Die Corona-Pandemie und die Perspektiven der Transformation » Drucken 22.06.20, 19)58
Die schnelle Verbreitung des Corona Virus und die Vielzahl der dadurch verursachten
Todesfälle legen es nahe, die Situation im Lichte drastischer Begriffe zu reflektieren. Dass es
schlimm wird, wird seit Wochen in der Berichterstattung und in den Talkshows betont, von
Notstand und Ausnahmezustand ist die Rede, von einer Krise von Sicherheit und Ordnung. Die
Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann spricht von einem Krieg, den es zu gewinnen
gelte. Auch Präsident Macron bedient sich militärischer Begrifflichkeit: „Der Feind ist da und er
ist unsichtbar. Aber wir werden den Krieg gewinnen.“ Und der Bewerber um das Amt des
demokratischen Präsidentschaftskandidaten, Joe Biden, fordert, den Virus wie eine feindliche
Attacke zu betrachten, Militär müsse eingesetzt werden, das Volk wie in Kriegszeiten
zusammenstehen. Militärhilfe wird angeboten, Sanitätstruppen werden mobilisiert,
Militärlazarette aufgebaut, Soldaten sollen zivile Lastwagenfahrer ersetzen. Krieg bedeutet,
dass letzte Entscheidungen über Leben und Tod das politische Geschehen bestimmen. Kritik
und kontroverse Willensbildung werden außer Kraft gesetzt und einige Wenige profitieren
davon.
Ausgehend von China hat sich das Virus auf viele Länder verbreitet. Die Europäische Union ist
unterdessen zu einer Schwerpunktregion geworden. Die Behörden folgen hier einer anderen
Strategie, als in China oder Südkorea, um den Virus zu bekämpfen. Schnelle Maßnahmen
können, so legen historische Erfahrungen nahe, die Verbreitung, die Schwere der
Erkrankungen und die Zahl der Todesfälle deutlich verringern. Anfangs haben die betroffenen
EU-Mitgliedstaaten eher gezögert, tief in das gesellschaftliche Leben einzugreifen, dann
wurden die Alarmstufen hochgesetzt und umfangreiche Maßnahmen ergriffen. Es erwartet
niemand, dass damit die Rate der Neuinfektionen sogleich sinkt. Es geht um eine
Verlangsamung, darum, die Kurve abzuflachen, Zeit zu gewinnen. Dies gilt als notwendig,
damit den Betroffenen in den Krankenhäusern geholfen werden kann, es also genügend
Betten auf Isolierstationen, medizinisches Personal, Beatmungsgeräte oder andere
medizinische Hilfsmittel gibt. Das ist keineswegs sichergestellt. Es rächt sich der neoliberale
Umbau des Gesundheitssystems, die Ausrichtung der Krankenhäuser an Profit und lukrativen
medizinischen Schwerpunkten sowie der Abbau von Personal und dessen ständige
Überlastung. Die Beispiele Spaniens, wo sich ein Drittel der Krankenhausbetten für die
Schönheitschirurgie vorgehalten werden, der USA oder Italiens zeigen es. In den USA gibt es
bislang nur geringe und zu teure Test-Möglichkeiten und in der norditalienischen Stadt
Bergamo müssen die Ärzte angesichts knapper Ressourcen die Triage praktizieren, also
schwierigste ethische Entscheidungen darüber treffen, wen sie sterben lassen und wem sie
noch helfen können. Auch an anderer Stelle entstehen ethische Konflikte. So wollte
Deutschland den Export großer Lieferungen von Schutzmasken oder Beatmungsgeräten
verhindern. Trump, der wochenlang das US-amerikanische Gesundheitssystem gelobt hat und
glaubte, die USA würden von der Pandemie unberührt bleiben, verhängte überraschend den
nationalen Notstand und ließ die Grenzen schließen, um den „chinesischen Virus“ abzuwehren.
Gemeldet wurde, dass er sich, ebenso wie chinesische Unternehmen, bemüht, Einfluss auf
deutsche Firmen zu erlangen, die an Impfstoffen forschen. Das sind Zuspitzungen von
Lösungsversuchen, die nicht transnational, sondern erstaunlicherweise nationalstaatlich
ausgerichtet sind: also Grenzschließungen für Reisende, die nun festsitzen, Quarantäne für
diejenigen, die aus dem Ausland kommen. Die Politik ist durchaus gespalten. Die einen
(Trump, Salvini) konnten eine Weile noch nahelegen, dass der eigene Staat gleichsam nur von
außen infiziert wird, und lassen dabei die realen Verflechtungsverhältnisse außer Betracht. Es
wird das identitäre Bild einer auto-immunen nationalen Gemeinschaft, eines gesunden
Staatskörpers aufgerufen. Deswegen sollen die Landesgrenzen radikal geschlossen, der
öffentliche Verkehr eingestellt werden. Andere, wie Gesundheitsminister Spahn, der
fälschlicherweise behauptet hat, es seien genügend Krankenhausbetten vorhanden, plädieren
für staatsübergreifende, europäische Lösungen: etwa ein europäisches Robert-Koch-Institut.
Dennoch werden in der EU die Maßnahmen jeweils einzelstaatlich verfolgt und unterscheiden
sich auch entsprechend. Zurecht weist Mike Davis [1] darauf hin, dass es einer globalen
Gesundheitsinfrastruktur bedürfte.
Das Arsenal staatlicher und gesundheitspolitischer Instrumente, das zur Bekämpfung des
Coronavirus aufgeboten wird, ist beachtlich und durchdringt alle Bereiche des sozialen Lebens:
Hygieneempfehlungen, Schließung der Kindergärten, Schulen und Hochschulen, der Grenzen
für Ausländer, Aussetzung von Großveranstaltungen, Schließung von Clubs, Restaurants,
Museen, der Aufruf, die öffentlichen Verkehrsmittel weniger zu nutzen, berufliche Tätigkeiten
soweit wie möglich von zuhause zu erledigen. Die ‚Schwarze Null‘, noch vor wenigen Wochen
eine heilige Kuh, gilt nicht mehr. An die Menschen wird appelliert, sich aus Solidarität mit den
anderen einzuschränken und ihre sozialen Kontakte zu mindern. Es gehe darum, durch das
eigene Verhalten zu vermeiden, dass das Virus verbreitet wird.
Rationale Panik?
Auch in der Gesellschaft besteht verständlicherweise der Wunsch nach Normalität, die
Pandemie erscheint so unwirklich. Als gefährdet galten erst einmal andere: ärmere Länder,
Ältere, Individuen mit Vorerkrankungen. Erst langsam ergreift das Wissen um die Folgen des
Virus das Bewusstsein der Einzelnen. Es geht um Vorstellungen und Erwartungen: Soll man
annehmen, dass es nicht so schlimm kommt oder jedenfalls nicht schlimmer als im Fall einer
Grippe? Interessanterweise wird der Hinweis auf die Grippetoten eher dazu verwendet, die
Coronavirus bedingte Infektion herunterzuspielen – nicht jedoch dazu, sich zu fragen, warum
diese Infektionstoten hingenommen werden, eine so tödliche Normalität akzeptabel ist. Soll
man also verharmlosen, um Panik zu vermeiden? Ist also einfach mit einer Gesamtzahl von
vielleicht 20.000 oder mehr Toten zu rechnen, zumal von Älteren, die für die langfristige
Aufrechterhaltung der Wirtschaft nicht mehr dringend erforderlich sind? Oder ist es notwendig,
schnell, umfassend und entschieden zu handeln? Wäre also Panik eine durchaus rationale
Reaktion, die Menschen zu schnellem Handeln drängt? Dabei gilt es dann, auch die Folgen zu
bedenken: Die Panikkäufe und daraus resultierenden Versorgungsengpässe; die Zunahme an
familiärer Gewalt, wenn Menschen vermehrt in ihren Wohnungen bleiben; die Zunahme an
Verkehrstoten und Verletzten (die nicht versorgt werden können), wenn Menschen sich
häufiger in Autos bewegen. Der Schutz zielt auf den Körper. Die psychischen Folgen einer
wochen- und monatelangen Quarantäne, die Depressionen und die Zunahme von Freitoden
werden wenig (oder allenfalls für Kinder) bedacht. Was man tut, könnte also falsch sein: hier
irrationale, panikfördernde Stimmungen und Verhaltensweisen, dort ins Irrationale gleitende
Vorsichts- und Kontrollmaßnahmen. Entsprechend naheliegend ist es, die Entwicklung einer
umfassenden Versicherheitlichung und der Formierung eines medizinisch-hygienischen-
polizeilichen Kontrollapparats zu befürchten. Die gegenwärtige Krise könnte strukturbildend
werden für den zukünftigen Aufbau oder weiteren Ausbau von umfassenden
Kontrollmechanismen.
Italien sowie die Zahl der Todesfälle sprechen gegen Agambens Deutung. Auch die Praktiken
der Menschen legen eine andere Einstellung nahe: nämlich die der Vorsicht – die Angst ist
nicht nur Ergebnis herrschender Politik. Offensichtlich teilen viele die Orientierung, dass es
jetzt sinnvoll ist, erst einmal den Empfehlungen zu einem gewissen Maß an (Selbst-)Isolierung
und Distanz zu folgen, um sich und andere zu schützen. Es könnte sich hier erneut die liberale
Dialektik von Freiheit und Sicherheit entfalten: für die Sicherheit des politischen Körpers wird
die Freiheit geopfert. Allerdings gibt es in dem gemeinsam hergestellten Wunsch nach Schutz
selbst das Moment der Freiheit. Die Materialität des Virus stellt eine Objektivität her, vor der
sich die rechte Propaganda mit ihren Tricks der Fake-Produktion blamiert. Die linke
Herrschaftskritik steht vor einer biopolitischen Herausforderung der Kritik. Denn die
Materialität des Virus sollte nicht geleugnet werden, auch wenn es das berechtigte Misstrauen
in die Praktiken der Macht und des herrschenden Wissens geben sollte. Es ist ein Unglück,
dass die Menschen jetzt in dieser Krise Politiker*innen und Wirtschaftsakteur*innen vertrauen
müssen, die Krise zu lösen, obwohl diese doch viel zu ihrer Entstehung beigetragen haben und
so weitgehend partikularistische Interessen vertreten. An die zentralen kapitalistischen
Institutionen rühren sie so wenig wie in den Kriegen: das Eigentum über die
Produktionsmittel, die Börsen, die Banken. Zwar werden die Produktion und der Konsum stark
eingeschränkt, aber das Geld bleibt weiterhin das „reale Gemeinwesen“ (Marx): gezahlt
werden muss. Macron, der jetzt vom Krieg gegen einen Virus redet, ist derjenige, der Krieg
gegen die eigene Bevölkerung führt, indem er Menschen, die gegen seine von Blackrock
konzipierte Rentenreform protestieren, polizeilich verstümmeln lässt; Spahn setzt eine Politik
im Gesundheitsbereich fort, die sich am Gewinn von Krankenhausunternehmen,
medizintechnologischer Industrie oder privaten Versicherungen orientiert. Zwar kann man sich
auf eine solche Pandemie kaum je angemessen vorbereiten, aber dass es
überlebensnotwendig ist, auf eine Abflachung der Kurve zu setzen, ist auch Ergebnis der
Kürzungen im Krankenhausbereich. Es sind diese Politiker*innen, die Menschen an den
Grenzen zur EU zu Tausenden verrotten lassen; die demokratische Antifaschist*innen mit
rechten Totschlägern gleichsetzen, die von Selbstquarantäne sprechen, denen aber die
Phantasie fehlt, dass es viele Menschen gibt, denen der Wohnraum fehlt oder die einfachsten
Gegebenheiten, um sich zu schützen. Zurecht treten Arbeiter*innen in Streiks zur
Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und ihres Schutzes, fordern Beschäftigte in den
Krankenhäusern, dass ihre riskante Arbeitssituation und ihre Sorgen um sich und ihre
Angehörigen ernst genommen werden: durch Gefahrenzulagen, Kinderbetreuung, bessere
Krisenvorsorge, Ausbau des Personalbestands und vor allem ausreichend angemessene
Schutzkleidung.
Weniger Biomacht…
Es liegt nahe, sich auf Michel Foucaults Begriff der biopolitischen Macht zu beziehen, denn es
geht um Lebens-Macht. Die klassische Souveränitätsmacht nimmt für sich in Anspruch, sich im
Fall eines Angriffs zu verteidigen. Es wird ein Krieg geführt. Dieser gewährt dem Souverän das
Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, „sterben zu machen und leben zu lassen“, wie
Foucault (1977, 165) es formuliert. So wie es aussieht, versucht Donald Trump diese Form der
Macht zu praktizieren. Die Disziplinarmacht wiederum zielt auf den individuellen Körper, auf
eine rigide Disziplin und Überwachung seiner Bewegungen. Das ist das Modell, das in China
praktiziert wurde. Demgegenüber zeichnet sich die biopolitische Macht dadurch aus, dass sie
eine Lebensmacht ist. Diese neue Macht verfügt darüber, „leben zu machen oder in den Tod zu
stoßen“ (ebd.). Dem Tod wird ausgewichen, er soll vermieden werden, er rückt an eine
Grenze, weil er sich der Macht entzieht. Foucault vertieft diesen Gedanken zur Biopolitik in
einer Vorlesung zur Frage der Sicherheit und zum Sicherheitsdispositiv (2004).
Charakteristisch für die Biomacht ist, dass sie keine Norm ist, die sich gegen die Praktiken der
Individuen wendet und auf diese erzieherisch einwirkt, vielmehr beansprucht sie, sich flexibel
im Medium der Wirklichkeit selbst zu entfalten. Sie will nicht mehr, wie andere Formen der
Macht, das Unheil einer Hungersnot, einer Epidemie oder eines Überangebots an Waren
abwenden. Eine derartige Gestaltung des sozialen Zusammenlebens wäre nicht nur
unrealistisch, sondern würde auch eine erhebliche Rigidität mit sich bringen. Vielmehr besteht
die Originalität der Biomacht darin, dass sie mit solchen großen Vorkommnissen rechnet und
versucht, sie kalkulierbar zu machen, indem sie Durchschnitte und Normalitätskoeffizienten
errechnet. Dafür schafft sie mit der „Bevölkerung“ einen eigenen Gegenstand, der die
Grundlage von Wahrscheinlichkeits- und Risikokalkulationen sein kann, also Geburten- oder
Sterblichkeitsraten, Rate der Unfalltoten, der Invalidität oder der von epidemischen
Krankheiten Betroffenen. Die Macht stützt sich auf bestimmte Normalitätsannahmen und
Normalitätskurven. Erwartet werden auf der Grundlage solcher flexiblen
Normalitätsunterstellungen prognostizierbare Abweichungen, so dass es möglich wird,
einzugreifen – aber nicht, um die Vorkommnisse auszuschließen und zu verhindern, sondern
um die Abweichungen durch geeignete Maßnahmen wieder der Normalitätskurve anzunähern.
Die Macht versucht, sich durch die Kontrolle statistischer Regelmäßigkeiten und jeweils neuer
Krisen zu erneuern.
ausgelegt sind, greift nicht mehr: eine bestimmte Anzahl von Erkrankungen (Herz und
Kreislauf, Diabetes) und Operationen (Knie, Hüfte) bei konkret identifizierbaren
Bevölkerungsgruppen. Das Coronavirus soll zwar erst einmal besondere Risikogruppen treffen:
solche mit Vorerkrankungen oder ab einem bestimmten Alter. Aber es zeichnet sich ab, dass
im Prinzip alle betroffen sein können. Den Machtanalysen Foucaults folgend handelt es sich
nicht allein um Biopolitik. Diese wird vielmehr mit Maßnahmen der Ausschließungs- und
Internierungsmacht und der Disziplinarmacht kombiniert: neu erbaute Krankenhäuser,
Isolierstationen, Selbst-Quarantäne, Distanz und Trennung voneinander in Wohnungen,
Häusern, Stadtquartieren. Wie es scheint, steuert die Weltgesellschaft auf eine komplexe
Mischung von Machttechniken zu, die sich mit digitalisierten Kontrollmechanismen
verschränken.
Mit Foucaults Begriffen lässt sich die Wucht und die Macht der Rationalisierung begreifen, die
ein Krankheitserreger in den gesellschaftlichen Prozessen auslöst, also die machtvolle
Übersetzung virologischer und epidemiologischer Erkenntnis in alltägliches und politisches
Handeln. Gleichwohl wird eine oft kritisierte Schwäche der Analysen von Michel Foucault
offensichtlich, auf die auch Sotiris [6] hingewiesen hat. Foucault stellt keine Überlegungen und
Begriffe zur Verfügung, um zu analysieren und zu beurteilen, wieweit die Maßnahmen gegen
die Verbreitung der Krankheit selbst rational sind und was in einer machtkritischen Perspektive
zu tun wäre.
Die Krise, die das Coronavirus ausgelöst hat, ist nun die vierte Denormalisierungskrise in
kurzer Aufeinanderfolge. Dabei habe ich als erstes die Finanzkrise von 2008 vor Augen, die
von Politikern und Ökonomen für völlig unwahrscheinlich gehalten wurde. Sie schenkten den
Risikokalkulationsmodellen der Banken- und Versicherungsindustrie Glauben. Angeblich konnte
aufgrund der globalen Risikoverteilung eine solche Krise wie die von 2008 gar nicht auftreten.
Die zweite Denormalisierung stellen die Flucht- und Migrationsbewegungen dar, die auf dem
Mittelmeer und an den südeuropäischen Grenzen zu vielen Verletzten und Toten, zu nackten
Leben ohne jede Absicherung und Perspektive führen, die aber immer wieder aus dem Alltag
Europas ausgeblendet werden, obwohl sie vielfach auch eine Folge des Handelns der
kapitalistischen Zentren in Europa darstellen. Eine weitere Denormalisierung liegt in der
Entwicklung des Klimas. Immer weiter wird versucht, Stürme, Starkregen und
Überschwemmungen, Trockenheit, Wald- und Buschbrände zu normalisieren und als
Vorkommnisse darzustellen, die den Normalitätskurven entsprechen. Radikales Handeln wäre
zwar geboten, denn die Emissionen von klimaschädlichen Spurengasen stellen eine vermutlich
deutlich größere Gefahr für das Leben der Menschheit dar als die aktuelle Gefährdung durch
das Virus. Die gegenwärtigen Strategien zur Bewältigung der Pandemie lassen erahnen, wie
überfordert staatliche Institutionen und privatwirtschaftliche Unternehmen sein werden. Die
notwendigen Eingriffe, die mit Blick auf die ökologischen Entwicklungen erfolgen müssten,
wären jedoch folgenreich für die kapitalistischen Reproduktionsmuster. Deswegen wird der
Anschein von Aktivität erzeugt, dem wenig relevantes Handeln entspricht. Da die Ursachen der
Infektionen Krankheitserreger sind, die sich bilden, weil die kapitalistische
Akkumulationsdynamik den Stoffwechsel mit der Natur stört,[2] [7] spricht einiges dafür, dass
dieser Pandemie weitere folgen werden; und es wird die Frage sein, wie viele solche „Kriege“
und „Ausnahmezustände“, die wochen- und monatelang anhalten, eine demokratische
Gesellschaft bewältigen kann. Es wird deswegen eine grundlegende grenztheoretische Frage
gestellt werden müssen. Kann die Bewältigung zukünftiger Krisen denen überlassen werden,
die nach der Krise sofort zur Normalität der Macht der Kapitalakkumulation und der Kontrolle
über den „Wiederaufbau“ übergehen werden? Denen, die die Krise für ihre Gewinninteressen
ausnutzen werden? Muss nicht die Freiheit und Autonomie der Vielen gegen die Marktfreiheit
der Wenigen verteidigt werden? Die Pandemien bringen Infizierte, Kranke und Tote mit sich.
Entscheidungen werden getroffen mit der Annahme, deren Zahlen klein zu halten. Dafür
werden erhebliche Einschränkungen, Maßnahmen, Kontrollen und der Aufbau neuer
Machtapparaturen hingenommen. Aber die Gesellschaften werden vor der Frage stehen, ob sie
nicht größere Opfer vermeiden können, wenn sie für ihre Freiheit einstehen und ihre
Verhältnisse reorganisieren. Eine bittere Alternative, die deswegen im Raum steht, weil einige
Wenige herrschen und sich den gesellschaftlichen Reichtum aneignen.
nachhaltiger und suffizienter ökonomischer Kreisläufe gesagt wurde, wird bestätigt. Vieles,
was wir konsumieren, oder die Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, ist nicht (in diesem
Umfang) notwendig. Die Entfaltung der Produktivkräfte erlaubte schon längst
Produktionsverhältnisse, unter denen die Naturvernutzung und die Störung der
Stoffwechselkreisläufe verringert werden könnte, neue Formen der Wohlfahrt zu entwickeln
und Natur und Menschen zu schonen, zu erhalten oder wiederherzustellen. Die jetzige
Situation wäre eine Gelegenheit, die Produktions- und Konsummuster kritisch zu überprüfen,
der demokratischen Revision zu unterwerfen und Kreisläufe umzubauen.
In der aktuellen Krise ist Solidarität notwendig, und die Menschen zeigen sie in der
Selbstorganisation in Stadtteilen, in der Nachbarschaftshilfe, in Streiks um Absicherung bei
Arbeitslosigkeit, um Löhne, um Schutz am Arbeitsplatz (in den USA, Spanien, Italien,
Frankreich), in einfallsreichen digitalen Aktivitäten in einem unerwarteten Ausmaß. Es könnte
sein, dass die Medien und die herrschende Politik diese Solidarität – wie schon einmal nach
dem Sommer der Migration, in dem so viele für die Unterstützung der Geflüchteten eintraten –
versuchen werden zu zerstören. Es gilt also, für diese solidarischen Praktiken einzutreten:
Dazu können die nachbarschaftliche Unterstützung gehören, und die selbstorganisierte
Kinderbetreuung, neue Bildungs- und Diskussionsformate, die schnelle Ausbildung von
medizinischem Notpersonal mit langfristiger Beschäftigungsperspektive, die Umstellung der
Produktion, die Aussetzung des Börsenhandels, der die wirtschaftlichen Prozesse völlig
verzerrt wiedergibt und droht, ganze Wirtschaften in den Bankrott zu ziehen, die öffentliche
Unterstützung von Arbeitslosen, Unternehmen oder Selbständigen, ohne dass Banken daraus
Vorteile ziehen können, im gegebenen Fall ein Moratorium bei Zahlungsverpflichtungen (wie
Mieten, Rechnungen im Einzelhandel), ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein progressiver
Solidaritätszuschlag für Reiche und Superreiche (und damit einhergehend eine
Kapitalverkehrskontrolle) und eine Neuausrichtung der Politik der EZB.
Vor allem wird es darum gehen, die sich jetzt abzeichnenden Veränderungen in der sozialen
Organisation in den Blick zu nehmen. Der Weg aus der Krise wird für die Zukunft selbst
wichtig werden. Autoritäre Strategien und Institutionalisierungen, einmal geschaffen, könnten
sich hinter dem Rücken der Beteiligten oder mit der vollen Absicht mächtiger Akteure
beharrlich behaupten. Dabei handelt es sich um Entwicklungen, die der Öffentlichkeit
entgehen könnten, da ihre Aufmerksamkeit gerade abgelenkt ist.
Aber die gegenwärtige Entwicklung schafft auch unerwartete Perspektiven für die Forderung
nach Transformation. Nachdem das Niveau so vieler gesellschaftlicher Prozesse derart
abgesenkt wurde, bietet sich die Möglichkeit, für eine gesellschaftliche Produktions- und
Konsumweise einzutreten, die sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet, die auf ihrer
vollen Beteiligung und Entscheidungskompetenz beruht, die krisenvermeidend und -resistent
ist und die nicht befürchten lassen muss, dass sie solche Interessen stärkt, die Krisen zum
Literatur
Foucault, Michel, 1977: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt/M
Anmerkungen
[1] [9] René Schlott: Virusbekämpfung und die sozialen Folgen, in: Süddeutsche Zeitung,
17.3.2020; vgl. taz vom 18.3.2020.
[2] [10] Zur Ursache von Pandemien der vergangenen Jahrzehnte s. Sonia Shah: Woher
kommt das Coronavirus?, in: Le Monde diplomatique, März 2020.