. Erfolg habe ich demnach nicht durch Schwä-
chung des anderen, sondern durch Stärkung der gegenseitigen Interessen. Er-
folg hat, wer mit Erfolgreichen interagiert.
Damit sind wir in einer Nicht-Nullsummen-Welt. Und hier muß man nicht
besser sein als der andere, um erfolgreich zu sein. Für Fußball- und Poker-
Spieler ist das schwer zu begreifen. 12 Prinzipiell gilt, daß gute Null-Summen-
Spieler schlechte Win-Win-Spieler sind. Denn gerade das Gewinnenwollen
blockiert die Muimierung des eigenen Gewinns. Wir lernen schon als Kinder
das Spielen in luUsummenspielen, die nur eine Belohnung kennen: das Ge-
winnen als solches, das impliziert, daß der andere verliert. Es gehört ausdrück-
lich zur Fairness der 1 uUsummenspiele, daß jeder Spieler gewinnen will Es ist
also wichtiger, den Gegner zu schlagen, als die eigene Punktezahl zu steigern-
die drei geschossenen Tore sind wenJos, wenn der Gegner vier schießt. Es
gehl hier nicht darum, die absoll/le eigene Punktezahl zu steigern, sondern die
rtlalil-'t. Thorstein \febien hat in diesem Zusammenhang von "invidious campa-
rison" gesprochen. eiderfülh vergleichen wir uns mit anderen - und genau
das blockiert die \'(/in-Win-Perspektive. Für den NulJsummenspieier ist "mehr"
wichtiger als "viel". Der Wettbewerbsimpuls fördert diese aggressive Strategie,
die jederzeil eine Eskalation riskien.
EIß unbeliebiges Beispiel. Im "Rosenkrieg" der Scheidungen spielen Ehe-
garten ein Endspiel im Nullsummenstil. Die Leiden und Verlustc, die das mit
sich bringt, ließen sich vermeiden, wenn man die Ehe von vornherein als locol
g01/lt betrachten würde, in dem es nicht ums Gewinnen, sondern um die Auf-
12 Flßb:l1l ist ein klassisches 'ullsummenspiel - heute verschirft durch die Dreipunk-
((regel, die den, der unentschieden spieh, bestraft. Es gilt also: R == P; Siegm == 3;
ederlage (S) == 0; Unentschieden (R/P):: 1; und d:lnn folgt: er
+ S): 2 > R/P.
13 F~nk Knighl, Es/UJ/, Bd. 11, Chic:lgo 1999, S. 41.
232 Aktuelle Debatten
U Hier muß man sich hüten. Kooperation als unbedingten Positivwen zu verkliiren.
Auch Korruption ist Kooperation. Selbst echte Feindschaft setzt Kooperation vor-
aus. Feinde arbeiten gemeinsam d:uan. die öffentliche Meinung zu polarisieren. Er-
folg besteht deshalb gerade nicht in der Vernichtung des Feindes. Der besiegte
Ftind wird niimlich zur Hypothek. Den Carl-Schmitt-Freunden muß man also im
Blick auf unser Thema sagen: Wichtigtr als dit Unterscheidung Freund/Feind ist die
Dauerhaftigkeit der Interaktion.
15 Charles ündblom, TIN Markt! SpIrIlI. lew Havtn & London 2001. S. 40. - Wie viele
.,few" sind. ist dabei \'on alltrgrößttr Wichtigktit. Das numtrische Problem dtr Co-
opetition hat Reinhard Sthen auf die magische Formel gebracht: 4 on ft., o"J 6 on
",01f.J. 5 ist dtmnach die Grenze z\lo~schen großen und kleinen Gruppen. Bei Grup-
pen > 5 ist der Anteil am Kanellgtwinn k1eintr als der Profit des Outsiders. Daraus
folgt: Jr größer die Zahl der Wettbewerber. desto allrakti\ter die Position des Außen-
stntrs.
Bolz, Warum es intelligent ist, nett zu sein 233
18 Roben Axe!rod, TIN COl1lpl/xity oJ CooprrafiOfT, S. 172; genauso formuliert auch Mark
Granovetter, "The Strength of \YIeak Ties", in: Am/rifa" JONn/al of S Molo!) 78 (1973),
S. 1378: "strong lies, brceding loca1 cohesion, lead 10 overall fragmenr:nion." Wenn
man die strategische Alternative des Gefangenendilemmas (Aggression/Kooperati-
on) mit dieser Grundunterscheidung der \YIehgesellschaft (Inklusion/Exklusion)
korreliert, ergibt sich eine interessante Möglichkeit der Kreulotabe!lierung:
Aggression
Terror
Inklusion Exklusion
Kooperation
Ruby Tuesday
Gaggtr/ Richords)
Nur daß ein singendes Ich namens Mick Jagger sie vermissen wird, gibt einer
Dauer, die es heute noch Rubinrot und Dienstag und morgen schon vielleicht
Smaragdgrün und l\litrwoch nennen wird - und die da kommt wie der Dieb in
der acht oder wenn die Sonne 3m höchsten steht. Um die Gegenstände, Tie-
re und Menschen idemifizierbar zu machen, schlug Wütgenstein im Trar/alus
logito philosopbj~us eine Schulmeistervariante des adamitischen Verfahrens vor.
l\hn solle ihnen, so der wegen besonderer Grobheit gegen begriffsstutzige
Schülerinnen entlassene Pädagoge, kleine Namensschildchen anheften, um das
bunte, geschwätzige und wandelbare Leben in den schriftlichen S)'mbolen der
Welt dauerhaft zu fixieren. Daß die kleinen Nomolheten dabei nach Herzens-
lust poetische Namen erfinden sollten, darf man freilich im Schulraum des Phi·
losophen nicht erwarten. Vielmehr waren ihrem Domesday die Archive, Tabel-
len und Wörterbücher immer schon vorgegeben, und rur den rirhligm Ge·
brauch der so vorgefundenen Wörter sorgte zur Not die Schlagkraft des sie an-
leitenden Lehrers. Die Bedeutung eines Wortes ergibt sich aus dem richtigen
Gebrauch in der Sprache. also aus Schlägen auf den Hinterkopf.
Was aber kann der singende Schüler Wittgensteins tun, wenn sich ihm das
Objekt seiner Benennung, wenn nicht das seines Begehrens, immer wieder so
entzieht, daß es sich an jedem neuen Tag von Kopf bis Fuß verwandelt? Auf
Ruby, so scheint es, ist kein Verlaß, sie ist - allemal zu jener Zeit, als die Stones
den Song aufnehmen, ein "böses Mädchen", wie es nur Jagger oder Richards
liehen konnten: Marianne Faithful, Anüa Pallenberg. Wie steht es also mit den
Namen, die wir nichl anderen "anhängen", sondern die uns selbst gegeben
sind und die unsere Individualität ausmachen?
236 Aklul::lle Deb:uten
"Wie sah ein Mensch aus, der kein Individuum war?" hat üonell Trilling ge-
fragt' und danach das, was der Mensch immer schon als ihm eigen empfand,
wie sein "Körperbild"• seine "Se1bSfvertrautheit". seine Sinneswahrnehmun-
gen, GefOhle und Leidenschaften von dem unterschieden, was er nicht besaß
oder rat, bevor er ein Individuum war: "Er harte kein Bewußtsein von dem 1...1
inneren Raum. (... ) Er dachte sich selbst nicht (... ) in mehr als einer Rolle, so
als stünde er außerhalb oder über seiner eigenen Person."
TriUing verknüpft also Individualität mil einer bestimmten Form von
Selbslrenexion, wie wir sie seit der Achsenzeit im 18. Jahrhunden kennen, der
wir das "individuum ineffabilc" verdanken; er verknüpft es nicht mil der
machtvolJen Zu schreibung eines Anderen, von der das angeheftete Namens-
schildchen nur einen schwachen Begriff gibt. Diese zweite Geschichte begän-
ne, wenn nicht mit ietzsches Brandeisen zum Heranzüchten eines Tiers, das
versprechen kann, im letzten Drirrel des 13. Jahrhunderts, als die Inquisitoren
der Bettelorden die amen bekannter und gesuchter Ketzer zusammenstellten
und zu Fahndungszwecken verbreiteten. ETWa zur selben Zeit entstehen auch
in den Städten Listen der Verbrecher und Geächteten, so etwa das Florentiner
libro dtl chiodo, jenes von 1269 bis 1313 geführte "Nagelbuch", das auch den
amen Dame Alighieris "zum ewigen Angedenken" enthielt. 2 Sehr bald sam-
melten diese Listen auch Identifikationsmerkmale, KJeider zunächsl, dann be-
stimmte Zeichen oder ..Signaturen" wie Narben oder fehlende Zähne, Ge-
schwüre oder besonders lange Fingernägel, schließlich Porträts, Sieckbrief-
Zeichnungen, Pholographien, natürliche und genetische Fingerprints. Ihr zur
Seite stehen jene (von Foucault) so genanmen ..Technologien des Selbst", die
nach dem Verfall ständischer Zuschreibungen Individuen zur Selbstähnlichkeit
zwingen, bessern oder "erziehen" sollen oder ihre Individualität gerade durch
ihre ichrunterscheidbarkeit von allgemeinen Normen erweisen. Auch das in·
dividuelle Allgemeine ist ja ein Allgemeines. Alles, auch der gegenwärtige
Streit, den wir gleich führen wollen, läuft also darauf hinaus, ob wir individuel-
le Identitätskonzepte vorwiegend autonom oder heteronom verStehen, als
Selbst-Reflexion, Selbst-Entwurf und Selbst-Gesetzgebung oder als soziale Zu-
schreibung, Verknappung, Identifikation, Zähmung lind Züchtung.
Zu der Zeit, als Jagger und Richards ihren Song von Rub)' Tuesda)' schrieben,
jenem Mädchen, das nicht zu fassen oder zu benennen ist, gah in deutschen
Schulen als oberstes Lernziel ganz zweifellos der Aufbau einer verläßlichen,
DaJ E"d, drr AIIJrithliglt,til, Frankfurt :lo. M. 1983, S. 31; ich folge kune Z(it Hans Ro·
~rt Jauß, .. Vom Plurale lamum der Charaktere zum Singulare lamum des Individu-
ums", in: Indi,.idllalilal, hrsg. von Manfred Frank und Ansdm Haverkamp (Poetik
und Hermeneutik XIII), München 1988, S. 237.
2 Siehe dazu und zum Folgenden: Valentin Groebner, .. Der Schein der Person. Be-
scheinigung und Evid(nz", in: QMtl CorpJ? Eint Frage der Rtpriim,'a,ion. hrsg. von
Hans Behing, Dielmar Kamper und i\hrtin Schulz, München 2002. S. 309-323.
Zons, Ruby Tuesday 237
dauerhaften und belastbaren Ich-Identität. Für Jürgen Habermas, den ihre Di-
daktike!" abkupferten, bedeutete ..gelungene Ich-Identität" etwa .. jene eigen-
tümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfahiger Subjekte, auch noch in tief-
greifende!" Veränderung der Pe!"sönlichkeitsstruktur, mit denen sie auf wide!"-
sprüchlkhe Situationen anr\\,orten. mit sich identisch zu bleiben".) Dazu ver-
hilft weder seine sogenannte ..narürliche" Identität, kraft deren das Kind zwi-
schen sich und seiner Umwelt unte!"scheidet und ein integrales, homogenes
Kö!"perbild imaginiert, noch seine "Rollenidentität", die sich ausschljeßlich so-
zialer Zuschreibung und Anerkennung verdankt, sondern nur eine "personale
Identirät", in der Individuen ihre Selbstgleichheir unabhängig von besonde!"en
No!"mcnsystemen und gesellschaftlichen Konstellationen behaupten. Sie wie-
derum zeigt sich in der Fähjgkeit, die eigene Biographie jederzeit lückenlos aJs
wahrhaft "eigene" referieren und dadurch als individuellen homogenen Bil·
dungsroman ausweisen zu können.
angemaßten Autoritäten oder betrügerischen Pfaffen; aber nicht auch auf die
ihrer Ahnen, ihrer Genien und Dämonen, der Musen und ..Socii", kurz all je+
oer guten Geister, die im neuzeitliche Selbst offenbar versrummt sind? Ist es
also der Preis des Selbstdenkcns. der Autonomie und personalen Idencitiit
nicht nur von den bösen, sondern auch von ..allen guten Geistern verlassen zu
sein? Und wäre nicht mit Picrre Klossowski jene Seele wahrhaft "tot" zu nen-
nen, die nicht mehr bewohnt ist? Wäre, nachdem Lucher die Geisfcrstimmen
schon auf den einsamen Gewissensruf verknappt haue, der schalltote Raum
der Preis für Kants .. Ich denke, das aUe meine Vorstellungen muß begleiten
können"? Und könnte es sein, daß die Verdrängten nun wiederkehren, daß also
die Zeit des seIhstidentischen Ich nur Episode blieb?
So sieht es etwa Kenneth Gergen 4 , wenn er dem Einfluß der neuen Kom-
munikationstechnologien auf das kulrurelle Leben nachgeht. Schon die ersten
Radiohörer hanen Geisterstimmen gehört, die schiere Masse an synchron spre-
chenden Stimmen, denen wir durch das TV, das Telephon, den Discman,
durch das Kino, den PC, das Internet usw. permanent ausgesetzt sind, kon-
frontiert uns mü derart vielen Ereignissen, Stimmen, heterogenen Standpunk.
ten, Perspektiven und Ansichten, daß aUe Wissens- und Glaubenssysteme, die
bislang objektive und subjektive Gewißheiten und praktische Orientierungen
gewährt und Identitätsbildungen ermöglicht hanen, einer schleichenden Auflö-
sung und Zersetzung ausgesetzt sind. Umgekehrt werden Sie nicht gerade als
Subjekt mit einer individuellen Lebensgeschichte angesprochen sein, wenn die
anonyme Stimme eines Computers Sie am Telephon nach Ihrer Wahl einer po-
litischen Partei oder eines Waschmittels befragt. Solchen auf Ziihlbarkeit und
Statistiken angelegten Individualitiitskonzepten entspriiche schon eher der in
den sechziger und siebziger Jahren heftig kritisierte Rollenbegriff eines Helmut
Plessner, der freilich aus dem heutigen sozialwissenschaftlichen Diskurs fast
völlig verschwunden ist. Dessen Theorie geht niimlich von einer elementaren
und unhintergehbaren Rollenhaftigkeit, von Masken ohne Gesicht, aus und
wurde folglich in der kommunikativen Wiirme linker Beanuenmilieus kapitali-
stischer Kälte und Unmenschlichkeit geziehen. Wer kann aber leugnen, daß
jenseits sozialer Zuschreibungen und Zwänge etwa in den Internel Chatrooms
von heute gerade auch der Rollengtmp> und die Freude am Maskenspicl wieder-
kehrt, die das vorbürgerliche Rokoko bis hin zu letzten. erotischen Verfeine·
rungen kultiviert hatte? Keiner weiß in diesen Liaisons Oangereues, ob sich
hinter "Ruh)' Tuesday" nicht vielleicht ein 65jährigcr Philosophieprofessor
versteck[~ keiner, ob die Maske "Willem" nicht ein junges Miidchen triigt. Jeder
und jede entwirft oder fingiert eigene "Lebensgeschichten", bis sie wieder
durch andere ersetzt werden. Und diese Form des Se1f-Designing ist ja längst
aus den etzen in die sogenannte Wirklichkeit emergiert, dahin freiljch zuerSt,
• Kcnneth Gergen, 00; Obtrsöfliglt Sr/bJI. IdtnliliilJproblnllt illl htuligen Ltbm, I-Ieidelberg
1996.
Zoos, Ruby Tuesday 239
wo sie am unwirklichsten ist: in die GLitzerwelt und in die "dark rooms". Frag-
te man sich eben noch, welches geheimnisvolle "Selbst" akademische Diätmar·
garine.Konsumenten verwirklichen sollten oder wollten, ist das Bildarchiv zur
Se1f-Fashioning heute fast unerschöpflich. Könnte darüber hinaus die neue,
mediale Vic1stimmigkeit, weit davon entfernt Subjekte in Motivationskrisen zu
verstricken, nicht zu der schönen und demütigen Einsicht verführen, daß wir
in diesem Geisterreiche, in dem nicht nur Tiere oder Engel, sondern auch Pro-
gramme mit uns sprechen, nicht die Einzigen, aber auch nicht einsam, daß un·
sere Seelen also bewohnt sind?
Während hierzulande die Theorie des Kommunikativen Handelns bürgerli.
eher Subjektivität gegen die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft einen großar.
tigen letzten Ausdruck gegeben hat, wurde jenseits des Rheins freilich längst
schon die Gegenrechnung aufgemacht. Zur sei ben Zeit als gegen das schlei-
chende Ohrengift von Rub}' Tuesda}'. das da über den Äther kam, das "Lern-
ziel Identität" ausgegeben wurde, untersuchte und benannte '[iche! Foucault
die Institutionen und Technologien des Selbst, die es überhaupt erst" hervor-
bringen konnten: die panoptischen Appararuren der Menschenvermessung
und der Befragung der Leiber und der Seelen, der Heilung und der Verbesse·
rung, der Erziehung und der Disziplinierung, der ormierung und der Mobili·
sierung; die Schule, die Klinik, das Asyl, das Gefangnis, die Kaserne. All diese
Disziplinarmächte sind aufeinander bezogen und bilden ein homogenes Medi-
um der Norm.
Vielleicht blieben sie in Deutschland so lange unbemerkt, weil es dieser gar
nicht so .. verspäteten Nation" gelungen war, aUe diese von außen kommenden
Praktiken und Techniken so ins Innere der Individuen zu verlegen, daß sie sie
als "Freiheit", wenn nicht als "Natur" fingieren konnten. Dazu. man weiß es,
bedurfte es einer langen und gefahrlichen Bildungsgeschichte, die sie von der
~inm Pflicht der Philosophie über die ~ine Liebe der Dichtung zur einen nationa·
Jen Gemeinschaft und zum tinm immerwährenden Befreiungskrieg geführt hat.
Aber die oft erzählte Geschichte des "Individuellen AlJgemeinen" wird in der
globalisierten Weh enrweder zur Lachnummer oder zur gentechnologischen
Horrorvision, wie sie uns das Schlußkapitel von Houcllebecqs Elmlt1llt1rttikhm
in den "neuen Göuern" vorstelIr. \'{fir kommen gleich wieder darauf zurück.
Wäre Ruby Tuesda}', 1967 in FIOJJ.'trs besungen, erwa zwanzig Jahre alt gewe-
sen und häue sie Sex, Drugs und Rock'n Roll überlebt. müßte sie heute Fünf·
undfUnfzig sein, in meinem Aher also, und nicht viel jünger als der, dem dieser
Text gewidmet" ist. Vielleicht wäre sie, start ihre Träume einzufangen und ihren
Verstand zu verlieren, Philosophieprofessorin geworden. Vielleicht fanden wir
sie, in New York oder in Utrecht, in London oder Freiburg im Gespräch mit
ein paar Gleichgesinnten, und vielleicht würde diese Radioshow moderiert von
keinem anderen als von WiJlem. dessen liebenswürdiger Einladung wieder ein-
maJ niemand widerstehen konnre.
240 Aktuelle Debatten
WiJJem "an Reijen: Meine Damen und Herren, bitte begrußen Sie mit mir
Laune Anderson, Sadie Plant, Ruhy Tuesday. Jean BaudrilJard. Michel Houe!-
lebec,! und Richard Senneu5 ; Jean Baudrilla.rd, Sie haben das \'(lo("[:
, Die Beiträge gehen tatsächlich zurück auf eine Radioshow von HR 2. Ba}'ern 2,
WDR 3. 0 1, DRS 2 im Zusammenhang von Intermedium 2 in der zkm: Straltgir" titr
AJlj1iIJl"Z. Ei"e Guprärbsi"llaI1a6o" jiir AltfUfht" N"J Alo"ilOrt, Moderation Peter Kern-
per mit Narben Bolz und Raimar Zons, Karlsruhe 22. März 2002. 21.45 Uhr. R. T.
ist nariirlich. wie sollte es anders sein. eine reine Fiktion.
Zoos, Rub)' Tuesdll)' 241
2. Lo1ln·e Anderson: /eh fiir meinen Teillübe tJ, als Person weniger eindeutig und zllsam-
menhiingend, als vielmehr "ieldeu/ig und Iltiflüssigt Zu R!irken. So daß ich mich Imgezwlln-
gener beRlegell ,md a1lch leirhter Dinge prüfen kann. Aber ist der Men5(h den Möglichkei-
tell, die htute die lnformotions/ubnologitfl, die Gm/echllik, die NOllo/ech"ik entwerftn,
überhaupt noch gewachsell, oder ist er zutlehl"e" überfordert?
fVlby T.: Die eigentliche überforderung, Liebe Laurie, ist, wie ich meine, Der
Mensch selber, der Mensch als Singuluetantum, der Mensch als handelnder,
als Geschjchtssubjekt, diese prometheische Metapher des Mannes, die das
wirkliche Problem nicht erhellt, sondem verdeckt. An der Kartierung des Ge-
hims etwa, der Eneschlüssdung des Genoms, den Erfolgen der Nanoelektro-
nik oder Robotik waren ja nicht nur die Forscher und Ingenieure, sondem
auch Maschinen, Roboter, Programme, Computer - ich möchte fast sagen -
gleichberechtigt betejligt. Ray Kurzweil und BilJ Joy vom MJT haben darauf
hingewiesen, wie sehr sich diese Arbeitsteilung mehr und mehr zugunsten der
Maschinen verschiebt, Der Mensch ist also immer schon ein Phantasma in ei-
ner Geschichte von Strukturen - aber ein sehr wirkungsmächtiges, ja terroristi-
sches. Er setzt genau jenes allgemeine Wesen voraus, das sich im Augenblick
möglicherweise mehr in der Technik als in den Menschen selbst verwirklicht.
Ja, es scheine so, daß mehr und mehr von ihnen jenem eingeschlossen/ausge-
schlossenen Typus angehören werden, den der italienische Philosoph Giorgo
Agamben als "homo sacer" anspricht. Dieser Verruchre der Erde, der Migrane,
der Habenichts, der Palästinenser - und oft genug eben "die Frau" - f:ilh
durch alle Raster und Strukturen der symboljschen Ordnungen hindurch, wird
zum Objekt einer Biopolitik, zum potentiellen Lagerinsassen, wenn nicht
gleich zum Menschenmaterial. Es stellt sich dann nicht mehr die klassische
Philosophenfrage, ]J'as der f\'lensch ist, eine Frage, die zur Verwirklichung sei-
nes Wesens in der Technik geführt hat, sondern die, Rler überhaupt noch Men-
schen sind. Diese Frage umerscheidet nicht poljtisch zwischen Mensch und
Unmensch, zwischen Freund und Feind, sondern zwischen geformtem und
ungeformtem Leben.
Lustigerweise \\'ird übrigens diese Frage heute weniger in philosophischen
Seminaren oder Kolloquien gestellt als in Hollywood·Filmen wie Bladerunner
oder Matrix. du solltest das wissen.
3. Sadie Plant: Irh bin optimistischer; lI'as "üle dieser Entllfiddungen angehl. Nirht 1I..~il
ith lI!irklith glaub~, daß der Mensch in Zukllnft Z. B, dllrth künstlithe uhensjornJen er·
setzt Jl'erden kiinn/e. Aher ich denke, daß die Entstehu"g IIOtI sich selbst organisierenden
künstlichen Lebensjormell "nd "nser Verstehen ihrer Moglithkeiten - lilas diese Dinger 01-
242 Aktuelle Debatten
tu kiinnen - J daß diese BtJlJIiß/ll!tTdung einen sebr guten E./ftkl o,,! unsert wut/iche Kultur
hoben Ieonn. Dtnn 1llahrsrhtinlith leiden 111;" stil Jahrhunderlen doran, daß uns de,. Sinn
jiir DtfllJ/1 l/trlortngtgongtn isl.
uun", Anderson: /rh gIOl,be, l/iele MtnJtben J:erguStn, ude Ilngloublith dumm Maschinen
sind. Das bule Beispiel, dos mir dozu tinfiilll, ist dOl Srhll1tigtn. Du machst zum Btifpitl
folgendt/:
20 Stkundtll S(hweigen
Schweigen kann unglflliblicb "bertdt" !ein. IJVtnl1 das 111m tl11tr Maschine possiert -
Srhll1ügtn im Computtr - srholltl sie sich ab. Es gibl kein "digitales SchJJltigen ", lJltii dar-
in wirklich nichts passiert. Moubintn sind eben dumm.
IJVtnn Masrhintn einmalftinflihlig und genall werden, dann in/trtuitrtn sie mirh.
RNI!J T.: Wenn wir die Geschichte der f,,'lensch-Maschinen-Vergleiche rekapitu-
Lieren, schöne La.urie. Sexy Sadie, machen wir die Erfahrung, daß die Entwick-
lung der Kybernetik und Robotik schon manchen Computerphilosophen wie
Weizenbaum tatSächlich gründlich gedemütigt hat. Was denkbar und möglich
erscheint, spielen uns heute verläßlicher SF-Filme wie AI von Spielberg vor,
auf die die nämlichen Theoretiker oft merkwürdig verärgen und besserwisse-
risch reagieren. Natürlich kann man auch Synästhesien, ja auch bestimmee Ge-
fühle, sogar, wie Luhmann gezeigt hat, Ironie kybernetisch beschreiben. Wo
die Grenze ist, wird keiner sagen können.
Tatsächlich scheint mir aber, Laurie, deine Antwon genau die richtige zu
sein: Wann fangen Maschinen an, uns menschlich zu interessieren? Wann be-
ginnen wir, mit ihnen menschlich umzugehen? Das kann projektiv schon sehr
früh geschehen, etwa wenn wir unseren PC animistisch mit "Er" ansprechen.
Aber irgendwann spricht "er" so zurück, wie ihm selbst der Schnabel gewach-
sen ist. Dann spricht er nicht nur als Programm, sondern als "Person". Heute
können wir das mit den Androiden in Star-Trek-Filmen erleben, aber es be-
wegt sich aus dem Imaginären der Kinoräume auf uns zu. Etwa in Gestalt der
Cyborgs, deren Manifest She,rry Turkle geschrieben hai und die längst unter
uns sind.
Ich finde das problematisch eigentlich nur in bezug auf die, die von diesen
Prozessen kategorisch ausgeschlossen sind oder ihm allenfalls als Material die-
nen. Und wir selbst, gerade wir Frauen, müssen unsere User-Position verlas-
sen, denn, um orbert Bolz zu zitieren, die User sind nun mal die Loser.
4. Sadie Plont: [th dtnJu nicht, daJ Tuhnologie irgtndein Ceuh/echt huitzt. Aber ich bin
iihtrzeNgt - lind das mllj gerade billte huonders hetont 1I1erdtn - daß sie ganz hestimmt
nichl miinnlich ist. Das gilt natiirlirh auch flir die Medien.
RNI:1 T.: Ein alter Bekannter, der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kitt-
ler hat einmal den Begriff "Medienanthropologie" deshalb verworfen, weil
zwischen Medien und Menschen nichts laufe. Was zähle, sei einzig die Ge-
Zons, Ruby Tuesday 243
schichte des Seyns. Ihr hört nicht nur Heidegger, sondern auch Lacans Rede
über das Geschlechten'erhältnis hindurchtönen.
Die ,·ielen Geschichten vom Ende Des Menschen - Du Mmsr!}(n groß ge-
schrieben - markieren hier, glaube ich, eine denkwürdige Zäsur. Die Techni·
ken des Selbst, die Paideia der Griechen, der Humanitas der Römer, die Sub-
jektdisziplinierung der westlichen Moderne, sie alle sind eingebunden in eine
technische WeltkonstTuktion, in eine prometheische, männliche Selbstermäch·
tigung, die jetzt reflexiv wird. "Der Mensch" also ist nicht "AutOr", sondern
ein Effekt von Techniken und Medien.
Während das Denken emigriert, ist die weStliche Welt - in Hege1s Worten -
selber zur Schädelstätte geworden. Das zeigt sich schon in unseren intelligen-
ten Autos, Wohnungen, Häusern, Städten und Kriegsschauplätzen. Oie Ge-
schichte des objektiven Geistes ist also eine Technik- und Mediengeschichte.
lü Menschlichem hat sie nichts zu tun.
lun stehen dieser westlich-urbanen, .,unmenschlichen" Technik, unserer
griechischen Erbschaft, plötzlich die langst vergessenen "männlichen" Tugen-
den aus dem Osten gegenüber. Wüsten- und omadentugenden: Mut bis zur
Todesbereitschaft, Ehre, List. Sie hebeln das GefUge der Technik mit den
kleinsten Mitteln aus: dem schwachen menschlichen Leib, den religiösen Träu-
men, den Nagelscheren. Aber sie hacken sich partisanenhaft auch in die welt-
weiten elektronischen Netze ein, leiten Kapitalströme um, kapern Informatio·
nen und kappen Befehlsstränge. Sie verwirren also das nach außen gestülpte
westliche superbrain. Was "menschlich" heißen kann, muß sich vielJeicht von
dieser Schwelle aus neu definieren. So auch das Geschlechterverhältnis.
liehst weitgehend abstreifen. \'(fas den Körper vom Leib trennt, erscheint uns
als Ekel. ncl der ekelhafte Typos schlechthin ist die vates. die alre Vettel, die
aus jeder Runzel ihres Leibes Unzucht und Verwesung ausdünstet. Dagegen
hat das Winckelmannsche Zeitalter den M.armorkörper des jungfräulichen
Mädchens gesetzt: Nm a girl, not )'cr a woman, wie Srirney Spears singt, also
ein reines Medium. In diesem Schönheitsideal sind nicht nur die FiJm~
göttinnen, sondern auch die Cyborgs und Avatare schon antizipiert. Es bleibt
aber Lyotards WOrt, daß nichts so schmutzige Folgen hat wie der reine Geist,
das Denken ohne Leib: Menschenmaterial, \'Verware sind einjge davon. Das ist
die neue Form von Frauenfeindschaft.
6. Rithard Smnell: Der Kopilalismlls Iltrhinderl, daß die ullle, FralIen und Miinner,
ihre eigtne Geschühte enlwükeln hinnen. Der moderne Kapitali.smlls isl allsuhlirßlich an
der flexiblen, flüchtigtn, fOrllallfindtn leit inlerusiert. Für müb kann deshalb die Lösllng
allch nüht darin beItthen, zllm allen Kohiirtnzmodell tVJn "IdtnliMI" ZllrNckZllkehrtn,
sondern tielmtbr die Möglühkeil I/On Verlenüpfllng I/On Etfahnmg Zll fordern.
RJiIry T.: Oie Rückkehr zum biographischen r.,·(odell, das wir dem Pietismus
(oder Augustinus, Rousseau, Goethe) verdanken, jenen Seelenmitschriften zur
Ehre des höheren Gottes oder des Staats, ist uns - Frauen wie Männern - we-
nigstens verschlossen. Beim späten Foucault deutet sich aber, wie ich meine,
eine Altemative an, die von einigen als Rückkehr zur Subjekrphilosophie miß-
verstanden worden ist.
In der Fortschreibung vom Gebrauch der Lüste in die griechische Antike ist
er auf eine Sorge um sich selbst und auf einen Selbstgcnuß gestoßen, die weder
wahrheits- und veraJlgemeinerungsfahig noch zu disziplinieren sind. In ihnen
findet sich vielleicht eine Alterna.tive zur Idenutäts- und Subjekrphilosophie
da.rin, daß sie auf den einzelnen Leib und nicht auf den gesellschaftlichen Kör-
per bezogen sind, also auch auf seine Gebürtigkeit, seine sexuelle Lust und sei-
ne Sterblichkeit - all das, was Houellebecqs neuer Mensch überwunden hat.
Der Zeitgon solchen Selbstgenusses wäre nicht Kronos, sondern Kairas, der
richtige und geglückte Augenblick.
Heute greifen einige, Wilhe1m Schmid etwa oder WiJlcms alter Lehrer Rai~
ner Marten, diesen Gedanken auf, um den alten philosophischen Topos von
der Lebens-Kunst zu revitalisieren.
Ich hätte überhaupt kein Problem damit, deren Schauplatz auch in die ge-
genwärtige Konsum- und Medienweh zu verlegen. Gende wenn man kein ei-
genes \'(Iehbild hat und selbst nicht im Bilde ist, kann man Bilder machen und
genießen, gerade auch Bilder von sich selbst, also SeJf-Fashioning betreiben.
Kunstfiguren wie ich selbst oder iadonna können dafUr gewisse Muster ge~
ben. Menschen sind nun einmal bildermachende und bilderkonsumierende
Tiere - und nicht jedes Bild ist gleich ein Kultbild oder vera icon. Hier in den
Sclbstentwürfen ohne Selbstverwirklichung, in den Verkleidungen und M.as-
kenspielcn ohne Original öffnet sich, glaube ich, ein neues Feld der Lust.
Zoos, Ruby Tuesday 245
Kairos hieße: Das richtige Bild zur richtigen Zeit. Die Gewalt der Bilder,
das Verschlingen des Imaginären, der perfekte .Mord am ReaJen, was immer
das sein mag, all dje großen und düsteren Metaphern Baudrillards wären dann
arbeitslos.
Willem van Reijen: Meine Damen und Herren, soviel zum Thema ich-Identi-
tät. Sie sehen, es kann efWas Lebensbedingung und trotzdem falsch sein; so
sagt es ietzsche; liebe Ruby T., ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Herman van Doorn
Als ehemaliger Philosophiestudent von Willem van Reijen entwickelte ich ein
besonderes Interesse an der deutschen, kontinentalen Philosophie. Später wäh-
rend meiner phmographischen und künstlerischen Wanderungen orientierte
sich dieses Interesse an den literarischen und philosophischen Arbeiten \'(/alter
Benjamins. Indem ich meine photOgraphischen Tätigkeiten mit der philosophi-
schen Neigung kombinierte, wurde ich zunehmend fasziniert durch die Reisen
Benjamins und seine verschiedenen kurzen Aufenthalte an sehr unterschiedli-
chen Orten. PhotOgraphierend und lesend versuchte ich meine Neugier also
auf doppelte \X/eise zu befriedigen. Schließlich mündete diese Suche in Zusam-
menarbeit mit Wille m in einem Buch, einer Art Chronik von Leben und Den-
ken Walter Benjamins. Einige der Widerfahrnisse dieser Suche kommen im rol~
genden in Text und Bild zum Ausdruck.
Am Anfang war das Wort, und dann war da auch noch das Bild. Die Frage
drängt sich auf, ob das Bild sein Bestehen allein der Möglichkeit verdankt, daß
es zur Erläuterung des Wortes in der Lage ist. Es ist nicht einfach, diese Frage
mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Auch bei mir stand biswei-
len am Anfang das Wort, z. 6., weil ich "Marseille"l schon gelesen hatte, bevor
ich abreiste, um Benjamins Aufenthalte und Passagen don zu lokalisieren und
zu photographieren. Meine Arbeit stand in unmittelbarem Kontakt mit Benja-
mins "naturalistischer" - oder vielleicht besser "barocker" - und hinreißender
Prosa. "Denn die Kindheit ist der Quellenfinder der Trübsal, und um die Trau-
er so ruhmreich strahlender Städte zu kennen, muß man in ihnen Kind gewe-
sen sein 1... 1. Den Reisenden werden [... } die Fenslerg~mer des Court Pugel
1...1 nicht verraten, wenn ihn nicht ein Zufall in die Totenkammer der Stadt,
den Passagen de Larette führt 1... ]"2. Und dann war da der Zufall, als ein Kind
in den Passagen de I..orette in der dunklen Unterwelt verschwand und der Pho-
t'Ograph. der im entscheidenden ~foment blitzartig die KamerataSIC berührte,
alles. was der Fall ist. einer Fraktion der Zeit abschwindelte und ein Bild gestal-
tete.
Wenn man sich auf den Lebenswandel und die Philosophie Walter Benja-
mins einläßt, wird man mit vielen Überraschungen konfrontiert. nd weil Ben-
jamins Bilder durch Wörter beschrieben werden, ereignet sich in der Photogra-
phie gerade die Isolierung eines Moments.
Da Benjamin einen Unterschied zwischen den Städtebildern Fremder und
Einheimischer machte), tritt noch ein Überraschungsmoment hinzu, nament-
lich für denjenigen, der die Schilderungen Benjamins gelesen und sich ein Bild
gemacht hat, noch ehe er tatsächlich dem Geschilderten begegnet. Dann han-
delt es sich um eine vermittelte Erfahrung. Bei meinen Reisen auf den Spuren
der Aufenthalte und Passagen Benjamins bin ich manchmal auf diese Schwie-
rigkeit gestoßen. Die Überraschung stellt dann beinahe ein Wiedererkennen
dar. Aber ist das ein weniger bildhafter Eindruck als ohne dieses vorhergehen-
de Wissen? Ich weiß es nicht, weil die Erfahrung des Gelesenen nicht zurück-
genommen werden kann. Doch war der Reiz nicht geringer als ohne irgendein
Vorwissen. Jedoch lag der Reiz auf einer anderen Ebene, namentlich im Hin-
blick auf die Texte Benjamins. Und jetzt beim Schreiben für diese Festschrift
kommt die Vermischung des Fernen und des Einheimischen hinzu. \'(fenn die
Erinnerungen auf solche Weise fünffach (Lesen, Ferne, Erinnerung an den
Text, Fremderlebnis und erneute Erinnerung) vermittelt sind, wie zuverlässig
) ..Die Wiederkehr des Flaneurs", in: GS. 111, S. 194; mit einem Nachwort von Peter
Szondi in: SlöJltbilJtr, Frankfurt a. M. 1963, S. 79 (r.
248 AklUclle Debatten
kann das Resultat dann sein? Zum Glück gibt es die technische Reproduzier.
barkeit der Bilder, die uns - wiewohl in einer subjektiven Handlung begründet
- einen objektiven Eintritt in die Vergangenheit ermöglicht. Dadurch wird die
Photographic: Schlusse! zur Vergangenheit.
Die technische Reproduzierbarkeit weist als Charakteristikum die dauerhaf-
te Erfahrung einer Realität auf (oder ist es eine Illusion?), auch wenn diese
Realität als solche nicht mehr exiscien. Auf meiner Suche harte ich des öfteren
ähnliche Erfahrungen, weil beim Antreffen eines Ortes das Konkrete, das
Fühlbare verschwunden war. So gab es an der Stelle des Ehernhauses in der
Delbrückstraße in BerJin nur noch die Hundehütte hinter einem Gitter, und in
Lourdes war der letzte Aufenthah von Benjamins Leben in einen Parkplatz
verwandelt worden.
Was mich anbelangt. gibt es jedoch beim Verfolgen der Geschichte Benja.
mins nur Gewinnsiruationen. Die tatsächliche, taktil anwesende Erinnerung
ruft eine Rührung hervor, nicht zuletzt aufgrund des modellhaften Charakters
seiner Irrfahrten als verbannter deutscher Jude während der Zeit des National-
sozialismus; und beim Zerstörten kommt es auf das Melancholische an. Jeden.
faUs sind es therapeutische Erfahrungen, da endlich sich selbst begegnend.
2b. rue Noue Dime 8, Lourdes. EinSI Benj:lmins letzter Aufenthalt, jelzt Eing:lng zu einem
Parkplnz
Die Suche nach den Aufenthalten und Passagen war manchmal einer Detek-
tivarbeit vergleichbar, diesmal jedoch nicht geleitet von der kriminalistischen
Frage ..\Vler hat es getan?", sondern vielmehr vom ..Wo war es?" Also führte
das Suchen auch nach dem zuvor unbekannten Aufenthahsort Benjamins zur
Zeit der Gründung der ..\'irruellen Universität Muri", gemeinsam mit Gershom
Scholem. ur der ame Bonanomi war bekanm und natürlich jetzt in Mun
nicht mehr vorzufinden. Glücklkherweise gab das Telefonbuch von Bem Aus-
kunft, und von einem Großneffen der Enkelin Bonanomis in Luzern bekam
ich ein fast unleserliches Facsimile ins Hotel gebracht mit einer Abbildung der
Wohnung in Muri. Mit diesem Facsimile, aber ohne Adresse, reiste ich nach
dem Gemeindehaus in "'Iuri, wo man bei der fur Wasserleitungen zuständigen
Behörde scheinbar seit Jahren auf solch einen Antrag gewartet haue, so jeden-
faUs konnte man aus der Hilfsbereitschaft der Beamten vermuten. Es wurde
unmiuelba.r in den Archiven gesucht und ein pensionierter, Postkarten sam-
melnder Kollege angerufen. Mit Hilfe alter Pläne und alter Ansichtskarten
wurde die Adresse gefunden und das Haus tatsächlich photographiert.
Szondi bringt treffend zum Ausdruck, daß .,es keine Schilderung ohne Di-
stanz gibt, es sei denn die Reportage"4. Zugleich aber ist diese childerung
Zeugnis der Vergangenheit und Aufhebung der Distanz, weil sie eine erneute
411. SIr2ße in .der Ahsllldl. M:useille. "Die Slrllßc. die ich so ofl uh, ist wic cin Schnitt, den cin ~Ies·
ser gelOgen n:11II." (Waller Benjamin, .,Huchisch in Marseille", in: ßenjllmin, es. IV/!. S. 410)
252 Aktuelle Debatten
4b. Pauage du Caire, Paris. Die Verlockung iSI von der Außenseite abzulesen, die Fassade i51 mll
ägyptischen Motiven ddtoricn.
\'an Doorn, Philosophie und PhOlographie 253
5. Gnnds Magasin Ic Samantaine. Paris. Treppenhaus und Atrium ...Mögen die Pauagen ihre pnk-
usehen Bedeutung eingebüßt haben, so hat doch der Waren fetischismus, den sie inu.cnierten, unge-
brochen überlcbt". (\'trillem van Reijen, Herman van Doorn, Alifr1llhallf lI11d PilulIgr1l, Frankfun a. M.
2001, S. 192)
254 Aktuelle Debatten
6 "Die Su.dt ist die Realisierung des ahen Menschemraumes vom l...2b)'rinth" in: es.
V/I,S.54!.
7 Boethius (480-524), Oe cOllsoliltiolle philoJophiile 111, 12,96. Hier zitiert n:!.ch der Ober-
setzung von Gegensch:!.tz-Gogen; in: Herrn:!.nn Kern: lßftyn'nthe, München 1982.
, Ebd.
Kurzbiographie und Bibliographie
Willem van Reijens, 1967-2003
Bibliographie
Vtrsttht" dtr E"JlkhkLit. Historisrhe IIIId 9stt«atü.he U"ttmuh""gt" t" tlllt« Probit« dtr
Trans~nd",talphil(}sophit, PhiJ. Diss., Frdburg/Br. 1967.
.. Di~ Wahrheitsfnge in d~r Tr2nsz~nd~n1alen Deduktion d~r r~inen Verstandes·B~gt"if.
r~", in: KflntStudien 6 t /3 (1970), S. 339-356.
.. Freih~it und f1.·foral in der Philosophie Descartes", in: Ztitsthrijt ßir Philosophisrhe For·
uh"ng 29/1 (1979), S. 125-137.
8t.'''ßtstin, Identitöt ""d Sinn, Stungan 1975 (Habilitationsschrift) .
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Kurzbiographie und Bibliographie 263
Keirnpe Aigra. Professor ruf Geschichte der antiken Philosophie an der nl·
\'c:rsitilt uechL
Ton van den Bdd. Hauptdozem für philosophische: Ethik an der Universität
uecht.
Wilhe1m Berget. Professor für Philosophie an der niversität KJagenfurt.
Ja" Bc:rgsrra. Professor für angewandte Logik an der Universität Uuecht und
an der Universität von Amsterdam.
Narbert Bolz. Professor flir Medienwissenschaft und Medienberatung an der
Technischen Universität Berlin.
Bett van den Brink. Dozent für praktische Philosophie an der Universität
Utrecht.
Hetman van Ooarn. Photograph zu Unecht.
Marcus Düwell. Professor für philosophische Ethik an der Universität Utrecht.
Wolfgang Eßbach. Professor fUf KulrursozioJogie an der Albert-Ludwigs-Uni-
versität Freiburg.
Rob van Gerwen. Dozent rur praktische Philosophie an der Universität Utrecht.
Jan Hein Hoogstad. Doktorand in der praktischen Philosophie an der Univer-
sität Unecht.
Ria van der Lecq. Dozentin für Geschichte der Philosophie des j\{jttelalters an
der Universität Urrecht.
Ludwig Nagl. Professor für Philosophie an der Universität Wien.
Hena Nagl.Docekal. Professorin für Philosophie an der Universität Wien.
Henning Onmann. Professor für politische Theorie und Philosophie am Ge-
schwister·Scholl·lnstitut der Universität München.
Gerard Raulet. Professor an der Ecole ormale Superieure de Lettres et
Sciences humaines und Direktor des Forschungszentrums ..Ze,itgenössische
politische Philosophie" am Cemre ational de Ja Recherche Scientifique in
Lyon.
Uwe Steiner. Associ:ne Professor of German a.n der Rice Universiry in Hou-
ston (fexas).
266 Die Autoren
Bernd Stiegler. Lektor beim Suhrkamp Verlag und Privatdozent rur Neuere
Deutsche Literatur und Medienwissenschaft an der niversität Mannheim.
Gunzelin Schmid acrf. Professor für Sozialphilosophie und Sozialethik an
der Hochschule Niederrhein ·Iönchengladbach.
. .
HeTman Schwengel. Professor für Soziologie an der Albert-Ludwigs- n1vcrSI-
tät Freihurg.
.
Theo Verbeck. Professor für Geschichte der ncueren Philosophie an der m·
versität Utrecht.
Albert Visser. Professor fUf philosophische Logik an der Universität Utrecht.
Rolf Wiggershaus. Philosoph und Publizist.
Raimar Zons. Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Pader-
born und Leiter des Lektorats des Wilhelm-Fink.Veriags.
Personenregister