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Gerhart Hauptmann

Bahnwärther Thiel

Inhalt
Ort der Handlung ist die Umgebung von Schön-Schornstein bei Erkner. Bahnwärter Thiel ist
ein frommer und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren zuverlässig seinen Dienst erfüllt.
Ein Jahr nach dem Tod seiner geliebten Frau Minna heiratet er aus Vernunftgründen eine
stämmige Magd namens Lene. Zusammen bekommen sie ein zweites Kind, dessentwegen
Thiels erster Sohn Tobias von Lene vernachlässigt wird. Thiel, den eine tiefe Verehrung an
seine verstorbene Frau Minna bindet, wird mehr und mehr von seiner zweiten Frau, die das
neue Oberhaupt der Familie ist, abhängig. Ihre Misshandlungen an Tobias werden zwar von
Thiel entdeckt, wegen seiner Abhängigkeit von Lene allerdings unternimmt er nichts, um
seinen Sohn zu schützen. Dennoch: Der fürsorgliche Vater verbringt viel Zeit mit Tobias und
kümmert sich liebevoll um ihn.
Die Situation macht aus Thiel einen verstörten Mann, der sich immer häufiger in Visionen
von seiner verstorbenen Frau flüchtet. Diese entstehen durch die Gewissensbisse, die er
bekommt, weil er trotz seines Versprechens, welches er seiner verblichenen Frau gab, zulässt,
dass Lene Tobias misshandelt. In seinem einsamen Wärterhäuschen an der Bahnstrecke
Berlin-Frankfurt (Oder) im Wald verliert er sich zunehmend in nächtliche Anbetungen seiner
Minna, was allmählich krankhafte Züge annimmt. In einer dieser Visionen erscheint ihm ein
Bild seiner toten Frau, die sich über den Bahndamm wandelnd von ihm abwendet und etwas
in Tücher Gewickeltes davonträgt. Seine Seele ist voller Scham über die erniedrigende
Duldung seines jetzigen Lebens. Nach Dienstende kann er es kaum erwarten, nach Hause zu
kommen, und scheinbar sind die quälenden Bilder beim Anblick seines rotwangigen Sohnes
wieder verschwunden.
Beim Bahnwärterhäuschen wird Thiel ein Stück Acker überlassen, welches Lene beim
nächsten Tagdienst Thiels umzugraben und mit Kartoffeln zu besetzen beschließt. Das
Eindringen seiner neuen Frau in den beruflichen Bereich ist ihm nicht recht. Sein fehlender
Widerstand führt schließlich zur Umsetzung von Lenes Willen. Zusammen zieht die Familie
los. Zunächst tritt Thiel einen Spaziergang mit seinem Sohn an, obwohl Lene dagegen ist, da
jemand auf das zweite Kind aufzupassen hat. Tobias kommt aus dem Staunen nicht mehr
heraus und ist verblüfft über die Arbeit seines Vaters. In ihm erwachen Träume, später
Bahnmeister zu werden. Am Nachmittag tritt Thiel seinen Dienst an, während Lene die
Kartoffeln setzt. Auf seine Warnung, Tobias zu beaufsichtigen, reagiert sie mit einem
Schulterzucken.
Ein Schnellzug ist gemeldet, braust heran, gibt aber plötzlich Notsignale und bremst. Thiel ist
bestürzt und rennt zur Unglücksstelle. Tobias wurde vom Zug erfasst. Zwar noch atmend,
aber mit gebrochenen Gliedern wird der Junge auf eine Trage gelegt und zur nächsten Station
gebracht. Wie betäubt geht Thiel zurück an seine Arbeit, er hat wieder Visionen, stolpert die
Gleise entlang und redet mit seiner unsichtbaren Frau, verspricht ihr, sich zu rächen.
Schreiend meldet sich der zurückgebliebene Säugling. Thiel beginnt ihn in rasender Wut zu
würgen, aber die Signalglocke reißt ihn aus seinem Wahnsinn. Ein Zug, der Arbeiter
transportiert, bringt den toten Tobias zurück, dahinter folgt die verweinte Lene. Thiel bricht
bewusstlos zusammen, wird von zwei Arbeitern nach Hause getragen und in sein Bett gelegt.
Lene sorgt sich aufopferungsvoll um ihren Gatten. Beunruhigt, aber erschöpft, schläft auch sie
ein. Einige Stunden später bringen die Arbeiter auch Tobias’ Leichnam von der Unfallstelle
nach Hause. Sie entdecken die Frau erschlagen und den Säugling mit durchschnittener Kehle.

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Sie wurden von Thiel ermordet. Thiel wird später an der Stelle auf den Gleisen sitzend
gefunden, wo sein Sohn überfahren wurde. Nach vergeblichem Zureden gelingt es erst
mehreren Männern, Thiel, der die ganze Zeit über die Mütze seines verstorbenen Sohnes
streichelt, gewaltsam von den Gleisen zu entfernen. Er wird zunächst in ein
Untersuchungsgefängnis nach Berlin und noch am gleichen Tag schließlich in die
Irrenabteilung der Charité eingeliefert.

Bahnwärter Thiel

 Äußeres: Thiels robustes Erscheinungsbild („herkulische Gestalt)“) steht im Kontrast


zu seinem sensiblen Inneren. Beispielhaft für dieses ist seine vergeistigte Liebe zu seiner
ersten Frau Minna, von deren Tod er tief getroffen ist.
 Verhältnis zu Tobias: Thiel ist seinem Sohn Tobias in großer Liebe verbunden, kann
ihn aber nicht vor den gewalttätigen Übergriffen Lenes schützen. Thiel fühlt sich durch
Tobias an Minna erinnert.
 Verhältnis zu Lene: Thiel heiratet nach dem Tod von Minna erneut, doch die
Beziehung zu seiner zweiten Frau Lene, mit der er hauptsächlich aus finanziellen
Gründen und da er jemanden braucht, der sich um Tobias kümmert, eine
Zweckgemeinschaft eingeht, beschränkt sich weitgehend auf die sexuelle Ebene.
 Verhältnis zur verstorbenen Minna: Parallel zu der realen, alltäglichen Beziehung
mit Lene gedenkt Thiel der verstorbenen Minna mit kultähnlichen Handlungsweisen in
seinem Wärterhäuschen am Bahndamm, das ihm „zur Kapelle“ wird: „Eine verblichene
Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel
aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd […] und geriet dabei in eine Ekstase, die
sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.“
 Abhängigkeit: Thiel ist psychisch abhängig vom Traumbild der verstorbenen Minna
und physisch abhängig von Lene (sexuelle Abhängigkeit, Angewiesenheit auf ihre Arbeit
im Haushalt).
 Passivität: Thiels psychische Entwicklung sowie der Mord an Lene und deren Kind
sind von Anfang an „vorbestimmt“, da Thiel durch seine Passivität sein Schicksal selbst
nicht verändern kann.
 Wahnsinn: Im Lauf der Handlung ist Thiel zunehmend entrückt, seine Visionen
nehmen zu, eine Neigung zum Wahnsinn (Progression einer psychischen Krankheit) lässt
sich erkennen. Seinen Wahnvorstellungen ist Thiel oft „bewusstlos“ ausgeliefert, es
gelingt ihm am Ende nicht mehr, ihrer Herr zu werden: „Er suchte Ordnung in seine
Gedanken zu bringen, vergebens! Es war ein haltloses Streifen und Schweifen. Er
ertappte sich auf den unsinnigsten Vorstellungen und schauderte zusammen im
Bewusstsein seiner Machtlosigkeit.“
 Soziale Determiniertheit: Thiel, stellvertretend für die Menschen seiner Zeit und
sozialen Schicht, ist das Produkt von Milieu und Vererbung.
 Antiheld: Thiel ist ein klassischer Antiheld, ist kein souverän Handelnder, sondern
wird von äußeren Umständen (Tod Minnas, gesellschaftlicher Zwang zur erneuten Heirat,
Notwendigkeit der Verbindung zu Lene, um Tobias versorgen zu können) beeinflusst und
gelenkt → Bezug zur Sozialen Frage im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Thiel ist
Gefangener seiner begrenzten Ordnung und abhängig von seinem Beruf.

Minna

 Thiels erste Frau, nach zwei Jahren Ehe bei der Geburt von Tobias verstorben

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 Namensgebung vermutlich in Verbindung mit mhd. Minne (Liebe)
 Äußeres: feingliedrig, kränklich, blass (im Gegensatz zu Thiels stämmiger Statur)
 Obwohl körperlich nicht mehr anwesend, bestimmt Minna immer noch Thiels
Gedanken und Träume und steht ihm näher als Lene
 Wird von Thiel nach ihrem Tod stark idealisiert
 Thiel pflegt zur verstorbenen Minna eine geistige und beinahe religiöse Liebe, im
Gegensatz zur körperlichen Leidenschaft, die ihn mit Lene verbindet.

Lene

 Thiels zweite Frau (sollte für Tobias eine Ersatzmutter sein), frühere Kuhmagd.
 Physisches Gegenteil der zarten, zierlichen Minna: grobe, füllige Erscheinung. Passt in
Bezug auf die Statur eher zu Thiel (kräftig, robust).
 „Unverwüstliche Arbeiterin“ bzw. „musterhafte Wirtschafterin“ (Vertreterin der
unteren Schicht des Proletariats).
 Darstellung als herrschsüchtig, primitiv, klatschsüchtig, zänkisch, tyrannisch, und
später auch (körperlich) brutal. In sprachlichen Bildern wird sie mit einer Maschine oder
der Eisenbahn verglichen (siehe unten)
 Kann Tobias von Anfang an nicht leiden. Diese Abneigung verstärkt sich noch, als
Lene selbst einen kleinen Sohn, dessen Name nicht genannt wird, von Thiel bekommt,
den sie in allem Tobias vorzieht, während sie letzteren verbal und körperlich misshandelt.
 Dominiert in der Beziehung zu Thiel und behauptet auch die dominante Stellung in
der Familie. Thiel wagt nicht, Lene von den Misshandlungen Tobias’ abzuhalten.
 Andere Einwohner des kleinen Dorfmilieus nennen sie „das Mensch“ (abwertend für
„Frau“) oder „das Tier“.
 Wegen Vernachlässigung (sie beaufsichtigt ihn nicht ausreichend) anscheinend Schuld
an Tobias’ Tod.

Tobias

 Erstes Kind Thiels aus der Ehe mit Minna


 Sucht Nähe und Liebe des Vaters, erweckt dabei Hass/Eifersucht der Stiefmutter.
Folge: Misshandlung durch Lene.
 Er bewundert seinen Vater, will einmal Bahnmeister werden.
 Verbindungsglied zwischen Thiel und Minna
 Äußeres: kränklich, schwach, rothaarig (wie sein Vater), blass (wie seine Mutter)
 Wird auf Grund von beabsichtigter oder fahrlässiger Unaufmerksamkeit Lenes vom
Zug überfahren und stirbt an den Folgen

Symbolik
Zentrales Dingsymbol in „Bahnwärter Thiel“ ist die Eisenbahn. Im 19. Jh. war sie ein weithin
sichtbares Zeichen des anbrechenden Maschinenzeitalters, das mitunter als bedrohlich
empfunden wurde, auch hinsichtlich der sozialen Probleme, die die Industrialisierung v.a. im
Milieu der Arbeiterschaft erzeugte. Physische und soziale Bedrohung durch die „Macht der
Maschinen“, denen die Menschen in ihrem Lebensrhythmus unterworfen sind, kommen in der
Eisenbahn-Symbolik der Novelle deutlich zum Ausdruck:
Die zerstörerische Kraft der Eisenbahn erlebt Thiel mehrfach: Die stille Andacht an Minna
wird durch „vorbeitobende Bahnzüge unterbrochen“, er selbst wird durch eine aus einem Zug
geworfene Flasche verletzt, ein Rehbock wird gerammt und schließlich führt der Zugunfall

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am Ende nicht nur zum Tod von Tobias, sondern kostet in der Folge auch Lene und Thiels
zweitem Sohn das Leben.
Wie ein Zug, der seine Gleise nicht verlassen kann, so ist auch Thiels Leben durch seine
psycho-soziale Determiniertheit „auf Schienen“ gestellt. Da er seine Abhängigkeit von Lene
und seinen sozialen Stand nicht durchbrechen kann, es auch nicht versucht, ist er
fremdbestimmt und sein Leben wird auf fester Bahn gesteuert. Wie ein Zug „rast“ auch die
Handlung dem Abgrund zu, da Thiel angesichts der bedenklichen Entwicklungen
(Misshandlung des Sohnes, zunehmende Abhängigkeit von Lene, gesteigerte Flucht in die
Traumwelt) nur passiv reagiert.
Die in der Novelle dargestellten Züge werden nicht als vom Menschen geschaffene und von
ihm kontrollierte Kraft, sondern als Fortsetzung der dämonischen Macht der Natur dargestellt:
„Zwei rote, runde Lichter durchdrangen die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen
her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein
Blutregen vom Himmel. Thiel fühlte ein Grauen und, je näher der Zug kam, eine umso
größere Angst.“
Unterstützt wird die Eisenbahnsymbolik durch thematisch an sie angelehnte sprachliche
Bilder: „Thiel konnte sich erheben und seinen Dienst tun. Zwar waren seine Füße bleischwer,
zwar kreiste um ihn die Strecke wie die Speiche eines ungeheuren Rades, dessen Achse sein
Kopf war; aber er gewann doch wenigstens Kraft, sich für einige Zeit aufrecht zu halten.“
Schließlich wird die Eisenbahnsymbolik auch auf Lene übertragen: Lene, von der für Thiel
eine „unbezwingbare, unentrinnbare“ Macht ausgeht, die um ihn ein „Netz von Eisen“
legt, arbeitet auch mit der „Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete
sie sich auf und holte in tiefen Zügen Luft […] mit keuchender, schweißtropfender
Brust.“ Wie die regelmäßigen Züge, die „milchweiße Dampfstrahlen“ hervorschießen, dringt
nun auch Lene in Thiels stillen Andachtsort am Bahnwärterhäuschen ein und am Ende
bringen der Zug und Lenes Unachtsamkeit Tobias den Tod.
Dass Thiel auf dem Weg zu seiner Arbeit täglich die Spree überqueren muss, steht für die
Abgeschiedenheit, in der die Familie Thiel lebt.
Hauptmann zeigt an der Figur Thiel seine Sicht des determinierten Menschen, getrieben von
den Mächten der Psyche und der Sinnlichkeit.

Naturalistische Merkmale im Bahnwärter Thiel

 Antiheld als Hauptfigur
 Arbeiteralltag (Soziale Frage im 19. Jh.)
 Milieuzugehörigkeit der Hauptpersonen, in der sie gefangen sind und die ihr Leben
bestimmt.
 Ziel der Novelle: Arbeiterelend soll in bürgerlichen Kreisen angeprangert werden
 sehr genaue und detaillierte Beschreibung des Geschehens
 genaue Orts- und Zeitangaben (z. B. Schön-Schornstein, Neu Zittau)
 chronologisches Erzählen (bis auf Traum)
 Sekundenstil: Beispiel aus Bahnwärter Thiel im dortigen Artikel.
 Menschenbild: Mensch als Produkt von Milieu und Vererbung
 Dominanz der Triebhaftigkeit
 Darstellung des Alltäglichen, Niedrigen, Hässlichen (bewusste Betonung des Elends)

Antinaturalistische Merkmale im Bahnwärter Thiel

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 starke Farbmetaphorik (vor allem rot, schwarz)
 viele Naturbilder, Metaphern, Vergleiche, Symbole (u. a. romantische Elemente)
 kaum Umgangssprache, kein Dialekt, wenig wörtliche Rede
 Sympathielenkung
 Ausgestaltung von Thiels Charakter – psychische Tiefen
 zu Beginn der Novelle Raffung von 10 Jahren
 Vorgriffe (z.B. Traum)
 Traum = mystische Züge, Verschmelzen von Realität mit Wahn

Bahnwärther Thiel als "novellistische Studie"


Mit dem Studienbegriff weist der von Hauptmann gewählte Untertitel auf die Art des
Beobachtens hin und schafft den Eindruck, in der Novelle eine reale, wahre Geschichte (bzw.
deren Bericht/Studie) vorliegen zu haben. Ähnlich einer wissenschaftlichen Studie wird hier
vom Erzähler fast ohne eigenen Kommentar das Geschehen beschrieben. Die Wahl des
Gegenstandes (der dem Wahnsinn verfallende Bahnwärter in seiner ärmlichen Umgebung) ist
typisch für die Epoche des Naturalismus, wenn auch diesem Werk von Hauptmann eine
ausschließliche Einordnung in den Naturalismus nicht gerecht wird.
Novellistische Merkmale im Bahnwärter Thiel

 geringe Personenzahl
 geringer Textumfang (etwa im Ausmaß einer Erzählung)
 kurze Exposition (Vorstellen der Hauptpersonen) am Beginn
 Verwendung von Symbolen (Eisenbahn)
 Handlung in sich geschlossen und linear verlaufend
 Wende- bzw. Höhepunkt am Schluss
 „Unerhörte Begebenheit“ im Sinn der Novelle von Goethe: unerhört/noch nicht gehört
= neuartig; Begebenheit = realitätsnah, vorstellbar. Als eine solche „unerhörte
Begebenheit“ kann der Doppelmord Thiels am Ende gesehen werden.

Inhaltsangabe (2)

In der Novelle erzählt der Autor, Gerhart Hauptmann, das Leben und den Alltag des
Bahnwärter Thiels. Er ist ein aufrichtiger, frommer Mann der zehn Jahre lang gewissenhaft
seine Arbeit verrichtet. Er verheiratet sich eines Tages mit seiner ersten Frau Minna.
Zusammen haben sie ein Kind, das den Namen Tobias erhält. Als seine Frau stirbt, heiratet er
ein Jahr später, aus Vernunftgründen, die Kuhmagd Lene. Nachdem seine zweite Frau ihm ein
zweites Kind gebärt, wird der erste Sohn von Lene vernachlässigt. Thiel hat eine, immer wie
stärker werdende, sexuelle Abhängigkeit von seiner zweiten Frau, die das neue Oberhaupt der
Familie wird, obwohl er immer noch eine starke Bindung zu seiner verstorbenen ersten Frau
hat. Auch als er entdeckt, dass Lene seinen Erstgeborenen misshandelt, unternimmt er nichts
gegen sie. Trotzdem versucht der fürsorgliche Vater, so viel Zeit wie möglich mit Tobias zu
verbringen. 

Diese Situation verstört Thiel immer wie mehr und er flüchtet immer häufiger in Visionen
seiner Frau. Diese entstehen aus dem schlechten Gewissen, das er gegenüber Minna hat, weil
Thiel ihr ein Versprechen gab, dass es Tobias gut gehen wird. Die Anbetungen seiner
verstorbenen Frau nehmen immer wie krankhaftere Züge an. Jedoch nach Dienstende kann er
es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, die quälenden Gedanken beim Anblick seines
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Sohnes zu vergessen und sein sexuelles Verlangen zu stillen.

Der Bahnwärter bekommt eines Tages ein Stück Land an der Bahnlinie von seinem
Vorgesetzten, da es für diesen zu abgelegen sei. Lene will dort Kartoffeln anpflanzen, was
Thiel nicht gefällt, da sie sich in seinen beruflichen Bereich einmischt. Trotz des Verbots
Lenes, unternimmt Thiel einen Spaziergang mit seinem Erstgeborenen. Dieser ist so sehr von
der Arbeit seines Vaters fasziniert, dass in ihm der Wunsch, ein Bahnwärter zu werden,
gestärkt wird. An diesem Nachmittag beginnt Thiels zweite Frau mit dem Anpflanzen der
Kartoffeln. Mit ihr sind auch seine beiden Söhne auf dem Feld. Auf seine Anfrage zum
Aufpassen auf Tobias reagiert sie nur mit Schulterzucken. Plötzlich hört er Notsignale des
heranrasenden Schnellzuges und Bremsgeräusche. Ein Bote teilt ihm mit, dass ein Unfall
geschehen sei. Bestürzt eilt er zur Unfallstelle und sieht dort seinen Sohn, der vom Zug erfasst
wurde. Er atmete zwar noch, jedoch seine Glieder waren gebrochen. Tobias wird auf eine
Trage gelegt und Thiel geht wie betäubt seiner Arbeit nach. Später, als er wieder im
Wärterhäuschen war, gibt er sich wieder den Visionen von Minna hin und verspricht ihr, sich
zu rächen (Seite 36, 26ff). Plötzlich hört Thiel den Säugling im nahen Birkenwäldchen. Er eilt
hin und sieht das kleine Kind am Schreien. „Ein roter Nebel umwölkte seine Sinne, […]“ und
der Wärter umschliesst den kleinen Hals mit seinen Händen und drückt  zu. Die Warnglocke
eines herannahenden Zuges reisst Thiel aus dem Wahnsinn. Dieser bringt den toten Tobias
und die verweinte Lene zurück. Daraufhin bricht Thiel zusammen und wird von Arbeitern, die
auf dem Zug waren, nach Hause getragen. In seinem Heim pflegt ihn seine Frau sehr gut, bis
auch sie vor Erschöpfung einschläft. Einige Stunden später bringen die Arbeiter auch den
Leichnam von Tobias nach Hause. Sie finden Lene erschlagen und den Säugling mit
durgeschnittener Kehle im Haus vor. Sie wurden beide vom Bahnwärter umgebracht. Er wird
später an der Stelle gefunden, wo sein Sohn vom Zug erfasst wurde. Er sitzt auf den Gleisen
und streichelt die Mütze von Tobias. Nach längerem Zureden gelingt es erst einigen Männern,
den Bahnwärter gewaltsam von den Gleisen zu zerren. Er wird noch am gleichen Tag in ein
Untersuchungsgefängnis nach Berlin gesteckt. Schliesslich liefert man ihn in die
Irrenabteilung des „Charités“ ein.

Inhaltsangabe (3)

Die Novelle »Bahnwärter Thiel« von Gerhard Hauptmann aus dem Jahr 1888 handelt von
dem Bahnwärter Thiel, der den Tod seines geliebten Sohnes aus erster Ehe nicht überwinden
kann und letztlich, geistig verwirrt, einen Mord begeht. Die Novelle spielt Ende des 19.
Jahrhunderts sowohl in dem Ort Schön-Schornstein als auch an dem Arbeitsplatz Thiels, dem
kleinen Wärterhäuschen an der Bahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt/Oder.

Der Bahnwärter Thiel ist ein sehr ruhiger und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren
immer zuverlässig seiner Arbeit nachgeht. Eines Tages erleidet er einen schlimmen
Schicksalsschlag, als seine geliebte Frau Minna, mit der er einen Sohn, Tobias, hat, stirbt.
Nach ungefähr einem Jahr heiratet er die dicke, herrschsüchtige Magd Lene. Die Ehe wird
nicht aus Liebe, sondern aus Vernunftgründen geschlossen, denn Thiel will nicht, dass sein
Sohn ohne Mutter aufwächst. Lene wird schwanger und das zweite Kind kommt auf die Welt,
weshalb Tobias von Thiels neuer Frau immer mehr vernachlässigt wird.
Mit der Zeit wird Thiel immer mehr von Lene, die zum neuen Oberhaupt der Familie wird,
abhängig und kann sich ihr nicht widersetzen. Als er mitbekommt, dass Tobias regelrecht von
Lene misshandelt wird, ist er aufgrund der sexuellen und psychischen Abhängigkeit zu Lene

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nicht im Stande etwas zu unternehmen. Innerlich jedoch wird er von Schuld gegenüber seiner
verstorbenen Frau zerfressen, da er ihr versprochen hat, immer auf Tobias aufzupassen.
Thiel flüchtet sich, von seinem Gewissen geplagt, immer mehr in eine Art Phantasiewelt, in
der er auch Visionen von seiner verstorbenen Frau wahrnimmt. In dem kleinen
Wärterhäuschen an der Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder gibt er
sich diesen Visionen von seiner Frau Minna hin. Sein Verhalten wird zunehmend krankhaft.

Eines Tages wird Thiel am Bahnwärterhäuschen etwas Land überlassen, welches sofort von
Lene zum Kartoffelpflanzen übernommen wird. Obwohl Thiel nicht damit einverstanden ist,
dass seine neue Frau in seinen Arbeitsbereich eindringt, kann er sich ihr nicht widersetzen. So
kommt es, dass die gesamte Familie zu dem Wärterhäuschen aufbricht. Dort angekommen
unternimmt Thiel einen Spaziergang nur mit Tobias. Dieser ist von der Arbeit seines Vaters
begeistert und wünscht sich später einmal Bahnmeister zu werden. Thiel ist stolz. Am
Nachmittag muss Thiel zu seinem Dienst antreten und bittet Lene auf Tobias aufzupassen.
Ein Schnellzug kommt angebraust und fängt plötzlich an zu bremsen und Notsignale zu
geben. Thiel rennt sofort zur Unglücksstelle und sieht Tobias liegen. Sein Sohn ist von dem
Zug erfasst worden. Noch atmend, jedoch mit sehr schweren Verletzungen wird Tobias auf
eine Trage und zur nächsten Krankenstation gebracht.

Thiel geht zurück an seine Arbeit, ist jedoch wie betäubt und flüchtet sich erneut in Visionen.
In diesen verspricht er seiner Frau Minna Rache, denn er gibt Lene die Schuld an dem Unfall,
da diese nicht auf Tobias aufgepasst zu haben scheint. Sein Hass gegen sie wird immer
größer. Plötzlich fängt der Säugling an zu weinen und Thiel, rasend vor Wut, beginnt das
Baby zu würgen.

Erst das Warnsignal des Zuges, welcher seinen Sohn zurückbringt, reißt ihn zurück in die
Wirklichkeit. Vom letzen Wagen wird der Leichnam Tobias getragen, dahinter steigt Lene
vom Wagen. Thiel bricht beim Anblick seines toten Sohnes bewusstlos zusammen und wird
von Arbeitern nach Hause getragen. Den Leichnam will man später holen. Zu Hause kümmert
sich Lene aufopferungsvoll um Thiel und schläft anschließend völlig erschöpft ein. Nach
einigen Stunden wird der Leichnam Tobias von den Arbeitern nach Hause getragen, dabei
entdecken sie Lene erschlagen und das Baby mit durchschnittener Kehle.
Thiel wird später auf den Gleisen sitzend und Tobias Mütze streichelnd an der Stelle
gefunden, an der seinen Sohn der Zug erfasst hat. Er wird in die Irrenanstalt der Charité
eingeliefert.

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Frank Wedekind
Frühlings Erwachen

Frühlings Erwachen (Untertitel „Eine Kindertragödie“) ist ein 1891


erschienenes gesellschaftskritisch-satirisches Drama von Frank Wedekind. Das Stück ist die
Geschichte mehrerer Jugendlicher, die im Zuge ihrer Pubertät mit den Problemen psychischer
Instabilität und der gesellschaftlichen Intoleranz ihrer sexuellen Neugier konfrontiert sind. Die
Uraufführung fand erst am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen unter der
Regie von Max Reinhardt und – ungenannt – von Hermann Bahr statt.

Inhalt
1. Akt
Wendla Bergmann und ihre Mutter sind unterschiedlicher Auffassung über die Wahl des
richtigen Kleides. Die Mutter will, dass ihre Tochter ein neues Kleid anzieht, das sie gerade
genäht hat. Wendla dagegen hätte lieber weiterhin das alte, kürzere Kleidchen.
In der nächsten Szene reden Melchior Gabor und sein Freund Moritz Stiefel über ihre
Zukunft, Erziehung und Sexualität. Dabei stellt sich Moritz als recht unaufgeklärt heraus.
Anfangs will Melchior ihn mündlich aufklären, doch Moritz ist dies unangenehm. Schließlich
einigen sich beide darauf, dass Melchior für Moritz schriftliche und bildliche Erläuterungen
über die Fortpflanzung anfertigt und sie diesem am nächsten Tag unbemerkt zukommen lässt,
sodass Moritz sie später in aller Ruhe lesen kann.
Wendla und ihre Mitschülerinnen Thea und Martha unterhalten sich über die Jungen aus
Melchiors Klasse. Martha sagt, dass sie des Öfteren von ihren Eltern geschlagen wird, was bei
Wendla Unverständnis und Neugierde weckt. Anschließend sprechen sie über die
Möglichkeit, Kinder zu bekommen.
Vor dem Gymnasium dreht sich das Gespräch der Schüler vor allem um Moritz, der
versetzungsgefährdet ist. Als dieser erscheint, berichtet er aufgeregt, dass er sich heimlich ins
Konferenzzimmer geschlichen und aus den Unterlagen entnommen habe, dass er doch noch
versetzt wird.
In der fünften und letzten Szene treffen sich Melchior und Wendla zufällig im Wald, wo
Wendla eigentlich auf der Suche nach Waldmeister für ihre Mutter ist. Sie setzen sich unter
eine Eiche und unterhalten sich. Im Laufe des Gespräches fordert Wendla Melchior auf, sie zu
schlagen, da sie dies bisher nur vom Erzählen her kannte und es selbst erleben will. Auf
Wendlas Flehen führt Melchior diese Handlung erst zögerlich, dann immer heftiger aus.
Melchior ist selbst erschüttert über seine Tat und flieht.

2. Akt
Am Abend treffen sich Melchior und Moritz in Melchiors Zimmer. Moritz klagt über den
Schuldruck, der schwer auf ihm laste, und erzählt, dass er häufig an das Märchen von der
„Königin ohne Kopf“ denken müsse. Als Melchiors Mutter ihnen Tee bringt, äußert sie zwar
ihre Bedenken darüber, dass die beiden Goethes „Faust“ lesen, überlässt Melchior aber die
Wahl seiner Bücher und betont damit ihre Toleranz gegenüber ihrem Sohn.
Unterdessen drängt Wendla, deren Schwester soeben ein Kind bekommen hat, ihre Mutter
nachdrücklich dazu, sie aufzuklären. Diese gerät allerdings in Erklärungsnot, da der Anstand
ihr gebietet, dies zu unterlassen. Wendla erfährt nur, dass Heirat und große Liebe erforderlich
seien, um Kinder zu bekommen.
Hänschen Rilow, einer von Melchiors unverklemmteren Mitschülern, betrachtet auf der
Toilette die Reproduktion eines Kunstwerks (Venus von Palma il Vecchio), wobei er sich
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selbst befriedigt, ausschweifende Phantasien schildert und das Bild anschließend in die
Kloake fallen lässt.
Wendla trifft Melchior auf einem Heuboden an. Beide schlafen miteinander, ohne dass sich
Wendla der Folgen dieser Handlung bewusst ist.
Melchiors Mutter beantwortet einen Brief von Moritz, der um Geld zur Flucht nach Amerika
bittet. Sie schreibt, sie könne und wolle die Summe nicht aufbringen, erläutert Befremden
über Moritz’ suizidale Anspielungen und spricht ihm Mut zu.
Nach Erhalt dieses Antwortschreibens ist Moritz entschlossen, seine Andeutungen in die Tat
umzusetzen. In Todeserwartung durchstreift er das Gebüsch nahe einem Fluss, wobei er sein
Leben Revue passieren lässt und sich schämt, Mensch gewesen zu sein, ohne das
„Menschlichste“ – die körperliche Liebe – erfahren zu haben. Er wird von Ilse, einem
jungen Modell, überrascht. Sie erzählt von ihren eigentümlichen Erlebnissen
als Bohémienne in der Künstlerwelt und lädt Moritz ein mitzukommen. Moritz widersteht
jedoch den verlockenden Aussichten und zieht sich ins Ufergebüsch zurück, wo er den Brief
von Melchiors Mutter verbrennt und sich dann erschießt.

3. Akt
In einer Konferenz erläutert der Rektor vor den Professoren die durch Moritz’ Suizid
hervorgerufene heikle Lage für das Gymnasium. Die versammelte Lehrerschaft ist am Thema
völlig desinteressiert. In dieser Szene zeigt sich das Komisch-Tragische der Geschichte am
deutlichsten: Die Lehrerschaft stimmt unter Leitung des Rektors ab, ob und welches Fenster
geöffnet werden solle. Melchior wird gerufen und aufgrund seiner für Moritz angefertigten
kommentierten Illustrationen beschuldigt, für den Tod seines Klassenkameraden
verantwortlich zu sein. Er erhält keine Gelegenheit zur Rechtfertigung.
Moritz wird in Anwesenheit von Verwandten, Lehrern und Schülern durch den Pastor in
strömendem Regen auf dem Friedhof beigesetzt. Der Tote wird aufgrund der Umstände seines
Ablebens von den Erwachsenen scharf kritisiert; sein Vater betont sogar unter Tränen, Moritz
sei nicht sein Sohn gewesen. Die Schüler machen makabre Spekulationen über die
Todesumstände, bevor sie sich wieder ihren Schularbeiten zuwenden. Schließlich stehen noch
Martha und Ilse, die Moritz tot auffand, vor dem Grab und nehmen Abschied. Martha bittet
Ilse um die aufgefundene Pistole, jedoch will Ilse diese als Erinnerungsstück behalten.
Melchiors Rolle beim Tod seines Freundes führt bei seinen Eltern zum Streit. Während der
Vater die liberalen Erziehungsmaßnahmen seiner Frau als Ursache sieht und über eine
tiefgreifende Umformung von Melchior nachdenkt, stellt sich diese schützend vor ihren Sohn.
Auf geschickte Weise ruft der Vater ein Umdenken bei ihr hervor. Er habe von Wendlas
Mutter erfahren, dass diese einen Brief von Melchior an ihre Tochter abgefangen habe, in
dem er Reue für seine Handlungen zum Ausdruck bringt. Melchiors Mutter ist erschüttert und
sieht nun ein, dass ihr einst kindlich unschuldiger Sohn moralisch degeneriert sein müsse. Als
der Vater außerdem noch davon berichtet, dass Melchior seinen Onkel um Geld gebeten habe,
um sich nach England abzusetzen, wird von beiden Elternteilen einvernehmlich beschlossen,
Melchior in eine Korrektionsanstalt zu schicken.
In der Korrektionsanstalt, unter anderen stumpfsinnigen Jungen, die nach langer
Gefangenschaft nur mehr an Beschäftigungen wie Gruppenmasturbation und Raufen Gefallen
finden, setzt sich Melchior mit seiner Schuld gegenüber Wendla auseinander und schmiedet
Fluchtpläne.
Wendla fühlt sich krank und liegt im Bett, der hinzugezogene Arzt bleibt ihr gegenüber
diskret. Wendlas Mutter redet ihr zunächst ein, sie habe Bleichsucht, erklärt ihr aber
schließlich den wahren Grund für ihr seltsames Befinden: eine Schwangerschaft. Gegen
Wendlas Vorwurf, man habe ihr nicht die volle Wahrheit gesagt, verteidigt die Mutter sich
damit, dass sie nach dem Vorbild ihrer eigenen Mutter gehandelt habe. Um eine

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unverheiratete Mutterschaft abzuwenden, veranlasst Wendlas Mutter eine Fremdabtreibung,
an der Wendla stirbt.
In der vorletzten Szene liegen die beiden Schüler Hänschen Rilow und Ernst Röbel
miteinander im Gras und genießen den romantischen Abend in vollen Zügen, während sie
sich gelassen Gedanken über ihre Zukunft machen. Sie zeigen dabei homosexuelle
Neigungen, küssen sich und gestehen einander ihre Liebe.
Melchior ist aus der Korrektionsanstalt geflohen und auf den Friedhof geflüchtet. Beim
Anblick von Wendlas Grab befallen ihn Schuldgefühle und Selbstmordgedanken. Als er sich
von diesem traurigen Ort entfernen will, begegnet ihm der tote Moritz, der seinen eigenen
Kopf unter dem Arm hält. Moritz rühmt die über alles Irdische erhabene Unbeschwertheit der
Toten und will Melchior auf diese Weise überreden, ihm ins Grab zu folgen. Doch bevor
Melchior sich dazu bereit erklären kann, taucht ein „vermummter Herr“ auf, der ihn von
seinen Selbstmordgedanken abhält. Der Herr, der seine Identität nicht preisgeben will,
entlarvt Moritz als Schwindler, der sich lediglich davor fürchte, allein in seine einsame
Totenwelt zurückzukehren. Melchior entscheidet sich schließlich für das Weiterleben. Er
dankt Moritz für ihre gemeinsame Zeit, verspricht ihm, ihn niemals zu vergessen, und vertraut
seine Zukunft dem „Vermummten“ an.

Entstehung
Während Wedekind einen ersten Entwurf zu Frühlings Erwachen in Zürich verfasst hatte,
schrieb er das Drama zwischen Oktober 1890 und April 1891 in München. Das Stück ist von
eigenen Erlebnissen des Autors und seiner Mitschüler inspiriert. Als Vorbild für Moritz
Stiefel dienten ihm etwa zwei Mitschüler, Frank Oberlin und Moritz Dürr, die 1883 bzw.
1885 Suizid begangen hatten. Dürr hatte dem Schriftsteller von seinem Vorhaben zu sterben
berichtet, woraufhin Wedekind ihm versprach, ein Drama über ihn zu schreiben.
Nachdem ein Münchner Verlag eine Publikation des Stücks aus Angst vor rechtlichen
Problemen abgelehnt hatte, brachte es Wedekind im Oktober 1891 auf eigene Kosten beim
Verlag Jean Groß in Zürich heraus. Frühlings Erwachen war dadurch sein erstes gedrucktes
Buch. Das Titelbild der Erstausgabe gestaltete Franz von Stuck nach Angaben Wedekinds: es
zeigt eine Frühlingslandschaft.

Wichtige Figuren

 Melchior Gabor ist ein intelligenter und vor allem aufgeklärter Gymnasiast mit einer
liberalen Mutter, doch gerade sein fortschrittliches Denken bereitet ihm später große
Probleme.
 Der fünfzehnjährige Moritz Stiefel ist einer der schlechtesten Schüler seiner Klasse.
Seinem einzigen wirklichen Freund, Melchior Gabor, vertraut Moritz ein – neben den
Schulleistungen – weiteres Problem an: die ersten „männlichen Regungen“.
 Wendla Bergmann ist ein wissbegieriges vierzehnjähriges Mädchen mit einer
konservativ-bürgerlichen Mutter. Sie zeigt ähnlich wie Moritz Neugierde, wurde aber nie
aufgeklärt, was ihr später zum Verhängnis wird.
 Der vermummte Herr (und analog dazu Ilse, das Malermodell) ist eine Figur, die für
das Leben steht. Er ist Melchior, wie er sagt „unbekannt“, da sich Melchior noch am
Anfang seines Lebens befindet und erst wenige Erfahrungen gesammelt hat. Er taucht in
der letzten Szene der Tragödie auf und bewegt Melchior dazu, sich dem Leben erneut
zuzuwenden. Analog dazu fungiert die Figur der Ilse, die im 2. Akt (7. Szene) Moritz zum
Leben/Spielen verführen will – hier jedoch ohne Erfolg.

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Wirkungsgeschichte

Frank Wedekind kritisiert in seinem Werk die im Wilhelminischen


Kaiserreich vorherrschende bürgerliche Sexualmoral, insbesondere den aus der Tabuisierung
resultierenden Druck auf Menschen, an welchem vor allem die jungen Geschöpfe zerbrechen.
Dabei macht er häufig ausgeklügelten Gebrauch von Stilfiguren und grotesk überzogenen
Charakteren, die dem Werk humoristische Züge verleihen. Oft werden jedoch
diese hyperbolischen Facetten des Stückes nicht wahrgenommen.
Einst aufgrund seiner angeblichen Obszönität verboten oder zensiert, ist „Frühlings
Erwachen“ heutzutage in einigen deutschen, österreichischen und schweizerischen
Bundesländern eine verbreitete Schullektüre.
Als Musical-Fassung erhielt das Stück unter dem Titel „Spring Awakening“ im Jahr 2007 in
acht Kategorien den Tony Award für die Aufführung am Broadway.
Im Jahr 2009 verfilmte Nuran David Çalış das Drama in einer zeitgemäßen Adaption für
das ZDF.
Im selben Jahr wurde gegen einen an der Zürcher Kantonsschule Rämibühl unterrichtenden
Deutschlehrer ein amtlicher Prozess eingeleitet, da die Mutter einer Schülerin ihn der
Pädophilie und der Weitergabe pornographischen Materials an Minderjährige beschuldigte.
Dies, da er im Unterricht unter anderem Jeffrey Eugenides' Roman „Die Selbstmord-
Schwestern“ und Wedekinds „Frühlings Erwachen“ behandelte. Der Prozess zog sich über
mehrere Jahre hin, bis er im Jahr 2012 von den ursprünglichen Anklagepunkten
freigesprochen wurde. Der Fall wurde weithin als Justizskandal wahrgenommen. Eine
Aufarbeitung der Geschehnisse fand im April 2013 durch die Theatergruppe der
Kantonsschule Rämibühl statt. In ihrem Ensemble-Projekt „Ich hätte nicht übel Lust“
kontrastierten sie den Text Wedekinds mit eigenen Texten und Meinungen zum Thema
Sexualität in der Gegenwart. Auch der Prozess gegen den Lehrer D.S wurde darin
thematisiert. Die Produktion erhielt ein großes Medienecho, die die Diskussion erneut
entfachte und von vielen Seiten Solidarität mit dem traumatisierten Lehrer auslöste.

Inhaltsangabe (2)
Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" mit dem Untertitel "Eine Kindertragödie"
stellt eine drastische Anklage an das prüde Bürgertum des 19. Jahrhunderts dar. Die
Hauptpersonen Wendla Bergmann, Moritz Stiefel und Melchior Gabor werden mit ihren
Problemen alleingelassen. Sie befinden gerade in ihrer pubertären Phase, auf Grund ihrer
sexuellen Unaufgeklärtheit schämen sie sich für die ersten Regungen ihres Körpers. Zudem
leiden sie unter der permanenten Examination der Lehrer. 
Die 14- jährige Wendla Bergmann will endlich von ihrer Mutter aufgeklärt werden. Nach
langem Zögern klärt die beschämte Frau Bergmann ihre Tochter scheinbar auf. Sie drückt
sich jedoch nur sehr unklar aus und verbindet Kinder kriegen mit wahrer Liebe und Heirat. 
Die Gymnasiasten Melchior Gabor und Moritz Stiefel sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit
befreundet. Moritz muss um seine Versetzung bangen und dem damit verbundenen Ärger
seiner Eltern, die scheinbar nur auf gesellschaftliche Anerkennung erpicht sind. Melchior
hingegen ist ein sehr guter Schüler, der eine eher antiautoritäre Erziehung seiner Mutter
genießt. In einem Gespräch über "die ersten männlichen Regungen" stellt sich heraus, dass
Moritz im Gegensatz zu Melchior weites gehend unaufgeklärt ist. Melchior bietet Moritz
daraufhin an, ihm, die von ihm selbst verfasste Lektüre "Der Beischlaf" mit zur Schule zu
bringen.

Wendla, die von ihrer Mutter in den Wald geschickt wurde, um Waldmeister zu suchen, trifft
dort auf Melchior. Sie sprechen über die Erziehung von Kinder. Martha eine Freundin von

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Wendla hatte ihr erzählt, dass sie von ihren Eltern misshandelt wird. Wendla bittet Melchior
daraufhin, sie zu schlagen. Zunächst lehnt dieser ab, verliert aber die Kontrolle über sich, als
Wendla ihn mehr und mehr reizt. Als die beiden zum wiederholtem Male auf einem
Heuboden zusammentreffen, schlafen sie miteinander. 
Moritz ist von Melchiors Aufklärungslektüre so verwirrt, dass er sich trotz aller
Anstrengungen in der Schule nicht mehr konzentrieren kann. Er wird eine Klasse
zurückgestuft. Da seine Flucht nach Amerika auf Grund finanzieller Mittel scheitert,
beschließt er in seiner Verzweifelung sich umzubringen. 
Melchior muss vor der Lehrerschaft antreten. Man hat seine Lektüre zwischen Moritz
Schulbüchern gefunden. Aus Angst, man mache die Lehrer für den Selbstmord ihres Schülers
verantwortlich, beschuldigen sie Melchior ihn auf Grund seiner unzüchtigen Lektüre in den
Selbstmord getrieben zu haben und verweisen ihn von der Schule. Melchior wird in eine
Korrektionsanstalt eingewiesen, jedoch gelingt ihn nach kurzer Zeit die Flucht. 
Melchior macht sich Vorwürfe und will das Grab seines Freundes besuchen. Auf dem
Friedhof überkommt ihn eine noch größere Trauer, als er das Grab der Wendla Bergmann
sieht. Auf ihrem Grabstein wurde die Inschrift "an der Bleichsucht gestorben" eingraviert.
Tatsächlich jedoch musste Wendla sterben, weil ihre Mutter das unsittliche Verhalten ihrer
Tochter vertuschen wollte und eine Abtreibung einleitete.

Doch Melchior bleibt nicht lange allein. Plötzlich steht sein toter Freund Moritz, seinen Kopf
unterm Arm, vor ihm. Moritz fühlt sich als Toter nicht wohl, er will nicht länger alleine sein.
Er gaukelt Melchior vor, wie schön das Totsein ist und reicht ihm seine Hand zur
Vereinigung. Im letzen Moment taucht der vermummte Herr auf. Er stellt die Inkanation des
Lebens dar und klärt Melchior über die schreckliche Lage der Toten auf. Ferner soll Melchior
die Vorzüge des Lebens mit Hilfe des vermummten Herrn genießen lernen. Melchior
entschließt sich dem vermummten Herrn anzuschließen. Beschämt legt sich Moritz daraufhin
in sein Grab zurück und entschuldigt sich bei Melchior, dass er ihn zum Tode verführen
wollte.

Inhaltsangabe (3)
Das 1890/91 entstandene und 1906 in Berlin uraufgeführte Drama »Frühlings Erwachen«
(Untertitel: »Eine Kindertragödie«) von Frank Wedekind spielt Ende des 19. Jahrhunderts.
Die beiden Gymnasiasten Melchior Gabor und Moritz Stiefel, die vierzehnjährige Wendla
Bergmann und die verzweifelte und vergebliche Suche der Jugendlichen nach Antworten auf
die drängenden Probleme der Pubertät stehen im Mittelpunkt des Stücks.

Moritz gesteht seinem Freund Melchior Angst und Verunsicherung angesichts erster sexueller
Regungen. Moritz ist nicht aufgeklärt, und um ihm zu helfen, verfasst Melchior für ihn eine
Aufklärungsschrift. Zudem ist Moritz‘ Versetzung gefährdet, was ihm große Sorgen macht.
Die Erleichterung ist groß, als er herausfindet, dass er – unter Vorbehalt – in die nächste
Klasse aufsteigen kann.
Die vierzehnjährige Wendla zieht noch ihr Kinderkleid einem Kleid für Erwachsene vor,
versucht aber doch im Gespräch mit ihren Freundinnen das Geheimnis des Kinderkriegens zu
lüften. Wendla und Melchior verlieben sich ineinander, und als Wendlas verheiratete
Schwester ein Kind bekommt, verlangt Wendla von ihrer Mutter sexuelle Aufklärung. Die
Mutter weigert sich und weicht aus. Als es zwischen Wendla und Melchior zu
Geschlechtsverkehr kommt, ist sich das Mädchen unsicher über die Folgen.
Moritz soll doch nicht versetzt werden, und aus Verzweiflung und Angst vor seinen Eltern
will er nach Amerika fliehen. Er bittet Melchiors Mutter um Geld dafür, doch diese lehnt ab.

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Moritz sieht keinen anderen Ausweg als sich das Leben zu nehmen. Auch die Begegnung mit
der lebensfrohen Ilse im letzten Moment bringt ihn nicht davon ab. Er erschießt sich.
Melchiors Aufklärungsschrift mit dem Titel »Der Beischlaf« wird in Moritz‘ Sachen
gefunden. Melchior wird für Moritz‘ Tod verantwortlich gemacht und von der Schule
verwiesen. Als auch noch herauskommt, dass Wendla von ihm schwanger ist, wird er in eine
Erziehungsanstalt eingewiesen.

Wendlas Mutter veranlasst eine Abtreibung, bei der Wendla ums Leben kommt. Melchior
gelingt die Flucht aus dem Erziehungsheim. An Wendlas Grab begegnet ihm der Geist des
toten Moritz. Während Moritz versucht Melchior ebenfalls zur Selbsttötung zu überreden,
taucht ein vermummter Mann auf. Er verlangt von Moritz zu verschwinden. Der Vermummte
will sich um Melchior und seine Zukunft kümmern und fordert ihn auf sich ihm
anzuvertrauen. Das Gespenst geht zurück in sein Grab und Melchior lässt sich vom
Vermummten wegführen.

Szenenübersicht
Frühlings Erwachen – 1. Akt
An ihrem 14. Geburtstag wünscht Frau Bergmann, dass ihre Tochter Wendla ein
1. langes, ihrem Alter angemessenes Kleid anzieht. Wendla setzt durch, dass sie noch
Szene einen Sommer lang ihr kurzes Kinderkleid tragen darf.
Melchior Gabor und sein Freund Moritz Stiefel malen sich aus, wie ihre späteren
Kinder aufwachsen: Mädchen und Jungen sollen unbefangen miteinander umgehen
lernen. Moritz gesteht, dass er erste männliche Regungen verspürt, die ihn zu Tode
2. ängstigen. Sexuelle Aufklärung ist ihm bisher nicht zuteil geworden, und um seinem
Szene Freund zu helfen schreibt Melchior für ihn alles auf, was er über Sexualität weiß.
Wendla plaudert mit ihren Freundinnen. Martha berichtet von körperlicher Züchtigung
3. durch ihre strengen Eltern. Die Mädchen fragen sich, ob ein notwendiger
Szene Zusammenhang besteht zwischen Ehe und Schwangerschaft.
Moritz findet heraus, dass er trotz schlechter Leistungen in die nächste Klasse versetzt
4. wird. Die Freundschaft zwischen ihm und Melchior, dem Klassenbesten, wird
Szene misstrauisch beobachtet.
Wendla und Melchior begegnen sich im Wald. Im Gespräch mit Wendla stellt Melchior
die Wahrheit der kirchlichen Lehre in Frage und erwägt den Kirchenaustritt. Dann folgt
Melchior Wendlas Aufforderung sie zu schlagen, weil sie diese ihr unbekannte
5. Erfahrung machen will. Melchior beginnt zögernd, verliert dann die Kontrolle und
Szene prügelt heftig auf sie ein. Dann läuft er schluchzend in den Wald.
Frühlings Erwachen – 2. Akt
In einem seltsamen Geisteszustand erzählt Moritz Melchior das »Märchen von der
1. Königin ohne Kopf«. Die beiden lesen zusammen Goethes »Faust«, was Melchiors
Szene liberale Mutter duldet. Melchiors Aufklärungsschrift verstört Moritz.
2. Als Wendlas Schwester ein Kind bekommt, verlangt Wendla von ihrer Mutter sie
Szene aufzuklären, aber diese weicht aus.
3. Melchiors und Moritz' Klassenkamerad Hänschen Rilow gibt sich seinen sexuellen

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Szene Fantasien hin.
4. Obwohl Wendla sich sträubt, kommt es zwischen Melchior und ihr zu
Szene Geschlechtsverkehr.
Aus Verzweiflung über sein Schulversagen hat Moritz Melchiors Mutter um Geld für
5. die Überfahrt nach Amerika gebeten, und für den Fall ihrer Weigerung mit Selbsttötung
Szene gedroht. Melchiors Mutter hilft ihm nicht.
6. Wendla ist im Garten, hin- und hergerissen zwischen Glücksgefühlen und Angst vor
Szene den Folgen ihres Tuns.
Als Moritz seinen Entschluss sich unten am Fluss umzubringen ausführen will,
begegnet er Ilse, einem lebensfrohen Mädchen mit lockerer Moral. Obwohl er bedauert
7. sterben zu müssen ohne Sex gehabt zu haben, lässt er die Gelegenheit es mit Ilse zu
Szene erleben ungenutzt. Als Ilse weg ist, erschießt er sich.
Frühlings Erwachen – 3. Akt
Melchiors Aufklärungsschrift mit dem Titel »Der Beischlaf« wird in Moritz' Sachen
gefunden. Die Schrift wird als obszön und unmoralisch verurteilt, und das
1. Lehrerkollegium gibt Melchior die Schuld an Moritz' Tod. Melchior bekommt keine
Szene Möglichkeit sich zu verteidigen und wird der Schule verwiesen.
Moritz wird beerdigt, und die Reden des Pastors, der Lehrer und Verwandten an seinem
Grab sind voller Verachtung für den Toten. Sein Vater verleugnet ihn. Nur die
2. Mitschüler dagegen trauern um ihn. Ilse ist im Besitz der Pistole, mit der Moritz sich
Szene den Kopf weggeschossen hat.
Wegen der Aufklärungsschrift soll Melchior in eine Erziehungsanstalt eingewiesen
werden. Seine Eltern geraten darüber in Streit. Seine Mutter kämpft für ihn, nennt ihn
3. unschuldig und preist seine aufrechten Gang. Erst als Melchiors Vater ihr beweist, dass
Szene Wendla von ihrem Sohn schwanger ist, stimmt sie der Einweisung resigniert zu.
4. In der Erziehungsanstalt sondert sich Melchior von den anderen ab und schmiedet
Szene insgeheim Fluchtpläne.
Wendlas Schwangerschaft wird als Bleichsucht behandelt, obwohl die Mutter die
5. Wahrheit ahnt. Wendla wirft ihr vor sie nicht aufgeklärt und sie unwissend gehalten zu
Szene haben. Die Mutter beschließt eine Abtreibung, die Wendla nicht überleben wird.
6. Ernst und Hänschen, ehemalige Klassenkameraden von Moritz und Melchior, machen
Szene im Weinberg homoerotische Erfahrungen.
Die Flucht aus der Erziehungsanstalt gelingt, und Melchior kommt zu Wendlas Grab.
Er gibt sich die Schuld an ihrem Tod. Plötzlich erscheint ihm Moritz, der seinen Kopf
unter dem Arm trägt. Moritz versucht Melchior zu sich in das Reich der Toten zu
locken, als ein vermummter Herr auftaucht, der sich zwischen die beiden stellt. Er
verlangt von Moritz zu verschwinden. Melchior fordert er auf sich ihm anzuvertrauen
und sich von ihm in die Welt führen zu lassen. Er definiert Moral als das Produkt
7. zweier imaginärer Größen, nämlich Sollen und Wollen. Melchior geht mit ihm,
Szene während Moritz‘ Gespenst zurück ins Grab steigt.

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Arthur Schnitzler
Reigen
Reigen ist ein Bühnenstück von Arthur Schnitzler. Die Uraufführung fand am 23. Dezember
1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin statt und war einer der größten
Theaterskandale des 20. Jahrhunderts.
Das Stück schildert in zehn erotischen Dialogen die „unerbittliche Mechanik des
Beischlafs“ (der im Stück selbst nicht gezeigt wird) und sein Umfeld von Macht, Verführung,
Sehnsucht, Enttäuschung und das Verlangen nach Liebe. Es zeichnet ein Bild der Moral in
der Gesellschaft des Fin de siècle und durchwandert dabei in einem Reigen alle sozialen
Schichten vom Proletariat bis zur Aristokratie. Das Stück löste nach seiner Uraufführung
1920 sowohl in Berlin als auch in Wien einen Theaterskandal aus und führte zum so
genannten „Reigen-Prozess“, nach dem Schnitzler ein Aufführungsverbot für das Stück
verhängte, das bis zum 1. Januar 1982 in Kraft war, jedoch durch verschiedene Filme und
eine Schallplattenaufnahme umgangen wurde.

Inhalt

Zehn Personen begegnen einander in Paaren, sie führen zehn Dialoge und jedes Mal
findet das Paar dabei zu sexueller Vereinigung. Als Strukturprinzip verwendet Schnitzler die
Tanzform des Reigens, indem eine Figur immer die Hand einer neuen Figur für die nächsten
Szene reicht. Schnitzler beschreibt aber nur die Situationen vor und nach dem Koitus, der
Geschlechtsverkehr selbst wird nicht gezeigt, er ist im Text mit Gedankenstrichen nur
angedeutet. Nach jeder Szene wird ein Partner ausgetauscht und dabei die gesellschaftliche
Leiter erstiegen, von Dirne, Soldat und Stubenmädchen über junger
Herr, Ehefrau, Ehemann und süßes Mädel bis zum Dichter, der Schauspielerin und
dem Grafen, der am Schluss wieder mit der Dirne zusammentrifft und so den „Reigen“
schließt.

Die Augartenbrücke  (um 1870), Schauplatz der 1. Szene zwischen Dirne und Soldat

 Die Dirne und der Soldat

Spät abends. An der  Augartenbrücke.


Die Dirne spricht auf der Straße einen Soldaten an, der sich auf dem Heimweg in die Kaserne
befindet. Weil es ihm bis zu ihrer Unterkunft zu weit ist und er auch keine Zeit mehr bis zum
Zapfenstreich hat, überredet sie ihn, bei ihr zu bleiben und lockt ihn mit den Worten „Geh,
bleib jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch ’s Leben haben.“ zum Geschlechtsverkehr.
Aus Angst, von der Polizei entdeckt zu werden, steigen die beiden zum Flussufer hinunter. –
Nach dem Koitus hat es der Soldat eilig, von der Dirne weg und in die Kaserne zu kommen.
Nachdem sie sich ihm schon zuvor umsonst angeboten hatte, da sie Geld „nur von Zivilisten“
verlangt, verweigert der Soldat der Dirne zuletzt sogar noch das wenige Geld, das sie für
den Hausmeister braucht. Über ihren Namen Leocadia spottend macht er sich davon, die
Dirne flucht ihm und seiner Brutalität hinterher.

 Der Soldat und das Stubenmädchen

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Prater. Sonntag Abend. Ein Weg, der vom Wurstelprater aus in die dunkeln Alleen führt.
Hier hört man noch die wirre Musik aus dem Wurstelprater, auch die Klänge vom
Fünfkreuzertanz, eine ordinäre Polka, von Bläsern gespielt.
Der Soldat und das Stubenmädchen, das Ausgang hat, spazieren spätabends von einem
Tanzetablissement im beliebten Wiener Vergnügungspark Prater in die nahe gelegenen Auen.
Um sie herum lagern bereits andere Liebespaare im Gras, das Mädchen bekommt Angst und
will zurück. Der Soldat bietet ihr das Du-Wort an, macht keine langen Umschweife und
verführt sie. – Während der Liebesumarmung klagt das Stubenmädchen „Ich kann dein
G'sicht gar nicht sehn“, der Soldat erwidert lakonisch: „A was – G'sicht!“ und fällt ein
weiteres Mal über sie her. – Nach dem Koitus ist der Soldat ernüchtert, er möchte gleich
zurück ins Tanzlokal, um den Abend mit Freunden fortzusetzen, und um neue Eroberungen zu
machen, er muss erst um Mitternacht in der Kaserne sein, das Stubenmädchen aber muss
bereits nach Hause. Widerwillig bietet er ihr seine Begleitung an, wenn sie auf ihn warten
möchte, und lädt sie auf ein Glas Bier ein. Dann tanzt er schon mit der Nächsten.

 Das Stubenmädchen und der junge Herr

Heißer Sommernachmittag. – Die Eltern sind schon auf dem Lande. – Die Köchin hat
Ausgang. – Das Stubenmädchen schreibt in der Küche einen Brief an den Soldaten, der ihr
Geliebter ist. Es klingelt aus dem Zimmer des jungen Herrn. Sie steht auf und geht ins
Zimmer des jungen Herrn. Der junge Herr liegt auf dem Diwan, raucht und liest einen
französischen Roman.
Alfred, Sohn aus gutem Hause, ist Samstag Nachmittag allein zu Haus, die Eltern sind aufs
Land gefahren, nur das Stubenmädchen Marie ist da. Sie sitzt in der Küche und schreibt einen
Liebesbrief an den Soldaten. Die Atmosphäre ist heiß und schwül, es liegt etwas in der Luft.
Immer wieder lockt der junge Mann Marie mit vorgetäuschten Wünschen aus der Küche zu
sich ins Zimmer. Zuletzt gesteht er ihr kühn, dass er sie heimlich beim Entkleiden beobachtet
hat und beginnt sie auszuziehen. Sie wehrt sich pro forma: „O Gott, aber das hab’ ich gar
nicht gewußt, daß der Herr Alfred so schlimm sein kann“, gibt aber nach und Alfred fällt über
sie her. – Es läutet an der Tür. Dies ist dem jungen Herrn eine willkommen Ausrede, Marie
nachschauen zu schicken, ob wohl schon länger geläutet wurde, obwohl sie beteuert, sie habe
während des Verkehrs „alleweil aufgepaßt“. Als sie zurückkommt, geht der junge Herr auf
Distanz und flieht vor ihren Zärtlichkeiten ins Kaffeehaus. Das Stubenmädchen stiehlt von
seinem Schreibtisch eine Zigarre für ihren Geliebten, den Soldaten.

 Der junge Herr und die junge Frau

Abend. – Ein mit banaler Eleganz möblierter Salon in einem Hause der Schwindgasse. Der
junge Herr ist eben eingetreten, zündet, während er noch den Hut auf dem Kopf und
den  Überzieher anhat, die Kerzen an. Dann öffnet er die Tür zum Nebenzimmer und wirft
einen Blick hinein. Von den Kerzen des Salons geht der Lichtschein über das Parkett bis zu
einem Himmelbett. (...) Es klingelt. Der junge Herr fährt leicht zusammen. Dann setzt er sich
auf den Fauteuil und erhebt sich erst, als die Tür geöffnet wird und die junge Frau eintritt.
Alfred, der junge Herr, hat ein Rendezvous mit Emma, einer verheirateten Frau. Er trifft alle
erdenklichen Vorbereitungen, bis sie endlich erscheint. Sie ist verschleiert und dennoch sehr
nervös, gesehen und bei ihrem Ehebruch entdeckt zu werden, und schwört, nur kurz zu
bleiben. Die beiden hatten schon zuvor im Freien ein Rendezvous, doch diesmal wird es mit
Hilfe der Schwester, die als Alibi dient, ernst. Alfred umschwärmt sie mit Liebesschwüren
und trägt zuletzt seine Angebetete ins Schlafzimmer. – Die Absicht misslingt, Alfred ist zu

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nervös, es kommt nicht zum Verkehr. Der junge Herr versucht, sein Versagen wortreich mit
einem Zitat aus einem Roman von Stendhal zu entschuldigen, in dem eine Gesellschaft
von Kavallerieoffizieren ihre Liebesabenteuer erzählt. „Und jeder berichtet, daß ihm bei der
Frau, die er am meisten, weißt du, am leidenschaftlichsten geliebt hat... daß ihn die, daß er die
– also kurz und gut, daß es jedem bei dieser Frau so gegangen ist wie jetzt mir.“ Emma
heuchelt Verständnis für die missliche Lage, ironisiert aber die Tatsache mit dem Trost, dass
sie von nun an nichts als „gute Kameraden“ seien. Als Emma Alfred oral stimuliert, kehrt
aber seine Manneskraft zurück. – Beide sind stolz und erfüllt und verabreden sich für den
nächsten Tag bei einem Gesellschaftsball zum Tanz und am Tag danach wieder in der
Wohnung.

 Die junge Frau und der Ehemann

Ein behagliches Schlafgemach. Es ist halb elf Uhr nachts. Die Frau liegt zu Bette und liest.
Der Gatte tritt eben, im Schlafrock, ins Zimmer.
Am selben Tag abends (dies geht aus dem Text nicht hervor, kann aber angenommen werden)
trifft die junge Frau im Ehebett auf ihren Ehemann, der ihr nach einem arbeitsreichen Tag von
den Schwierigkeiten des Liebeslebens vor der Ehe vorschwadroniert: „Ihr hört ja viel und
wißt zu viel und lest ja wohl eigentlich auch zu viel, aber einen rechten Begriff von dem, was
wir Männer in der Tat erleben, habt ihr ja doch nicht. Uns wird das, was man so gemeinhin
die Liebe nennt, recht gründlich widerwärtig gemacht.“ Scheinheilig bedauert er das
Schicksal des „süßen Mädels“, das sich unverheiratet der Liebe hingibt: „Ihr, die ihr junge
Mädchen aus guter Familie wart, die ruhig unter Obhut euerer Eltern auf den Ehrenmann
warten konntet, der euch zur Ehe begehrt; – ihr kennt ja das Elend nicht, das die meisten von
diesen armen Geschöpfen der Sünde in die Arme treibt. […] Ich mein’ ja auch nicht nur das
materielle Elend. Aber es gibt auch – ich möchte sagen – ein sittliches Elend, eine
mangelhafte Auffassung für das, was erlaubt, und insbesondere für das, was edel ist.“ Er lässt
sich über die Unmoral von Ehebrecherinnen aus, vor deren Umgang er warnt. Emma versucht
diese Frauen vorsichtig zu verteidigen, indem sie ihnen „Vergnügen“ beim Betrug unterstellt.
Der Ehemann ist empört und bezeichnet deren Lust nur als „oberflächlichen Rausch“. Dann,
im Bewusstsein seiner moralischer Hoheit, liebt er seine Frau. – Nach dem Verkehr kehrt in
der Ehefrau die Erinnerung an die Flitterwochen in Venedig zurück. Vorsichtig deutet sie an,
dass sie die Leidenschaft ihres Mannes öfter genießen möchte. Dieser blockt ab und wendet
sich zum Schlafen.

 Der Gatte und das süsse Mädel

Ein Cabinet particulier im Riedhof. Behagliche, mäßige Eleganz. Der Gasofen brennt. Auf
dem Tisch sind die Reste einer Mahlzeit zu sehen, Obersschaumbaisers, Obst, Käse. In den
Weingläsern ein ungarischer weißer Wein. Der Gatte raucht eine Havannazigarre, er lehnt in
der Ecke des Diwans. Das süße Mädel sitzt neben ihm auf dem Sessel und löffelt aus einem
Baiser den Obersschaum heraus, den sie mit Behagen schlürft.
Der Ehemann hat ein „süßes Wiener Mädel“ auf der Straße angesprochen und überredet, mit
ihm ins Extrazimmer eines Gasthauses zu gehen, wo er ihr ein Abendessen bezahlt. Sie
genießt den ungewohnten Luxus. Beide belügen einander, er über seinen Wohnort und seine
Ehe, sie über ihre Unschuld. Der Gatte berauscht sich an der Jugend der 19-Jährigen, der
Wein muss als Entschuldigung herhalten, er verführt sie. ––– Während das Mädchen noch
selig träumt, macht sich der Ehemann plötzlich Selbstvorwürfe über die unvorsichtige
Begegnung, er verdächtigt sie sogar der Prostitution. Der Ehemann dringt in sie und möchte

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mehr über ihre Vergangenheit erfahren, täuscht aber vor, dass er auswärts wohnt, um sich
nicht zu verpflichten. Das süße Mädel beklagt den Wandel in seinem Benehmen: „Willst mich
wirklich schon z’ Haus schicken? – Geh, du bist aber wie ausgewechselt. Was hab’ ich dir
denn getan?“ Der Ehemann wirft ihr sogar vor, ihn zur Untreue verführt zu haben, und als sie
leichtfertig über den Ehebruch spricht: „Ah was, deine Frau macht's sicher nicht anders als
du“, empört er sich und resümiert: „Ihr seid wirklich sonderbare Geschöpfe, ihr... Weiber.“ Er
plant eine dauerhafte Liaison mit ihr, ermahnt das Mädchen aber zu einem moralischem
Lebenswandel, den er zur Bedingung macht.

 Das süsse Mädel und der Dichter

Ein kleines Zimmer, mit behaglichem Geschmack eingerichtet. Vorhänge, welche das Zimmer
halbdunkel machen. Rote Stores. Großer Schreibtisch, auf dem Papiere und Bücher
herumliegen. Ein Pianino an der Wand. Sie kommen eben zusammen herein. Der Dichter
schließt zu.
Der erfolgreiche Dichter hat das süße Mädel nach einem Spaziergang mit zu sich nach Hause
genommen. Die geistigen Welten der beiden sind grundverschieden, seine ist die der Poesie,
ihre der profane Alltag. Er genießt ihre Einfachheit, die er zärtlich Dummheit nennt. Inspiriert
von ihrer Gegenwart beginnt er zu dichten, im Halbdunkel der Dämmerung glaubt er plötzlich
vergessen zu haben, wie sie aussieht: „Es ist seltsam, ich kann mich nicht mehr erinnern, wie
du aussiehst. Wenn ich mich auch nicht mehr an den Klang deiner Stimme erinnern könnte...
was wärst du da eigentlich? – Nah und fern zugleich...“ Das süße Mädel erzählt über sich,
verwendet aber dieselben Geschichten und Ausreden, die sie zuvor beim Ehemann gebraucht
hat. Nachdem er Klavier für sie gespielt hat, träumt sich der Dichter mit ihr in ein „indisches
Schloss“ und verführt sie. – Im Überschwang sexueller Seligkeit nach dem Koitus verrät der
Dichter seiner Geliebten seinen Namen: Biebitz. Sie kennt den Namen aber nicht und er
philosophiert über den Ruhm, der ihm sonst immer die Frauen zuführt. Er macht Licht und
betrachtet die Nacktheit des Mädchens, das sich schämt: „Du bist schön, du bist die
Schönheit, du bist vielleicht sogar die Natur, du bist die heilige Einfalt.“ Ein erneutes Treffen
am nächsten Tag lehnt sie mit der Ausrede familiärer Verpflichtungen ab. Der Dichter lädt sie
aber zum Besuch eines seiner Stücke ins Burgtheater ein, um dadurch alles über sie zu
erfahren: „Völlig werd’ ich dich erst kennen, wenn ich weiß, was du bei diesem Stück
empfunden hast.“

 Der Dichter und die Schauspielerin

Ein Zimmer in einem Gasthof auf dem Land. Es ist ein Frühlingsabend, über den Wiesen und
Hügeln liegt der Mond, die Fenster stehen offen. Große Stille. Der Dichter und die
Schauspielerin treten ein; wie sie hereintreten, verlöscht das Licht, das der Dichter in der
Hand hält.
Der Dichter und die Schauspielerin haben fürs Wochenende ein Zimmer in einem
Landgasthof gemietet, um die lange überfällige Affäre zu beginnen. Die erfolgreiche Diva ist
voller Allüren und Launen, sie quält den Dichter, in dessen Stücken sie spielt, mit dem
Wechsel von Nähe und Distanz und lässt ihn sowohl Zurückweisung als auch süße
Verheißung spüren. Der Dichter schwärmt für sie: „Du ahnst ja gar nicht, was du für mich
bedeutest... Du bist eine Welt für sich... Du bist das Göttliche, du bist das Genie... Du bist...
Du bist eigentlich die heilige Einfalt.“ Sie benutzt das Zimmer als Privatbühne und nimmt
keusche religiöse Posen ein, neckt den Dichter mit albernen Kosenamen, schürt seine
Eifersucht und schickt ihn sogar aus dem Zimmer, um sich ungestört entkleiden zu können.

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Nach Ausreizung aller Raffinessen lässt sie ihn schließlich zu sich. – Nach dem Resümee
„Das ist doch schöner, als in blödsinnigen Stücken spielen“ setzt die Schauspielerin auch nach
dem Koitus ihre Sticheleien und erniedrigenden Kosenamen fort, im Gegenzug verletzt der
Dichter ihre Eitelkeit, indem er ihr eröffnet, dass er ihre Vorstellung am Vortag nicht besucht
hat. In pathetischen Worten gesteht die Schauspielerin dem Dichter ihre Liebe: „Was weißt du
von meiner Liebe zu dir. Dich läßt das ja alles kalt. Und ich bin schon nächtelang im Fieber
gelegen. Vierzig Grad!“

 Die Schauspielerin und der Graf

Das Schlafzimmer der Schauspielerin. Sehr üppig eingerichtet. Es ist zwölf Uhr mittags,
die  Rouleaux sind noch heruntergelassen, auf dem Nachtkästchen brennt eine Kerze, die
Schauspielerin liegt noch in ihrem Himmelbett. Auf der Decke liegen zahlreiche Zeitungen.
Der Graf tritt ein in der Uniform eines Dragonerrittmeisters.
Die Schauspielerin liegt im Bett, sie ist „unpässlich“, hat also ihre Tage. Der Graf macht ihr
seine Aufwartung, um ihr zur Vorstellung vom Vortag zu gratulieren, die ein Triumph war,
doch nur die Blumen des Grafen hat sie mit nach Hause genommen. Die Schauspielerin lebt
in großen Gesten, sie küsst dem Grafen die Hand und nennt ihn „jugendlicher Greis“, er
bekennt sich als unwissend in der Theaterwelt, gesteht aber eine Affäre mit einem
Ballettmädchen. In ihrer Misanthropie, die bei der Schauspielerin dramatische Pose und beim
Grafen philosophische Attitüde ist, finden die beiden zu einer Seelenverwandtschaft. Der Graf
philosophiert über den Genuss in der Liebe: „Sobald man sich nicht dem Moment hingibt,
also an später denkt oder an früher... na, ist es doch gleich aus. Später... ist traurig... früher ist
ungewiß... mit einem Wort... man wird nur konfus.“ und möchte die Seele mit einbeziehen:
„Ich halte das für eine falsche Ansicht, dass man das voneinander trennen kann.“ Er bittet um
ein Treffen nach der abendlichen Theatervorstellung, die Schauspielerin jedoch verführt ihn
auf der Stelle. – Der Graf, um Haltung bemüht, verweigert zunächst ein erneutes Treffen nach
dem Theater und möchte erst am übernächsten Tag wiederkommen, er wird aber von der
Schauspielerin zum Rendezvous gezwungen. Sie argwöhnt körperliche Erschöpfung bei ihm,
er aber möchte seelischen Abstand, worauf sie in männlich-chauvinistischer Manier erwidert:
„Was geht mich deine Seele an? – Laß mich mit deiner Philosophie in Frieden. Wenn ich das
haben will, lese ich Bücher.“ Sie beordert ihn nach dem Theater in ihre Wohnung zu
neuerlichem Beischlaf.

 Der Graf und die Dirne

Morgen, gegen sechs Uhr. Ein ärmliches Zimmer, einfenstrig, die


gelblichschmutzigen Rouletten sind herunter gelassen. Verschlissene grünliche Vorhänge.
Eine Kommode, auf der ein paar Photographien stehen und ein auffallend geschmackloser,
billiger Damenhut liegt. Hinter dem Spiegel billige japanische Fächer. Auf dem Tisch, der
mit einem rötlichen Schutztuch überzogen ist, steht eine Petroleumlampe, die schwach
brenzlich brennt, papierener, gelber Lampenschirm, daneben ein Krug, in dem ein Rest von
Bier ist, und ein halb geleertes Glas. Auf dem Boden neben dem Bett liegen unordentlich
Frauenkleider, als wenn sie eben rasch abgeworfen worden wären. Im Bett liegt schlafend die
Dirne, sie atmet ruhig. – Auf dem Diwan, völlig angekleidet, liegt der Graf, im Drapp-
Überzieher, der Hut liegt zu Häupten des Diwans auf dem Boden.
Die Szene beginnt mit einem Monolog im Stil von Schnitzlers inneren Monologen in seinen
Erzählungen (etwa in Leutnant Gustl). Der Graf erwacht frühmorgens im Zimmer der Dirne
und versucht sich an die vergangene, durchzechte Nacht zu erinnern. Er nimmt an, dass er mit

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dem Mädchen nicht geschlafen hat, betrachtet sie und vergleicht ihren seligen Schlaf mit
„dessen Bruder“, dem Tod. Als Leocadia, die Dirne, erwacht, erfährt er, dass sie zwanzig ist,
in die Innenstadt zu ziehen beabsichtigt und seit einem Jahr bei ihrem Geschäft ist. Sie
zerstört aber seine romantische Illusion, dass nichts zwischen ihnen vorgefallen sei, was er in
seiner Dekadenz sehr bedauert: „Es wär’ doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen
geküßt hätt'. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen... Es war mir halt nicht bestimmt.“
Dies ist die einzige Szene, in der das Paar nicht miteinander schläft und in der es daher keine
zweite Hälfte gibt. Als der Graf geht, beginnt die Putzfrau draußen gerade ihr Tagewerk, der
Graf wünscht ihr gedankenlos eine gute Nacht. Sie wünscht ihm „Guten Morgen“.

Rezeption und Interpretation


Schnitzlers Freund Richard Beer-Hofmann bezeichnete Reigen als Schnitzlers „erectiefstes“
Werk. Hugo von Hofmannsthal schrieb ihm: „Denn schließlich ist es ja Ihr bestes Buch, Sie
Schmutzfink.“
Egon Friedell schrieb 1931 über Arthur Schnitzler: „Er hat bereits zu einer Zeit, wo diese
Lehren noch im Werden begriffen waren, die Psychoanalyse dramatisiert. Und er hat in seinen
Romanen und Theaterstücken das Wien des Fin de siecle eingefangen und für spätere
Geschlechter konserviert: eine ganze Stadt mit ihrer einmaligen Kultur, mit dem von ihr
genährten und entwickelten Menschenschlag, wie er sich in einem bestimmten Zeitpunkt der
Reife und Überreife auslebte, ist in ihnen klingend und leuchtend geworden. Er hat damit
etwas Analoges geleistet wie Nestroy für das Wien des Vormärz.“
Georg Hensel bezeichnet Schnitzlers Dialoge als „zehn Triumphe des Sexus, vor dem es
keine Standesunterschiede gibt: ein Ringelspiel der Amouren, die auch ihre Köstlichkeiten
haben, ein Karussell der flüchtigen Umarmungen, ein Tanz mit den immerwährenden drei
Schritten: Gier, Genuss und Kälte – ein Totentanz des Eros“.
Was im Reigen an die Stelle der Liebe tritt, „ist nicht tödlich, sondern ein armseliges,
widerrufliches Sterben in kleinen Portionen bei lebendigem Leib“. Die Dialoge sind frivol
und zärtlich, ironisch und melancholisch, triebhaft und todestraurig. Im Verhalten der
handelnden Personen, speziell in dem der Männer, zeigt sich Schnitzlers kritische Sicht auf
die Sexualsphäre seiner Zeit, die die Sexualität tabuisierte und an die „heilige“ Institution der
Ehe band. Dies wird durch die Doppelmoral der gesellschaftlich repräsentativen Figuren
unterlaufen, die in ihrem phrasenhaften Sprechen den unfreien Umgang mit der eigenen
Sexualität offenbaren und manifestiert sich in der sexuellen Ausbeutung
des Dienstmädchens und des „süßen Mädels“ in der von den Männern geprägten Gesellschaft
um 1900, die sich mit „rangniedereren“ Frauen einließen, um sich ihrer Männlichkeit zu
versichern. In der Kultur der „Absteige“ und des Chambre separée als Schauplatz von Lüge,
Betrug und Ehebrecherei, die sich bis ins eheliche Schlafzimmer fortsetzt, zeigt sich Enge und
Heimlichkeit des Lustgedankens. Die Personen charakterisieren sich erst durch das, was sie
dem anderen Partner sagen werden bzw. in der vorigen Szene gesagt haben. Oft zeigt sich erst
dadurch, dass sie lügen. Statt den Figuren Namen zu geben, benutzt Schnitzler eine
Typologie, durch die Namenlosigkeit der Protagonisten zeigt sich ihre Austauschbarkeit im
sexuellen Wechselspiel. Diese Figurenabfolge paraphrasiert den mittelalterlichen „Totentanz“
(Darstellung der Gewalt des Todes über das Menschenleben in allegorischen Gruppen, in
denen Tanz und Tod gleichzeitig zu finden sind).
Schnitzlers Werk macht deutlich, dass die unterschiedlichen Moralvorstellungen der
damaligen „Cultur“ eng mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Stand verknüpft waren. So
wird im ganzen Stück die Moral nur in jenen Szenen angesprochen, in denen das Ehepaar
auftritt. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei der Dialog im Ehebett ein, der die Stellung der
jungen Ehefrau innerhalb des Bürgertums verdeutlicht. Nur in der Begegnung von Dichter
und Schauspielerin (die Schnitzler selbst und der Schauspielerin Adele Sandrock nachgebildet

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sein könnten) zeigt sich eine freiere Auffassung von Sexualität, in den Betrachtungen des
Grafen eine philosophisch-reflektierende.
Schnitzler beschreibt die unterschiedlichen sexuellen Verhalten der Geschlechter vor und
nach dem Geschlechtsverkehr, durch die Trennung von Lust und Liebe verlaufen die
Beziehungen zwischen Mann und Frau aber in einer gegenläufigen Gefühlskurve. Die Frau
wechselt von spröder Ablehnung zu zärtlicher Anhänglichkeit, der Mann von romantisch-
sinnlicher Erregung zu kalter Abwendung. Im Sog ihrer Begierde ähneln die Personen trotz
sozialer Unterschiede einander und werden schließlich als Vertreter
von Proletariat, Kleinbürgertum, Bürgertum, Bohème und Aristokratie ohne Rücksicht auf
soziale Herkunft oder Lebensalter gleich – wie im Angesicht des Todes.
Der Literaturkritiker Richard Alewyn nannte den Reigen „eine Komödie für Götter“ und
schrieb im Nachwort zur Buchausgabe: „Reigen – ein Meisterstück des strengen Satzes. Zehn
Personen bilden seine Choreographie. Zehnmal formen diese zehn Personen ein Paar.
Zehnmal steigt die Temperatur vom Nullpunkt zum Siedepunkt und sinkt wieder zum
Nullpunkt herab. Zehnmal das Auf und Ab der Skalen von Werbung, Paarung, Sättigung und
Ernüchterung, und am Ende sind wir wieder da angelangt, wo es angefangen hatte, und es ist
nichts als die Barmherzigkeit des Vorhangs, die das Spiel verhindert, wieder von vorne zu
beginnen. Unerfindlich ist nur, wie man dieses Stück als unmoralisch hat denunzieren können.
Weit entfernt, den Appetit auf amoureuse Betätigung zu wetzen, ist es vielmehr geeignet, ihn
gründlich zu verderben. Es ist das Werk eines Moralisten, nicht eines Epikuräers, ein Werk
der Entlarvung, der Entzauberung, unbarmherzig und todernst, und im Vergleich dazu
erscheint die Liebelei noch als ein menschenfreundliches und trostreiches Stück.“ (Richard
Alewyn: Arthur Schnitzler: Reigen. Nachwort zur Buchausgabe 1960)
Schnitzler setzte sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinander und erreichte in seinem
Werk eine weitreichende Übereinstimmung mit den psychologischen Problemen seiner Zeit,
besonders den tiefenpsychologischen Aspekt sexuellen Verhaltens. Schnitzler wird daher
häufig als literarisches Pendant zu Sigmund Freud bezeichnet, der dies in einem Brief an
Schnitzler 1922 auch hervorhob: „Verehrter Herr Doktor Schnitzler. Seit vielen Jahren bin ich
mir der weitreichenden Übereinstimmung bewußt... So habe ich den Eindruck gewonnen, dass
Sie durch Intuition alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen
aufgedeckt habe. Ja, ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer
Tiefenforscher, so ehrlich, unparteiisch und unerschrocken, wie nur je einer war. Aber ich
weiß eben auch, dass die Analyse kein Mittel ist, sich beliebt zu machen. Ihr in Verehrung
ergebener Dr. Freud.“ In einem Brief zum sechzigsten Geburtstag von Schnitzler sprach
Freud sogar von „einer Art von Doppelgängerscheu“ vor ihm.

Inhaltsangabe (2)

Die Dirne und der Soldat


Die Dirne Leocadia folgt spätabends an der Augartenbrücke einem Soldaten und bietet ihm
unentgeltlich ihre Dienste an. Da ihm der Weg zu ihrer Wohnung zu weit ist, gehen sie
hinunter ans Donauufer. Nach dem Geschlechtsakt hat der Soldat es eilig, in die Kaserne zu
kommen. Seinen Namen gibt er nicht preis; Leocadias Bitte um Geld begegnet er mit Spott.

Der Soldat und das Stubenmädchen


Der Soldat Franz drängt das Stubenmädchen Marie am Sonntagabend nach dem Tanz vom
Wurstelprater aus in die dunklen Alleen. Marie fürchtet sich und will zurück; Franz zieht sie
weiter. Nach der Kopulation hat Franz es eilig, zurück in den Prater zu kommen. Marie
wünscht sich, nach Hause begleitet zu werden, doch Franz will weiter tanzen. Er nimmt sich
eine neue Partnerin und speist Marie mit einem Bier ab.

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Das Stubenmädchen und der junge Herr
An einem heißen Sommernachmittag sind der junge Herr Alfred und das Stubenmädchen
Marie allein im Haus. Alfred liegt auf dem Diwan und klingelt unter stets neuen Vorwänden
nach Marie. Schließlich lässt er sie nähertreten und öffnet ihre Bluse. Marie ziert sich und
warnt Alfred vor möglichem Besuch. Erst nach dem Koitus werden sie durch ein Läuten an
der Tür gestört. Als niemand erscheint, will Marie das Schäferstündchen fortsetzen. Doch
Alfred weist sie kühl ab.

Der junge Herr und die junge Frau


Herr Alfred trifft aufwändige Vorbereitungen für den Besuch der jungen Frau. Die
verheiratete Emma erscheint tiefverschleiert und gibt vor, nur kurz bleiben zu wollen. Nervös
erinnert sie Alfred an sein Versprechen, »brav« zu sein; dieser zerstreut ihre Bedenken mit
seinem Liebesgeflüster und trägt sie ins Schlafzimmer. Für seine ausbleibende Erektion findet
er wortreiche Erklärungen. Emma reagiert zunächst mit leiser Ironie, doch dank ihrer
Einfühlsamkeit gelingt der Koitus schließlich doch. Sie treffen weitere Verabredungen; Alfred
ist stolz auf sein Verhältnis »mit einer anständigen Frau«.

Die junge Frau und der Ehemann


Zu Emmas Erstaunen hat ihr Gatte Karl am Abend Lust, mit ihr zu schlafen. Meistens sehnt
sie sich vergeblich danach. Im Bett erläutert Karl, dass sich in einer Ehe Freundschaft und
Begehren abwechseln müssen, um die Leidenschaft zu erhalten. Um Frauen achten zu
können, erwartet Karl von ihnen Anständigkeit und Treue. Unterschiedliche sexuelle
Erfahrungen zu machen sei ein Vorrecht der Männer. Nach dem Beischlaf äußert Emma den
Wunsch nach mehr Sex in der Ehe; Karl beschwichtigt sie.

Der Ehegatte und das süße Mädel


Der verheiratete Karl hat das neunzehnjährige süße Mädel in das Chambre Séparée einer
Gaststätte eingeladen. Das Mädchen gibt sich unschuldig und Karl macht es betrunken. Nach
dem Geschlechtsverkehr ist Karl besorgt wegen seiner Unvorsichtigkeit. Trotzdem ist er zu
einer Liaison mit seiner Zufallsbekanntschaft bereit. Den zeitlichen Rahmen will er vorgeben;
von dem Mädchen verlangt er einen moralischen Lebenswandel.

Das süße Mädel und der Dichter


Der erfolgreiche Dichter Robert hat das süße Mädel nach einem Spaziergang mit in sein
Zimmer genommen. Die Einfachheit des Mädchens inspiriert den Künstler und Ästheten. Sein
Ruhm interessiert das Mädchen nicht. Es hat keinen Sinn für Poesie und kann seinen
Fantasien nicht folgen. Aber es zieht sich bereitwillig aus und lässt sich von Robert verführen.
Danach will der Dichter das Mädchen vorübergehend zu seiner Muse machen. Um ihre
Empfänglichkeit für seine Kunst zu testen, schickt er sie zu einem seiner Stücke ins
Burgtheater.

Der Dichter und die Schauspielerin


Der Dichter verbringt mit der Schauspielerin ein Wochenende auf dem Land, um eine Affäre
zu beginnen. Die Diva behandelt den Dichter herablassend und quält ihn mit dem Wechsel
von Lockung und Zurückweisung. Sie spricht von ihrer großen Liebe Fritz und nennt Robert
eine Laune. Nach dem Akt fährt sie fort, den Dichter zu erniedrigen. Dieser verletzt sie
seinerseits, indem er erzählt, ihre letzte Vorstellung nicht besucht zu haben. Daraufhin gesteht
sie ihm ihre Liebe.

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Die Schauspielerin und der Graf
Der Graf erhält Zutritt zum Schlafzimmer der Schauspielerin. Diese liegt wegen einer
Unpässlichkeit mittags im Bett. Sie gefällt sich in der Pose des lebensüberdrüssigen und
menschenfeindlichen Stars. Der nachdenkliche Graf und Misanthrop fühlt sich verstanden. Er
bleibt zurückhaltend und plant ein Rendezvous für den Abend, doch die Schauspielerin zieht
ihn an sich. Nach dem Koitus ist der Graf erneut vornehm, will den Gefühlen Zeit geben und
das nächste Treffen hinausschieben. Die Schauspielerin bestellt ihn jedoch für den denselben
Abend ein, um erneut Sex zu haben.

Der Graf und die Dirne


Der Graf erwacht am Morgen im schäbigen Zimmer der Dirne Leocadia. In einem inneren
Monolog versucht er, die durchzechte Nacht zu rekonstruieren. Seine Erinnerung ist
lückenhaft. Bevor er sich davonstehlen kann, erwacht Leocadia. Sie erzählt dem Grafen von
ihrem Leben als Prostituierte. Ratlos fragt er, ob sie glücklich sei. Er findet den Gedanken
reizvoll, in der Nacht keusch gewesen zu sein. Leocadia zerstört seine Illusion und erzählt,
dass sie Verkehr miteinander gehabt hätten.

Inhaltsangabe (3)

Die Dirne und der Soldat


Spät abends an der Augartenbrücke in Wien spricht die Dirne Leocadia den Soldaten Franz
an, der auf dem Weg in die Kaserne ist. Weil es ihm bis zu ihrem Zimmer zu weit ist, treiben
sie es in einer dunklen Ecke am Donauufer. Danach hat der Soldat es noch eiliger als zuvor, in
seine Kaserne zu kommen.
Dirne: Du!
Soldat: Na, was willst denn?
Dirne: Geh, ein Sechserl für'n Hausmeister gib mir wenigstens!
Soldat: Ha! ... Glaubst, ich bin deine Wurzen ... Servus! Leocadia ...
Dirne: Strizzi! Fallott!
(Seite 17f – Wurzen: einer, der sich ausnützen lässt)

Der Soldat und das Stubenmädchen


An einem Sonntagabend zieht der Soldat Franz das Stubenmädchen Marie vom Wurstelprater
weg in eine dunkle Allee.
Stubenmädchen: Jetzt sagen S' mir aber, warum S' durchaus schon haben fortgehen müssen.
(Seite 21)

Stubenmädchen: So gehen wir zurück, wo Leut sein.


Soldat: Wir brauchen keine Leut, was, Marie, wir brauchen .... dazu .... haha.
Stubenmädchen: Aber, Herr Franz, bitt' Sie, um Gotteswillen, schaun S', wenn ich das ....
gewusst .... oh .... oh .... komm! ....
Soldat (selig): Herrgott noch einmal .... ah ....
Stubenmädchen: .... Ich kann dein G'sicht gar nicht sehn.
Soldat: A was – G'sicht .....
––––––––––––––
Soldat: Ja, Sie, Fräul'n Marie, da im Gras können S' nicht liegen bleiben.
(Seite 26)
Nach dem Koitus will er Soldat rasch zurück zum Prater, obwohl das Stubenmädchen nach
Hause muss.

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Soldat: Na ja, geh' halt zu Hause.
Stubenmädchen: Ich hab' halt 'dacht, Herr Franz, Sie werden mich z'haus führen.
Soldat: Z'haus führen? Ah!
Stubenmädchen: Geh'n S', es ist so traurig, allein z'haus geh'n.
(Seite 29)

Das Stubenmädchen und der junge Herr


Der junge Herr Alfred liegt rauchend auf dem Diwan. Seine Eltern sind aufs Land gefahren,
die Köchin hat Ausgang; nur das Stubenmädchen Marie ist im Haus. Er zieht sie zu sich herab
und knöpft ihr die Bluse auf ...

Der junge Herr und die junge Frau


Am Abend erwartet der junge Herr Alfred im Salon eine junge Frau namens Emma. Sie
kommt angeblich nur für einen Sprung vorbei und erinnert ihn mehrmals daran, dass er
versprach, "brav" zu sein. Immer wieder betont sie, dass sie schon wieder fort sein müsste –
doch sie bleibt.
Die junge Frau: Oh nein, es ist schändlich ... von mir. Ich begreife mich selber nicht. Adieu,
Alfred, lassen Sie mich. (Seite 54)

Die junge Frau (schwächer): Schauen Sie Alfred, und Sie haben doch versprochen, brav ....
Und es ist so hell ... (Seite 60)
Der junge Herr trägt die junge Frau ins Schlafzimmer. Nach dem zweiten Beischlaf beteuert
sie erneut: "Aber jetzt muss ich wirklich fort."

Die junge Frau und der Ehemann


Spät abends unterhalten sich die junge Frau Emma und ihr Ehemann Karl.
Der Gatte: [...] Du bist ja das klügste und entzückendste Wesen, das es gibt. Ich bin sehr
glücklich, dass ich dich gefunden habe.
Die junge Frau: Das ist aber nett, wie du den Hof machen kannst – von Zeit zu Zeit.
Der Gatte [...]: Für einen Mann, der sich ein bisschen in der Welt umgesehen hat – geh', leg
den Kopf an meine Schulter – der sich in der Welt umgesehen hat, bedeutet die Ehe eigentlich
etwas viel geheimnisvolleres als für euch junge Mädchen aus guter Familie. Ihr tretet uns rein
und .... wenigstens bis zu einem gewissen Grad unwissend entgegen, und darum habt ihr
eigentlich einen viel klareren Blick für das Wesen der Liebe als wir.
Die junge Frau (lachend): Oh!
Der Gatte: Gewiss. Denn wir sind ganz verwirrt und unsicher geworden durch die vielfachen
Erlebnisse, die wir notgedrungen vor der Ehe durchzumachen haben. [...] Uns wird das, was
man so gemeinhin Liebe nennt, recht gründlich widerwärtig gemacht; denn was sind das
schließlich für Geschöpfe, auf die wir angewiesen sind!
Die junge Frau: Ja, was sind das für Geschöpfe?
Der Gatte (küsst sie auf die Stirn): Sei froh, mein Kind, dass du nie einen Einblick in diese
Verhältnisse erhalten hast. Es sind übrigens meist recht bedauernswerte Wesen – werfen wir
keinen Stein auf sie.
Die junge Frau: Bitt' dich – dieses Mitleid – Das kommt mir da gar nicht recht angebracht vor.
Der Gatte (mit schöner Milde): Sie verdienen es. Ihr, die ihr junge Mädchen aus guter Familie
wart, die ruhig unter Obhut euerer Eltern auf den Ehrenmann warten konntet, der euch zur
Ehe begehrt; – ihr kennt ja das Elend nicht, das die meisten von diesen armen Geschöpfen der
Sünde in die Arme treibt.
(Seite 82ff)

24
Der Gatte [...]: [...] Ich denke doch, dass es gerade für euch, anständige Frauen, nichts
Widerwärtigeres geben kann, als alle diejenigen, die es nicht sind.
(Seite 85)

Der Gatte: Versprich mir etwas, Emma.


Die junge Frau: Nun.
Der Gatte: Dass du nie mit einer Frau verkehren wirst, bei der du auch den leisesten Verdacht
hast, dass sie ...... kein ganz tadelloses Leben führt.
(Seite 89)

Der Gatte und das süße Mädel


Das süße, neunzehnjährige Mädel wohnt noch mit ihren Geschwistern bei der Mutter. Jetzt
sitzt es mit dem Ehebrecher Karl in einem Chambre separée des Riedhofs.
Das süße Mädel: Was machst denn? (Sie küsst seine Haare.) .... Du in dem Wein muss 'was
drin gewesen sein – so schläfrig .... du, was g'schieht denn, wenn ich nimmer aufsteh'n kann?
Aber, aber, schau, aber Karl .... und wenn wer hereinkommt .... ich bitt' dich .... der Kellner.
Der Gatte: Da .... kommt sein Lebtag .... kein Kellner .... herein ....
––––––––––––––
Das süße Mädel (lehnt mit geschlossenen Augen in der Divanecke)
(Seite 118)

Das süße Mädel und der Dichter


Das süße Mädel betritt mit dem Dichter Robert dessen Zimmer.
Der Dichter: Freilich bist du so dumm. Aber gerade darum hab' ich dich lieb. Ah, das ist so
schön, wenn ihr dumm seid. Ich mein' in der Art wie du. (Seite 134)
Obwohl das süße Mädel versichert, gleich wieder fort zu müssen, lässt es sich überreden, Hut
und Mantel abzulegen. Während es das Mieder auszieht, mahnt es den Dichter:
Aber du darfst deswegen nicht schlimm werden. (Seite 140)

Der Dichter und die Schauspielerin


Der Dichter betritt zusammen mit einer selbstbewussten Schauspielerin ein Zimmer in einem
Gasthof auf dem Land. Nach einer Weile schickt sie ihn hinaus, und er geht vor dem Fenster
spazieren, während sie sich entkleidet. Dann ruft sie ihn wieder herein, schlüpft ins Bett und
fordert ihn auf, sich an den Bettrand zu setzen.
Schauspielerin: Nun, wem bist du in diesem Moment untreu?
Dichter: Ich bin es ja leider noch nicht.
(Seite 160)

Die Schauspielerin und der Graf


Der Graf macht der Schauspielerin, die noch im Bett liegt, einen Anstandsbesuch. Sie fordert
ihn auf, sich etwas von ihr zu wünschen und ist enttäuscht, als er lediglich um die Erlaubnis
bittet, am Abend nach der Theatervorstellung mit ihr zusammen sein zu dürfen. Er erläutert
ihr, es sei nicht stilvoll, sich schon vor dem Frühstück zu lieben ("aber Frauen wie du ....
nimmt man nicht vor dem Frühstück zu sich"); er bevorzuge es, zuerst zu soupieren und sich
in Stimmung zu versetzen.
Schauspielerin (zieht ihn an sich)
Graf: Es ist wirklich heiß.
Schauspielerin: Findest du? Und so dunkel, wie wenn's Abend wär' ..... (reißt ihn an sich) Es
ist Abend .... es ist Nacht .... Mach' die Augen zu, wenn's dir zu licht ist. Komm! ... Komm! ....
Graf (wehrt sich nicht mehr)

25
––––––––––––––
Schauspielerin: Nun, wie ist das jetzt mit der Stimmung, du Poseur?
(Seite 190)
Der Graf und die Dirne
Morgens um 6 Uhr erwacht der Graf im Zimmer der Dirne Leocadia. So betrunken wie in
dieser Nacht war er schon seit zehn Jahren nicht mehr: Er weiß zwar noch, wie er mit seinem
Freund Lulu in das Hurenkaffeehaus hineinging, aber er kann sich nicht erinnern, wie er
hierher gekommen ist. Jetzt will er schleunigst fort.
Graf: [...] Also das ist doch das Höchste ... ich bin bei so einer und hab' nichts getan, als ihr
die Augen geküsst, weil sie mich an wen erinnert hat ... (Seite 207)
Die Dirne erwacht und klärt ihn darüber auf, dass er nach dem Betreten des Zimmers
zusammen mit ihr auf den Diwan hingefallen und nach dem Beischlaf sofort eingeschlafen
sei.
Graf: [...] Also ... Es wär' doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen geküsst hätt'.
Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen ... Es war mir halt nicht bestimmt. [...] (Seite 210)

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Hugo von Hofmannsthal
Der Tod und der Tod

Der Tor und der Tod ist ein kurzes Drama in Versen („lyrisches Drama“) von Hugo von
Hofmannsthal, verfasst 1893. Die erste Veröffentlichung erfolgte 1894 im „Modernen Musen-
Almanach“ unter dem Verfasserpseudonym „Loris“, die erste Buchausgabe 1900. Die
Uraufführung am 13. November 1898 erfolgte unter der Leitung von Ludwig Ganghofer.

Inhalt
Das Stück spielt laut Angaben des Autors in den 1820er Jahren und handelt von der
Begegnung des Edelmanns Claudio mit dem Tod. Der Tod kommt zu Claudio, um ihn aus
dem Leben abzuführen, und konfrontiert ihn mit bereits verstorbenen wichtigen Menschen
aus seinem Leben – seiner Mutter, seiner ehemaligen Geliebten und einem Jugendfreund. In
den Begegnungen wird ihm klar, dass er zu diesen Menschen keine tieferen Bindungen
entwickelt hat. Er lebte nach Art eines Dandys gegenüber anderen Menschen in einer
ästhetisch-distanzierten Haltung, ohne sich auf sie einzulassen und sie an sich heranzulassen.
Der Moment des Sterbenmüssens macht ihm dieses Defizit bewusst und paradoxerweise ist
erst die Todesstunde voller emotionaler Lebendigkeit. „Da tot mein Leben war, sei Du mein
Leben, Tod“. Claudio sinkt am Schluss tot nieder; die letzten Verse des Todes lauten:

Wie wundervoll sind diese Wesen,


Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen,
Verworrenes beherrschend binden
Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.

Konzeption
Hugo von Hofmannsthal vereinigt in seinem Stück Elemente des Impressionismus mit solchen
des Symbolismus. Das symbolistische Drama mit seiner imaginativen Sprache eignet sich
eher dafür, Bilder und Klänge in der Vorstellung des Lesers wachzurufen als ein konkretes
Bühnengeschehen zu konstituieren. Symbolistische Dramen sind handlungsarm.

Anders als das Theater des Naturalismus, das ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts eine
Blütezeit erlebte, ist das symbolistische Theater kein Illusionstheater. In diesem wird der
Zuschauer gezielt in die Illusion versetzt, er beobachte (quasi wie durch ein Schlüsselloch)
einen „realen“, „jetzt“ stattfindenden Vorgang, und die Beobachteten seien sich nicht der
Tatsache bewusst, dass ihnen von „Voyeuren“ zugeschaut werde. Eine solche Illusion kann
bei Der Tor und der Tod nicht entstehen, und zwar deshalb, weil es den Tod als „reale
Person“ nicht gibt und weil Tote nicht „wirklich“ sprechen können. Die Annahme, Claudio
könne mit einer der drei vom Tod vorgeführten Gestalten einen Dialog führen, ist absurd, da
sie nicht derselben Fiktionsebene wie der „jetzt sterbende“ Claudio entstammen. Sie sind
bereits tot, sprechen aber trotzdem und treten in der Gestalt auf, die sie in der Erinnerung
Claudios haben.

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Der Tor und der Tod enthält zugleich Elemente einer Überwindung des Symbolismus,
den Gero von Wilpert mit den folgenden Worten charakterisiert:
Die Sprache des S[ymbolismus] strebt nach äußerster Musikalität; sie will „der Musik
wieder abgewinnen, was die (früheren realistischen) Dichter an sie verloren hatten“
und vertieft durch die Besinnung auf die eigentlichen sprachlichen Mittel der
Dichtung wie Reim, Rhythmus, Melodie, selbst im Wortschatz
(bes[onders] Synästhesien) und Satzbau die sprachkünstlerische Durchgestaltung bis
zu e[inem] magisch-mystischen Ästhetizismus, der sich an e[inen] erlesenen Kreis
wendet und später dekadent überspitzt wird, doch in den roman[ischen] Ländern zu
e[iner] Erneuerung hoher Verskunst führt.[3]
Das lyrische Drama Hofmannsthals propagiert nicht nach Art des Symbolismus Claudios
Ästhetizismus, sondern es kritisiert ihn.

Biografische Bezüge

In seinem überwiegend 1947 und 1948 verfassten Essay Hofmannsthal und seine


Zeit behauptet Hermann Broch, das gesamte Werk Hofmannsthals sei „mit
seiner narzisstischen Zentralgestalt, die erstmals in Der Tor und der Tod auftritt, eine einzige
Anklage, eine wissende Anklage gegen die ästhetisierende Bürgerlichkeit, in der er
aufgewachsen und erzogen worden war, und der er bei allem Wissen um sie doch kaum mehr
zu entgehen vermochte.“ Denn im Wien der Endphase der Habsburgermonarchie,
Hofmannsthals Heimatstadt, sollte, so Broch, „ein Minimum an ethischen Werten […] durch
ein Maximum an ästhetischen, die keine mehr waren, überdeckt werden, und sie konnten
keine mehr sein, weil der nicht auf ethischer Basis gewachsene ästhetische Wert sein
Gegenteil ist, nämlich Kitsch. Und als Metropole des Kitsches wurde Wien auch die des
Wert-Vakuums der Epoche.“

Auch Natalia Karczewka stellt fest, dass für die junge Generation der nicht auf eine
Erwerbsarbeit angewiesenen Erben im Wien um die Jahrhundertwende „die Schönheit zu
einem Schutzwall gegen die Wahrheit und die Kunst zu einem Ersatz der Sittlichkeit“
geworden sei und dass Hugo von Hofmannsthal genau das mit seinem Werk Der Tor und der
Tod habe kritisieren wollen.

Inhaltsangabe (2)
Tod, Der
Tritt auf, nachdem der Kammerdiener seinen Herrn Claudio darüber informiert hat, dass sich
im Garten unheimliche Gestalten tummeln. Der Tod ist zunächst nur akustisch in Form seines
Geigenspiels präsent und versetzt Claudio in einen dionysischen Taumel. Nach Verstummen
der Musik tritt der Tod hinter dem Vorhang hervor und stellt sich als »großer Gott der Seele«
aus »des Dionysos, der Venus Sippe« vor (III, 70). Indem er aber nicht nur das dionysische
Prinzip, sondern auch die anthropologische Grenze des Menschen verkörpert, legt er Claudios
Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit des Lebens als Todessehnsucht offen: »Wenn sich im
plötzlichen Durchzucken / Das Ungeheure als verwandt enthüllte, / Und du, hingebend dich
im großen Reigen, / Die Welt empfingest als dein eigen: / […] Hab ich dich angerührt im
Seelengrunde / Mit heiliger, geheimnisvoller Macht.« (III, 71) Claudios Einwand, er könne

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jetzt nicht sterben, weil er noch gar nicht gelebt habe (vgl. III, 71), lässt der Tod nicht gelten
(vgl. III, 75). Er gemahnt ihn an die verpasste Chance eines immanenten Lebensentwurfs (vgl.
III, 72), indem er ihn mit drei Verstorbenen konfrontiert. Seine von ihm vernachlässigte
Mutter, seine von ihm schändlich behandelte Geliebte und sein schmerzlich von ihm
betrogener Freund führen dem Ästhetizisten sein amoralisches Verhalten vor Augen.
Nachdem Claudio hiernach »tot zu den Füßen des Todes« niedergesunken ist, geht der Tod
»kopfschüttelnd« ab (III, 79).

Claudio, ein Edelmann


Allein in seiner Studierstube, umgibt sich Claudio dort mit altertümlichen
Kunstgegenständen. Er phantasiert sich in eine arkadische Kunstwelt hinein und schaut bei
Abendsonne sehnsuchtsvoll durchs Fenster hinaus in das »Menschenleben« (III, 64), von dem
er sich isoliert weiß: »Ich hab mich so an Künstliches verloren, / Daß ich die Sonne sah aus
toten Augen.« (III, 66) Als Claudio kurz nach der Nachricht über die seltsam unmenschlich
anmutenden Gestalten in seinem Garten das Geigenspiel des Todes vernimmt, versetzt ihn
dies in einen ekstatischen Zustand dionysischen Taumels. Dieser wird aber mit dem
Verstummen der Musik jäh unterbrochen (vgl. III, 70). Als der Tod mit Geige und Bogen in
der Tür erscheint, entsetzt sich Claudio über dessen Anblick: »Wie packt mich sinnlos
namenloses Grauen! / Wenn deiner Fiedel Klang so lieblich war, / Was bringt es solchen
Krampf, dich anzuschauen?« (III, 70) Claudio erbittet sich vom Tod einen Aufschub, um in
der verbleibenden Zeit endlich wahrhaftig leben zu können (vgl. III, 72). Seine Beteuerungen,
das Leben nunmehr intensiver leben und seine Mitmenschen bewusster wahrnehmen zu
wollen, nimmt der Tod ungerührt zur Kenntnis und präsentiert ihm mit seiner toten Mutter,
seiner toten Geliebten und seinem toten Freund die Konsequenzen seines bisherigen
amoralischen Verhaltens. In der Begegnung mit den Verstorbenen zeigt Claudio Reue und
Scham und gibt sich dem Tod schließlich hin: »Da Tod mein Leben war, sei du mein Leben,
Tod!« (III, 79) Erst als er stirbt, meint er zur Besinnung zu kommen: »Erst, da ich sterbe, spür
ich, daß ich bin.« (III, 79)

Diener (Claudios Kammerdiener)


Claudios Kammerdiener teilt seinem Herrn mit, dass sich vor dem Haus ein »Schwarm
unheimliches Gesindel« aufhält (III, 67). Aus Furcht vor diesen Gestalten, die »wie
Kupferstiche angezogen sind« und »mit toten Augen / Auf einen wie in leere Luft schauen«
(III, 68), verriegelt er Balkon- und Haustüre.

Mutter, Die (Claudios Mutter)


Claudios tote Mutter wird vom fiedelnden Tod auf die Bühne gerufen. Sie ist »nicht sehr alt«
(III, 73), ist von zarter Statur und klagt über ihr Dasein als Mutter, das bestimmt war von der
Angst um einen Sohn, der die mütterliche Fürsorge nicht wahrzunehmen fähig war: »Ein
Mutterleben, nun, ein Drittel Schmerzen, / Eins Plage, Sorge eins. Was weiß ein Mann /
Davon?« (III, 74) 

Mädchen, Das junge (Eine Geliebte des Claudio)


Nach dem Auftritt der Mutter holt der Tod das junge Mädchen durch die Klänge eines alten
Volksliedes auf die Bühne. Das Mädchen trägt ein »einfaches großgeblümtes Kleid« (III, 75)
und erinnert sich an die einzigartig schöne Liebe, die sie mit Claudio verband, bis dieser die
Liaison »achtlos grausam« durch einen Brief beendete (III, 76). Claudios ehemalige Geliebte
war nach »langem, öden Elend« gestorben (ebd.). Auf dem Sterbebett hatte sie sich
gewünscht, in Claudios Todesstunde bei ihm zu sein.

29
Mann, Der (Ein Jugendfreund)
Claudios verstorbener Jugendfreund tritt unmittelbar nach dem jungen Mädchen auf. Er hat
ein ungepflegtes Äußeres, »in seiner linken Brust steckt mit herausragendem Holzgriff ein
Messer« (III, 76). Verbittert spricht er von der einst innigen, indes immer auch
spannungsgeladenen und ungleichen Freundschaft mit Claudio, die endgültig zerbrach, als
Claudio die große Liebe seines Freundes zerstörte, weil ihn die Auserkorene seines Freundes
»reizte« (III, 78). Der Jugendfreund erkannte daraufhin sein »Geschick« im Tod. Von der
»giftigen Nähe« seines gehassten einstigen Weggefährten befreit, weiß er sich ihm nun
überlegen: »Ja, für ein Hohes trieb mich mein Geschick / In dieser Mörderklinge herben
Tod, / Der mich in einen Straßengraben warf, / Darin ich liegend langsam moderte / Um
Dinge, die du nicht begreifen kannst, / Und dreimal selig dennoch gegen dich, / Der keinem
etwas war und keiner ihm.« (III, 78)

Der Ästhet Claudio


Der Protagonist aus Hugo von Hofmannsthals lyrischem Drama „Der Tor und der Tod“,
Claudio, hat sein Leben dem Ästhetizismus verschrieben. Gleich zu Beginn des Stückes zeigt
sich, dass er aus dem wirklichen Leben in eine Welt von Künstlichkeit geflohen ist. Noch
bevor sein Eingangsmonolog beginnt, in dem er Bilanz über sein bisheriges Leben zieht, wird
sein Studierzimmer beschrieben. Es wird deutlich, dass Claudio eine Vorliebe dafür hat, sich
mit Gegenständen zu umgeben, insbesondere mit solchen aus vergangenen Zeiten, die ein
treffliches Ambiente für seine Träumereien schaffen. Neben Kunstgegenständen, wie einer
dunklen Truhe, altertümlichen Musikinstrumenten und einem dunklen Bild, ist in seinem
Zimmer, durch große Fenster und Glastüren, viel Raum dem Draußen gewidmet, was einen
Kontrast zu den dunklen Dingen darstellt.

Claudio ist sich dessen bewusst, dass seine Sehnsucht nach innerer Erfüllung nicht durch
Gegenstände befriedigt werden kann. In früheren Zeiten waren diese Dinge von Lebendigkeit
erfüllt, doch nun da Claudio sein Leben lang nur durch diese Dinge empfand, hat sich diese
Lebendigkeit für ihn verflüchtigt. „Und wie ich eurer eigensinn’gen Seelen / Jedwede, wie die
Masken durchempfunden, War mir verschleiert Leben, Herz und Welt“. Die Gegenstände
erinnern ihn bloß daran, wie ein erfülltes, volles Sein aussehen könnte.

Claudio beobachtet durch das Fenster seines Studierzimmers die abendliche Landschaft.
Durch das Fenster ist sein Blick wie ein Bild umrahmt. Die Aussicht, die sich ihm bietet
beschriebt er mit den Worten: „So malen die Meister von den frühen Tagen / Die Wolken,
welche die Madonna tragen“. Die natürliche Schönheit der Abendlandschaft bekommt für
Claudio erst durch den Vergleich mit der Kunst einen Wert, er braucht das Künstliche, um das
Natürliche genießen zu können. Claudios Leben ist lediglich der Kunst gewidmet, durch die
er versucht Zugang zum wirklichen Leben zu bekommen. Da ihm dies nicht gelingt, bleibt
sein Leben weiterhin inhaltslos und leer.

Wie die Abendlandschaft transportiert er auch menschliche Beziehungen und Arbeit in ein
Verhältnis ästhetischer Distanz. So stellt Claudio „die gute Mattigkeit der Glieder“ der
Arbeitenden, die wie „die wilden Bienen sind / Um […] Gottes helle, heiße Luft“, in Bezug
zu seiner eigenen Müdigkeit. Er wünscht sich, diese durch Arbeit zu verspüren und nicht
durchs Nichtstun und Nachdenken. In allem Reichtum, in dem Claudio lebt, sehnt er sich nach
einem einfachen Leben in der Natur, da er annimmt, dass die Menschen dort ein erfüllteres
Leben führen als er es tut. Durch das Beobachten der Arbeiter auf dem Berg wird ihm
bewusst, wie sehr er selber aus dem Leben ausgeschlossen ist.

30
Claudio kennt zwar Stimmungen, von denen er sich gerne tragen lässt, es fehlt ihm aber an
Tiefe des Gefühls sowie an leidenschaftlicher Hingabe. Sobald er in seinem Leben nur den
Hauch von Gefühlen verspürte, hat er diese so gründlich analysiert und durchdacht, dass
tiefere Emotionen nicht entstehen konnten. Wenn ihn ein Schmerz gestreift hat, kam
„Unbehagen […] an Schmerzes Statt“. Der Schmerz stellt hier etwas Positives dar, weil man
erst richtig leben kann, wenn man Gefühle wie Schmerzen erfahren hat. Da Claudio nie
Schmerz oder Traurigkeit empfunden hat, war es ihm auch nicht möglich positive Gefühle zu
entwickeln.

Claudio sagt in seinem Eingangsmonolog, er habe das Menschenleben verstanden, sich aber
nie darein verweben oder sich daran verlieren können. Er konnte sich also nie gehen lassen
und für das Leben offen sein, da er sich dem Leben nicht aussetzte ohne vorher abzuwägen
und zu durchdenken was passieren wird.

Claudio lebt ohne soziale Bindungen zurückgezogen in seinem Wohlstand. Wie schwer es
ihm fällt Kontakt zu anderen Menschen aufzubauen wird deutlich, wenn er sagt, dass er sich
fühlt als müsse er erst „an sieben vernagelte Pforten / Mit blutigen Fingern schlagen“, um ein
Gespräch mit seinen Mitmenschen aufzubauen. Soziale Kontakte bereiten ihm also große
Mühe. Zu anderen Menschen verhält sich Claudio lediglich als Beobachter. Er beobachtet das
Leben dieser und malt sich deren Welt aus, die für ihn unerreichbar scheint, ohne sich selbst
darin zu verlieren. Dieses Zuschauen des eigenen Lebens und des Lebens anderer sowie seine
Sehnsucht nach einem vollen Dasein vergrößern seine Distanz zum Leben, da beides seinen
Blick in die Ferne schweifen lässt.

Claudio weiß, dass er sich „an Künstliches verloren“ hat und dass er aus toten Augen gesehen
und mit toten Ohren gehört hat. Er erlebt sein Studierzimmer als „Rumpelkammer voller
totem Tand“. Er ist sich darüber im Klaren, dass er sich durch seine Besitztümer zwar über
sein nicht existentes Leben hinweggetröstet, durch diese aber keinen Weg ins Leben
gefunden, hat. Aus seinem Unzufriedenheit heraus versucht er, aus der Sicht des klugen
Ästheten, Genuss daraus zu ziehen „So schmerzlich klug und so enttäuschter Sinn / in müdem
Hochmut liegend, in Entsagen / Tief eingesponnen leb ich ohne Klagen / In diesen Stuben, in
dieser Stadt dahin“.

31
Robert Musil
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ist der erste Roman von Robert Musil und gilt als
eines der frühen Hauptwerke der literarischen Moderne. Die Erstausgabe erschien 1906
im Wiener Verlag. Mit Hilfe der psychologischen Darstellung der Pubertät von vier Schülern
spiegelt der Roman modellhaft autoritäre Gesellschaftsstrukturen wider, indem er einen
Zusammenhang zwischen psychischer Disposition und diktatorischer Institution herstellt. Die
Handlung spielt vor dem Hintergrund der Ichfindung des jungen Törleß im Spannungsfeld
von Rationalität und Emotionalität einerseits sowie Intellektualismus
und mystischerWelterfahrung andererseits.

Inhalt
Musil beschreibt Vorgänge an einem Provinzinternat der österreichisch-ungarischen k. und k.
Monarchie. Törleß und seine zwei Mitschüler Reiting und Beineberg ertappen den jüngeren
Mitschüler Basini beim Stehlen, halten dies aber geheim, um ihn bestrafen und quälen zu
können. Während Beineberg und Reiting Basini hauptsächlich physisch und sexuell
misshandeln und foltern, versucht Törleß auf psychischer Ebene von Basini zu lernen.
Obwohl auch er Basini zu einem erotischen Lust- und Versuchsobjekt degradiert und,
zumindest verbal, wie einen Sklaven behandelt, widert ihn der plumpere
erpresserische Sadismusseiner Mitstreiter Reiting und Beineberg zunehmend an. Trotzdem
übt die Demütigung Basinis einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er ist jedoch (noch) nicht fähig,
diesen als Faszination der Macht zu entlarven, in Worte zu fassen und hinter das Geheimnis
der „Seele“ des Menschen zu kommen, als deren Schlüssel ihm Basinis Verhalten erscheint.
Eine Vorausblende in der Mitte des Romans erwähnt den erwachsenen Törleß, der sich seines
früheren Verhaltens im Internat keineswegs schämt. Und gegen Ende des Romans konstatiert
der Erzähler: „Eine Entwicklung war abgeschlossen. Die Seele hatte einen neuen Jahresring
angesetzt wie ein junger Baum – dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte
alles, was geschehen war.“

Deutung
„Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der
Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der
Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt.
Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder
ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und
trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“
– MAETERLINCK
Das Zitat aus Maeterlincks Der Schatz der Armen ( Le Trésor des humbles, 1896), das Musil
dem Roman voranstellt, markiert das Erkenntnisinteresse des Dichters, der das Werk nur
vordergründig als Schul- oder Pubertätsroman verstanden wissen wollte. Musil gab im Juli
1907 in einem Brief an Matthias di Gaspero folgende Hinweise:
„Das Buch ist nicht naturalistisch. Es gibt keine Pubertätspsychologie, wie viele andere, es
ist symbolisch, es illustriert eine Idee. Um nicht mißverstanden zu werden, habe ich ein Wort
von Maeterlinck, das ihr am nächsten kommt, vorausgesetzt.“
32
Und in einem verworfenen Vorwort schrieb Musil: „Wer die Wahrheit dieser Worte an sich
erlebt hat, wird dieses Buch verstehen.“[2]
Die Interpretationen des Romans gehen von unterschiedlichen Lesarten aus, zum Beispiel
davon,

 dass Musil in der Gestalt der Hauptfigur die Entwicklungskrise eines künstlerisch
sensiblen Menschen darstellt, die zumindest teilweise auch sein eigenes Problem zum
Zeitpunkt der Entstehung des Romans war;
 dass die Erzählung „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ dort aufhört, wo Musils
Haupt- und Lebenswerk, sein fragmentarisch gebliebener Roman Der Mann ohne
Eigenschaften einsetzt, dass also der junge Törleß später zu Ulrich wird;
 dass Musil sich in den Verwirrungen des Zöglings Törleß in künstlerischer Form noch
einmal mit denjenigen Fragen befasst, die ihn auch schon in seiner Dissertation über die
Erkenntnistheorie Ernst Machsbeschäftigten;
 dass Musil neben der „Interpretation jugendlichen Wachstums […] zugleich das Bild
kommender Diktatur und der Vergewaltigung des einzelnen durch das System visionär
vorzeichnet“. (Klappentext der Rowohlt-Taschenbuchausgabe)

Törleß
Die Symbolik der Bahnhofsszene, die auf den ersten Seiten beschrieben wird, kann auf
Törleß' Seele bezogen werden: So wie die Atmosphäre am Bahnhof verlassen und trostlos
wirkt, so fühlt sich auch Törleß im Internat einsam und leer. Seine Verwirrungen liegen in der
Hin- und Hergerissenheit zwischen der gutbürgerlichen Moral seiner Herkunft einerseits und
den Ansichten seiner charakterlich schon wesentlich gefestigteren (aber auch wesentlich
oberflächlicheren) Freunde Beineberg und Reiting andererseits. Er nimmt die Position eines
Beobachters ein, der nur selten aktiv ins Geschehen eingreift. Seine Gedanken werden oft
direkt (zum Teil auch in den regelmäßigen Briefen an seine Eltern) wiedergegeben. Törleß'
Grundeinstellung ist zu Anfang des Romans von einem realistischen Denken geprägt, das
jedoch im Laufe der Monate immer mystischere Formen annimmt. Da der Leser an seinen
Denkprozessen beteiligt wird und die Welt vor allem aus Törleß' Perspektive wahrnimmt,
erlebt er die Titelfigur trotz all ihrer Schwächen als einen sich vom Jugendlichen zum
Erwachsenen entwickelnden Charakter, dem man seine Sympathie nie ganz versagen kann.
Törleß verändert sich im Laufe seiner Pubertät immer mehr zu einem „jungen Mann von sehr
feinem und empfindsamen Geiste“, zu einer „ästhetisch-intellektuellen [Natur]“ (S. 158).
Bereits früh kennzeichnet ihn die unablässige Suche nach einer tieferen, hinter der Fassade
des Normalen und Augenscheinlichen angesiedelten Wirklichkeit, die er durch genaue
(Selbst-) Beobachtung („Talent des Staunens“, S. 34) zu erfassen versucht. Er vermag
allerdings den Sinn seines Strebens noch nicht in Worte zu fassen und als Identitätsfindung zu
erkennen (S. 160 „[Die Erinnerung an meine Jugend] verging. Aber etwas von ihr blieb für
immer zurück.“; Seite 162 „Er wußte nur, daß er etwas noch Undeutlichem auf einem Wege
gefolgt war, der tief in sein Inneres führte […] und war dabei in die engen, winkligen
Gemächer der Sinnlichkeit gelangt.“). Derartige Empfindungen und Gedanken verleihen ihm
einen kritischen Blick auf seine Umwelt und distanzieren ihn von seinen Mitmenschen.
Immer wieder stellt er fest, dass er anders ist als die übrigen Zöglinge. So auch bei den
Besuchen der Prostituierten Božena, die ihn weniger sexuell als vielmehr wegen des
„Heraustreten[s] aus seiner bevorzugten Stellung unter die gemeinen Leute“ (S. 40) reizen.

33
Beineberg
Er orientiert sein Denken und Handeln an den Erkenntnissen der indischen Religion und an
deren Lehre vom Aufsteigen und Loslösen der Seele, womit er alle seine Experimente und
Quälereien an Basini rechtfertigt. Seine kalte Herrschsucht bringt ihn dazu auszuprobieren,
wie weit er gehen kann, bis Basinis ohnehin schon schwacher Charakter endlich zerbricht.
Dass er mit seinen hypnotischen Experimenten bei Basini scheitert, lässt ihn in der
Verteidigung seiner antirationalen Pseudophilosophie noch verbissener werden.
Als Nihilist und Gegner der christlichen Moral spiegelt er, wenn auch in recht wirrer
Form, NietzschesIdee vom Übermenschen wider.
Reiting
Er ist ausschließlich am Militär interessiert und möchte Offizier werden. Basini stellt für ihn
den Untergebenen dar, an dem er seine Wut entladen und seine Macht ausüben kann, um auf
diese Weise, wie er behauptet, Erfahrungen für seine spätere Vorgesetztenlaufbahn zu
sammeln. Er stammt aus kleinen sozialen Verhältnissen und sieht in der Internatsausbildung
seine einzige berufliche Chance. Um ihm diese nicht zu nehmen, verzichtet Beineberg darauf,
Reiting wegen seiner „Schweinerei“ mit Basini anzuzeigen.
Mit Reiting zeichnet Musil das Bild eines machtbesessenen Intriganten, der seine Erfüllung
darin findet, seine Mitschüler gegeneinander auszuspielen und jeden, der sich ihm
entgegenstellt, durch Drohungen, Züchtigungen oder öffentliche Erniedrigungen aus dem
Wege zu räumen. Als Kreditgeber und erpresserischer Schuldeneintreiber repräsentiert er
zudem auch die Unmenschlichkeit und Korruptheit des Finanzwesens.
Basini
Basini wird zunächst als Sündenbock missbraucht, weil er gestohlen hat. Später wird er zu
Törleß' wichtigster Komplementärfigur und akzeptiert bereitwillig
seine masochistische Opferrolle. Auch er kommt (entgegen seiner Aussage, dass seine Mutter
eine vermögende Dame und sein Vormund Exzellenz sei) aus einem sozial schwachen
Elternhaus. Seine Mutter ist in Wahrheit eine arme Witwe. Sein daraus resultierendes
Minderwertigkeitsgefühl versucht er durch männliche Aufschneiderei und Spendiergehabe zu
überspielen, was ihn letztlich zwingt, Schulden zu machen und zum Dieb zu werden.
Fürst H.
Der junge Fürst H. schließlich ist in seinem Verhalten, seiner Diktion, seiner Erscheinung, ja
sogar in seiner Motorik (ähnlich Törleß) anders, „geschmeidig[er]“, „weich[er]“, „sanft[er]“
(S. 13) als die restlichen Zöglinge und wird deshalb von ihnen als „weibisch“ (Seite 12)
abgetan. Törleß ist der einzige, der sich mit ihm versteht, und ist fasziniert von dieser „Art
Mensch“ (S. 13), die es ihm erlaubt, auf harmonische Art seine Menschenkenntnis zu
schärfen. Dass ausgerechnet diese unschuldige Harmonie durch Törleß selbst leichtsinnig
zerstört wird, markiert den Verlust seiner Kindheit und den Beginn seiner „Verwirrungen“.
Elternhaus
Die scheinbar noch heile Welt des konventionellen Großbürgertums wird verkörpert durch
Törleß' Eltern, bei denen er, zumindest zu Beginn des Romans, häufig in seinen Briefen
Zuflucht sucht. Sie geben ihm zunächst seinen moralischen und den bürgerlichen
Gepflogenheiten entsprechenden Rückhalt. Er merkt jedoch bald, dass ihre gut gemeinten
Ratschläge zu sehr Allgemeinplätze bleiben und ihn nicht weiterbringen, sodass er immer
mehr allein auf sich selbst angewiesen ist.

34
Schule
Das fiktive „Konvikt zu W.“, eine Analogie zu der vom Autor besuchten Militär-
Unterrealschule Eisenstadt, weist vor allem negative Facetten auf. Es herrscht eine
strikte Hierarchie unter den Schülern. Die charakterlich und körperlich Schwächeren bzw.
Sensibleren sind genötigt, unter der Herrschaft der Stärkeren zu leben, wie das Beispiel des
Tyrannen Reiting und des Ideologen Beineberg zeigt, die ihr Opfer Basini in eine sklavische
Rolle zwingen und durch Demütigungen dessen charakterliche Zerstörung anstreben.
Auch Curriculum und Didaktik des Internats werden negativ bewertet. In einem Gespräch
befinden Törleß und Beineberg, dass man den Lernstoff zwar lerne, abgesehen davon aber
innerlich „leer“ (S. 30) bleibe. Das von Törleß erstrebte „weltliche“ Wissen zu erfahren,
scheint nicht nur unerwünscht, sondern auch unmöglich zu sein. Abgesehen davon bietet der
Stundenplan den Schülern offensichtlich viel Freizeit. Nicht selten hat Törleß Gelegenheit,
sich physisch und psychisch vom Internat zu entfernen, wie gleich zu Anfang der Erzählung
deutlich wird, als er mit Beineberg die „Dorfhure“ Božena besucht. Über den Unterricht selbst
erfährt der Leser schon deshalb wenig, weil den größten Raum der Erzählung nicht das
Internatsleben, sondern der Fall Basini einnimmt. Die Bibliothek des Internats ist nur recht
mangelhaft ausgestattet. „Denn dort waren in der Büchersammlung wohl die Klassiker
enthalten, diese galten jedoch als langweilig, und sonst fanden sich nur sentimentale
Novellenbände und witzlose Militärhumoresken“ (S. 16).
Als Törleß anhand des mathematischen Problems der imaginären Zahlen versucht,
tiefergehende Probleme zu ergründen, speist ihn der Professor damit ab, dass Törleß für
derartige Fragen noch zu unerfahren sei: ein Beleg für die Unfähigkeit der Lehrkräfte, auf die
eigentlichen Interessen ihrer Schüler einzugehen. Dieser Mangel wird am Ende des Romans
noch offenkundiger, als Musil durch die genaue Beschreibung der Ahnungs- und
Verständnislosigkeit der Pädagogen seine sozialkritischen Absichten noch deutlicher
hervorhebt. Der langweilige und weltfremde Unterricht scheint kaum geeignet, die
Jugendlichen auf das Leben vorzubereiten, und birgt von vornherein die Gefahr des
Scheiterns. Die strenge, militärisch orientierte Tradition des Internats und der latente Wille
zur Selbstverwirklichung seiner Kadetten lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Die
veralteten Strukturen zeigen sich beispielsweise in der ironischen Beschreibung des biederen
Arbeitszimmers des Mathematiklehrers: „Auf dem ovalen Tische mit den X-Füßen, deren
graziös sein sollende Schnörkel wie eine mißglückte Artigkeit wirkten“ (S. 106). An anderer
Stelle nennt der Erzähler die Schule ohne jede Beschönigung einen Ort, „wo die jungen
aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten“ (S. 161) werden.

Der Erzähler
In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß herrscht eine auktoriale
Erzählsituation beziehungsweise eine Nullfokalisierung vor. Der Erzähler kommentiert,
korrigiert und deutet die Ereignisse:

 „Er hielt es für Heimweh, für Verlangen nach seinen Eltern. In Wirklichkeit war es
aber etwas viel unbestimmteres und zusammengesetzteres.“ (S. 9)
 „Er war nicht lasterhaft. […] Nur seine Phantasie war in eine ungesunde Richtung
gebracht. […] Das war nicht anders als bei jungen Leuten überhaupt.“ (S. 30)
 „Aber man darf auch wirklich nicht denken, dass Basini in Törleß ein richtiges und –
wenn auch noch so flüchtig und verwirrt – wirkliches Begehren erregte.“ (S. 109)

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Historischer Hintergrund
Der Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß entstand um 1900, in einer Zeit der
Unsicherheit und Umbrüche. Die k.u.k. Monarchie stand nur noch vermeintlich fest
gegründet. Die Wiener Moderne war gekennzeichnet von politischen, sozialen, technischen
und kulturellen Veränderungen, von tiefgreifenden Gegensätzen (vor allem dem zwischen
Tradition und Avantgarde), besonders aber von der Betonung
desIndividualismus (vgl. Sigmund Freuds damals entstehende Psychoanalyse). In jener Zeit
wurden konfliktträchtige Tragödien jugendlicher Helden zu einem bevorzugten literarischen
Stoff. In den Verwirrungen des Zöglings Törleß thematisiert Musil besonders die
gesellschaftliche Moral und Prüderie gegenüber der erwachenden Sexualität von Schülern.
Das Grundthema des Romans ist jedoch die Ichfindung beziehungsweise Gründung eines
individuellen Selbstbewusstseins in einer autoritären Gesellschaft. Über den Umweg der
Selbstentfremdung durch die Erkenntnis seines eigenen Sexual- und Aggressionstriebs reift in
Törleß schließlich ein amoralisches ästhetisches Bewusstsein, das zwar noch sprachlos bleibt,
aber schon den späteren Künstler in ihm wachsen lässt: „diese Wortlosigkeit fühlte sich
köstlich an, wie die Gewissheit eines befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft
schon in seinem Blute fühlt“ (letzte Seite des Romans).
Die Vertreter der Wiener Moderne hatten den Untergang der „Donaumonarchie“ lange
kommen sehen, unter ihnen auch Robert Musil, der schon früh Kritik am Einfluss von
Aristokratie, Bürokratie, Kirche, Militär und Schule übte. Er demonstriert im Törleß die
Gefahren einer militärisch orientierten Erziehung. Törleß' Erlebnisse spiegeln Musils eigene
Erfahrungen. Auch er sollte militärisch erzogen und auf die Laufbahn im Staatsdienst
vorbereitet werden und besuchte dazu die Militärschulen in Eisenstadt und in Mährisch-
Weißkirchen, die sein Leben von Grund auf veränderten. Im Gegensatz zu dem im Roman
dargestellten Internat, das vorwiegend den vornehmen Kreisen vorbehalten ist und sich der
Ausbildung einer Elite gewidmet hat, ähnelten Robert Musils „Schulen“ allerdings eher
spartanischen Zuchtanstalten, in der die Zöglinge eingepfercht wie Gefangene leben und
lernen mussten. Trotzdem diente Musil sein Roman nicht zuletzt auch der Verarbeitung des
Erlebten und der Abrechnung mit militärischen „Zuchtmethoden“, wie sie dann, nur dreißig
Jahre später, in der Zeit des Nationalsozialismus ad absurdum geführt wurden.

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Inhaltsangabe (2) + eine Inhaltsangabe in PDF-Format

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Heinrich Mann
Pippo Spano

Pippo Spano ist eine Novelle von Heinrich Mann, die – im Frühjahr 1903 in Florenz
geschrieben – im Dezember 1904 in der Sammlung Flöten und Dolche bei Albert Langen in
München erschien.
Der Schriftsteller Mario Malvolto möchte tapfer sein wie weiland sein Idol, der
Türkenbezwinger Pippo Spano. Der Modeliterat wird aber als Mörder verschrien.

Inhalt

In einer Mondnacht lässt sich Malvolto von Florenz in das nahe gelegene
Städtchen Settignano durch eine Landschaft kutschieren, in der „die Blütenbäume weithin im
bleichen Lichte“ schwimmen. Daheim angekommen, hält der Literat Zwiesprache mit Pippo
Spano, genauer mit dem Bildnis des Condottiere an der Wand über dem Schreibtisch. Der
Schriftsteller schimpft sich einen Neurastheniker, der in seinem Zwang zur Größe so ein
Gewissen brauche wie der Söldnerführer auf dem Bildnis an der Wand. Malvoltos Anspruch
ist kein geringer. Soll doch die Kunst dem „unzulänglichen Spätgeborenen ein zweites,
mächtigeres Leben schaffen“. In seinem „melancholischen Stolz“ fühlt er jedoch, dass sein
Werk nicht durch Kraft geschaffen wurde, sondern bloß durch den „Willen zu ihr“.
Ungeduldig fragt Malvolto nach dem Lohn: Wozu dient der Ruhm, „wenn er nicht Liebe
einträgt“. Gemeint ist die Liebe zu der 17-jährigen schönen Contessina Gemma Cantoggi aus
Florenz. Das junge Mädchen kommt zu dem Schriftsteller nach Settignano. Es betet ihn an.
Er, dem „die Welt nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen“, schläft zum wiederholten Male
mit ihr. Ein Grund: Der niederträchtige Malvolto, selber schwach, „muß in schöne, starke
Menschen“ – wie Gemma oder auch Pippo Spano – „eindringen“. Nach dem Genusse aber
möchte er das Mädchen „in Bälde los sein“. So weit ist es aber noch nicht ganz. Während
Malvolto auf Gemma wartet, muss sich der Skribent seine unerklärliche Schreibhemmung
eingestehen. Zwar fühlt er, Gemma hat aus ihm einen Menschen gemacht, zwar denkt er die
allergrößten Gedanken – der Künstler zwinge sich der Welt auf mit der Ausschweifung, „die
Kunst heißt“ – doch das halb fertige Manuskript in der Schreibtischschublade bleibt
unberührt. Das die Nerven zermürbende Warten hat ein Ende. Gemma kommt wieder. Die
blutjunge Frau, die in Malvolto zuerst den Künstler verehrt, nötigt ihn mit Nachdruck zum
Weiterschreiben. Es kommt dabei nichts Gescheites heraus. Malvolto verbrennt sein
Manuskript und setzt Gemma ins Bild. Es gibt nur noch die Liebe zwischen den beiden „und
dann kommt der Tod“. Denn starke Menschen, zu denen sich Malvolto neben Gemma und
Pippo Spano zählen möchte, sterben „auf einmal“.
Gemma nimmt den furchtbaren Todesgedanken auf. Beim letzten Treffen – unter dem Bildnis
Pippo Spanos – eröffnet sie Malvolto: „Lieber, wir müssen sterben.“ Der äußere Anlass:
Gemma wurde auf Malvoltos Terrasse nackt abgelichtet. Das fotografische Werk des
voyeuristischen Zaungasts findet in Florenz Absatz. Malvolto bringt zunächst ein paar
Ausflüchte vor, erdolcht dann aber Gemma in einem entsetzlichen Blutrausch, „ehe sie es
erwartet hatte“. Als die sterbende Gemma mit Blicken fordert, dass nun Malvolto, wie
angekündigt, Hand an sich legt, denkt der Feigling: ’Was geht das Geschick dieser Sterbenden
mich an!' und zögert, bis Gemma „Mörder!“ schreit und stirbt.
Malvoltos Erkenntnis kommt zu spät. Er wollte hinscheiden „wie Starke sterben: auf einmal“
und muss sich nun zu den Schwachen zählen. Dazu passt seine Schuldzuweisung. Pippo
Spano an der Wand, ein Starker, habe Malvolto, den „steckengebliebenen Komödiant“,

38
verführt.

Eine Schlüsselnovelle

Heinrich Manns Novelle „Pippo Spano“ wird in der Sekundärliteratur als mehrfache
Schlüsselnovelle angesehen. Zum einen wendet sie sich von der Literatur der Décadence ab,
indem sie mit dem Bild des Pippo Spano auf eine Karikatur des italienischen Paradedécadents
Gabriele D’Annunzio (1863-1938) abzielt3. Dieser Dichter und Politiker verherrlichte in
seinen Werken ein dionysisch-rauschhaftes Leben voller trunkener Hingabe an neue Ideale,
die Nietzsche etwa mit den Schlagworten „Übermensch“ oder „Wille zur Macht“ benannte.
Auch Mario Malvolto will sich in dieser Welt erproben, „wo Gewalt geübt wird und trunkene
Hingabe [...] wo man ganz lebt und auf einmal stirbt.“4 Dass er daran scheitert, beweist die
Wertlosigkeit der dekadenten Ideale, die dem Künstler höchstens eine idealisierte, krankhaft
überzogene Vorstellung vom wahren Leben sind, letztendlich aber als wertlos enttarnt
werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Ästhetizismus, dem zweiten Dreh- und Angelpunkt
der Schlüsselnovelle. Dieser Oberbegriff für die Décadence und andere europäische
Ausprägungen proklamiert ein hochstilisiertes Leben. Tatsächlich lassen sich ästhetizistische
Elemente in „Pippo Spano“ finden. So etwa die jugendstilhafte Beschreibung von Gemmas
Arm als Blütenstempel mit herabfallenden Blättern 5oder die kulturell-künstlerischen
Anspielungen (Gemma als Santa Venere etc...)6. Auch wenn ästhetizistischen Elemente
durchaus vorhanden sind, heißt das nicht, dass der Text im Ganzen notwendigerweise
ästhetizistisch ist. Schließlich geht Mario Malvolto in seiner stilisierten Beziehung zu Gemma
nicht auf. Er ist ein „steckengebliebener Komödiant“7, der das Stilisierte nicht durchhält und
damit sogar einen schlechten Schauspieler abgibt, denn er kann seine Rolle nicht zu Ende
spielen. Schließlich kann „Pippo Spano“ noch als Schlüsselnovelle für den Autor selbst
angesehen werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts orientierte er sich neu, wandte sich ab
vom Ästhetizismus und hin zur einer sozialkritischen Kunst8. Diese beleuchtet auch die
Schattenseite der übersteigerten Inszenierung des Lebens, im Falle Mario Malvoltos die
Schuld am Leben beziehungsweise die Schuld am Tod Gemmas.

Der dekadente, ästhetizistische Lebensbegriff dient als Folie für das Verhalten Mario
Malvoltos. Dieser Künstler strebt danach, das Leben zu finden und von der Kunst
abzugrenzen. Man könnte auch die Vermutung anstellen, dass Heinrich Mann über die
Literatur hinter der Maske Malvoltos einen Rollenentwurf für sich selbst erprobt 9 und
schließlich zu der Einsicht kommt, dass die Lebensauffassung des Ästhetizismus jedoch noch
zu sehr in den Fängen der Kunst hängt. Letzteres soll im Folgenden gezeigt werden.

Die Künsterproblematik und ihre erzähltechnische Realisierung

Vorweg muss die Art und Weise des Erzählens untersucht werden, da diese den Inhalt ganz
entscheidend beeinflusst. Ausgangspunkt für die Frage nach der Beschaffenheit des Erzählers
ist die Aussage, Mario Malvolto sei ein „steckengebliebener Komödiant“.

Geht man davon aus, dass dies die Worte eines personalen Erzählers sind, so macht der
Künstler einen Erkenntnisprozess durch. Dieser lässt ihn erkennen, dass seine Liebe zu
Gemma, hinter der das Leben steht, nichts als „Komödie“ 10 war. Noch immer ist er unfähig,
die Gedanken an die Kunst zu verbannen und dem Leben naiv und offen zu begegnen. Selbst
als die Geliebte Todesqualen leidet, kann er nicht davon ablassen, in künstlerischen
Kategorien zu denken: „Er sah wieder die weite Welt daliegen. [...] Welche namenlose Reize
39
schillerten ringsumher auf Frauen, Kämpfen, Worten. [...] Wozu starb sie denn, wenn er
nichts mehr aus ihr machen sollte.“11Wahrscheinlich wird auch Gemma bald zu Literatur
verarbeitet. Somit ist das Leben immer nur Plattform für die Kunst. Darin besteht die
Künstlerproblematik Mario Malvoltos, in die er Einsicht hätte, wäre die genannte Aussage die
eines personalen Erzählers. Für diese These spricht, dass nur das Gedankengut des Künstlers
an den Leser weitergegeben wird, dass also durch die persona, die Maske Marios, gesprochen
wird. Wertungen oder Kommentare von außen fehlen. Für die personale Erzählweise typische
Merkmale sind hingegen vorhanden: erlebte Rede und innerer Monolog. Ein Beispiel für
letzteren: „man [...] darf nichts ahnen von meinen schwarzen Ängsten, von der Demütigung,
die mir jede Frau, jedes große Kunstwerk, jeder gesunde Mann zufügt.“ Erlebte Rede, innere
Monologe, Scheindialoge mit sich selbst, seinem Widersacher oder dem Pippo-Spano-
Gemälde sowie der nur in Gedanken geschrieben Brief sind Mittel, durch welche die
Einsamkeit und die Persönlichkeitsspaltung Mario Malvoltos auch erzähltechnisch deutlich
gemacht wird13. Ein Vorteil der personalen Erzählweise wäre, dass der Leser über die
Beschaffenheit Gemmas im Unklaren gelassen werden kann. Einzig Marios Aussagen und
Gedanken dienen als Quelle für ihre Untersuchung. Somit ist nicht sicher, dass es sich bei
Gemma um eine reale Figur handelt. Sie könnte ebenso als Symbol für das Leben gesehen
werden und als etwas im Inneren von Mario Malvolto, das ihn zum Leben drängt. So könnte
es sich bei der letzten Aussage der Novelle um eine innere Reflexion seines Umgangs mit
dem Leben handeln. Er würde sich am Ende also eingestehen, dass die das Leben tötende
Kunstproduktion sein wohl größtes Problem ist. Immer schlüpft er von einer Rolle in die
andere. Von der des bewunderten Dramendichters in die des Genussmenschen und dann
wieder in die des Schriftstellers, der die Blätter des Lebens sammelt, um sein Kunstherbarium
damit zu schmücken. Er betreibt ein Rollenspiel um eine leere Mitte, in welchem die
Kostümierung eine Folge der Substanzlosigkeit ist. In seinem Inneren ist nichts. Mario
Malvolto besteht nur aus verschiedenen ästhetizistischen Schichten, von denen eine der Kraft-
und Tatmensch Pippo Spano ist. Ist Gemma jedoch real, so würde er in der äußeren
Wirklichkeit schuldig werden, und zwar indem er die Frau für seine Kunst so weit
instrumentalisiert, dass sie dadurch zu Tode kommt. Dass sich dies so verhält, ist aber
unwahrscheinlicher, eben weil die Mordszene auffallend – vielleicht zu auffallend – brutal
gestaltet ist: „Aber ein Stückchen weißes Fleisch rollte ihm gegen den Magen. Was war das?
Das Glied eines Fingers. Er hatte ihr einen Finger abgeschnitten.“

Eine andere Möglichkeit ist, dass es sich um einen auktorialen Erzähler handelt. In diesem
Fall wäre die Schlussaussage als Verurteilung vonseiten einer Erzählinstanz zu deuten, die
sich außerhalb befindet. Damit würde Mario Malvolto der Erkenntnisprozess genannter Art
fehlen. Er würde einen Erkenntnisprozess anderer Art durchmachen, und zwar einen
künstlerischen. Er würde feststellen, dass der eigene Tod nicht gespielt werden kann und
deswegen ausbleiben muss. Dies brächte ihn in seinen Bemühungen um das Leben nicht
weiter. Es wäre nur eine Feststellung, eine Randbemerkung ohne weiteren Effekt. Belege für
die Möglichkeit eines auktorialen Erzählers lassen sich ebenfalls finden: „Sie küßte ihn und
verstand nicht, was er noch dachte.“ 15 Diese Äußerung wird eindeutig nicht durch die persona
Mario Malvoltos gemacht.

Die Mehrdeutigkeit führt dazu, dass sich die Unfähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Kunst
zu unterscheiden, von der Hauptfigur auf den Leser überträgt: Dieser weiß nicht, ob Gemma
real oder nur Kunstprodukt ist. Diese Frage kann auch nicht beantwortet werden, wie die
genannten Belege für beide Möglichkeiten zeigen. Letztendlich geht es hier um das
Phänomen der Intertextualität: Texte beziehen sich aufeinander und auf die Wirklichkeit, die
sie in irgend einer Form wiedergeben. Man kann also kaum zwischen Realität und
literarischen Texten unterscheiden. Durch die Übertragung der Problematik unterstützt die
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Form der Novelle den Inhalt. Dieser soll im folgenden Kapitel vor dem Hintergrund der
Mehrdeutigkeit eingehender untersucht werden.

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Thomas Mann
Buddenbrooks

Buddenbrooks: Verfall einer Familie (1901) ist das früheste unter den großen
Werken Thomas Manns und gilt heute als der erste Gesellschaftsroman in deutscher Sprache
von Weltgeltung.[1] Er erzählt vom allmählichen, sich über vier Generationen hinziehenden
Niedergang einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie und illustriert die gesellschaftliche Rolle
und Selbstwahrnehmung des hanseatischen Großbürgertums in den Jahren von 1835 bis 1877.
Der Roman berichtet jedoch nicht nur vom Ende einer Familie, noch bezeichnet er bloß das
Ende der literarischen Überlieferung, von der er selbst ein letztes großes Beispiel ist.
Vielmehr weist er auch auf die schöpferischen Kräfte hin, die der Zusammenbruch der alten
Ordnung freisetzt. Deshalb ist auch die solide Ordnung der dargestellten Welt weit davon
entfernt, antiquiert zu sein. Der Essayist Erich Heller formulierte: „Indem die konventionelle
Organisation des Werks die Idee einer Kunst in sich schließt, welche die Konvention
zerbrechen muß, widerlegen die Buddenbrooks auf höchst ironische Weise den Verdacht der
Konventionalität.“[2]
Als Vorlage der Handlung diente Thomas Manns eigene Familiengeschichte. Schauplatz des
Geschehens ist seine Heimatstadt Lübeck. Ohne dass der Name der Stadt ausdrücklich
erwähnt wird, sind viele Nebenfiguren nachweislich literarische Porträts von Lübecker
Persönlichkeiten jener Zeit.

Inhalt

Der Roman ist in elf Teile gegliedert, die jeweils eine unterschiedliche Zahl von Kapiteln
enthalten.

Erster Teil
An einem Donnerstag im Oktober 1835 haben Buddenbrooks ihre Familienangehörigen,
Bekannte und Geschäftsfreunde auf ein ganz einfaches Mittagsbrot in ihr neues Haus gebeten,
nach großbürgerlicher Sitte für den späten Nachmittag. Das neue Heim, als Gebäude und
Anwesen gleichermaßen weitläufig, war erst kürzlich von der in Konkurs gegangenen Familie
Ratenkamp für 100.000 Kurantmark erworben worden. Die Errichtung des repräsentativen
Hauses, in der Lübecker Mengstraße gelegen, geht auf das Jahr 1682 zurück.
Im Eröffnungsteil werden dem Leser drei Generationen der Familie Buddenbrook vorgestellt:
Das energische Familienoberhaupt Johann Buddenbrook d. Ä. und dessen Gattin Antoinette;
ihrer beider Sohn Johann Buddenbrook d. J. (genannt Jean) nebst Gattin Elisabeth (Bethsy),
dazu die Kinder der beiden, die achtjährige Antonie (Tony), der neunjährige Thomas und der
siebenjährige Christian. Auch die Gäste sind Teil des künftigen Romanpersonals.
Johann Buddenbrook d. Ä. ist Inhaber der Getreidegroßhandlung Buddenbrook, die er von
seinem Vater, dem Firmengründer, übernommen hat. Sein Sohn Jean ist Associé im
Familienunternehmen und steht seinem Vater an Geschäftstüchtigkeit in nichts nach. Schon
manches Mal war er ihm im entschlossenen Ergreifen des Vorteils überlegen gewesen. Doch
im Gegensatz zu seinem unsentimentalen Vater hat er einen Hang
zu pietistischer Frömmigkeit. Stets ist er darauf bedacht, als Mensch von religiösem
Empfinden wahrgenommen zu werden.

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Gegessen wird von Meißner Tellern mit Goldrand und mit schwerem Silberbesteck. Das ganz
einfache Mittagsbrot besteht aus Kräutersuppe nebst geröstetem Brot, Fisch, einem
kolossalen, ziegelroten, panierten Schinken mit Schalottensauce und einer solchen Menge von
Gemüsen, daß alle aus einer einzigen Schüssel sich hätten sättigen können. Darauf
folgt Plettenpudding, ein schichtweises Gemisch aus Makronen, Himbeeren, Biskuits und
Eiercreme, zu dem goldgelber, traubensüßer alter Malvasier in kleinen Dessertweingläsern
gereicht wird. Abschließend trägt das Folgmädchen[10] noch Butter, Käse und Früchte auf.
In einer kontrastierenden Parallelhandlung wird der nicht anwesende Sohn des
Familienoberhauptes aus erster Ehe, Gotthold Buddenbrook, der vor Jahren verstoßen wurde,
um einen Teil seines Erbes gebracht. Senior- und Juniorchef sprechen sich ab, nachdem die
Gäste gegangen sind. Der pietistisch-fromme Jean rät seinem Vater, die Forderung Gottholds
guten Gewissens abzuweisen, damit das Firmenvermögen nicht geschmälert werde.
Gotthold Buddenbrook war wegen einer unstandesgemäßen Heirat verstoßen worden. Er
hatte, dem strengen Verbot des Familienoberhauptes zum Trotz, eine Mamsell
Stüwing geehelicht und damit nicht in eine Firma, sondern in einen Laden eingeheiratet. In
der überschaubaren Handelsstadt aber wurde haarscharf unterschieden zwischen den ersten
und zweiten Kreisen, zwischen Mittelstand und geringem Mittelstand.

Zweiter Teil
Die Buddenbrooks führen eine Familienchronik, ein dickes Goldschnittheft, dessen
Aufzeichnungen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zurückreichen. Darin hält am 14. April
1838 Jean Buddenbrook, heiter und in frommer Dankbarkeit, die Geburt seiner Tochter Clara
fest, seines vierten Kindes. Im Rückblättern stößt er auf die Zeilen, die seine Verheiratung
betreffen. Diese Verbindung war, sollte er ehrlich sein, nicht gerade das gewesen, was man
eine Liebesheirat nennt. Sein Vater hatte ihm auf die Schulter geklopft und ihn auf die
Tochter des reichen Kröger, die der Firma eine stattliche Mitgift zuführte, aufmerksam
gemacht, er war von Herzen einverstanden gewesen und hatte fortan seine Gattin verehrt, als
die ihm von Gott vertraute Gefährtin… Mit der zweiten Heirat seines Vaters hatte es sich ja
nicht anders verhalten.
In der Stadt hat die Familie Hagenström Fuß gefasst. Herr Hagenström ist Mitinhaber der
Exportfirma Strunck & Hagenström und hat in eine reiche jüdische Familie aus Frankfurt
eingeheiratet, was in den ersten Kreisen der Stadt mit Befremden aufgenommen wurde. Die
Hagenströms konkurrieren schon bald mit den Buddenbrooks, geschäftlich wie
kommunalpolitisch. Auch die Kinder beider Familien rivalisieren bereits miteinander. Als
Hagenströms Sohn, der kleine Hermann, auf dem gemeinsamen Schulweg im Tausch gegen
sein Frühstück einen Kuss von Tony einfordert, wehrt sie ihn aus Standesdünkel ab. Seine
Schwester mischt sich ein und es kommt zu einer Rauferei zwischen den Mädchen. Fortan
gehen sich die Kinder aus dem Weg.
1842 stirbt nach kurzer Krankheit Madame Antoinette Buddenbrook, Ehefrau von Johann
d. Ä. Nach ihrem Tod wird der Witwer immer apathischer und zieht sich schließlich aus der
Firma zurück. Jean Buddenbrook ist jetzt alleiniger Inhaber der traditionsreichen, 1768
gegründeten Getreidehandlung. Im März 1842, wenige Monate nach dem Dahinscheiden
seiner Frau, stirbt auch Johann Buddenbrook d. Ä. einen sanften Tod. Trotz der für Gotthold
Buddenbrook ungünstigen Bestimmungen des väterlichen Testaments, an denen Jean festhält,
beginnt eine zaghafte Versöhnung zwischen den Halbbrüdern.
Nach Ostern 1842 tritt Thomas Buddenbrook, sechzehnjährig, als Lehrling in die Firma ein.
Er arbeitet mit Hingabe, den stillen und zähen Fleiß des Vaters nachahmend. Der

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Firma, diesem vergötterten Begriff, sind nach Auszahlung von Erbansprüchen und
Vermächtnissen bedeutende Mittel verloren gegangen. In einer nächtlichen Unterredung klärt
Jean Buddenbrook seine Frau darüber auf, dass die Familie gar nicht so ungemein reich ist.
Der Gymnasiast Christian Buddenbrook erregt den Unmut seines Vaters, als ruchbar wird,
dass der vierzehnjährige Knirps mit einem Bukett für 1 Mark 8 ½ Schilling, einem
ansehnlichen Betrag, in die Garderobe einer Schauspielerin des Stadttheaters marschiert ist,
einer Demoiselle Meyer-de la Grange. Die junge Künstlerin ist die Geliebte eines allgemein
bekannten Lebemannes, der gerade zugegen ist, als der junge Christian seine drollige
Aufwartung macht, sodass der Vorfall sich in der engen Stadt schnell herumspricht.
Aus erzieherischen Gründen muss Tony, als sie einen argen Hang zu Hoffart und Eitelkeit zu
zeigen und Liebesbriefe mit einem Gymnasiasten auszutauschen beginnt, in
ein Mädchenpensionat. Geleitet wird es von der buckligen, kleinwüchsigen Therese (Sesemi)
Weichbrodt. Trotz deren strenger Obhut verlebt Tony hier mit ihren beiden Freundinnen
Armgard von Schilling und Gerda Arnoldsen eine glückliche Jugendzeit.

Dritter Teil
Tony Buddenbrook ist 18 Jahre alt. Der Hamburger Kaufmann Bendix Grünlich hat bei Tonys
Eltern um ihre Hand angehalten. Tony ist bestürzt. „Was will dieser Mensch von mir -! Was
habe ich ihm getan -?“ und bricht in Tränen aus. Die Mutter redet ihr zu: „Die Verbindung,
die sich dir darbietet, ist vollkommen das, was man eine gute Partie nennt, meine liebe Tony.
[…] du hast Zeit zur Überlegung. […] Aber wir müssen zu Bedenken geben, daß eine solche
Gelegenheit, dein Glück zu machen, sich nicht alle Tage bietet, und daß diese Heirat genau
das ist, was Pflicht und Bestimmung dir vorschreiben. Ja, mein Kind, das muß ich dir
vorhalten.“
Tonys Vater bespricht sich mit der Mutter, nachdem er Grünlichs Geschäftsbücher eingesehen
und sich in Hamburg über ihn erkundigt hat: „Ich kann nicht anders, als diese Heirat, die der
Familie und der Firma nur zum Vorteil gereichen würde, dringend erwünschen! […] denn
noch eines, Bethsy, und das kann ich nicht oft genug wiederholen: […] Die Geschäfte gehen
ruhig, ach, allzu ruhig. […] Wir sind nicht vorwärts gekommen, seit Vater abberufen wurde.“
Grünlich macht Tony hartnäckig den Hof. Tony ist deprimiert, verliert ihre gewohnte Frische
und magert ab. Der Vater verordnet einen Erholungsaufenthalt an der Ostsee, in Travemünde,
im Haus des ihm gut bekannten Lotsenkommandanten Schwarzkopf. Dort lernt sie dessen
Sohn kennen, den Medizinstudenten Morten, der während der Semesterferien nach Hause
gekommen ist. Beide verlieben sich ineinander. Tony sagt Morten bei einem Spaziergang
zum Mövenstein zu, Grünlich nicht erhören und auf Mortens Doktorexamen warten zu
wollen. Dann will er bei ihren Eltern um ihre Hand anhalten. In einem Brief schreibt Tony
ihrem Vater „Dir, dem besten Vater, kann ich es ja sagen, daß ich anderweitig gebunden bin
an jemanden, der mich liebt, und den ich liebe, daß es sich gar nicht sagen läßt.“ Ihren
gemeinsamen Lebensplan teilt sie dem Vater ebenfalls mit.
Der Vater schreibt zurück, Grünlich drohe mit Selbstmord, falls er abgewiesen werde, und
appelliert an Tonys Christenpflicht. In Hinblick auf die tradierten Heiratsentscheidungen von
Familie und Firma Buddenbrook ermahnt er Tony: „Du müßtest nicht meine Tochter sein,
nicht die Enkelin Deines in Gott ruhenden Großvaters und überhaupt nicht ein würdiges
Glied unserer Familie, wenn Du ernstlich im Sinn hättest, Du allein, mit Trotz und
Flattersinn Deine eigenen, unordentlichen Pfade zu gehen.“
Von Tonys Vater informiert, kommt Grünlich nach Travemünde, stellt sich Mortens Vater
als Geschäftsfreund von Konsul Buddenbrook vor, gibt sich den Anschein, mit Tony so gut

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wie verlobt zu sein und beruft sich auf ältere Rechte. Der biedere Lotsenkommandeur, der die
Standesgrenzen seiner Zeit respektiert, rüffelt seinen Sohn. Mit dem gegenseitigen
Versprechen von Tony und Morten ist es aus.[11]
Tony unterwirft sich der Familienräson. Sie selbst trägt eines Morgens stolz ihre Verlobung
mit Grünlich in die Familienchronik ein, da sie der Meinung ist, mit der Verlobung der
Familie zu dienen. Grünlich erhält von Jean Buddenbrook eine Mitgift von 80.000 Mark. Zu
Beginn des Jahres 1846 heiratet Tony Buddenbrook Bendix Grünlich, Kaufmann zu
Hamburg.
Thomas bricht nach Amsterdam auf, um seine kaufmännischen Kenntnisse zu erweitern.
Zuvor verabschiedet er sich von seiner heimlichen Geliebten, der schönen, aber
armen Blumenverkäuferin Anna, und löst ihre gemeinsame Verbindung auf. Seine
Entscheidung rechtfertigt er gegenüber Anna damit, dass er später einmal die Firma
übernehmen werde und daher die Pflicht habe, eine Partie zu machen und sich standesgemäß
zu verheiraten.

Vierter Teil
Am 8. Oktober 1846 bringt Tony ihre Tochter Erika zur Welt. Grünlich hat außerhalb
Hamburgs eine Villa gekauft. Für gemeinsame Hamburg-Besuche wird eine Mietkutsche
bestellt. Er selbst fährt morgens mit dem kleinen gelben Wagen[12] in die Stadt und kommt erst
abends zurück.
Jean Buddenbrook verliert durch den Bankrott eines Geschäftspartners in Bremen auf einen
Schlag 80.000 Mark. In Lübeck muss er all die plötzliche Kälte, die Zurückhaltung, das
Mißtrauen auskosten, welche eine solche Schwächung des Betriebskapitals bei Banken,
Freunden, bei Firmen im Ausland hervorzurufen pflegt. Obendrein ist Grünlich
zahlungsunfähig geworden. Jean Buddenbrook besucht Tony in Hamburg und klärt sie über
die finanzielle Situation ihres Gatten auf. Tony ist aus Pflichtgefühl bereit, Grünlich in die
Armut zu folgen. Geschähe dies aus Liebe, so erwägt Jean, müsste er Tochter und Enkelkind
vor dieserKatastrophe bewahren und Grünlich um jeden Preis halten. Er entschuldigt sich nun
bei Tony, sie damals zur Ehe mit Grünlich gedrängt zu haben, und versichert ihr, dass er sein
Handeln in dieser Stunde aufrichtig bereue. Unter Tränen gesteht Tony, Grünlich niemals
geliebt zu haben. „Er war mir immer widerlich … weißt du das denn nicht?“ Um der Firma
kein weiteres Geld zu entziehen, kommen beide überein, dass Tony Grünlich verlässt und sich
wegen Unfähigkeit Grünlichs, für Frau und Kind zu sorgen, von ihm scheiden lässt. „Das
Wort ‚Firma‘ hatte eingeschlagen. Höchst wahrscheinlich wirkte es entscheidender als selbst
ihre Abneigung gegen Herrn Grünlich.“
In Gegenwart von Grünlichs Bankier, dem mephistophelisch-boshaften Kesselmeyer, sieht
Jean Buddenbrook erneut die Geschäftsbücher seines Schwiegersohnes ein. Von Kesselmeyer
erfährt er, dass er bei seinen früheren Erkundigungen über Grünlich ausgerechnet an dessen
Gläubiger geraten war. Sie hatten, um ihre ausstehenden Forderungen an Grünlich
abzusichern, dessen geschäftliche Situation beschönigt. Auch Grünlichs Geschäftsbücher,
über die sich Jean seiner Frau gegenüber so lobend geäußert hatte, waren gefälscht. Jetzt sieht
er, von Kesselmeyer höhnisch beglaubigt, die echten Zahlen. Es wird deutlich, dass Grünlich
Tony nur geheiratet hat, um ihre Mitgift zu erhalten und seinen Ruf in der Geschäftswelt zu
verbessern. In einem Wutanfall gesteht Grünlich dies auch ein.
Die Revolution 1848 nimmt in Lübeck einen sehr glimpflichen Verlauf, nicht zuletzt durch
das beherzte Eingreifen Jean Buddenbrooks. Aber sein Schwiegervater Lebrecht Kröger stirbt
vor Aufregung über die Canaille in Jeans Armen.

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1850 stirbt auch Jeans Schwiegermutter und dem Hause Buddenbrook fällt eine beachtliche
Erbschaft zu.
Christian Buddenbrook, der studieren und einen akademischen Beruf wählen sollte, hatte
diese Laufbahn abgebrochen und war als kaufmännischer Lehrling in eine Londoner
Handelsfirma eingetreten. Inzwischen hat ihn seine Unstetigkeit nach Valparaíso in Chile
geführt. Die mit Buddenbrooks konkurrierenden Hagenströms kommen weiter voran.
Jean Buddenbrook stirbt unerwartet 1855.

Fünfter Teil
1855 ist Thomas mit 29 Jahren Chef der Firma Buddenbrook und Familienoberhaupt. Das
Kapital beläuft sich auf 750.000 Mark. Elisabeth, die Witwe Jeans, wird als Universalerbin
eingesetzt, was sich später als verhängnisvoll erweisen wird. Der
langjährige Prokurist Friedrich Wilhelm Marcus avanciert auf testamentarischen Wunsch des
verstorbenen Jean Buddenbrook zum Teilhaber und bringt ein Eigenkapital von 120.000 Mark
ein. Fortan ist er gemäß dieser Quote am Gewinn beteiligt. Das Firmenvermögen (ohne
Grundbesitz) erhöht sich mit Marcus’ Einlage auf 870.000 Mark. Trotzdem ist Thomas
unzufrieden. Johann Buddenbrook hatte in seiner besten Zeit über 900.000 verfügt.
Der junge Chef bringt Frische und Unternehmungsgeist in die Firma, auch wenn er den
Bedenkenträger Marcus wie „eine Bleikugel“ hinter sich herziehen muss. In geschäftlichen
Verhandlungen setzt Thomas geschickt die Wirkung seiner Persönlichkeit ein. Er erfreut sich
überall großer Beliebtheit und Anerkennung: bei den Bediensteten des Hauswesens in der
Mengstraße, bei den Kapitänen seiner Handelsfirma, den Geschäftsführern in den
Speicherkontors, den Fuhrleuten und den Lagerarbeitern.
Auf Wunsch der Mutter kehrt 1856, nach achtjähriger Abwesenheit, Christian aus Übersee
zurück – in großkariertem Anzug und mit Manieren, die den englischen Stil imitieren.
Thomas stellt ihn als Prokuristen und Nachfolger von Herrn Marcus ein. Im Kontor erweist
sich Christian bald als Bummler. Thomas gegenüber macht er keinen Hehl aus seiner
Verachtung für die ordentliche Büroarbeit. Seine eigentlichen Talente kommen im Herrenclub
zur Geltung. Dort ist er mit seiner amüsanten, gesellschaftlichen Begabung gefragt und sorgt
mit kleinen improvisierten Auftritten für die Unterhaltung der anwesenden Herrschaften.
Nach Jean Buddenbrooks Tod hält seine Witwe Elisabeth das frömmlerische Treiben im
Hause aufrecht und steigert es noch. Sie hält täglich Andachten, eröffnet in den hinteren
Kontorräumen eine Sonntagsschule für kleine Mädchen und richtet für ältere Damen den
wöchentlichen Jerusalemsabend ein. Pastoren und Missionare gehen ein und aus, darunter
Pastor Sievert Tiburtius aus Riga, der bald um die Hand der neunzehnjährigen Clara anhält,
der jüngsten Tochter der Familie. Tony, die bei ihrer Mutter lebt, kann sich mit dem frommen
Treiben allerdings nicht recht anfreunden.
Thomas hält sich längere Zeit geschäftlich in Amsterdam auf. In einem Brief teilt er mit, dort
in Gerda Arnoldsen, der Tochter eines wohlhabenden Geschäftspartners und ehemaligen
Pensionsfreundin Tonys, seine künftige Gattin gefunden zu haben. Nach Ende des
Trauerjahres heiraten im Dezember 1856 sowohl Clara und Tiburtius als auch, zu Beginn des
Jahres 1857, Thomas und Gerda, mit der dem Hause Buddenbrook 100.000 Taler (300.000
Mark) Mitgift zufließen.
Während sich Thomas und Gerda auf eine zweimonatige Hochzeitsreise durch Oberitalien
begeben, richtet Tony das zuvor von Thomas erworbene neue und größere Haus für das junge
Ehepaar ein. Nach dessen Rückkehr gesteht Tony ihrem Bruder, dass auch sie gern wieder

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verheiratet wäre, um die Familie zu entlasten und weil sie sich im Haushalt ihrer frommen
Mutter doch langweile. Sie habe sogar kurzzeitig überlegt, eine Stelle als Gesellschafterin in
England anzunehmen, auch wenn dies eigentlich „unwürdig“ sei.

Sechster Teil
Thomas und Gerda Buddenbrook haben ihre erste Mittagsgesellschaft gegeben. Das Dinner
zog sich von fünf bis elf Uhr hin. An der Börse sprach man acht Tage lang in den lobendsten
Ausdrücken davon.Wahrhaftig, es hatte sich gezeigt, dass die junge Frau Konsulin [13] zu
repräsentieren verstand.
Tony kehrt gut gelaunt von einem längeren Aufenthalt in München zurück. Dort hat sie Alois
Permaneder, den Teilhaber einer Hopfenhandlung, kennengelernt. Thomas leidet unter
Christians peinlicher Geschwätzigkeit. Vor allem dessen ständige Mitteilungen über
Krankheitsanzeichen aller Art („Ich kann es nun nicht mehr“) empfindet er als unbeherrscht,
formlos und lächerlich. In der Stadt wird der jüngere Buddenbrook nur Krischan genannt,
seine Clownerien im Klub sind allgemein bekannt. Am meisten aber stört Thomas, dass
Christian seine Liebschaft mit Aline Puvogel, einer einfachen Statistin vom Sommertheater,
nicht verheimlicht, wie es der Anstand der Familie gebietet, sondern sich mit der vom Tivoli
auf offener, hellichter Straße zeigt.
Nachdem Christian im Klub behauptet hatte, eigentlich und bei Lichte besehen sei doch jeder
Geschäftsmann ein Gauner, kommt es zwischen den Brüdern zum Eklat. In einer Unterredung
unter vier Augen bringt Thomas seinen Bruder dazu, die Buddenbrooksche Firma zu
verlassen. Mit einem Vorschuss auf sein künftiges Erbe wird Christian Teilhaber einer
Hamburger Handelsfirma.
Tony hofft auf eine Ehe mit dem Hopfenhändler Permaneder, ihrer Münchener Bekanntschaft,
einem Mann von 40 Jahren. Tonys Kommentar: „Es handelt sich diesmal nicht um eine
glänzende Partie, sondern nur darum, daß die Scharte von damals durch eine zweite Ehe so
ungefähr wieder ausgewetzt wird.“ Nach einem unbeholfenen Anstandsbesuch des
schnauzbärtigen Junggesellen im Hause Buddenbrook kommt die Ehe tatsächlich zustande
und Tony zieht nach München, wo sie sich allerdings nicht recht eingewöhnen kann. Zu ihrer
Enttäuschung setzt sich Herr Permaneder mit den Zinsen aus Tonys Mitgift von 17.000 Talern
(51.000 Mark) zur Ruhe. Eine gemeinsame Tochter stirbt kurz nach der Geburt. Eines Nachts
überrascht Tony ihren Gatten, als er betrunken die sich wehrende Köchin zu küssen versucht.
Tony kanzelt ihn ab und verlässt ihn stehenden Fußes. Herr Permaneder stößt einen Fluch aus,
so ungeheuerlich, dass Tony „das Wort“ lange Zeit nicht über die Lippen bringen kann und
sich hartnäckig weigert, es Thomas gegenüber preiszugeben. Sie nimmt den Vorfall zum
Anlass, sich von dem Mann ohne Ehrgeiz, ohne Streben, ohne Ziele scheiden zu lassen.
Der Skandal einer zweiten Scheidung tangiert sie nicht. Thomas kann sie nicht umstimmen.
Herr Permaneder willigt in die Scheidung ein und gibt Tonys Mitgift zurück, ein Akt der
Fairness, den man ihm nicht zugetraut hatte.

Siebter Teil
1861 wird Hanno, Thomas’ und Gerdas Sohn, geboren. Er erhält die Namen Justus Johann
Kaspar. Die Taufe findet im Haus von Thomas Buddenbrook statt. Einer der
beiden Taufpaten ist der regierende Bürgermeister. Eingefädelt wurde die Patenschaft von
Konsul Thomas Buddenbrook und Tony Permaneder. Es ist ein Ereignis, ein Sieg! – Als
letzter Gratulant erscheint der Speicherarbeiter Grobleben, der im Nebenverdienst die Stiefel
von Thomas’ Familie putzt. Seine improvisierten Worte geraten dem unbeholfenen Mann

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wider Willen zu einer Art Grabrede. Thomas Buddenbrook springt ein und verhilft Grobleben
zu einem glimpflichen Abgang.
Christian Buddenbrook ist jetzt 33 Jahre alt, wirkt jedoch schon deutlich gealtert.
Seine hypochondrischen Klagen muten wahnhaft an. In Hamburg hatte er die Firma, in die er
als Teilhaber eingetreten war, nach dem Tod seines Partners gegen den Rat seines Bruders als
alleiniger Inhaber weitergeführt und steht nun vor einem finanziellen Desaster. Bethsy
Buddenbrook, seine Mutter, zahlt ihm einen weiteren Vorschuss von 5.000 Talern (15.000
Mark) auf sein Erbe aus. So kann Christian seine Schulden begleichen und einen Bankrott
vermeiden. Er will demnächst nach London wechseln und dort eine Stelle annehmen. Mit
Aline Puvogel, der Statistin vom Tivoli, hat er inzwischen eine uneheliche Tochter für die
er Alimente zahlen muss, Thomas ist allerdings der Meinung, das Kind sei Christian nur
untergeschoben worden.
Thomas Buddenbrook wird zum Senator in seiner Vaterstadt gewählt. Nur knapp kann er
seinen Konkurrenten Hermann Hagenström ausstechen, jenen Hermann Hagenström, dem in
gemeinsamen Kindertagen Tony einen Kuss verweigert hatte. Hagenströms gehören
mittlerweile zu den fünf oder sechs herrschenden Familien der Stadt.
1863 floriert die Firma wie zu Zeiten von Johann Buddenbrook d. Ä. Doch Thomas spürt ein
Nachlassen seiner Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit. In dem Wunsch nach einer
radikalen Änderung, nach Ausscheidung alles Alten und Überflüssigen lässt sich Thomas ein
neues, prächtiges Haus bauen, das 1864 bezogen wird.
Christian telegrafiert aus London und äußert die Absicht, Aline Puvogel heiraten zu wollen,
was von seiner Mutter aufs strengste zurückgewiesen wird.
Die körperliche Entwicklung des kleinen Hanno, des künftigen Chefs der Firma
Buddenbrook, geht nur langsam voran. Erst spät lernt er das Laufen und Sprechen.
Ein ungünstiger Geschäftsabschluss und ein Rededuell in städtischen Angelegenheiten, bei
dem er Hermann Hagenström unterliegt, lassen Thomas Buddenbrook ahnen, dass er Glück
und Erfolg nicht auf Dauer festhalten kann. Resigniert zitiert er ein türkisches
Sprichwort: „Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod.“
Clara Buddenbrook, verheiratete Tiburtius, ist gestorben. In ihren letzten Stunden hatte sie
ihre Mutter schriftlich und mit unsicherer Hand gebeten, ihr künftiges Erbe schon jetzt ihrem
Mann auszuzahlen, dem Pfarrer Tiburtius. Die frömmlerische Mutter übergeht das
Familienoberhaupt Thomas und kommt der Aufforderung nach, hinter der ganz offensichtlich
Tiburtius steckt. Thomas ist bestürzt, als er erfährt, dass seine Mutter
diesem Wicht und Erbschleicher 127.500 Kurantmark ausgezahlt hat. Immerhin hatte
Tiburtius bereits 80.000 Mark Mitgift erhalten. Die Mutter rechtfertigt sich, Christian und
Tony hätten ebenfalls zugestimmt. Dem „maroden Narren“ Christian, der zur Zeit mit
Gelenkrheumatismus in einem Hamburger Krankenhaus liegt, traut Thomas dies zu. Dass
aber auch Tony zugestimmt haben soll, nimmt er seiner Mutter nicht ab: „Tony ist ein
Kind“ und hätte es ihm ausgeplaudert.
Gegen Ende des Streites mit seiner Mutter gesteht Thomas: „Die Geschäfte gehen schlecht,
sie gehen zum Verzweifeln, genau seit der Zeit, daß ich mehr als Hunderttausend auf mein
Haus gewandt habe.“ 1866, im Jahr des Preußisch-österreichischen Krieges, verlieren
Buddenbrooks durch den Konkurs einer Frankfurter Firma 20.000 Taler (60.000 Mark).
Achter Teil
Tonys Tochter Erika, nunmehr 20 Jahre alt, heiratet 1867 den Direktor der Filiale einer
Feuerversicherung, den knapp vierzigjährigen Hugo Weinschenk, einen selbstbewussten,

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ungebildeten und gesellschaftlich plumpen Mann, der es auf ein Jahreseinkommen von 12.000
Kurantmark gebracht hat. Tony darf in die Wohnung des jungen Paares mit einziehen, um
ihrer im Haushalt noch unerfahrenen Tochter zur Hand gehen zu können. Die Heirat ihrer
Tochter macht sie überglücklich. Und es begann Tony Buddenbrooks dritte Ehe.
Christian ist wieder in der Stadt. Gerda Buddenbrook, die Geigenvirtuosin, und der an Theater
und Tingeltangel interessierte Christian kommen gut miteinander aus.
Das Kindermädchen Ida Jungmann berichtet Tony von Hannos sensibler Natur und schwacher
Gesundheit. Er gehe nicht gern zur Schule, habe nachts Albträume und rezitiere im Schlaf
Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn. Der alte Hausarzt Dr. Grabow wisse auch keinen
rechten Rat und begnüge sich mit der Diagnose pavor nocturnus.
Thomas Buddenbrook fühlt sich mit zweiundvierzig Jahren als ermatteter Mann. Doch kann
er seine Fassade mit viel Selbstdisziplin aufrechterhalten. Die Eleganz seines Äußeren blieb
dieselbe.
Auf Vermittlung von Tony lässt sich Thomas – entgegen den Prinzipien der Kaufleute
Buddenbrook – auf ein beträchtliches Spekulationsgeschäft ein: Im Frühjahr 1868 kauft er
dem in Geldnot geratenen Besitzer des mecklenburgischen Gutes Pöppenrade zum halben
Preis dessen gesamte Jahresernte an Getreide noch „auf dem Halm“ ab.
Einige Monate später, am 7. Juli 1868, wird die hundertste Wiederkehr des Gründungstages
(1768) der Firma Buddenbrook festlich begangen. Während der Feier erreicht Thomas
Buddenbrook ein Telegramm mit der Nachricht, dass ein Hagelschlag die „Pöppenrader
Ernte“ vernichtet habe.
Gerda Buddenbrook ist mit dem Organisten Pfühl befreundet. Sie streiten sich über die
Musik Wagners. An den Montagnachmittagen gibt Herr Pfühl dem kleinen Hanno Musik- und
Klavierunterricht. Im Gegensatz zur Schule, in der es ihm schwerfällt, sich zu konzentrieren,
zeigt Hanno hier eine mühelose Auffassung, denn man bestätigte ihm nur, was er eigentlich
von jeher schon gewußt hatte. An seinem achten Geburtstag spielt Hanno, von seiner Mutter
auf der Violine begleitet, der versammelten Familie eine kleine eigene Phantasie vor. Tante
Tony schließt ihn in die Arme und ruft: „Er wird ein Mozart“, allerdings hat sie von der
vorgetragenen Musik nicht das Geringste verstanden. Als sich Thomas bei Gerda beklagt,
dass die Musik ihn seinem Sohn entfremde, wirft diese ihm vor, dass es Thomas am
notwendigen Verständnis für die Kunst der Musik fehle.
Hanno ist eng befreundet mit dem gleichaltrigen Kai Graf Mölln. Eines Tages allein im
Wohnzimmer, blättert Hanno in der Familienchronik und liest das ganze genealogische
Gewimmel. Einer Intuition folgend, zieht er unter seinen Namen mit dem Lineal einen
doppelten Schlussstrich.[14] Seinem Vater, der ihn zur Rede stellt, antwortet er: „Ich glaubte
… ich glaubte … es käme nichts mehr!“
Weinschenk, der Mann von Tonys Tochter, hat mit
betrügerischen Rückversicherungen mehrfach andere Versicherungsgesellschaften geschädigt.
Tony ist entsetzt, als sie dies erfährt, vor allem, als sich herausstellt, dass ausgerechnet Moritz
Hagenström, der Bruder von Hermann Hagenström, Staatsanwalt bei dem Prozess ist. Sie
unterstellt ihm eine besonders harte Verfolgung des Falls und kann nicht verstehen, dass man
„einen von uns“ (d. h. aus einer angesehenen Familie) ins Gefängnis stecken kann.
Weinschenk wird zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Neunter Teil
Im Herbst 1871 stirbt nach langem Krankenlager und zähem Todeskampf Elisabeth
(„Bethsy“) Buddenbrook, die ehemalige Weltdame, die ihre letzten Jahre mit Frömmigkeit

49
und Wohltätigkeit ausgefüllt hatte, anPneumonie. Die weiblichen Hausangestellten tragen
sogleich Wäschekörbe voll Kleider und Leinenzeug aus dem Haus, Dinge, die ihnen die Tote
angeblich versprochen habe. Danach teilen die Familienmitglieder den Hausrat der
Verstorbenen unter sich auf.
Zur Verwunderung seiner Geschwister beansprucht der Junggeselle Christian einen großen
Teil der Wäsche und des Geschirrs für sich, denn er wolle die Mutter seiner Tochter, Aline
Puvogel, Statistin vom Tivoli, heiraten. Seine Mutter hatte ihm dies zeitlebens verwehrt. Jetzt
verwehrt es ihm Thomas, das neue Familienoberhaupt. Blass und vor Zorn zitternd, wirft er
Christian vor, er sei nicht mehr sein eigener Herr. Der Tag der Testamentseröffnung werde
ihm zeigen, dass er das Erbe seiner Mutter nicht verlottern könne: „Ich werde den Rest deines
Vermögens verwalten, und du wirst nie mehr als ein Monatsgeld in die Hände
bekommen.“ Christian will überdies die beiden Kinder, die Aline Puvogel vor der
gemeinsamen Tochter geboren hatte, adoptieren und sein eigenes Kind legitimieren. Thomas
Buddenbrook: „So daß also dein Vermögen nach deinem Tode an jene Leute
überginge?“[15] „Ja“, antwortete Christian, „das gehört sich doch so.“ Thomas verbietet ihm
auch das. Diesmal leistet Christian jedoch heftigen Widerstand, und es kommt zu einem
erbitterten Streit, in dessen Folge Thomas droht: „Du wirst es nicht tun“ […] „Ich lasse dich
für kindisch erklären, ich lasse dich einsperren, ich mache dich zunichte.“
Das Haus in der Mengstraße wird zu Beginn des Jahres 1872 für 87.000 Mark verkauft, zu
Tonys Beschämung ausgerechnet an Hermann Hagenström. Christian mietet für sich und die
Seinen eine bescheidene Dreizimmerwohnung, eine Garconwohnung[16] in der Nähe des
Klubs. Tony zieht mit Tochter Erika und Enkelin Elisabeth in ein helles und nicht ohne
Anspruch auf Vornehmheit eingerichtetes Stockwerk am Lindenplatze. Es war eine hübsche
kleine Wohnung und an der Eingangstür stand auf einem blanken Kupferschild in zierlicher
Schrift zu lesen: A.  Permaneder-Buddenbrook, Witwe.[17]

Zehnter Teil
Der 46-jährige Thomas Buddenbrook fühlt sich unaussprechlich müde und verdrossen.
Ausgehöhlt spielt er in seiner eleganten Garderobe und mit seinem verbindlichen Auftreten
wie ein Schauspieler sich selbst. An der Börse, so wird hinter seinem Rücken gespottet, wirkt
er nur noch dekorativ. Rechnet er den Grundbesitz mit ein, so beträgt sein Vermögen 600.000
Mark.
Von Hanno, der inzwischen elf Jahre alt geworden ist, erhofft sich Thomas einen tüchtigen
und wetterfesten Nachfolger. Er lässt ihn turnen, Schlittschuh laufen und schwimmen. Im
Hafen zeigt er ihm die Löscharbeiten auf den firmeneigenen Schiffen. Auch zu
gesellschaftlichen Visiten in Häusern, denen er geschäftlich verpflichtet ist, nimmt er Hanno
mit. Doch der Sohn durchschaut die gesellschaftliche Versiertheit des Vaters und erkennt,
welche Anstrengung seinen Vater diese Selbstdarstellung kostet.
Hanno ist oft mit seinem Freund Kai zusammen. Der erzählt ihm geheimnisvolle Geschichten,
deren seltsamste Augenblicke Hanno mit süßen Akkordfolgen auf dem Harmonium begleitet.
Die Sommerferien verbringt Hanno gewöhnlich an der See, fernab von allen Widrigkeiten der
Schule. Dann ist er ganz glücklich in friedlicher und kummerloser Abgeschiedenheit.
1873 wird Hugo Weinschenk, Tonys Schwiegersohn, vorzeitig aus der Haft entlassen. Da er
in der Stadt gesellschaftlich nicht mehr tragbar ist, erwarten Tony und ihre Tochter insgeheim
die Trennung. Nach einigen Tagen reist Weinschenk nach London, seine Gattin Erika und
ihre gemeinsame Tochter will er erst zu sich nehmen, wenn er ihnen wieder ein angemessenes

50
Leben bieten kann. Ab da verliert sich seine Spur. Tony gibt einige Male eine Suchannonce
auf, um eine Scheidungsklage ihrer Tochter wegen böswilligen Verlassens zu ermöglichen.
Gerda Buddenbrook, so vermutet man in der Stadt, und das befürchtet auch ihr Gatte, hat ein
Verhältnis mit dem Leutnant René Maria von Trotha. Er verkehrt bei Buddenbrooks und
musiziert mit Gerda im Salon, abgeschlossen von den übrigen Bewohnern und
Hausangestellten. Qualvoll werden für Thomas Buddenbrook die Pausen, in denen die
Musik so lange, lange schweigt. Doch Gerda mit ihrer nervösen Kälte, in der sie lebte und die
sie ausströmte zur Rede zu stellen, wagt er nicht. Als sich Hanno und sein Vater vor der Tür
des Salons begegnen, in dem Gerda und der Leutnant sich bereits seit Stunden aufhalten, und
die Musik wieder einmal für längere Zeit schweigt, ist für wenige Sekunden die sonstige
Fremdheit zwischen ihnen aufgehoben. Der sensible Hanno begreift die geheime Eifersucht
seines Vaters.
Thomas Buddenbrook hat das 48. Lebensjahr hinter sich. Sein schlechtes körperliches
Befinden und seine gedrückte Stimmung lassen Todesahnung aufkommen. Halb gesucht,
halb zufällig gerät SchopenhauersHauptwerk in seine Hände, Die Welt als Wille und
Vorstellung. Das Kapitel „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres
Wesens an sich“ enthüllt ihm „eine ewige Fernsicht von Licht.“ Der Tod erscheint ihm jetzt
als die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang. Thomas Buddenbrook setzt sein
Testament auf.
Im September 1874 fährt Thomas auf ärztlichen Rat für einige Wochen zur Erholung an die
Ostsee. Christian schließt sich ihm aus freien Stücken an. Es kommt zu einer
stillschweigenden Aussöhnung der Brüder. Die Monotonie des Meeres, der mystische und
lähmende Fatalismus, mit dem sich die Wogen heranwälzen, lösen bei Thomas ein tiefes
Bedürfnis nach Ruhe aus.
Vier Monate später muss Thomas bei Zahnarzt Brecht Hilfe suchen. Die Zahnextraktion ohne
Betäubung missglückt. Auf dem Heimweg erleidet Thomas einen Ohnmachtsanfall, stürzt und
schlägt mit dem Gesicht auf das Straßenpflaster. Nach kurzem Krankenlager stirbt er, ohne
wieder zu sich gekommen zu sein. Anna, seine Jugendliebe, wird auf ihren Wunsch in den
Salon eingelassen, in dem er aufgebahrt liegt. In einem vierspännigen Leichenwagen, gefolgt
von einer langen Reihe Kutschen und Wagen, wird Senator Buddenbrook in feierlichem
Pomp zum Friedhof gefahren und im Familiengrab beigesetzt.

Elfter Teil
Hanno ist von seinem Vater nicht als Firmenerbe bestimmt worden. Firma und Grundbesitz
sollen binnen eines Jahres von Kistenmaker, dem Testamentsvollstrecker und ehemaligen
Schulkameraden von Thomas, verkauft werden. Auf dem Papier hatte Thomas ein Vermögen
von 650.000 Mark als Vermächtnis angegeben. Nach einem Jahr stellt sich heraus, daß mit
dieser Summe nicht im entferntesten zu rechnen war. Kistenmaker hat mit der Auflösung des
Nachlasses keine glückliche Hand. Die Verluste sprechen sich herum: Mehrere Handwerker
und Lieferanten drängen bei Gerda auf rasche Bezahlung ihrer Rechnungen, weil sie
befürchten, ihr Geld nicht mehr zu bekommen.
Christian, dessen mütterliches Erbe ebenfalls von Kistenmaker verwaltet wird, heiratet Aline
Puvogel, nachdem durch den Tod von Mutter und Bruder deren Veto kein Hindernis mehr ist.
Tony schreibt Aline Puvogelmit sorgfältig vergifteten Worten, dass sie weder sie noch ihre
Kinder jemals als Verwandte anerkennen werde.
Seiner Wahnideen und Zwangsvorstellungen wegen lässt Aline Christian gegen seinen Willen

51
in eine psychiatrische Anstalt einweisen und kann so unbeschadet der praktischen und
ideellen Vorteile, die sie der Heirat verdankte, ihr bisheriges unabhängiges Leben fortsetzen.
Gerda Buddenbrook lässt das große Haus, das Thomas hat bauen lassen, von Kistenmaker mit
Verlust verkaufen, weil sie den Unterhalt nicht mehr finanzieren kann, und erwirbt stattdessen
im Herbst 1876 eine kleine Villa vor dem Burgtor. Sie entlässt das altgediente
Kindermädchen Ida Jungmann, die zu ihr nie ein besonders gutes Verhältnis gehabt und in
letzter Zeit öfter ihre Befugnisse überschritten hat.
Als der inzwischen sechzehnjährige Hanno seine Mutter einmal in die
Oper Lohengrin begleiten darf, fühlt er sich von der Musik wie berauscht. Doch schon am
nächsten Tag folgen wieder kummervolle Schulstunden. Hannos mangelnde Beteiligung am
Unterricht und ein unglücklicher Zufall, der ihm als schulisches Versagen ausgelegt wird,
führen zu der endgültigen Entscheidung der Lehrer, ihn nicht in die nächste Klasse zu
versetzen. Deprimiert sieht Hanno für sich keine Zukunft mehr, auch nicht als Musiker: „Ich
kann beinahe nichts, ich kann nur ein bißchen phantasieren […] Ich kann nichts wollen. Ich
will nicht einmal berühmt werden. Ich habe Angst davor, genau, als wäre ein Unrecht
dabei.“
Im Frühjahr 1877 stirbt Hanno an Typhus.[18] In seiner fiebrigen Benommenheit verschließt er
sich der Stimme des Lebens. Sein fehlender Lebenswille lässt ihn Zuflucht nehmen auf dem
Weg, der sich ihm zum Entrinnen eröffnet hat.
Im Winter des gleichen Jahres verabschiedet sich Gerda Buddenbrook von Lübeck und kehrt
zu ihrem Vater nach Amsterdam zurück.

Stil

Montagetechnik
Thomas Mann verstand sich als naturalistischer Schriftsteller. [19] Mit der für ihn
charakteristischen Montagetechnik baute er fremdes Material wie Begebenheiten
existierender Personen, Ereignisse der Zeitgeschichte, Dokumente und Lexikonartikel in den
Roman ein. Der literarische Text erhielt damit Authentizität. Lübecker Bürger und Verwandte
Thomas Manns konnten sich in Buddenbrooks wiedererkennen.

Leitmotivik und Ironie


Charakteristisch für Thomas Mann ist sein permanentes Spiel mit Leitmotiven.
„Das Motiv, das Selbstzitat, die symbolische Formel, die wörtliche und bedeutsame
Rückbeziehung über weite Strecken hin, - das waren epische Mittel nach meinem
Empfinden, bezaubernd für mich eben als solche; und früh habe ich bekannt, daß
Wagners Werke so stimulierend wie sonst nichts in der Welt auf meinen jungen
Kunsttrieb wirkten. […] Wirklich ist es nicht schwer, in meinen ´Buddenbrooks´,
diesem epischen, von Leitmotiven verknüpften und durchwobenen Generationszuge,
vom Geist des Nibelungenringes einen Hauch zu verspüren.“[20]
Fast allen Romanfiguren werden typische Attribute, Gesten oder Redewendungen
zugeordnet. Einerseits hilft diese Technik dem Leser, sich zu erinnern. Andererseits
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können solche Formeln, hat man ihre Symbolik erkannt, vorausdeuten,[21] bzw. frühere
Stimmungen erneut anklingen lassen. Damit verdeutlichen sie übergreifende
Zusammenhänge und stellen ein Beziehungssystem innerhalb des Werkes her. Vor allem
aber helfen sie mit, das stereotype Verhalten bestimmter Figuren zu ironisieren. So zitiert
beispielsweise Tony Buddenbrook – immer wenn sie sich gesprächsweise über
das „Naturprodukt“ Honig äußert – eine Bemerkung des Medizinstudenten Morten
Schwarzkopf. Die erinnernde Wiederholung zeigt, dass sie nach zwei unglücklichen Ehen
und Scheidungen ihre unerfüllte Jugendliebe immer noch nicht vergessen hat, [22]und
ironisiert zugleich ihren unerschütterlichen Glauben an Mortens naturwissenschaftliche
Kompetenz und ihren Stolz auf ihr naiv reproduziertes Wissen.
Seinen Welterfolg verdankt der Roman nicht zuletzt dieser wohlwollenden Ironie. [23]  Sie
läuft auf ein distanziertes Geltenlassen hinaus – und damit letztlich auf Objektivität, denn
sie impliziert immer auch die Kehrseite des Gesagten. Solche Doppeldeutigkeit ist ein
durchgängiges Stilmittel im Gesamtwerk Thomas Manns.[24]
Mitunter zeigt sich Thomas Manns Ironie erst im Nachhinein: Eine stehende
Redewendung Sesemi Weichbrodts, der Vorsteherin eines Mädchenpensionats, sind ihre
bei Geburtsfeiern, Hochzeiten oder ähnlichen Anlässen in ostpreußischem Dialekt
geäußerten Worte: „Sei glöcklich, du gutes Kend.“ Dazu gibt es einen knallenden
Kuss auf die Stirn. Wie sich im weiteren Verlauf der Handlung erweist, werden die so
ermutigten Adressaten allerdings regelmäßig unglücklich.[25]

Sprachliche Polyphonie
Der künstlerische Wagemut des jungen Autors (Thomas Mann hat den Roman als 25-
Jähriger abgeschlossen) lässt ihn Sprachen, Dialekte, Mundarten, Jargons[26] und andere
sprachliche Besonderheiten virtuos miteinander verflechten.
„Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!“ So lautet der zweite
Satz des Romans, eine Mischung aus niederdeutscher Mundart und französischer
Sprachfloskel. Sie leitet die „sprachliche Orchestrierung“ ein.[27]
An Fremdsprachen kommen das Französische, Englische, Italienische zu Wort. Die
Kinderfrau der Familie Buddenbrook, Ida Jungmann, steuert außer ihrer preußischen
Mundart etwas Polnisch (in Thomas Manns eigentümlicher und uneinheitlich
eingedeutschter Schreibweise) bei. Latein bringen der Segenswunsch über dem
Portal „Dominus providebit“[28] sowie die schulische Ovid-Lektüre Hannos unter dem
gefürchteten Dr. Mantelsack.
Thomas Mann beherrschte außer dem Hochdeutschen auch die heimatliche Mundart der
Lübecker, das örtliche Niederdeutsch, eine Sprache, die im Mittelalter die „lingua franca“
der Hanse gewesen war und im 19. Jahrhundert am Ort nicht nur von einfachen Leuten
gesprochen wurde. Aber auch baltische, westpreußische, schlesische, schwäbische und
bayrische Spracheigentümlichkeiten werden eingebunden. Dazu kommt die

53
individuelle Diktion der Romanfiguren, z. B. Christian Buddenbrooks hypochondrische
Floskel: „Ich kann es nun nicht mehr“. Zur Sprachpalette gehört auch der Berufsjargon
von Hannos Lehrern.

Figuren des Romans

Grundsätzlich gilt, was Thomas Mann selbst über seine Figurenzeichnung gesagt hat:
Eigentümlichkeiten und Charaktereigenschaften real existierender Personen wurden von ihm
zwar erkennbar verwendet, aber dichterisch so bearbeitet, kombiniert und verwandelt, dass
sich jeder unmittelbare Rückschluss von Romanfigur auf historisches Vorbild verbietet.

Johann Buddenbrook der Ältere


Johann Buddenbrook der Ältere (1765–1842) hat während der Befreiungskriege als
Getreidegroßhändler und preußischer Heereslieferant den Grundstock des Buddenbrookschen
Vermögens gelegt. Seine erste Frau Josephine, „die Tochter eines Bremer Kaufmannes“, die
er „in rührender Weise geliebt haben“ muss und der er das schönste Jahr seines Lebens
verdankt („L’année la plus heureuse de ma vie“), starb bei der Geburt seines Sohnes Gotthold
(1796). Er hat dem Sohn diesen „Mord der Mutter“ nie verziehen. In zweiter Ehe ist Johann
Buddenbrook „mit Antoinette Duchamps, dem Kinde einer reichen und hochangesehenen
Hamburger Familie, vermählt“. Beide leben „respektvoll und aufmerksam […]
nebeneinander“ und haben eine Tochter und einen Sohn, Johann (Jean) Buddenbrook, der,
obwohl nicht der Erstgeborene, die Firma erbt, nachdem sein Halbbruder Gotthold in
leidenschaftlicher Liebe zu einer gewissen "Mamsell Stüwing inflammiert" war und mit ihr,
des Vaters „strengem Verbot zum Trotz“, eine „Mesalliance einging“.
Johann Buddenbrook ist von nüchterner Sachlichkeit und unerschütterlichem Selbstvertrauen,
bodenständig und weltläufig zugleich – er spricht sowohl plattdeutsch als auch fließend
französisch, im Zorn gelegentlich auch gern beides gleichzeitig. Außerdem kann er (von
seiner Schwiegertochter „auf dem Harmonium begleitet“) „die Flöte blasen“, eine
Begabung, die er nicht weitervererbt hat. Weltanschaulich tendiert er zur Philosophie der
Aufklärung und hält spöttische Distanz zur Religion. Allerdings legt er auch Wert auf
klassische Bildung und hält nicht viel davon, dass die junge Generation nur noch Bergwerke
und Geldverdienen im Sinn hat, andererseits kann er auch den Idealen derRomantik mit ihrer
Naturschwärmerei nicht viel abgewinnen: Als sein Sohn Jean sich gegen den Plan des Vaters
wehrt, den verwilderten Garten in Ordnung bringen zu lassen, weil ihm die freie Natur lieber
sei, ist Johann amüsiert.
Als literarische Vorlage in Thomas Manns Familie wird Johann Siegmund Mann I, der
Gründer der Firma Mann, gesehen (s. Abb.). Von ihm stammt der Wahlspruch der Kaufleute
im Roman: „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche,
daß wir bey Nacht ruhig schlafen können“. Er wurde 87 Jahre alt und starb, so Viktor
Mann, „im Revolutionsmärz 1848, wie man erzählt, an einem Schlaganfall, den ihm, dem

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lübischen Großbürger  und Republikaner, seine kochende Wut über die harmlos
randalierende ‚Canaille‘ eingetragen hatte“.
Konsul Johann (Jean) Buddenbrook (ca. 1800–1855)[
Johann (Jean) Buddenbrook (ca. 1800–1855) ist der Sohn aus der zweiten Ehe Johann
Buddenbrooks des Älteren mit Antoinette, geb. Duchamps. Jean Buddenbrook hat dietief
liegenden, blauen und aufmerksamen Augen seines Vaters, aber ihr Ausdruck ist
träumerischer.[29] Die Geschäfte der Firma setzt er nach dem Tod des alten Buddenbrook
erfolgreich fort, wie sich nach seinem Tod erweist, obwohl er nach Kaufmannsart beständig
geklagt hatte.[30] Jean Buddenbrook bekleidet das Amt des Königlich-Niederländischen
Konsuls. Im Gegensatz zu seinem Vater verfällt Jean einer religiösen Schwärmerei. Trotzdem
ist er in der Stadt eine Autorität, auch sein Geschäftssinn wird von der Religiosität nicht
beeinträchtigt.
Konsul Johann Siegmund Mann jun. (1797–1863) diente als Vorlage für Jean Buddenbrook.
Er war der eigentliche Chronist der Familie Mann, schrieb das vom Großvater, dem ältesten
Mann, geerbte Chronikheft in der erblichen Bibel ab und ergänzte sie durch Skizzen aus dem
Leben von Johann Siegmund Mann sen. [31] Auch Johann Siegmund Mann verlor seine erste
Frau bei der Geburt des Sohnes und legte die Geschäfte in die Hände seines Sohnes aus
zweiter Ehe.
Johann Siegmund Mann jun. wurde successive in verschiedene Ämter seiner Heimatstadt
gewählt und hätte wahrscheinlich noch mehr politische Erfolge eingebracht, wenn nicht ein
Konkurrent, Johann Fehling, ihm geschadet hätte. Die Familie Hagenström des Romans heißt
in den ersten Entwürfen noch Fehling, Johann Fehlings Kinder hießen wirklich Julchen und
Hermann.
Senator Thomas Buddenbrook (1826–1875)
Thomas Buddenbrook, dessen Vater, Großvater und Urgroßvater schon in der Stadt gewirkt
hatten, war der Träger eines hundertjährigen Bürgerruhmes. Die leichte, geschmackvolle und
bezwingend liebenswürdige Art freilich, in der er ihn repräsentierte und verwertete, war wohl
das Wichtigste.[32]
In der Stadt munkelte man: Ein bißchen prätentiös, dieser Thomas Buddenbrook, ein bißchen
… anders: anders auch als seine Vorfahren. Man wußte, besonders der Tuchhändler
Benthien wußte es, daß er nicht nur seine sämtlichen feinen und neumodischen
Kleidungsstücke – und er besaß deren ungewöhnlich viele: Pardessus, Röcke, Hüte, Westen,
Beinkleider und Krawatten – ja auch seine Wäsche aus Hamburg bezog. Man wußte sogar,
daß er tagtäglich, manchmal zweimal am Tag das Hemd wechselte und sich das Taschentuch
und den à la Napoleon III.  ausgezogenen Schnurrbart parfümierte. Und das alles tat er nicht
der Firma und der Repräsentation zuliebe – das Haus ‚Johann Buddenbrook‘ hatte das nicht
nötig –, sondern aus einer persönlichen Neigung zum Superfeinen und Aristokratischen.[33]
Thomas Mann hat dem jungen Firmenchef Thomas Buddenbrook Züge
des Dandy mitgegeben.

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Tony (Antonie) Buddenbrook, geschiedene Grünlich, geschiedene Permaneder (geb.
1827)
Antonie Buddenbrook genannt Tony, ist die erste Tochter von Jean und Elisabeth
Buddenbrook, Schwester von Thomas, Christian und Clara, die Mutter Erika Weinschenks
(geb. Grünlich) und Großmutter Elisabeth Weinschenks.
Antonie Buddenbrook bleibt ein Leben lang sie selbst: kindlich naiv und unerschütterlich in
ihrem Familiensinn. Als Kind ist sie vom luxuriösen Lebensstil der Großeltern, der den
elterlichen in den Schatten stellt, tief beeindruckt. Vornehm wird eines ihrer Lieblingsworte
und bis ins Alter hat sie eine Vorliebe für „Atlasschleifen“, die schon ihre Bettdecke im Haus
der Großeltern zierten. In Lübeck grüßen Erwachsene die kleine Tony, das Kind aus der
Familie Buddenbrook.Sie ging in der Stadt wie eine kleine Königin umher. [34] Tony ist sehr
davon eingenommen, Mitglied einer angesehenen Familie zu sein. Trotz des offenkundigen
familiären Niedergangs und trotz ihres eigenen Lebens, das mit zwei Scheidungen nicht
gerade zum Ruhm der Familie beiträgt, ist sie weiterhin von Stolz auf ihre Herkunft erfüllt,
nur der Adel erscheint ihr noch edler. Niederschläge erklärt sie gerne mit Intrigen anderer, z.
B. der verhassten Familie Hagenström. Als sich Gerda Buddenbrook am Ende des Romans
verabschiedet, um nach Amsterdam zurückzukehren, übernimmt Tony von ihr die früher vom
Familienoberhaupt verwahrten und weitergeführten „Familienpapiere“ mit Aufzeichnungen
zur Geschichte der Buddenbrooks.
Über die 47-jährige Tony heißt es: Alles, jedes Glück und jeden Kummer, hatte sie in einer
Flut von banalen und kindisch wichtigen Worten, die ihrem Mitteilungsbedürfnis vollkommen
genügten, wieder von sich gegeben. […] Nichts Unausgesprochnes zehrte an ihr; kein
stummes Erlebnis belastete sie. Und darum hatte sie auch gar nichts an ihrer Vergangenheit
zu tragen. [35] Gleichzeitig versteht Tony es trotz allem Pathos auch, sich widerstandsfähig
einer neuen Situation anzupassen und ihre Ansprüche trotz aller Fehlschläge
aufrechtzuerhalten: Der gesellschaftlichen Missachtung als geschiedene Frau begegnet sie mit
desto größerer Arroganz und auch ihre letzte, kleine Wohnung wird, so gut es eben
geht, vornehm eingerichtet.
Seine Tante Elisabeth Amalie Hyppolita Mann, geschiedene Elfeld, geschiedene Haag (1838–
1927), diente Thomas Mann als Vorlage für Tony Buddenbrook. Auf Thomas’ Bitte schrieb
seine Schwester Julia Mann 1897 einen umfangreichen Bericht über Tante Elisabeth. Viele
Details aus dieser Schilderung sind wörtlich in den Roman übernommen worden (die
Kinderstreiche, der „Hang zum Luxus“, die Anekdote mit der Specksuppe), obwohl Julia
ihren Bruder um Diskretion gebeten hatte, da die beteiligten Personen noch lebten. Wie ihr
literarisches Abbild war auch Elisabeth Mann zweimal verheiratet. Zur ersten Ehe wurde sie
ebenfalls von den Eltern gedrängt, und ihr Ehemann ging bankrott. Elisabeth Mann war
anfangs – laut Viktor Mann – ob der Indiskretion des Romans „indigniert“, begegnete ihrem
Schicksal aber dann „mit Humor und schließlich mit Stolz“, nachdem sie in der Familie nur
noch Tony genannt wurde.

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Der Roman beginnt mit den Worten der kleinen Tony, die aus dem Katechismus rezitiert. In
der Schluss-Szene ist sie ebenfalls anwesend – das letzte Wort hat jedoch die steinalte
Therese Weichbrodt. Tony wird Zeitzeugin für vier Generationen der Familie Buddenbrook,
bleibt aber immer ganz und gar Gegenwart. Trotzdem ist Tony nicht die heimliche Heldin des
Romans. Sie wächst nicht und verändert sich nicht. Auch wenn sie sich später selbst,
scheinbar resignativ, als „alte häßliche Frau“ bezeichnet, klingt es aus ihrem Mund, als
spräche ein verkleidetes Kind seine Rolle auf dem Theater. Tony ist die Parodie eines
absoluten Prinzips, der Zeit und dem Wechsel der Dinge enthoben: sie ist die komische
Inkarnation von Schopenhauers Idee der Gattung, die dem Individuum eine Art von
diesseitiger Unsterblichkeit verleiht und es in aller Unschuld ausrufen lässt: Trotz Zeit, Tod
und Verwesung sind wir noch alle beisammen![36]

Christian Buddenbrook (geb. 1828)


Christian Buddenbrook (geb. 1828, der zweite Sohn von Jean und Elisabeth Buddenbrook und
Bruder von Thomas, Tony und Clara) ist die konträre Figur zu seinem älteren Bruder Thomas.
Als der 28-jährige Christian von einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt zurückkehrt,
beschreibt ihn Thomas Mann so: Christian hatte sich durchaus nicht verschönt. Er war hager
und bleich. Die Haut umspannte überall straff seinen Schädel, zwischen den Wangenknochen
sprang die große, mit einem Höcker versehene Nase scharf und fleischlos hervor, und das
Haupthaar war schon merklich gelichtet. Sein Hals war dünn und zu lang und seine mageren
Beine zeigten eine starke Krümmung nach außen.[37]

Thomas Manns Onkel Friedrich Mann, das Modell für Christian Buddenbrook
Im Gegensatz zu Thomas legt Christian keinen Wert auf gesellschaftliche Konventionen.
Auch Fleiß und Pflichtgefühl gehen ihm ab, immer wieder stürzt er sich begeistert in neue
Unternehmungen und berufliche Pläne, doch schon nach kurzer Zeit lässt seine Motivation
nach, sodass seine Vorhaben scheitern: Erst will er studieren, dann arbeitet er bei seinem
Bruder im Kontor, hat schließlich eine eigene Firma, übernimmt eine Agentur für
Champagner, lernt Chinesisch und „überarbeitet“ ein deutsch-englisches Wörterbuch – doch
nichts davon bringt er zu Ende, sondern gibt auf, sobald der Reiz des Neuen verflogen ist oder
Disziplin nötig wäre. Hoch talentiert ist Christian darin, andere Persönlichkeiten
schauspielerisch zu imitieren und zu karikieren, was regelmäßig Heiterkeitsausbrüche auslöst.
Diese Fähigkeit hat Christian schon als Kind. Bereits im ersten Kapitel imitiert er seinen
Lehrer, den skurrilen Marcellus Stengel, so genau, dass die Gäste der Einweihungsfeier sehr
amüsiert sind. Auch erzählen kann Christian mit Verve und Farbe. Jedoch ist er sich zuweilen
durchaus bewusst, dass er in seinem Leben nach bürgerlichen Maßstäben nicht viel erreicht
hat: Als sein Neffe Hanno ein Puppentheater zu Weihnachten geschenkt bekommt, ist
Christian ganz fasziniert davon, ermahnt seinen Neffen aber dennoch in einem Anflug von

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Ernst, nicht zu viel Zeit auf solche Dinge zu verwenden. Er, Christian, habe dies getan – und
deshalb sei nichts Rechtes aus ihm geworden.
Christian wird Lebemann und verbringt seine Freizeit mit Gleichgesinnten im Club oder
Theater, verkehrt in Künstlerkreisen und mit nicht standesgemäßen Damen. In der ganzen
Stadt kennt man ihn nur als „Krischan“ und lacht über seine Witze, ernst nimmt ihn niemand.
Lästig wird der Familie sein Hang zur Hypochondrie und der Schilderung
seiner Zönästhesien. Christian zeigt auch wenig Bewusstsein für Loyalität und achtet nicht auf
die Folgen, die sein Lebenswandel für das Ansehen der Familie und Firma Buddenbrook
haben könnte. So macht er einmal im Club die Bemerkung, eigentlich sei doch jeder
Kaufmann ein Betrüger – und reagiert mit Unverständnis, als sein wütender Bruder ihm
erklärt, dass solche Äußerungen (die zu allem Überfluss auch noch in Gegenwart von
Hermann Hagenström, dem ärgsten Konkurrenten gefallen sind) dem Ruf der Firma schaden.
Seinen Bruder Thomas lehnt Christian ab: „Solange ich denken kann, hast du eine solche
Kälte auf mich ausströmen lassen, dass mich in deiner Gegenwart beständig gefroren hat“.[38]
Nach dem Tod des Bruders hindert niemand mehr Christian daran, Aline Puvogel, seine
langjährige Geliebte und (angebliche) Mutter seiner unehelichen Tochter Gisela, zu heiraten.
Diese lässt ihn jedoch bald wegen seiner Wahnvorstellungen in eine Nervenklinik einweisen.
Friedrich Wilhelm Lebrecht Mann, in der Familie „Onkel Friedel“ genannt, ist Vorbild für
Christian Buddenbrook. Klaus Mann berichtete, Onkel Friedel sei „ein neurotischer
Tunichtgut“ gewesen, „der sich in der Welt herumtrieb und über eingebildete Krankheiten
klagte“. Friedrich Mann hat sich am 28. Oktober 1913 gegen die seiner Meinung nach
ehrabschneidende Darstellung in dem Roman in einer viel belachten Annonce im „Lübecker
Generalanzeiger“ gewehrt:
„Wenn der Verfasser der ‚Buddenbrooks‘ in karikierender Weise seine allernächsten
Verwandten in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so
wird jeder rechtdenkende Mensch finden, dass dieses verwerflich ist. Ein trauriger
Vogel, der sein eignes Nest beschmutzt! Friedrich Mann, Hamburg.“[39]
Christian Buddenbrook hat nicht nur Züge des schrulligen Onkels. Die Diskrepanz der
ungleichen Brüder Christian und Thomas Buddenbrook spiegelt bereits hier im Ansatz
den später offen ausbrechenden Konflikt zwischen Thomas Mann und seinem Bruder und
Schriftsteller-Rivalen Heinrich Mann wider. Christians Lebenswandel ähnelt dem
Privatleben des jungen Heinrich Mann.
In der fiktiven Welt des Romans erkennt Thomas eigene Züge in Christians
Persönlichkeit,[40] die er an sich selbst unterdrückt. In einer Auseinandersetzung wirft
Thomas Buddenbrook seinem Bruder vor: „Ich bin geworden wie ich bin,“ sagte er
endlich, und seine Stimme klang bewegt, „weil ich nicht werden wollte wie du. Wenn ich
dich innerlich gemieden habe, so geschah es, weil ich mich vor dir hüten muß, weil dein
Sein und Wesen eine Gefahr für mich ist … ich spreche die Wahrheit.“ [38] Aber nicht nur
für Thomas Buddenbrook, auch für seinen Autor verkörpert Christian eine existentielle

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Bedrohung. Denn ist er auch „kein Künstler, so ist er doch der Anfang aller moralischen
Sorgen, die Thomas Mann sich sein Lebtag über das Künstlerdasein gemacht hat.“[41]
Gerda Buddenbrook, geb. Arnoldsen (geb. 1829)[Bearbeiten]
Gerda lebt mit ihrem verwitweten Vater in Amsterdam. Als junges Mädchen hat sie
bereits einige Zeit in Lübeck gewohnt, in der gleichen Mädchenpension wie Tony.
Damals haben die Mädchen sich im Scherz darüber unterhalten, dass Gerda doch einen
von Tonys Brüdern heiraten könne. Gerdas Schwester ist bereits verheiratet. Ihr Vater gilt
als der große Kaufmann und beinahe noch größere Geigenvirtuos. Auch Gerda musiziert
und ist eine begnadete Violinistin. Sie besitzt eine kostbare Stradivari. Ihre
Empfänglichkeit für zeitgenössische Musik hat sie zu einer Verehrerin Wagners werden
lassen.
Thomas Buddenbrook gewinnt Gerda auf der Höhe seiner Karriere. Bis dahin hatte
sie ihren Entschluß, niemals zu heiraten, mit Festigkeit aufrechterhalten. Ihre Musikalität
beeindruckt Thomas, auch wenn ihm Musik ein wesensfremder Bereich ist. Seiner Mutter
schreibt er: „Diese oder keine, jetzt oder niemals!“ Darüber hinaus ist sie eine glänzende
Partie, deren Mitgift frisches Kapital in die Firma bringt.
Ihre Schönheit macht in Lübeck Eindruck: üppig und groß gewachsen, mit schwerem,
dunkelrotem Haar, die nahe beieinander liegenden braunen Augen von bläulichen
Schatten umlagert. Das Gesicht ist mattweiß und ein wenig hochmütig. Im Kontrast zu der
Blässe und den verschatteten Augen zeigt ihr Lächeln weiße, starke Zähne. Die rätselhafte
Aura, die sie umgibt, veranlasst den Makler und Kunstliebhaber Gosch,
sie Her[a] und Aphrodite, Brünhilde und Melusine in einer Person zu nennen. Ihren
Pflichten als Frau Senator Buddenbrook kommt sie nach, ohne darin aufzugehen.
Gerdas Musikalität kontrastiert mit dem von praktischen Fragen bestimmten Alltag in der
Familie Buddenbrook. Während ihr Mann im Untergeschoss für die Firma an seinem
Schreibpult arbeitet, hört er sie über sich im Musikzimmer mit einem Leutnant
musizieren. Thomas Buddenbrook muss hier eine Seelenverwandtschaft erkennen, die
ihm schmerzlich verwehrt bleibt. Motivisch verkörpert Gerda Buddenbrook die Musik im
Roman als ein weltenthobenes und destruktives Element, das frischer Tatkraft und
geschäftlichem Fleiß entgegensteht und zugleich über Lebensmühen und Pflicht erhaben
ist. Ihrem Sohn Hanno, dem letzten Buddenbrook, vererbt sie Musikalität und
Weltabgewandtheit. Alterslos und von der Zeit unverändert, verlässt sie nach dem Tod
von Ehemann Thomas und Sohn Hanno Lübeck und kehrt in ihre Heimatstadt Amsterdam
zurück, als habe sich ihre Sendung erfüllt.
Gerda Buddenbrook weist Parallelen zu Thomas Manns Mutter Julia Mann auf.[42] Beide
wachsen sie mutterlos auf und verbringen einige Jahre in einem Lübecker
Mädchenpensionat. Auch Julia Mann verlässt nach dem Tod ihres Mannes die enge
Heimatstadt mit ihrem Standesdünkel. Mehr jedoch als an Julia Mann erinnert Gerda

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Arnoldsen an Gerda von Rinnlingen in der Novelle Der kleine Herr Friedemann. Dort
brachte sie dem Titelhelden den Tod.

Hanno (Justus Johann Kaspar) Buddenbrook (1861–1877)


Hanno ist das einzige Kind von Thomas und Gerda Buddenbrook.
Mit seinen langen, braunen Wimpern und seinen goldbraunen Augen stach Johann
Buddenbrook auf dem Schulhof und auf der Straße trotz seines Kopenhagener
Matrosenanzugs stets ein wenig fremdartig unter den hellblonden und stahlblauäugigen,
skandinavischen Typen seiner Kameraden hervor. […] und noch immer lagen, wie bei
seiner Mutter, die bläulichen Schatten in den Winkel seiner Augen, – dieser Augen, die,
besonders wenn sie seitwärts gerichtet waren, mit einem so zagen wie ablehnenden
Ausdruck dareinblickten, während sein Mund sich noch immer auf jene wehmütige Art
geschlossen hielt.[43]
Der kleine Johann verkörpert die vierte Generation Buddenbrook, wenn man von den
Vorfahren absieht, die im Roman nur erwähnt werden. Hannos Gesundheit ist immer
gefährdet. Schon als Kleinkind ist seine Entwicklung verzögert. Vergleichsweise
harmlose Kinderkrankheiten führen bei ihm fast zum Tod. Später hat er erhebliche
Probleme mit seinen Zähnen. Psychisch ist Hanno ebenfalls wenig robust: Er leidet unter
Albträumen und ist übermäßig ängstlich. Der Kontakt zu anderen Kindern fällt ihm
schwer. Wird er unter Druck gesetzt, beginnt er zu weinen und zu stottern. Seine
Erziehung verstärkt diese Probleme zusätzlich, z. B. hält Ida Jungmann ihn von anderen
Kindern fern, und sein Vater setzt ihm durch Abfragen von Informationen über die Stadt
oder die Firma Buddenbrook zu, ohne zu beachten, dass Hanno dadurch noch ängstlicher
und mutloser wird.
Seinem Naturell nach hat Hanno keine Anlage zum Kaufmann, auch für eine Position in
der Öffentlichkeit ist er wegen seiner Schüchternheit und Menschenscheu nicht geeignet.
Als er bereits mit acht Jahren auf dem Flügel eine kleine, eigene Phantasie vorträgt, traut
man ihm zu, Musiker zu werden. Aber man muss die Hoffnung aufgeben, als er trotz
Klavier-Unterrichts eine Mozart-Sonate nicht fehlerfrei vom Blatt spielen, sondern nur
ein bißchen phantasieren kann. In der Schule lassen seine Leistungen sehr zu wünschen
übrig, mehrfach wird er nicht versetzt. Er leidet unter den teilweise recht unfähigen und
brutalen Lehrern, aber auch unter den Hänseleien seiner Mitschüler. Durch mangelnde
Disziplin bringt Hanno es selbst in Fächern in denen es nur auf das Auswendiglernen
ankommt oder der Lehrer ihm wohlgesinnt ist, nicht besonders weit; statt seine
Hausaufgaben zu erledigen phantasiert er lieber auf dem Klavier. Freunde hat er bei
seinen Schulkameraden kaum, der einzige Freund ist Kai Graf Mölln, aufgrund seiner
Herkunft und der Armut des Vaters sowie seiner literarischen Interessen ebenfalls ein
Außenseiter. Den Menschen außerhalb der Familie gilt Hanno als ausgemachter Versager,
selbst sein Vormund Kistenmaker äußert gegenüber dem Pastor, Hanno entstamme einer
verrotteten Familie und man müsse ihn aufgeben. Auch Hanno selbst sieht klar, dass ihm

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der Wille zur Leistung fehlt, aus ihm nichts Rechtes werden kann, und akzeptiert sein
Schicksal.

Antoinette Buddenbrook, geb. Duchamps († 1842)


Antoinette Buddenbrook ist die zweite Gattin von Johann Buddenbrook dem Älteren. Sie
wird die Mutter von Jean Buddenbrook. 1842 stirbt sie nach mehrwöchiger Krankheit.
Als Vorlage diente das Schicksal von Catharina Mann, geborene Grotjahn, der Gattin von
Johann Siegmund Mann dem Älteren.

Bethsy (Elisabeth) Buddenbrook, geb. Kröger (1803–1871)

Elisabeth Buddenbrook, geb. Kröger, ist die Ehefrau von Konsul Jean (Johann)
Buddenbrook und Mutter von Thomas, Christian, Tony (Antonie) und Clara. Sie wird
zunächst als elegante und weltläufige Ehegattin beschrieben:
Sie war, wie alle Krögers, eine äußerst elegante Erscheinung, und war sie auch keine
Schönheit zu nennen, so gab sie doch mit ihrer hellen und besonnenen Stimme, ihren
ruhigen, sicheren und sanften Bewegungen aller Welt ein Gefühl von Klarheit und
Vertrauen.
Nach dem Tode ihres Mannes nimmt sie dessen pietistische Frömmigkeit an, was bei ihr
jedoch in Frömmelei ausufert, und empfängt, wie schon ihr verstorbener Mann, ständig
Besuche von Pastoren und Missionaren, denen sie Spenden zusteckt. Hinter dem Rücken
ihres Sohnes und Familienoberhauptes Thomas Buddenbrook überträgt sie 1864 nach
dem Tod ihrer Tochter Clara an deren verbliebenen Gatten, den Pastor Tiburtius,
127.500 Kurantmark und schwächt damit nachhaltig das Barvermögen der Firma (siehe
Abschnitt 1.7). Auch im hohen Alter versucht sie, ihre einstige Eleganz
aufrechtzuerhalten: Sie trägt weiterhin Seidenkleider und schließlich eine Perücke,
nachdem ihre Haare trotz einer „Pariser Tinktur“ grau geworden sind.
Als Vorlage diente Elisabeth Mann geborene Marty (1811–1890), Ehegattin des Konsuls
Siegmund Mann des Jüngeren.

Clara Tiburtius, geb. Buddenbrook (1838–1864)


Clara Tiburtius, geb. Buddenbrook, ist das vierte Kind von Jean und Elisabeth
Buddenbrook. Beim Tod ihres Vaters ist sie noch minderjährig, so dass Justus Kröger zu
ihrem Vormund ernannt wird. Clara wird als ernst und streng beschrieben, sie teilt die
religiösen Neigungen ihres Vaters und nimmt bei häuslichen Andachten schließlich seine
Rolle als Vorleser ein. 1856 heiratet sie den im Hause der Buddenbrooks verkehrenden
Pastor Tiburtius und zieht mit ihm nach Riga.

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Was Clara Buddenbrook betraf, so stand sie nun im neunzehnten Jahre [als sie Tiburtius
heiratet] und war, mit ihrem dunklen, glattgescheitelten Haar, ihren streng und dennoch
träumerisch blickenden braunen Augen, ihrer leicht gebogenen Nase, ihrem ein wenig zu
fest geschlossenen Munde und ihrer hohen, schlanken Gestalt zu einer jungen Dame von
herber und eigentümlicher Schönheit herangewachsen. […] Ihr eignete im Verkehr mit
den Dienstboten, ja, auch mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter, ein etwas herrischer
Ton, und ihre Altstimme schon, die sich nur mit Bestimmtheit zu senken, nie aber fragend
zu heben verstand, trug einen befehlshaberischen Charakter und konnte oft eine kurze,
harte, unduldsame und hochfahrende Klangfarbe annehmen.
Als Vorlage der Romanfigur diente Olga Mann, verehelichte Sievers (1846–1880), als
Vorlage des Tiburtius ihr Gatte, der Kaufmann Gustav Sievers.

Gotthold Buddenbrook (1796–1856)


Gotthold Buddenbrook ist der ungeliebte Sohn von Johann Buddenbrook d. Ä. aus erster
Ehe. Seine schwere Geburt hatte Johann Buddenbrook zum Witwer gemacht. Verstoßen
und mit einem geringen Erbteil abgefunden wird Gotthold wegen einer eigenwilligen,
unstandesgemäßen Heirat (s. o. Inhalt, Erster Teil). Anstelle von ihm, dem Erstgeborenen,
wird sein Halbbruder Jean – aus Johanns zweiter Ehe – Chef der Firma Buddenbrook.
Gotthold wird als beleibt und kurzbeinig beschrieben. Nach dem Tod Johann
Buddenbrooks d. Ä. fragt Gotthold seinen Halbbruder Jean, ob die Bestimmungen des
väterlichen Testaments noch geändert worden seien. Obwohl sie weiterhin in Kraft
bleiben und Jean Gotthold kein größeres Erbteil zukommen lässt, versöhnen sich die
Brüder zaghaft – Gotthold sieht ein, dass Jean es sich nicht leisten kann, ihm einen
größeren Anteil am väterlichen Vermögen zukommen zu lassen, nach dem Tode Jeans
überlässt Thomas Buddenbrook als Versöhnungsgeste seinem Onkel aber freimütig das
Amt des niederländischen Konsuls. Anders als Gotthold haben aber seine Frau und seine
Töchter weiterhin eine Abneigung gegen die wohlhabenderen Verwandten in der
Mengstraße. Gotthold selbst besitzt auch wenig geschäftlichen Ehrgeiz, nachdem er
seinen geringen Anteil am väterlichen Erbe erhalten hat, gibt er seinen „Laden“ auf und
setzt sich zur Ruhe.
Gottholds Töchter Friederike, Henriette und Pfiffi Buddenbrook bleiben, da ohne Mitgift,
unverheiratet. Die Rückschläge der Familie Buddenbrook kommentieren sie mit
Schadenfreude, so weisen sie zum Beispiel nach der Geburt Hannos – statt sich mit der
Familie zu freuen – voll Neid und Bitterkeit auf dessen schwächliches Äußeres und seine
verzögerte Entwicklung hin. Selbst im Lob wissen sie spitze Bemerkungen zu verstecken:
Thomas neues Haus kommentieren sie, es sei wirklich prächtig; so prächtig dass sie,
bescheidene Mädchen die sie nun einmal seien, nicht darin wohnen wollten. Beim Tod
ihrer Mutter benehmen sie sich so, als hätte die ständige Ablehnung durch die reichen
Verwandten sie ins Grab gebracht - in Wirklichkeit ist sie steinalt geworden. Als Vorlage
für Gotthold Buddenbrook diente Konsul Siegmund Mann, als Vorbilder für Pfiffi

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(=Josefine), Henriette und Friederike Buddenbrook sind Luise, Auguste und Emmy Mann
identifiziert. Thomas Mann verwendete die Namen bereits zuvor für die drei Schwestern
des Protagonisten seiner Erzählung Der kleine Herr Friedemann.

Klothilde Buddenbrook
Klothilde Buddenbrook ist die Tochter eines armen Verwandten, Bernhardt Buddenbrook
(ein Neffe Johann Buddenbrooks des Älteren), der das kleine Gut „Ungnade“ in
Mecklenburg bewirtschaftet. Klothilde, Spitzname Thildchen oder Thilda, ist im Alter
von Tony Buddenbrook, sie wächst mit ihr und ihren Geschwistern im Haus in der
Mengstraße auf. Da sie keinerlei Vermögen besitzt, ist sie sich schon früh darüber klar,
dass sie wohl nie einen Ehemann finden wird. Sie bleibt tatsächlich ledig, wohnt zunächst
als Untermieterin bei der Witwe Krauseminz und kommt später auf Betreiben von
Thomas Buddenbrook im Johanniskloster unter, einem Stift für unverheiratete,
vermögenslose Damen aus alteingesessener Familie. Sie wird als mager, blass und
phlegmatisch beschrieben. Bei Tisch fällt ihr ungeheurer Appetit auf, den sie demütig und
unbeirrt stillt. Die anderen Familienmitglieder necken sie oft auf harmlose Weise, was
Thilda aber nicht weiter ärgert. Als ihr Vorbild gilt Thekla Mann.

Familie Kröger
Der reiche Lebrecht Kröger (geb. unbekannt, gest. 1848) ist der Vater von Elisabeth
Buddenbrook, Jean Buddenbrooks Ehefrau. Seine Enkelin Tony ist als Kind oft auf einige
Wochen in seinem Haus, das luxuriöser ist als das elterliche. Lebrecht Kröger ist ein
weltläufiger älterer Herr alter Schule, der oft großzügige Geschenke macht. Im Roman
heißt er der à la mode-Kavalier. Ihm setzt das Erlebnis der Krawalle von 1848 so zu, dass
er nach der nächtlichen Kutschfahrt durch die Straßenunruhen bei der Ankunft vor seiner
Haustür (an einem Schlaganfall (?)) stirbt.
Sein Sohn Justus Kröger (geb. 1800, gest. 1875) heiratet die menschenscheue Rosalie
Oeverdieck und hat mit ihr die Kinder Jakob und Jürgen. Er setzt sich bald zur Ruhe und
genießt das Leben als Suitier.[44] Er verkauft das herrschaftliche Anwesen seiner Eltern,
das aufgeteilt und mit einfachen Häusern bebaut wird, was Tony Buddenbrook empört.
Justus ist nach Jeans Tod der Vormund von Clara Buddenbrook. Seine Söhne
enttäuschen: Jakob fällt immer wieder durch Leichtsinn und zwielichtige Geschäfte auf.
Der Vater bricht mit ihm, als er bei seinem Arbeitgeber eine "Unredlichkeit" einen
"Übergriff" begeht, schickt ihn nach Amerika und weigert sich fortan, über seinen Sohn
zu sprechen. Nur Jakobs Mutter weiß, wo er sich aufhält und verkauft heimlich ihr
Silberzeug, um dem Enterbten Geld zu senden. Jürgen gibt sein Jurastudium auf, nachdem
er zweimal durch das Examen gefallen ist, und wird schlichter Postbeamter in Wismar.
Auch das ursprünglich sehr große Vermögen der Krögers schwindet ständig: Nachdem
Justus früher ebenso großzügige Geschenke gemacht hat wie sein Vater, besitzt seine

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Witwe, nicht zuletzt wegen der ständigen Unterstützungszahlungen für ihren kriminellen
Sohn, am Ende nicht einmal mehr ein „präsentables“ Kleid.
Justus stirbt wie Thomas Buddenbrook 1875.

Familie Hagenström
Hagenströms, die neu in der Stadt sind, konkurrieren zielstrebig mit den Buddenbrooks.
Am Ende hat Hermann Hagenström, der etwa gleichaltrig mit Thomas Buddenbrook ist,
ihn geschäftlich weit überflügelt.[45] Er war auch der erste in der Stadt, der seine
Wohnräume und Kontore mit Gas beleuchtete. Das Neuartige und damit Reizvolle seiner
Persönlichkeit, das, was ihn auszeichnete und in den Augen vieler eine führende Stellung
gab, war der liberale und tolerante Grundzug seines Wesens. Die legere und großzügige
Art, mit der er Geld verdiente und verausgabte, war etwas Anderes als die zähe,
geduldige und von streng überlieferten Prinzipien geleitete Arbeit seiner Mitbürger.
Dieser Mann stand frei von den hemmenden Fesseln der Tradition und der Pietät auf
seinen eigenen Füßen, und alles Altmodische war ihm fremd. Wenn Hermann Hagenström
irgendeiner Tradition nachlebte, so war es die von seinem Vater, dem alten Hinrich
Hagenström übernommene unbeschränkte, fortgeschrittene, duldsame und vorurteilsfreie
Denkungsart.[32]Nach dem Tode von Thomas’ Mutter kauft Hermann Hagenström das
große Haus in der Mengstraße. Der Aufsteiger, der kaum seinen Großvater gekannt hatte,
gibt sich damit die historische Weihe, sozusagen das Legitime. [45] Hagenströms nehmen
Buddenbrooks Platz ein, – wie vor Zeiten Buddenbrooks die Ratenkamps, die Vorbesitzer
des Hauses, abgelöst hatten. Schon im Frühjahr [1872] bezog er mit seiner Familie das
Vorderhaus, indem er dort nach Möglichkeit alles beim alten beließ, vorbehaltlich kleiner
gelegentlicher Renovierungen und abgesehen von einigen sofortigen, der Neuzeit
entsprechenden Änderungen; zum Beispiel wurden alle Glockenzüge abgeschafft und das
Haus durchaus mit elektrischen Klingeln versehen.

Morten Schwarzkopf
Der sachliche Medizinstudent Morten Schwarzkopf gefällt Tony gleich bei der ersten
Begegnung. Nach jedem Gespräch mit ihm imponiert er ihr etwas mehr. Beide verlieben
sich ineinander und versprechen sich, aufeinander zu warten, bis Morten sein Doktor-
Examen bestanden hat. Morten bleibt lebenslang Tonys einzige Liebe, die von Tonys
Vater aus einer Mischung von Standesdünkel und Krämer-Mentalität hintertrieben wird
(s. Inhalt, Dritter Teil). Jean Buddenbrook fällt auf den Blender Bendix Grünlich herein
und setzt ihn als Tonys Ehemann und zukünftiges Familienmitglied durch.
In seinen Gesprächen mit Tony vertritt Morten Schwarzkopf die liberalen Standpunkte
des Bürgertums gegenüber Adel und patrizischem Bürgertum. Vor staatlichen Autoritäten
hat er wenig Respekt und besitzt ein Skelett, dem er eine Polizeiuniform angezogen hat,
er ist Mitglied einer Burschenschaft. Toni versteht seine politischen Ansichten, die sich

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letztlich gegen ihre eigene soziale Schicht richten, in ihrer naiven Art nicht ganz, ist aber
trotzdem beeindruckt von seinen Äußerungen. Auch seine naturwissenschaftlichen
Kenntnisse imponieren ihr, noch viele Jahre später, beim Tod ihrer Mutter, gibt sie seine
Bemerkungen über „Stickfluss“, ein Lungenödem, wieder. Bezeichnend für ihr Verhältnis
zu dem sympathischen, aber aus Buddenbrookscher Sicht nicht standesgemäßen Morten
wird die Redewendung „auf den Steinen sitzen“, die leitmotivisch wiederkehrt: Morten
Schwarzkopf muss auf den steinernen Wellenbrechern abseits vom eleganten Strandleben
sitzen und auf Tony warten. In ihrem Bekanntenkreis will er sich nicht zeigen, weil er
spürt, dass er nicht dazu gehört.
Grünlich geht trotz der ansehnlichen Mitgift aus der Familie Buddenbrook bankrott.
Morten Schwarzkopf wird – wie der stolze Vater später berichtet – ein erfolgreicher Arzt
in Breslau („un hei hett ook all ’ne ganz staatsche Praxis, der Bengel“).[33]

Bendix Grünlich
Von ihrem Vater als Geschäftspartner in den privaten Familienkreis eingeladen, lernt ihn
die 18-jährige Tony kennen:
Durch den Garten kam, Hut und Stock in derselben Hand, mit ziemlich kurzen Schritten
und etwas vorgestrecktem Kopf, ein mittelgroßer Mann von etwa 32 Jahren in einem
grüngelben, wolligen und langschößigen Anzug und grauen Zwirnhandschuhen. Sein
Gesicht, unter dem hellblonden, spärlichen Haupthaar war rosig und lächelte; neben dem
einen Nasenflügel aber befand sich eine auffällige Warze. Er trug Kinn und Oberlippe
glattrasiert und ließ den Backenbart nach englischer Mode lang hinunterhängen; diese
Favoris waren von ausgesprochen goldgelber Farbe. – Schon von weitem vollführte er
mit seinem großen, hellgrauen Hut eine Gebärde der Ergebenheit.
Antonie verabscheut ihn vom ersten Moment an wegen seiner manierierten Redeweise
und übertriebenen Gestik, auch durchschaut sie schnell, dass er ihren Eltern genau das
sagt, was sie hören möchten. Nach einigen Wochen macht er ihr einen Antrag. Tony lehnt
ab. Hartnäckig und intrigant bemüht er sich um Tony: Grünlich sucht den Vater von
Morten Schwarzkopf auf und informiert ihn über dessen Heiratspläne mit Tony worauf
Mortens Vater seinem Sohn den Umgang mit Tony untersagt. Auch durch geschickte
Beeinflussung von Tonys Eltern erreicht er schließlich die Verheiratung mit ihr.
Was wie Verliebtheit aussah, erweist sich als Berechnung. Nach der Hochzeit nimmt er
kaum Notiz von seiner jungen Frau. Es war ihm ausschließlich auf die Mitgift
angekommen und auf seine Bonität als Schwiegersohn der Familie Buddenbrook, darum
hatte er auch die Verlobung mit Tony publik gemacht noch bevor sie erfolgt war. Seine
Rechnung geht allerdings letztendlich nicht auf: Zwar hatte er aufgrund seiner
Verwandtschaft zu Johann Buddenbrook zunächst weitere Kredite von den Banken
erhalten, als er jedoch endgültig zahlungsunfähig wird, weigert sich sein Schwiegervater
Grünlichs Schulden zu bezahlen.

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Wegen Grünlichs Bankrott lässt sich Tony von ihm scheiden und kehrt mit der
gemeinsamen Tochter ins Elternhaus zurück.

Alois Permaneder
Kurzgliedrig und beleibt, trug er einen weit offenstehenden Rock aus braunem Loden,
eine helle und geblümte Weste, die in weicher Wölbung seinen Bauch bedeckte […]. Der
hellblonde, spärliche, fransenartig den Mund überhängende Schnurrbart gab dem
kugelrunden Kopfe mit seiner gedrungen Nase und seinem ziemlich dünnen, unfrisierten
Haar etwas Seehundartiges. Sein Gesicht hatte einen Mischausdruck von Ergrimmtheit
und biederer, unbeholfener, rührender Gutmütigkeit.
Unverzeihlich und unter keinen Umständen wiederzugeben ist jenes Schimpfwort, das
Alois Permaneder seiner Frau Tony nachgerufen hat. Über viele Romanseiten wird der
Leser über Permaneders letzte Worte im Unklaren gelassen.
Später, auf irgendeine niemals aufgeklärte Weise, ist einzelnen Familienmitgliedern das
‚Wort‘ bekannt geworden, dieses desparate Wort, das in jener Nacht Herr Permaneder
sich hatte entschlüpfen lassen. Was hatte er gesagt? – „Geh’ zum Deifi,
Saulud’r dreckats!“
So schloß Tony Buddenbrooks zweite Ehe.
Allerdings ist Permaneder eigentlich ein gutmütiger Mensch. Der Tod seiner kleinen
Tochter trifft ihn sehr. Auch hegt er gegen Tony keinen Groll, sondern gibt bereitwillig
ihre Mitgift zurück und gratuliert noch Jahre nach der Scheidung telegrafisch zum
Jubiläum der Firma Buddenbrook.

Kai Graf Mölln


Kai ist Hannos einziger Freund, von vornehmer Herkunft und gänzlich verwahrlostem
Äußeren. Mit seinem Vater lebt er vor den Toren der Stadt auf dessen winzigem, fast
wertlosem Anwesen, das überhaupt keinen Namen hatte. Mutterlos […] war der kleine
Kai hier wild wie ein Tier unter Hühnern und Hunden herangewachsen. Vom
Stammbaum der gräflichen Familie existieren nur noch er und sein Vater, das Anwesen
der Familie ist alles andere als herrschaftlich, sondern wirkt mehr wie ein einfacher
Bauernhof. Auch das Benehmen seines Vaters lässt zu wünschen übrig. Ida Jungmann ist
schockiert, als sie einmal mit Hanno dort einen Besuch macht und das genaue Gegenteil
der erwarteten adligen Vornehmheit antrifft. In Kai hat sich jedoch aristokratisches
Selbstvertrauen erhalten. Dazu strotzt er voll Lebenskraft, ist begeistert von englischer
Literatur und ein phantasiereicher Erzähler, ohne dass ihn sein Interesse an Literatur (er
schreibt auch selbst) weltfremd macht. Auf ihm lastet keine (Familien-)Geschichte, und
bürgerlichen Konventionen fühlt er sich nicht verpflichtet. Der Verfall seiner Familie hat
ihn nicht lebensuntüchtig gemacht.[46] Anders als der empfindsame Hanno leidet Kai auch
nicht so sehr unter den Lehrern, sondern macht sich über sie lustig.

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Kai und Hanno fühlen sich vom ersten Augenblick an voneinander angezogen. Der
Aktivere in dieser Freundschaft ist Kai. Er hatte mit einer stürmisch aggressiven
Männlichkeit um die Gunst des stillen […] Hanno geworben, der gar nicht zu
widerstehen gewesen war. – Als Vorbild für die Romanfigur gilt ein Graf Schwerin.

Ida Jungmann
Ida Jungmann ist über 40 Jahre lang die Kinderfrau der Familie Buddenbrook. Sie stammt
aus Westpreußen und hat ihre angestammte Mundart beibehalten. Mit 20 Jahren tritt sie
bei den Buddenbrooks ein (diese haben sie auf einer Reise kennengelernt und halb aus
Mitleid eingestellt, da ihr Vater kurz zuvor verstorben ist). Ida ist der Familie fortan treu
ergeben, auch wenn Johann Buddenbrook d. Ä. eine Abneigung gegen die „Preußin“ hat.
Zunächst erzieht Ida die Kinder von Jean und Betsy Buddenbrook, später führt sie die
Aufsicht über den Haushalt der verwitweten Konsulin. Nach der Geburt von Hanno wird
sie auch dessen Kindermädchen und erzählt ihm die gleichen Geschichte, die bereits sein
Vater und dessen Geschwister zu hören bekommen haben- u. A. von ihrem Onkel, der
am Schluckauf gestorben ist. Sie besitzt ein ausgeprägtes Standesbewusstsein und achtet
sehr darauf, dass die Kinder der Buddenbrooks sich nur mit ebenbürtigen Spielkameraden
abgeben: Auch sie selbst lehnt es ab, mit den Angestellten der weniger vornehmen
Familien zu sprechen. Als Tony sich nicht zur Heirat mit Bendix Grünlich entscheiden
kann, rät Ida ihr zu: Tony müsse keine Angst haben, sie bleibe ja in den ersten Kreisen.
Gekündigt wird ihr nach Thomas Buddenbrooks Tod von Gerda Buddenbrook.
Ida Jungmanns Vorbild in der Familie Mann hieß Ida Buchwald.

Therese (Sesemi) Weichbrodt


Therese Weichbrodt, die von allen Sesemi genannt werden möchte, ist die Leiterin des
lokalen Mädchenpensionats, in dem Tony Buddenbrook und Gerda Arnoldsen aus
Amsterdam einige Jahre verbringen. Ihr aufrichtig gemeinter stereotyper Wunsch „Sei
glöcklich, du gutes Kend!“ gilt ironischerweise regelmäßig denen, die im weiteren
Verlauf ihres Lebens gerade nicht glücklich werden. Ihr widmet Thomas Mann die letzten
Worte seines Romans, mit denen er ein beeindruckendes, freilich wieder ironisch
gebrochenes tableauartiges Schlussbild von ihr zeichnet:
Auf Tony Permaneders zweifelnde Frage, ob man sich dereinst im Jenseits wiedersehen
werde, kam Sesemi Weichbrodt am Tisch in die Höhe, so hoch sie nur irgend konnte. Sie
stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals, pochte auf die Platte, und die Haube
zitterte auf ihrem Kopfe. „Es ist so!“ sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle
herausfordernd an. Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der
Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von seiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt
hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte
Prophetin.[47] Bei Therese lebt ihre verwitwete Schwester, Madame Kethelsen, der sich
Sesemi überlegen fühlt. Sie weist immer wieder darauf hin, ihre Schwester habe ja nie

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einen ernsthaften Kampf gegen die Anfechtungen des Daseins zu bestehen gehabt und sei
daher ein naives Kind geblieben. Die Figur der Therese Weichbrodt ist angelehnt
an Therese Bousset, Leiterin und Inhaberin eines Mädchenpensionats in Lübeck, in dem
unter anderem Julia da Silva-Bruhns, die Mutter von Thomas und Heinrich Mann, nach
dem Tod ihrer Mutter unterrichtet wurde.[48][49]

Anna (Iwersen)
Anna (Geburtsname unbekannt, später verheiratete Iwersen) arbeitet als
Blumenverkäuferin in einem kleinen Geschäft in der Fischergrube, das zufällig gegenüber
dem späteren Standort von Thomas neuem Haus liegt. Sie ist die frühe Geliebte von
Thomas Buddenbrook. Sie wird als wunderbar hübsch, zart wie eine Gazelle und
mit beinahe malaiischen Gesichtstypus beschrieben. Thomas löst die unstandesgemäße
Verbindung, als er für einen längeren Aufenthalt nach Amsterdam geht. Bei einer
späteren Begegnung, als Thomas bereits mit Gerda und Anna mit dem Sohn ihrer
Arbeitgeberin verheiratet ist, lassen beide sich nicht mehr anmerken, was sie einmal
verbunden hat. Anna erweist sich – im Gegensatz zu Gerda – als äußerst fruchtbare Frau.
Sie bringt mehrere gesunde Kinder auf die Welt.
Das Blumenmädchen Anna stellt scheinbar nur eine kleine Episode im Roman und im
Leben des Thomas Buddenbrook dar. Doch an kaum einer anderen Stelle des Romans
zeigt sich Thomas Buddenbrook zugeneigter, unverstellter und unmittelbarer als in dieser
Liebe. Anna hat Thomas nie vergessen- als er aufgebahrt im Sarg liegt und sie Blumen
abliefert, bittet sie darum, den Toten sehen zu dürfen und ist ergriffen von seinem
Anblick.

Edmund Pfühl
Der weithin hochgeschätzte Organist der Marienkirche, bekannt für
seine kontrapunktische Gelehrsamkeit, ist von strengem Charakter, aber weichem
Äußeren: ein träumerisch blickender, vierschrötiger Musikantmit riesigem Kehlkopf,
gebauschtem Schnurrbart und erstaunlicher Löckchenperücke. Einmal wöchentlich
kommt er zu Besuch, um Gerdas Geigenspiel am Flügel zu begleiten. Obwohl
als Beethoven- und Bach-Verehrer zunächst ein erbitterter Gegner der neuen Musik
von Richard Wagner, gibt er doch, der Senatorin zuliebe, bald seinen Widerstand auf,
lässt sich überreden, den „Liebestod“ aus Tristan und Isolde für Violine und Klavier
umzuschreiben und kann sich schließlich sogar bedingungslos für
die Meistersinger begeistern. Pfühl fügt schließlich sogar einem von ihm verfassten
musiktheoretischen Werk ein Kapitel über Richard Wagner an.
Dem kleinen Hanno, dessen Klavierlehrer er wird, erscheint er wie ein großer Engel, der
ihn jeden Montagnachmittag in die Arme nahm, um ihn aus aller alltäglichen Misere in
das klingende Reich eines milden, süßen und trostreichen Ernstes zu führen. Von ihm
lernt Hanno in leicht faßlicher Form […] die Grundlagen der Harmonielehre. Die beiden

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amüsieren sich im sonntäglichen Gottesdienst gemeinsam über die musikalische
Unwissenheit ihrer Mitbürger, die ein besonders kompliziertes Musikstück nicht zu
würdigen wissen. Doch zeigen Hannos erste eigene Kompositionen mit ihrer Vorliebe für
theatralische Phantasien und Tremolos, wie der kindliche Schüler sich schon bald von
seinem klassischen Meister entfernt und in, ganz offenkundig seiner Mutter abgelauschte,
wagnereske Gefilde abdriftet.

Leutnant René Maria von Throta


Ein junger, gänzlich unmilitärischer Offizier, mit schwarzen Haaren und schwärmerischen
Augen, dessen Sinn ganz der Musik zugewandt ist. Er spielt Klavier, Geige, Bratsche,
Violoncello und Flöte – alles vortrefflichund sorgt in den gemeinsamen intimen
Musikstunden mit Gerda Buddenbrook dafür, dass ihr Verhältnis die verstaubte
Menschenkenntnis und bescheidene Phantasie der Leute zu der allgemeinen Annahme
führt,es könne wohl nicht anders sein, als daß die schöne Gerda ihren alternden Mann
nun ein wenig betröge, sodass man sich schnell darüber einig ist, dass die
Senatorin gelinde gesagt, die Grenzen des Sittsamen überschritt. Thomas Buddenbrook
kennt diese Gerüchte, hat aber nicht die Kraft, die Besuche des Leutnants in seinem Haus
zu unterbinden.

Konsul Peter Döhlmann


Konsul Peter Döhlmann ist eigentlich Kaufmann, vernachlässigt aber die von seinem
Vater ererbte Holzhandlung vollkommen. Seine Frau und er leben getrennt, trotz ihrer
gemeinsamen Tochter. Döhlmann gehört dem Klub an, den auch Christian später besucht
und hat ebenfalls eine Vorliebe für das Theater sowie Verhältnisse mit Schauspielerinnen.
In der Gesellschaft ist er trotzdem beliebt, da er als Original gilt und einen zuweilen etwas
groben Humor besitzt, allerdings nimmt ihn niemand ernst. Im Alter ruiniert Döhlmann
seine Gesundheit, da er übermäßig viel Hunyadi János Wasser (ein Abführmittel) trinkt.
Nach seinem Tod ist vom Vermögen der Familie nichts mehr übrig, so dass seine Tochter
von der öffentlichen Armenfürsorge untergebracht werden muss. Peter Döhlmann ist
durch sein Privatleben und seine nicht weniger chaotischen wirtschaftlichen Verhältnisse
das Musterbeispiel für einen Suitier, er hat viele Eigenschaften und Angewohnheiten, die
später auch Christian Buddenbrook auszeichnen.

Sigismund Gosch
Zu den etwas skurrilen Figuren im Roman gehört Sigismund Gosch, von Beruf
Immobilienmakler. Gosch, bei seinem ersten Auftreten etwa vierzig Jahre alt, ist
Junggeselle, verkehrt gelegentlich mit den Mitgliedern des Klubs, ist aber kein Suitier. Er
benimmt sich stets äußerst pathetisch, selbst alltägliche Begebenheiten wie der Verlust
einer nicht besonders großen Geldsumme an der Börse werden von ihm ausgeschmückt
und zum Anlass für theatralische Auftritte genutzt. Auch geht er immer dunkel gekleidet,
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mit einem langen schwarzen Umhang und einem Jesuitenhut. Der Höhepunkt seines
Lebens war die Revolution 1848, wo er an der Seite Jean Buddenbrooks stand, als dieser
die aufgewiegelten Arbeiter beruhigte. Obwohl völlig harmlos, stellt Gosch die Situation
immer so dar, als seien der Konsul und er nur knapp der Ermordung durch das
aufgewiegelte "Volk" entgangen. Gosch ist äußerst am Theater interessiert, auch für
Literatur kann er sich begeistern. In der Stadt wird erzählt, er arbeite an einer Übersetzung
sämtlicher Dramen von Lope de Vega. Trotz seines seltsamen Benehmens und seiner
literarischen Interessen ist er ein geachteter und durchaus tüchtiger Geschäftsmann. Gerda
Buddenbrook fasziniert ihn ungemein, aber er traut sich nicht, sie anzusprechen. Erst kurz
vor ihrem Wegzug kommt er mit ihr in Kontakt, als er über den Verkauf ihres Hauses mit
ihr verhandelt.

Rieckchen Severin
Sie ist die Nachfolgerin von Ida Jungmann als Hauswirtschafterin der verwitweten
Konsulin Buddenbrook. Anders als Ida ist sie der Familie jedoch ganz und gar nicht treu
und selbstlos ergeben: Nach dem Tod der Konsulin bedient sie sich ungeniert aus deren
Nachlass und duldet zudem, dass auch die übrigen Dienstboten Wäsche und Kleider an
sich nehmen. Dies trägt ihr den Hass von Tony ein, während Thomas resigniert meint,
dass solches Verhalten unausweichlich bei der Auflösung eines Haushalts sei, in dem ein
bißchen lax regiert wurde. Die mangelnde Loyalität der Angestellten, aber auch der
Verlust der Autorität über die Dienstboten gehören offenkundig ebenfalls zu den Zeichen
des Verfalls.

Marcellus Stengel
Er gehört zu den originellsten Figuren des Romans; schon seine äußerliche Erscheinung
mit Perücke, grotesk großem Adamsapfel und gespitzten Bleistiften, die aus seinen
Rocktaschen schauen, lässt ihn als skurriles Original erscheinen. Seltsame Aussprüche
geben Anlass zu Witzen. Besonders Christian übt sich früh darin, ihn zu imitieren und
redet auch als Erwachsener oft stundenlang in Stengels Sprache. Als Lehrer am
Gymnasium unterrichtet Stengel im Zeichnen und in Gesang, also lustigen Fächern.
Große Autorität bei seinen Schülern genießt er nicht. So begehen Christian Buddenbrook,
Justus Kröger und Stephan Kistenmaker (die späteren Suitiers) in seinem Unterricht
regelmäßig Streiche, weshalb Stengel sie nach Schulschluss zur Strafe zu sich nach Hause
bestellt - wo er dann aber freundlich mit ihnen Kaffee trinkt. Ganz im Gegensatz zu
Hannos Lehrern, die als brutal und streng beschrieben werden, ist Stengel eigentlich ein
Menschenfreund, der Verständnis für seine Schüler hat und über ihre Fehler großzügig
hinwegsieht.

Hugo Weinschenk

70
Hugo Weinschenk, der Ehemann von Erika Grünlich, der Tochter Tonys, stammt aus
Schlesien und ist Direktor der städtischen Feuerversicherung. Er kommt mit den
Buddenbrooks in Kontakt, als Thomas die Kontors der Firma in sein 1864 bezogenes
neues Haus verlegt und die Versicherungsgesellschaft die alten Kontorräume im
Mengstraßenhaus, wo Tony mit ihrer Tochter bei der verwitweten Konsulin lebt, mietet.
Tony ist über die Verbindung zwischen ihm, der fast doppelt so alt ist wie ihre Tochter,
durchaus erfreut, da sie die Hoffnung hat, durch eine angemessene Verheiratung Erikas
könnte ihr eigenes Scheitern wieder wett gemacht werden. In Wirklichkeit ist Hugo
Weinschenk jedoch nicht ganz so standesgemäß: Er stammt aus recht einfachen
Verhältnissen und ist lediglich ein Selfmademan. Dies wirkt sich in ziemlich
ungeschliffenen Manieren aus, beispielsweise tauscht er mit seiner künftigen Frau schon
während der Hochzeitszeremonie Zärtlichkeiten aus oder erzählt beim Essen
unappetitliche Anekdoten. Über diese Fehler könnte man zur Not hinwegsehen, doch
1870 kommt es noch schlimmer: Weinschenk hat durch betrügerische
Rückversicherungen andere Gesellschaften geschädigt und wird angeklagt. Zwar sind
seine Machenschaften Usancen, also nicht ganz legale aber dennoch verbreitete Tricks,
doch die Anklage (ausgerechnet durch Staatsanwalt Moritz Hagenström) verfolgt sie mit
aller Härte. Weinschenk nimmt sich einen Verteidiger aus Berlin, ein laut Thomas
unkluges Vorgehen, da die einheimischen Rechtsanwälte durch persönliche Verbindungen
eher Erfolg haben dürften. So geschieht die Schande, dass ein Mitglied der Familie ins
Gefängnis muss. Nach seiner vorzeitigen Entlassung 1873 reist Weinschenk nach
London, da er sich in der Stadt nicht mehr sehen lassen kann. Er verspricht, Frau und
Tochter nachzuholen, sobald er eine neue Existenz aufgebaut habe - doch seit diesem
Zeitpunkt bleibt er verschwunden. Tony leitet eine (erfolglose) offizielle Suche ein um
schließlich eine Scheidung ihrer Tochter wegen böswilligen Verlassens beantragen zu
können.

Motive und Symbole

Verfall
Das übergreifende Motiv des Romans bezeichnet der Untertitel „Verfall einer Familie“. Von
Generation zu Generation schwinden Tatkraft, Unternehmensgeist und Gesundheit. Dem
ökonomischen Niedergang der Firma Buddenbrook geht der Verlust von Vitalität und naiver
Selbstsicherheit der Familienmitglieder voraus. Eine zunehmende Tendenz zur Vergeistigung
untergräbt die Kaufmannsmentalität. Am Ende des Verfalls stehen Christian, der in eine
psychiatrische Anstalt verbracht wird, und der für Musik unter allen Buddenbrooks
Empfänglichste, Hanno. Er ist gänzlich unfähig, die väterliche Firma später einmal zu
übernehmen, und stirbt bereits vor Vollendung des 16. Lebensjahrs – sein Urgroßvater Johann
Buddenbrook wird noch 77, sein Großvater Jean 55, sein Vater Thomas nur mehr 49 Jahre alt.
In den Betrachtungen eines Unpolitischenbezeichnet der Autor seinen Hanno denn auch
folgerichtig als den „durch Entartung sublimierten und nur noch musikalischen Spätling des
Bürgergeschlechts“.[50]

71
Nach Thomas Mann schließen sich Lebenstüchtigkeit und seelisch-geistige Differenzierung
aus.[51] Diese Annahme folgt einer literarischen Strömung des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
für die Nietzsche den Begriff Décadence in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt hat.
Wie sehr sich die Lehre vom pathologisch degenerativen Ursprung der Genialität damals
verbreitete und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zum Modethema wurde, beweist u. a.
die Bibliographie, die der Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum 1927 in seinem
Bestseller Genie und Wahnsinn veröffentlichte.
Firma, Haus und großbürgerliche Familie
Die Einheit, ja gleichsam Synonymität von Familie und Firma ist verankert in der Identität
von Wohn- und Geschäftshaus. Erst Thomas Buddenbrook bricht mit
dieser paradigmatischen Tradition von „wirtschaftlichem Unterbau und kulturellem
Überbau.“[52] Gleichwohl bleibt das Haus in der Mengstraße, das der Leser im
Eröffnungskapitel kennenlernt, Zentrum der Familie, da es die verwitwete Mutter von
Thomas Buddenbrook weiter bewohnt und die Familientreffen wie bisher dort stattfinden.
Die ideelle Bedeutung des Hauses für die Mitglieder der Familie Buddenbrook imitiert den
Stellenwert fürstlich-dynastischer Stammsitze für den Hochadel, wie ja auch die ständige
Rückbesinnung auf die Reihe der Vorfahren einen adligen Stammbaum ersetzen soll. Die
Handlung spielt in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, noch vor Bismarcks
Reichsgründung 1871.
Darüber hinaus gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Größe der Behausung des
Firmenchefs und dem geschäftlichen Erfolg der Firma: Der rasante Aufschwung der
Buddenbrooks endet mit dem Einzug ins großbürgerliche Mengstraßenhaus zu Beginn des
Romans. In der Folgezeit kann die Familie ihr Vermögen zwar halten, aber nicht mehr
nennenswert vergrößern. Der vorübergehende Umzug der Familie des jungen Thomas
Buddenbrook in ein einfacheres Haus in der Breiten Straße geht mit einem geschäftlichen
Zwischenhoch einher. Nach der Übersiedlung in die prachtvolle neue Villa beschleunigt sich
der Verfall zusehends. Als dann ausgerechnet der verhasste Konkurrent und Emporkömmling
Hermann Hagenström das Haus in der Mengstraße kauft, ist Tony Buddenbrook außer sich
und befürchtet, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen könne, Buddenbrooks hätten
abgewirtschaftet und seien von Hagenströms verdrängt worden. Auch wenn Thomas ihr
daraufhin klarzumachen versucht, dass doch die Bedeutung als Familiensitz und
gesellschaftliches Zentrum längst auf sein neues Haus übergegangen wäre, erkennt der Leser,
dass dieser Eindruck nicht völlig falsch ist.
Die geschäftliche Tradition
„Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey
Nacht ruhig schlafen können.“ Diese Maxime und Mahnung ist in der Chronik der
Familie[53] festgehalten. Als Verfasser wird der Großvater Jean genannt, der den
Getreidehandel begründet hatte, eine Figur also, die vor der Romanhandlung lebte und nur im
Rückblick erwähnt wird. Seine Nachkommen Johann Buddenbrook d. Ä. und Jean
Buddenbrook halten sich an diesen Grundsatz und gehen keine Risiken ein. Thomas
Buddenbrook riskiert als erster in der Generationsfolge ein Spekulationsgeschäft und
scheitert.
Das Leben
ist ein bevorzugtes Thema von Tony Buddenbrook. Ihre Behauptung, sie kenne „das Leben“,
widerlegt sie selbst durch ihre fehlgeschlagenen Ehen und mit einem geschäftlichen
Ratschlag, der für die Firma katastrophale Folgen hat: der spekulative Kauf des Pöppenrader
Getreides vor Einbringung der Ernte.

72
Mit „das Leben“ in Tonys Mund ironisiert der junge Thomas Mann einen zentralen
Begriff Nietzsches, den er auch in einem Essay behandelt.
Musik
Bis auf Gerda und Hanno sind alle Mitglieder der Familie Buddenbrook unmusikalisch.
Einzig Johann Buddenbrook der Ältere hatte ab und an etwas Flöte gespielt. Musik und
tätiges Leben werden als Gegensätze dargestellt. Der Musik wird eine unmoralische Kraft
zugemessen, besonders der Musik Wagners. Der Klavierlehrer Hannos, Domorganist Pfühl,
eingeschworen auf Bach und Beethoven, weigert sich zunächst entschieden,[54] Gerdas Bitte
nachzukommen und mit ihr Stücke von Richard Wagner zu spielen:
Ich spiele dies nicht, gnädige Frau, ich bin ihr ergebener Diener, aber ich spiele dies
nicht. […] Dies ist das Chaos! Dies ist  Demagogie, Blasphemie und Wahnwitz! Dies
ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt. Dies ist das Ende der Moral in der Kunst!
Später erliegt er doch der Musik Wagners, dem „Leben und Weben der Leitmotive“.[55]
Hanno Buddenbrook erbt die Musikalität seiner Mutter und beginnt mit acht Jahren zu
komponieren.
Farben: Blau und Gelb
Durch den gesamten Roman zieht sich die konsequente Erwähnung der Farben Blau und
Gelb, die nicht nur in Thomas Manns ausführlichen Erstbeschreibungen von Personen
und Szenarien zum Tragen kommen, sondern auch in leitmotivischer Intention wiederholt
werden. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie eine zentrale Rolle im Buch spielen, also
eng verknüpft sind mit dem Hauptproblem, dem Verfall der Familie Buddenbrook und
gesellschaftlicher Umschichtung im Allgemeinen.
Innerhalb der Linie der erstgeborenen männlichen Buddenbrooks zeigt sich, dass die
Farbe Blau in Zusammenhang mit jener Entwicklung steht, die sich in den
buddenbrookschen Nachkommen zeigt. Mit dem Verfall ist aber bei der Verwendung der
Farbe Blau als Leitmotiv immer auch ein Aspekt der Verfeinerung verbunden,
insbesondere bei Thomas, Gerda und Hanno. Meist werden „künstlerische“ Organe wie
Augen, Hände oder die Schläfen als „bläulich umschattet“ bezeichnet. Außerhalb der
Linie der Erstgeborenen steht Blau für allgemeines Scheitern und negative Einflüsse auf
die Familie Buddenbrook und tritt bei anderen Personen und in der Natur auf.
Im Gegensatz zur blauen Farbe weist Gelb auf Tradition, Stärke, Hoffnung und
Aufschwung hin. Auch diese Farbe tritt sowohl in direkter Nähe zu den Buddenbrooks
(Einrichtung ihres Hauses und ihres Gartens) als auch außerhalb der Familie (z. B.
einfaches Volk, aufstrebendes Bürgertum und Haus der Bürgerschaft) auf. Außerhalb der
Familie Buddenbrook steht die Farbe Gelb für Solidität und Konstanz.
Die Farbe Gelb kann alternativ ebenfalls als leitmotivisch für das Negative angesehen
werden, ist aber – im Gegensatz zu Blau – nicht mit künstlerischen Kategorien
verbunden: Die Farbe Gelb tritt in der Einrichtung des „Landschaftszimmers“ in den
Vordergrund, ausdrücklich werden die gelblichen Sonnenuntergänge erwähnt. In diesem
Zimmer versammeln sich die Buddenbrooks zu Beginn des Romans. Bei seinem Tod ist
Lebrecht Krögers Gesicht „gelb und von schlaffen Furchen zerrissen“, gleichermaßen
gelblich wirken Konsul und Konsulin im Tode. Das neugeborene Kind Clara (sie wird als
junge Frau an Tuberkulose versterben) hat „gelbe, runzlige Fingerchen“. Die Romanze
zwischen Tony Buddenbrook und Morten Schwarzkopf steht unter „gelben“ Vorzeichen;
der Leuchtturm ist gelb, die Abhänge aus gelbem Lehm, das Seegras gelbgrün, die
Quallen rotgelb. Grünlichs „goldgelbe Favoris“ werden vielfach zitiert. Das Licht in

73
Hannos Zimmer in Travemünde ist „gelblich“, er schläft in einem „gelbhölzernen“ Bett.
Die Ernte von Pöppenrade ist „gelbreif“. Nach dieser Interpretation ist „Gelb“ eindeutig
dem Scheitern, dem Versagen zugeordnet und hat keine positive Assoziation.
Hände
Die Hände der Romanfiguren spielen im Buch eine wichtige Rolle. Grünlich hat lange,
weiße, von bläulichen Adern durchzogene Hände, Permaneder weiße, feiste Hände. Die
stärkeren Familienmitglieder der frühen Generationen haben weiße Hände (Johann,
Konsulin, Tony), kurzfingrig und zum Musizieren ungeeignet.
Besonders auffällig und ungewöhnlich sind Hannos Hände: Gerda Buddenbrook
behauptet im Gespräch mit Hannos künftigem Klavierlehrer Pfühl, die Buddenbrooks
könn[t]en alle Nonen und Dezimen greifen. Die Familienmitglieder der zweiten
Generation verfügen also bereits über die körperlichen Voraussetzungen zum
Künstlertum, setzen diese Fähigkeit aber nicht ein: Aber sie haben noch niemals Gewicht
darauf gelegt.
In Hanno Buddenbrook vereinigen sich schließlich Veranlagung und Physis in der Person
des Künstlers.
Protestantische Ethik
Besondere Bedeutung für die Interpretation des Romans hat die Frage, wie sehr Mann
hier, wie er selbst später schreibt, Gedanken ausführt, die der Soziologe Max Weber in
seiner Arbeit Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus wenige Jahre
nach Erscheinen des Romans formuliert hat.
Lübeck
Obwohl der Roman Lübeck nicht nennt, ist Thomas Manns Vaterstadt anhand detaillierter
Angaben unmissverständlich zu erkennen: Das Holstentor, Fischergrube und Mengstraße,
die für Lübeck typischen Straßenbezeichnungen Gruben und Twieten,
die Trave, Travemünde und die Straße dorthin, Schwartau mit Erwähnung des
Schwartauer Marktplatzes mit dem „Schwartauer Pfefferkuchenhaus“, die
„Wilhelmsquelle“ im Riesebusch sowie Angaben zur Stadtgeschichte.

74
THOMAS MANN
DER TOD IN VENEDIG

Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstanden ist. Sie erschien
zunächst als Vorzugsausgabe in einer Auflage von 100 nummerierten und von Thomas Mann
signierten Exemplaren, danach in der Neuen Rundschau[1] und ab 1913 als Einzeldruck
im S. Fischer Verlag.
Thomas Mann nannte seine Novelle die Tragödie einer Entwürdigung: Gustav von
Aschenbach, ein berühmter Schriftsteller von etwas über 50 Jahren und schon länger
verwitwet, hat sein Leben ganz auf Leistung gestellt. Eine sommerliche Erholungsreise führt
ihn nach Venedig. Dort beobachtet er am Strand täglich einen schönen Knaben, der mit seiner
eleganten Mutter und seinen Schwestern samt Gouvernante im selben Hotel wohnt. In ihn
verliebt sich der Alternde. Er bewahrt zwar stets eine scheue Distanz zu dem Knaben, der
späte Gefühlsrausch jedoch, dem sich der sonst so selbstgestrenge von Aschenbach nun
willenlos hingibt, macht aus ihm letztlich einen würdelosen Greis.

Inhalt
Erstes Kapitel
Anfang Mai 1911 (im Jahr der zweiten Marokkokrise) unternimmt der über 50-jährige, für
seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch
den Englischen Garten in München, der ihn bis vor den „Nördlichen Friedhof“ führt. Auf der
Freitreppe zur Aussegnungshalle fällt ihm ein seltsamer Mann in Wanderkleidung auf, der ihn
„so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein“ anblickt, dass Aschenbach sich abwendet. Im
Weitergehen wirkt das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden in Aschenbach nach.
Eine seltsame Ausweitung seines Inneren ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art
schweifender Unruhe, die er sich als Reiselust deutet. Er überlässt sich der pflichtwidrigen
Anfechtung und meint, eine Abwechslung tue ihm gut, „etwas Stegreifdasein, Tagedieberei,
Fernluft und Zufuhr neuen Blutes“: Gustav von Aschenbach beschließt zu verreisen.
Zweites Kapitel
Herkunft, Lebensweg und Charakter Aschenbachs werden beschrieben, dazu seine Werke, ihr
literarischer Stellenwert und ihre Publikumswirkung. Aschenbach ist schon lange verwitwet
und lebt allein. Sein ganzes Streben ist auf Ruhm ausgerichtet. Keineswegs von robuster
Natur, muss er sich künstlerische Leistungen täglich neu abringen. Mit dieser Selbstdisziplin
verwirklichen sich Anlagen von väterlicher Seite, überwiegend höheren Beamten im
preußischen Schlesien. Der Großvater mütterlicherseits war Musiker. Von dieser Seite kommt
sein künstlerisches Talent.
Drittes Kapitel
Aschenbach ist, zuletzt auf dem Seeweg von Triest über Pola, auf einer Insel nahe der
istrischen Adriaküste angekommen. Es regnet. Der Strand ist enttäuschend, nicht „sanft und
sandig“, er vermittelt kein „ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere“. Einer plötzlichen
Eingebung folgend, reist er per Schiff nach Venedig, das er schon als junger Mann mehrfach
besucht hat. Im Schiffsinneren fertigt ihn ein schmieriger Zahlmeister ab und lobt sein
Reiseziel in phrasenhaften Wendungen. An Deck beobachtet er einen grell geschminkten
Alten, der sich einer Schar junger Männer angeschlossen hat und bemüht ist, diese an
Jugendlichkeit zu übertreffen, indem er zu viel raucht und trinkt und durch anzügliche
Bemerkungen aufzufallen versucht. In Venedig angekommen, will Aschenbach mit
der Gondel zur Vaporetto-Station. Der einsilbige Gondoliere jedoch rudert ihn eigenmächtig
75
über die Lagune zum Lido. Dort angekommen, entfernt sich Aschenbach kurz, um Geld für
die Bezahlung der Überfahrt zu wechseln. Als er zurückkommt, ist der Gondoliere
verschwunden. Vom Helfer mit dem Bootshaken, der am Landungsplatz postiert ist, erfährt
er, dass der Mann der einzige Gondoliere sei, der keine Lizenz habe.

Władysław „Adzio“ Moes (links, Mitte) soll nach eigenen Angaben das Vorbild für „Tadzio“
gewesen sein (Venedig, 1911)
Abends entdeckt von Aschenbach in der Hotelhalle am Tisch einer polnischen Familie einen
langhaarigen Knaben „von vielleicht vierzehn Jahren“, der ihm als „vollkommen schön“
erscheint. Er deutet seine Faszination als ästhetisches Kennertum, eine Kunstauffassung
vertretend, die die Sinnlichkeit der Kunst verleugnet. Doch mit jedem Tag, den Aschenbach
den jungen Tadzio am Strand beobachtet und bewundert, verfällt der Alternde dem Anblick
des Jünglings mehr und mehr.
Das schwüle Wetter, die Mischung aus Seeluft und Scirocco bekommen von Aschenbach
nicht. Er erinnert sich, dass er in früheren Jahren schon einmal wegen gesundheitlicher
Gründe aus Venedig fliehen musste. Als ihn Schweiß- und Fieberanfälle befallen, bedauert er,
auch diesmal die Stadt verlassen zu müssen, und beschließt nach Triest zu reisen. Auf dem
Bahnhof stellt sich aber heraus, dass sein Koffer versehentlich nach Como abgeschickt wurde,
eine Komplikation, die Aschenbach zum willkommenen Vorwand nimmt, wieder in sein
Hotel am Lido zurückzukehren, um dort die Rückkehr seines Gepäcks abzuwarten. „In sich
hineinblickend“ erkennt er, dass ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden ist.
Als sein Koffer zwei Tage später eintrifft, hat er den Gedanken an eine Abreise längst
verworfen.
Viertes Kapitel
Der sonst so kühle und nüchterne Aschenbach gibt sich ganz seinen Gefühlen hin. Der
Vergleich mit Sokrates, der den jungen Phaidros über die Rolle der Schönheit belehrt, und die
antikisierende Sprache der Novelle beschreiben die mythische Verwandlung der Welt in den
Augen Aschenbachs. Das Kapitel endet mit seinem Eingeständnis, dass er den Knaben liebe.
Fünftes Kapitel
Eine Cholera-Epidemie, von Indien kommend, hat Venedig erreicht. Mehrere Versuche, sich
bei Einheimischen über die Seuche zu informieren, schlagen fehl. Auch der diabolische
Anführer einer kleinen Bande von Straßenmusikanten, die im Freien und zu später Stunde vor
den Hotelgästen auftritt, gibt Aschenbach keine Auskunft. Anderntags klärt ihn schließlich
der Angestellte eines englischen Reisebüros über die Choleragefahr auf. Trotzdem bleibt
Aschenbach in der Lagunenstadt. Der von seinem späten Gefühlsrausch „Heimgesuchte“
verwirft den Gedanken, Tadzios Angehörige vor der Cholera zu warnen, um dessen Nähe
nicht entbehren zu müssen.[2]
Aschenbach hat nun alle Selbstachtung verloren. Um zu gefallen, lässt er sich vom Coiffeur
des Hotels die Haare färben und schminken. Er ist damit auf der Stufe des geckenhaften Alten
angekommen, dessen gewollte Jugendlichkeit er mit Widerwillen auf der Herfahrt beobachten
musste. Infiziert durch überreife Erdbeeren, die er bei einem Streifzug durch die Gassen
Venedigs gekauft hatte, stirbt Aschenbach an der Cholera, während er aus seinem Liegestuhl
Tadzio ein letztes Mal am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden, als lächle
und winke der Knabe ihm von weitem zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene
Meer. „Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.“[3]

Form

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Thomas Mann selbst hat den Tod in Venedig in seinem Lebensabriss die „Tragödie einer
Entwürdigung“ genannt und dabei den Begriff Tragödie durchaus wörtlich gemeint, denn
seine Novelle weist gleich mehrere klassizistische Merkmale auf:

 die Unterteilung in fünf Kapitel analog den fünf Akten des klassischen Dramas,
einschließlich der
 horazischen Fünfgliedrigkeit in Exposition,
Komplikation, Peripetie, Retardation und Katastrophe;
 die mythologische Tiefenperspektive der Handlung;
 die mehrfachen Rekurse auf Platons Dialog Phaidros;
 die den Chor der griechischen Tragödie parodierenden Straßenmusikanten, die
zugleich an den
 Ursprung des Theaters im Kult des Dionysos erinnern, und
 den zeitweilig (Viertes Kapitel) antikisierenden Sprachrhythmus.

Künstlerproblematik
Thomas Mann beschreibt das Scheitern eines asketischen, ausschließlich auf Leistung
ausgerichteten Lebens, das ohne zwischenmenschlichen Halt auskommen muss. Einsam,
[4]
 ausgeschlossen vom Glück sorgloser Leichtlebigkeit, hart arbeitend, erreicht Gustav von
Aschenbach mit seinem schriftstellerischen Werk Ruhm und Größe. Stolz auf seine
Leistungen, ist er aber voller Misstrauen in seine Menschlichkeit und ohne Glauben, dass man
ihn lieben könne.[5] Da tritt ein Knabe in sein Leben, dessen hermaphroditische Anmut für
Aschenbach zur Inkarnation vollkommener Schönheit wird. Seine Faszination und
Leidenschaft für dieses Idealbild rechtfertigt er mit philosophischen Argumenten, indem er in
seinen Tagträumen wiederholt den platonischen Dialog
zwischen Sokrates und Phaidros heranzieht und für seine Zwecke modifiziert und ästhetisch
reflektiert: Die Schönheit sei „die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich
empfangen, sinnlich ertragen können.“ Nur sie sei „göttlich und sichtbar zugleich, und so ist
sie denn also des Sinnlichen Weg“ und daher „der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du
nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen
könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt?“ Wie sein selbstkritischer Autor
Thomas Mann sieht auch Aschenbach die Scharlatanerie alles Künstlerischen: „Siehst du nun
wohl, daß wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre
gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühls bleiben? Die Meisterhaltung unseres
Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der
Menschen zu uns lächerlich“. Und wie der Autor, so sieht auch sein Protagonist die
fragwürdigen Seiten des Künstlers, der den Tod in Venedig nicht zufällig findet, sondern
wissentlich sucht: „fortan gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der
Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und der Form. Aber Form
und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde, [6] führen den Edlen
vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft,
führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn
wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.“
Todesmotive
Ein zentrales Motiv der Novelle ist der Todesbote, der in wechselnder Gestalt auftritt:

 Erstmals in der „des Fremden“ vor der Friedhofshalle. In dem Blickduell, das er mit
Aschenbach führt, unterliegt dieser und sieht, ohne es schon zu wissen, dem Tod in die

77
Augen. Sich selbst täuschend, deutet er die so ausgelöste Unruhe und „seltsame
Ausweitung seines Inneren“ als Reiselust.

 Der gespenstisch wirkende Zahlmeister während der Schiffsreise nach Venedig


erinnert an den Totenschiffer Charon, der in der Vorstellung der griechischen Antike die
Verstorbenen in den Hades übersetzte und dafür als Fährmannslohn einen Obolus erhielt.

 Todesboten sind auch der Gondoliere, der Aschenbach über die Lagune rudert, und
der freche Sänger und Anführer eines Trupps von Straßenmusikanten. Gemeinsam mit
dem Reisenden vor der Aussegnungshalle ist allen dreien, dass sie als Fremde, rothaarig,
bartlos,[7] schmächtig, mit vorspringendem Adamsapfel, bleich und stumpfnäsig
beschrieben werden. Ihr Fremdsein wird immer mehr, besonders dann in der Gestalt des
Gitarristen und Sängers, zu einem Merkmal des Dionysischen. Der mythologischen
Forschung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt Dionysos noch als eine
ursprünglich dem Griechentum fremde Gottheit, die aus Kleinasien nach Griechenland
gekommen war.

 Das Motiv des Todesboten gipfelt in der Figur des anmutigen Tadzio. Im Schlussbild
der Novelle meint der Sterbende, Tadzio lächle ihm zu und deute vom Meeresufer aus mit
der Hand „ins Verheißungsvoll-Ungeheure“. Diese Geste macht aus Tadzio eine Hermes-
Inkarnation, denn zu den Aufgaben jener Gottheit gehörte es, die Seelen der Verstorbenen
in die Totenwelt zu führen.

Weitere Todessymbole:
Erstes Kapitel:

 Der Name des tragischen Helden. Die Wortverbindung assoziiert beim Leser
unterschwellig „Asche in einen Bach“ als eine Art Bestattung. (S. 9 Z.1)
 Der Friedhofseingang. (S. 10 Z.13)
 Die Ausstellungsstücke des Steinmetz-Betriebes, die ein „unbehaustes Gräberfeld“
imitieren.
 Abendstimmung. (S. 10 Z. 21)
 Die Schriftworte über dem Eingang der Aussegnungshalle, „Sie gehen ein in die
Wohnung Gottes“ oder „Das ewige Licht leuchte ihnen.“ (S.11 Z. 3)
 Adjektive, wie z. B. die „apokalyptischen“ Tiere (S. 11 Z. 10)
 Die Physiognomie des Reisenden vor der Aussegnungshalle, deren Beschreibung an
einen Totenschädel denken lässt.

Drittes Kapitel:

 Die venezianische Gondel, von der Schwärze eines Sarges, die ihren Passagier
„wohlig erschlaffen“ lässt.
 Das Meer mit seiner Wirkung des „Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, des Nichts“.
In Thomas Manns Metaphorik ist das Meer ein Todessymbol: „Denn Liebe zum Meer ist
nichts anderes als Liebe zum Tode“ schreibt er 1922 in seinem Essay Von Deutscher
Republik. Von Aschenbach sieht Tadzio täglich bei seinen Spielen am Strand zu, „und die
erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.“

Fünftes Kapitel:

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 Der Granatapfel-Saft, den Aschenbach nach der Vorstellung der Straßenmusikanten zu
Ende trinkt. Das Getränk spielt auf den Persephone-Mythos an: Wer vom Granatapfel des
Hades gekostet hat, kann nicht mehr zur Oberwelt zurückkehren, ganz gleich, ob er
Sterblicher oder Gottheit ist. Die Todessymbolik bekräftigt Thomas Mann mit dem
inneren Bild einer Sanduhr, das er in dieser Situation bei von Aschenbach entstehen lässt.

Mythologische Motive
Von Aschenbach gibt sich ganz der Bewunderung des Knaben hin. „Das war der Rausch; und
gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen“. Nach Art der Dialoge Platons imaginiert
„der Enthusiasmierte“ Gespräche mit dem Bewunderten. In ihnen bricht er mit
seiner apollinischen, zuchtvollen Lebenssicht. „[…], denn der Leidenschaft ist, wie dem
Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß.“ Er erkennt die
Sinnlichkeit der Kunst und monologisiert: „[…] du musst wissen, dass wir Dichter den Weg
der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer
aufwirft.“ Doch damit beschönigt von Aschenbach. Nicht Eros leitet ihn. Dionysos ist es, dem
er verfallen ist. Von ihm seines apollinisch-klaren Weltbildes beraubt, meint von Aschenbach,
dem Künstler sei „eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren.“
Einen wilden Höhepunkt findet von Aschenbachs Entartung in dem Traum des fünften
Kapitels. Er gerät unter die zügellos Feiernden eines antiken Dionysos-Kultes. „Aber mit
ihnen, in ihnen war der Träumende nun dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst,
als sie reißend und mordend sich auf die [Opfer-]Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen
verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte
zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.“
Weitere mythologische Anspielungen:

 Der Fremde vor dem Eingang der Aussegnungshalle, erhöht auf der Freitreppe
stehend, ist mehr als eine Randfigur. Er ist zugleich Allegorie. So tritt er auch auf: Es
bleibt offen, woher er gerade hergekommen ist, und ebenso spurlos ist er wieder
verschwunden. Mythologisch lässt er sich sowohl als Thanatos wie auch als Dionysos
[Motiv des Weitgereisten und Fremdseins] verstehen. Seine Haltung mit den gekreuzten
Füßen schließlich erinnert außerdem an eine typische Pose antiker Hermes-Skulpturen.
 Der Gondoliere rudert von Aschenbach nicht zur Vaporetto-Station, sondern gegen
dessen Willen über die Lagune zum Lido. Nachdem zuvor die Gondel mit einem Sarg
verglichen worden ist, entsteht beim Leser eine Charon-Assoziation. Die letzte Überfahrt
ist ebenfalls ohne Umkehr und der Fährmann bestimmt das Ziel.
 Das vierte Kapitel setzt ein mit mythologischen Bildern der griechischen Antike, in
einer hymnischen Sprache und einem Silbenrhythmus, aus dem sich der eine und
andere Hexameter herauslesen lässt. Überschreiben ließe es sich mit „mythische
Verklärung der Welt“.
 Tadzio ist „das Werkzeug einer höhnischen Gottheit“, des rauschhaften und
zügellosen Gottes Dionysos. Er ist zugleich aber auch Hermes Psychopompos, der
Aschenbach letztendlich in den Tod bzw. das Meer geleitet.

Décadence-Motive
Literaturgeschichtlich ist Der Tod in Venedig, entstanden am Vorabend des Ersten
Weltkriegs, zugleich Höhe- und Endpunkt der Décadence-Literatur des zu Ende gegangenen
19. Jahrhunderts. Der Zauberberg(1924) zählt nicht mehr dazu. Er bildet den Übergang zur

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zweiten Hälfte seines Lebenswerkes.[8] In dem Sanatoriumsroman verabschiedet sich Thomas
Mann von der „Sympathie mit dem Tode“.[9]

Venedig selbst ist mit seinem „leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf“ eines der
zentralen Dekadenzsymbole in der Literatur der damaligen Zeit. Venedig ist auch die
Stadt, wo der von Mann verehrte Richard Wagner seine musikalischen Inspirationen
für Tristan und Isolde fand – und wo Wagner starb, ein Tod in Venedig.[10]

Das Klima Venedigs bekommt Aschenbach nicht. Während des Versuches einer
Abreise (drittes Kapitel) erkennt er die Stadt „als einen ihm unmöglichen und verbotenen
Aufenthalt, dem er nicht gewachsen war.“ Aschenbachs Ohnmacht mündet schließlich im
Todeswunsch. Von dem Angestellten eines englischen Reisebüros wusste er, dass die
indische Cholera in der Stadt grassiert, dass kürzlich eine Grünwarenhändlerin an der
Seuche gestorben war, „wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden, Gemüse,
Fleisch oder Milch.“ Deutsche Tagesblätter hatten zudem über „die Heimsuchung der
Lagunenstadt“ berichtet. Trotzdem kauft er „in der kranken Stadt“ vor einem kleinen
Gemüseladen „einige Früchte, Erdbeeren, überreife und weiche Ware und aß im Gehen
davon.“[11]

Aschenbach hatte schon als Kind eine schwächliche Konstitution und war auf
ärztlichen Rat vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Hauslehrer mussten ihn
unterrichten. Seine Leistungen als Schriftsteller muss er sich mit äußerster
Willensanspannung abringen, ständig am Rande der Erschöpfung. Seinen Heroismus, sein
Ethos findet Aschenbach in der täglichen Überwindung von Schwäche. Da es sich bei
seiner Liebe zu Tadzio um eine Reaktion des bisher Verdrängten handelt, entsteht daraus
Perversion. „Paradoxerweise produziert so das Ästhetentum das Unästhetische, der
falsche Kult des Schönen das Häßliche und Entstellte. Die ‚Zucht‘ führt zur Unzucht.
Dies ist der Weg des einstmals ‚vorbildlichen‘ und sogar zur Ehre der Schulbücher
gelangten Schriftstellers Aschenbach – die Tragödie des unschöpferischen Menschen der
Décadence.“[12]

Tadzios blasser Teint mutet kränklich an. Später fallen Aschenbach Tadzios
ungesunde Zähne auf – bei Thomas Mann immer ein Zeichen für Dekadenz und Verfall.
Aschenbach glaubt nicht, dass der Knabe einmal alt werden wird und empfindet bei dieser
Feststellung ein „Gefühl der Beruhigung oder Genugtuung.“

Der alternde Künstler Aschenbach hat die kritische Schwelle erreicht, „wo die Kraft
des Verdrängens und Disziplinierens erlischt. Diese Alterskrise ist mehr als individuell.
Sie repräsentiert die Alterskrise der steril gewordenen bürgerlichen Kultur des 19.
Jahrhunderts, die aus dem Stadium der durch bürgerliche ‚Moral‘ krampfhaft verdeckten
Décadence in die offene übergeht.“[13]

Selbstkommentare Thomas Manns


Am 4. Juli 1920 schreibt Thomas Mann dem Lyriker und Essayisten Carl Maria
Weber (1890–1953): „Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung war eigentlich der
Gegenstand meiner Fabel, – was ich ursprünglich erzählen wollte, war überhaupt nichts
Homo-Erotisches, es war die – grotesk gesehene – Geschichte des Greises Goethe zu jenem
kleinen Mädchen in Marienbad, das er mit Zustimmung der streberisch-kupplerischen Mama
und gegen das Entsetzen seiner eigenen Familie partout heiraten wollte, diese Geschichte mit
allen ihren schauerlich komischen, zu ehrfürchtigem Gelächter stimmenden Situationen,
[…].“ Der Titel des Novellenplanes lautete: Goethe in Marienbad.
„Ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit wurde angestrebt […]. Daß aber die
Novelle hymnischen Ursprungs ist, kann Ihnen nicht entgangen sein.“ Thomas Mann zitiert

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weiter aus seinem Gesang vom Kindchen eine Folge von sieben Hexametern, die sich auf die
Venedignovelle beziehen. Die Sequenz schließt mit: „Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur
sittlichen Fabel.“ Er habe sich um der Modernität willen gezwungen gefühlt, „den ‚Fall‘ auch
pathologisch zu sehen und dies Motiv (Klimakterium) mit dem symbolischen (Tadzio als
Hermes Psychopompos) changieren zu lassen.“ „Etwas noch Geistigeres, weil Persönlicheres
kam hinzu: die durchaus nicht ‚griechische‘, sondern protestantisch-puritanische
(‚bürgerliche‘) Grundverfassung der erlebenden Helden nicht nur, sondern auch meiner selbst;
mit anderen Worten: unser gründlich mißtrauisches, gründlich pessimistisches Verhältnis zur
Leidenschaft selbst und überhaupt.“

Biografische Bezüge
Die Erzählung weist mehrere Parallelen zur Biographie des Autors auf:

Zahlreiche Begebenheiten der Novelle gehen auf eine Venedigreise der Familie Mann
im Jahre 1911 zurück,[14] von der Katia Mann in „Meine ungeschriebenen Memoiren“
berichtet.

Die Begegnung mit dem jungen Władysław Moes bei seinem Aufenthalt soll dann den
Anstoß zu Der Tod in Venedig gegeben haben.[15] Der polnische Baron Wladyslaw Moes
gab sich 1965 in der Zeitschrifttwen (München) mit dem Beitrag: Ich war Thomas Manns
Tadzio zu erkennen.[16] Jüngere Forschungsergebnisse jedoch bringen erhebliche Zweifel
gegen die Plausibilität dieses "Geständnisses" hervor.[17]

Die Werke des Protagonisten Gustav von Aschenbach, die im zweiten Kapitel
vorgestellt werden, sind identisch mit bereits abgeschlossenen bzw. geplanten Arbeiten
Thomas Manns, auch wenn ihre Titel für die Novelle leicht verfremdet wurden.

In seinem Essay über Adelbert von Chamisso, der 1911 während der Arbeit an Der
Tod in Venedig entstanden ist, hat sich Thomas Mann pointiert über die geheime Identität
von Autor und Fabelheld geäußert: „Es ist die alte, gute Geschichte: Werther erschoß
sich, aber Goethe blieb am Leben.“

„Dies ist eine sonderbare moralische Selbstzüchtigung durch ein Buch.“ Mit dieser
autobiografischen Bemerkung kommentiert Thomas Mann im «Lebensabriß» (1930)
seine Venedig-Novelle.

Nach Tonio Kröger, den er „eine Art Selbstporträt“ genannt hat,[18] suchte Thomas Mann die
Lebensform des Künstlers und Dichters zu beenden, der er „stets mit dem äußersten
Misstrauen gegenüberstand“ – so rückblickend in der autobiografischen Skizze Im
Spiegel (1907). Er gab sich eine „Verfassung“[19] und heiratete die Millionärstochter Katia
Pringsheim. In der Zeit der Werbung um Katia Pringsheim schrieb er seinem Bruder: „Ich
fürchte mich nicht vor dem Reichthum“. [20] Zur Hochzeit ist Heinrich Mann nicht gekommen.
Katia Mann hat er zeitlebens gesiezt.[21]
Die Ehe verordnete Thomas Mann sich als „ein strenges Glück“ – nicht ohne Skepsis: „Wer
schon vor «Königliche Hoheit» einen «Friedrich» plante,“ [22] „hat wohl nie so ganz innerlich
an ein ‚strenges Eheglück‘ geglaubt“.[23] Mit dem in den ersten Ehejahren entstandenen
Roman Königliche Hoheit (1909) erreichte Thomas Mann vorerst nicht wieder die Höhe
seiner schriftstellerischen Möglichkeiten. Der Tod in Venedig aber wurde ein Meisterwerk.
„Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein“. [24]Thomas Mann hat
„Gustav von Aschenbach“ stellvertretend für sich sterben lassen und sich fortan akzeptiert.
Die Lebenslüge vom „strengen Eheglück“ ließ er fallen.

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Für Katia Mann, die in der Venedig-Novelle die homoerotische Orientierung ihres Mannes
erkannt hatte, folgte eine längere Zeit mit Kränklichkeit und verschiedenen
Sanatoriumsaufenthalten, dessen bekanntester auf Davos fiel. In Davos fand Thomas Mann
die Inspiration zu Der Zauberberg, als er besuchsweise dort einige Wochen verbrachte.
[25]
 Nach Der Tod in Venedig, nach Aufgabe der Willensanstrengung, ein „strenges Eheglück“
zu leben, war es von nun an tiefe Dankbarkeit, die ihn mit seiner Frau Katia verband und die
sich als sehr tragfähig erweisen sollte.[26]

Inhaltsangabe (2)
Thomas Mann schrieb seine Novelle »Der Tod in Venedig« im Jahr 1911 im Alter von 36
Jahren während seiner Zeit in München. Erstmals erschien das Werk 1912 in einer
Literaturzeitschrift und wenige Monate später als separate Ausgabe. Im Mittelpunkt der fünf
Kapitel steht neben dem Schriftsteller Gustav Aschenbach der 14-jährige polnische Junge
Tadzio. Zeitlich ist die Novelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Schauplätze sind
im Wesentlichen Aschenbachs Heimatstadt München sowie Venedig.

KA PI T E L EI N S
Schriftsteller Aschenbach – gerade 50 Jahre alt geworden – sucht bei einem Spaziergang
durch die bayerische Metropole etwas Entspannung und Ablenkung vom Alltag, als ein
offensichtlich fremdländischer Wandergeselle das Fernweh und die Reiselust in ihm weckt.
Daraufhin beschließt der Schriftsteller, München für einige Tage zu verlassen, um Neues zu
entdecken und dabei Kraft und Ideen für neue Stücke zu sammeln. Außerdem hofft
Aschenbach so, dem hohen Erwartungsdruck an seine Werke vorübergehend zu entgehen.

KA PI T E L ZWEI
Hier wird der biografische Hintergrund des Schriftstellers beleuchtet. Berichtet wird von den
eher nüchternen und rationalen Wurzeln der väterlichen Seite (Militär, Jurist, Verwaltung
etc.) und vom spontanen und emotionellen Hintergrund der mütterlichen Vorfahren (Musik,
Kunst etc.). Ausgehend von diesen Voraussetzungen, war das Leben von Gustav Aschenbach
schon immer auf hohe Leistung und gesellschaftliches Ansehen ausgerichtet. Sein Wissen und
seine künstlerisch-literarischen Fähigkeiten haben ihm hohes Ansehen eingebracht und durch
den Verlust seiner jungen Ehefrau hat sich der Schriftsteller noch intensiver mit seiner Arbeit
beschäftigt. Der Preis für seine derzeitige Akzeptanz und das Ansehen sind allerdings
Erschöpfung, Müdigkeit und Gereiztheit – ebenfalls gute Gründe für einen Urlaub.

KA PI T E L DR EI
Die Reise von Gustav Aschenbach führt ihn zuerst nach Triest. Aber noch hat er die innere
Unruhe nicht abgelegt, weshalb er schon am nächsten Tag nach Pola weiterreist. Eine gute
Woche später beschließt Aschenbach, auf dem Seeweg nach Venedig zu fahren. Bereits auf
dem Schiff und auch später in einer venezianischen Gondel werden in Aschenbach erste
Überlegungen laut, nach denen er sich in einer für ihn fremden Welt befindet, in der ihm noch
viele Dinge völlig unbekannt sind. Insbesondere einige Personen, die auf der Reise seinen
Weg kreuzten, machten Aschenbach klar, das andere Länder und andere Kulturkreise auch

82
andere – ihm bisher unbekannte – Charaktere von Menschen hervorbringen. Teils überrascht,
teils fasziniert von dieser Vielfältigkeit, genießt es der Schriftsteller am ersten Abend in
Venedig, die zahlreichen verschiedenen Hotelgäste zu beobachten. Dabei fällt ihm besonders
der polnische Jüngling Tadzio auf, von dessen Schönheit Aschenbach vollkommen
überwältigt ist. Seine innere Unruhe und die schier überwältigenden neuen Eindrücke
verleiten den Münchner am nächsten Tag schon wieder zur Abreise, aber ein weiteres
Zusammentreffen mit dem »gottähnlichen« polnischen Jungen lässt diese Gedanken vorerst
wieder verfliegen.

Wenig begeistert ist Aschenbach von den Gassen Venedigs und dem dort herrschenden
Klima, weshalb er am Nachmittag ein weiteres Mal seine Abreise beschließt. Am nächsten
Tag muss Aschenbach jedoch erfahren, dass sein vorausgeschicktes Gepäck auf einen
falschen Zug verladen wurde. Die einzige Alternative ist nun, in das Hotel zurückzukehren
und sich erneut dort einzumieten. Allerdings ist der Schriftsteller nicht ärgerlich wegen des
fehlenden Gepäcks, sondern viel mehr froh, nun wieder in der Nähe des schönen Knaben
Tadzio zu sein.

KA PI T E L VI ER
Zwei Tage später erhält der Schriftsteller sein Gepäck wieder zurück, hat aber dennoch längst
kein Verlangen mehr, abzureisen. Stattdessen gestaltet er seinen Aufenthalt so, dass er Tadzio
möglichst oft beobachten und in dessen Nähe sein kann. Einige Tage später kommt es vor
dem Hotel zu einer unverhofften Begegnung zwischen Aschenbach und Tadzio. Beide sind
überrascht. Ohne es mit Worten zu sagen, offenbaren Ausdruck, Gestik und Mimik
Aschenbachs die Gefühle, die er dem Jungen heimlich entgegenbringt. Tadzio seinerseits
lächelt den älteren Mann nur an, was dieser aber völlig falsch als starke Zuneigung
interpretiert. Nun ist Aschenbach fest davon überzeugt, dass seine starken Gefühle
(inzwischen hält er es für echte Liebe) von Tadzio erwidert werden.

KA PI T E L FÜN F
Aschenbach weilt inzwischen die vierte Woche in der Lagunenstadt. Seltsame Düfte,
heimliche Gespräche und aufgestellte Transparente lassen den Dichter den Ausbruch einer
Seuche vermuten, die den Touristen jedoch verschwiegen werden soll. Zwar reisen auch
einige Hotelgäste vorzeitig ab, da es sich aber dabei hauptsächlich um deutsche und
österreichische Gäste handelt, ist Aschenbach wegen seiner heimlichen Leidenschaft eher
erleichtert. Die Chancen, dass seine Zuneigung zu Tadzio weiter sein Geheimnis bleibt, sind
so gestiegen. Diese Zuneigung hat in den letzten vier Wochen allerdings fast schon skurrile
Züge angenommen und bestimmt den kompletten Aufenthalt des Münchners. Täglich
schleicht er dem Jungen nach und folgt so oft wie möglich dem Tagesablauf Tadzios. Kurz
darauf wird Aschenbach in einem Reisebüro über das wahre Ausmaß der Seuche aufgeklärt
und ihm wird zur baldigen Abreise geraten. Er erwägt sogar, die Familie des Angebeteten
einzuweihen, verwirft den Gedanken jedoch wieder.

Irritiert und aufgewühlt von einem seltsamen Traum, befürchtet Aschenbach plötzlich, er
könne dem heimlichen Geliebten nicht gefallen. Er beschließt eine »Verjüngungskur« mithilfe

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von Pudern, Cremes, Makeup und einer völlig neuen Frisur mit gefärbten Haaren, was den
einstmals ehrwürdigen gereiften Dichter zu einer absonderlichen Erscheinung werden lässt.
Wenige Tage später überkommt Aschenbach – inzwischen völlig verblendet und unter der
Wirkung verdorbener Erdbeeren – ein weiterer Traum, der die gesamte Zerrissenheit und das
Dilemma des Schriftstellers verdeutlicht. Kurz darauf – Aschenbach stellt einmal wieder dem
polnischen Knaben nach – geht dieser ins Meer, um sich zu erfrischen. In Aschenbachs
Fantasie will er aber seinem jungen Leben ein Ende setzen. Dabei lächelt der Junge ihn an
und lockt ihn ebenfalls ins Meer. Diese Wunschvorstellung war der letzte Gedanke
Aschenbachs, kurz darauf verstirbt er.

84
FRANZ KAFKA
DIE VERWANDLUNG
Die Verwandlung ist eine im Jahr 1912 entstandene Erzählung von Franz Kafka. Mit einem
Umfang von rund 70 Druckseiten handelt es sich um die längste der von Kafka für
abgeschlossen gehaltenen und zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen; in
vergleichbarem Ausmaß wurden nur seine Romanfragmente rezipiert. Die Geschichte handelt
von Gregor Samsa, dessen plötzliche Verwandlung in ein Ungeziefer die Kommunikation
seines sozialen Umfelds mit ihm immer mehr hemmt, bis er von seiner Familie für untragbar
gehalten wird und schließlich zugrunde geht. Der Text wurde zunächst 1915 im Oktoberheft
der Zeitschrift Die Weißen Blätter unter der Redaktion vonRené Schickele veröffentlicht.
Die Erstausgabe in Buchform erschien im Dezember 1915 in der Reihe Der jüngste Tag,
herausgegeben von Kurt Wolff.[1]

Inhalt
Erster Abschnitt
Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass er „zu einem ungeheueren
Ungeziefer verwandelt“ wurde. Er hält diese Verwandlung anfangs nur für vorübergehend
und stellt sich erst langsam den verschiedenen Konsequenzen seiner
unfreiwilligen Metamorphose. Zunächst unfähig aufzustehen und das Bett zu verlassen,
reflektiert Gregor über seinen Beruf als Handelsreisender und Tuchhändler: Die auszehrende
Tätigkeit, von einem „nie herzlich werdenden menschlichen Verkehr“ gekennzeichnet, nimmt
ihn völlig in Anspruch. Wäre er nicht alleiniger Familienernährer, der die Schulden seines
bankrottgegangenen Vaters abarbeiten muss, würde er augenblicklich kündigen und dem
despotischen Arbeitgeber „vom Grunde seines Herzens aus“ die Meinung sagen. So aber ist er
in anscheinend unüberwindbare ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt.
Weil Gregor Samsa auch an diesem Morgen an seiner Arbeitsstelle erwartet wird, jedoch
wegen seiner Ungeziefergestalt das Zimmer der elterlichen Wohnung nicht verlassen kann,
erscheint im Laufe des Vormittags der Prokurist, ein Vorgesetzter Gregors, bei den Samsas,
um sich empört nach dem unentschuldigten Fernbleiben seines Angestellten zu erkundigen
und auf dessen sofortigem Erscheinen zu insistieren. Als er den Verwandelten erblickt, der
sich unter großen Mühen bis an die Tür geschleppt hat, ergreift er die Flucht. Gregor versucht,
sowohl mit seiner Familie als auch mit dem Prokuristen Kontakt aufzunehmen; jedoch
bleiben unverständliche Tierlaute das einzige, was sie vernehmen können. Gregors Familie
reagiert entsetzt und der Vater treibt das Tier unter Drohungen und Gewaltanwendung zurück
in sein Zimmer.
Zweiter Abschnitt
Mit der unerwartet eingetretenen Arbeitsunfähigkeit Gregors ist der Familie Samsa über
Nacht die finanzielle Lebensgrundlage entzogen. Erst später stellt sich heraus, dass sie noch
über nicht unbeträchtliche Ersparnisse verfügt, von denen Gregor nichts gewusst hat.
Gezwungenermaßen drehen sich nun die Verhältnisse innerhalb der Familie um. Gregors
Schwester Grete hatte bis zu dessen Verwandlung ein gutes Verhältnis zu ihm, er war sogar
im Begriff, ihr das Studium an einem Konservatorium zu finanzieren, da ihn ihr Violinspiel
rührte. Jetzt wird sie diejenige, die ihn versorgen und ihm das Essen bringen muss. Sie tut dies
aber nicht aus geschwisterlicher Zuneigung, sondern nutzt ihre neue Position, um sich die
Anerkennung ihrer Eltern zu sichern und sich unentbehrlich zu machen.

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Die verbliebenen menschlichen Züge Gregors werden allmählich immer mehr durch tierische
Verhaltensweisen ersetzt. Er beginnt, seine neue Identität zu akzeptieren und über Fußboden,
Wände und Zimmerdecke zu kriechen. Als seine Mutter und seine Schwester sein Zimmer
ausräumen – angeblich um ihm als „Käfer“ mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen –
versucht Gregor verzweifelt, ein Bildnis an der Wand (die „Dame im Pelz“) zu retten, das er
besonders liebt. Als er sich daher an das Bild klammert, um es zu schützen, wertet seine
Mutter diese Aktion als Angriff gegen sie und verliert vor Schreck das Bewusstsein. Die
Schwester eilt der Mutter mit Medizinflaschen zu Hilfe, die sie aus der Küche holt. Gregor
folgt ihr und wird durch eine herunterfallende Flasche im Gesicht verletzt. Als später der von
seiner Arbeit heimkehrende Vater wütend mit Äpfeln nach Gregor wirft, bleibt einer davon in
dessen Rücken stecken und verwundet ihn schwer.
Dritter Abschnitt
In den folgenden Wochen leidet Gregor unter seinen Verletzungen am Rücken und im Gesicht
und nimmt kaum noch Nahrung zu sich. Er wird von der Familie immer mehr vernachlässigt,
und sein Zimmer wird zur Abstellkammer. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, haben sich
die übrigen Familienmitglieder eine Anstellung gesucht und nehmen drei Untermieter in ihrer
Wohnung auf. Gregor aber wird immer mehr von ihrem Leben isoliert. Nur wenn die Familie
einmal unter sich ist, weil die Untermieter hin und wieder auswärts essen, wird die
Wohnzimmertür abends für ihn offen gelassen, damit er sich nicht ganz ausgeschlossen fühlt.
Eines Tages bleibt seine Zimmertür trotz der Anwesenheit der Untermieter offen. Diesen
Umstand ausnutzend und von Gretes hingebungsvollem Violinspiel im Wohnzimmer
angelockt, kriecht Gregor aus dem Zimmer und wird von den ahnungslosen Anwesenden
entdeckt. Aufgebracht beschweren sich die drei Untermieter über den unhygienischen Zustand
der Wohnung und kündigen ihr Mietverhältnis stehenden Fußes. Die Familie hat nun
endgültig genug vom Zusammenleben mit dem riesigen Insekt. Die sich bisher vermeintlich
fürsorglich um Gregor kümmernde Schwester, die tatsächlich bisher jedoch allenfalls
Obligatorisches (wie die Reinigung des Zimmers oder die Fütterung) übernahm, äußert als
erste den ausdrücklichen Wunsch, das Ungeziefer loszuwerden. Sie kann darin nicht länger
ihren Bruder erkennen und bezeichnet ihn als „es“. Gregor muss erkennen, dass er nicht
länger erwünscht ist, und stirbt, völlig ausgemergelt, noch vor dem nächsten Sonnenaufgang.
Sein Kadaver wird am folgenden Morgen von der Haushaltsdienerin gefunden und achtlos
von ihr beseitigt.
Die Erzählung endet mit einem gemeinsamen Familienausflug mit der Straßenbahn ins
sonnige Freie vor die Stadt. In entspannter Aufbruchsstimmung spricht man von einem
Neuanfang und baldigen Wohnungswechsel, und die Eltern erkennen in ihrer reif gewordenen
Tochter eine aufblühende, junge Frau, auf der nun alle ihre zukünftigen Hoffnungen ruhen,
und denken daran, „dass es nun Zeit werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen.“

Personen
Gregor Samsa
Gregor Samsa, die Hauptperson der Verwandlung, ist ein Tuchhändler und
Geschäftsreisender. Obwohl ihm sein Beruf verhasst ist, arbeitet er seit fünf Jahren, nämlich
seit der Pleite seines Vaters, ohne Krankheit. So hofft er die Schulden der Familie abbezahlen
zu können und Anerkennung innerhalb der Familie zu erlangen. Anfangs gelingt ihm dies
auch, nach einiger Zeit stellte sich jedoch eine Gewohnheit ein und das Geld wird einfach
hingenommen. Seine Schwester bleibt ihm jedoch im Vergleich zu seinen anderen
Familienmitgliedern recht nahe und er möchte ihr ein Konservatorium bezahlen. Seine wenige
Freizeit nutzt er für das Studieren von Fahrplänen, Laubsägearbeiten und das Lesen der

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Zeitung. Er beschreibt seine Mutter als fürsorglich und sanft, allerdings kann diese sich kaum
in ihren Sohn einfühlen. Sie denkt Gregor liebe seinen Beruf und lerne deshalb keine
Partnerin kennen bzw. schränke deshalb seine Freizeit ein. Dabei verkennt sie jedoch seine
wahren Motive. Als Gregor Samsa eines Morgens als Ungeziefer erwacht (wobei es sich
innerhalb der Handlung um eine Tatsache handelt)[2] verkehrt sich seine Rolle: Er wird vom
Versorger zum Hilfsbedürftigen. Seine Andersartigkeit war jedoch vorher schon vorhanden,
durch die Verwandlung wird sie nur offensichtlich. Während er zu Beginn noch mit seinen
Mitmenschen kommunizieren kann und sich auch sonst, ausgenommen von seinem Körper,
nur wenig verändert hat, schreitet die Verwandlung im Verlauf der Handlung voran. Der
körperlichen Metamorphose folgt die psychische. Er beginnt seinen Körper zu beherrschen
und empfindet Freude beim Klettern an den Wänden und an der Decke. Daneben ist der Blick
aus dem Fenster ein wichtiger Zeitvertreib, da er in seiner Verfassung jedoch nicht mehr viel
erkennen kann, erinnert ihn die Aussicht hauptsächlich an früher. In einer naiv-optimistischen
Manier hofft Gregor lange Zeit auf eine Besserung, bis er diese Hoffnung schließlich aufgibt.
Das unmenschliche Verhalten seiner Familie ihm gegenüber beschönigt Gregor zumeist. Zum
Ende der Erzählung verwahrlost Gregor zusehends, er gibt die Körperpflege auf und nimmt
keine Nahrung mehr zu sich. Nach einem Angriff des Vaters steckt ein verfaulter Apfel in
seinem Rücken, der sich darauf entzündet und ihn in seiner Bewegungsfreiheit stark
einschränkt. Als sein Zimmer jedoch zum Abstellraum verkommt und auch seine sonstige
Pflege weiter nachlässt, regt sich Widerstand in Gregor. Gregors Sexualleben ist auf Fantasien
beschränkt, etwa auf die „Dame im Pelz“. Außerdem verspürt er in einer Szene eine
inzestuöse Anziehung zu seiner Schwester. Am Ende stirbt Gregor Samsa abgemagert und
verwahrlost.
Vater
Der Vater Gregor Samsas befindet sich nach einem wirtschaftlichen Misserfolg in Frührente,
während Gregor dessen Schulden begleicht. Trotz seines vermutlich relativ jungen Alters
bemüht er sich nicht darum, Arbeit zu finden. Direkt nach Gregors Verwandlung, jedoch
bevor er davon erfährt, zeigt sich der Vater pragmatisch, um diesen aus seinem Zimmer zu
„befreien“. Der Vater präsentiert sich Gregor bereits kurz nach der Verwandlung mit
feindselig geballter Faust und tritt auch im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder
aggressiv und unterdrückerisch gegenüber Gregor auf. Dies ist auch der Grund für die häufige
psychoanalytische und biographische Interpretation der Verwandlung. Ähnlich wie in anderen
Werken Kafkas, beispielsweise Das Urteil, ist auch hier ein zentraler Vater-Sohn-Konflikt
auszumachen, in dem der Vater dominant-aggressiv auftritt. [3] So bombardiert der Vater
Gregor beispielsweise mit Äpfeln und verwundet ihn schwer. Zwischenzeitlich besinnt er sich
darauf, dass es sich bei Gregor um seinen Sohn handelt, und akzeptiert, einer
„Familienpflicht“[4] folgend, die Anwesenheit des Ungeziefers. Nach der Aussage seiner
Tochter, Gregor müsse beseitigt werden, stimmt er dieser jedoch zu und bekräftigt sie in ihrer
Meinung. Nach Gregors Verwandlung nimmt er eine Arbeit bei einer Bank an, erhält eine
Uniform und trägt wieder zur Versorgung der Familie bei.
Mutter
Die Mutter steht Gregor recht nahe und wird von ihm als fürsorglich und sanft beschrieben.
Ihre Kenntnisse von Gregors Gefühlsleben und seiner Einstellung zu seiner Arbeit sind jedoch
stark begrenzt: Sie vermutet, dass Gregor seine Arbeit sehr gemocht und er seine Freizeit
deshalb stark beschränkt habe. Nach der Verwandlung ist sie besorgt und schwer erschüttert,
traut sich jedoch nicht, Gregor anzusehen oder sich um ihn zu kümmern. Später, als sie sich
etwas gefasst hat, möchte sie für Gregor sorgen, wird jedoch zunächst vom Vater und später
vehement von der Schwester davon abgehalten. In der Familie nimmt sie insgesamt eine sehr

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untergeordnete abhängige Rolle ein. Die Mutter leidet unter Asthma, beginnt jedoch für ein
Modegeschäft zu nähen und die Wäsche anderer Leute zu machen.
Schwester – Grete Samsa
Die jüngere Schwester Gregors Grete Samsa nahm bis zu Gregors Verwandlung keine
bedeutende Rolle in der Familie ein, sie hatte jedoch ein gutes Verhältnis zu Gregor. Nach
Gregors Verwandlung sieht sie die Möglichkeit, sich in der Familie unentbehrlich zu machen
und weiß diese geschickt zu nutzen. So beginnt sie die anfallenden Aufgaben rund um Gregor
zu übernehmen und ihre Mutter von deren Erledigung abzuhalten. Insgesamt gibt es folgende
Erklärungsansätze für ihr Verhalten:

1. Sie hofft auf eine Genesung Gregors, sodass er die Familie wieder versorgen kann.
2. Sie positioniert sich in der Familie.
3. Teilweise könnte echte Nähe eine Rolle spielen, die dann aber abnimmt.

Sie formuliert als Erste, dass Gregor nicht mehr ihr Bruder sei und eine zu große Belastung
für die Familie sei. Deshalb müsse er als ein Problem gesehen und beseitigt werden. Häufig
wird eine biographische Parallele zu Franz Kafkas Schwester Ottla Kafka gedeutet, die ihm
als Verbündete gegen den Vater gegolten habe, bis sie sich gegen Kafka wandte.

Interpretationen
Wie die meisten Werke Kafkas, so weckt auch diese Erzählung die Neigung vieler Interpreten
nach religiöser (Max Brod) oder psychologischer Auslegung. Besonders beliebt ist es, Die
Verwandlung als Ausdruck von Kafkas Vater-Komplex zu deuten, so erstmals durch Charles
Neider in The Frozen Sea (1948). Neben der psychologischen Deutung erfreuen sich
auch soziologische Interpretationen einer großen Anhängerschaft, die in der Familie Samsa
ein Abbild allgemeiner gesellschaftlicher Verhältnisse sehen.[5]
Vladimir Nabokov wies derartige Interpretationen zurück mit dem Argument, sie würden der
Kunst Kafkas nicht gerecht. Im Gegensatz dazu unternimmt er eine Interpretation, die sich am
künstlerischen Detail orientiert, dabei jedoch sämtliche symbolische und allegorische
Bedeutungsebenen kategorisch ausschließt. Gegen die populäre Vaterkomplextheorie führt er
seine Beobachtung an, dass nicht so sehr der Vater, sondern vielmehr die Schwester als
grausamste Figur der Erzählung zu gelten habe. Sie sei diejenige, die Gregor verrate. Als
Thema der Erzählung bestimmt er den Existenzkampf des Künstlers in einer Gesellschaft
von Spießern, die ihn schrittweise vernichtet. Zum Stil Kafkas schreibt Nabokov
abschließend: „Die Durchsichtigkeit seines Stils betont den dunklen Reichtum seiner
Phantasiewelt. Gegensatz und Einheitlichkeit, Stil und Dargestelltes, Darstellung und Fabel
sind in vollkommener Weise ineinander verwoben.“[6]
Gerhard Rieck (1999) wies darauf hin, dass Gregor und seine Schwester Grete ein für viele
Texte Kafkas typisches Paar bilden, welches aus einer passiven, eher asketischen und einer
aktiven, eher triebhaften Figur besteht. Solche eigentlich miteinander schwer vereinbare oder
gar unversöhnliche, aber dennoch paarbildende Figuren prägen das Werk von Beschreibung
eines Kampfes an (z. B. Ich und Bekannter, Beter und Dicker) und erscheinen auch in Das
Urteil (Georg und sein Petersburger Freund), in allen drei Romanen (z. B. im Verschollenen:
Robinson und Delamarche) sowie u. a. in den Erzählungen Ein Landarzt(Landarzt und
Pferdeknecht) und Ein Hungerkünstler (Hungerkünstler und Panther). Rieck deutet diese
Paare als Anteile einer einzigen Person (daher auch die Fast-Identität der Namen Gregor und
Grete), in letzter Konsequenz als die zwei bestimmenden Anteile der Autorpersönlichkeit, und

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er sieht sowohl im Leben Kafkas als auch in seinem Werk die Beschreibung des Kampfes
zwischen diesen Anteilen.[7]
Reiner Stach argumentierte 2004, Die Verwandlung bedürfe keiner stützenden Kommentare,
sie wirke und überzeuge ganz aus sich selbst, scheine in sich geschlossen, ja vollkommen. In
den Kanon derWeltliteratur wäre sie zweifellos auch dann aufgenommen worden, wenn wir
über den Autor überhaupt nichts wüssten.[8]
Laut Peter-André Alt (2005) wird die Gestalt des Ungeziefers zum drastischen Ausdruck der
von Deprivation geprägten Existenz Gregor Samsas. Reduziert auf die Erfüllung seiner
beruflichen Pflichten, ängstlich um sein Fortkommen bemüht, gepeinigt von der Angst vor
geschäftlichen Fehlern, sei er die Kreatur eines funktionalistischen Erwerbslebens.[9]
Ralf Sudau vertrat 2007 die Auffassung, dass die Motive der Selbstverleugnung und
Realitätsverdrängung besondere Beachtung verdienen. Früher habe Gregor Selbstverzicht
geübt und sei stolz gewesen, der Familie ein gesichertes, ja müßiggängerisches Dasein zu
ermöglichen. Als er nach seiner Verwandlung in die Lage geraten sei, nun selbst
Aufmerksamkeit und Fürsorge in Anspruch nehmen und zum Schmarotzer werden zu müssen,
wolle er diese neue Rolle vor sich selbst nicht zugeben und sich nicht von der Behandlung
durch seine Familie enttäuschen lassen, die nach und nach achtlos und sogar feindselig werde.
Selbstverleugnend verberge Gregor seine ekelerregende Gestalt unter dem Kanapee, und
selbstverneinend hungere er sich aus dieser Welt, dem mehr oder weniger unverhohlenen
Wunsch der Familie gehorchend. Denn seine allmähliche Auszehrung und Selbstreduktion
habe durchaus den Charakter eines (von Seiten Gregors unbewussten und erfolglosen, von
Seiten der Familie unverstandenen oder ignorierten) tödlichen Hungerstreiks. Sudau (S. 163
ff.) gibt außerdem eine Auswahl von Interpretatoren der Verwandlung (u.a. Beicken, Sokel,
Sautermeister und Schwarz). Danach erscheint die Erzählung als Bild für eine
krankheitsbedingte Aussätzigkeit, für eine Flucht in die Krankheit oder den Ausbruch eines
neurotischen Symptoms, als Abbild einer vom Beruf entstellten Existenz oder als entlarvende
Inszenierung, welche die fassadenhafte Oberflächlichkeit alltäglicher Lebensverhältnisse
aufbricht und ihren inhumanen Kern bloßstellt. Er führt weiter aus, dass Kafkas
Darstellungsstil einerseits von einem eigentümlichen Ineinander von Realismus und
Phantastik, von Weltsinn, Vernunft und Beobachtungsschärfe geprägt sei, andererseits von
Aberwitz, Absonderlichkeit, Abwegigkeit. Er weist auch auf die grotesken und
tragikomischen, stummfilmartigen Elemente hin.[10]
Die Erzählung werde auch in der Forschung häufig als unschlüssig angesehen, und das zu
Unrecht, legte Fernando Bermejo-Rubio (2012) dar und leitet seinen Interpretationsansatz
daraus her, dass in Die Verwandlung die Beschreibungen von Gregor und seinem familiären
Umfeld einander widersprechen. Diametral entgegengesetzte Versionen gibt es von Gregors
Rücken, von seiner Stimme, davon, ob er krank ist oder in Verwandlung begriffen, ob er
träumt oder nicht, welche Behandlung er verdient, von seinem moralischen Standpunkt
(falsche Vorwürfe durch Grete) und davon, ob die Familie unbescholten ist oder nicht.
Bermejo-Rubio hebt hervor, dass Kafka 1915 verfügt hat, es solle keine Abbildung von
Gregor geben. Er argumentiert, dass für Kafkas Projekt gerade die Abwesenheit eines
visuellen Eindrucks wesentlich sei, denn wer Gregor abbilde, mache sich damit zum
allwissenden Erzähler. Kafka habe es auch deshalb nicht gewollt, weil der Leser durch eine
Abbildung voreingenommen werde, bevor der eigene Leseprozess in Gang gekommen sei.
Dass die Beschreibungen nicht miteinander vereinbar sind, weise darauf hin, dass der
Aussage im Eröffnungssatz nicht getraut werden könne. Schlüssig werde die Erzählung, wenn
man diesem ersten Satz nicht auf den Leim gehe, sondern Gregor weiterhin als einen
Menschen sehe, und zwar als ein Opfer in einem Prozess starker Herabsetzung.[11]

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Für Volker Drüke (2013) ist die „entscheidende Verwandlung in dieser Erzählung […] die der
Grete“. Sie sei die Figur, welcher der Titel gelte. Gregors Verwandlung folgten „ein
Dahinsiechen und schließlich der Tod“ – Grete hingegen sei durch die neuen familiären
Umstände gereift und habe Verantwortung übernommen. Am Ende – nach dem Tod des
Bruders – bemerken auch die Eltern, dass ihre „immer lebhafter“ werdende Tochter „zu
einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war“, für das die Eltern nun auch einen
Partner suchen wollen. Gretes Übergang, ihre Verwandlung vom Mädchen zur Frau ist aus
dieser Sicht das subtextuelle Thema dieser Erzählung.[12]

Struktur der Erzählung


Es lässt sich folgende Dreiteilung erkennen:

1. Moment der Verwandlung: Es ist das Ende von Gregors menschlicher und beruflicher
Existenz (Auseinandersetzung mit Gregors Lebensweise; Verhältnis zu seinem Beruf
als Handlungsreisender/Vertreter; Verbindung zwischen Eltern und Beruf; Reaktion
der Familie auf die Verwandlung).
2. Zusammenleben mit dem „Ungeziefer“: Phase, in der das „Ungeziefer“ in der Familie
eingeschlossen ist (Beziehung zu den einzelnen Familienangehörigen, insbesondere
zur Schwester).
3. Allmähliches Sterben und Tod Gregors: Interesse der Familie an Gregor schwindet
(Unabhängigkeit der Familie); körperlicher Niedergang und Tod.

Die Zahl „drei“ tritt neben der Dreiteilung noch mehrfach auf: So gibt es drei Zimmerherren,
drei Zimmertüren, drei Diener, und bevor Gregor stirbt, schlägt die Turmuhr die dritte
Morgenstunde. Nach seinem Tod gibt es drei Familienmitglieder und diese schreiben drei
Briefe.
Stil und Form
Das Ungeheuerliche wird detailliert und sachlich, fast im Stile eines nüchternen
Tatsachenberichts beschrieben. Die emotionslose Erzählweise und der Inhalt des Erzählten
bilden einen scharfen Kontrast, der dem Unmöglichen die Qualität des Selbstverständlichen
und Alltäglichen verleiht. Gerade diese Kombination von bizarrem Geschehen und scheinbar
trockenem Realismus der sprachlichen Darstellung machen die besondere Wirkung der
Erzählung aus.
Die Novelle wird von der Perspektive des Protagonisten bestimmt, das heißt die fiktionale
Wirklichkeit wird durch Gregor reflektiert dargestellt. Die Person des Erzählers selbst tritt erst
nach dem Tode Gregors zu Tage.
In jedem der drei Kapitel bricht Gregor einmal aus seinem Zimmer aus. Jedes Kapitel endet
mit einer neuen Verwundung bzw. seelischen Kränkung bis hin zu seinem Tod. Diese
Struktur unterstreicht den Prozess seiner allmählichen Isolierung. Dabei geht Gregors
Niedergang mit dem Aufstieg der restlichen Familie einher. Beides verläuft parallel und
bedingt sich gegenseitig. Sukzessiv wird dargestellt, wie eine fragwürdige, fragile Existenz
untergeht, während eine vitale Physis überlebt, ähnlich wie in Das Urteil und in Ein
Hungerkünstler.[14]
Das Motiv der Verwandlung
Die Unbedingtheit des Käfermotivs in seiner phantastischen Irrealität wird von allen als
Gefährdung der Alltagswirklichkeit empfunden. Die Transformation in ein Ungeziefer

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geschieht übergangslos als „absoluter Anfang“: Die Sphäre der Alltagsrealität wird
unmittelbar mit jener des Surrealen konfrontiert. Trotz seiner Verwandlung bleibt Gregor ein
intaktes Identitätsgefühl, auch wenn sich seine äußere Lebensweise ins Tierische verändert.
Die übliche radikale Trennung zwischen Mensch und Tier ist damit teilweise aufgehoben.
Nicht nur Gregors Verwandlung an sich ist ungewöhnlich, auch seine Reaktion darauf und die
seiner Umgebung sind es. Daraus resultiert, dass das Käfermotiv zum alles bestimmenden
Element der Erzählung und die gesamte Welt der Verwandlung eine Ungezieferwelt wird.
Durch die Selbstdefinition über die Fremdwahrnehmung der „Anderen“, der Familie, wird
Gregors Selbst zum absolut Fremden. Tatsächlich besteht die so genannte Verwandlung nur in
einer radikalen Verschärfung der vorher bestehenden Umstände, deren Umkehrung nur
scheinbar ist. Gregor und allen anderen fehlt die Einsicht in das, was ihm widerfahren ist:
nichts Neues. Das heißt, die Verwandlung macht nur sichtbar, was ohnehin vorhanden war.
Ekel und Abscheu sind die Verschärfung der Demütigung und Erniedrigung, die Gregor
immer schon erleiden musste, bisher aber unausgesprochen blieb: Die Eltern ignorieren
Gregors inneren Konflikt und seine Entmenschlichung durch die Arbeit im Dienst der
Familie, und Gregor selbst hält seine Bereitschaft zur Selbstverleugnung für eine moralische
Notwendigkeit. Betrug und Selbstbetrug gehen sogar noch weiter, da die Eltern tatsächlich
gar nicht mehr auf Gregors Unterstützung angewiesen sind, weil sie inzwischen über
genügend Ersparnisse verfügen – die sie ihrem Sohn bis dahin allerdings verheimlicht haben.
Erst in Gregors entstellender Metamorphose zum Ungeziefer wird er als Opfer sichtbar. Und
auch seine angestrebte Befreiung, die eine Revolte gegen Chef und Vater zugleich hätte sein
müssen, gelingt erst, als sie gar keine mehr ist: im Moment der Verwandlung.
Symbole

 Fenster in Gregors Zimmer: Verbindung zur Außenwelt


 Bild der Dame mit Pelz: erotisches Erlebnis für Gregor als Reisender (nur wenig
Kontakt zu Frauen), möglicherweise auch Anspielung auf Sacher-Masochs Novelle Venus
im Pelz
 Zimmer in der Wohnung der Familie Samsa: am Anfang ist jeder Person eine Tür
zugeordnet (drei Türen – drei Personen)
 Gregors Zimmer: Kreuzung für die Familie, da alle Zimmer der Personen in sein
Zimmer führen
 Gregors Zimmertür: Barriere zwischen Gregor und seiner Familie; Schutz vor dem
angreifenden Vater
 Gregors Zimmer ist der Mittelpunkt: Jedes Zimmer hat eine Tür zu seinem Zimmer; er
ist der Versorger der Familie
 Gregors Zimmer als Festung und Gefängnis: Im ersten Abschnitt sind die Familie und
der Prokurist aus dem Zimmer ausgesperrt, ab dem zweiten Abschnitt ist Gregor immer
wieder in seinem Zimmer eingesperrt.
 Waffen des Vaters (Stock, Zeitung, Äpfel): Gewalt gegen Gregor
 Nahrung: Der Käfer Gregor mag keine menschliche Nahrung zu sich nehmen und
lehnt mehr und mehr auch seine Tiernahrung ab, was zu völliger Abmagerung und
schließlich zum Tode führt.
 gestörte Kommunikation: Gregor wird aufgrund seiner Käferstimme von der Familie
nicht verstanden, kann aber deren Worte verstehen.
 Straußenfeder am Hut der Bedienerin: (ägyptisches) Symbol für
Gerechtigkeit/Wahrheit; die ungeschönte Beschreibung/Bezeichnung Gregors durch die
Bedienerin (zum Ärger des Vaters, der erst versucht, diese Sicht zu gewinnen)
 Sonne am Ende der Erzählung: Neubeginn der Familie

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 vokale Assoziation (Konsonanz) SAMSA – KAFKA (obwohl Kafka selbst behauptete,
dass hier keine gewollte Konsonanz vorliege)
 Kanapee: der Käfer Gregor versteckt sich immer wieder unter dem Kanapee und nutzt
dieses als eine Art Rückzugsort vor seiner Familie. Es symbolisiert Gregors völlige und
endgültige Isolation von seinem Vater (der Familie) und der Gesellschaft.

Die Wohnung als Ort der Handlung


Die Wohnung der Samsas ähnelt auffällig der Wohnung der Familie Kafka in der damaligen
Prager Niklasstrasse 36 (im Zweiten Weltkrieg zerstört).[15] Hartmut Binder hat hierzu eine
Abbildung mit dem aufbereiteten Grundriss der Kafka’schen Wohnung erstellt, woraus sich
ergibt, dass zwar die Nutzung der einzelnen Zimmer variiert, deren Anordnung aber genau
übernommen wurde.

92
HERMAN HESSE

DER STEPPENWOLF

Der Steppenwolf ist ein 1927 erschienener Roman[1] von Hermann Hesse.


Der Steppenwolf ist die Geschichte eines tiefen seelischen Leidens der Hauptfigur Harry
Haller, eines Alter Egos Hermann Hesses. Haller leidet an der Zerrissenheit seiner
Persönlichkeit: Seine menschliche, bürgerlich-angepasste Seite und seine steppenwölfische,
einsame, sozial- und kulturkritische Seite bekämpfen sich und blockieren Hallers
künstlerische Entwicklung. Der Weg der Heilung ist die Versöhnung beider Seiten im Humor,
im Lachen über sich selbst und das Ungenügen in Kultur und Gesellschaft. Erst mit der
Betrachtung der Wirklichkeit vom Standpunkt des Humors werden Hallers weitere, im
Roman nicht mehr beschriebene Schritte auf dem Weg seiner künstlerischen Vollendung
möglich.
Ähnlichkeiten der Figur Hallers etwa zum Faust von Johann Wolfgang von Goethe sowie zu
Hermann Hesse selbst sind offensichtlich und werden im Text mehrfach angedeutet.

Rezeption
Der Steppenwolf, eine Kritik der Gesellschaft und eine Persönlichkeitsanalyse gleichermaßen,
hatte einen wesentlichen Anteil am Welterfolg Hesses und an der Verleihung desNobelpreises
für Literatur an ihn. Der Steppenwolf ist dasjenige Buch Hermann Hesses, das die
internationale Renaissance seines Autors in den 1960er Jahren ausgelöst hat.
Schon 1927 schrieb Kurt Pinthus: „Ich lese den Steppenwolf, dies unbarmherzigst und
seelenzerwühlendste aller Bekenntnisbücher, düsterer und wilder als Rousseaus Confessions,
die grausamste Geburtsfeier, die je ein Dichter selbst zelebrierte.“ „Es handelt sich um einen
Anarchisten, der voll rasender Wut auf dieses falsch dastehende Dasein Warenhäuser und
Kathedralen zerschlagen und der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick drehen
möchte. Es handelt sich um einen Revolutionär des Ichs... Der Steppenwolf ist eine Dichtung
des gegenbürgerlichen Mutes.“
Nach der Herausgabe wurde das anti-bürgerliche Werk jedoch sehr widersprüchlich beurteilt:
Einerseits erfuhr es scharfe Ablehnung, andererseits begeisterte Zustimmung – diese vor
allem in literarischen Kreisen und später in der Hippie-Bewegung. In den bewegten sechziger
Jahren wurde das Werk zum Kultbuch einer Generation, das junge Leser begeisterte, die in
Harry Haller einen Seelenverwandten erkannten. Die Wirkung hat bis heute angehalten, wo
Hesse nun aufgrund seiner ethisch-spirituellen Sichtweisen enorm populär ist.
Das umstrittene psycho-analytische Werk stieß bei einem breiten Publikum auf keine allzu
positive Resonanz. In der NS-Zeit war der Roman zwar nicht verboten, aber er erlebte auch
keine neuen Auflagen. Und nach Kriegsende geriet der Steppenwolf, trotz des Nobelpreises
seines Schöpfers (1947), in Vergessenheit.
In Amerika verbannten selbsternannte „Sittenwächter“ den Steppenwolf in den sechziger
Jahren aus Bibliotheken. In Colorado wurde dem Roman vorgeworfen, er propagiere
Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen.[2] Durch diese Kontroversen hat gerade dieses
Buch die neue umfangreiche Hesse-Rezeption der 1960er und 1970er Jahre in Amerika und
Deutschland ausgelöst.

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Mit seinem Inhalt über das spirituelle Suchen seiner Selbst und des existenziellen
Bedürfnisses nach Leben ist dieses Buch ein zeitloses Werk, das auch heute noch aktuell ist.
Der Steppenwolf wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen.

Entstehungssituation
Der Steppenwolf ist eine Kritik der Gesellschaft und eine Persönlichkeitsanalyse
gleichermaßen. Als Hesse den Steppenwolf schrieb, litt er unter den Auswirkungen der
technisch-rationalisierten Welt und der Zivilisation, durch die er Geist und Seele der
Menschen gefährdet sah. Das Gefühl der Bedrohung durch nahe Katastrophen und neue
Kriege ließ ihn nicht los.
Hesse befand sich in einer tiefen persönlichen Krise, als der fast 50-jährige in sein Tagebuch
schrieb: „Ich schmeiße alles hin, mein Leben, […] ich alternder Mann. Auf eure Welt anders
zu reagieren als durch Krepieren oder durch den Steppenwolf wäre für mich Verrat an allem,
was heilig ist.“ Wie der Autor selbst, so überlegt Harry Haller, die Hauptperson des Romans,
sich umzubringen. Im Tractat vom Steppenwolf legt der Steppenwolf seinen 50. Geburtstag
als den möglichen Tag fest, sich umzubringen. „Ich nahm mir vor, daß ich an meinem 50.
Geburtstag, also in zwei Jahren, das Recht haben werde, mich aufzuhängen.“ Die Initialen H.
H. des Protagonisten sind sicherlich absichtlich gewählt und identisch mit denen des Autors
selbst.
Der Steppenwolf ist der literarische Ausdruck einer tiefen seelischen Krise Hesses. Um seine
Lebenskonflikte zu bewältigen, hatte Hermann Hesse parallel zur Niederschrift des
Steppenwolfs therapeutische Sitzungen mit dem befreundeten J. B. Lang, einem
Psychoanalytiker aus der Schule C. G. Jungs.[3]

Inhalt
Harry Haller, „ein Mann von annähernd fünfzig Jahren“, lässt sich für zehn Monate in einer
größeren Stadt nieder, die er vor 25 Jahren schon einmal besucht hat. In dieser erzählten
Zeitspanne überwindet er seine tiefe Depression und seinen Gesellschaftsekel durch einen
„Lernprozess“ unter Anleitung neuer Freunde.
Das Vorleben der Hauptfigur wird nur sehr kurz und beiläufig dargestellt: Haller ist
(klein-)bürgerlich kultiviert aufgewachsen, hat einen Beruf im weiten Feld der Beschäftigung
mit Dichtung, Musik und Philosophie ausgeübt, ist als Autor von Büchern und als
Kenner Mozarts und Goethes hervorgetreten, seine pazifistischen Ansichten sind in der
Öffentlichkeit bekannt. Er hat mehrere nur angedeutete Schicksalsschläge hinnehmen müssen:
Das eine Mal verlor er Ruf und Vermögen, das andere Mal verlor seine Frau den Verstand
und verließ ihn. Danach konzentriert er sich auf seinen Beruf, bis er auch darin keine
Befriedigung mehr findet und eine Phase wilder, anstrengender Reisen beginnt. Wir treffen
ihn nach dieser Phase der Reisen, in der er „beruflos, familienlos, heimatlos“ geworden und
immer noch unterwegs ist.
Hallers Vorstellungen vom Glück sind durch die wenigen Freudenstunden bestimmt, in denen
er „Wonne, Erlebnis, Ekstase und Erhebung“ durch Dichtung oder Musik erlebt hat,
Momente, in denen er „Gott an der Arbeit gesehen“ hat. Er sehnt sich nach dem Wiederfinden
„einer goldenen göttlichen Spur“, die er durch die ihn umgebende bürgerliche Ordnung
verdeckt und zerstört sieht. Die Teilhabe an dieser göttlichen Welt strebt er auch durch eigene
Werke an, die ihm aber wegen des Kampfes seiner beiden Seelen gegeneinander nicht
gelingen.

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Denn Haller erlebt sich als „Steppenwolf“, als ein Doppelwesen: Als Mensch ist er
Bildungsbürger, an schönen Gedanken, Musik und Philosophie interessiert, hat Geld auf der
Bank, ist Anhänger von bürgerlicher Kultur und von Kompromissen, Träger bürgerlicher
Kleidung und mit normalen Sehnsüchten – als Wolf ist er ein vereinsamter Zweifler an der
bürgerlichen Gesellschaft und Kultur, der sich für „ein den Bürgern überlegenes Genie“,
einen Außenseiter und politischen Revolutionär hält. Vereinfacht ist sein Gegensatz von
Mensch und Wolf der von Geist und Trieb.
Haller entdeckt in seinem Lebensweg zwar eine Verbindung von Schicksalsschlägen mit
einem Gewinn an Einsicht und Tiefe, aber gleichzeitig auch an Einsamkeit und Verzweiflung.
Er beschäftigt sich mit seinem Selbstmord, beschließt sogar, ihn möglicherweise an seinem
50. Geburtstag ohne zusätzlichen äußeren Anlass auszuführen (obgleich schon diese
Gewissheit eines letzten Notausgangs die Tiefe seines Leidens etwas mildert).
Haller scheint zwischen zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen eingeklemmt, von denen
die bürgerliche ihn mit ihrer Langeweile, Korruption und Kriegshetze, die andere Kultur ihn
aber durch Einsamkeit, Verzweiflung und das Leben eines „Steppenwolfs“ nicht minder
erstickt. Die bürgerliche Ordnung seiner Zimmervermieterin hat aber trotz seiner
antibürgerlichen Einstellung eine große Anziehungskraft: Der Geruch von Stille und
Sauberkeit, die sorgfältige Gestaltung eines Treppenabsatzes durch eine Araukarie sind
Ruhepunkte in seiner Verwirrung und Labsal in diesen Tagen seines Seelensterbens.
Etwa in der Mitte des Romans trifft er in der Stadt seines zeitweiligen Aufenthalts die
so androgyne wie verständnisvolle Hermine in einem Tanzcafé, die ihn zunächst vage an
einen „Hermann“ von früher erinnert, vielleicht aber auch nur Hesses weibliches alter ego ist.
Hermine ist eine jüngere Frau und Gelegenheitsprostituierte, die sich damit durchschlägt,
auszuhelfen und damit, ausgehalten zu werden. Für Haller ist sie eine (Ver-)Führerin zu neuen
Erfahrungen – wie einst Vergil für Dante. Haller und Hermine bezeichnen sich als
„Geschwister“, Hermine sieht sich als einen Wesensspiegel, der Hallers Wünsche aufnimmt
und beantwortet, eine Seelenverwandte, die ihm als eine „Kurtisane“ das Tanzen zu neuen
Rhythmen und lachen und leben lehrt. Ihre wichtigste Lehre für Haller ist, dass er sein Glück
selbst in die Hand nehmen müsse: „Wie kannst du sagen, du habest dir mit dem Leben Mühe
gegeben, wenn du nicht einmal tanzen willst?“
Hermine besteht darauf, dass er ihr gehorcht, und kündigt ihm schon bei ihrem ersten
Rendezvous an, dass er sie einst werde töten müssen. Sie scheint nicht nur ihr Schicksal,
sondern auch seines zu kennen und erklärt ihm, dass sie beide zu den wirklichen, echten,
anspruchsvolleren Menschen gehörten, denen „mit einer Dimension zu viel“, die sie zu den
„Heiligen“ rechnet, zu denen sie sich und Haller auf dem Weg sieht.
Hermine legt Haller bald aus pädagogischen Gründen seiner Nachreifung Maria ins Bett, eine
schöne Frau und Kollegin Hermines. Haller mietet für ihre Liebesspiele eine kleine Wohnung
und entdeckt mit ihr erstmals körperliche Wonnen. Aber schon bald treibt es Haller über seine
neue Zufriedenheit hinaus, er sehnt sich nach neuem Leiden, das ihn zum Sterben willig und
bereit für den ersten Schritt in eine neue Entwicklung macht. Ohne äußere Not nimmt er
Abschied von Maria: „Es wurde bald Zeit für mich, weiterzugehen.“
Haller besucht spät abends einen Maskenball, der in einem großen Gebäude mit vielen Sälen,
Korridoren und Geschossen stattfindet. In dem Getümmel findet er Hermine nicht, doch wird
ihm ein Hinweis auf einmagisches Theater zugesteckt, das morgens um vier in dem
als Hölle dekorierten Kellergeschoss stattfindet. Dort trifft er Maria wieder – und die als
Mann verkleidete Hermine, in der er „nur wenig umfrisiert und leicht geschminkt“ seinen
Jugendfreund Hermann erkennt und wieder ihrem/seinem „hermaphroditischem Zauber“
erliegt. Hermine/Hermann und Haller tanzen als „Nebenbuhler“ mit den gleichen Frauen –
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„alles war Märchen, alles war um eine Dimension reicher, um eine Bedeutung tiefer, war
Spiel und Symbol.“
Haller widerfährt in der Hölle eine mehrfache Persönlichkeitsveränderung: Er erlebt den
Untergang des Individuums in der Menge, seine „unio mystica“ der Freude, er sieht plötzlich
sein alter ego Hermine als „eine schwarze Pierette mit weißgemaltem Gesicht“, sie tanzen
einen „Hochzeitstanz“ und aus ihren/seinen Augen „blickte meine arme kleine Seele mich an.“
Mit dieser mystischen Vereinigung beginnt die letzte Phase der Verwandlung:
Hermine, Pablo, ein Musiker und Freund Hermines, und Haller nehmen gemeinsam Drogen
ein und mit deren Wirkung öffnet sich der Bildersaal in Hallers Seele, das seit langem
gesuchte „Magische Theater“, in welchem es „nur Bilder, keine Wirklichkeit“ gibt: Haller
findet sich in einem hufeisenförmigen Korridor eines Theaters mit lockenden Inschriften an
unzähligen Logentüren wieder, hinter denen sich die Ereignisse abspielen, die Haller das
Lachen lehren sollen. Als sechstes seiner Erlebnisse tritt Haller mit dem Fuß einen Spiegel in
Scherben und gerät in eine Loge, in der Pablo und Hermine vom Liebesspiel erschöpft nackt
auf dem Boden liegen. Haller stößt ein Messer in das Mal eines Liebesbisses unter Hermines
linker Brust und Hermine scheint zu verbluten.
Haller kommen seine hymnischen Verse über die Unsterblichen in den Sinn, Mozart tritt in
die Loge und bedient sich des Radios, um Händels Musik zu hören – für Haller fast ein
Sakrileg, für Mozart nur ein Anlass zum Lachen über den Kampf zwischen göttlicher Idee
und profaner Erscheinung: Haller müsse das Lachen lernen, den Humor, der immer
nur Galgenhumor sein könne. Für sein Verbrechen der (angekündigten und doch nicht
wirklich vollzogenen) Ermordung Hermines wird Haller zur Strafe des ewigen Lebens und
des einmaligen Ausgelachtwerdens verurteilt, weil er mit Messern gestochen (und nicht über
sich und seine Eifersucht gelacht) habe. Haller ist optimistisch, dieses Spiel beim nächsten
Mal besser spielen zu können.

96
Aufbau

 In seinem ersten Teil lässt der Roman drei verschiedene Erzähler zu Wort kommen:


Da ist erstens das Vorwort des Herausgebers, in dem der Neffe der Hauswirtin Hallers
seinen persönlichen Eindruck vom Steppenwolf schildert; zweitens die Aufzeichnungen
Harry Hallers selbst, in denen dieser seine eigenen Erlebnisse schildert, und drittens
das Traktat vom Steppenwolf, in dem der Steppenwolf kühl und objektiv aus der Sicht
scheinbar Außenstehender analysiert wird, wobei die Außenstehenden
die Unsterblichen sind. Diese Abhandlung ist wie eine „innere Biographie“, eine
Psychoanalyse eines olympischen Erzählers, quasi ein Buch im Buch, das der Protagonist
selbst liest. Danach werden seine Aufzeichnungen fortgesetzt. (Die Technik, sich fiktiv
als Herausgeber fremder Schriften auszugeben, verwendet Hesse auch in anderen
Werken.)

Nur in der Erstausgabe gesondert gebundenes Traktat vom Steppenwolf


Schon mit seinen drei verschiedenen Erzählern, die sich aus drei Perspektiven nahezu
mit derselben erzählten Zeit der Hauptfigur befassen, war der Roman eine
kompositorische Innovation. Hesse war dieser dreifache Erzähler so wichtig, dass er
das Traktat in den ersten Ausgaben des Romans sogar als separate gelbe Broschüre
einheften ließ. Der „bürgerlichen“ Sichtweise des „Herausgebers“ auf Gesellschaft,
Kultur und Harry Haller „von außen“ steht zunächst nur die Sicht Hallers auf seine
Freud- und Erfolglosigkeit, die innere Sichtweise, gegenüber. Die Geistverehrung der
einen und das Leiden an der Geistlosigkeit seiner Zeit in der anderen Sichtweise
werden erst in der Perspektive des Traktats zueinander aufgehoben: Es untersucht wie
in einem „biografischen Labor“ die Bedingungen, unter denen Haller künstlerisch
wieder produktiv werden und den Weg zur eigenen Unsterblichkeit fortsetzen könnte.
Diese drei gleichberechtigten Sichtweisen auf die Hauptfigur bilden den ersten
Teil des Romans, umreißen das Thema der Identität und ihrer Entwicklung. Die dann
folgenden beiden Teile des Romans untersuchen, wie die Aufhebung der einseitigen
Sichtweisen, deren innerer Kampf Hallers Fortschreiten hemmt, in der gelebten
Biografie aussehen könnte:

 Im zweiten Teil, der Durchführung, verdichten sich Hallers Erfahrungen zu einer


Lebensalternative: Nach der Exposition der drei Perspektiven, gewissermaßen der
Skizze des Problems und der Skizze einer Lösung, entfaltet sich die Hauptfigur
nun mit den drei neuen Freunden Hermine, Maria und Pablo, die als
Personifikationen innerweltlicher Sehnsüchte oder Schicksale Hallers gelesen
werden können. Vor allem die Figur der Hermine wird zu einem weiblichen alter
ego Hallers/Hesses, da sie sowohl sein Seelenspiegel ist als auch später ihr
Geschlecht zu einem „Hermann“ wechselt. Alle drei Nebenfiguren zusammen
führen Haller in die Antithese zu seinem bisherigen Leben und bereiten die
Überwindung in einem dritten Schritt durch die Verwandlungen desMagischen
Theaters vor.

 Im dritten Teil des Romans, der dialektischen Aufhebung, beginnen sich die


einseitigen Bilder der Hauptfigur zu verwandeln und aufzulösen. Er spielt im
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Untergeschoss eines Tanzpalastes, das als „Hölle“ geschmückt ist (mehrfach wird
auf Dantes ebenfalls dreiteilige Göttliche Komödie angespielt, die in der Hölle
beginnt). In der Logik der Aufhebung der bisher noch nicht integrierten, noch
getrennten Sichtweisen steht ihr mehrfacher Tod: die Tode Hallers in der
Zerstörung seiner Spiegelbilder und seiner abschließenden symbolischen
Hinrichtung, die symbolische Ermordung Hermines durch Haller, der bewaffnete
Kampf gegen die Ordnung der Automobile mit der Opferung der Chauffeure.
Diesen negativen Metaphern der Überwindung stehen die eher optimistischen
Bilder gegenüber, auf die sich Haller in seiner nächsten, im Roman nicht mehr
beschriebenen Lebensphase stützen könnte: die immer neuen Konstellationen der
winzigen Schachfiguren, der souveräne Umgang von Wolf und Mensch
miteinander und die Vielfalt der Chancen von Liebe und sexueller Erfüllung
schon in Hallers „altem“ Leben.

Verständnis
Im Traktat über den Steppenwolf wird die Vielgliedrigkeit der menschlichen Seele,
das Problem der Ich-Dissoziation, näher beschrieben. Es gebe nicht nur die „eine
Seele“ und nicht nur Hallers Dichotomie von „Mensch“ und „Steppenwolf“, sondern
innerhalb jedes Menschen gebe es viele verschiedene Formen, die mal kindlich, mal
trotzig, mal leidenschaftlich zu Tage treten.
Der Gedanke, dass es kein homogenes Individuum gebe, sondern die Seele sich in
viele verschiedene Teile aufspalte, verunsicherte die damalige Generation. Besonders
expressionistische Autoren, die Hesse, allein durch die zeitlichen Überschneidungen,
sicherlich auch beeinflussten, thematisierten dies oft. Angestoßen wurde diese
Denkfigur durch die Unterscheidung des „Apollinischen und Dionysischen“
bei Friedrich Nietzsche sowie u.a. die theoretischen Schriften von Sigmund Freud, der
das Triebhafte und Unbewusste untersuchte. Die Einheit dieser Seelenvielfalt wurde
daher für viele Künstler und Intellektuelle der Nach-Jahrhundertwende zum Problem
der Selbstfindung.
Hesse selbst musste sich aufgrund tragischer familiärer Ereignisse (Tod des Vaters,
Krankheit des Sohnes und seiner Frau, Zerbrechen seiner ersten Ehe)
in psychiatrische Behandlung begeben. Seine Beziehungen zur Psychologie Carl
Gustav Jungs beginnen im Frühjahr 1916 mit einem Nervenzusammenbruch des
Dichters samt nachfolgender psychotherapeutischer Behandlung bei J. B. Lang, einem
Mitarbeiter C. G. Jungs. Die Einflüsse von Jungs Archetypen sind im Steppenwolf
erkennbar.
Hesse beschäftigt sich in vielen seiner Bücher mit der fernöstlichen Lehrthese, nach
welcher der Pfad zur Erleuchtung nicht über die Extreme Askese oder Ausschweifung
führt, sondern in der Kunst zu sehen ist, diese beiden miteinander zu verbinden. Die
innere Zerrissenheit des Steppenwolfes und sein Versuch der Integration dieser beiden
Seiten spiegeln das buddhistische Prinzip des Mittleren Pfades wider bzw. die
Erkenntnis, dass Gut und Böse einander nicht nur bedingen, sondern ein Konstrukt
menschlicher Rationalität sind (vgl. hierzu ebenfalls Hesses Demian). Wer dies
begriffen hat, der kann aus tiefem Einverständnis mit dem Universum heraus lächeln,
wie es im Steppenwolf die Unsterblichen tun. Humor erscheint als eine Art
der Transzendenz: Er zeigt die Lächerlichkeit unserer Wünsche und Ängste „sub
specie aeternitatis“.

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Inhaltsangabe (2)
Hermann Hesses Roman »Der Steppenwolf« wurde 1927 veröffentlicht. Ort der Handlung ist
Zürich in der Mitte der 1920er Jahre. Der Protagonist Harry Haller leidet unter der
Zerrissenheit einer geistlosen Zeit, die von Krieg, Umbruch und Orientierungslosigkeit
geprägt ist. Er findet aus seiner Existenzkrise, indem er erkennt, dass der Mensch aus vielen
Seelenteilen besteht und er das Leben mit Humor (oder sogar Galgenhumor) annehmen muss.

Das Werk gliedert sich in drei Hauptteile: ein Vorwort des fiktiven Herausgebers und Harry
Hallers Aufzeichnungen, beide in der Ich-Form geschrieben, sowie das »Traktat vom
Steppenwolf«, das Hallers Aufzeichnungen unterbricht. Sowohl Hallers Aufzeichnungen als
auch das Traktat tragen den Untertitel »Nur für Verrückte«.

V OR WOR T D ES HER AU S GEBER S


Im Vorwort zu Harry Hallers Aufzeichnungen erläutert der Herausgeber, wie er an diese
gekommen ist: Im Haus seiner Tante habe er etwa zehn Monate Wand an Wand mit dem
knapp 50-jährigen Haller gelebt und ihn als vergeistigten und vereinsamten Büchermenschen
kennengelernt. Haller schätze die bürgerliche Welt, habe aber keinen Zugang zu ihr und
bezeichne sich selbst als Steppenwolf. Der Herausgeber empfindet Sympathie für den
unzugänglichen Mann, der viel raucht und trinkt.

Als Haller unvermittelt und ohne Abschied verschwindet, hinterlässt er seinem Nachbarn ein
Manuskript. Nach dessen Lektüre versteht der Herausgeber: Als scharfsichtiger Intellektueller
findet Haller in einer geistlosen und unkritischen Zeit keine Heimat und lebt deshalb als
isolierter Einzelgänger. Haller leidet nicht an einer individuellen seelischen Krankheit,
sondern an der Krankheit der Zeit selbst.

HAR R Y HA LLER S A U FZEIC HN U N GEN I


Haller hasst das Mittelmaß. Er sehnt sich nach starken Gefühlen, wie er sie nur während eines
Konzerts, beim Studium klassischer Literatur oder in der körperlichen Liebe spürt.
Massenvergnügungen empfindet er als ebenso dekadent wie Jazzmusik. Während eines
Streifzugs durch die nächtliche Stadt entdeckt er an einer Mauer eine Leuchtreklame
»Magisches Theater. Eintritt nicht für jedermann. Nur für Verrückte«. Er fühlt sich
angesprochen. Später schenkt ihm ein fremder Mann ein Büchlein mit dem Titel »Tractat vom
Steppenwolf«.

TR A C TA T V OM STEPPEN WOLF
Das Traktat handelt von einer Figur namens Harry, die Steppenwolf genannt wird. Harry hat
zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, die miteinander in Feindschaft leben, sich
gegenseitig belauern und bloßstellen. Diese Zwiespältigkeit macht nicht nur ihn selbst
unglücklich, sondern auch die Menschen, die ihn lieben.

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Kennzeichnend für den Steppenwolf sind Beziehungslosigkeit und Vereinsamung infolge der
absoluten Freiheit und Unabhängigkeit, für die er in seiner Jugend gekämpft hat. Daneben
gehört er zur sogenannten Gruppe der Selbstmörder: Er erwartet die Erlösung nicht im Leben,
sondern weiß, dass ihm der Tod jederzeit als Ausweg offen steht. Infolge seiner
Individualisierung fühlt sich der Steppenwolf außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Er
sehnt sich zugleich aber nach Zugehörigkeit. Dieser Konflikt lässt sich nur lösen, indem er
Humor ausbildet.

Der zweigeteilte Steppenwolf ist ein naiver Erklärungsversuch eines viel komplexeren
Sachverhalts: Während der Körper eine Einheit bildet, ist die Seele eine undurchschaubare
Vielheit. Der Steppenwolf schützt sich vor dieser beängstigenden Vorstellung, indem er sich
abwechselnd auf die kultivierte Menschenhälfte und die triebhafte Wolfshälfte beruft. Zur
wirklichen Menschwerdung gehören jedoch Hingabe, Leidensbereitschaft und Wandel.

HAR R Y HA LLER S A U FZEIC HN U N GEN II


Haller erinnert sich an ein Gedicht, das er kürzlich verfasst hatte und dessen Inhalt dem des
Traktats ähnelt. Aus beiden zieht er die Erkenntnis, dass er entweder sterben oder sich ändern
und neu werden muss. Frühere Versuche sich zu wandeln hatten ihn den guten Ruf, das
Vermögen und die Ehe gekostet. Deshalb entscheidet er sich jetzt für Selbstmord.

Zunächst setzt er sein normales Leben fort. Als eine Abendeinladung bei einem jungen
reaktionären Professor im Streit endet, beschließt Haller sich zu Hause umzubringen. In Angst
vor dem Tod treibt er durch die Stadt. In einem Wirtshaus kommt er mit einem käuflichen
Mädchen ins Gespräch. Es behandelt Harry wie einen kleinen Jungen und hält ihm vor,
akademisch gebildet zu sein, jedoch einfache Dinge wie Tanzen nicht zu beherrschen. Harry
fühlt sich wohl und verstanden. Während die Frau mit anderen tanzt, schläft er ein und träumt
von Goethe, der ihm rät, seine Dichtung nicht zu ernst zu nehmen. Die Nacht verbringt Harry
in einem Gästezimmer.

Harry hat sich mit der Frau zum Essen verabredet. Sie ähnelt seinem Jugendfreund Hermann
und er errät ihren Namen: Hermine. Hermine behauptet, ein Spiegel für Harry zu sein, in dem
er Antworten auf seine Fragen finde. Sie werde ihm beibringen, das Leben zu genießen. Dafür
müsse er ihren Befehlen folgen. Der letzte Befehl werde lauten, sie zu töten.

In den nächsten Tagen lehrt Hermine Harry den Foxtrott und schließlich besuchen sie eines
der Tanzlokale, die Harry bisher verhasst waren. Hermine bringt Harry mit der Prostituierten
Maria zusammen und macht ihn mit dem attraktiven und geheimnisvollen Saxofonisten Pablo
bekannt. Harry verliebt sich in Maria.

Harry Haller beginnt, sich zu verändern. Er sucht die Begegnung mit Pablo, der anders als er
selbst nicht wertet und verurteilt, dafür Leichtigkeit in sein Leben bringt. Mit Maria genießt
Harry außergewöhnlich sinnliche Liebe. Erinnerungen an vergangenes Glück kehren zurück
und Harry empfindet sein Leben in der Rückschau als reich.

100
Hermine unterrichtet ihn weiterhin im Tanzen mit dem Ziel, an einem großen Maskenball
teilzunehmen. Auf dem Maskenball fühlt Harry sich so lange fremd und nicht dazugehörig,
bis er Hermine begegnet. Diese hat sich als Harrys Jugendfreund Hermann verkleidet und
versteht es, Harry zu bezaubern. Aus Freundschaft wird Begehren und Harry erlebt das Fest
wie im Rausch. Er genießt Musik und Rhythmus und ist Teil der Gemeinschaft, etwas, das
ihm nie zuvor geschehen ist.

Pablo lädt Harry und Hermine zum Konsum von Opium ein und verschafft ihnen so den
ersehnten Zutritt ins »Magische Theater«. Dort soll Harry das Lachen lernen und so den
Steppenwolf töten. Beim Blick in einen Spiegel erkennt Harry zunächst unzählige
verschiedene Figuren, die sämtlich Facetten seiner selbst darstellen.

Hinter geschlossenen Türen erwarten Harry Fantasiewelten: Mit seinem verschollenen


Jugendfreund Gustav macht er in einem Krieg der Menschen gegen die Technik Jagd auf
Autos. Harry trifft einen Schachspieler, der ihm zeigt, dass sich die verschiedenen Seelenteile
wie Figuren auf dem Schachbrett zu immer wieder neuen Persönlichkeiten ordnen lassen.
Harry als Mensch und ein Wolf unterwerfen sich abwechselnd dem jeweils anderen und
lassen sich dressieren und demütigen. Noch einmal erscheinen ihm vergangene Lieben und
Gelegenheiten, die er versäumt hat. Er begreift, wie reich an Liebe sein Leben gewesen ist. In
der Welt der Unsterblichen begegnet Harry einem lachenden Mozart, der sich über ihn lustig
macht.

Als Harry in seine alte Zerrissenheit zurückfällt, findet er Hermine nackt neben Pablo liegen
und tötet sie mit einem Messer. Mozart betritt modern gekleidet den Raum und stellt ein
Radio an. Als verzerrt die Musik von Händel ertönt, ist Harry entsetzt. Mozart dagegen
behauptet, dass der Geist großer Musik von der unzulänglichen Technik des Radios nicht
zerstört werden könne und vergleicht dies mit der ebenfalls unzerstörbaren Idee vom Leben.
Harry stünde es nicht zu, das Radio oder das Leben zu kritisieren. Er müsse lernen, das Leben
mit Humor zu nehmen und zu lachen. Mozart wird zu Pablo, der Hermine in eine kleine Figur
zurückverwandelt.

Harry ist entschlossen, das Lachen zu lernen.

101
BERTOLT BRECHT

MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER

Mutter Courage und ihre Kinder ist ein Drama, das 1938/39 von Bertolt Brecht im
schwedischen Exil verfasst und 1941 in Zürich uraufgeführt wurde.[1] Es spielt
imDreißigjährigen Krieg zwischen 1624 und 1636. Erzählt wird die Geschichte
der Marketenderin Mutter Courage, die versucht ihr Geschäft mit dem Krieg zu machen und
dabei ihre drei Kinder verliert. Das Geschehen kann als Warnung an die kleinen Leute
verstanden werden, die hoffen, durch geschicktes Handeln mit dem Zweiten
Weltkrieg umgehen zu können. Gleichzeitig richtet es eine Warnung an die skandinavischen
Länder, in denen Unternehmen darauf hofften, am Zweiten Weltkrieg verdienen zu können.
Brechts Absichten gehen aber darüber hinaus: Er will Abscheu vor dem Krieg vermitteln und
vor der kapitalistischen Gesellschaft, die ihn seiner Ansicht nach hervorbringt.
Die Mutter Courage ist weiterhin beispielhaft für Brechts Konzept des epischen Theaters. Die
Zuschauer sollen kritisch und distanziert die Ereignisse auf der Bühne analysieren, nicht
gefühlvoll das Schicksal eines positiven Helden miterleben. Die Aufführung des Berliner
Ensembles machte Brecht durch das „Couragemodell“,[2] eine Sammlung von Fotos,
Regieanweisungen und Kommentaren, zur zeitweise verpflichtenden Vorlage für zahlreiche
Aufführungen auf der ganzen Welt. Das Drama wurde mehrfach vertont und von
der DEFA im Stil der Brechtinszenierung verfilmt. Im Kalten Krieg boykottierten Theater in
einigen westlichen Ländern das Stück.
Dennoch wurde die Mutter Courage ein großer Bühnenerfolg, beinahe jedes Stadttheater hat
sich an der Courage versucht, ebenso viele Regiestars, etwa Peter Zadek,[3] wie Brecht am
Deutschen Theater, oder Claus Peymann[4] mit dem Berliner Ensemble. Für viele
Schauspielerinnen ist die Courage eine Paraderolle. Das Drama wird häufig als Schullektüre
verwendet.

Inhalt
Brecht hat das Stück regelmäßig weiterentwickelt und verändert. Die Inhaltsangabe folgt der
Druckversion von 1950 mit 12 Szenen, textgleich mit der Berliner und Frankfurter
Gesamtausgabe.[5]
Erstes Bild
Kassandra zieht Lose und sagt den Fall von Troja voraus; Pompeji,Archäologisches
Nationalmuseum Neapel
Mutter Courage zieht im Frühjahr 1624 als Marketenderin mit ihren drei Kindern dem
2. finnischen Regiment nach, das in der schwedischen Landschaft Dalarna Soldaten für den
Feldzug in Polen einzieht. Ein Feldwebel und ein Werber sollen für
ihren Feldhauptmann Oxenstjerna Soldaten anwerben. Der Feldwebel behauptet, dass Frieden
Schlamperei bedeute und nur Krieg Ordnung schaffe.
Als der Feldwebel den Wagen der Courage mit ihren zwei halb erwachsenen Söhnen anhält,
freut sich der Werber über zwei „stramme Männer“. Die Courage stellt sich mit einem Lied
als gerissene Geschäftsfrau vor. Ihr eigentlicher Name ist Anna Fierling. Sie hat ihren
Beinamen „Courage“ erhalten, als sie unter dem Feuer der Geschütze fünfzig Brotlaibe in das
belagerte Riga gefahren hat, um sie zu verkaufen, bevor sie verschimmelten.[6]

102
Als sie sich ausweisen soll, legt die Courage einige „Dokumente“ vor: ein Messbuch zum
Gurkeneinwickeln, eine Landkarte von Mähren und eine Bescheinigung über ein
seuchenfreies Pferd. Sie erzählt, dass ihre Kinder auf den Heerstraßen Europas von
verschiedenen Männern gezeugt wurden. Als sie erkennt, dass es der Werber auf ihre Söhne
abgesehen hat, verteidigt sie sie mit dem Messer. Zur Warnung lässt sie den Feldwebel und
ihre Kinder Lose ziehen, die allen den Tod im Krieg prophezeien.
Letztlich lässt sie sich durch ihren Geschäftssinn ablenken, als der Feldwebel sich interessiert
zeigt, eine Schnalle zu kaufen. Sie überhört die Warnlaute ihrer stummen Tochter Kattrin und
als sie zurückkehrt, ist der Werber mit ihrem ältesten Sohn Eilif weggegangen.
Zweites Bild
Mutter Courage zieht in den Jahren 1625 und 1626 im Tross der Schwedischen Heere durch
Polen. Während sie mit dem Koch des Feldhauptmannes um einen Kapaun verhandelt, hört
sie, wie ihr Sohn Eilif vom Feldhauptmann für eine Heldentat ausgezeichnet wird. Eilif war
mit seinen Leuten auf der Suche nach Vieh, das sie den Bauern stehlen sollten. Dabei
erwischte sie eine Überzahl bewaffneter Bauern. Doch durch List und Betrug gelang es Eilif,
die Bauern niederzuschlagen und das Vieh zu stehlen. Als Courage das hört, ohrfeigt sie Eilif,
weil er sich nicht ergeben hat. Sie fürchtet um ihren Sohn aufgrund seiner Kühnheit. In der
Doppelszene kann der Zuschauer parallel das Geschehen in der Küche und beim
Feldhauptmann beobachten.
Drittes Bild
Drei Jahre sind vergangen. Die Courage handelt mit dem Zeugmeister eines finnischen
Regiments um Gewehrkugeln. Ihr jüngster Sohn Schweizerkas ist Zahlmeistergeworden und
verwaltet die Regimentskasse. Die Courage warnt ihren Sohn davor, unredlich zu handeln.
Courage lernt die Lagerhure Yvette Pottier kennen, die ihr ihre Lebensgeschichte
erzählt (Lied vom Fraternisieren). Ihren Niedergang erklärt Yvette damit, dass sie von ihrer
ersten großen Liebe, einem Koch namens „Pfeifen-Pieter“, verlassen worden sei. Sie wird
wegen einer Geschlechtskrankheit von den Soldaten geschnitten. Kattrin spielt trotz aller
Warnung vor der Soldatenliebe mit Hut und Schuhen Yvettes.
Anschließend unterhalten sich Koch und Feldprediger über die politischen Verhältnisse. Der
Feldprediger behauptet, in diesem Krieg zu fallen sei eine Gnade, weil es
einGlaubenskrieg sei. Der Koch entgegnet, dieser Krieg unterscheide sich in keiner Hinsicht
von anderen Kriegen. Er bedeute Tod, Armut und Unheil für die betroffene Bevölkerung und
Gewinn für die Herren, die den Krieg zu ihrem Nutzen führten.
Das Gespräch wird durch Kanonendonner, Schüsse und Trommeln unterbrochen. Die
Katholiken überfallen das schwedische Lager. Im Durcheinander versucht Courage, ihre
Kinder zu retten. Sie beschmiert Kattrin das Gesicht mit Asche, um sie unattraktiv zu machen,
rät Schweizerkas, die Kasse wegzuwerfen, und gewährt dem Feldprediger Unterschlupf. In
letzter Minute nimmt sie die Regimentsfahne vom Wagen. Doch Schweizerkas will die
Regimentskasse retten und versteckt sie in einem Maulwurfloch nahe dem Fluss. Jedoch
bemerken polnische Spione, dass sein Bauch durch die versteckte Kasse seltsam vorsteht, und
veranlassen seine Verhaftung. Unter Folter gesteht er, dass er die Kasse versteckt hat; den Ort
will er aber nicht verraten. Der Feldprediger singt das Horenlied.
Yvette hat einen alten Oberst kennengelernt, der bereit ist, Mutter Courages Wagen zu
erwerben, damit sie ihren Sohn freikaufen kann. Insgeheim hofft die Courage auf das Geld
der Regimentskasse und will deshalb den Wagen nur verpfänden. Doch sie verhandelt zu
lange um die Auslösesumme für ihren Sohn, Schweizerkas wird von den polnischen

103
Katholiken erschossen. Als man die Leiche bringt, verleugnet die Mutter Courage ihren Sohn,
um sich zu retten.
Viertes Bild
Mutter Courage will sich bei einem Rittmeister beschweren, weil Soldaten bei der Suche nach
der Regimentskasse Waren in ihrem Wagen zerstört haben. Auch ein junger Landsknecht
möchte sich beschweren, weil er sein versprochenes Geld nicht erhalten hat. Daraufhin singt
Courage das Lied von der großen Kapitulation, das tiefe Resignation und die Kapitulation vor
den Mächtigen zum Ausdruck bringt. Die beiden verzichten auf die Beschwerde. Das durch
einen Doppelpunkt verfremdete Zitat im Refrain des Liedes: „Der Mensch denkt: Gott
lenkt“[7] demonstriert die Abkehr von Religion und Kriegsideologie.
Fünftes Bild
Zwei Jahre sind vergangen. Die Courage hat mit ihrem Wagen Polen, Bayern und Italien
durchquert. 1631 siegt Tilly bei Magdeburg. Mutter Courage steht in einem zerschossenen
Dorf und schenkt Schnaps aus. Da kommt der Feldprediger und verlangt Leinen zum
Verbinden von verwundeten Bauern. Doch Courage weigert sich und muss von Kattrin und
vom Feldprediger zur Hilfeleistung gezwungen werden. Kattrin rettet unter Lebensgefahr
einen Säugling aus dem einsturzgefährdeten Bauernhof.
Sechstes Bild
Vor der Stadt Ingolstadt wohnt die Courage 1632 dem Begräbnis des gefallenen kaiserlichen
Feldhauptmannes Tilly bei. Sie bewirtet einige Soldaten und befürchtet, dass der Krieg bald
zu Ende ist. Doch der Feldprediger beruhigt sie und sagt, dass der Krieg weiter anhalte. Die
Courage schickt Kattrin in die Stadt, um neue Waren einzukaufen. Während ihre Tochter
unterwegs ist, weist sie den Feldprediger zurück, der mehr als nur eine Wohngemeinschaft
möchte.
Kattrin kehrt aus der Stadt mit einer entstellenden Wunde an der Stirn zurück. Sie wurde
überfallen und misshandelt, hat sich aber die Waren nicht wegnehmen lassen. Als Trost
schenkt die Courage ihr die Schuhe der Lagerhure Yvette, die die Tochter aber nicht
annimmt, weil sie weiß, dass sich kein Mann mehr für sie interessieren wird.
Aus dem Wagen belauscht Kattrin das Gespräch ihrer Mutter mit dem Feldprediger. Kattrin
brauche, so Mutter Courage, nun nicht mehr auf den Frieden zu warten, denn ihre ganzen
Zukunftsaussichten und Pläne seien mit dem Überfall und der verbleibenden Narbe zerstört
worden. Eine stumme und noch dazu verunstaltete Person wolle kein Mann heiraten. Das
Versprechen ihrer Mutter, dass Kattrin Mann und Kinder haben solle, sobald der Frieden
kommen werde, scheint damit hinfällig geworden zu sein. Ganz am Schluss der Szene lässt
sich Mutter Courage zu dem Satz hinreißen: „Der Krieg soll verflucht sein.“
Siebtes Bild
Die Antithese zum Schluss des sechsten Bildes folgt sofort zu Beginn des siebten: „Ich laß
mir von euch den Krieg nicht madig machen.“, sagt Mutter Courage. Sie zieht „auf dem
Höhepunkt ihrer geschäftlichen Laufbahn“ (Brecht) mit Kattrin und dem Feldprediger über
eine Landstraße. In der kurzen Szene rechtfertigt sie mit einem Lied ihre nichtsesshafte
Lebensweise als Marketenderin im Krieg.
Achtes Bild
Die Schlacht bei Lützen, Kupferstich von Matthäus Merian
Der Schwedenkönig Gustav Adolf fällt in der Schlacht bei Lützen. Überall läuten die Glocken
und mit Windeseile verbreitet sich das Gerücht, es sei nun Frieden. Der Koch erscheint

104
wieder im Lager und der Feldprediger zieht wieder sein Gewand an. Mutter Courage klagt
gegenüber dem Koch, sie sei jetzt ruiniert, weil sie auf Rat des Feldpredigers noch kurz vor
Ende des Krieges Waren eingekauft habe, die nun nichts mehr wert seien.
Zwischen Koch und Feldprediger kommt es zum Streit: Der Feldprediger will sich vom Koch
nicht aus dem Geschäft drängen lassen, weil er sonst nicht überleben kann. Die Courage
verflucht den Frieden und wird daraufhin vom Feldprediger als „Hyäne des
Schlachtfeldes“[8] bezeichnet. Yvette, die seit fünf Jahren Witwe eines adeligen Obristen
sowie älter und dicker geworden ist, kommt zu Besuch. Sie identifiziert den Koch als
„Pfeifen-Pieter“ und charakterisiert ihn als gefährlichen Verführer. Dieser glaubt (zu Unrecht,
wie sich später herausstellt), dass sein Ansehen bei Mutter Courage dadurch stark gesunken
sei. Die Courage fährt mit Yvette in die Stadt, um noch schnell ihre Waren zu verkaufen,
bevor die Preise fallen. Während Courage fort ist, führen die Soldaten Eilif vor, der die
Gelegenheit bekommen soll, mit seiner Mutter zu sprechen. Er hat weiter geraubt und
gemordet; allerdings hat er nicht mitbekommen, dass das jetzt, im „Frieden“, als Raub und
Mord gilt. Folglich soll er hingerichtet werden. Wegen der Abwesenheit der Mutter kommt es
nicht zu dem geplanten letzten Gespräch Eilifs mit ihr. Kurz nach seinem Abgang kehrt
Mutter Courage zurück. Sie hat ihre Waren nicht verkauft, weil sie mitbekommen hat, dass es
wieder zu Kampfhandlungen gekommen ist, der Krieg also weitergehen wird. Der Koch
verschweigt ihr, dass Eilif hingerichtet werden soll. Die Courage zieht mit ihrem Wagen
weiter und nimmt statt des Feldpredigers den Koch als Gehilfen mit.
Neuntes Bild
Der Krieg dauert schon sechzehn Jahre, und die Hälfte der Einwohner Deutschlands ist
umgekommen. Das Land ist verwüstet, die Menschen hungern. Im Herbst 1634 versuchen die
Courage und der Koch, imFichtelgebirge etwas Essbares zu erbetteln. Der Koch erzählt der
Courage von seiner Mutter, die in Utrecht an der Cholera gestorben ist. Er habe eine kleine
Wirtschaft geerbt und wolle mit Courage dorthin ziehen, da er sich nach einem ruhigen und
friedlichen Leben sehne. Mutter Courage scheint zunächst von diesem Plan angetan zu sein,
bis der Koch ihr sagt, dass er Kattrin nicht mitnehmen will. Nachdem er klargestellt hat, die
Wirtschaft könne drei Personen nicht ernähren, und mit ihrem „verunstalteten Gesicht“ werde
Kattrin die Gäste vertreiben, ändert Mutter Courage ihre Meinung. Sie kann Kattrin, die
dieses Gespräch mitgehört hat und heimlich weglaufen will, gerade noch aufhalten. Mutter
und Tochter ziehen alleine weiter, und der Koch bemerkt verdutzt, dass man ihn allein
zurückgelassen hat.
Einerseits ist die Courage unfähig, ihre Gefühle auszudrücken, und vermutet wohl, ihre
Tochter kenne sie ja nur als Geschäftsfrau – daher die Verhüllung ihrer mütterlichen
Gefühle –, andererseits ist ihre Entscheidung durchaus berechnend: Sie ist sich im Klaren
darüber, dass der Wagen und seine Funktion im Krieg einfach ihre Welt ist. Also kann sie im
Grunde nur Kattrin und den Krieg wählen.
Zehntes Bild
Im ganzen Jahr 1635 ziehen Mutter Courage und ihre Tochter über die
Landstraßen Mitteldeutschlands und folgen den zerlumpten Heeren. Sie kommen an einem
Bauernhaus vorbei. Sie hören eine Stimme, die von der Sicherheit der Menschen mit einem
heilen Dach über dem Kopf singt (Uns hat ein Ros ergetzet). Mutter Courage und Kattrin, auf
die das nicht zutrifft, halten ein und hören der Stimme zu, ziehen dann aber kommentarlos
weiter.
Elftes Bild

105
Im Januar 1636 bedrohen die kaiserlichen Truppen die Stadt Halle. Die Courage ist in die
Stadt gegangen, um einzukaufen. Ein Fähnrich dringt mit zwei Landsknechten in den
Bauernhof ein, wo Courage ihren Planwagen mit ihrer Tochter stehen hat. Die Soldaten
zwingen den Bauern, ihnen den Weg in die Stadt zu zeigen, da die Bewohner, die noch nichts
von der Gefahr wissen, überrascht werden sollen. Als Kattrin von der Gefahr hört, nimmt sie
sich eine Trommel, steigt auf das Dach und zieht die Leiter zu sich hoch. Sie schlägt die
Trommel und lässt sich von keiner Drohung abhalten. Die Soldaten zwingen den Bauern, die
Trommeln durch Axtschläge zu übertönen. Als dies nicht gelingt, wird Kattrin von den
Soldaten erschossen. Doch der mutige Einsatz, der ihr Leben kostete, hat Erfolg. Die
Stadtbewohner sind aufgewacht und schlagen Alarm.
Zwölftes Bild
Am nächsten Morgen ziehen die Schweden vom Bauernhof ab. Mutter Courage kehrt aus der
Stadt zurück und findet ihre tote Tochter. Erst glaubt sie, dass sie schläft, und kann nur mit
Mühe die Wahrheit begreifen. Sie gibt den Bauern Geld für das Begräbnis und zieht alleine
mit dem Wagen dem Heer nach. Sie glaubt, zumindest Eilif sei am Leben, und singt die dritte
Strophe des Eingangslieds.[9]

Entstehung des Stücks


Literarische Einflüsse
Laut Notizen von Margarete Steffin ist Brecht im schwedischen Exil durch die Geschichte der
nordischen Marketenderin Lotta Svärd aus Johan Ludvig Runebergs „Fähnrich Stahl“ zur
Niederschrift der Mutter Courage angeregt worden, die insgesamt nur 5 Wochen gedauert
habe.[10] Verschiedene Verweise Brechts auf Vorarbeiten zeigen, dass Brecht im Herbst 1939
nur „die Niederschrift der ersten vollständigen Fassung“ erstellte. [11] Brecht selbst gibt später
an, er habe das Stück „1938 geschrieben“. [12] Im Kontext der KopenhagenerAufführung von
1953 erinnert er sich, dass das Stück in Svendborg, d.h. vor dem 23. April 1939, als er
Dänemark verließ, entstanden sei.[13]
In Runebergs Balladen findet sich der Typus der mütterlichen Marketenderin wieder, die sich
im finnisch-russischen Krieg von 1808/09 um die Soldaten der Truppe kümmert. Inhaltlich
hat Brechts Drama keine Ähnlichkeit mit Runebergs Schrift, die den Kampf Finnlands um
nationale Autonomie idealistisch verherrlicht.[14]
Den Namen „Courage“ übernahm Brecht aus dem Roman Trutz Simplex: Oder Ausführliche
und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin
Courasche (1670) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der am Beispiel
einer Zigeunerin beschreibt, wie die Wirren des Dreißigjährigen Krieges zur sittlichen und
menschlichen Verwahrlosung führen.
Grimmelshausens Romane schildern schonungslos die Schrecken des Krieges. Sein
Hauptwerk Der abenteuerliche Simplicissimus, ein Schelmenroman, ist der erste Band
einerTrilogie, zu der außerdem der Courasche-Roman und Der seltsame
Springinsfeld gehören. Brecht, der Grimmelshausen wegen seiner unheroischen Darstellung
des Krieges schätzte, übernahm jedoch weder die Handlung des Courasche-Romans noch den
Charakter der Titelfigur. Bei Grimmelshausen ist die Courasche eine Soldatenhure mit starker
erotischer Ausstrahlung, sie ist unfruchtbar (hat aber sieben verschiedene Ehemänner; vgl. die
drei verschiedenen Väter von Eilif, Schweizerkas und Kattrin) und ist von hoher Geburt. Der
Begriff „Courasche“ bezeichnet nicht den Mut, sondern die Vagina:
„Als aber die Predigt am allerbesten war und er mich fragte, warumb ich meinen
Gegenteil so gar abscheulich zugerichtet hätte, antwortet ich: »Darumb, daß er mir

106
nach der Courage gegriffen hat, wohin sonst noch keines Mannsmenschen Hände
kommen sein«“[15]
Dennoch gibt es indirekt Parallelen zwischen den beiden literarischen Figuren. Wie
Brechts Courage begibt sich auch die „Courasche“ Grimmelshausens gezielt in den Krieg.
In Männerkleidung sucht sie Gelegenheiten, ihre Rauflust und Geldgier auszuleben. Von
Religion halten beide nichts. Andererseits versucht die Courasche, ihr Geld als
Soldatenhure zu verdienen, hauptsächlich durch eine Kette kurzlebiger Ehen, ein Aspekt
ihrer Persönlichkeit, der sich bei Brecht in der Figur der Yvette Pottier wiederfindet.[16]
Brecht will vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges vor dem Krieg im
Allgemeinen warnen und dessen Ursachen aufdecken. Von Grimmelshausen stammt der
historische Hintergrund des Dramas, die Gestaltung des Kriegsgeschehens als
Bürgerkrieg. Jan Knopf sieht in der Figur des Eilif Aspekte der Figur des Simplicissimus
und verweist weiterhin auf formale Einflüsse Grimmelshausens: Wie dieser im
Simplicissimus stelle Brecht in seinem Drama kurze inhaltliche Zusammenfassungen der
Ereignisse dem Geschehen voran, um die „Leser-Spannung vom »Was« (Ob-überhaupt-
Spannung) auf das »Wie« (Wie-Spannung), also vom bloß Stofflichen auf dessen
Beurteilung“ zu legen.[17] Was im Barock der moralischen Bewertung der Ereignisse
diente, wird bei Brecht zum Mittel, einen distanzierten Blick der Zuschauer zu bewirken.
Das Publikum soll die Ereignisse verstehen und beurteilen, nicht einfühlend und gespannt
miterleben. Jan Knopf sieht in den kurzen Inhaltsangaben auch den Einfluss des Kinos,
das im Stummfilm wie „im ‚epischen Film‘ der 30er Jahre“ exzessiv mit eingeblendeten
Texten gearbeitet habe.[17]
Einen weiteren Einfluss Grimmelshausens sieht die Forschung im Konzept der „Umkehr
des Gewöhnlichen: im Barock ist es der Topos von der verkehrten Welt gegenüber der
göttlichen Weltordnung […], bei Brecht ist es die ‚Umwertung‘ der ‚normalen‘
bürgerlichen Werte durch den Krieg: als neue Normalität.“ [17] Ebenfalls findet sich bereits
im Simplicissimus das geschäftliche Interesse am Krieg:
„Siehe nun lieber Mercuri, warum sollte ich ihnen dann den Frieden verleihen? Ja, es
sind zwar etliche die ihn wünschen, aber nur wie gesagt, um ihres Bauchs und Wollust
willen; hingegen aber sind auch andere, die den Krieg behalten wollen, nicht zwar
weil es mein Will ist, sondern weil er ihnen einträgt; Und gleichwie die Maurer und
Zimmerleut den Frieden wünschen, damit sie in Auferbauung der eingeäscherten
Häuser Geld verdienen, also verlangen andere, die sich im [405] Frieden mit ihrer
Handarbeit nicht zu ernähren getrauen, die Kontinuation des Kriegs, in selbigem zu
stehlen.“[18]

Bezüge zur politischen Situation der Zeit

Brecht schrieb sein Stück im Exil „für Skandinavien“.[19] Schon über die historische


Koppelung an den Dreißigjährigen Krieg ist die Beteiligung Skandinaviens am Krieg
angedeutet. „Insbesondere die ersten beiden Bilder lassen noch das intendierte
schwedische Publikum erkennen, da dort der schwedisch-polnische Krieg (der dem
Eingriff des Schwedenkönigs in den Dreißigjährigen Krieg vorausgeht) die
historische Folie bildet.“[20] Brechts wesentliche Absicht war dabei die Warnung an
seine Gastgeber, sich auf Geschäfte mit Hitler einzulassen. Brecht schreibt:
„Es mag heute schwierig sein, sich daran zu erinnern, daß es damals in Skandinavien
Leute gab, die nicht abgeneigt waren, sich an den Unternehmungen jenseits der

107
Grenze ein wenig zu beteiligen. Sie werden kaum davon reden. Nicht so sehr, weil es
sich um einen Raubzug handelte, sondern weil dieser Raubzug missglückte.“[21]
Brecht hatte schon 1939 mit zwei Einaktern die Neutralitätshaltung Dänemarks
(„Dansen“) und die Erzgeschäfte Schwedens mit Deutschland kritisiert („Was kostet
das Eisen“ unter dem Pseudonym John Kent).[22] Mit der Mutter Courage hoffte er, die
Haltung der Skandinavier über das Theater beeinflussen zu können.
„Ich stellte mir, schreibend, vor, daß von den Bühnen einiger großer Städte herab, die
Warnung des Stückeschreibers zu hören sein würde, daß der einen langen Löffel
haben muss, der mit dem Teufel frühstücken will.“[23]
Ein anderer Zeitbezug sind die Themen Nationalismus und Rassismus. Mutter
Courage stellt ihre Kinder selbstbewusst als multinationale Gesellschaft vor. Stärker
als das biologische Erbe der Väter aus verschiedenen Nationen bewertet sie den
Einfluss ihrer wechselnden Männer aus verschiedenen Staaten, mit denen die Kinder
groß geworden sind. Gegen alle Rassenlehre sieht die Courage ihre Familie als
gesamteuropäische Mischung:
„Eilif steht für das kühne, autonome, sich auf sich selbst verlassende Finnland, das
1939 sowohl zu Deutschland als auch zur Sowjetunion auf Distanz ging in der
Hoffnung, sich ‚heraushalten‘ zu können; Schweizerkas steht für den ‚Schweizer
Käse‘, die Nation der händlerischen Bauern und ihre berühmte Neutralität … und
Kattrin für den halbierten Deutschen, der zur Stummheit verurteilt ist …“[24]
Der wohl deutlichste Zeitbezug des Dramas zeigt sich in einer Anspielung auf Hitlers
Überfall auf Polen in der dritten Szene.
MUTTER COURAGE: „Die Polen hier in Polen hätten sich nicht einmischen sollen. Es
ist richtig, unser König ist bei ihnen eingerückt mit „Ross und Mann und Wagen“,
aber anstatt daß die Polen den Frieden aufrechterhalten haben, haben sie sich
eingemischt in ihre eigenen Angelegenheiten und den König angegriffen, wie er gerad
in aller Ruhe dahergezogen ist. So haben sie sich eines Friedensbruchs schuldig
gemacht, und alles Blut kommt auf ihr Haupt.“[25]
Das Zitat verknüpft und aktualisiert verschiedene Aspekte über den Verweis auf
Hitlers Polenfeldzug, der den Zweiten Weltkrieg eröffnete, hinaus. Die biblische
Rachedrohung „Der Herr lasse sein Blut auf sein Haupt kommen, weil er ohne
Wissen meines Vaters zwei Männer, die gerechter und besser waren als er,
niedergestoßen und mit dem Schwert getötet hat“ [26] prophezeit eine Strafe, in der
satirischen Darstellung der Courage den Opfern. Solche satirischen Elemente
„stellen die Unlogik der nationalsozialistischen Logik bloß, indem sie sie satirisch
überhöht nachvollziehen.“[24] Das Zitat „mit Ross und Mann und Wagen“
entstammt einem alten Kriegslied, das 1813 in Riga entstand.[27][28]
Auch an anderer Stelle wird die NS-Ideologie mit bitterem Humor aufs Korn
genommen. Die Koppelung geschieht etwa über die Verbindung von
„Glaubenskrieg“[29] und ideologisch begründetem NS-Krieg. Brecht lässt den
Feldprediger von seiner Überzeugungskraft und vom Endsieg schwärmen: „Sie
haben mich noch nicht predigen hören. Ich kann ein Regiment nur mit einer
Ansprach so in Stimmung versetzen, daß es den Feind wie eine Hammelherd
ansieht. Ihr Leben ist ihnen wie ein alter verstunkener Fußlappen, den sie
wegwerfen in Gedanken an den Endsieg. Gott hat mir die Gabe der Sprachgewalt
verliehen.“[30]

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Der Koch stellt den Bezug zur Brutalität der Verhältnisse in Deutschland her, für
die im historischen Kontext der schwedische König verantwortlich gemacht wird:
DER KOCH:„… die Freiheit, wo er hat einführen wollen in Deutschland, hat sich der
König genug kosten lassen … und dann hat er die Deutschen noch einsperren und
vierteilen lassen müssen, weil sie an ihrer Knechtschaft gegenüber dem Kaiser
festgehalten haben. Freilich, wenn einer nicht hat frei werden wolln, hat der König
keinen Spaß gekannt. Zuerst hat er nur Polen schützen wolln vor böse Menschen …
aber dann ist mitn Essen der Appetit gekommen, und er hat ganz Deutschland
geschützt.“[31]
Hier ist nicht nur erneut der Polenfeldzug angesprochen, sondern auch der
NS-Begriff der Schutzhaft, der unter dem Vorwand Oppositionelle ins KZ
brachte, sie vor dem „Volkszorn“ schützen zu müssen.
In verschiedenen Polemiken kommen auch Brechts Zweifel an der Freiheit in
demokratischen kapitalistischen Gesellschaften zum Ausdruck. „Brecht war
skeptisch in Bezug auf die Freiheit, die die Bourgeoisie zu repräsentieren
vorgab.“,[32] schreibt Fowler mit Verweis auf Brechts Drama sowie den
„anachronistischen Zug“ und den dortigen Spott auf „Freiheit und
Democracy“.[33] Im Stück, so Fowler, erscheine die Freiheit als Sklaverei,
etwa in Form der Unterdrückung und Ausbeutung durch Eroberer wie den
schwedischen König.[34]
Trotz dieser und anderer Verweise auf Europa unter dem Nationalsozialismus
ist die Courage kein Schlüsseldrama. [35] Ingo Breuer weist darauf hin, dass
Brecht zwar durch Doppeldeutigkeiten und wenige Begriffe aus der Sprache
von 1939 „Signale“ für mögliche Aktualisierungen setzt, dass diese aber
„keine tragende Rolle im Stück spielen.“[36]

Aufführungen und Textvarianten


Die Uraufführung in Zürich
Die Uraufführung der Mutter Courage fand am 19. April 1941 am von Oskar
Wälterlin geleiteten Schauspielhaus Zürich statt. Regie führte der Piscator-
Schüler Leopold Lindtberg, die Musik komponierte Paul Burkhard, der auch
selbst dirigierte. Therese Giehse spielte die Hauptrolle. Das von Teo
Otto entworfene, einfache Bühnenbild wurde prägend für alle weiteren
Aufführungen des Stücks und für das später von Brecht entwickelte Modell,
obwohl Brecht die Zürcher Aufführung persönlich nie sehen konnte.
Im Zentrum der Inszenierung stand der im Aufführungsverlauf zunehmend
herunterkommende Wagen der Courage. Das einfach gehaltene Bühnenbild
beschränkte sich auf flackernde Hintergründe auf aufgespannten Leinwänden,
einfachen Holzbuden, vor denen Landschaften angedeutet waren.[37] Für die
Aufführung verfasste Brecht die inhaltlichen Zusammenfassungen vor den
einzelnen Szenen, das „Titularium“. [38] Das Zürcher Programmheft
interpretierte die Mutter Courage als Rückkehr Brechts von den Lehrstücken
zum Menschentheater: „Das Menschlich-Mitleidvolle, das Geistig-
Einfühlende steht in dieser Dichtung – bei Aufnahme der formalen Elemente
des ‹epischen› Theaters – im Mittelpunkt … Die Figuren vertreten nicht mehr
‹Anschauungen›, nicht mehr Meinungen …“[39] Trotz der großen Wirkung des

109
Stückes kam es zu nur zehn Aufführungen, die aber nach Meinung des
Theaterwissenschaftlers Günther Rühle eine solch lange Nachwirkung hatten
wie kein anderes Stück und keine Inszenierung, die im Exil zur Aufführung
kam.[40]
Der zeitgenössische Kritiker Bernhard Diebold erkennt 1941 in der Zürcher
Courage das Konzept der Dreigroschenoper wieder. Brecht baue „seine
tragikomische Jahrmarktsbude auf, in der als ein höherer Bänkelsänger […]
seine Satire höhnt und singt zugunsten der Kleinen in der Masse und gegen
die Großen, die auf geistlichen und weltlichen Thronen ‚ihren Krieg
machen‘.“[41] Weniger dürfte Brecht gefallen haben, dass Diebold in der
Courage vor allem „ein warmblütiges Muttertier“ sah, das „keine Wahl“
gehabt habe: „Man ist unfrei wie ein armes Tier.“ [42] Diebold sieht in
Brechts Eulenspiegelei, in seiner „Narrenmoral“, keine positive Perspektive,
Brechts Stück diene „lediglich der nihilistischen Entwertung allen Glaubens
an Kultur“[43] Der Kritiker vermisst – wie später die Kritik aus der Sicht
des sozialistischen Realismus – die positive Heldenfigur, „der die bösen
Drachen der Menschheit um der Menschheit willen erschlagen soll.“ [43] Die
Tendenz von Diebolds Lob für Therese Giehses Darstellung der Mutter
Courage dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum Brecht später die
negativen Seiten der Figur durch Textänderungen und Regie stärker
herausarbeitete:
„Aber Therese Giehse stand mit ihrem großen Mutterherzen jenseits aller
historischen Ansprüche schlechthin im Ewigen. Mochte sie noch so
respektwidrige Dinge gegen das ‚Höhere‘ maulen und ihre
Geschäftstüchtigkeit spielen lassen – sie wurde doch nie zur ‚Hyäne des
Schlachtfelds‘; und die von den rauhen Umständen geforderte Rauheit der
Marketenderin trat fast zu stark zurück hinter der Strahlung ihres Gefühls und
ihres ergreifenden Schmerzes, wenn sie die Kinder eines nach dem anderen
verlieren muß.“[44]
Auch andere Kritiker der Zeit interpretierten die Courage der Giehse vor
allem als Mutterfigur. So spricht die Kritikerin der Baseler National-Zeitung
von der „Nährmutter“ Courage, die sie für ihre Kinder wie für Koch und
Feldprediger gewesen sei.[45] „Wie der Prototyp der Urmutter umfängt die
Mutter Courage alles, was in ihre Nähe kommt, mit mütterlicher Fürsorge
[…].“[46] Aus dieser Sicht erscheint die Courage als Repräsentation von
„Millionen von Müttern der Gegenwart“,[45] die trotz aller Not „ungebrochen
[…] hinaus in das harte Leben“ ziehen.[45]
Fowler zeigt, dass vom Moment der Uraufführung in Zürich zwei
konkurrierende Interpretationen die Rezeptionsgeschichte durchziehen: die
Verurteilung der Courage – im Sinne Brechts – aufgrund ihrer
Kriegsteilnahme und im Gegensatz dazu die Verteidigung der Courage als
unschuldiges Opfer oder leidende Mutter.[47] Nachträglich ist zu der
Uraufführung zu sagen, dass zu ihrem Zeitpunkt, Frühjahr 1941, ja das Ende
des Nazitums - naiv gesehen - noch keineswegs klar war.
Die Aufführung des Berliner Ensembles
Vorbereitungen und erste Kontakte nach Berlin

110
Schon am 24. Oktober 1945 hatte der Chefdramaturg des Deutschen
Theaters, Herbert Ihering, Brecht um eine Aufführungserlaubnis für die
Mutter Courage gebeten:
„Ich bin bei Wangenheim am Deutschen Theater. […] Es gibt hier sehr
schöne Möglichkeiten. Erich Engel will nach Berlin, leitet aber vorläufig noch
kommissarisch die Münchner Kammerspiele. […] Lieber Brecht, kommen Sie
bald, damit Sie sehen können, wieviel gute und brechtbegeisterte Schauspieler
wir am Deutschen Theater noch haben, und mit welcher Begeisterung wir uns
alle in die herrliche Mutter Courage stürzen wollen.“[48]
Helene Weigel schickte ein Lebensmittelpaket, aber eine Antwort von Brecht
blieb aus. Im Dezember 1945 schrieb Brecht an Peter Suhrkamp und brachte
seine Skepsis gegenüber dem Theater in Deutschland zum Ausdruck: „Der
Wiederaufbau des deutschen Theaters kann nicht improvisiert werden. Sie
wissen außerdem, daß ich auch schon vor der Hitlerzeit es nötig fand,
angesichts des experimentellen Charakters meiner Stücke mich sehr in die
Uraufführung hineinzumischen.“[49] Im gleichen Schreiben verfügt er ein
Aufführungsverbot für den Galilei wegen Textüberarbeitung. Die Mutter
Courage dürfe nur aufgeführt werden mit Helene Weigel in der Hauptrolle.
Aufgrund der Unzufriedenheit mit der Rezeption der Uraufführung in Zürich
nahm Brecht einige Textveränderungen für die geplante Berliner Aufführung
vor. Dabei gestaltete er die Figur der Mutter Courage negativer. Eilifs
Weggang zu den Soldaten in der ersten Szene geht jetzt weniger auf eigene
Motive zurück, sondern wird verursacht durch Geschäftsinteressen der
Mutter. In der 5. Szene gibt sie Verbandsstoffe nicht mehr freiwillig heraus,
sondern nur unter Zwang. In der 7. Szene verflucht sie immer noch den Krieg,
verteidigt ihn dann aber als Geschäft wie andere. [38] Brecht wollte sich
von Niobe-Deutungen abgrenzen, die in der Mutter Courage nur das Leiden
der Mutter sahen, die ihre Kinder überlebt:
„Wir haben die erste Szene der »Courage« zu ändern, da hier schon angelegt
ist, was bei der Zürcher Aufführung den Zuschauern erlaubt hat, sich
hauptsächlich von der Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit der gequälten
Kreatur (des ewigen Muttertiers) erschüttern zu lassen – wo es doch damit
nicht eben weit her ist. Jetzt verliert die Courage den ersten Sohn, weil sie
sich in ein kleines Geschäft verstricken läßt, und nur hinzu kommt ihr Mitleid
mit dem abergläubischen Feldwebel, das eine Weichheit darstellt, die vom
Geschäft kommt und die sie sich nicht leisten kann. Das ist eine deutliche
Verbesserung. Sie ist vom jungen Kuckhahn vorgeschlagen.“[50]
Brechts Rückkehr nach Berlin – Probenarbeit
Seit dem 22. Oktober 1948 war Brecht mit Helene Weigel wieder in Berlin
und wohnte in den Überresten des Hotel Adlon.[51] Durch
den Intendanten Wolfgang Langhoff, der in Zürich den Eilif gespielt hatte,
fand er Kontakte zum Deutschen Theater, wo auch Paul Dessau ein
Arbeitszimmer hatte.[52] Langhoff bot ihm an, in seinem Haus zu inszenieren,
auch mit einem eigenen Ensemble. Im November 1948 kam Erich Engel nach
Berlin, den Brecht als einen der Gründer des epischen Theaters neben Piscator
schätzte. Engel begann sofort in Zusammenarbeit mit Brecht mit der
Inszenierung der Mutter Courage am Deutschen Theater.[53]

111
Das Ensemble, mit dem Brecht und Engel arbeiteten, setzte sich bis auf
Helene Weigel und Werner Hinz in der Rolle des Feldpredigers oder Paul
Bildt als Koch aus jungen Schauspielern wie Angelika Hurwicz oder Ernst
Kahler zusammen, die ihre Karriere in der NS-Zeit begonnen hatten. Brecht
registrierte bei ihnen eine „merkwürdige aura von harmlosigkeit“, arbeitete
aber ohne Vorbehalte mit ihnen zusammen.[54] Brecht vermittelte dem
Ensemble sein Theaterkonzept nicht durch theoretische Vorträge, sondern in
der praktischen Arbeit.[55]
„Erst in der elften Szene schalte ich für zehn Minuten episches Probieren ein.
Gerda Müller und Dunskus als Bauersleute beschließen, daß sie gegen die
Katholischen nichts tun können. Ich lasse sie jeweils hinzufügen »sagte der
Mann«, »sagte die Frau«. Plötzlich wurde die Szene klar, und die Müller
entdeckte eine realistische Haltung.“[56]
Premiere am Deutschen Theater 1949
Brechts Drama traf das Zeitgefühl der kleinen Leute, die in der Ruinenstadt
Berlin gelernt hatten, dass ihnen der Krieg nichts bringt.
„Als der Wagen der Courage 1949 auf die deutsche Bühne rollte, erklärte das
Stück die immensen Verwüstungen, die der Hitlerkrieg angerichtet hatte. Die
zerlumpten Kleider auf der Bühne glichen den zerlumpten Kleidern im
Zuschauerraum. […] Wer gekommen war, war aus Ruinen gekommen und
ging zurück in Ruinen.“[23]
Mit der sozialen Position und der Kriegserfahrung der Mutter Courage
konnten sich die Zuschauer identifizieren, ihr Handeln und Scheitern ließen
keine Identifikation zu.
„Insofern stellte das Stück ganz neue Anforderungen an das Publikum. Auch
das Bühnenbild polemisierte gegen Sehgewohnheiten, die das Theater im
Faschismus […] kultiviert hatte. Der Wagen der Courage rollte vor dem
weißgetünchten Rundhorizont über die fast leere Bühne. Statt des großen
Vorhangs die flatternde Halbgardine. Ein vom Schnürboden herabgelassenes
Emblem kündigte die Unterbrechung der Handlung durch Lieder an. Doch
das Publikum fühlte sich durch die neue Darstellungsart nicht schockiert,
sondern ergriffen, ging es doch auf der Bühne um sehr elementare Fragen, um
die menschlichen Anstrengungen, die aufgebracht werden müssen, um zu
überleben.“[57]
Vor der öffentlichen Premiere stellte Brecht das Stück in einer geschlossenen
Vorstellung für Gewerkschaften vor. Manfred Wekwerth, damals noch ein
Neuling im Umfeld Brechts, kommentiert Brechts Bemühungen um das
proletarische Publikum so: Noch vor der Premiere „bestand er darauf, eine
Vor-Aufführung vor Fabrikarbeitern zu machen. Die fand, was die wenigsten
wissen, tatsächlich statt. Brecht lag an der Meinung dieser Leute. Er sprach
nach der Aufführung mit ihnen. Die Arbeiter hatten bei der für sie
ungewohnten Aufführung viele Fragen, Kritiken, es gab auch schroffe
Ablehnung und Unverständnis. Brecht beantwortete alles mit großer Geduld.
Darüber gibt es Notizen von ihm ("Gespräch mit einem jungen Zuschauer
1948"). Das war ja das Publikum für das Brecht mit Vorliebe schrieb oder
schreiben wollte.“[58]

112
Am 11. Januar 1949 fand die Premiere statt. Bis dahin war das Interesse an
Brechts Einstieg in die Berliner Theaterszene verhalten und beschränkte sich
auf wenige Theaterkenner.[59] Der grandiose Erfolg des Stückes änderte dies
schlagartig. Wesentlichen Anteil daran hatte Helene Weigel, deren
Darstellung der Mutter Courage Presse und Publikum bejubelten. Der
legendäre Planwagen aus dieser Inszenierung und die Kostüme von Helene
Weigel sind im Brecht-Weigel-Haus in Buckow ausgestellt.
Rezeption und Wirkung
Brechts Stück war von Anfang an heftig umstritten, sowohl im Westen als
auch im Osten. Seine Konzeption entsprach  nicht  der Forderung
des sozialistischen Realismus nach proletarischen Heldenfiguren und
positiven Botschaften. Aber auch im Westen war Brechts
gesellschaftskritische Botschaft nicht wohlgelitten.
Die aus heutiger Sicht abstrakten Diskussionen um ein Theaterstück waren in
der Sowjetischen Besatzungszone in der Stalin-Ära von äußerster Brisanz. Es
ging dabei nicht nur um Aufführungsmöglichkeiten und
Reisegenehmigungen. Eine offizielle Ablehnung der Form hätte für alle
Beteiligten weitgehende persönliche Konsequenzen haben können.
Die Tagespresse der SBZ reagiert zunächst positiv, zum Teil begeistert auf
die Berliner Premiere. Paul Rülla schreibt in der Berliner Zeitung am 13.
Januar 1949, Brechts Drama ziele auf den „Mythos vom deutschen Krieg“,
der den Dreißigjährigen Krieg als Glaubenskrieg idealisiere. [60] Brechts Stück
zeige „die ‚Völker‘ im Mahlstrom eines Krieges der Herrschafts- und
Machtinteressen, an denen, ob Sieg oder Niederlage, der ‚gemeine‘ Mann
keinen Teil hat, keinen Teil als das allgemeine Elend.“[61]
Brechts Drama – so Rülla – sei auch in der Form gelungen, zeige „eine neue
Einfachheit, eine neue Gedrungenheit und Größe“.[62] Er lobt ausdrücklich die
epische Form, „welche klipp und klar die Wahrheit ausdrückt“. [61] Er lobt die
Darsteller und die Geschlossenheit des Ensembles. „Ein Triumph der
Aufführung in ihren wesentlichen Absichten. […] Brechts Arbeit in Berlin
[…] darf keine Episode bleiben.“[63]
Dennoch gab es auch Kritik: Sabine Kebir weist darauf hin, dass einige DDR-
Kritiker die Auffassung vertraten, „dass das Stück den Anforderungen des in
der Sowjetunion herrschenden Sozialistischen Realismus nicht genüge. Sie
bemängelten, dass die Courage zu keiner Erkenntnis komme. Dass Fritz
Erpenbeck, Friedrich Wolf und Alfred Kurella gerade den zentralen Punkt der
Brecht'schen Ästhetik missbilligten – die Botschaft sollte nicht autoritär von
der Bühne kommen –, war kein Zufall. Sie waren aus dem sowjetischen Exil
zurückgekehrt und nahmen den Formalismusstreit der dreißiger Jahre auf
deutschem Boden wieder auf.“[64]
Fritz Erpenbeck greift Brechts Konzept des epischen Theaters in der
„Weltbühne“ 1949 massiv an. Der Erfolg der Courage-Premiere beruhe neben
der schauspielerischen Leistung vor allem auf klassisch dramatischen
Elementen, die das Erzählerische durchbrächen, vor allem in Gestalt des
Dramas zwischen „Spieler und Gegenspieler“, als „Sieg des ‚dramatischen‘
Theaters über das ‚epische‘“, in der Entgegensetzung von Kattrin und
Courage.[65]

113
Hans Wilfert kritisiert in der Neuen Zeit vom 13. Januar 1949 Brechts
stilistisches Zurückbleiben, Mangel an Realismus, „Mangel an farbiger Fülle“
des Bühnenbildes und Fehlen fortschrittlicher Impulse. „Diesen Brechtschen
‚Stil‘ haben wir schon vor 1933 in mancherlei Variationen erprobt, wir
brauchen das Experiment nicht zu wiederholen. Brecht ist bei ihm
stehengeblieben, wir nicht.“[66]

Die Kritik an der Aufführung und an Brechts Theaterkonzept gipfelte in einer


Kontroverse zwischen Fritz Erpenbeck, Kulturfunktionär und Chefredakteur
der ZeitschriftenTheater der Zeit und Theaterdienst 1946 bis 1958 und
Kritiker des brechtschen Theaterkonzepts, und auf der anderen
Seite Wolfgang Harich, der Brecht verteidigte. Erpenbeck und seine
Mitstreiter kritisierten in verschiedenen Zeitschriften Brechts Theaterkonzept
kaum verklausuliert als Zurückbleiben hinter der Entwicklung des
Sozialistischen Realismus. Die Courage stehe für die „Kapitulation vor dem
Kapitalismus“.[67]
Im März 1949 bezog die Sowjetische Militäradministration in
Deutschland SMAD in der offiziellen Täglichen Rundschau Stellung zur
Kontroverse um Brecht. Trotz Vorbehalten gegen Erpenbecks emotionale
Kritik bestätigte die SMAD die Kritiker. Karl-Heinz Ludwig fasst die
Position so zusammen:
„Die Katze war aus dem Sack. Brecht wurde falsche Weltanschauung
vorgeworfen. Aus ihr folge sein falscher Realismusbegriff. Brechts episches
Theater konnte somit nicht als Sozialistischer Realismus gelten. Seine
Bemühungen seien nichts anderes als der Versuch, im 20. Jahrhundert an den
längst überholten Prinzipien eines Goethe, Schiller und Hegel
stehenzubleiben.“[68]
Trotz der Stellungnahme der SMAD setzte sich die Kontroverse fort, etwa in
einer Diskussion zwischen Harich und Erpenbeck auf Einladung der
Hochschulgruppe Berlin im Kulturbund.[69] Eine wirkliche Abwendung von
Brecht folgte nicht. Edgar Hein analysiert: „Die Auseinandersetzung mit
Brecht war allerdings für die SED prekär. Der renommierte Autor war
schließlich ein Prestigegewinn für ihr System. Seine Theaterexperimente
wurden dann trotz aller Vorbehalte nicht nur toleriert, sondern von Staats
wegen gefördert. Bald bekam Brecht sogar sein eigenes Theater […].“[70]
Laut John Fuegi soll Brecht Sympathien bei Wladimir Semjonowitsch
Semjonow, dem politischen Berater der sowjetischen Militäradministration
und späterem Botschafter der UdSSR in der DDR, und damit dessen
Unterstützung genossen haben, der die Courage-Aufführung geschätzt habe.
„Nachdem Semjonow die Aufführung zweimal gesehen hatte, nahm er Brecht
beiseite und sagte: ‚Genosse Brecht, Sie müssen nach allem verlangen, was
sie wollen. Offensichtlich haben Sie sehr wenig Geld.‘“ [71] Fuegi vermutet,
dass dieser Eindruck durch die bewusst sparsame Ausstattung entstanden sei.
Fuegi bewertet die fortgesetzte Kritik Erpenbecks an Brecht als aggressive
politische Attacke. Erpenbecks Unterstellung, Brecht sei auf dem ‚Weg in
eine volksfremde Dekadenz‘, folge dem Stil der Moskauer Schauprozesse.
„Denunziatorische Sprache genau dieser Art war in den dreißiger Jahren in
der Sowjetunion einem Todesurteil gleichgekommen.“ [72] Fuegi hebt den
114
Mut Wolfgang Harichs hervor, sich in dieser Situation voll hinter Brecht zu
stellen.
Auch Eric Bentley, Brechtübersetzer ins Englische und Vertreter Brechts in
den USA, schildert Situationen und Prozesse, die den Druck auf die
Kulturschaffenden in der SBZ und der DDR verdeutlichen. Helene Weigel
habe die ersten Darsteller von Koch und Feldprediger – ohne Paul Bildt und
Werner Hinz namentlich zu nennen – gefragt, warum sie in den Westen
gegangen seien. Einer der Darsteller habe geantwortet, es sei wenig erfreulich
zu beobachten, wie im Osten Leute – manchmal Kollegen – eines Tages
verschwänden und man sie nicht mehr wiedersehe. Die Weigel habe
geantwortet: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ [73] Brecht selbst habe
jedoch, anders als später seine Erben, weiter mit Bentley zusammengearbeitet,
obwohl dieser seine Distanz zum Kommunismus sowjetischer Prägung nicht
verborgen habe.
Bis Juli 1951 wird die Courage als Inszenierung des Deutschen
Theaters aufgeführt, mit der Premiere am 11. September 1951 wechselt das
Stück in einer Neuinszenierung ins Repertoire des Berliner Ensembles.[74]Das
Berliner Ensemble führt es bis zum April 1961 405-mal auf. [75] Am 19. März
1954 bezieht das Berliner Ensemble nach langen Bemühungen ein eigenes
Haus, das Theater am Schiffbauerdamm.
Aber auch im Westen gelingt Brecht der Durchbruch. Gastspielerfolge mit der
Courage-Inszenierung in Paris 1954 und London 1956 verhelfen dem
Ensemble zu internationaler Anerkennung. Der französische
Theoretiker Roland Barthes spricht aufgrund des Gastspiels in Paris von einer
„révolution brechtienne“, von einer ungeheuren Wirkung auf das französische
Theater.
„Das zentrale Anliegen von Mutter Courage ist die radikale Unproduktivität
des Krieges, seine merkantilen Ursachen. Das Problem besteht keineswegs
darin, wieder einmal die intellektuelle oder sentimentale Zustimmung des
Zuschauers zu dieser Binsenweisheit zu erreichen; es besteht nicht darin, ihn
genüßlich in ein romantisch gefärbtes Leiden am Verhängnis zu führen,
sondern, ganz im Gegenteil, darin, dieses Verhängnis aus dem Publikum
heraus auf die Bühne zu tragen, es dort festzumachen und ihm die Distanz
eines aufbereiteten Objekts zu verleihen, um es zu demystifizieren und
endlich dem Publikum auszuliefern. In Mutter Courage ist das Verhängnis
auf der Bühne, die Freiheit im Saal, und die Rolle der Dramaturgie besteht
darin, eines vom anderen zu trennen. Mutter Courage ist in
der Fatalität verhaftet, sie glaubt, der Krieg sei unvermeidlich, für ihr
Geschäft, für ihr Leben notwendig, sie stellt ihn nicht einmal in Frage. Doch
das wird vor und hingestellt und geschieht außerhalb von uns. Und in dem
Moment, in dem uns dieser Abstand geschenkt wird, sehen wir, wissen wir,
daß der Krieg kein Verhängnis ist: Wir wissen es nicht durch eine
Wahrsagerei oder eine Demonstration, sondern durch eine tiefe, körperliche
Evidenz, die aus der Konfrontation des Schauenden mit dem Angeschauten
entsteht und in der die konstitutive Funktion des Theaters liegt.“[76]
Bis heute wird die Mutter Courage international gespielt. 2008 gastierte Claus
Peymann mit dem Stück in Teheran und wurde vom Publikum gefeiert.

115
„Brecht ist im Iran einer der beliebtesten deutschen Schriftsteller. Bei der
Premiere von Peymanns Inszenierung seines Stücks "Mutter Courage und ihre
Kinder" gab es in Teheran minutenlangen Beifall für das Berliner
Ensemble.“[77]
Das Couragemodell von 1949
Nach dem großen Erfolg der Berliner Aufführung lässt Brecht im Frühjahr
1949 ein „Modellbuch“ erstellen, das die Brecht-Engel-Inszenierung zum
verbindlichen Muster für alle weiteren Aufführungen der Mutter Courage
machen soll. Fotos von Ruth Berlau und Hainer Hill dokumentieren sehr
umfangreich jedes Bild bis hin zu darstellerischen Details. Regieanmerkungen
zu den einzelnen Szenen, wahrscheinlich erstellt vom Regieassistenten Heinz
Kuckhahn, mit Korrekturen Brechts vervollständigen das Bild.[78] Im Auftrag
des Suhrkamp Verlages teilt Andreas Wolff den Städtischen Bühnen in
Freiburg im Breisgau am 13. Juli 1949 mit:
„Der Autor hat ganz bestimmte Vorstelllungen von der Inszenierung seiner
Werke und wünscht keine individuelle Interpretation seitens der Regisseure.
Als Musteraufführung gilt die Aufführung im Deutschen Theater Berlin, die
unter Mitarbeit des Dichters entstanden ist. Es befindet sich eine besondere
Regiepartitur in Vorbereitung. Solange diese nicht vorliegt, ist es der Wunsch
von Herrn Brecht, daß Helene Weigel, die Darstellerin der Courage in Berlin,
möglichst zu Beginn der Aufführung an einem Abend gastiert und dabei einen
Begriff von den Absichten vermittelt. Frau Weigel ist auch bereit, an den
letzten Proben teilzunehmen und dabei mitzuarbeiten.“[79]
Bis zum Oktober 1949 erteilt Brecht keine Aufführungsgenehmigung, wie
Werner Hecht anmerkt, aus Misstrauen gegenüber den Regisseuren
Hitlerdeutschlands, eine Aufführung inDortmund, die sich nicht an das
Modell hält, lässt er im Herbst 1949 kurz vor der Premiere verbieten.
[80]
 Brechts Skepsis wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass der
Dortmunder Schauspieldirektor Peter Hoenselelaers war, früher strammer
Nationalsozialist und „Generalintendant“ des Dortmunder Theaters 1937–
1944.[81]
Als erstes Theater inszenieren die Wuppertaler Bühnen die Mutter Courage
nach dem Modellbuch. Der Wuppertaler Intendant Erich-Alexander
Wind erhält im Sommer Fotos und hektografierte Regieanweisungen und die
Empfehlung, sich von Brechts Mitarbeiterin Ruth Berlau instruieren zu
lassen. Schon während der Proben im September 1949 kommt es zu heftiger
Pressekritik an dem Modellverfahren. So titelt etwa die Kritik in
der Rheinischen Post Düsseldorf vom 16. September 1949: „Autor befiehl –
wir folgen! Lebendige Theaterorgane im Dienst der Schablone.“[82] Die
Premiere findet am 1. Oktober statt.[83]
Im Herbst 1950 erprobt Brecht selbst das Modellbuch mit einer Inszenierung
an den Münchner Kammerspielen, deren Intendant 1945 bis 1947 Erich
Engel war. Dabei entwickelt er das Modell weiter und nimmt Änderungen
und Weiterentwicklungen in die Dokumentation auf. Brecht „inszenierte die
‚Courage‘ in München nach seinem Berliner Modell. Er prüfte die Bilder des
Modellbuchs nach, wenn es sich um Gruppierungen und vor allem um
Abstände handelte. Er suchte nach dem Bildhaften und Schönen, jedoch
niemals seinem eigenen Modell sklavisch folgend. Er ließ die neue
116
Aufführung locker entstehen: vielleicht lag da eine neue Lösung; doch die
neue Lösung mußte mindestens auf der Höhe der alten, schon geprobten
Modell-Lösung kommen.“[84] Therese Giehse spielt die Hauptrolle, Premiere
ist am 8. Oktober 1950.
Teile des Couragemodells werden 1952 in einem Sammelband zur Arbeit des
Berliner Ensembles in der DDR veröffentlicht. [85] Der Teil zum
Couragemodell wird in der Folgezeit, ergänzt um eine Fotosammlung, an
Theater verschickt, die eine Aufführung planen. Etwa seit 1954 rückt Brecht
von der Modellverpflichtung ab, verpflichtet lediglich noch die aufführenden
Theater zum Ankauf des Materials.[86] Mit Ruth Berlau und Peter Palitzsch
erarbeitet Brecht 1955/56 eine Fassung des Modellbuchs für die Publikation
im Henschelverlag. Er wählt Fotos und Notate zu den Aufführungen aus und
überarbeitet sie. Das Buch erscheint erst postum 1958.[87]
Von drei Kindern Bertolt Brechts hat 2010 Barbara Brecht-Schall die Rechte
an Brechts Nachlass, ihre Geschwister sind verstorben. Die Welt schreibt:
„Nach eigenem Bekunden liegt ihr an der Werktreue und Einhaltung der
Tendenz der Stücke, Einfluss auf die künstlerische Gestaltung der
Inszenierungen nimmt sie nicht.“[88] Andere Medien sehen dies kritischer:
Wenn Brecht-Schall auf Inszenierungen Einfluss nahm, regte sich heftiger
Protest gegen den Einfluss der Brecht-Erbin. „Helene Weigel wurde von der
virtuellen Brecht-Gesamtfamilie als Leittier anerkannt und respektiert. Gegen
die Inszenierungsvorgaben des Meisters und der großen Witwe muckte keiner
auf. Brecht-Sohn Stefan, der von New York aus den angelsächsischen Markt
betreut, war außen vor. Als aber Barbara die Heimatfront übernahm, begann
das Kesseltreiben.“[89]Bereits 1971 drängte die SED-Parteileitung sie dazu, die
von ihr verwahrten Manuskripte herauszugeben und dem Staat zu übereignen.
Sie hatte Mut und verweigerte das.[90] Aber auch im Westen gab es einigen
Druck auf die Brecht-Tochter: „Barbara Schall wurde als "Dreigroschenerbin"
vor allem von Linksintellektuellen in den Schmutz gezogen. 1981 rief ZEIT-
Kritiker Benjamin Henrichs "Enterbt die Erben" und konnte gleich die
Theatermacher Peymann, Flimm und Steckel zitieren, die das gleiche wollten,
und alles natürlich, wie schon Kurt Hager, im Interesse des "Volkes".“ [91] Erst
2026, 70 Jahre nach Brechts Tod, verfallen die Rechte an den Stücken.
Kalter Krieg – Boykott und Blockadebrecheraufführung im Wiener
Volkstheater
Im Kalten Krieg wurden Brechts Stücke zwischen 1953 und 1963 in Wien auf
Initiative der Theaterkritiker Hans Weigel und Friedrich Torberg sowie
des BurgtheaterdirektorsErnst Haeussermann als kommunistische
Propaganda boykottiert. Eine Aufführung von Brechts Mutter Courage
im Opernhaus Graz am 30. Mai 1958 wurde zum Anlass für eine Publikation
von dreizehn Brecht-Kritikern unter dem Titel „Soll man Brecht im Westen
spielen?“
Am Ende des über zehnjährigen Brecht-Boykotts in Wien führte das Wiener
Volkstheater das Stück in einer „Blockadebrecher“-Premiere am 23. Februar
1963 unter der Regie von Gustav Manker mit Dorothea Neff (die für ihre
Darstellung mit der Kainz-Medaille ausgezeichnet wurde) in der
Titelrolle, Fritz Muliar als Koch, Ulrich Wildgruber als Schweizerkas, Ernst
Meister als Feldprediger, Hilde Sochor als Yvette und Kurt Sowinetz als

117
Werber auf.[92] Die Aufführung war zuvor mehrfach verschoben worden,
zuletzt wegen des Mauerbaus in Berlin.[93]
Auch in der Bundesrepublik kam es im Kalten Krieg mehrfach zum Boykott
von Brechtstücken an Theatern. Stephan Buchloh nennt drei politische
Anlässe, die dazu führten, dass Theater ohne staatlichen Zwang Brechtstücke
absetzten oder vom Spielplan nahmen: „nach dem vom Militär
niedergeworfenen Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953, nach der
Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch sowjetische Truppen im
Herbst 1956 und nach dem Mauerbau am 13. August 1961.“ [94] Von den
wenigen Maßnahmen staatlicher Stellen gegen Brechtaufführungen war in
einem Fall die Mutter Courage betroffen. „Am 10. Januar 1962 verbot der
Oberbürgermeister von Baden-Baden, Ernst Schlapper (CDU), eine
Aufführung dieses Werkes von Bertolt Brecht. Das Baden-Badener Theater
hatte das Stück unter der Regie von Eberhard Johows ursprünglich am 28.
Januar des Jahres herausbringen wollen.“[95]
Dabei ging die Dienstanweisung formell nicht vom Amt des
Oberbürgermeister aus, sondern von der Bäder- und Kurverwaltung, die das
Theater betrieb, und der der Oberbürgermeister vorstand. Für die CDU
begründete Stadträtin von Glasenapp im Gemeinderat das Verbot mit der
Solidaritätsadresse Brechts an die SED und Walter Ulbricht nach dem 17.
Juni 1953. Dabei wurde ausdrücklich bestritten, dass es um die künstlerische
Qualität des Dramas gehe.[96] Ein Bundesverfassungsrichter und mehrere in
Baden-Baden lebende Schriftsteller protestierten gegen das Verbot. Das
Städtische Theater Straßburg sowie die Theater in Colmar und Mülhausen
luden daraufhin die Baden-Badener ein, die Courage als Gastspiel dort zu
inszenieren, worauf Schlapper sein Verbot am 1. Februar 1962 entsprechend
erweiterte. Am 5. Februar nahm Schlapper das Verbot für Gastspiele im
Ausland zurück, sodass am 20. März die Premiere in Straßburg stattfinden
konnte.[97] Später durfte die Courage auch in Baden-Baden gezeigt werden,
nachdem der Suhrkampverlag mit Regressforderungen wegen Vertragsbruch
für die vereinbarte Aufführung gedroht hatte.

Inhaltsangabe (2)
Das Drama »Mutter Courage und ihre Kinder« wurde von Bertolt Brecht 1939 verfasst und
zwei Jahre später in Zürich uraufgeführt. Es spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im
heutigen Schweden, Polen und in Deutschland. Begleitet wird die Figur der Anna Fierling,
Mutter Courage genannt, die als Händlerin mit wechselnden Heerestruppen durch die Lande
zieht. Der Krieg dient ihr als Einkommensquelle, fordert jedoch letzten Endes das Leben ihrer
drei Kinder. Kernthemen aus anderen Werken Brechts aufgreifend, stellt das aus zwölf
Szenen bestehende Drama die Frage nach Moral und Menschlichkeit in Zeiten großer Not.

1. S Z EN E
Das Stück beginnt im Jahre 1624. Ein Werber beschwert sich bei einem Feldwebel, wie
schwer es heutzutage sei, Soldaten zu finden. Sie sind sich einig, dass zu lange Frieden

118
geherrscht habe und es in der Bevölkerung deshalb an Ordnung und der Bereitschaft zur
Disziplin mangele.

Mutter Courage und ihre drei Kinder ziehen mit ihrem Planwagen heran. Die zwei Söhne, der
kluge Eilif und der redliche Schweizerkas, sowie die stumme Tochter Kattrin werden
vorgestellt. Der Werber ist besonders an Eilif interessiert. Mutter Courage ist jedoch
strengstens dagegen, dass ihre Söhne Soldaten werden und sagt dem Feldwebel und ihren
Kindern den Tod voraus. Als sie jedoch von dem Feldwebel in geschäftliche Verhandlungen
verwickelt wird, zieht der Werber mit Eilif davon.

2. S Z EN E
Zwei Jahre später, in denen sie durch Polen gezogen ist, streitet sich Mutter Courage mit dem
Militärkoch Lamb über den Verkauf eines Masthahns. Da erscheint ihr Sohn Eilif, den sie seit
seinem Eintritt in die Armee nicht mehr zu Gesicht bekommen hat. Er wird von einem
Feldhauptmann überschwänglich für seine Kühnheit und Gerissenheit gelobt. Als er seine
Mutter bemerkt, umarmt er sie. Sie rügt ihn für seinen Wagemut, der ihm fast das Leben
gekostet hätte.

3. S Z EN E
Im Jahre 1629 sind Mutter Courage, Kattrin und Schweizerkas mit dem finnischen Regiment
unterwegs. Der Koch und ein Feldprediger treffen ein. Man unterhält sich über den Krieg und
der Feldprediger stellt die These auf, in diesem Glaubenskrieg zu fallen, sei eine Gnade; der
Koch ist anderer Meinung.

Das Feldlager wird von katholischen Truppen überfallen, woraufhin der Koch flieht. Nach
dreitägiger Gefangenschaft in dem Lager trifft Kattrin auf zwei katholische Spitzel. Unfähig,
Schweizerkas zu warnen, muss sie miterleben, wie dieser beim Versuch, die ihm anvertraute
Regimentskasse in Sicherheit zu bringen, von ihnen gefasst wird. Ihr Bruder wird fortgebracht
und soll hingerichtet werden. Mutter Courage schickt die Hure Yvette, um über dessen
Freilassung zu verhandeln, doch zögert zu lange über den Preis. Ihr Sohn stirbt.

4. S Z EN E
Mutter Courage singt einem aufgebrachten jungen Soldaten das »Lied der Kapitulation«.

5. S Z EN E
1631, nach dem Sieg der Katholiken in Madgeburg, weigert sich Mutter Courage, Leinen aus
ihrem Händlerwagen zur Behandlung von Verletzten zur Verfügung zu stellen. Kattrin rettet
einen Säugling aus einem zerbombten Haus.

119
6. S Z EN E
Im Jahr 1632 findet vor Ingolstadt das Begräbnis des katholischen Heeresführers Tilly statt.
Mutter Courage ist besorgt, der Krieg könne nun bald zu Ende sein. Der Feldprediger
versichert ihr, der Krieg fände immer einen Weg. Nachdem Kattrin zum Einkaufen in die
Stadt geschickt wurde, macht der Feldprediger der Mutter Courage Avancen, die sie ablehnt.
Kattrin kommt mit einer Wunde auf der Stirn zurück, sie wurde auf dem Heimweg überfallen.
Mutter Courage verflucht den Krieg.

7. S Z EN E
Mutter Courage besingt den Krieg als Geschäftsquelle.

8. S Z EN E
Als der schwedische König Gustav Adolf 1632 ebenfalls stirbt wird der Frieden ausgerufen.
Mutter Courage ist entsetzt, da ihr Geschäft ruiniert ist, freut sich aber darauf, ihren Sohn Eilif
wiederzusehen. Der Koch Lamb tritt wieder auf. Er und der Feldprediger geraten aneinander.
Yvette erscheint und erkennt in dem Koch einen ehemaligen Liebhaber, welcher sie ins
Unglück gestürzt hat. In Abwesenheit von Anna Fierling wird dann Eilif herangeführt. Er soll
hingerichtet werden, weil er ein Bauernhaus plündern wollte. Er fleht, er habe doch nur das
getan, was er auch im Krieg getan habe. Eilif wird fortgebracht, seiner Mutter wird nichts von
seinem Schicksal berichtet.

Es stellt sich heraus, dass der Frieden wieder beendet ist. Mutter und Tochter ziehen erneut
mit ihrem Planwagen los, der Koch begleitet sie.

9. S Z EN E
Zwei Jahre später in ziehen die drei durchs Fichtelgebirge. Vor einem Pfarrhaus bleiben sie
stehen. Der Koch erzählt Mutter Courage von seinem Plan nach Utrecht zu gehen, wo ihm
seine verstorbene Mutter ein Wirtshaus hinterlassen hat. Mutter Courage ist das Händlerleben
leid und möchte ihn begleiten. Als sie erfährt, dass er ihre Tochter Kattrin zurücklassen
möchte, nimmt sie die Entscheidung jedoch zurück. Die Tochter versucht sich darauf hin
davonzustehlen, wird jedoch von ihrer Mutter aufgehalten. Sie ziehen daraufhin wieder zu
zweit umher.

10. S Z EN E
Mutter und Tochter lauschen einem Lied, welches aus einem Bauernhaus ertönt. Es handelt
vom Glück, ein Dach über dem Kopf zu haben.

120
11. S Z EN E
Vor der evangelischen Stadt Halle überfallen katholische Soldaten ein Bauernhaus, in
welchem Mutter Courage und Kattrin Quartier aufgeschlagen haben. Sie zwingen den
Bauernsohn, ihnen den Weg in die Stadt zu weisen. Als Kattrin, deren Mutter in der Stadt ist,
erfährt, dass dort auch unschuldige Kinder in Gefahr sind, klettert sie aufs Dach. Sie beginnt
laut eine Trommel zu schlagen, um die schlafende Stadt zu warnen. Die Soldaten kehren
zurück und bedrohen Kattrin, sie wird schließlich erschossen. Kurz danach hört man, dass in
der Stadt die Glocken läuten.

12. S Z EN E
In der letzten Szene verabschiedet sich Mutter Courage von ihrer toten Tochter und zieht mit
ihrem Wagen weiter.

121
ÖDÖN VON HORVÁTH

GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD

Geschichten aus dem Wiener Wald ist das bekannteste Theaterstück des österreichisch-
ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth (1901–1938). Es wurde 1931
in Berlin uraufgeführt und mehrfach verfilmt. Noch vor der Uraufführung erhielt Horváth auf
Vorschlag Carl Zuckmayers 1931 für das Stück den Kleist-Preis. Der Titel ist eine Anlehnung
an den Walzer Geschichten aus dem Wienerwald von Johann Strauss (Sohn).
Horváths Stück, geschrieben Ende der 1920er Jahre in der Zeit katastrophaler Arbeitslosigkeit
und der Weltwirtschaftskrise, ist ein Schlüsselwerk des modernen Dramas und wurde
von Erich Kästner „ein Wiener Volksstück  gegen das Wiener Volksstück“ genannt. Knapp
und lakonisch demaskiert Horváth das Klischee von der „Wiener Gemütlichkeit“ und stellt
unter Verwendung ihrer bekannten Klischees auf grausame Weise deren Verlogenheit zur
Schau.

Inhalt
Marianne, das „süße Wiener Mädel“, läuft ihrer Verlobung mit dem
biederen Fleischhauer Oskar davon, der sein Geschäft neben der Puppenklinik ihres Vaters
imachten Bezirk in Wien hat. Sie bekommt ein Kind von Alfred, der ein Schuft
und Hallodri ist, und sie werden todunglücklich im Wiener achtzehnten Bezirk. Alfred gibt
das Kind zu seiner Großmutter, die mit Alfreds Mutter in der schönen frischen Luft
der Wachau an der Donau wohnt.
Die Trafikantin Valerie, die ihr Geschäft ebenfalls in der Straße der Puppenklinik hat, hat
ihren ehemaligen Geliebten Alfred an die junge Marianne verloren und tröstet sich nun mit
dem deutschen Jurastudenten Erich, mit dem sich das Deutschland Adolf Hitlers so grotesk
wie energisch ankündigt. Ihm gegenüber steht der Rittmeister, eine Stellvertreterfigur des
alten Österreich-Ungarn.
In Not und Elend vollzieht Marianne einen sozialen Abstieg, der sie zuletzt über Vermittlung
von Alfreds Kumpan Hierlinger und einer Baronin „mit Verbindungen“ als erotische Tänzerin
in ein Halbwelt-Varieté führt. Der Zauberkönig, der hartherzige Vater Mariannes, muss sein
verstoßenes Kind im Nachtlokal „Maxim“ als nackte allegorische Figur bei „lebenden
Bildern“ wiedererkennen. „Der Mister“, ein aus Amerika heimgekehrter Wiener mit
heurigenseliger, verkitschter Heimatliebe, der mit Geld nur so um sich wirft, versucht
Marianne als Prostituierte zu kaufen, was sie ablehnt. Die Abweisung macht den "Mister"
wütend, er sorgt dafür, dass sie ins Gefängnis kommt, da sie ihn angeblich bestehlen wollte.
Marianne wird schließlich doch noch vom Fleischhauer Oskar geheiratet, weil das störende
Kind gestorben ist, nachdem Alfreds Großmutter den Jungen absichtlich kaltem Wetter
ausgesetzt hat, in der Hoffnung dass er eine tödliche Lungenentzündung bekommt. Während

122
Marianne von Oskar geküsst wird, spielt die Großmutter ungerührt auf ihrer Zither
„Geschichten aus dem Wienerwald“ von Johann Strauss.
Nicht die Wendung zum Guten wird am Ende markiert, sondern die Fortsetzung trostloser
Brutalitäten besiegelt.

Schauplatz und Zeit


Das Stück spielt in Wien, im Wienerwald und in der Wachau in Niederösterreich. Zentraler
Handlungsort ist eine „stille Straße“ im 8. Wiener Bezirk, in der sich eineFleischhauerei,
eine Puppenklinik und eine Tabak-Trafik befinden. Das Stück spielt „in unseren Tagen“.
Das Haus in der Langen Gasse 29 im 8. Bezirk in Wien unweit des Theaters in der
Josefstadt diente Horváth als Vorbild für diese Straße (in Horváths Anmerkungen wird
ergänzt: „Der Originalschauplatz ist die Lange Gasse“), der Balkon des Zauberkönigs ist dort
immer noch zu sehen. Horváth selbst wohnte 1919 in einer Parallelstraße, der Piaristengasse,
zwischen 1920 und 1931 aber auch mehrfach in der Pension Zipser, Lange Gasse 49.
Erster Teil

 Draußen in der Wachau. Vor einem Häuschen am Fuße einer Burgruine.


 Stille Straße im achten Bezirk. Von links nach rechts: Oskars gediegene
Fleischhauerei mit halben Rindern und Kälbern, Würsten, Schinken und Schweinsköpfen
in der Auslage. Daneben eine Puppenklinik mit Firmenschild „Zum Zauberkönig“ – mit
Scherzartikeln, Totenköpfen, Puppen, Spielwaren, Raketen, Zinnsoldaten und einem
Skelett im Fenster. Endlich: eine kleine Tabak-Trafik mit Zeitungen, Zeitschriften und
Ansichtspostkarten vor der Tür. Über der Puppenklinik befindet sich ein Balkon mit
Blumen, der zur Privatwohnung des Zauberkönigs gehört.
 Am nächsten Sonntag im Wiener Wald. Auf einer Lichtung am Ufer der schönen
blauen Donau.
 An der schönen blauen Donau. Nun ist die Sonne untergegangen, es dämmert bereits.

Zweiter Teil

 Wieder in der stillen Straße im achten Bezirk, vor Oskars Fleischhauerei, der
Puppenklinik und Frau Valeries Tabak-Trafik.
 Möbliertes Zimmer im achtzehnten Bezirk. Äußerst preiswert. Um sieben Uhr
morgens. Der Tag ist grau, und das Licht trüb.
 Kleines Café im zweiten Bezirk
 Bei der Baronin mit den internationalen Verbindungen
 Draußen in der Wachau. Auch hier scheint die Sonne wie dazumal – nur dass nun vor
dem Häuschen ein alter Kinderwagen steht.
 Und wieder in der stillen Straße im achten Bezirk. Es ist bereits am späten
Nachmittag.
 Im Stephansdom. Vor dem Seitenaltar des heiligen Antonius.
123
Dritter Teil

 Beim Heurigen. Mit Schrammelmusik und Blütenregen.


 Maxim, mit einer Bar und Séparées; im Hintergrund eine Kabarettbühne mit breiter
Rampe.
 Draußen in der Wachau.
 Und abermals in der stillen Straße im achten Bezirk.
 Draußen in der Wachau.

Form und Stil


Wiener Volksstück
Alfred Polgar bezeichnete die Geschichten aus dem Wiener Wald als „ein Volksstück und die
Parodie dazu“. Horváth demontierte die doppelbödige „Wiener Gemütlichkeit“, hinter deren
Fassade sich Exzesse der Gemeinheit und Bösartigkeit abspielen, und demaskierte
die Kleinbürgermentalität und deren Fassade als trügerische Idylle:
Er übernahm die aus Filmen, Operetten und Dramen bekannten pensionierten
Rittmeister, die süßen Mädel, die nichtsnutzigen Hallodri, die familiensüchtigen
Kleinbürger; er übernahm den Plüsch, aber er klopfte ihn aus, dass die Motten
aufflogen und die zerfressenen Stellen sichtbar wurden. Er zeigte die Vorder- und die
Kehrseite der überkommenen Wiener Welt. Er ließ diese Leute ihre Lieder singen,
ihren plauschenden Dialekt sprechen, ihre Heurigenlokale trunken durchwandern und
zeigte darüber hinaus die Faulheit, die Bosheit, die verlogene Frömmigkeit, die
Giftigkeit und die Borniertheit, die hinter und in jenen marktgängigen Eigenschaften
stecken. Er zerstörte nicht nur das überkommene Wiener Figuren-Panoptikum, er
gestaltete ein neues, echteres außerdem.(Erich Kästner, Neue Leipziger Zeitung,
November 1931)
Das Stück steht, wie auch Horváths andere Volksstücke Die
Bergbahn (1926), Italienische Nacht (1930), Glaube, Liebe, Hoffnung (1932),
oder Kasimir und Karoline (1932), in der Tradition des Alt-Wiener Volkstheaters,
insbesondere in der Nachfolge der sprachgewaltigen Stücke von Johann Nestroy.
(Horváth meinte: „Man müsste ein Nestroy sein, um all das definieren zu können, was
einem undefiniert im Wege steht!“.) Horváth hat den Begriff des Volksstücks verschärft
und abgewandelt. Tragikomische Elemente und sprachliche Karikatur der Charaktere
kamen hinzu und wurden zu Sozialkritik und für die Charakterisierung des
aufkommenden Faschismus genutzt.
„Ich gebrauchte diese Bezeichnung ‚Volksstück‘ nicht willkürlich, d. h. nicht einfach
deshalb, weil meine Stücke mehr oder minder bayerisch oder österreichisch betonte
Dialektstücke sind, sondern weil mir so etwas Ähnliches wie die Fortsetzung des alten
Volksstückes vorschwebte. Des alten Volksstückes, das für uns junge Menschen mehr
oder minder natürlich auch nur noch einen historischen Wert bedeutet, denn die

124
Gestalten dieser Volksstücke, also die Träger der Handlung haben sich doch in den
letzten zwei Jahrzehnten ganz unglaublich verändert. – Sie werden mir nun vielleicht
entgegenhalten, dass die sogenannten ewig-menschlichen Probleme des guten alten
Volksstückes auch heute noch die Menschen bewegen. – Gewiss bewegen sie sie –
aber anders. Es gibt eine ganze Anzahl ewig-menschlicher Probleme, über die unsere
Großeltern geweint haben und über die wir heute lachen – oder umgekehrt. Will man
also das alte Volksstück heute fortsetzen, so wird man natürlich heutige Menschen aus
dem Volke – und zwar aus den maßgebenden, für unsere Zeit bezeichnenden Schichten
des Volkes auf die Bühne bringen. Also: zu einem heutigen Volksstück gehören
heutige Menschen, und mit dieser FeststeIlung gelangt man zu einem interessanten
Resultat: Will man als Autor wahrhaft gestalten, so muss man der völligen Zersetzung
der Dialekte durch den Bildungsjargon Rechnung tragen. (…) Mit vollem Bewusstsein
zerstörte ich das alte Volksstück, formal und ethisch, und versuchte als dramatischer
Chronist die neue Form des Volksstücks zu finden.“ (Rundfunkinterview Horváths am
6. April 1932 im Bayerischen Rundfunk)

Sprache und Dialekt


Horváths Figuren versuchen sich in einer oft künstlich wirkenden Sprache über ihren
Stand hinaus zu profilieren. Sie verwenden in einem Bildungsjargon Zitate und
Angelesenes, um sich einen Anspruch zu geben, der ihre Unkenntnis, ja Dummheit
verbergen soll. Die Figuren haben etwas beängstigend Animalisches, sie fürchten sich
wie die Tiere, beißen, um nicht selbst gebissen zu werden, und zerstören in blinder
Verzweiflung, ohne die Konsequenzen auch nur begreifen zu können. Horváth hat
diesen Prozess der Sprachlosigkeit in den Mittelpunkt vieler seiner Arbeiten gestellt.
Seine Figuren bestehen aus Alltagsmenschen, kleinen, oft gescheiterten Existenzen,
Vertretern eines degradierten Mittelstandes, Kleinbürgern und Proletariern. Armselige
Kreaturen, die sich nur in unreflektiert ausgeborgter Sprache darstellen können.
„Die Figuren kommen nicht zu Wort, nur zu Wörtern. Die Rede ist Ausrede. Die
Phrase drischt den, der sie zu dreschen meint.“ (Dieter Hildebrandt, „Der Jargon der
Uneigentlichkeit“, 1971).
Es ist die Katastrophe zwischen dem, was die Figuren sagen, und dem, was sie
meinen, zwischen dem, was sie meinen müssen, weil sie dazu erzogen sind, und
dem, was sie letztlich zu meinen nicht in der Lage sind (Kurt Kahl). Ihre
Sprachlosigkeit wird nicht durch wirkliches Schweigen dargestellt, sondern durch
Ersatzhandlungen, durch Floskeln, Meditieren in Schablonen, Sprichwörtern,
Höflichkeits- und Unwohligkeitsformeln und in der Phrase als „Sprechen aus
zweiter Hand“. Hilflos philosophiert Marianne: „Über uns webt das Schicksal
Knoten in unser Leben.“
„Nun besteht aber Deutschland wie alle übrigen europäischen Staaten zu neunzig
Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern. (…) Es hat sich nun durch

125
das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet, nämlich
durch den Bildungsjargon. Um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu
können, muss ich also den Bildungsjargon sprechen lassen. Der Bildungsjargon (und
seine Ursachen) fordert aber natürlich zur Kritik heraus – und so entsteht der Dialog
des neuen Volksstücks, und damit der Mensch und damit erst die dramatische
Handlung – eine Synthese aus Ernst und Ironie.“
Horváth weist im Stück auch besonders auf die Pausen im Dialog hin, die er
mit „Stille“ bezeichnet, denn „hier kämpfen das Bewusstsein oder
Unterbewusstsein miteinander, und das muss sichtbar werden“.
„Es darf kein Wort Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muss hochdeutsch
gesprochen werden, allerdings so, wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich
nun zwingt, hochdeutsch zu reden.“ (Ödön von Horváth: „Gebrauchsanweisung“,
1932)

Musik
Der Titel des Stücks ist dem Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“
op. 325 von Johann Strauss (Sohn) entnommen, allerdings in geringfügig
anderer Schreibweise. Nach einer Dudelsackeinleitung und
einem Flötenmotiv, das die Vogelstimmen imitieren soll, verwendet
Strauss signifikant die Zither als Soloinstrument, jenes Instrument, das die
Großmutter im Stück vor ihrem Häuschen in der Wachau spielt und mit
dem Marianne sie am Schluss umzubringen versucht. (Melodiebeispiel
siehe Weblinks) Der Walzer kommt im Stück mehrmals vor.
Zu Beginn des Stückes heißt es „In der Luft ist ein Klingen und Singen –
als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer ‚Geschichten aus dem
Wiener Wald‘ von Johann Strauß.“ In der stillen Straße „spielt jemand
mehrmals auf einem ausgeleierten Klavier die ‚Geschichten aus dem
Wiener Wald‘ von Johann Strauß“. Am Schluss des Stückes, als Oskar
Marianne gleichsam als „Beute“ davonführt, zitiert Horváth: Er stützt sie,
gibt ihr einen Kuss auf den Mund, und langsam ab mit ihr – und in der
Luft ist ein Klingen und Singen, als spielte ein himmlisches
Streichorchester die ‚Geschichten aus dem Wiener Wald‘ von Johann
Strauß.
Die Musik spielt im Stück, dessen Titel sich
nach Dreivierteltakt und Heurigenseligkeit anhört, überhaupt eine
wichtige Rolle. Immer wieder „lauschen“ die Figuren der Musik oder
summen sie leise mit. Vor allem der Wiener Walzer wirkt wie ein Mittel
der Vernebelung, wie ein schwindelhaftes Versprechen auf Glück.
Dadurch erhält das Stück manchmal eine fast kitschige Note. Dadurch
wird aber auch deutlich, dass es diese gemütliche Wiener Welt in
126
Wirklichkeit gar nicht gibt: In Wirklichkeit spielt sich eine Tragödie nach
der anderen ab. Der Alltag wird von Verlogenheit, gespielter Höflichkeit
und Scheinheiligkeit bestimmt.
In der Szenenanweisung zum Bild „An der schönen blauen Donau“ (dem
Originaltitel des „Donauwalzers“), das die familiäre Katastrophe auslöst,
taucht zu Beginn der Szene ebenfalls ein lieblicher Strauss-Walzer
auf: Nun ist die Sonne untergegangen, es dämmert bereits, und in der
Ferne spielt der lieben Tante ihr Reisegrammophon den
‚Frühlingsstimmen-Walzer’ von Johann Strauß.
Im Nachtlokal „Maxim“ wird ebenfalls Wiener Musik gespielt, zuerst der
Walzer ‚Wiener Blut‘ von Johann Strauss (während einige Mädchen in
Alt-Wiener Trachten auf der Bühne Walzer tanzen), dann der Hoch und
Deutschmeistermarsch von Wilhelm August Jurek, dann spielt die
Kapelle ‚An der schönen blauen Donau‘ („unterdessen der Zauberkönig
die Jungfräulichkeit der Dame im grünen Kleidl an der Bar kontrolliert“),
gefolgt von ‚Fridericus rex‘. Am Ende dieser Darbietung stimmt das
Publikum die erste Strophe des ‚Deutschlandliedes‘ an. Dann
erklingt Schumanns ‚Träumerei‘, während Marianne nackt auf einer
goldenen Kugel posiert, „einbeinig, das Glück darstellend“. Ihr Vater
entdeckt sie dabei – und bekommt einen Herzanfall.
Die Szene beim Heurigen, dem Vorspiel zur Familientragödie im Maxim,
wird von Schrammelmusik und Blütenregen begleitet.
Die Schrammelmusik ist neben dem Wiener Walzer das zweite Synonym
für Wiener Gemütlichkeit und Harmonie.
Der Schauplatz „Draußen in der Wachau“ ist dem gleichnamigen Lied
von Ernst Arnold entnommen, ein berühmter Boston Waltz aus dem Jahr
1920, dessen Text wie eine Beschreibung der Figur der Marianne
wirkt: „Da draußen in der Wachau, die Donau fließt so blau, steht
einsam ein Winzerhaus, da schaut ein Mädel heraus, hat Lippen rot wie
Blut und küssen kann’s so gut, die Augen sind veilchenblau – vom Mädel
in der Wachau!“ (siehe Weblinks). Marianne singt dieses Lied bei ihrem
Vorstellungsgespräch in der Wohnung der Baronin „mit den
internationalen Verbindungen“, die sie in die Prostitution treibt. Auch
beim Heurigen wird dieses Lied von allen gesungen.

Die Dummheit als Gefühl der Unendlichkeit


Dem Stück vorangestellt ist der Satz „Nichts gibt so sehr das Gefühl der
Unendlichkeit als wie die Dummheit.“ Schon in der – grammatikalisch
falschen – Schreibweise weist Horváth auf die unbewusste Gedankenwelt

127
und Sprachambition seiner Figuren hin. Die Demaskierung des
Bewusstseins und der dieser Demaskierung vorausgehende Kampf
zwischen Bewusstsein und Unbewusstem war für Horváth das
Grundmotiv aller seiner Stücke.
„Wie in allen meinen Stücken versuche ich möglichst rücksichtslos gegen Dummheit
und Lüge zu sein, denn diese Rücksichtslosigkeit dürfte wohl die vornehmste Aufgabe
eines schöngeistigen Schriftstellers darstellen, der es sich manchmal einbildet, nur
deshalb zu schreiben, damit die Leute sich selbst erkennen. Erkenne dich bitte
selbst!“ (Randbemerkungen zu „Glaube, Liebe, Hoffnung“, 1932)
Die Dummheit ist für Horváth das Instrument des Bewusstseins, mit
dessen Hilfe es sich allen Kalamitäten, unbequemen Konflikten,
harten Selbsterkenntnisprozessen zu entziehen versucht und das
Gefühl der Unendlichkeit, das heißt der euphorischen
Selbstbetätigung, Macht, Freiheit und ungetrübten Gewissheit, im
Recht zu sein, sich erschleicht. Dummheit ist willentliche Ignoranz,
bewusstes Ignorieren von Fakten. Wo Dummheit und der Unwille,
das eigene Hirn zu benutzen, auf eine desolate Umwelt treffen,
entwickelt sich das Klima für kollektive Bosheit, für
Menschenvernichtung, Rassismus und andere Spielarten pervertierten
Massenverhaltens, an dem doch jeder für seine Person beteiligt ist.
Horváth entlarvt die Dummheit, die sich in Wien oft als „charmante
Niedertracht“ manifestiert. Die Personen des Stückes
sind Kleinbürger und Spießer, die in der Zeit der
großen Wirtschaftskrise und Verarmung, die dem Ersten
Weltkrieg folgte, ein Wählerpotenzial
der Nationalsozialisten bildeten. Was sie zusammenhält, ist
die „Eintracht auf der Basis boshafter Geringschätzung“ (Alfred
Polgar). Horváth zeichnet ein Bild des kleinbürgerlichen Lebens in
der österreichischen Zwischenkriegszeit, der Zeit des
anbrechenden Nationalsozialismus. Die Menschen verstecken sich
hinter einer Fassade, leben in einer „heilen Welt“, die sich allerdings
nur als Scheinwelt entpuppt, und wollen die Realität nicht sehen.
„Ich schreibe nicht gegen, ich zeige es nur… Ich schreibe allerdings auch nie für
jemand, und es besteht die Möglichkeit, dass es dann gleich ,gegen’ wirkt. Ich habe
nur zwei Dinge, gegen die ich schreibe, das ist die Dummheit und die Lüge. Und zwei,
wofür ich eintrete, das ist die Vernunft und die Aufrichtigkeit.“
Horváths Blick war erbarmungslos, weil er die Menschen
demaskierte, weil er sie in ihrer Einfalt zeigte, in ihrer Härte und
Grausamkeit, in ihrem Bemühen, anderen weh zu tun, nicht aus

128
Gemeinheit, sondern aus Dummheit. Grundelemente der
Handlung sind „misslingende menschliche Kommunikation,
verfehltes Leben, gegenseitiger Hass, latente Gewalt, trügerische
Idylle und Fassadenmoral, Zweifel an der Existenz Gottes“ (Theo
Buck).
Inhaltsangabe (2)

Erster Teil:

I. Alfred ist bei seiner Mutter in der Wachau. Sie hören Geschichten aus dem Wiener
Wald von Johann Strauß und in der Nähe fließt die schöne blaue Donau. Alfreds Freund der
Hierlinger Ferdinand und eine Dame mittleren Alters namens Valerie , seine Freundin, sollen
bald kommen, um ihn wieder abzuholen. Valerie beschuldigt Alfred, dass er ihr Geld
schuldet. Widerwillig gibt er ihr die 27 Schilling. Auch die Großmutter will ihr Geld von
Alfred zurück, doch sie erhält es nicht gleich wieder.
II. Im 8. Bezirk hört man ebenfalls das Stück Geschichten aus dem Wiener Wald. Oskar steht
vor seiner Fleischhauerei und unterhält sich mit dem Rittmeister und Valerie. Marianne
verkauft einer Dame in der Puppenklinik Zinnsoldaten und tritt dann ebenfalls vor die Tür.
Danach kommt auch der Zauberkönig hinzu, der verzweifelt seine Sockenhalter sucht. Oskar
erinnert Marianne, dass am Sonntag die offizielle Verlobung stattfinden wird und dass bereits
zu Weihnachten geheiratete werden soll. Etwas später, als Marianne gerade in der Auslage
ihres Geschäftes steht und ein Skelett arrangiert, geht Alfred an ihr vorbei, bleibt stehen und
betrachtet sie. Marianne erblickt ihn und ist sofort fasziniert von ihm. In dem Moment kommt
plötzlich Valerie. Sie redet einige Zeit mit Alfred und sie entschließen sich ihre Beziehung zu
beenden.
III. IV. Am nächsten Sonntag im Wienerwald wollen sich der Zauberkönig, Marianne, Oskar,
Valerie, Alfred und einige entfernte Verwandte, darunter auch Erich aus Kassel, einen
schönen Tag an der lieblichen Donau machen. Alfred und Marianne kommen ins Gespräch
und sie erzählt ihm von ihrer Beziehung zu Oskar. Schon acht Jahre sind sie zusammen, aber
wirklich verliebt sei sie nicht.

Dann ergreift der Zauberkönig das Wort und will die Verlobung zwischen Oskar und
Marianne verkünden. Alle Anwesenden jubeln, außer Alfred und Marianne. Alfred küsst
lange ihre Hand, ohne zu wissen, dass Oskar sie beobachtet. Später beim Schwimmen in der
Donau treffen Alfred und Marianne wieder aufeinander. Diesmal sind sie alleine. Alfred nützt
die Gelegenheit und küsst sie lange auf den Mund. Marianne ist sofort hin und weg und fragt
ihn auch gleich, ob er sie liebt. Plötzlich taucht der Zauberkönig auf. Er ist entsetzt. Kurz
darauf tritt Oskar dazu. Marianne gibt Oskar den Verlobungsring zurück und weigert sich ihn
zu heiraten. Sie will bei Alfred bleiben.

Zweiter Teil:

I. II. Während Oskar im 8. Bezirk noch immer an seine Marianne denken muss, wohnt sie in
der Zwischenzeit mit Alfred in einem Zimmer im 18. Bezirk. Ein Jahr ist in mittlerweile
vergangen und sie haben bereits ein Kind. Alfred versucht auf Marianne einzureden, da er das
Kind loswerden will. Er meint, dass es bei seiner Mutter in der Wachau besser aufgehoben
sei, doch Marianne will davon nichts hören und erinnert ihn statt dessen, dass sie ihn genau
vor einem Jahr das erste Mal in der Auslage gesehen hat.

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III. In einem kleinem Café im 2. Bezirk treffen sich Alfred und der Hierlinger Ferdinand.
Alfred klagt

bei seinem Freund über sein Leid, für welches seine Frau und sein Kind verantwortlich sind.
Mittlerweile hat er das Kind schon an die Mutter in der Wachau abgeschoben, doch für
Marianne will er auch noch eine Beschäftigung finden. Da sie Interesse an der rhythmischen
Gymnastik hat, meint der Hierlinger Ferdinand, dass er ihr eine Arbeit als Tänzerin in einem
eleganten Etablissement besorgen könnte.

IV. Der Hierlinger Ferdinand und Marianne sind auf Besuch bei der Baronin, die die
Inhaberin des Etablissements ist. Nach einem kurzen Gespräch ist sie bereits eingestellt.

V. Alfred ist bei seiner Mutter in der Wachau auf Besuch. Die Großmutter will schon wieder
Geld

von ihm zurückhaben, doch sie bekommt es nicht. Sie ist wütend und beschimpft ihn. Sie will
ihn außerdem bestechen, indem sie ihm Geld verspricht, wenn er sich von der Marianne
trennt. Sie will, dass er einfach nach Frankreich fährt und gibt ihm dafür Geld.

VI. Alfred geht durch die Straßen des 8. Bezirkes und stößt plötzlich auf Valerie. Sie ist
anfangs misstrauisch, erzählt ihm aber trotzdem von ihrer Beziehung zu Erich und erkundigt
sich auch nach seinem und Mariannes Befinden. Er erzählt ihr, dass es zwischen ihnen aus
sei. Er habe vier Wochen in Frankreich verbracht und sie aus den Augen verloren. Nachdem
Alfred wieder weg ist bemerkt Valerie Oskar, der das Gespräch belauscht hat. Er erzählt ihr,
dass er noch immer bereit wäre, Marianne zu heiraten, wenn sie das Kind nicht hätte.

VII. Marianne ist im Stephansdom um dort zu beichten. Doch auch der Beichtvater
beschuldigt sie nur. Zwar bereut Mariannes vieles, was sie getan hat, aber sie bereut nicht,
dass sie ein Kind empfangen hat.

Dritter Teil:

I. Der Zauberkönig, Vale rie und Erich sitzen im Heurigen. Sie singen und sind lustig. Doch
plötzlich fangen Rittmeister, der hinzugekommen war, und Erich zu streiten an. Erich ist sehr
wütend und verlässt den Heurigen. Valerie entscheidet sich danach die Beziehung zu ihm zu
beenden. Rittmeister hat plötzlich die Idee ins Maxim zu gehen und alle sind begeistert. Auf
der Bühne tanzen nackte Mädchen zu Träumerei von Schumann. Auf einer goldenen Kugel
steht das Glück auf einem Bein. Das Glück ist ebenfalls eine unbekleidete Frau und heißt
Marianne. Als Valerie sie sieht fängt sie zu schreien an und Marianne erschrickt und fällt von
der Kugel. Der Zauberkönig sieht seine Tochter und greift sich auf sein Herz. Rittmeister
erklärt, dass er unbedingt ins Maxim wollte, damit der Zauberkönig seine Marianne erkennt
und sich mit ihr versöhnt, doch das geschieht nicht. Der Zauberkönig erniedrigt seine Tochter.
Als Marianne die Gelegenheit nützt und einem Mister hundert Schilling stiehlt, hat der
Zauberkönig einen Schlaganfall.
II. Alfred sitzt bei seiner Großmutter draußen in der Wachau. Sie beschimpft ihn wieder
einmal, weil er ihr beichtet nie nach Frankreich gefahren zu sein. Sie meint, dass auch er,
genauso wie Marianne, bald im Zuchthaus enden wird. Alfred macht sich wieder auf den
Heimweg und die Mutter setzt sich zur Großmutter. Sie macht sich Sorgen um den kleinen
Bub, der stark hustet und rote Backerl hat. Sie beschuldigt die Großmutter ihn in der Nacht
ans offene Fenster gelegt zu haben, doch die Großmutter sagt, sie habe geträumt.
III. Rittmeister und Valerie unterhalten sich vor dem Geschäft. Valerie erzählt ihm, dass

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Marianne sie besucht hat. Plötzlich treten Oskar und Alfred aus der Fleischhauerei. Sie
verstehen sich sehr gut. Alfred will sich mit Valerie versöhnen, doch die weiß nicht einmal
wieso. Plötzlich kommt auch noch Marianne dazu. Sie erzählt vom Zuchthause und wie sie
dort erniedrigt worden ist. Valerie gelingt es Marianne zu überreden in die Puppenklinik zu
gehen, um sich mit ihrem Vater zu versöhnen.
IV. In der Wachau streiten sich die Mutter und die Großmutter, wobei die Mutter die
Großmutter am Tode des kleinen Leopolds beschuldigt, der an einer Erkältung gestorben ist.
Als die Mutter gerade einen Brief an Marianne schreiben will, um ihr die traurige Nachricht
mitzuteilen, kommen der Zauberkönig, Oskar, Valerie, Alfred und Marianne. Der
Zauberkönig will seinen Enkel sehen. Während Alfred beteuert, wie traurig er ist, versucht
Oskar Marianne zu trösten.

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