1
liege.1
Wie
dabei
historisch
nicht
nur
der
Rassenbegriff
eine
Rolle
spielte,
sondern
auch
andere
Formen
rassistischer
Diskriminierung
eingesetzt
wurden,
lässt
sich
am
Rassismus
während
der
Kolonisierung
Irlands
besonders
deutlich
demonstrieren.
Dass
rassistische
Diskriminierung
im
kolonialen
Kontext
unterschiedlichste
Formen
annahm,
zeigt
auch
der
Rassismus
bei
der
Kolonisierung
der
Amerikas.
In
ihrem
Verlauf
wurden
zahlreiche
traditionelle
Modi
rassistischer
Ausgrenzung
benutzt
und
schließlich
mit
dem
neu
entwickelten
Rassedenken
kombiniert.
Es
geht
daher,
wie
mittlerweile
oft
vermerkt
worden
ist,
immer
um
die
Analyse
von
‚Rassismen’.
Aber
die
Betonung
des
Plurals
bleibt
bloße
postmoderne
Attitüde,
wenn
sie
lediglich
dazu
dient,
begriffliche
Anstrengungen
zu
umgehen,
sich
einer
vergleichenden
Analyse
zu
entheben,
qualitative
Differenzen
zu
verdecken
und
auf
die
Benennung
von
Gemeinsamkeiten
zu
verzichten.
Das
gilt
ebenfalls
für
das
Beispiel
Deutschland.
Rassismus
im
deutschen
Kolonialismus
verdeutlicht,
dass
das
Thema
transnational
ist
und
auch
in
seinen
modernen
Varianten
aus
internationaler
Perspektive
verstanden
werden
muss.
Er
zeigt
weiter,
dass
das
Verhältnis
von
Rassismus
und
Kolonialismus
nicht
auf
die
Moderne
begrenzt
werden
kann
–
schon
weil
die
Akteure
dieser
Zeit
weit
zurückreichende
Kontinuitäten
konstruierten.
Er
verweist
zudem
auf
die
Dialektik
des
Rassismus,
der
sich
sowohl
historisch
als
auch
im
modernen
kolonialen
Kontext
gegen
Teile
der
‚weißen’
Rasse
richtete
und
dabei
zusätzlich
mit
vergleichbar
ausgerichteten
Rassismen
verband.
1
Allen, Theodore W.: The Invention of the White Race, Bd. 1: Social Oppression and Social
Control, London 1994, S. 32; vgl. Hund, Wulf D.: Rassismus, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.):
Enzyklopädie Philosophie, 2. erw. Aufl., 3 Bde., Hamburg 2010, Bd. 3, S. 2191-2200.
2
Außerdem
findet
sich
in
diesem
Kontext
jene
neue
Form
des
Rassismus,
die
sich
nach
dessen
Benennung
und
Problematisierung
herausgebildet
hat:
(Post)Kolonialer
Rassismus
aus
Erinnerungsabwehr.
Er
setzt
darauf,
koloniales
Unrecht
herunterzuspielen,
langwährende
Auswirkungen
des
Kolonialismus
zu
bestreiten
und
die
Bevölkerung
der
ehemaligen
Kolonien
für
gegenwärtige
Probleme
allein
verantwortlich
zu
machen.
Zudem
trachtet
er
danach,
postkoloniale
Kritik
als
Flucht
vor
der
eigenen
Verantwortung
zu
delegitimieren
und
wirtschaftliche
wie
politische
Probleme
zur
Folge
vormoderner
Einstellungen
und
Handlungen
zu
erklären.
‚Barbarische
Wilde’
und
‚weiße
Schimpansen’.
Rassismus
während
der
Kolonisierung
Irlands
Auch
Allen
hat
sich
zumindest
semantisch
am
rückwärtsgerichteten
Transfer
des
Rassenbegriffs
beteiligt.
Er
zitiert
die
Remonstranz
der
Iren
an
den
Papst,
in
der
sie
umfangreiche
Klage
gegen
die
Engländer
führten,
die
eine
„extermination
of
our
race”
betreiben
würden.
Sein
Vorgehen
unterscheidet
sich
hier
nicht
von
Ausführungen
einer
Autorin,
der
zwar
klar
ist,
dass
‚Rasse’
im
mittelalterlichen
Vokabular
nicht
vorkommt,
die
aber
trotzdem
von
einer
„medieval
kind
of
racialization”
spricht.2
Die
belegt
sie
unter
anderem
mit
einem
Zitat
aus
dem
Bericht
über
den
ersten
Kreuzzug
von
Robert
dem
Mönch.
Sie
benutzt
dazu
eine
Übersetzung
vom
Ende
des
19.
Jahrhunderts,
in
der
über
„a
race
from
the
kingdom
of
the
Persian,
an
accursed
race,
a
race
utterly
alienated
from
God”
berichtet
wird.
In
der
einschlägigen
2
Arjana, Sophia Rose: Muslims in the Western Imagination, Oxford 2015, S. 28; das
vorangegangene Zitat findet sich bei Allen, Theodore W.: The Invention of the White Race, S.
34.
3
neueren
Übertragung
ist
dagegen
von
„the
race
of
Persians,
a
foreign
people
and
a
people
rejected
by
God”
die
Rede.
In
der
Quelle
selbst
gibt
es
überhaupt
keine
Rassen,
sondern
„gens
regni
Persarum,
gens
extranea,
gens
prosus
a
Deo
aliena”.
Deutsche
Leserinnen
und
Leser,
die
etwa
bei
Arno
Borst
auf
die
entsprechende
Passage
stoßen,
treffen
auf
„[d]as
Volk
im
Perserreich,
ein
fremdes
Volk,
ein
ganz
gottfernes
Volk”.3
Auf
die
Probleme
der
Übersetzung
von
Worten
wie
‚gens’,
‚natio’
oder
‚populus’
ist
eindringlich
von
Robert
Bartlett
verwiesen
worden.
Der
gibt
auch
zu
bedenken,
dass
im
Mittelalter
Ethnizität
und
nicht
körperliche
Merkmale
von
Bedeutung
gewesen
wären:
„Communities
were
differentiated
by
language
and
customs,
the
latter
including
law
and
religion”.4
Viele
Äußerungen
zur
langen
Geschichte
der
Diskriminierung
der
Iren
durch
die
Engländer
sind
entschieden
weniger
skrupulös.
So
zeigt
sich
etwa
Hazel
Waters
überzeugt,
dass
schon
die
Schriften
von
Giraldus
Cambrensis
im
12.
Jahrhundert
„racial
stereotypes”
enthalten
hätten.
Edward
Said
meint,
die
Iren
wären
seit
je
als
„a
barbarian
and
degenerate
race”
gesehen
worden.
Steve
Garner
unterstellt,
dass
„[t]he
process
of
racialising
the
Irish”
im
Mittelalter
begonnen
hätte.
Cecil
Woodham-‐Smith
glaubt,
die
Konflikte
zwischen
England
und
Irland
wurzelten
„first
of
all
in
race”.
Auch
für
Michael
de
Nie
existieren
3
Munro, Dana Carleton (Hg.): Translations and Reprints from the Original Sources of European
History, Bd. 1.2, Urban and the Crusaders, Philadelphia 1895, S. 5 (ältere Übertragung); Robert
the Monk’s History of the First Crusade. Historia Iherosolimitana, übersetzt von Carol
Sweetenham, Aldershot 2006, S. 29 (neuere Übertragung); Robert Monachi Historia
Iherosolimitana, in: Recueil des Historiens des Croisades, publié par les soins de l’Académie
des Inscriptions et Belles-Lettres, Historiens Occidentaux, Bd. 3, Paris 1866, S. 717-882, S. 727
(originaler Wortlaut); Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter, Berlin 1973, S. 318 (deutsche
Übertragung).
4
Bartlett, Robert: Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity, in: The Journal of
Medieval and Early Modern Studies, 31, 2001, 1, S. 39-56, hier 53.
4
Diskurse
über
die
Iren
als
„the
cultural
and
racial
Other”
seit
dem
12.
Jahrhundert.5
Tatsächlich
ging
die
Kolonisierung
Irlands
zwar
von
Anfang
an
mit
rassistischer
Diskriminierung
einher.
Diese
argumentierte
aber
nicht
‚rassisch’,
sondern
bediente
sich
anderer
Modi
der
Ausgrenzung.
Gerald
von
Wales
nannte
die
Iren
gegen
Ende
des
12.
Jahrhunderts
‚Barbaren’
und
bezog
das
auf
ihre
gesamte
Lebensweise.
Gleichzeitig
lud
er
diese
Herabminderung
sexistisch
auf
und
behauptete,
bei
ihnen
würden
Männer
im
Sitzen
und
Frauen
im
Stehen
urinieren.
Außerdem
bemühte
er
geschichtsphilosophische
Argumente
und
bestand
darauf,
dass
die
Iren
keine
Anzeichen
von
Entwicklung
erkennen
ließen,
sondern
ein
primitives
Volk
im
Stadium
von
Hirten
wären.6
Neben
dem
Barbarenstereotyp
entwickelten
sich
weitere
Formen
der
Diskriminierung,
die
Iren
als
heidnisch,
wild,
unrein
und
schließlich
auch
als
rassisch
minderwertig
einstuften.
Wesentliche
Elemente
zeigten
sich
im
Verlauf
des
englischen
Siedlerkolonialismus
in
Irland,
während
dessen
die
Iren
als
Barbaren,
Heiden
und
Teufel,
Wilde
und
Nomaden
und
immer
wieder
auch
als
Tiere
und
Unkraut
oder
als
Monster
bezeichnet
wurden
(siehe
Abbildung
1).7
Das
verweist
auf
Gemeinsamkeiten
dieser
Diskriminierungsformen.
Sie
bestanden
nicht
nur
in
einer
Desozialisierung,
die
alle
Iren
denselben
Mustern
der
Abwertung
unterwarf
und
so
zu
einer
undifferenzierten
5
Waters, Hazel: The Great Famine and the Rise of Anti-Irish Racism, in: Race and Class, 37,
1995, 1, S. 95-108, hier 95; Said, Edward W.: Culture and Imperialism, New York 1993, S. 266;
Garner, Steve: Racism in the Irish Experience, London 2004, S. 72; Woodham-Smith, Cecil:
The Great Hunger. Ireland 1845 - 1849, London 1991, S. 18; de Nie, Michael: The Eternal
Paddy. Irish Identity and the British Press, 1798-1882, Madison 2004, S. 5.
6
Gerald of Wales: The Topography of Ireland, and the History of the Conquest of Ireland
(Topographia Hibernica [1188]), in: The Historical Works of Giraldus Cambrensis, hrsg. v.
Thomas Wright, London 1863, S. 122 (‚barbarous’), 140 (‚men’ & ‚women’), 124 (‚primitive
habits’).
7
Vgl. Kiernan, Ben: Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute,
München 2009, S. 226-281.
5
Masse
von
„Anderen“
erklärte,
sondern
sie
zielten
auch
auf
Dehumanisierung
und
bedienten
sich
einer
Rhetorik
der
Auslöschung.
Erstere
ging,
wie
etwa
in
der
Mitte
des
16.
Jahrhunderts
bei
William
Thomas,
mit
der
Charakterisierung
der
„wild
Irish”
als
„unreasonable
beasts”
einher.
Arthur
Chichester,
der,
ehe
er
in
Irland
eine
politische
und
militärische
Karriere
machte,
Francis
Drake
auf
seiner
letzten
Expedition
nach
Amerika
begleitet
hatte,
nannte
die
Iren
zu
Beginn
des
17.
Jahrhunderts
kurzweg
„beasts
in
the
shape
of
men”.
Solche
Charakterisierung
konnte
zusätzlich
religiös
aufgeladen
werden,
so
dass
ein
Pamphlet
aus
der
ersten
Hälfte
des
17.
Jahrhunderts
behauptete,
Irland
wäre
ein
Revier
des
Teufels
und
die
Iren
„bots
that
crawl
on
the
beast’s
tail”.8
Letztere
äußerte
sich
vor
allem
in
zahllosen
Aufforderungen
zum
Jäten
von
Unkraut.
Der
Viscount
Falkland,
Lord
Deputy
von
Irland,
verglich
dessen
Bewohner
mit
Nesseln,
die
zerdrückt
werden
müssten.
In
seinem
‚Discors
Touching
Ireland’
plädierte
Rowland
White
in
der
zweiten
Hälfte
des
16.
Jahrhunderts
in
der
Sprache
gärtnerischer
Unkrautvernichtung
für
den
Import
englischer
Bauern,
die
(„as
good
sedes”)
„the
weedes
of
incyvilitie”
beseitigen
würden.
Dabei
wurden
von
den
zeitgenössischen
englischen
Autoren
die
Begriffe
‚colony’
und
‚plantation’
synonym
gebraucht
und
mit
der
Erwartung
verbunden,
„that
the
Irish
would
be
rooted
out
by
a
new
and
overwhelming
plantation
of
English”.
Francis
Bacon
wusste
also,
wovon
er
schrieb,
als
er
„plantations”
zur
ursprünglichen
Ausbreitungsform
der
Menschheit
erklärte,
aber
hinzufügte,
sie
dürfe
nicht
mit
Verdrängung
der
8
Thomas, William: The Pilgrim. A Dialogue of the Life and Actions of King Henry the Eighth,
hrsg. v. James A. Froude, London 1861, S. 66; Arthur Chichester, zit. n. Canny, Nicholas:
Making Ireland British 1580-1650, Oxford 2001, S. 167; O’Callaghan, Sean: To Hell or
Barbados. The Ethnic Cleansing of Ireland, Dingle 2000, S. 14 (zit. Pamphlet); zum Thema
Dehumanisierung siehe Smith, David Livingstone: Less than Human. Why We Demean,
Enslave, and Exterminate Others, New York 2012.
6
Einheimischen
einhergehen
–
„for
else
it
is
rather
an
extirpation
than
a
plantation”.9
Historisch
betrachtet
wurden
die
unterschiedlichen
rassistischen
Diskriminierungen
der
Iren
erst
im
18.
und
19.
Jahrhundert
durch
das
neu
entwickelte
Rassedenken
überschrieben.
Dieser
Prozess
der
Rassisierung
ersetzte
die
alten
Muster
aber
nicht
einfach,
sondern
baute
sie
in
die
neuen
Stereotype
ein.
Dabei
rechnete
aber
selbst
der
Polygenetiker
Robert
Knox
die
Iren
zu
den
„white
races
which
occupy
Europe”.10
Allerdings
zerfiel
die
‚weiße
Rasse’
seit
den
Anfängen
des
Rassedenkens
in
Unterrassen
und
wurde
ethnisch
nach
Volkscharakteren
unterteilt.
Im
19.
Jahrhundert
verband
sich
solche
Differenzierung
zusehends
mit
nationalistischen
Argumenten
und
führte
angesichts
der
Erkenntnis,
es
im
nationalen
Rahmen
womöglich
mit
Rassengemischen
zu
tun
zu
haben,
zu
unterschiedlich
Debatten
um
den
Erhalt
von
deren
‚authentischen’
und
‚wertvollen’
Bestandteilen.11
Die
Vorstellung,
sogenannte
primitive
Rassen
müssten
angesichts
des
Fortschritts
der
Zivilisation
aussterben,
schloss
deswegen
als
minderwertig
erklärte
Teile
der
weißen
Rasse
wie
die
Iren
ein.
Zu
ihrer
Diskriminierung
wurde
auch
der
Vergleich
mit
Affen
eingesetzt.
So
erklärte
der
‚Punch’
den
„Irish
Yahoo”
zum
„Missing
Link
between
Man
and
the
Gorilla”.
Dabei
galt
es
als
besonders
erschreckend,
dass
die
Iren
weiß
waren.
Der
Geistliche
Charles
Kingsley
behauptete,
9
Canny, Nicholas: Making Ireland British, S. 261 (‚Nesseln’); Rowland White, zit. n. Montaño,
John Patrick: The Roots of English Colonialism in Ireland, Cambridge 2011, S. 146; Pagden,
Anthony: Lords of all the World. Ideologies of Empire in Spain, Britain and France c. 1500 - c.
1800, New Haven 1995, S. 79 (zum synonymen Wortgebrauch); O’Callaghan, Sean: To Hell or
Barbados, S. 14 (‚rooted out’); Bacon, Francis: Of Plantations, in: ders.: The Essays or
Counsels, Civil and Moral, with an Introduction by Henry Morley, Chicago 1883, S. 151-155,
hier 151 f.; zur Unkrautmetaphorik vgl. Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die
Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
10
Knox on the Celtic Race, in: The Anthropological Review, 6, 1868, 21, S. 175-191, hier 184.
11
Vgl. Manias, Chris: Race, Science, and the Nation. Reconstructing the Ancient Past in
Britain, France and Germany, New York 2013, S. 169 ff.
7
deswegen
regelrecht
entsetzt
gewesen
zu
sein,
als
er
während
einer
Reise
durch
Irland
im
Sommer
1860
seine
Begegnung
mit
„human
chimapanzees”
notierte:
„[T]o
see
white
champanzees
is
dreadful;
if
they
were
black,
one
would
not
feel
it
so
much,
but
their
skins,
except
where
tanned
by
exposure,
are
as
white
as
ours”.12
Zur
selben
Zeit
schrieb
Karl
Marx
über
die
antiirische
Haltung
der
englischen
Arbeiter:
„Der
gewöhnliche
englische
Arbeiter
haßt
den
irischen
als
einen
Konkurrenten”.
„Er
fühlt
sich
ihm
gegenüber
als
Glied
der
herrschenden
Nation
[...].
Er
hegt
religiöse,
soziale
und
nationale
Vorurteile
gegen
ihn”.
„Er
betrachtet
ihn
fast
mit
denselben
Augen,
wie
die
poor
whites
der
Südstaaten
Nordamerikas
die
schwarzen
Sklaven
betrachteten”.13
Diese
Überlegungen,
die
mit
Allens
späterem
Definitionsversuch
kompatibel
sind,
verwiesen
auf
zentrale
Elemente
rassistischer
Diskriminierung,
wurden
aber
von
Marx
analytisch
nicht
weiter
verfolgt.
‚Sistema
de
castas’
und
‚one-drop
rule’.
Rassismus
bei
der
Kolonisierung
der
Amerikas
Als
die
Europäer
Amerika
‚entdeckten’,
hatten
sie
zwar
bereits
eine
Vorstellung
unterschiedlicher
Hautfarben,
aber
noch
kein
Rassenkonzept
entwickelt.
Berichte
über
die
Menschen
in
Ostasien
12
Kingsley, Charles: His Letters and Memories of His Life. Edited by His Wife, London 1899,
S. 236; ‚Punch, or the London Charivari’, 18.10.1862, S. 165; zum Auslöschungsdiskurs
gegenüber den Iren siehe Brantlinger, Patrick: Dark Vanishings. Discourse of the Extinction of
Primitive Races, 1800-1930, Ithaca 2003, S. 94-116; zur Simianisierung der Iren vgl. Curtis Jr.,
L. Perry: Apes and Angels. The Irishman in Victorian Caricature, überarb. Aufl., Washington
1997, de Nie, Michael: The Eternal Paddy; siehe auch Garner, Steve: The Simianization of the
Irish. Racial Ape-ing and Its Contexts, in: Wulf D. Hund / Charles W. Mills / Silvia Sebastiani
(Hg.): Simianization. Apes, Gender, Class, and Race, Berlin 2015, S. 197-221.
13
Marx, Karl: Konfidentielle Mitteilung, in: MEW 16 (Marx/Engels, Werke, Berlin 1962), S.
409-420, S. 416 (‚gewöhnlicher Arbeiter’, ‚mit denselben Augen’) u. ders.: Brief an Sigfrid
Meyer und August Vogt vom 9.4.1870, in: MEW 32 (Marx, Engels, Werke, Berlin 1965), S.
665-670, hier 669 (‚Glied der herrschenden Nation’).
8
bezeichneten
deren
Hautfarbe
als
‚weiß’.
Afrikaner
subsaharischer
Herkunft
wurden
hingegen
als
‚schwarz’
gesehen,
aber
noch
keineswegs
einheitlich
eingestuft.
Die
Portugiesen
hatten
die
Erkundung
der
afrikanischen
Küste
weit
vorangetrieben.
Im
Verlauf
dieser
Entwicklung
nahm
(nach
der
Schließung
der
Dardanellen
durch
die
Osmanen
und
dem
Rückgang
des
Sklavenhandels
von
der
Krim)
der
Handel
mit
versklavten
Afrikanerinnen
und
Afrikanern
zu.
Aber
eine
farbige
Trennungslinie
zwischen
als
‚Rassen’
begriffenen
Gruppen
von
Menschen
war
noch
nicht
gezogen.14
Gleichwohl
standen
den
Eroberern
der
‚Neuen
Welt’
eine
ganze
Reihe
von
Legitimationen
zur
Verfügung.
Hautfarben
gehörten
nicht
dazu,
denn
die
Indianer
genannten
Menschen
wurden
überwiegend
als
‚weiß’
gesehen.15
Dafür
konnten
Muster
einer
weit
zurückreichenden
Tradition
genutzt
werden,
von
denen
viele
schon
mit
dem
griechischen
Kolonialismus
der
Antike
verbunden
gewesen
waren.
Darunter
waren
Vorstellungen
unbewohnten
oder
von
seinen
Bewohnern
aufgegebenen
Landes,
Erzählungen
von
vertraglichen
Übertragungen
oder
der
Verdrängung
primitiver
Völker,
Legenden
freiwilliger
Unterwerfung
um
überlegenen
Schutzes
willen
und
selbst
das
Konzept
der
Zivilisierungsmission.16
14
Vgl. das Kapitel ‚Schwarze Ritter und Heilige Schwarze. Ethnische Ökumene gegen
Ungläubige’ in Hund, Wulf D.: Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte
des Rassismus, Stuttgart 2017, S. 45-59.
15
Vgl. Shoemaker, Nancy: A Strange Likeness. Becoming Red and White in Eighteenth-
Century North America, Oxford 2004; Vaughan, Alden T.: From White Man to Redskin.
Changing Anglo-American Perceptions of the American Indian, in: ders: Roots of American
Racism. Essays on the Colonial Experience, Oxford 1995, S. 3-33.
16
Vgl. Nippel, Wilfried: Griechische Kolonisation. Kontakte mit indigenen Kulturen,
Rechtfertigung von Eroberungen, Rückwirkungen auf das Mutterland, in: Raimund Schulz
(Hg.): Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen
Expansionsbewegungen der Antike und der Frühen Neuzeit im Vergleich, München 2003, S.
13-27. Zum neuzeitlichen Konzept siehe Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.):
Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005.
9
In
diesem
Zusammenhang
sind
neuere
Versuche
einer
rückwärts
gerichteten
Ausdehnung
des
Rassenkonzepts
bis
in
die
europäische
Antike
oder
gar
zu
einem
weltweiten
Differenzierungskonzept
wenig
hilfreich.
Sie
legen
sogar
nahe,
dass
der
Rassismus
seinen
Ursprung
in
Afrika
bzw.
im
alten
Ägypten
gehabt
hätte.
Die
Vorstellung,
Rassismus
wäre
eine
rein
europäische
Erfindung,
halten
sie
für
arrogant
und
weisen
die
„Eurocentric
assertion
that
racism
is
solely
a
product
of
Western
capitalist
modernity”
zurück.17
Das
Problem
solcher
Behauptungen
liegt
nicht
in
der
Aufforderung,
Rassismus
mit
einer
über
die
Entstehung
der
Rassentheorie
hinausreichenden
Perspektive
zu
untersuchen.
Wie
Allens
Ansatz
verdeutlicht,
lässt
sich
die
Diskussion
von
Rassismus
durchaus
mit
einer
Hypothese
verbinden,
die
sich
auf
die
Geschichte
von
Klassengesellschaften
überhaupt
bezieht.
Das
darf
aber
nicht
bedeuten,
dass
die
Geschichte
des
Rassedenkens
hinter
ihren
Entstehungszusammenhang
ausgedehnt
wird.
Wenn
in
früheren
Zeiten
physische
Unterschiede
zwischen
Menschen
gesehen
und
benannt
wurden,
hatte
das
nichts
mit
Rassentheorie
zu
tun.
Der
deutlichste
Beleg
dafür
ist,
dass
entsprechende
Charakterisierungen
gerade
nicht
zur
sozialen
Homogenisierung
der
Betroffenen
geführt
haben.
Tatsächlich
gab
es
Rassismus
vor
der
Entwicklung
des
Rassedenkens.
Aber
er
bezog
sich
nicht
auf
rassische
oder
protorassische
Vorstellungen,
sondern
auf
andere
Modi
der
Differenzierung.
Dazu
gehörten
(und
gehören
bis
heute)
17
Law, Ian mit Anna Jacobs, Nisreen Kaj, Simona Pagano, Bozena Sojka-Koirala:
Mediterranean Racisms. Connections and Complexities in the Racialization of the
Mediterranean Region, Basingstoke 2014, S. 3 (‚arrogance’); Tate, Shirley Anne / Law, Ian:
Caribbean Racisms. Connections and Complexities in the Racialization of the Caribbean
Region, Basingstoke 2015, S. 3 (‚Eurocentric assertion’); zur griechischen Antike siehe Isaac,
Benjamin: The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton 2004; vgl. Hund, Wulf D.:
Rassismusanalyse in der Rassenfalle. Zwischen ‚raison nègre’ und ‚racialization’, in: Archiv für
Sozialgeschichte, 56, 2016, S. 511-548.
10
Unterscheidungen
von
Barbaren
und
Kultivierten,
Minderwertigen
und
Wertvollen,
Unreinen
und
Reinen,
Teufeln
und
Erwählten,
Wilden
und
Zivilisierten
und
schließlich
auch
Farbigen
und
Weißen.18
Einige
dieser
Unterscheidungen
rechneten
von
Anfang
an
zum
ideologischen
Bestand
der
Kolonisierung
Amerikas.
Das
Barbarenstereotyp
wurde
von
Aristoteles
und
dessen
Legitimation
der
Sklaverei
entlehnt;
während
der
Disputation
zwischen
Juan
Ginés
de
Sepúlveda
und
Bartolomé
de
Las
Casas
in
Valladolid
fand
es
prominente
Verwendung.
Das
Teufelsstereotyp
war
bereits
vielfach
zur
Diskriminierung
anderer
eingesetzt
worden;
es
gehörte
zum
ideologischen
Rüstzeug
der
Priester,
die
koloniale
Erkundungen
und
Raubzüge
segnend
begleiteten.
Das
Unreinheitsstereotyp
war
Teil
der
bürokratischen
Ausstattung
der
Konquistadoren;
es
wurde
im
Mutterland
zur
Aufspürung
von
Christen
eingesetzt,
die
verdächtig
waren,
aus
ehemals
jüdischen
oder
muslimischen
Familien
zu
stammen
und
fand
auch
in
den
Kolonien
Anwendung.
Das
Wildenstereotyp
war
während
der
Binnenkolonisation
Europas
entstanden;
in
Amerika
wurde
es
modifiziert
und
geschichtsphilosophisch
aufgeladen,
so
dass
schließlich
John
Locke
behaupten
konnte:
„[I]n
the
beginning
all
the
World
was
America.”19
18
Vgl. Hund, Wulf D.: Rassismus, Bielefeld 2007, vor allem S. 34-81.
19
Locke, John: Two Treatises of Government. A Critical Edition, hrsg. v. Peter Laslett, 2. Aufl.,
Cambridge 1970, S. 319 (II. § 49) – vgl. Lebovics, Herman: The Uses of America in Locke’s
Second Treatise of Government, in: Journal of the History of Ideas, 47, 1986, 4, S. 567-581;
hinsichtlich des Barbarenstereotyps siehe Hanke, Lewis: Aristotle and the American Indians. A
Study in Race Prejudice in the Modern World, London 1959, Davies, Surekha: Renaissance
Ethnography and the Invention of the Human. New Worlds, Maps and Monsters, Cambridge
2016; zum Teufelsstereotyp vgl. Cañizares-Esguerra, Jorge: Puritan Conquistadors. Iberianizing
the Atlantic, 1550-1700, Stanford 2006, Cervantes, Fernando: The Devil in the New World. The
Impact of Diabolism in New Spain, New Haven 1994, Gregerson, Linda / Juster, Susan (Hg.):
Empires of God. Religious Encounters in the Early Modern Atlantic, Philadelphia 2011; zum
Unreinheitsstereotyp siehe Hering Torres, Max S. / Martínez, María Elena / Nirenberg, David
(Hg.): Race and Blood in the Iberian World, Berlin 2012, Martínez, María Elena: Genealogical
Fictions. Limpieza de Sangre, Religion, and Gender in Colonial Mexico, Stanford 2008; zum
Wildenstereotyp siehe Anderson, Kay: Race and the Crisis of Humanism, London 2007,
11
In
den
Amerikas
wurden
die
Grundlagen
des
Rassedenkens
entwickelt,
die
später
von
den
Denkern
der
Aufklärung
theoretisch
verallgemeinert
werden
sollten.
Zentrale
Elemente
dafür
waren
die
Unterwerfung,
Zurückdrängung
und
Vernichtung
einheimischer
Völker
sowie
die
massenhafte
Versklavung
von
Afrikanerinnen
und
Afrikanern.
Dabei
wurden
kulturelle
Beziehungen
naturalisiert
und
zu
einer
„construction
of
lineage”
benutzt,
bei
der
„culture”
in
„representations
of
nature”
ausgedrückt
wurde
und
in
Spanien
schon
während
der
Reconquista
in
Umlauf
gekommene
Begriffe
wie
‚casta’
und
‚raza’
Verwendung
fanden.20
Bei
ihnen
war
es
von
Anfang
an
um
die
Frage
von
Herkunft
und
Kontamination
gegangen.
Das
änderte
sich
im
kolonialen
Kontext
schon
deswegen
nicht,
weil
es
überhaupt
noch
kein
Rassenschema
gab.
Allerdings
entwickelten
die
Europäer
ihre
Eindrücke
von
dunkler
und
heller
Hautfarbe
im
Kontext
der
transatlantischen
Sklaverei
zu
einem
Schwarz-‐Weiß-‐Schema,
welches
Hautfarben
zu
Signets
sozialer
Verhältnisse
machte.
Das
schlug
sich
schließlich
in
zwei
unterschiedlichen
Formen
rassistischer
Diskriminierung
nieder,
die
einerseits
verschiedene
Traditionen
des
Kolonialismus
in
Lateinamerika
und
Nordamerika
spiegelten.
Andererseits
zeigten
sie
aber
hinsichtlich
der
Differenzierung
zwischen
einheimischen
Amerikanern
und
versklavten
Afrikanern
Gemeinsamkeiten,
die
den
sozialen
Charakter
der
Rassenkonstruktion
umso
deutlicher
machten.
Beide
arbeiteten
mit
religiösen
Mustern
und
beide
entwickelten
Vorstellungen
von
Reinheit
und
Kontamination.
Bernsheimer, Richard: Wild Men in the Middle Ages, Cambridge 1952, Weber, David J.:
Bárbaros. Spaniards and Their Savages in the Age of Enlightenment, New Haven 2005.
20
Bethencourt, Francisco: Racisms. From the Crusades to the Twentieth Century, Princeton
2013, S. 179.
12
In
die
iberischen
Kolonien
Amerikas
wurden
sie
aus
den
Mutterländern
importiert.
Als
‚castas’
oder
‚razas’
bezeichneten
sie
kulturell-‐religiöse
Bekenntnisse
und
Sitten,
die
durch
genealogische
Herkunft
in
soziales
Schicksal
verwandelt
und
als
Blutslinien
interpretiert
wurden.
In
der
‚neuen’
Welt
kamen
geopolitische
und
klassistische
Muster
der
Geburt
hinzu
(je
nach
Geburt
im
Mutterland
oder
in
den
Kolonien
und
nach
Abstammung
von
gehobenen
einheimischen
Familien
oder
von
amerikanischen
Unterschichten
und
Sklaven
amerikanischer,
afrikanischer
und
ostasiatischer
Herkunft).
Das
führte
schließlich
zu
einem
komplexen
Schema
vielfältiger
Mischungen.
Das
Genre
der
mexikanischen
Casta-‐Malerei
skizzierte
nicht
nur
deren
Nomenklatur,
sondern
behauptete
auch,
sie
farblich
abschattieren
zu
können.
Die
damit
verbundenen
Botschaften
hatten
einen
vom
Kontaminationsdenken
bestimmten
Kern.
Aus
Verbindungen
von
Spaniern
und
Amerikanern
sollten
nach
‚mestiz(a/o)s’
und
‚castiz(a/o)s’
nach
zwei
Generationen
wieder
Spanier
hervorgehen.
Die
Verbindung
von
Spaniern
mit
Afrikanern
hatte
nur
scheinbar
einen
ähnlichen
Effekt
–
denn
nach
den
‚mulat(a/o)s’
und
‚morisc(a/o)s’
wurden
die
‚alvin(a/o)s’
zu
Eltern
von
‚negr(a/o)s
es
torna
atrás’.21
Was
dabei
von
den
Zeitgenossen
als
kultureller
‚Rückfall’
interpretiert
und
von
den
Malern
als
‚schwarz’
wieder
zum
Vorschein
gebracht
wurde,
war
das
Stigma
der
Sklaverei,
das
unter
der
Hand
eine
naturalistische
Färbung
angenommen
hatte
(siehe
Abbildung
2).
Mit
der
Organisation
des
Kastenschemas
nach
Hautfarben
war
es
im
Übrigen
nicht
getan.
Es
integrierte
auch
tradierte
Formen
des
religiösen
Rassismus.
So
konnte
Juden
als
„la
mala
casta
blanca”
21
Vgl. Katzew, Ilona: Casta Painting. Images of Race in Eighteenth-Century Mexico, New
Haven 2004; Martínez, Genealogical Fictions.
13
stigmatisiert
und
damit
gleichzeitig
als
weiß
eingestuft
und
herabgesetzt
werden.22
In
Nordamerika
entwickelte
sich
eine
vergleichbare
Strategie
der
Diskriminierung,
die
aber
nicht
in
ein
komplexes
Schema
von
Mischungen,
sondern
in
den
Dualismus
der
‚one-‐drop
rule’
mündete.
Die
späteren
Diskurse
zum
Verhältnis
der
Rassen
und
vor
allem
zu
ihrer
Mischung
waren
daher
durchaus
unterschiedlich
und
machten
Rassenmischung
schließlich
zur
Straftat,
die
durch
die
Versklavung
der
Nachkommen
gesühnt
wurde:
„Miscegenation
is
the
criminalization
of
mestizaje”.23
Diese
Einstellung
entwickelte
sich
in
einem
längeren
Prozess,
dessen
soziale
Konsequenzen
sich
in
der
Gesetzgebung
niederschlugen.
In
Virginia
etwa
konnte
noch
1641
ein
Vater
sein
Kind
vom
Besitzer
der
Mutter
freikaufen;
1660
wurde
festgelegt,
dass
die
Taufe
nichts
am
Status
der
Sklaverei
änderte;
ab
1662
bestimmte
sich
der
Status
des
Kindes
einer
schwarzen
Frau
nicht
nach
dem
des
Vaters,
sondern
nach
dem
der
Mutter;
1691
erklärte
ein
Gesetz
die
Emanzipation
von
Sklaven
nur
dann
für
zulässig,
wenn
gleichzeitig
dafür
bezahlt
wurde,
die
Freigelassenen
außer
Landes
zu
transportieren;
1705
erklärte
es
ein
Urteil
für
zulässig,
entlaufene
Sklaven
zu
töten
und
ein
Gesetz
gewährte
deren
Besitzern
für
solchen
Fall
die
Ersetzung
des
finanziellen
Verlustes
aus
öffentlichen
Mitteln.
22
Vgl. Burns, Kathryn: Unfixing Race, in: Gotkowitz, Laura (Hg.): Histories of Race and
Racism. The Andes and Mesoamerica from Colonial Times to the Present, Dirham 2011, S. 57-
71, hier 58; siehe auch Cohen, Mario Eduardo: América colonial judía, Buenos Aires 2000, S.
49-96.
23
Buscaglia-Salgado, José F.: Race and the Constitutive Inequality of the Modern/Colonial
Condition, in: Yolanda Martínez-San Miguel / Ben Sifuentes-Jáuregui / Marisa
Belausteguigoitia (Hg.): Critical Terms in Caribbean and Latin American Thought. Historical
and Institutional Trajectories, Basingstoke 2016, S. 109-123, S. 115; zum folgenden siehe
Higginbotham Jr., A. Leon: In the Matter of Color. Race and the American Legal Process. The
Colonial Periode, Oxford 1978, S. 25 (Freikauf), 36 f. (Taufe), 43 (Matrilinearität), 48
(Emanzipation), 56 f. (entlaufene Sklaven).
14
Die
auch
in
Nordamerika
bestehenden
Ambivalenzen
im
Umgang
mit
dem
neu
entwickelten
Begriff
Rasse
wurden
schon
während
der
Zeit
seiner
Übernahme
in
die
Geschichtsphilosophie
der
Aufklärung
deutlich.
In
Thomas
Jeffersons
Rassentheorie
zeigte
sich
dies
an
der
unterschiedlichen
Behandlung
kolonialer
Europäer,
indigener
Amerikaner
und
versklavter
Afrikaner.
Von
einem
Bekannten
um
eine
kurze
Charakterisierung
der
Bevölkerung
Virginias
im
18.
Jahrhundert
gebeten,
antwortete
er:
„there
were
then,
Aristocrats,
half
breeds,
pretenders,
a
solid
independent
yeomanry,
looking
askance
at
those
above,
yet
not
venturing
to
justle
them;
and
last,
and
lowest
a
feculum
of
beings
called
Overseers,
the
most
abject,
degraded
and
unprincipled
race,
always
cap
in
hand
to
the
Dons
who
employed
them”.24
An
dieser
Skizze
fällt
sofort
auf,
was
sie
unterschlägt.
Das
wird
durch
die
Verwendung
der
Worte
‚half
breeds’
und
‚Rasse’
im
Zusammenhang
mit
Oberschichten
und
mit
der
weißen
kolonialen
Unterschicht
der
‚Aufseher’
nur
umso
deutlicher.
Bei
Letzteren
handelte
es
sich
um
die
Sklaventreiber
der
Plantagenwirtschaft.
Die
Arbeitskräfte
selbst
aber,
die
den
kolonialen
Reichtum
erwirtschafteten
und
zu
dieser
Zeit
verstärkt
als
tieferstehende
Rasse
bezeichnet
wurden,
fand
Jefferson
keiner
Erwähnung
wert.
Das
galt
auch
für
die
‚Indianer’
genannten
ursprünglichen
Bewohner
des
Landes.
Sie
wurden
in
der
Regel
als
‚Wilde’
bezeichnet,
die
zwar
in
Jeffersons
Text
auftreten,
aber
nicht
aus
Amerika
sondern
aus
Irland
kommen.
Von
ihnen
ist
kurz
zuvor
als
den
24
Jefferson, Thomas: [Brief an] William Wirth, 5.8.1815
(http://founders.archives.gov/documents/Jefferson/03-08-02-0523); vgl. Isenberg, Nancy: White
Trash. The 400-Year Untold Story of Class in America, New York 2016, S. 102 f. Wir
verwenden hier und im Folgenden den Begriff ›indigen‹ im Sinne zahlreicher nationaler und
internationaler Organisationen, die bis heute um die Wahrung ihrer Rechte kämpfen. Vgl. The
International Group for Indigenous Affairs (IWGIA) and Asian Indigenous and Tribal Peoples
Network (AITPN) (Hg.): Racism Against Indigenous Peoples. Copenhagen 2001; New
Diversities, 19, 2017, 2 (mit Beiträgen zum Thema ›Indigenous Politics of Resistance‹).
15
„wild
Irish”
die
Rede,
die
im
Westen
der
Kolonie
siedelten
und
mit
denen
niemand
zusammenleben
wolle.
Hinsichtlich
derer,
die
aus
Jeffersons
Sicht
derart
sozial
tot
waren,
dass
er
sie
in
seine
Schilderung
der
kolonialen
Sozialstruktur
gar
nicht
erst
aufnahm,
argumentierte
er
ansonsten
mit
zwei
unterschiedlich
ausgerichteten
Spielarten
rassistischer
Diskriminierung.
Indigene
Amerikanerinnen
und
Amerikaner
hielt
er
für
prinzipiell
in
die
Siedlergesellschaft
integrierbar,
erwartete
aber
von
ihnen,
dass
sie
ihre
Lebensweise
und
Kultur
aufgaben,
wenn
sie
nicht
vertrieben
und
ausgelöscht
werden
wollten.
Afrikanerinnen
und
Afrikaner
hingegen
mussten
seiner
Meinung
nach
segregiert
werden
und
ihre
Freilassung
aus
der
Sklaverei
hielt
er
nur
dann
für
möglich,
wenn
sie
gleichzeitig
„beyond
the
reach
of
mixture”
gebracht
werden
könnten.25
Im
ideologischen
Schlagschatten
solcher
und
ähnlicher
Auffassungen
konnten
sich
europäische
Einwanderer
an
Landwegnahme
und
Sklavenausbeutung
bereichern
oder
von
ihnen
profitieren.
Vor
diesem
Hintergrund
formulierte
W.
E.
Burghardt
Du
Bois
eine
zentrale
Einsicht
in
die
Funktionsweise
rassistischer
Diskriminierung,
die
Allens
Begriffsbestimmung
von
Rassismus
in
wesentlichen
Teilen
vorwegnahm.
Auf
der
‚National
Negro
Conference’
erklärte
er
1909,
unter
der
„hegemony
of
the
white
race”
würde
versucht,
selbst
noch
die
„slums
of
white
society”
zu
den
„superior
of
any
colored
group”
zu
machen
und
den
Begriff
‚weiß’
so
auszulegen,
dass
er
„the
right
of
white
men
of
any
kind”
umfasse,
Schwarze
zur
Unterordnung
zu
zwingen.
Später
ergänzte
er
diese
Aussage
noch
um
den
Hinweis,
dass
weiße
Arbeiter
zwar
niedrige
Löhne
erhielten,
zu
denen
aber
„a
sort
of
25
Jefferson, Thomas: Notes on the State of Virginia. New edition, prepared by the author,
Richmond 1853, S. 155; vgl. Hinrichsen, Malte: Jeffersonian Racism, masch. Diss., Hamburg
2016, S. 149-210.
16
public
and
psychological
wage”
hinzukäme,
der
von
der
allgemeinen
Wertschätzung
ihrer
Rassenzugehörigkeit
über
politische
und
soziale
Besserstellung
und
Vorrechte
bis
zur
Legitimation
ihres
gewaltsamen
Verhaltens
gegenüber
Schwarzen
reiche.26
‚Ungläubige’
und
‚Untermenschen’.
Rassismus
im
deutschen
Kolonialismus
Zur
Frage
des
Verhältnisses
von
Kolonialismus
und
Rassismus
bietet
das
deutsche
Beispiel
ein
wichtiges
Diskussionsfeld,
weil
hier
im
20.
Jahrhundert
mehrere
Rassismen
gebündelt,
mit
kolonialen
Projekten
in
Afrika
und
Europa
verbunden
und
mit
genozidalen
Politiken
verknüpft
wurden.
Dabei
verbanden
sich
aber
nicht
nur
die
unterschiedlichen
rassistischen
Narrative
des
Antisemitismus,
Antislawismus
und
Kolonialrassismus,27
sondern
auch
die
des
eugenischen
und
des
antiziganistischen
Rassismus.
Die
Überlagerung
von
Reinheitsphantasien,
Expansionsplänen
und
Vernichtungspolitik
zeigt
eine
Dialektik
des
Rassismus,
die
nicht
in
Rassendiskriminierung
aufgeht
und
deren
Ausgrenzungslogik
mit
steten
Drohungen
nach
Innen
verbunden
ist.
Die
Engführung
und
Untergewichtung
der
Rassismusdiskussion
im
Rahmen
der
Kolonialismusanalyse
ist
von
daher
erstaunlich.
Das
zeigt
26
Du Bois, W. E. Burghardt: Evolution of the Race Problem, in: Proceedings of the National
Negro Conference, New York 1909, S. 142-158, hier 152 ff. (‚hegemony’) u. ders.: Black
Reconstruction. An Essay Toward an History of the Past Which Black Folk Played in the
Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860-1880, New York 1935, S. 700
(‚psychological wage’).
27
Vgl. aus unterschiedlichen Perspektiven u.a. Baranowski, Shelley: Nazi Empire. German
Colonialism and Imperialism from Bismarck to Hitler, Cambridge [u.a.] 2011; Gerwarth, Robert
/ Stephan Malinowski: Der Holocaust als ‚kolonialer Genozid’? Europäische Kolonialgewalt
und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft, 33, 2007, 3, S.
439-466; Zimmerer, Jürgen: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von
Kolonialismus und Holocaust, Berlin 2011.
17
zum
Beispiel
der
Versuch
Jürgen
Osterhammels,
„die
Konstruktion
von
inferiorer
‚Andersartigkeit’”
als
„Zentrum
kolonialistischen
Denkens”
zu
fassen.
Dabei
betont
er
zutreffend,
dass
das
damit
verbundene
„Grundmuster
einer
prinzipiellen
Differenzannahme”
unterschiedliche
Formen
hat:
„als
heidnische
Verworfenheit”,
mangelnde
„Beherrschung
der
Natur”,
Beschränkung
durch
ein
„tropisches
Habitat”
oder
schließlich
als
„Rassen-‐Eigenschaften”.
Aber
er
unterschlägt
die
Verquickung
dieser
Formen
mit
internen
Ausgrenzungen
(von
Ketzern,
Hexen
und
anderen
‚Verworfenen’,
‚grünen’
oder
‚wilden’
Menschen
in
Europa,
herabgestuften
anderen
innerhalb
der
‚weißen’
Rasse).
Und
er
begnügt
sich
mit
einer
auf
Rassedenken
reduzierten
Vorstellung
von
Rassismus.28
Der
moderne
Kolonialismus
verweist
indessen
auf
die
Notwendigkeit
eines
weiteren
Verständnisses
von
Rassismus.
An
seiner
Ausprägung
waren
Deutsche
von
Beginn
an
beteiligt.
Das
Handelshaus
der
Welser
investierte
in
den
Gewürzhandel
mit
Südostasien
und
den
Zuckerhandel
mit
der
‚Neuen
Welt’.
Außerdem
ließ
es
sich
in
der
ersten
Hälfte
des
16.
Jahrhunderts
vom
Kaiser
mit
der
Kolonie
Venezuela
belehnen,
suchte
in
Südamerika
nach
Gold,
beutete
lokale
Bodenschätze
aus
und
verdiente
mit
der
Versklavung
südamerikanischer
und
afrikanischer
Menschen.
Über
die
damit
verbundene
Brutalität
und
Unmenschlichkeit
waren
schon
die
Zeitgenossen
informiert
–
nicht
zuletzt,
weil
Bartolomé
de
Las
Casas
ein
Kapitel
über
Venezuela
und
die
Mordtaten
der
„deutschen
28
Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 3. Aufl., München 2001,
S. 113.
18
Barbaren”
in
seinen
Bericht
über
das
Wüten
der
Europäer
in
Amerika
aufgenommen
hatte.29
In
der
zweiten
Hälfte
des
17.
Jahrhunderts
investierte
der
Kurfürst
von
Brandenburg
in
den
transatlantischen
Handel
mit
Kolonialwaren
und
Menschen.
Er
ließ
an
der
westafrikanischen
Küste
(im
heutigen
Ghana)
die
Festung
‚Groß
Friedrichsburg’
bauen
und
pachtete
in
der
Karibik
einen
Teil
der
Insel
St.
Thomas
von
den
Dänen.
Den
Organisatoren
ging
es
ums
große
Geschäft.
Sie
wussten,
wie
einer
der
ihren
an
den
Kurfürsten
schrieb,
„dass
der
Sklavenhandel
die
Source
des
Reichtums
war”.
Sie
wussten
auch,
wie
ein
Schiffsarzt
in
seinem
Tagebuch
notierte,
dass
dabei
Menschen
wie
Vieh
behandelt
wurden
und
sich
dagegen
nach
Möglichkeit
wehrten,
so
dass
die
Angst
vor
Aufständen
bei
der
Schiffsbesatzung
allgegenwärtig
war.30
Auch
die
deutschen
Hansestädte
nutzten
die
sich
ihnen
bietenden
Möglichkeiten
im
kolonialen
Überseehandel
seit
dem
17.
Jahrhundert
und
wollten
durch
die
Gründung
einer
hanseatischen
Kolonie
im
Südpazifik
Mitte
des
19.
Jahrhunderts
sogar
eigenständige
Kolonialmacht
werden.31
Mit
den
frühen
Formen
des
modernen
Kolonialismus
gingen
traditionelle
rassistische
Legitimationen
einher.
Sie
argumentierten
mit
dem
Barbarenstereotyp
und
dem
Heidenstereotyp
und
wurden
als
Bündnis
zwischen
christlicher
Mission
und
kolonialer
Eroberung
umgesetzt.32
Durch
ihre
iberischen
Anfänge
waren
sie
mit
der
29
Vgl. Denzer, Jörg: Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika 1528-
1556, München 2005; Zeuske, Michael: Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine
Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2013, S. 503 ff.; Las Casas,
Bartolomé de: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, hg. v. Hans
Magnus Enzensberger, Frankfurt 1966, S. 94 f.
30
Vgl. van der Heyden, Ulrich: Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische
Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 45 (Brief), 55 (Tagebuch).
31
Vgl. Emmerink, Malina: Hamburger Kolonisationspläne 1840-1842. Karl Sievekings Traum
einer „Deutschen Antipodenkolonie” im Südpazifik, München 2014.
32
Vgl. Gründer, Horst: Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis
von Mission und Kolonialismus, Münster 2004.
19
Reconquista
und
durch
diese
mit
der
Rhetorik
der
Kreuzzüge
verbunden.
Die
richteten
sich
in
erster
Linie
gegen
Muslime,
betrafen
aber
auch
Häretiker
und
in
Deutschland
Juden
und
Slawen.
Die
einen
wurden
Opfer
eines
eigenen
‚deutschen’
Teils
des
ersten
Kreuzzuges.33
Gegen
die
anderen
richtete
sich
der
‚Wendenkreuzzug’.
Bei
diesem
Unternehmen
handelte
es
sich
um
einen
Ableger
des
zweiten
Kreuzzuges,
der
eine
ganze
Anzahl
weltlicher
und
geistlicher
deutscher
Herrscher
nicht
nach
Süden
gegen
Muslime,
sondern
nach
Osten
gegen
die
Slawen
führte.
Der
Papst
billigte
das
Unternehmen
und
stellte
es
der
Befreiung
Jerusalems
wie
der
Reconquista
in
Spanien
gleich.
Bernhard
von
Clairvaux
lieferte
die
nötige
Legitimation,
zu
der
auch
die
Maxime
‚natio
deleatur’
gehörte:
Wer
sich
nicht
missionieren
ließ,
sollte
ausgelöscht
werden.34
Überlegungen
zur
Verknüpfung
unterschiedlicher
Rassismen
können
daher
nicht
erst
mit
dem
modernen
Kolonialismus
beginnen.
Die
Verbindung
rassistischer
Konstruktionen
verläuft
nicht
nur
von
Asiaten
und
Afrikanern
in
Richtung
von
Juden
und
Slawen.35
Sie
beginnt
schon
wesentlich
früher
mit
der
Übertragung
religiöser
rassistischer
Diskriminierungsformen
(gegen
Juden
und
Muslime)
aus
dem
europäisch-‐vorderasiatischen
Raum
in
den
binneneuropäischen
(Irland,
Osteuropa)
sowie
in
den
atlantischen
und
pazifischen
Raum
(Amerika,
Südostasien).
33
Vgl. Der Erste Kreuzzug 1096 und seine Folgen. Die Verfolgung von Juden im Rheinland,
hrsg. v. d. Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1996.
34
Vgl. Fonnesberg-Schmidt, Iben: The Popes and the Baltic Crusades 1147-1254, Leiden 2007,
S. 32.
35
Vgl. Zimmerman, Andrew: Race and World Politics. Germany in the Age of Imperialism,
1878-1914, in: Helmut Walser Smith (Hg.): The Oxford Handbook of Modern German History,
Oxford 2011, S. 359-377.
20
Unabhängig
von
den
kontroversen
Debatten
um
die
Frage
eines
Kreuzfahrer-‐Kolonialismus36
hat
der
religiöse
Rassismus37
zwei
zentrale
Muster
der
Ausgrenzung
benutzt:
den
der
Sünde
und
den
der
Kontamination.
Sie
schlugen
sich
unter
anderem
im
Mythos
von
Noahs
Fluch
und
in
unterschiedlichen
Vorstellungen
von
Blutsreinheit
nieder.
Die
Erzählung
von
Noahs
Fluch
entwickelte
sich
im
Rahmen
der
drei
monotheistischen
Religionen
des
mediterranen
Kulturraums.
Die
Geschichte
baute
auf
der
biblischen
Erzählung
auf,
in
der
Noah
den
Nachkommen
seines
Sohnes
Ham
ewige
Knechtschaft
auferlegte.
Sie
wurde
in
verschiedenen
Schritten
umgeformt
und
dabei
zur
göttlichen
Bestrafung
von
Afrikanern
durch
andauernde
Sklaverei
gemacht.
Diese
Auffassung
hielt
sich
nicht
nur
bei
den
Sklavenhaltern
der
Südstaaten
in
den
USA,
sondern
auch
in
Deutschland,
wo
etwa
der
protestantische
Theologe
Johann
Peter
Lange
sich
noch
1840
sicher
war,
dass
„in
der
Negerraçe
der
Fluch
Noahs
[...]
in
Erfüllung
gegangen”
wäre
und
„den
Höhepunkt
seiner
Erfüllung
im
Negersklaven-‐Handel
erreicht”
hätte.38
Die
Beschwörung
von
Blutsreinheit
hatte
im
europäischen
Rassismus
einen
ersten
Höhepunkt
während
der
spanischen
Politik
36
Vgl. Skottki, Kristin: Christen und Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der
Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie, Münster 2015, S. 92-106
(‚Kolonialismus’); Goetz, Hans-Werner: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-
abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert), 2 Bde.,
Berlin 2013.
37
Fredrickson, George M.: Racism. A Short History, Princeton 2002, S. 42 verwendet den
Ausdruck „religious racism”, versteht darunter aber anachronistisch eine „racialized religiosity”
(tatsächlich beginnt der Prozess der Rassisierung erst mit der Entwicklung der Rassentheorie);
Sicroff, Albert A.: Spanish Anti-Judaism. A Case of Religious Racism, in: Carlos Carrete
Parrondo (u.a.) (Hg.): Encuentros and Desencuentros. Spanish Jewish Interaction Throughout
History, Tel Aviv 2000, S. 589-613, benutzt den Begriff, um religiösen von rassischem
Rassismus zu unterscheiden.
38
Vgl. Whitford, David M.: The Curse of Ham in the Early Modern Era. The Bible and the
Justifications for Slavery, Farnham 2009; zu den Südstaaten siehe Haynes, Stephen R.: Noah’s
Curse. The Biblical Justification of American Slavery, Oxford 2002; Lange, Johann Peter: Die
Gränzfragen zwischen der Philosophie der Geschichte und der Geschichte des Reiches Gottes,
in: ders.: Vermischte Schriften, Bd. 1, Meurs 1840, S. 74-216, hier 145 f.
21
der
‚limpieza
de
sangre’.39
Dabei
konnte
es
nicht
nur
durch
Eheschließungen
mit
Juden
und
Nachkommen
getaufter
Juden
zur
Kontamination
christlichen
Blutes
und
christlicher
Zustände
kommen.
Dazu
genügte
es
schon,
dass
ein
Kind
christlicher
Eltern
von
einer
Amme
gestillt
wurde,
deren
Vorfahren
einst
vom
Judentum
zum
Christentum
konvertiert
waren.
Selbst
Friedhöfe
galten
als
kontaminiert,
wenn
auf
ihnen
konvertierte
Juden
oder
deren
Nachkommen
beerdigt
worden
waren.
Das
zeigt
zur
Genüge,
dass
es
sich
hier
trotz
aller
Blutsmetaphorik
um
religiöse
Vorstellungen
von
Kontamination
handelte.
Solche
Politik
konnte
auf
ältere
Verbote
geschlechtlicher
Beziehungen
zwischen
Christen
und
Juden
zurückgreifen.
Sie
wurden
bis
in
die
Neuzeit
tradiert.
Im
späten
16.
Jahrhundert
verfügte
die
Judenordnung
von
Hessen-‐Darmstadt,
„[w]elcher
Jud
ein
Christenweib
oder
Jungfraw
schändet
oder
beschleft,
der
solle
[...]
am
Leben
gestraft
werden”.
Im
ausgehenden
17.
Jahrhundert
floß
der
damit
verbundene
Verunreinigungsverdacht
in
die
Begründung
der
Ausweisung
der
Juden
aus
Wien
ein.
Ihnen
wurde
unter
anderem
„die
Contaminierung
und
Verschimpfung
des
Christenblutes”
vorgeworfen.40
Ein
Jahrhundert
später
entwickelten
sich
derlei
Überzeugungen
zu
Bestandteilen
des
sich
naturwissenschaftlich
gerierende
Rassedenkens.
Besonders
deutlich
kam
das
in
der
Rassentheorie
Immanuel
Kants
zum
Ausdruck.
Sie
machte
den
Umstand,
dass
angeblich
äußerlich
wie
39
Vgl. Hering Torres, Max S.: Rassismus in der Vormoderne. Die ‚Reinheit des Blutes’ im
Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt 2006.
40
Zit. n. Buchholz, Stephan: ‚Welcher Jude eyn Christenweib oder Jungfraw schendet oder
beschlefft, den sollen unsere beampten am leben darumb straffen’ (1539). Frühformen der
‚Rassenschande’ in Hessen?, in: Heiner Lück / Bernd Schildt (Hg.): Recht - Idee - Geschichte.
Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80.
Geburtstages, Köln 2000, S. 201-227, hier 218; Schubert, Kurt: Die Geschichte des
österreichischen Judentums, Wien 2008, S. 45.
22
geistig-‐seelisch
verschiedene
Gruppen
von
Menschen
untereinander
fruchtbare
Nachkommen
zeugen
können,
zum
zentralen
Bestimmungskriterium
von
Menschenrassen.
Gleichzeitig
behauptete
sie,
dass
genau
das,
was
Rassen
ausmacht,
besser
nicht
stattfinden
sollte
und
unterstellte:
„Es
ist
nicht
gut,
daß
sie
sich
vermischen”,
denn
„Halbschlächtige
[...]
taugen
nicht
viel”.41
Diese
Logik
ging
im
19.
Jahrhundert
in
die
Entwicklung
des
Rassedenkens
ein
und
mit
antisemitischen,
antiziganistischen,
eugenischen
und
kolonialrassistischen
Argumenten
verbunden.
Ihren
sozialen
Gehalt
reflektierte
zu
Beginn
des
20.
Jahrhunderts
Max
Weber
am
Beispiel
der
weißen
Unterschichten
in
den
Südstaaten
der
USA
und
Sigmund
Freud
am
Beispiel
des
Antisemitismus.
In
beide
Überlegungen
gingen
Elemente
ein,
die
sich
in
Allens
begrifflicher
Fassung
von
‚Rassismus’
wiederfinden.
Obwohl
Weber
nicht
an
der
biologischen
Realität
von
‚Rassen’
zweifelte,
behandelte
er
das
Thema
„Rassenzugehörigkeit”
soziologisch
und
erklärte:
„Sie
führt
zu
einer
‚Gemeinschaft’
natürlich
überhaupt
nur
dann,
wenn
sie
subjektiv
als
gemeinsames
Merkmal
empfunden
wird”.
Dazu
bedürfe
es
des
Vergleichs,
weswegen
das
daraus
erwachsende
„Gemeinschaftshandeln”
als
„rein
negativ”
gelten
müsste.
Deswegen
schloss
er:
„Die
‚Rassenqualitäten’
kommen
für
die
Bildung
‚ethnischen’
Gemeinsamkeitsglaubens
generell
nur
als
Grenzen
[...]
in
Betracht”
und
äußern
sich
in
„Absonderung
und
Verachtung”.
Das
erläuterte
er
am
Beispiel
der
„ethnische[n]
Ehre”,
die
er
als
„Massenehre”
begriff,
weil
sie
unabhängig
vom
sozialen
Status
allen
41
Kant, Immanuel: Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie, in: Kant's gesammelte
Schriften, Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff., Bd. 15, S. 655-899, S. 878 (‚vermischen’); ders.:
Reflexionen zur Anthropologie, in: Kant's gesammelte Schriften, a.a.O., S. 55-654, hier 598
(‚Halbschlächtige’) – siehe Hund, Wulf D.: ‚It must come from Europe’. The Racisms of
Immanuel Kant, in: ders. / Christian Koller / Moshe Zimmermann (Hg.): Racisms Made in
Germany, Berlin 2011, S. 69-98.
23
zugänglich
sei,
die
sich
durch
entsprechende
Abgrenzungen
einer
„geglaubten
Abstammungsgemeinschaft”
zurechnen
könnten.
Zur
Illustration
verwies
er
auf
die
armen
Weißen
im
Süden
der
Vereinigten
Staaten,
deren
„soziale
‚Ehre’
schlechthin
an
der
sozialen
Deklassierung
der
Schwarzen
hing”.42
Freuds
Überlegungen
zeigten,
dass
es
für
solchen
Modus
der
Zurechnung
durch
Ausgrenzung
der
‚Rassen’
überhaupt
nicht
bedurfte.
Er
sah
einen
unmittelbaren
Zusammenhang
von
Ausbeutung
und
Herrschaft
im
Inneren
der
Gesellschaft,
daraus
entstehenden
Spannungen
und
deren
Ableitung
durch
nach
außen
gerichtete
Aggression.
Dabei
bestand
er
auf
„der
Erkenntnis,
daß
jede
Kultur
auf
Arbeitszwang
und
Triebverzicht
beruht”.
Der
„Zwang
zur
Kulturarbeit”
müsse
deswegen
notwendigerweise
mit
der
„Beherrschung
der
Masse
durch
die
Minderzahl”
einhergehen.
Das
führe
zur
Kulturfeindschaft
und
Revolutionsbereitschaft
der
arbeitenden
Klassen.
Dem
ließe
sich
aber
durch
eine
„Identifizierung
der
Unterdrückten
mit
der
sie
beherrschenden
und
ausbeutenden
Klasse”
entgegenwirken.
Ermöglicht
würde
das
durch
einen
„Vergleich
mit
anderen
Kulturen”
und
die
ihm
innewohnende
„Berechtigung,
die
Außenstehenden
zu
verachten”,
die
„für
die
Beeinträchtigung
[...im]
eigenen
Kreis
entschädigt”.
Unter
dem
Eindruck
des
nationalsozialistischen
Antisemitismus
fügte
Freud
um
einiges
später
hinzu:
„[D]as
Gemeinschaftsgefühl
der
Massen
braucht
zu
seiner
Ergänzung
der
Feindseligkeit
gegen
eine
außenstehende
Minderzahl”.43
42
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Sozialökonomik. 3. Abteilung,
Tübingen 1922, S. 216 (‚Rassenzugehörigkeit’ etc.), 221 (‚ethnische Ehre’ etc.); vgl. Hund,
Wulf D.: Racism in White Sociology. From Adam Smith to Max Weber, in: ders., Alana Lentin
(Hg.): Racism and Sociology, Berlin 2014, S. 23-67, hier 46-54.
43
Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Leipzig 1927, S. 13 (‚Arbeitszwang’), 9
(‚Kulturarbeit’, ‚Beherrschung der Masse’), 19 (‚Identifizierung’ etc.) u. ders.: Der Mann Moses
und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Amsterdam 1939, S. 163
24
Zu
diesem
Zeitpunkt
war
Deutschland
bereits
ein
rassistischer
Staat.
In
ihm
waren
Diskriminierung
und
Verfolgung
nicht
nur
auf
sogenannte
farbige
Rassen,
sondern
auch
gegen
Juden
und
Slawen
gerichtet
(und
trafen
ebenfalls
jene,
die
als
‚asozial’
und
‚erbkrank’
ausgegrenzt
wurden).
Dabei
kamen
die
Schergen
des
Faschismus
nicht
umhin,
der
Zugehörigkeit
ihrer
jüdischen
und
slawischen
Opfer
zur
‚weißen
Rasse’
Rechnung
zu
tragen
und
ihrer
damit
verbundenen
mangelhaften
Erkennbarkeit
durch
äußere
Stigmata
abzuhelfen.
Die
ersten,
die
außerhalb
des
Lagersystems
zum
Tragen
solcher
Kennzeichen
gezwungen
wurden,
waren
polnische
Fremdarbeiter.
Das
‚Polen-‐Abzeichen’
diente
vor
allem
der
Kenntlichmachung
angeblicher
‚Fremdrassiger’.
Es
sollte
mögliche
persönliche
oder
gar
intime
Kontakte
mit
Deutschen
unterbinden.
Die
polnischen
Arbeiterinnen
und
Arbeiter
erhielten
ein
zweisprachiges
Merkblatt,
in
dem
es
hieß:
„Wer
mit
einer
deutschen
Frau
oder
einem
deutschen
Mann
geschlechtlich
verkehrt,
oder
sich
ihnen
sonst
unsittlich
nähert,
wird
mit
dem
Tode
bestraft”.
Im
Merkblatt
für
Deutsche,
die
Ausländer
beschäftigten,
hieß
es:
„Haltet
das
deutsche
Blut
rein!
[...]
So
wie
es
als
größte
Schande
gilt,
sich
mit
einem
Juden
einzulassen,
so
versündigt
sich
jeder
Deutsche,
der
mit
einem
Polen
oder
einer
Polin
intime
Beziehungen
unterhält”.44
Obwohl
die
Nazis
die
Wiedererlangung
und
Erweiterung
eines
außereuropäischen
deutschen
Kolonialbesitzes
planten,
zielte
ihre
praktische
Politik
auf
Europa.
Im
Vergleich
zu
England
und
Frankreich
war
das
„deutsche
Gegenstück
zu
Indien
oder
Algerien”
nicht
25
„Kamerun”,
sondern
„Mitteleuropa”.
Schon
im
19.
Jahrhundert
gaben
zahlreiche
deutsche
Autoren
eine
„koloniale
Darstellung”
der
Geschichte
deutscher
Ostexpansion
und
verlegten
dabei
„den
amerikanischen
wilden
Westen
in
den
deutschen
wilden
Osten”.45
Das
schloss
die
Popularisierung
solcher
Vorstellungen
ein.
So
verbreitete
die
Firma
Sarotti,
die
auch
Sammelbilder
aus
deutschen
Kolonien
ausgab,
zur
selben
Zeit
eine
Serie
mit
dem
Thema
‚Denkmäler
in
der
Siegesallee
zu
Berlin’.
Deren
erstes
Bild
war
Albrecht
dem
Bär
gewidmet.
Über
den
Markgrafen
hieß
es
auf
der
Rückseite:
„In
mehreren
Kreuzzügen
entriss
er
den
Fremden”
die
‚Mark
Brandenburg’.
„Durch
eine
planvolle
Kolonisation
legte
er
den
Grund
zu
ihrer
Germanisierung
und
Christianisierung”.46
Später
phantasierte
Hitler,
der
„russische
Raum”
wäre
„unser
Indien”
und
„Kolonialraum”,
und
Himmler
erklärte
den
Angehörigen
der
SS,
die
„Hauptkolonie
unseres
Reiches”
läge
im
„Osten”.
Mit
Beginn
des
zweiten
Weltkrieges
errichteten
die
Deutschen
im
Osten
ein
„System
rassistischer
Herrschaft”
und
erklärten
die
Vernichtung
von
dreißig
Millionen
slawischer
Menschen
zum
Kriegsziel.
Himmler
bläute
seinen
Soldaten
ein,
dass
im
Osten
„derselbe
Kampf
gegen
dasselbe
Untermenschentum,
dieselben
Niederrassen”
geführt
würde,
die
unter
verschiedensten
Namen
(wie
‚Hunnen’,
‚Magyaren’,
‚Tataren’,
‚Mongolen’
und
heute
eben
‚Russen’)
Deutschland
seit
Jahrhunderten
bedroht
hätten.
In
seinem
Namen
erschien
eine
bebilderte
Broschüre,
die
den
ewigen
„Kampf
zwischen
Menschen
und
Untermenschen”
45
Blackbourn, David: Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze, in: Sebastian Conrad / Jürgen
Osterhammel (Hg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, 2.
Aufl., Göttingen 2006, S. 302-324, hier 322 (‚Mitteleuropa’), 323 (‚wilder Osten’).
46
Vgl. Zeller, Joachim: Bilderschule der Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder,
Berlin 2008, S. 144 (Sarotti-Sammelbild zu Südwestafrika);
https://www.flickr.com/photos/kaisertreu/galleries/72157677936129846/ (Sarotti-Sammelalbum
zur Siegesallee – zu Bild 1 und dem Text auf dessen Rückseite siehe http://oldthing.de/Cacao-
Sarotti-Denkmaeler-zu-Berlin-Marktgraf-Albrecht-Sammelbild-1-0014616505).
26
beschwor,
die,
vom
„ewigen
Juden”
angeführt,
nach
der
Vernichtung
der
Kulturvölker
trachten
würden
(siehe
Abbildung
3).47
Im
Kontext
dieser
Politik
griff
nicht
nur
der
Reichskommissar
für
die
Ukraine
auf
ein
Wort
zurück,
das
schon
im
Kaiserreich
in
Benutzung
war:
„Wir
sind
ein
Herrenvolk,
das
bedenken
muss,
dass
der
geringste
deutsche
Arbeiter
rassisch
und
biologisch
tausendmal
wertvoller
ist
als
die
hiesige
Bevölkerung”.48
Diese
Rhetorik
machte
überdeutlich,
dass
rassistische
Vergesellschaftung
nichts
an
den
Klassenstrukturen
änderte:
Der
‚geringste
Arbeiter’
blieb
im
sozialen
Binnenvergleich
gering;
die
ihm
zugesprochene
Höherwertigkeit
ergab
sich
nur
in
einem
auf
Ausschluss
zielenden
rassistischen
Kontext.
Der
damit
verbundene
Herrenstatus
war
der
eines
„‚Herrenrassen’proletariats”.49
Nach
der
Zerschlagung
des
deutschen
Faschismus
nahm
der
Umgang
mit
der
kolonialen
Vergangenheit
im
geteilten
Deutschland
sehr
unterschiedliche
Formen
an.
Drastisch
lässt
sich
das
am
Beispiel
Namibias
verdeutlichen.
Die
ehemalige
deutsche
Kolonie
war
nach
dem
ersten
Weltkrieg
Mandatsgebiet
Südafrikas
geworden,
das
faktisch
die
Kolonialpolitik
fortsetzte.
Obwohl
die
Vereinten
Nationen
nach
dem
zweiten
Weltkrieg
das
Ansinnen
Südafrikas
zurückwiesen,
Namibia
zu
annektieren,
behandelte
es
Südafrika
wie
eine
Provinz
und
setzte
dort
auch
die
Politik
der
Apartheid
um.
Während
die
BRD
diese
Position
Südafrikas
lange
akzeptierte
und
zudem
intensive
47
Hitler, Adolf: Monologe im Führerhauptquartier, hrsg. v. Werner Jochmann, Hamburg 1980,
S. 62 f. (‚russischer Raum’); Olschanski, Reinhard: Ressentiment. Über die Vergiftung des
europäischen Geistes, Paderborn 2015, S.159 (zit. Himmler); Longerich, Peter: Politik der
Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München
1998, S. 250 (‚System’), 298 (30 Millionen), 404 (zit. Himmler); Schulungshauptamt der SS
(Hg.): Der Untermensch, o.O., o.J. [Berlin 1942], S. 3 (‚Kampf’ etc.).
48
Rede des Reichskommissars für die Ukraine, Erich Koch am 5.3.1943 in Kiew, dokumentiert
in Poliakov, Léon / Wulf, Josef: Das Dritte Reich und seine Denker, Neuaufl., München 1978,
S. 519.
49
Eichholtz, Dietrich: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, 3 Bde., Neuaufl.,
München 2003, Bd. 1, S. 284.
27
wirtschaftliche
Beziehungen
dorthin
unterhielt,
unterstützte
die
DDR
die
‚South-‐West
Africa
People’s
Organisation’
(SWAPO)
und
deren
Kampf
gegen
die
Kolonialherrschaft.
Dort
erschien
auch
die
erste
kritische
historische
Studie
zum
genozidalen
Regime
des
Deutschen
Reiches
in
Namibia.50
In
beiden
Fällen
spielten
vom
Kalten
Krieg
geprägte
Interessen
eine
Rolle.
Gleichwohl
wurden
die
öffentlichen
Diskurse
durch
die
unterschiedlichen
staatlichen
Einstellungen
zu
Prozessen
der
Dekolonisierung
und
sie
tragenden
antikolonialen
Widerstandbewegungen
mitbestimmt.
Das
führte
aber
in
beiden
Staaten
nicht
zu
rassismustheoretischen
Konzeptionen.
Im
Osten
gab
es
dazu
zwar
früh
erste
Ansätze,
ein
gegen
Ende
der
70er
Jahre
erscheinender
Band
‚Gegen
Rassismus,
Apartheid
und
Kolonialismus’
dokumentierte
aber,
dass
sie
nicht
fortgesetzt
worden
waren.51
Im
Westen
wurde
zwar
der
Begriff
Rassismus
früh
reimportiert,
dabei
aber
behauptet,
dass
die
Gewalt
bei
der
Kolonisierung
Amerikas
durch
das
‚Heidentum’
und
nicht
durch
die
‚Rasse’
der
„Eingeborenen”
und
„Sklaven”
gerechtfertigt
worden
wäre,
so
dass
sich
„Rassismus”
noch
nicht
einmal
„am
Horizont”
gezeigt
hätte.
Ein
Klassiker
des
Genres
unterstellte
gar,
dass
das
Rassedenken
in
„Afrika”
entstanden
sei
–
„aus
dem
Entsetzen”
der
Europäer
„vor
Wesen,
die
weder
Mensch
noch
Tier
50
Vgl. Drechsler, Horst: Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus,
1884-1915, Berlin 1966. Siehe auch Zimmerer, Jürgen / Zeller Joachim (Hg.): Völkermord in
Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, 3. Aufl.,
Berlin 2016.
51
Siehe Heymann, Stefan: Marxismus und Rassenfrage, Berlin 1948; Kahn, Siegbert:
Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland, Berlin
1948; Gegen Rassismus, Apartheid und Kolonialismus. Dokumente der DDR 1949-1977, hrsg.
v. Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR, Berlin 1978.
28
zu
sein
schienen”
und
„ohne
alle
faßbare
zivilisatorische
und
politische
Realität”
den
„schwarzen
Kontinent
bevölkerten
und
übervölkerten”.52
‚Unterentwicklung’
und
‚Migranten’.
(Post)Kolonialer
Rassismus
aus
Erinnerungsabwehr
Kolonialismus
ist
mehr
als
eine
historische
Epoche
und
kommt
als
Phänomen
in
vielfältigen
Erscheinungsformen
auch
ohne
formale
Kolonialherrschaft
aus.53
Ebenso
ist
Dekolonisierung
nicht
nur
ein
politischer
und
sozialökonomischer
Prozess,
sondern
schließt
auch
Wissensarchive
und
Mentalitäten
ein.
Aus
dieser
Perspektive
besteht
der
‚koloniale
Blick’
einschließlich
mit
ihm
verbundener
Rassismen
lange
nach
der
Unabhängigkeit
ehemaliger
Kolonien
fort.
Das
gilt
auch
für
Deutschland.54
Allein
die
Lektüre
des
wichtigsten
deutschsprachigen
Nachrichtenmagazins,
das
seit
1947
auch
intensiv
über
Afrika
berichtete,
zeigt
jahrzehntelang
ein
ganzes
Kaleidoskop
rassistischer
Diskriminierungsmuster,
das
zudem
auf
zahlreichen
Titelseiten
illustriert
wurde.
Noch
im
ausgehenden
20.
Jahrhundert
berichtete
das
Blatt
über
den
„Elends-‐Kontinent
Afrika”
unter
der
Schlagzeile
„Rettung
durch
die
Weißen?”
(siehe
Abbildung
4).
Im
Heft
wurde
die
Frage
zynisch
beantwortet:
„Wohl
kaum
noch
zu
vermeiden
ist
eine
Art
humanitärer
Kolonialismus”.
Obwohl
im
Text
von
„Schwarzafrika”
„südlich
der
Sahara”
die
Rede
war,
zeigte
das
Cover
52
Benedict, Ruth: Die Rassenfrage in Wissenschaft und Politik, Bergen II, 1947, S. 155
(Amerika); Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986
(Originalausgabe New York 1951), S. 308 (Afrika).
53
Vgl. Conrad, Sebastian: Kolonialismus und Postkolonialismus, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte 62, 2012, 44f., S. 3-9, hier 5.
54
Vgl. Sarè, Constant Kpao: Postkoloniale Erinnerungskultur in der zeitgenössischen
deutschsprachigen Afrika-Literatur, Hamburg 2012; siehe auch Lundt, Bea: Die koloniale
Mentalität in nachkolonialer Zeit. Zu Genese, Erscheinungsformen und Wandel einer
Bewusstseinsform, in: Bärbel Völkel / Tony Pacyna (Hg.): Neorassismus in der
Einwanderungsgesellschaft. Eine Herausforderung, Bielefeld 2017, S. 57-88.
29
Afrika
als
‚schwarzen
Kontinent’
und
demonstrierte
damit,
wie
flexibel
rassistische
Diskriminierung
mit
ihren
verschiedenen
Versatzstücken
umgehen
kann.55
Koloniale
Denkmuster
und
Handlungsweisen
und
sie
legitimierende
Rassismen
haben
tiefe
Spuren
im
kollektiven
Gedächtnis
der
Deutschen
hinterlassen
und
wirken
bis
heute
fort.
Zwar
hat
die
wissenschaftliche
Auseinandersetzung
mit
Kolonialismus
und
Kolonialrassismus
seit
Beginn
der
2000er
Jahre
in
Deutschland
zugenommen.
Nach
wie
vor
wird
die
Aktualität
kolonialer
Diskurse
in
der
deutschen
Öffentlichkeit
jedoch
selten
erkannt
oder
gar
problematisiert.
Obwohl
die
verheerenden
Folgen
der
kolonialen
Geschichte
Deutschlands
bereits
den
Zeitgenossen
bekannt
waren
und
etwa
im
Deutschen
Reichstag
kontrovers
diskutiert
wurden,
wird
ihre
Bedeutung
bis
heute
marginalisiert
und
ihre
erinnerungspolitische
wie
rechtliche
Aufarbeitung
gehemmt.
So
kritisierte
2001
ein
Journalist
die
Entschuldigung
des
deutschen
Außenministers
für
Sklaverei
und
Kolonialismus,
weil
Deutschland
„auf
keine
ausgeprägt
kolonialistische
Vergangenheit“
zurückblicke.56
Und
noch
2017
unternahm
ein
Publizist
den
Versuch,
Teile
der
deutschen
Kolonialpolitik
durch
eine
Revitalisierung
der
Zivilisierungsmission
nachträglich
zu
legitimieren.57
Eine
offene
Schuldabwehr
der
deutschen
Kolonialverbrechen
kommt
gar
in
den
aktuellen
Verhandlungen
über
die
Anerkennung
und
Wiedergutmachung
des
Völkermordes
an
den
Herero
und
Nama
im
55
Ein schwarzer Holocaust, in: „Der Spiegel”, 51, 1992, S. 148-158, 152 (‚Kolonialismus’), 153
(‚Schwarzafrika’), 157 (‚südlich der Sahara’); Lösing, Felix: Nachrichten aus dem ‚Herz der
Finsternis’. Rassismus im ‚Spiegel’, in: Gudrun Hentges (u.a.) (Hg.): Sprache – Macht –
Rassismus, Berlin 2014, S. 97-125.
56
Zastrow, Volker: Zutiefst empörte und beschämte Deutsche, in: FAZ, 6.9.2001, S. 1.
57
Vgl. Posener, Alan: Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus, in: www.welt.de,
22.7.2017.
30
heutigen
Namibia
zum
Ausdruck.
Die
deutsche
Regierung
macht
eine
symbolische
Entschuldigung
von
einem
Verzicht
auf
Reparationen
abhängig
und
weigert
sich,
einer
Vorladung
des
Bundesgerichts
in
New
York
nachzukommen,
wo
die
Herero
seit
Januar
2017
gegen
sie
klagen.58
Die
Loslösung
des
Wissens
um
die
koloniale
Vergangenheit
von
aktuellen
Problemen
ermöglicht
das
weitgehend
unreflektierte
Fortwirken
kolonialer
Rassismen.
Diesen
Mechanismus
haben
Theodor
W.
Adorno
und
andere
am
Beispiel
des
Antisemitismus
als
‚Erinnerungsabwehr’
beschrieben.59
Im
postkolonialen
Rassismus
aus
Erinnerungsabwehr
wird
die
Bedeutung
des
Kolonialismus
für
die
Ausprägung
aktueller
Rassismen
aus
öffentlichen
Diskussionen
ausgeklammert.
Koloniale
Spuren
in
Kultur
und
Alltagsdiskursen
werden
nicht
oder
kaum
hinterfragt
und
die
Ursachen
globaler
Ungleichheit
in
Verleugnung
ihrer
kolonialen
Prägung
auf
lokale
Faktoren
fokussiert.
Die
damit
einhergehenden
Verkehrungen
reichen
bis
zur
Schuldzuschreibung
an
Flüchtlinge,
die
in
ein
Bedrohungsszenario
der
deutschen
‚Leitkultur’
mündet.
Damit
einhergehende
Stereotypisierungen
mit
kolonialrassistischer
Vergangenheit
verbinden
sich
mit
kulturellen
Mustern,
in
denen
koloniale
Motive
aufgehoben
sind
und
fortwirken.
Das
zeigt
sich
unter
anderem
in
den
Widerständen
gegen
die
Korrektur
rassistischer
Sprache
in
Kinderbüchern,
der
unreflektierten
oder
böswilligen
Fortführung
der
Tradition
des
‚Blackfacing’
in
der
58
Vgl. Zimmerer, Jürgen: Völkermord von deutscher Hand. Stellen wir uns unserer
Verantwortung?, in: wwww.stern.de, 20.10.2017.
59
Vgl. Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Das Argument, 29,
1964, S. 88-104; siehe u.a. Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der
politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 161 ff.
31
Unterhaltungsindustrie
oder
dem
hartnäckigen
Festhalten
an
Straßennamen
mit
kolonialem
Hintergrund.60
Zwar
rückte
die
koloniale
Prägung
aktueller
Rassismen
in
den
vergangenen
Jahren
vermehrt
in
den
Fokus
des
öffentlichen
Interesses.
Dabei
werden
aber
längst
nicht
alle
Dimensionen
des
Problems
beleuchtet.
So
gibt
es
in
Deutschland
bis
heute
kein
Mahnmal
für
die
Opfer
der
antislawistischen
Lebensraumpolitik
der
Nationalsozialisten
in
Osteuropa
und
eine
systematische
Untersuchung
der
Tradierung
anti-‐polnischer
Topoi
seit
dem
Kaiserreich
steht
noch
aus.61
Gleichzeitig
sind
im
Hinblick
auf
Kontinuitäten
viele
Fragen
offen.
„Die
Welt
ist
längst
noch
nicht
weggegeben.
Im
Gegenteil!
Die
Welt
wird
gerade
wieder
in
einem
ganz
neuen
Sinne
ganz
neu
verteilt”,
schrieb
ein
Journalist
1957
und
verwies
damit
auf
die
Verknüpfung
von
Dekolonisation
und
europäischer
Integration
mit
den
Anfängen
europäischer
‚Entwicklungshilfe’.62
Erst
als
die
Kolonialreiche
nach
den
Krisen
der
1950er
Jahren
endgültig
zu
zerfallen
drohten,
avancierte
Afrika
zur,
wie
Konrad
Adenauer
formulierte,
„Ergänzung
Europas”
und
die
alte
Vision
eines
geeinten
‚Eurafrika’
wurde
zum
Leitbild
der
europäischen
Integration.63
60
Vgl. Hinrichsen, Malte / Hund, Wulf D.: Metamorphosen des ‚Mohren‘. Rassistische Sprache
und historischer Wandel, in: Gudrun Hentges (u.a.) (Hg.): Sprache – Macht – Rassismus, Berlin
2014, S. 69-96.
61
Vgl. Reineke, Stefan: Mahnmal für Opfer des Antislawismus. Lücke in der Erinnerung, in:
www.taz.de, 21.6.2016. Zur Konstruktion Polens als kolonialem Raum siehe Kopp, Kristin
Leigh: Germany’s wild East. Constructing Poland as colonial space, Ann Arbor 2012.
62
Johann, Alfred E.: Groß ist Afrika. Europas dunkle Schwester, Gütersloh 1957, S. 338, zit. n.
van Laak, Dirk: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert,
München 2005, S. 168.
63
Adenauer, Konrad: [Brief] an Paul Adenauer, 24.2.1957, in: Mensing, Hans Peter / Morsey,
Rudolf (Hg.): Briefe 6, 1955-1957, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1998, S. 294; vgl. van
Laak, Dirk: Detours around Africa. The Connection between Developing Colonies and
Integrating Europe, in: Alec Badenoch / Andreas Fickers (Hg.): Materializing Europe.
Transnational Infrastructures and the Project of Europe, Basingstoke 2014, S. 27-46, hier 28 ff.
Siehe auch Moser, Thomas: Europäische Integration, Dekolonisation, Eurafrika. Eine
historische Analyse über die Entstehungsbedingungen der Eurafrikanischen Gemeinschaft von
der Weltwirtschaftskrise bis zum Jaunde-Vertrag, 1929-1963, Baden-Baden 2000.
32
Zwar
wertete
der
Vertag
von
Yaoundé
die
1957
beschlossene
‚Assoziation’
der
ehemaligen
Kolonien
1963
zur
‚Kooperation’
auf,
doch
statt
einer
gleichberechtigten
Partnerschaft
hatten
die
europäischen
Mächte
ein
Wirtschaftssystem
errichtet,
das
den
eurozentristischen
Glauben
an
den
Vorbildcharakter
der
eigenen
‚Entwicklung’
ins
postkoloniale
Zeitalter
übertrug.
In
dieser
technokratischen
Spielart
der
Zivilisierungsmission
wurde
die
Rolle
Afrikas
auf
die
einer
„wirtschaftlichen
Vorratskammer”
für
die
„technische
Werkstatt”
Europa
reduziert.64
Während
sich
das
politische
Interesse
der
BRD
an
der
Dekolonisation
auf
ihre
Funktion
im
Ost-‐West-‐Konflikt
beschränkte,
bot
die
Integration
in
die
formal
neu
strukturierte
Weltwirtschaft
einen
effizienten
Motor
für
den
deutschen
Wiederaufbau.65
Als
starkes
Mitglied
der
EWG
erleichterte
die
BRD
den
profitablen
Umbau
des
französischen
Kolonialreiches
und
engagiert
sich
ab
den
1950er
Jahren
in
zahlreichen
Handels-‐
und
Entwicklungsprojekten
im
globalen
Süden.66
Darüber
hinaus
trugen
deutsche
Militärhilfe
und
Waffenlieferungen
zur
Eskalation
gewaltsamer
Dekolonisationkonflikte
bei,
beispielsweise
in
Algerien
und
Angola.67
64
Timmler, Markus: Die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit zwischen Afrika und
Europa, in: Übersee-Rundschau 6-7, 1958, S. 12 (‚Vorratskammer’, ‚Werkstatt’), zit. n. van
Laak, Dirk: Entwicklungspolitik, Entwicklungshilfe und Entwicklungskooperation in der Ära
Adenauer: Traditionen und Neuansätze, in: Eckart Conze (Hg.): Die Herausforderung des
Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010, S. 156-178, hier 162; vgl. Eckert, Andreas / Wirz,
Albert: Wir nicht, die Anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad /
Shalini Randeira (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den
Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 372-392, S. 377
(Vorbildcharakter); van Laak, Detours around Africa, S. 37 (‚Kooperation’).
65
Vgl. Frey, Marc: Die Bundesrepublik Deutschland und der Prozess der Dekolonisierung, in:
Eckart Conze (Hg.): Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010, S.
179-192, S. 179 ff.
66
Vgl. van Laak, Entwicklungspolitik, S. 162 f.; ders., Detours around Africa, S. 36.
67
Zu Algerien siehe von Bülow, Mathilde U.: The Foreign Policy of the Federal Republic of
Germany, Franco-German Relations, and the Algerian War, 1954-62, Diss. University of
Cambridge, Cambridge 2006; zu Angola siehe Schliehe, Nils: Deutschlands Hilfe für Portugals
33
Angesichts
eines
hartnäckigen
Kolonialrevisionismus,
der
sich
in
der
westdeutschen
Politik
und
Wissenschaft
bis
weit
in
die
1960er
Jahre
von
der
angeblichen
„kolonialen
Schuldlüge”
nährte,
wurde
der
BRD
nicht
nur
in
der
DDR
vorgeworfen,
neokoloniale
Ambitionen
zu
hegen.68
Auch
hier
zeigte
sich
die
koloniale
Erinnerungsabwehr
als
wirksamer
Mechanismus
im
kollektiven
Bewusstsein
der
Deutschen:
den
frühen
‚Verlust’
der
eigenen
Kolonien
zu
einer
„späte[n]
Tugend”
verklärend,
konnte
sich
die
BRD
nach
außen
und
innen
als
„von
der
Hypothek
des
Kolonialismus
unbelastet”
und
ihre
zunehmende
Entwicklungshilfe
als
Fortführung
einer
unfreiwillig
unterbrochenen
humanitären
Mission
darstellen.69
Bis
heute
sind
viele
ehemalige
Kolonien
mit
der
EU
assoziiert
und
die
deutsche
Politik
bewegt
sich
in
der
‚Entwicklungszusammenarbeit’
in
Strukturen,
die
durch
den
Kolonialismus
geformt
wurden.
Zwar
verfolgen
unzählige
beteiligte
Organisationen
unterschiedliche
Ziele;
viele
von
ihnen
verorten
jedoch
in
der
‚Dritten
Welt’
noch
immer
in
erster
Linie
Bedürftige,
deren
Situation
in
kolonialrassistischer
Tradition
als
selbstverschuldet
wahrgenommen
wird.70
Dies
trifft
keineswegs
nur
auf
ältere
Generationen
zu:
„Viele
junge
Weiße,
die
ehemalige
Kolonien
besuchen,
denken,
fühlen
und
schreiben
über
diese
Länder
bis
heute
in
einer
kolonialen
Mentalität“,
beobachtete
Bea
34
Lundt
in
ihrer
Arbeit
mit
deutschen
Studierenden,
die
Schulpraktika
in
Westafrika
absolvierten.71
„Die
Migranten
stehen
für
jenen
ersehnten
Boden,
der
noch
tiefer
liegt
–
noch
unterhalb
des
Bodens,
auf
den
die
einheimischen
misérables
verwiesen
wurden“,
beschrieb
Zygmunt
Bauman
die
Wirkweise
des
antimigrantischen
Rassismus
in
Frankreich.72
Auch
Deutschland
erlebt
momentan
eine
Konjunktur
rassistischer
Mobilisierung
und
Gewalt
gegen
‚Migranten’,
die
sich
nicht
auf
den
rechten
Rand
der
Gesellschaft
beschränkt.73
Darin
verschmelzen
verschiedene
Traditionen
der
Diskriminierung
von
‚Fremden’
zu
komplexen
Argumentationszusammenhängen,
in
denen
auch
koloniale
Diskurse
instrumentalisiert
werden,
um
Differenz
zu
markieren.
Als
im
Herbst
2013
etwa
100
flüchtende
Menschen
die
Grenzzäune
der
spanischen
Enklaven
Ceuta
und
Melilla
in
Marokko
überwanden,
hielt
der
‚Flüchtlingsstrom‘
als
Metapher
einer
Europa
überflutenden,
bedrohlichen
Menge
anonymer
Massen
erneut
Einzug
in
deutsche
Mediendiskurse.74
Der
tausendfache
Tod
im
Mittelmeer
legte
in
der
Folge
eine
Krise
des
europäischen
Migrationsregimes
offen,
die
mit
der
deutschen
Grenzöffnung
2015
zur
‚Flüchtlingskrise’
umgedeutet
wurde.75
Spätestens
die
Terroranschläge
vom
11.
September
2001
rückten
den
antimuslimischen
Rassismus
ins
Zentrum
des
deutschen
Einwanderungsdiskurses.
In
einer
Neuauflage
des
kolonialen
Blicks
nach
Osten,
den
Edward
Said
als
‚Orientalismus’
theoretisiert
hat,
wird
71
Lundt Die koloniale Mentalität, S. 58.
72
Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen Ein Essay über Migration und Panikmache, 4.
Aufl., Berlin 2017, S. 19.
73
Vgl. Platzdasch, Günter: Rechte Leute von Links, in: www.faz.net, 9.7.2017.
74
Vgl. zum Beispiel Afrikanische Flüchtlinge stürmen spanische Exklaven, in: Spiegel Online,
17.9.2013.
75
Vgl. Castro Varela, María do Mar: Akte Lampedusa. Rassismus und Migration, in: Britta
Marschke / Heinz U. Brinkmann (Hg.): „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ...“.
Alltagsrassismus in Deutschland, Berlin, Münster 2015, S. 45-66, hier 57.
35
der
Fiktion
eines
aufgeklärten
und
fortschrittlichen
christlich-‐
jüdischen
Abendlandes
ein
als
irrational-‐fanatisch
und
rückständig
gekennzeichneter
Islam
gegenüber
gestellt.76
Mit
der
Parole
„Der
Islam
hat
die
Aufklärung
noch
vor
sich“77
wird
aber
nicht
nur
die
Dialektik
der
Aufklärung
verschwiegen,
die
gleichzeitig,
etwa
durch
Immanuel
Kant,
den
Ausgang
des
Menschen
aus
seiner
selbstverschuldeten
Unmündigkeit
forderte
und
die
Grundlagen
des
modernen
Rassismus
entwickelte.
Dessen
Logik
des
‚aufgeklärten
Kolonialismus’
wird
auch
in
postmoderne
Varianten
überführt,
deren
Assimilationsforderungen
kein
Jota
moderater
sind.
In
der
aktuellen
deutschen
Arbeitsmigrationspolitik
wirkt
auch
die
strukturelle
Logik
des
Kolonialismus
fort:
So
werden
durch
migrantische
Sondergesetze
„Grenzzonen
im
Inland“
errichtet,
in
denen
koloniale
Ausbeutungsstrukturen
reproduziert
und
mit
genderspezifischer
Diskriminierung
verbunden
werden,
wie
das
Beispiel
der
prekären
Beschäftigung
polnischer
Frauen
in
der
deutschen
Pflege
zeigt.78
Stephan
Lessenich
führt
aktuelle
Migration
in
den
globalen
Norden
auf
die
‚Externalisierung’
der
Kosten
des
europäischen
‚Fortschritts’
in
die
Peripherien
zurück.79
Antimigrantischer
Rassismus
in
Deutschland
76
Siehe Benz, Wolfgang: Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen
unsere Demokratie gefährdet, München 2012; Attia, Iman: Orient- und Islambilder.
Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007;
vgl. Said, Orientalism.
77
Frankenfeld, Thomas: Der Islam hat die Aufklärung noch vor sich, in: Hamburger
Abendblatt, 23.6.2009; zum Folgenden vgl. Hund, ‚It must come from Europe’ (zu Kant);
Tricoire, Damien (Hg.): Enlightened Colonialism. Civilization Narratives and Imperial Politics
in the Age of Reason, Basingstoke 2017 (zum Assimilationsprogramm des aufgeklärten
Kolonialismus).
78
Ha, Kien Nghi: Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik, in: Hito Steyerl /
Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und
postkoloniale Kritik, Berlin 2003, S. 56-107, hier 89 (‚Grenzzonen im Inland’), vgl. Castro
Varela, Akte Lampedusa, S. 63 (genderspezifische Diskriminierung).
79
Vgl. Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr
Preis, Berlin 2016, S. 25 (Externalisierung), 76 (Migration).
36
kann
in
dieser
Logik
ebenfalls
als
koloniale
Erinnerungsabwehr
interpretiert
werden:
Statt
das
globale
Wohlstandsgefälle
als
zentrale
Folge
kolonialer
Ausbeutung
und
legitime
Fluchtursache
anzuerkennen,
wird
Migration
als
Bedrohung
angesehen
und
kriminalisiert
oder
gar
mit
der
Unterstellung
eines
‚umgekehrten
Rassismus’
in
Verbindung
gebracht.80
Bei
genauerer
Betrachtung
entpuppen
sich
dabei
Verweise
auf
lokale
Misswirtschaft,
„korrupte
Eliten“
und
kollektive
Unfähigkeit
zu
‚Fortschritt’
in
so
genannten
„gescheiterten
Staaten“
als
moderne
Narrative
der
‚Unterentwicklung’:
So
impliziert
die
Wahrnehmung
von
Migration
aus
dem
globalen
Süden
als
„Aufstand
der
Verlierer“
das
endgültige
Scheitern
der
kolonialen
Zivilisierungsmission.81
Die
traditionelle
Sicht
auf
die
deutsche
Kolonialgeschichte
als
„Einbahnstraße“
verstellt
den
Blick
auf
die
vielfältigen
Spuren,
die
sie
in
der
kolonialen
Metropole
hinterließ.82
Wie
die
angeführten
Beispiele
verdeutlichen,
ermöglicht
die
koloniale
Erinnerungsabwehr
bis
heute
die
weitgehend
unbeachtete
Fortwirkung
kolonialrassistischer
Topoi
in
der
deutschen
Kultur,
in
der
globalen
‚Entwicklungszusammenarbeit’
sowie
im
Umgang
der
deutschen
Mehrheitsgesellschaft
mit
Eingewanderten
und
Geflüchteten.
80
Vgl. ebd., S. 76. Zum umstrittenen Konzept des ‚Reverse Racism’ siehe Pincus, Fred L.:
Reverse Discrimination: Dismantling the Myth, Boulder 2003.
81
Lessenich, Neben uns die Sintflut, S. 72 (‚korrupte Eliten’, ‚gescheiterte Staaten’), 154
(‚Aufstand der Verlierer’); vgl. van Laak, Entwicklungspolitik, S. 176 ff.
82
Eckert/Wirz: Wir nicht, die Anderen auch, S. 379. Siehe auch Stoler, Ann Laura / Cooper,
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39