Behinderte Kinder
Ein völkerrechtliches Abkommen könnte die Sonderschule in Deutschland beerdigen. Die neue
Uno-Konven on für die Rechte Behinderter könnte das Ende für das Abschieben von
behinderten Schülern in spezielle Förderschulen bedeuten. Fast alle Kinder - behindert oder
nicht behindert - sollen nach der Konven on gemeinsam in eine Klasse gehen. Doch die
Kultusminister sind noch ratlos. Nun haben sie getan, was sie bei Unieinigkeit und bei heiklen
Fragen am liebsten tun: Letzte Woche setzten sie erst einmal eine Arbeitsgruppe ein.
DDP
Förderschule (in Mecklenburg-Vorpommern): Fast eine halbe Million
Kinder wird in Deutschland sonderpädagogisch gefördert
Zwei Jahre lang wurde hinter den Kulissen um die deutsche Unterschri unter die Uno-
Konven on gerungen, die mit Jahresbeginn auch für die Bundesrepublik wirksam wurde. Die
Richtlinie stärkt eindeu g die Rechte von Eltern, die für ihr behindertes Kind einen Platz in einer
Regelschule einfordern. Seit Jahren laufen in allen Bundesländern dazu Klagen.
Fast eine halbe Million Kinder und Jugendliche wird in Deutschland sonderpädagogisch
gefördert. Aber nur 15,7 Prozent haben die Chance, dass dies gemeinsam mit Nicht-
Behinderten in einer regulären Schule erfolgt. In den skandinavischen Ländern sind es 90
Prozent - egal, ob sie lern-, körper- oder geis g behindert sind.
Bei der Integra on behinderter Schülern gehen die Bundesländer unterschiedliche Wege. In
Berlin und Schleswig-Holstein beispielsweise nimmt jeder dri e behinderte Schüler an
normalem Unterricht teil. In Bremen haben betroffene Eltern als einzige sogar einen
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Rechtsanspruch, die Schule für ihr Kind zu wählen. 44,9 Prozent der behinderten Schüler gehen
dort in Regelschulen. Schlusslichter bei der Integra on sind Niedersachsen (4,7 Prozent) und
Sachsen- Anhalt (5,5 Prozent).
Ein Plan der Kultusminister sah vor, einen neuen Abschluss für Sonderschüler einzuführen - "ein
problema sches Signal, das genau in die falsche Richtung weist" nennt das Heiner Bielefeldt,
Direktor des Ins tuts für Menschenrechte in Berlin. "Das bringt den Sonderschülern nichts",
sagte er im SPIEGEL-ONLINE-Interview. Ein solcher Abschluss diene nur dazu, die
Schulabbrecher-Sta s k zu beschönigen. Die Kultusminister "bewerten die
Sonderschulabschlüsse neu - und reduzieren auf diese Weise auf einen Schlag ganz massiv ihre
Sta s k der Schüler ohne Abschluss", so Bielefeldt. Behinderte Kinder würden aber weiterhin
abgeschoben, ansta mit anderen gemeinsam lernen zu dürfen.
Die Uno-Konven on bricht nach den Worten von Marianne Demmer, der Vize-Vorsitzenden der
Bildungsgewerkscha GEW, mit der "selek ven deutschen Schultradi on". Für nahezu alle
Behindertenverbände und auch viele Wissenscha ler beruht die Konven on auf der Idee einer
"inklusiven Gesellscha ", in der jeder Mensch von Anfang an dazugehört. Gesunde Kinder
lernen, mit Behinderten zu leben und keine Scheu vor dem Umgang mit ihnen zu haben. Für
behinderte Schüler bedeute der gemeinsame Schulbesuch Ansporn für eigene Leistungen, sagt
der Schulforscher Rolf Werning von der Universität Hannover.
Integrierte Klassen machen natürlich den Einsatz speziell ausgebildeter Sonderpädagogen nicht
überflüssig. Häufig unterrichten sie gleichzei g mit dem Fachlehrer. Der Behinderte bekommt
Aufgaben, die seinem Können angepasst sind. "Das erfordert von den Lehrern eine unglaublich
differenzierte Vorbereitung", so die Berliner Lehrerin Barbara Bo . GEW-Frau Demmer sagt:
"Das erfordert auch ständige Fortbildung."
Die Geschichte des deutschen Sonderschulwesens ist über hundert Jahre alt: von der
klassischen Hilfsschule zur Sonderschule - oder, wie es heute heißt, zur "Förderschule mit
besonderem Schwerpunkt". So groß wie in Deutschland ist der Anteil der getrennt
unterrichteten Schüler aber in kaum einem anderen Industriestaat. Karin Evers-Meyer (SPD),
Behindertenbeau ragte der Bundesregierung, empfindet das als "beschämend für ein
zivilisiertes Land". Vom Uno-Abkommen erwartet sie nun einen echten Au ruch. "Ein
integra ves Bildungssystem ist im Kern ohne Alterna ve."
Evers-Meyer will, dass auch in Deutschland der interna onal übliche Begriff "Inklusion" für die
weltweit angestrebte Schule von morgen verwendet wird - denn: "Integrieren muss man etwas
Fremdes." Inklusion bedeutet laut Uno-Konzept dagegen, dass Strukturen und Didak k von
vornherein auf die Unterschiedlichkeit der Schüler und individuelles Fördern und Fordern
ausgerichtet sind.
Die Kultusminister hingegen wollen erst einmal Zeit gewinnen. Eine Arbeitsgruppe soll zunächst
Begriffe klären und Vorschläge für eine Neufassung der seit 1994 in Deutschland geltenden
Sonderschul- Empfehlung vorlegen. Dabei stehen die Kultusminister unter Druck.
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Eine erste Elternklage, die sich auf die neue Uno-Konven on stützt, ist bereits eingereicht. Und
Beobachter erwarten unzählige Folgeklagen. Viele Eltern berufen sich dabei auch auf
Bundespräsident Horst Köhler, der schon vor einem Jahr den Kampf einer Mu er für die
Einschulung ihrer behinderten Tochter in eine normale Grundschule mit einem Verdienstorden
ausgezeichnet hat.
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