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Ausgabe 2/2020, 12. Jg.

zukunft
zukunft forschung 02 | 20

forschung

IDEEN UMSETZEN
thema: unternehmertum fördern | physik: chemische prozesse beobachten
betriebswirtschaft: bilanzkontrolle | pädagogik: gemeinsam lernen | covid-19:
sinn als stresspuffer | theologie: karl rahner & die bibel | ökologie: kreislaufwirtschaft

DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS­BRUCK


2 zukunft forschung 02/20 Foto: Andreas Friedle
EDITORIAL

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

D
ie Pandemie stellt uns alle vor große Herausforde- ihre Ideen unternehmerisch nutzen und so direkt der Wirtschaft
rungen. Auch die Universität ist hier ständig bestrebt, ei- und Gesellschaft unseres Landes zu Gute kommen lassen. Auch
Minion
nerseits den Betrieb von Forschung und Lehre aufrecht- stellen wir Ihnen vor, mit welchen Maßnahmen wir das Un-

DE
zuerhalten und andererseits die Gesundheit von Studierenden ternehmertum sowohl unter den Studierenden als auch unter
und Mitarbeiter*innen bestmöglich zu schützen. Jenseits dieser unseren Wissenschaftler*innen in vielfältiger Weise fördern.
akuten Notwendigkeiten müssen wir uns aber auch Gedanken
über die Zeiten nach der COVID-Krise machen. Denn die dras- Neben dem Schwerpunktthema finden Sie in diesem Heft wie-
tischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden der viele weitere Beispiele für die erfolgreiche Arbeit an unserer
PEFC zertifiziert
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in vielen Bereichen unserer Gesellschaft deutliche Spuren hin- Universität. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektürenachhaltig und
stammt aus stammt aus
nachhaltig
terlassen. Die Wissenschaftler*innen der Universität Innsbruck freuen uns über Ihre Fragen und Anregungen. Bleiben Sie undge-
bewirtschafteten
Wäldern
bewirtschafteten
Wäldern und
kontrollierten kontrollierten
setzen sich schon jetzt intensiv mit den wirtschaftlichen und sund! Quellen Quellen

gesellschaftlichen Folgen der Pandemie auseinander und schaf- www.pefc.at www.pefc.at

fen damit die Basis für Lösungen in der Zukunft.

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe unseres Forschungsmagazins


widmen wir uns einem Thema, das nach der Pandemie von
besonderer Bedeutung sein wird: der Innovationskraft und dem
Unternehmertum. Diese fördern wir an unserer Universität in
besonderem Maße, und wir wollen Ihnen hier einige Beispiele TILMANN MÄRK, REKTOR
geben, wie Forscher*innen unserer Universität ihr Wissen und ULRIKE TANZER, VIZEREKTORIN FÜR FORSCHUNG
Myriad

IMPRESSUM
Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns­bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns­bruck, www.uibk.ac.at
Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Dr. Christian Flatz (cf), Mag. Eva Fessler (ef)
Kontakt: public-relations@uibk.ac.at PEFC zertifiziert PEFC zertifiziert
Dieses Produkt Dieses Produkt
Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Inns­bruck, www.kultig.at stammt aus stammt aus
Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lisa Marchl, MSc (lm), Daniela Pümpel, MA nachhaltig nachhaltig
bewirtschafteten bewirtschafteten
(dp), Mag. Susanne Röck (sr) Layout & Bildbearbeitung: Lara Hochreiter, Florian Koch Wäldern und Wäldern und
kontrollierten kontrollierten
Lektorat & Anzeigen: MMag. Theresa Rass Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns­bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz Quellen Quellen
www.pefc.at www.pefc.at

Foto: Uni Inns­bruck zukunft forschung 02/20 3


BILD DER
WISSENSCHAFT
INHALT

TITELTHEMA 8
FISHPROTECTOR. Barbara Brinkmeier revolutioniert mit einem
neuen Seilrechen die Möglichkeiten im Bereich des Fischschutzes. 8

DISCOVAR. Augmented Reality von der Stange könnte einen


Mehrwert für Museen und deren Besucher ergeben.12

AQT. Das Spin-off will den ersten kommerziellen Q


­ uantencomputer
verwirklichen – das Konzept stammt von Innsbrucker Physikern.  14
TITELTHEMA. Akademische Forschung eröffnet neue
SPIDER-CONNECTOR. Holz als Baustoff spielt bei großvolumigen Einsichten in Natur und Gesellschaft, sehr oft entstehen
Bauten noch keine große Rolle – eine Entwicklung von Roland dabei auch konkrete Ideen für die Praxis. Wie solche
Maderebner soll das nun ändern. 16 Ideen an der Uni Innsbruck umgesetzt werden, unter-
sucht ZUKUNFT FORSCHUNG in dieser Ausgabe.
TEXIBLE. Das Spin-off entwickelt ­intelligente Textilien, die Grund-
lagen ­entstanden am ­Institut für Textilchemie und Textilphysik.18
26

FORSCHUNG
STANDORT. Warum die Unternehmensgruppe Getzner auf enge
Zusammenarbeit mit Universitäten setzt, erklärt Georg Comploj, ehe-
maliger Geschäftsführer der Holding Getzner, Mutter & Cie. 22

CHEMIE. Kathrin Breuker hat einen Mechanismus entschlüsselt, PHYSIK. Roland Wester lässt in seinem Labor
der für die Vermehrung des HI-Virus zentral ist. 30 I­ onen auf Moleküle prallen und will nun in die-
sen Ionen-Molekül-Reaktionen nach Effekten der
DIGITALISIERUNG. Editionen wandern zunehmend in den ­Quantenmechanik suchen.
digitalen Raum – das eröffnet auch neue Möglichkeiten. 30
36
PÄDAGOGIK. Thomas Hoffmann will Kinder mit Behinderung
besser in den Chemieunterricht einbeziehen. 32

WIRTSCHAFT. Der Wirecard-Bilanzskandal hat die ­zuständigen


Prüfstellen in die Kritik gebracht. Warum sie dennoch wichtig
sind, wissen Pia Meusburger und Christoph Pelger.  34

ÖKOLOGIE. Anke Bockreis und Martin Stuchtey setzen bei der Beseiti-
gung von Plastikmüll auf das Konzept der Kreislaufwirtschaft.  38 PSYCHOLOGIE. Die Corona-Krise hat auch massive
psychische Folgen. Sinnforscherin Tatjana Schnell
THEOLOGIE. Karl Rahner prägte die Theologie des 20. ­Jahrhunderts. untersucht seit Beginn der Krise die Auswirkungen
Innsbrucker Forscher untersuchen nun sein V
­ erhältnis zur Bibel.  42 auf das psychische Wohlergehen.

RUBRIKEN
EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: DAS AUGE EINER SCHWARZEN SOLDATENFLIEGE 4 | NEUBERUFUNG: JOHANNES HOFF 6 | FUNDGRUBE VER­GANGEN­­HEIT: DAS
HERBARIUM DES INSTITUTS FÜR BOTANIK 7 | MELDUNGEN 22 + 41 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: MAYARA SIVERIO LIMA 48 | SPRUNGBRETT INNS­
BRUCK: URSULA DAXECKER 49 | ESSAY: OPEN SCIENCE – WISSENSCHAFTLICHES WISSEN VERWERTBAR MACHEN von Leonhard Dobusch 50

Auf Augenhöhe mit der Schwarzen Soldatenfliege arbeiten Forsche- der Larven im Detail geklärt, könnten diese industriell gezüchtet und
rinnen und Forscher von den Instituten für Mikrobiologie und Öko- als proteinreiches und nachhaltiges Futtermittel eingesetzt werden. Be-
logie. Sie untersuchen in mehreren Projekten den Einsatz der Solda- kannt ist bereits, dass symbiontisch lebende Mikroorganismen auf ihrer
tenfliegen-Larve in der Bioabfallverwertung: Sind die Zusammenhänge Haut und im Darm die Larven gesund halten, obwohl sie auf und von
zwischen der Nahrungszusammensetzung und dem Darm-Mikrobiom verdorbenem Bioabfall leben.

Fotos: Andreas Friedle (2), Michael Gunz (1); COVERFOTO: Rothoblaas; BILD DER WISSENSCHAFT: Wolfgang Dibiasi/dibiasiwelt.com
zukunft forschung 02/20 5
NEUBERUFUNG

DER WEG INS


POSTDIGITALE ZEITALTER
Als neuer Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät will Johannes Hoff
­spirituelle Praktiken als Ressource für den aktuellen Transformationsprozess begreifen.

M
it der Digitalisierung hat die
Moderne eine technologische
Ausformung erreicht, die für
Johannes Hoff den tiefgreifendsten ge-
sellschaftlichen Wandel seit der Einfüh-
rung der phonetischen Schrift mit sich
bringt. Hoff hat sich in seiner Habilitation
intensiv mit dem spätmittelalterlichen
Mystiker, Philosophen und Bischof von
Brixen Nikolaus von Kues beschäftigt.
In der Auseinandersetzung mit seinem
Werk hat er gelernt, die vormoderne Phi-
losophie nicht durch die moderne Brille
zu lesen, sondern aus ihrer Entstehungs- JOHANNES N. HOFF wurde 1962 in
zeit heraus zu begreifen. „Vieles, was formatikern und Fachleuten aus den Neu- Trier geboren. Er studierte Philosophie und
wir als selbstverständlich annehmen, ist rowissenschaften zusammen und traf auf Theologie an den Universitäten Tübingen
überhaupt nicht selbstverständlich und einem Diskussionspodium auch seine spä- und Bonn. Von 1995 bis 2006 war er
in der Geschichte eigentlich aus Zufällen tere Ehefrau, Sarah Spiekermann, die den wissenschaftlicher Assistent an der Uni
heraus entstanden“, sagt Hoff: „Ich habe Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Tübingen; von 2007 bis 2013 Professor
versucht, die logische Rationalität des Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität für philosophische Theologie am David‘s
Nikolaus von Kues als eine Denkform zu Wien innehat und sich mit digitaler Ethik College der University of Wales und von
rekonstruieren, die uns erlaubt, bestimmte beschäftigt. Gemeinsam mit anderen Phi- 2013 bis 2018 Professor für Systematische
Holzwege der Moderne kritisch zu über- losophen haben sie 2017 ein Manifest wi- und Philosophische Theologie an der Uni-
arbeiten und zu überdenken.“ Mit diesem der den Transhumanismus veröffentlicht. versity of London. Seit 2018 ist er Senior
Zugang war Hoff in Deutschland eher ein Research Associate am Von Hügel Institute
Exot. „Es war, als ob ich auf der falschen Selbsttechnologien der University of Cambridge und Honorar-
Straßenseite fahre“, erzählt der Theologe Die digitale Transformation steht auch im professor an der University of Durham,
und Philosoph, der nach Abschluss der Zentrum seines im nächsten Frühjahr er- seit 2020 Professor für Dogmatik an der
Habilitation nach England ging. „Als ich scheinenden Buches zur Verteidigung des Universität Innsbruck. 
dort ankam, habe ich gesehen, dass ich Heiligen. Es stellt die Frage, wie wir mit
doch kein Geisterfahrer bin.“ Technik umgehen, wenn wir begriffen ha-
Schon in seiner Auseinandersetzung mit ben, dass sich nicht alles auf das Techni- Lebensnerv christlicher Dogmatik zu ent-
mathematischen Schriften des Nikolaus sche reduzieren lässt. Johannes Hoff, der decken. In diesen sieht Hoff den Schlüssel
von Kues ist Johannes Hoff auf die Frage auch mit führenden Vertretern zeitgenös- zu einer kritischen Revision des modern-
gestoßen: Lässt sich wirklich alles digitali- sischer Kunst – wie dem 2011 verstorbe- humanistischen Menschenbildes. In Inns-
sieren? „Das Zeitalter der Digitalisierung nen Performance-Künstler Christoph bruck möchte Johannes Hoff nicht nur die
begann im 15. und 16. Jahrhundert. Wir Schlingensief – zusammenarbeitet, stellt Studierenden und seine Kollegen, sondern
treten eigentlich nicht in das digitale, son- die Frage an die Religion, was sie für die auch die breitere Öffentlichkeit auf den
dern jetzt in das postdigitale Zeitalter ein“, Herausforderung, eine zivilisierte Lebens- historisch beispiellosen Epochenumbruch
sagt Hoff. „Wenn man alles digitalisiert form im digitalen Zeitalter zu entwickeln, der Digitalen Revolution vorbereiten, de-
hat, stellt man nämlich fest, dass irgend- anzubieten hat. In diesem Sinn versucht ren Tragweite seiner Meinung nach nicht
etwas unter die Räder gekommen ist.“ Der er, das holistische Denken des Christen- nur von Kirchen und Geisteswissenschaf-
Digitalisierung war auch sein Forschungs- tums des ersten Jahrtausends von seinen ten, sondern auch von politischen und zi-
programm in den vergangenen fünf Jahren modernen Übermalungen zu befreien und vilreligiösen Verantwortungsträgern un-
gewidmet. Dabei arbeitete er eng mit In- in spirituellen „Selbsttechnologien“ den terschätzt wird. cf

6 zukunft forschung 02/20 Foto: Universität Innsbruck


FUNDGRUBE VERGANGENHEIT

1 2 3 4

GEPRESSTE ZEITZEUGEN
Die Sammlung von getrockneten, gepressten, etikettierten und meist auf Papierbögen
aufgeklebten Pflanzen des Instituts für Botanik umfasst weit über 100.000 Objekte.

E
in Metallschrank ähnelt dem an- spruch einer Inventarisierung, das Ziel,
deren, doch Konrad Pagitz weiß, eine gesamte Flora zu dokumentieren
welchen er zu öffnen hat. Er zieht – sowohl gesammelt als auch geschrie-
an einer Lade, nimmt eine Mappe he- ben – bildete sich im 19. Jahrhundert,
raus, öffnet sie und hält behutsam ein vor allem in der zweiten Hälfte heraus.
Blatt in der Hand. Carex heleonastes, die 1804/05 beschrieb etwa Franz Schöpfer
Schlenken-Segge, gesammelt und archi- die Flora Oenipontana, in einem annä- SAMMLUNGSSTÜCKE:
viert vom Botaniker Rudolf Seeger (1888- hernd 50-Jahr-Rhythmus, so Pagitz, folg- 1 Carex heleonastes, Schlenken-Segge:

1917). Ohne Seeger wüsste man nichts ten weitere Werke zur heimischen Pflan- Historische Zeitzeugen – trotz gezielter
vom Vorkommen der Schlenken-Segge in zenwelt. Das damalige Wissen der Zeit Suche ohne aktuellen Nachweis gilt die
Nordtirol – sie ist eine von rund 120.000 wurde in den Werken zusammengetra- Art heute in Nordtirol als ausgestorben.
bis 130.000 Objekten, die das Herbarium gen. „Für diesen Zeitraum gibt es auch Ohne Belegmaterial würde man das Vor-
des Instituts für Botanik umfasst. „Der viel physisches Material in Sammlungen. kommen in Tirol grundsätzlich anzweifeln.
Großteil davon ist historisch“, sagt Her- Das ermöglicht uns, das Geschriebene 2 Hieracium levicaule ssp. vitulimontis,

barium-Kurator Pagitz, „einzelne unserer mit dem Gesammelten abzugleichen“, Glattstängel-Habichtskraut: Herbarmate-
Belege gehen bis 1770 zurück, ab dem 19. erläutert Pagitz. rial „lebt“ – historische und aktuelle Noti-
Jahrhundert wird es mehr, intensiv ge- Die gesammelten Objekte können aber zen zeugen von aktiver Arbeit am Material
sammelt wurde ab 1850. Das Herbarium noch mehr: sie sind „gepresste Zeitzeu- und wissenschaftlichem Austausch.
spiegelt auch die Interessen der Sammler gen“ ausgestorbener Pflanzen; sie sind 3 Eragrostis cilianens, Groß-Liebes-

wider, aber hauptsächlich stammen die mögliches Beweismaterial für Fehlbe- gras: Fehlschlag – die Art ist ein Beispiel
Objekte aus Tirol, dem Gebiet der k.u.k- stimmungen; sie sind Ausgangspunkt für nicht erfolgreiche Neophyten in der
Monarchie und dem Mittelmeerraum.“ von Forschungsarbeiten. Voraussetzung Tiroler Flora. Das kurze, nur wenige Jahre
ist, man kann sie „lesen“. Pagitz: „Natür- umfassende Gastspiel an der historischen
Nicht nur Aufbewahrungsort lich verblassen die Farben. An Strukturen Rauch’schen Bahn in Mühlau ist durch.
Der Wille zur Dokumentation, aber auch kann man an ihnen aber alles nachvoll- Aufsammlungen von Murr dokumentiert.
ein ästhetischer Aspekt – es ist für Pagitz ziehen.“ Die Innsbrucker Sammlung 4 Gentiana pneumonanthe, Lungen-

eine Art „Zwittersituation“, welche die wird ständig erweitert, es zeigen sich da- Enzian: Der Lungen-Enzian zählt zu den
Anlegung von Herbarien förderte. Etwa bei die Spezialisierungen der Forscherin- seltenen Arten in der Tiroler Flora und wie
Sammlungen von Kräutern, um Gesund- nen und Forscher. Man habe, meint Pa- viele andere Arten, die extensiv genutzte
heitsrelevantes festzuhalten, aber auch gitz, daher die wohl größte aktuelle Feuchtflächen besiedeln, kommt er regel-
zum Strauß „gebundene“ gepresste Blu- Sammlung der Planzengattung Rubus der mäßig unter die Räder bzw. das Messer.
men. Frühe Herbarien aus dem 16./17. Ostalpen am Institut – Brombeeren sind Hier dokumentiert mit einer Aufsammlung
Jahrhundert hatten auch nicht den An- eines seiner Forschungsgebiete.  ah aus einer frisch gemähten Feuchtwiese.

Fotos: Konrad Pagitz zukunft forschung 02/20 7


8 zukunft forschung 02/20 Foto: Andreas Friedle
EINSATZ FÜR DIE FISCHE
Wasserkraft ökologisch vertretbar machen, stand von Beginn an im Forschungsinteresse
der Bauingenieurin Barbara Brinkmeier. Mit dem von ihr und ihrem Team entwickelten
Seilrechen FishProtector wurden die Möglichkeiten im Bereich des Fischschutzes revolutioniert.

Foto: Andreas Friedle zukunft forschung 02/20 9


TITELTHEMA

DER FISHPROTECTOR soll

W
Fische davon abhalten, in die asserkraft steht für sauberen Strom, meier ein Problem, das bisher bei der Konzep-
Turbinen von Wasserkraftwer- hat allerdings nach wie vor auch tion von Wasserkraftanlagen wenig Beachtung
ken zu schwimmen. negative Auswirkungen auf die Ge- fand. „Fischschutz war für die Betreiber weder
wässerökologie. Vor allem für Fische, die fluss- aus ökologischer noch aus rechtlicher Sicht von
abwärts schwimmen, können die Turbinen Bedeutung.“
der Kraftwerke zur tödlichen Gefahr werden. Mit der Einführung der Europäischen Was-
„Da der Schutz der Fische bis dato in Öster- serrahmenrichtlinie könnte sich dies nun aller-
reich noch nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, dings ändern. „Die Richtlinie besagt, dass ein
wurde diesem Problem lange keine Beachtung guter ökologischer Zustand in den Gewässern
geschenkt“, erklärt Barbara Brinkmeier. Die erreicht werden muss. Dazu zählt auch der
Bauingenieurin beschäftigt sich schon seit ihrer Fischschutz“, verdeutlicht Brinkmeier. Auch
Dissertation mit Forschungsfragen, die Wasser- wenn die Europäische Richtlinie noch in die
kraftwerke ökologisch verträglicher machen nationalen Gesetzgebungen implementiert
sollen. Nun steht sie kurz vor der Gründung werden muss, haben die Forscher*innen bereits
einer GmbH, die dieses Ziel verfolgt. eine Lösung gefunden, die dem Fischschutz
dient, ohne die Effizienz des Kraftwerks zu
Barriere & Leitfunktion mindern.
Bestehende Rechenanlagen – vertikal ange- Unter der Leitung von Markus Aufleger
brachte Metallstäbe – vor den Turbinen der haben Barbara Brinkmeier, Ruben Tutzer und
Wasserkraftwerke dienen derzeit dem Schutz Jonas Haug vom Arbeitsbereich für Wasserbau
der Turbinen vor Treibgut, das vor allem bei am Institut für Infrastruktur einen Seilrechen
Hochwasserereignissen eingetragen wird. entwickelt, der aus horizontal gespannten
„Um Fische am Durchschwimmen zu hin- Stahlseilen besteht. Diese lassen sich auch oh-
dern, müssten die Abstände der einzelnen ne im Gewässer schwierig zu verwirklichende
Rechenstäbe viel geringer sein, was wiederum Träger über Flussläufe spannen. Neben der
negative Auswirkungen wie zum Beispiel grö- mechanischen Barriere setzen die Wissen-
ßere hydraulische Verluste hätte und somit die schaftler*innen bei ihrer Entwicklung auch auf
Effizienz des Kraftwerks
schmälern würde. Zudem
„Indem wir die Seile unter Strom setzen, erzeugen wir
würde ein engerer Ab-
stand zwischen den Stä-
ein elektrisches Feld im Wasser. Dieses ist so ­gering,
ben dazu führen, dass der dass es keine Gefahr für die Fische darstellt, sie
Rechen oft verlegt wird“, ­nehmen es allerdings wahr, was dazu führt, dass sie
schildert Barbara Brink- gar nicht erst zu den Seilen schwimmen. Barbara Brinkmeier

10 zukunft forschung 02/20 Fotos: Barbara Brinkmeier (3), Andreas Friedle (1)
TITELTHEMA

IM BAYRISCHEN Wertach soll sich der FishProtector im Praxistest beweisen.

eine Verhaltensbarriere. „Indem wir die Seile versität Innsbruck ein europäisches Patent an,
unter Strom setzen, erzeugen wir ein elektri- das 2016 zur Erteilung gebracht werden konn-
sches Feld im Wasser. Dieses ist so gering, dass te und seither von der Universität finanziert
es keine Gefahr für die Fische darstellt, sie neh- wird. Bei der Einreichung für ein FFG Spin-off
men es allerdings wahr, was dazu führt, dass Fellowships zur Förderung von Ausgründun-
sie gar nicht erst zu den Seilen schwimmen. gen wurde Brinkmeier 2017 von den Mitarbei-
So bekommt das System zudem eine gewisse ter*innen aus dem projekt.service.büro und
Leitfunktion, da die Fische den Seilen folgen, der Transferstelle intensiv unterstützt. Die Be-
bis sie in einem Bypass abgeleitet werden und mühungen waren von Erfolg gekrönt und das
so das Kraftwerk umschwimmen können“, be- Projekt HYFISH mit 500.000 Euro gefördert.
schreibt Barbara Brinkmeier die Entwicklung, „Dieses Programm und zahlreiche Angebo-
die mittlerweile auch patentiert ist. te an der Uni Innsbruck haben mich sehr gut
Nachdem mittlerweile sowohl Deutschland auf die Unternehmensgründung vorbereitet“,
als auch die Schweiz den Fischschutz vor Was- sagt Brinkmeier. Neben dem patentierten Seil-
serkraftwerken gesetzlich vorschreiben, wollen rechen haben die Wissenschaftler*innen mitt-
Brinkmeier und Aufleger das von ihnen ent- lerweile auch die Schutzrechte für ein System
wickelte System nun auch vertreiben. Erste beantragt, mit dem bestehende Rechenanlagen
Pilotanlagen sind gebaut und die Gründung unter Strom gesetzt werden können. „Damit
einer GmbH ist mit Jahresbeginn 2021 geplant. könnten Kraftwerksbetreiber bestehende Re-
Um mit dem Produkt auch auf dem österrei- chenanlagen, die bisher nur dem Turbinen-
chischen Markt erfolgreich sein zu können, be- schutz dienten, auch für den Fischschutz auf-
darf es allerdings noch einiger Überzeugungs- rüsten“, erklärt Brinkmeier.
arbeit. „In Österreich wurde die Europäische Dass sie und ihr Team am Arbeitsbereich für
Wasserrahmenrichtlinie in Bezug auf den Wasserbau Problemlöser sind, zeigt auch ihr
Fischschutz mit der Begründung noch nicht aktuellstes Projekt: Bei der elektrischen Aus-
in die nationale Gesetzgebung implementiert, rüstung des Systems gibt es noch Anpassungs-
dass es keine technisch geeignete Möglichkeit bedarf beim Korrosionsschutz und in Sicher- BARBARA BRINKMEIER,
dafür gibt – das müssen wir jetzt widerlegen“, heitsfragen. In Kooperation mit dem Innsbruck geboren 1981 in Villach,
so Brinkmeier. Power Electronics Lab am Institut für Mecha- studierte Bauingenieurwissen-
tronik wird nun gemeinsam nach praktikablen schaften an der Technischen
Unternehmerin durch Zufall Lösungsansätzen gesucht. „Die Universität Universität Graz. Im Anschluss
Der Weg zum eigenen Unternehmen war bei bietet uns hier optimale Möglichkeiten inter- promovierte sie im Fach-
der Bauingenieurin nicht vorgezeichnet: „Ich disziplinär zu arbeiten. Neben unserem Wissen gebiet Wasserkraft an der
wusste relativ schnell nach meinem Dokto- im Bereich der Bauingenieurwissenschaften Universität Innsbruck. Seit
rat, dass der klassische Weg an der Univer- haben wir uns mittlerweile auch sehr detailliert 2012 ist Barbara Brinkmeier
sität nicht meine erste Wahl ist, dass ich ein in die Themenbereiche Fischbiologie und Elek- am Arbeitsbereich Wasserbau
Unternehmen gründen werde, ist allerdings trotechnik eingearbeitet und arbeiten auch er- am Institut für Infrastruktur
auch eher dem Zufall geschuldet.“ Nachdem folgreich mit Kolleginnen und Kollegen ande- der Uni Innsbruck tätig. Ihre
der Seilrechen entwickelt und entsprechend rer Disziplinen zusammen“, so Barbara Brink- Arbeit wurde bereits mehrfach
getestet war, wurde der Weg zur Unterneh- meier. Derzeit unterziehen die Wissenschaft- ausgezeichnet, unter anderem
mensgründung klarer. Um der Forscherin und ler*innen ihren FishProtector in einer Pilotan- mit dem Tiroler Businessplan-
ihrem Team einen sicheren Markteintritt und lage an der Wertach in Bayern dem Praxistest, wettbewerb adventure X 2019
Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten künftig soll er Fischen vor vielen Wasserkraft- und dem zweiten Platz beim
am Markt zu ermöglichen, meldete die Uni- anlagen das Leben retten.  sr NEPTUN Wasserpreis 2019.

zukunft forschung 02/20 11


TITELTHEMA

AUGMENTED REALITY
VON DER STANGE
Brigit Danthine und Gerald Hiebel machen sich für die Darstellung von a­ rchäologischen
­Forschungsergebnissen semantische Datennetzwerke z­ unutze. Daraus könnte sich auch ein
Mehrwert für Museen und deren Besucher ergeben.

D
ie Informationstafel ist schon län- am Institut für Archäologien, die Situa- und Erkenntnisse in der Aufbereitung
ger in die Jahre gekommen, der tion. Gemeinsam mit ihrem Fachkolle- und Darstellung von archäologischen
Audioguide eigentlich auch be- gen Gerald Hiebel, der auch am Digital Forschungsergebnissen Museen zur Ver-
reits überholt. Die Erwartungen an einen ­Science Center (DiSC) beschäftigt ist, hat fügung stellen könnte. „Wir arbeiten
Museumsbesuch steigen ebenso wie die sie 2020 beim Startup.Tirol.Award mit ih- bereits seit einiger Zeit mit relationalen
technischen Möglichkeiten der Informati- rer Geschäftsidee „DiscovAR“ einen ers- Daten und gehen sogar einen Schritt da-
onsaufbereitung. In vielen großen Muse- ten Lösungsvorschlag für dieses Dilemma rüber ­hinaus, indem wir unsere Daten
en wie zum Beispiel dem British Museum präsentiert und dafür den 4. Platz errun- mit semantischen Netzwerken repräsen-
oder dem Bayerischen Nationalmuseum gen. Der Weg dorthin war ein für Geistes- tieren. Die Zusammenhänge zwischen
hat Augmented Reality (AR) als Vermitt- wissenschaftler eher ungewöhnlicher, wie historischen Ereignissen, Fundstücken,
lungskonzept Einzug gehalten: Die Besu- sich Danthine und Hiebel einig sind. Fundplätzen, Personen und unseren
cherinnen und Besucher können zu be- Über die Teilnahme an den regelmäßi- wissenschaftlichen Analysen sind – so
gen Treffen des Doktoranden- und Post-
doktoranden-Netzwerkes RESI sind die
beiden im InnCubator-Programm für
Gründerinnen und Gründer gelandet.
„Ich war irgendwie immer der Meinung,
solche Programme sind nur für Natur-
wissenschaftler und Techniker. Ich hätte
mir nicht gedacht, dass es da auch für
Geisteswissenschaftler Möglichkeiten
gibt“, meint Danthine, die schließlich von
Gründungsberater*innen vom Gegenteil
überzeugt wurde: „Und wir haben uns
für den InnCubator beworben.“
„Wir haben die Idee stark „Wenn man sich auf eine
In der Unternehmensschmiede der
­konkretisiert und an einer Universität Innsbruck und der Tiroler ­Gründung einlässt, muss man
­entsprechenden Kommunikation Wirtschaftskammer entstand dann die sie auf der Prioritätenliste ganz
und Präsentation bei möglichen konkrete Idee zu „DiscovAR“, einem nach oben setzen. Das war ein
Kunden gearbeitet.“ Brigit Danthine neuartigen und nutzerfreundlichen Tool, Lehrstück für uns.“ Gerald Hiebel
das es Museen ermöglichen soll, mittels
stimmten Ausstellungsobjekten Videos, AR Geschichten über ihre Objekte zu er- glauben wir – so viel besser abbildbar“,
3D-Modelle, Animationen oder interak- zählen. Und das zu einem auch für klei- erläutert Gerald Hiebel. „Auch Museen
tive Karten und Spiele über eine App auf nere und kleine Museen leistbaren Preis. haben solche Daten; Know-how, Zeit und
dem Smartphone abrufen. Für kleinere Ist das Tool einmal gekauft, kann man es Geld zur weiteren Aufbereitung fehlen
Museen ist es allerdings schwierig, auf für jede Ausstellung wieder neu mit In- aber oft.“
diesen Zug aufzuspringen. halten bespielen, so das Konzept. Bis vor zwei Jahren gingen seine Über-
„Die Umsetzung von Augmented- legungen allerdings nicht sehr weit über
Reality-Konzepten ist mit einem hohen Forschung weiterdenken ein vages „Da könnte man mal was ma-
Kosten- und Zeitaufwand verbunden Gerald Hiebel, der ursprünglich aus dem chen“ hinaus. Denn Forschungsprojekte,
und wird meist extern und für jede Aus- Arbeitsbereich Vermessung und Geoin- so bedauert er, enden meist, wenn die
stellung neu zugekauft“, schildert Brigit formation kommt, denkt schon länger Grundlagenforschung abgeschlossen ist.
Danthine, Archäologin und Doktorandin darüber nach, wie man die Erfahrungen Auslöser für ein Weiterdenken war die

12 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle


TITELTHEMA

ANHAND DES ARCHÄOLOGISCHEN Museums der Uni Innsbruck zeigen Brigit Danthine und Gerald Hiebel die Möglichkeiten und die
Funktionsweise. Wichtig ist ihnen die einfache Bedienbarkeit des Tools, denn in kleinen Museen mangelt es oft an Budget, Personal und Zeit.

Teilnahme am InnCubator. „Wir haben tiert hat. Potenzielle Kunden gäbe es laut Eine Erkenntnis haben die Wissen-
die Idee stark konkretisiert und an einer ihrer Marktanalyse durchaus, und einzel- schaftler aber auch gemacht. „Wenn man
entsprechenden Kommunikation und ne Museen haben in Gesprächen bereits sich auf eine Gründung einlässt, muss
Präsentation bei möglichen Kunden gear- Interesse signalisiert. Um DiscovAR als man sie auf der Prioritätenliste ganz nach
beitet. Natürlich haben wir uns auch mit fertiges Produkt zu realisieren und auf oben setzen. Das war ein Lehrstück für
Aspekten wie Marktgröße auseinander- den Markt zu bringen, sind außerdem fi- uns. Wir haben gedacht, dass dies auch
setzen müssen“, beschreibt Danthine, die nanzielle Mittel für die Entwicklung der neben laufenden Forschungsprojekten
von der Unternehmensschmiede profi- IT-Infrastruktur nötig. realisierbar ist“, berichten die beiden. Aus
diesem Grund ist derzeit noch offen, wie
und wann es mit DiscovAR weitergeht,
MENSCHEN KÖNNEN Informationen aus dem Kontext erschließen und bauen unbe- denn derzeit lässt die Arbeit an aktuellen
wusst Verknüpfungen zwischen verschiedenen Informationsquellen auf. Maschinen muss Forschungsprojekten zu wenig Spiel-
diese Fähigkeit erst beigebracht werden. Daten werden für Maschinen les- und verwert- raum. Gerald Hiebel hofft aber auf die
bar, indem mithilfe von Knowledge-Graphen ein sogenanntes semantisches Netzwerk Genehmigung eines Forschungsvorha-
darübergelegt wird. Google verwendet beispielsweise semantische Netzwerke. Gibt man bens in Kooperation mit dem Naturhisto-
zum Beispiel einen Begriff wie Washington ein, so erhält man nicht nur Treffer, in denen rischen Museum und den Ausgrabungen
das Wort vorkommt, sondern auch eine geclusterte Unterscheidung zwischen der Haupt- in Hallstatt, wo es u. a. auch um die Prä-
stadt, dem Bundesstaat oder dem Präsidenten und jeweils unterschiedlichen Informatio- sentation und Aufbereitung von Daten in
nen von Texten bis hin zu Karten und Flugverbindungen. semantischen Netzwerken geht.  ef

zukunft forschung 02/20 13


TITELTHEMA

THOMAS MONZ: „AQT konzentriert sich auf die Hardware. Mit Software-Partnern loten wir aus, in welche Anwendungsrichtung es gehen soll.“

QUANTEN FÜR DIE PRAXIS


Vor 25 Jahren schlugen ­Innsbrucker Physiker vor, Quantencomputer basierend auf einer Ionenfalle
zu realisieren. Das Quanten-Spin-off AQT will nun nach diesem Konzept den ersten kommerziellen
­Quantencomputer verwirklichen.

D
ie neuen Büroräumlichkeiten sind Erste Überlegungen, Quantencomputer Stück für Stück näher rückte, und Thomas
gerade bezogen, corona-bedingt nicht nur fürs Labor, sondern auch für die Monz, selbst wissenschaftlicher Mitarbei-
sind sie nur schütter besetzt – und Praxis zu bauen, kamen 2016 auf, „bald ter am Institut für Experimentalphysik
doch hält Thomas Monz, Geschäftsfüh- haben wir aber gemerkt, dass wir ohne der Universität Innsbruck. Das Jahr 2017
rer der Alpine Quantum Technologies Firmengründung nicht weiterkommen, nutzte man zur Erstellung eines Business-
GmbH, kurz und knackig AQT genannt, dass wir keine Verträge abschließen, ja plans und zur Klärung der Frage, wie
fest: „Eigentlich braucht‘s schon wieder nicht einmal Räumlichkeiten anmieten denn ein Team auszusehen habe. Bald
was Größeres. Stand Anfang November können“, sagt Monz. Wir, das sind der war klar: Es braucht Personen mit Quan-
sind wir zwölf Mitarbeiter.“ Noch nicht Theoretische Physiker und Quantencom- tenphysik- und Industriehintergrund. Fi-
ganz drei Jahre ist es her, dass die AQT als puter-Vordenker Peter Zoller, der Experi- nanzielle Unterstützung beim Schritt ins
wohl erstes Quantentechnologieunterneh- mentalphysiker Rainer Blatt, der im Labor Unternehmertum bekam man durch eine
men Österreichs gegründet wurde. Das der Realisierung eines Quantencomputers Preseed-Förderung der aws. 2018 war –
ehrgeizige Ziel: der Bau eines kommer- neben der inhaltlichen Arbeit – das Jahr
ziellen Quantencomputers. 1995 wurde der Verhandlungen, galt es doch, sich mit
„Wir können uns gegenüber
erstmals ein auf einer Ionenfalle basie- der Universität Innsbruck und der Öster-
rendes Konzept eines Quantencomputers
­US-Firmen wie Google, IBM reichischen Akademie der Wissenschaften
vorgestellt (siehe Infobox Seite 15), 25 Jah- oder Intel behaupten. Im über die Verwertung der dort erbrachten
re später hat die von AQT realisierte Ver- akademischen­Bereich machen wissenschaftlichen Arbeiten zu einigen.
sion (derzeit) in zwei Serverracks Platz. wir das seit 20 Jahren.“ Thomas Monz „Im Frühjahr 2019 waren die IP-Verträ-

14 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle


TITELTHEMA

ge unter Dach und Fach“, erzählt Monz, DER BAUPLAN FÜR einen Ionenfallen- Rechenleistung: „Die größten derzeitigen
mit dem „Freedom to Operate“ und den Quantencomputer und eine schaltungs- Rechner können 50 Qubits gerade noch
ersten zwei Mitarbeitern ging man auf In- basierte Quantencomputerarchitektur im simulieren.“ Denn Qubits können – im
vestorensuche. Allgemeinen basiert auf einem Konzept, Gegensatz zu Bits, die nur den Zustand
„Schlussendlich war das Angebot der das 1995 an der Universität Innsbruck [1] oder [0] annehmen können – gleichzei-
FFG und der Universität Innsbruck das von den Theoretischen Physikern Peter tig im Zustand [1] und [0] sein bzw. auch
beste für uns“, sagt Monz. Die FFG betei- Zoller und Ignacio Cirac (heute Max- in theoretisch unendlich vielen Zustän-
ligte sich mit fünf Millionen Euro aus Mit- Planck-Institut für Quantenoptik in den dazwischen. Mit zwei Bits kann man
teln der Nationalstiftung für Forschung Garching) vorgestellt wurde. Im Jahr folglich nur vier Kombinationen (0-0, 0-1,
und Technologieentwicklung an der 2005 gelang es dem Team des Innsbru- 1-0, 1-1), sprich Zahlen darstellen, die vie-
AQT, die Universität Innsbruck ebenfalls cker Experimentalphysikers Rainer Blatt, len Möglichkeiten der Qubits lassen die
mit fünf Millionen über die Leistungs- erstmals acht Qubits auf kontrollierte Art Rechenleistung eines Quantencomputers
vereinbarung mit dem Bund. Ebenso am und Weise zu verschränken und damit extrem ansteigen.
Spin-off beteiligt ist die Tiroler Industriel- ein „Quantenbyte“ zu erzeugen. 2011 Leistungen, die für große Rechenzent-
lenvereinigung. „Sie unterstützt die Inns- verschränkten sie 14 Qubits, inzwischen ren, im Bereich der Finanzwirtschaft, der
brucker Quantenphysik schon seit 20 Jah- können 20 bis hin zu 50 Qubits kontrol- Chemie oder der Materialwissenschaft in-
ren und ist bei uns eingestiegen, bevor die liert werden. In den letzten Jahren kamen teressant sind. „Wir verfügen inzwischen
IP-Verträge fixiert waren“, betont Monz. von Innsbrucker Forscherinnen und über eine Maschine, die sehr vielverspre-
Auch international machte das junge Forschern regelmäßig neue Vorschläge, chend ist“, sagt Monz salopp. Mit Soft-
Unternehmen auf sich aufmerksam: 2020 die zur Realisierung eines Quantencom- warepartnern wird derzeit eruiert, wel-
gab das Weltwirtschaftsforum wie jedes puters beitragen sollen – und wurden in cher Bereich am lukrativsten ist und wel-
Jahr seine Auswahl von über 100 der viel- Experimenten umgesetzt. Die Fortschritte, che Adaptionen – z. B. Anzahl der Qubits
versprechendsten Technologie-Pioniere welche die Innsbrucker Quantenspe- – es dafür benötigt. Das Ergebnis soll in
bekannt – darunter war AQT das einzige zialistinnen und -spezialisten erzielten, einen Demonstrator einfließen, mit dem
österreichische Unternehmen. schlagen sich auch in der Hardware nie- man kommendes Jahr potenziellen Kun-
der. Fanden die ersten Experimente noch den zeigen will, „was das Ding kann.“
Vielversprechende Technologie auf zwei billardtischgroßen Tischen statt, Monz nennt ein – fiktives – Beispiel aus
Doch was ist an der Innsbrucker Techno- findet der Quantencomputer von AQT in der Finanzwirtschaft: „Die Analyse von
logie derart vielversprechend? Bei auf zwei „klassischen“ Serverracks Platz. Aktienportfolios ist klassisch rechenauf-
Ionenfallen basierenden Quantencom- wendig – wir wollen Lösungen im Bruch-
putern werden einzelne geladene Atome teil einer Sekunde anbieten.“
in Vakuumkammern – bei Temperaturen Auch in der modularen Bauweise sieht
nahe Null Kelvin – gefangen. „Das Coo- Thomas Monz einen unternehmerischen
le daran ist“, erläutert Monz, „dass wir Aspekt. Der Rechner ist aufgebaut wie
diese tiefen Temperaturen in der Falle eine klassische Stereoanlage, die einzel-
mit Laserkühlung von außen durch ein nen, komprimierten Komponenten – Pro-
kleines Fenster erzeugen können. Unser zessor, Lasereinheit, Stabilisator, Vertei-
Quantencomputer kann also bei Raum- ler… – passen in ein Serverrack: „Das ist
temperatur betrieben werden. Andere interessant, falls jemand nur eine dieser
Technologien benötigen einen ‚Kühl- Komponenten benötigt.“ Vom AQT-
schrank‘, in denen der Rechner arbeitet.“ Know-how soll auch die Universität
Eine Folge: Der Quantenrechner arbeitet Innsbruck profitieren. „Wir stehen als
extrem sparsam, der Stromverbrauch ent- Industriepartner für gemeinsame Projek-
spricht „grob dem eines Wasserkochers“. te zur Verfügung“, erläutert der AQT-Ge-
Ein weiterer Vorteil liegt in der Methode. schäftsführer. Zwei solcher Kooperatio-
Monz: „Wir fangen im Vakuum Ionen, nen – eines mit dem Institut für Experi-
können z. B mit fünf anfangen, dann mentalphysik und dem Institut für Theo-
sechs, dann sieben – wir müssen an der retische Physik, das andere mit Experi-
Hardware nichts ändern.“ mentalphysikern und Mechatronikern –
Jedes derart gefangene Ion repräsen- wurden von der FFG schon genehmigt.
tiert ein Qubit, welches einzeln durch „Gemeinsam gelingt es uns, an der Spitze
präzise Laserpulse manipuliert und ge- zu bleiben“, ist Monz überzeugt, ebenso,
messen wird. Bei 20 solcher Qubits steht dass man sich gegenüber US-Größen wie
AQT derzeit, langfristig will man 50 Google, IBM oder Intel behaupten kann:
­Qubits kontrollieren. 50 Qubits mögen „Im akademischen Bereich machen wir
in Zeiten von Mega-, Giga- und Terabyte das seit 20 Jahren. Und in Innsbruck kön-
wenig klingen, doch der Experimental- nen wir auf einer Basis aufbauen, die
physiker Monz veranschaulicht deren sonst keiner hat.“ ah

zukunft forschung 02/20 15


TITELTHEMA

HOCH HINAUS MIT HOLZ


Holz als Baustoff spielt bei großvolumigen Bauten noch keine große Rolle, auch wenn die Entwicklung
im Ingenieurholzbau in den letzten 20 Jahren rasant vorangegangen ist. Eine Entwicklung von Roland
Maderebner vom Arbeitsbereich für Holzbau der Uni Innsbruck soll das nun ändern.

entsprochen hätten. Zusätzlich haben


punktuelle Lagerungen auch den Vorteil,
flexiblere Gebäudenutzungen zu ermög-
lichen sowie durch den Wegfall der Un-
terzüge auch Bauhöhen einzusparen und
Leitungsführungen wesentlich zu verein-
fachen“, beschreibt Roland Maderebner.
Nach seinem Wechsel an den Arbeits-
bereich Holzbau der Universität Inns-
bruck stellte er sich dann die Frage, ob
diese Bauweise nicht auch aus Holz rea-
lisierbar wäre. Damit war der Impuls für
seine Erfindung, das Holzverbindungs-
system Spider-Connector, gegeben. „Vom
ersten Entwurf bis zur Marktreife des
Systems hat es rund zehn Jahre gedauert.
Als ich die Idee schrittweise der wissen-
schaftlichen Community, aber auch er-
fahrenen Holzbauingenieur*innen prä-
sentiert habe, waren einige begeistert. Es
gab aber auch viele Gegenstimmen, die
mir vorwarfen, zu sehr wie ein Betonbau-
er zu denken“, blickt Roland Maderebner
zurück. Nachdem mit viel persönlichem
Einsatz ein erster Prototyp des neuarti-
gen Holzverbindungssystems gebaut
wurde, belegten erste Tests im Labor
aber, dass es funktioniert.

Punktgestützte Flachdecken
Der Spider-Connector – der Name ergibt
sich aus den acht Extremitäten: sechs Ar-
me, Stützenkopf und Stützenfuß – besteht
aus Stahl und ist vor allem als Verstär-
kungsmaßnahme für Konstruktionen in
Brettsperrholzbauweise gedacht. „Dabei
handelt es sich um Platten aus mehre-
DER SPIDER-CONNECTOR ermöglicht punktgestützte Flachdecken in Holzbauweise. ren rechtwinklig miteinander verleim-
ten Holzlamellen, die im Holzbau neben

R
oland Maderebner hat früher viel decken aus Beton gebaut. Dabei handelt Wandscheiben heute vor allem für De-
betoniert. Dass dies seine Denk- es sich um Deckensysteme, die lediglich ckenkonstruktionen eingesetzt werden“,
weise beeinflusst hat, wurde ihm „punktförmig“ auf Stützen und ohne Un- erklärt Maderebner. Bisher wurden reine
von Kritikern seiner Erfindung – dem terzüge hergestellt werden. „Meist haben Holzdecken, die lediglich auf Stützen auf-
Spider-Connector – oft vorgeworfen. Als wir uns aufgrund der Formensprache für gelagert sind, immer mit Hilfe von Trä-
promovierter Bauingenieur, der unter an- Beton entscheiden müssen, da vor allem gerbalken mit einem Abstand von bis zu
derem auch im Tunnelbau tätig war, hat bei mehrgeschoßigen Büro- und Wohn- sechs Metern errichtet. Mit dem Spider-
er als selbstständiger Baumeister immer bauten Unterzüge vielfach nicht den äs- Connector ist es nun möglich, Brettsperr-
wieder sogenannte punktgestützte Flach- thetischen Ansprüchen der Architektur holzplatten ohne Unterzüge nur auf Stüt-

16 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle (2), Rothoblaas (1)


TITELTHEMA

zen mit Abständen von bis zu 7,5 x 7,5 zu leisten, war ich mittlerweile gewohnt
Meter zu realisieren. „Für Architekt*in- und so ist es mir gelungen, vier der größ-
nen bedeutet das flexiblere Gestaltungs- ten Brettsperrholzhersteller – Binderholz,
möglichkeiten für Räume; Bauherr*innen Stora Enso, Hasslacher und KLH – mit ins
sparen dadurch Kosten, weil Trägerkons- Boot zu holen. Ich habe dann in Summe
truktionen wegfallen. Zudem können 75 Kubikmeter Brettsperrholz für weitere
mithilfe punktgestützter Flachdecken Tests erhalten“, beschreibt Maderebner.
bei gleicher Bauhöhe zum Beispiel zehn
Geschoße realisiert werden, wo hingegen Punktuelle Tragkraft
bei herkömmlichen Holzbauweisen mit Mit seinem Kollegen Bernhard Maurer
Unterzügen nur neun möglich wären“, sowie dem Team der Technischen Ver- ROLAND MADEREBNER, geboren
erläutert Maderebner die Vorteile. suchs- und Forschungsanstalt der Uni- 1980 in Schladming, studierte Bauinge-
Nachdem die ersten Tests seines Proto- versität fand er perfekte Bedingungen, nieurwissenschaften an der Universität
typs gezeigt haben, dass die Idee funk- um seine Erfindung im Team weiterzu- Innsbruck und war in diversen Planungs-
tionieren könnte, lag allerdings noch ein entwickeln und experimentell untersu- büros, im Tunnelbau sowie als selbststän-
langer Weg vor dem Bauingenieur. „Die chen zu können. Durch Prüfungen an diger Baumeister tätig. 2010 begann er
Bauteilen konnte dann auch gezeigt wer- am Arbeitsbereich Holzbau am Institut für
„Die Einwerbung von Mitteln, den, dass der Spider-Connector besser Konstruktion und Materialwissenschaf-
um ein marktreifes Produkt funktioniert, als die Berechnungen vor- ten zu arbeiten und ist seit 2018 zudem
hergesagt haben. „In unseren Rechen- stellvertretender Leiter der akkreditierten
zu e­ ntwickeln, war mitunter
modellen sind wir davon ausgegangen, Technischen Versuchs- und Forschungs-
eine der schwierigsten aber dass der Spider-Connector eine definitive anstalt an der Universität Innsbruck. Mit
auch wichtigsten Aufgaben im Erhöhung der Belastbarkeit rechtwinklig seiner Erfindung, dem Spider-Connector,
­gesamten Entwicklungsprozess.“ zur Plattenebene von rund 100 Prozent gewann er bereits mehrere Preise, unter
 Roland Maderebner bringen wird. Das Experiment hat dann anderem den Cast Award 2015 und den
sogar eine Erhöhung im Vergleich zur Structural Timber Award United Kingdom
Einwerbung von Mitteln, um ein markt- unverstärkten Platte um rund 250 Pro- 2019.
reifes Produkt zu entwickeln, war mit- zent gezeigt“, erklärt Roland Mader­
unter eine der schwierigsten, aber auch ebner. Konkret heißt das, dass mit dem
wichtigsten Aufgaben im gesamten Ent- Spider-Connector in Gebäuden bei einer Mit diesen Ergebnissen konnte der
wicklungsprozess“, erklärt er. Schließlich Deckenlast von rund 1.000 kg/m² rein Wissenschaftler dann auch die letzten
war er aber auch dabei erfolgreich und theoretisch ein gesamtes Deckenfeld von Kritiker überzeugen. Die Entwicklung
erhielt eine Förderzusage der Österreichi- 50 m² nur mit einer Stützen-Querschnitts- bis zur Marktreife sowie der Zulassung
schen Forschungsförderungsgesellschaft fläche von 200 x 200 mm aufgelagert dauerte dann weitere drei Jahre, in denen
FFG gemeinsam mit dem Projektpartner werden kann – ein absolutes Novum im Roland Maderebner einen Großfeldver-
Rothoblaas Srl. Daran geknüpft war al- Holzbau. Durch das spezielle Design des such zum Schwingungsverhalten durch-
lerdings auch die Bedingung, sämtliches Verbinders können zusätzlich senkrech- führte, Patentanträge schrieb und weitere
Holzmaterial, das für die Versuche benö- te Lasten bis zu 750 Tonnen von darüber Verbesserungen und Optimierungen zur
tigt wurde, nicht aus diesen Fördermit- liegenden Geschoßen von Stütze zu Stüt- Reduktion der Produktionskosten des
teln zu finanzieren. „Überzeugungsarbeit ze weitergeleitet werden. Verbinders vornahm. Denn um Holzde-
cken mit mehreren Metern Spannweite
zu konstruieren, müssen die Brettsperr-
holzplatten, die nicht unmittelbar auf
den Stützen aufliegen, an den Platten-
kanten Stoß an Stoß biege- und schub-
steif miteinander verbunden werden. Um
dies zu lösen, folgte eine Reihe weiterer
Entwicklungen, die mittlerweile eben-
falls zum Patent angemeldet wurden.
Ein erstes Gewerbegebäude mit einem
Stützenraster von 7 x 7 Meter wurde in Ti-
rol gemeinsam mit ATP Planungs- und
Beteiligungs AG sowie der ausführenden
Firma HTB Baugesellschaft m. b. H. bereits
mit dem Spider-Connector realisiert und
gilt in der Branche als Weltrekord. Weitere
SEINEN NAMEN verdankt der Spider-Connector seinen acht Extremitäten: sechs Arme Gebäude in Deutschland, Italien und Nor-
sowie Stützenkopf und Stützenfuß. wegen sind bereits in Planung. sr

zukunft forschung 02/20 17


TITELTHEMA

WASCHECHTE
GRÜNDER
Das Uni-Spin-off TEXIBLE vertreibt und entwickelt intelligente Textilien.
Die Grundlagen dafür ­entstanden am Forschungsinstitut für Textilchemie
und Textilphysik, wo Thomas Fröis forschte, bevor er sich 2016 entschied,
ein eigenes Unternehmen zur gründen.

THOMAS FRÖIS und

S
Manuel Scheiderbauer (v. li.) mart Textiles sind intelligente Textilpro- „Ich bin 2011 an das Forschungsinstitut ge-
entschieden sich 2016, Texible dukte, in die häufig elektronische Appli- kommen, um verschiedene Projekte für die
zu gründen, um aus Proto- kationen integriert sind. Sie leisten viel von der Vorarlberger Stickerei-Wirtschaft in-
typen reale Textilprodukte zu mehr als konventionelle Textilien, müssen itiierte Plattform Smart Embroideries umzu-
machen. aber nichtsdestotrotz der Beanspruchung des setzen“, erzählt Thomas Fröis, der eigentlich
täglichen Gebrauchs standhalten. So wie das Elektrotechniker ist. Die Stickerei-Wirtschaft
Produkt-Flaggschiff von TEXIBLE, eine Bett- – die im Ländle übrigens eine lange Tradi-
einlage mit eingestickten Sensoren, die über tion hat – wollte mit dieser Initiative die Ent-
einen Sender einen Alarm auslöst, sobald sie wicklung technischer Textilien vorantreiben.
nass wird, und so die Pflege von Inkontinenz- „Ich war damals das Bindeglied zwischen
patienten erleichtert. Sie ist das Ergebnis und den Stickern und dem Forschungsinstitut
die Weiterentwicklung jahrelanger Forschung, der Universität und u. a. für den beidseitigen
die Thomas Fröis am Forschungsinstitut für Know-how-Transfer verantwortlich“, so ­Fröis
Textilchemie und Textilphysik der Universität über seinen Einstieg in den Textilbereich.
Innsbruck federführend durchgeführt hat. Am Forschungsinstitut war er fünf Jahre an

18 zukunft forschung 02/20 Fotos: Michael Gunz


TITELTHEMA

der Ausarbeitung verschiedener Prototypen


intelligenter Textilien sowie an der Entwick-
lung einer speziellen, inzwischen patentierten
Sticktechnologie beteiligt, die es ermöglicht,
Drähte und Materialien wie Glasfaser, Kup-
fer und Stahl mit Schiffchenstickmaschinen
zu verarbeiten.

Zu schade für die Schublade


Die Ursprungsidee hinter der Zusammen-
arbeit zwischen Stickern und Forschern, die
Weiterverwertung der Prototypen durch die
Textilindustrie, war dann jedoch nicht so
leicht umsetzbar wie ursprünglich gedacht.
„Es war für mich sehr unbefriedigend, dass
die erarbeiteten Ergebnisse in der Schubla-
de liegen blieben“, begründet Thomas Fröis,
warum er gemeinsam mit seinem Kollegen
Manuel Scheiderbauer 2016 an die Gründung
eines eigenen Unternehmens gedacht hat. THOMAS FRÖIS, geboren
Was dem Prototypen der heute von TEXIBLE neuen Weg zu gehen, wenn der eingeschlage- 1987 in Feldkirch, war nach
vertriebenen Betteinlage damals noch fehlte, ne nicht funktioniert.“ dem Abschluss der HTL für
war echte Alltagstauglichkeit. „Im Bereich Die Frage, ob er in der Aufbauphase je dar- Elektrotechnik mehrere Jahre
smarte Textilien wird ca. seit dem Jahr 2000 an gedacht hat, an das Forschungsinstitut zu- Automatisierungsingenieur
geforscht, aber alles was es gab, war nicht rückzukehren, beantwortet Thomas Fröis wie bei einem Vorarlberger Intra-
wirklich waschbar und auch nicht besonders folgt: „Ganz am Anfang war unsere Idee, dass logistik-Unternehmen. 2011
anwenderfreundlich. Auch unser Prototyp wir die Gründung neben der Anstellung her- wechselte er an das For-
hat zunächst eher im Labor gut funktioniert“, laufen lassen. Wir haben dann aber eine För- schungsinstitut für Textilche-
räumt Fröis ein. „Bei der Gründung haben wir derung bekommen, für die sich ein Gründer mie und Textilphysik, wo er für
dann gesagt: Wir wollen reale Textilprodukte verpflichten musste, zu 100 Prozent für das Forschung und Entwicklung
machen und haben, aufbauend auf unserer Unternehmen da zu sein. Damals hat mich im Bereich Technische Textilien
Arbeit am Forschungsinstitut, die Betteinlage das gestört, aber im Nachhinein war das ab- zuständig war und nebenbei
bis zur Serienreife weiterentwickelt und TE- solut richtig.“ Das „forscherische Arbeiten“ Wirtschaftsingenieurwesen an
XIBLE gegründet.“ am Institut hat ihm nicht nur viel gebracht, der Fachhochschule Vorarlberg
sondern auch Spaß gemacht und ist ihm nach studierte. 2016 gründete er
100 Prozent fürs Gründen wie vor wichtig. Zwar sieht er Forschung gemeinsam mit seinem Kol-
Wenn Thomas Fröis heute als Geschäftsführer nicht als Hauptaufgabe von TEXIBLE, ge- legen Manuel Scheiderbauer
diesen Gründungsmoment beschreibt, klingt meinsam mit dem Forschungsinstitut für Tex- TEXIBLE, in dem neben den
alles recht einfach – vor allem, wenn man sich tilchemie und Textilphysik und anderen Gründern noch eine weitere
vergegenwärtigt, dass TEXIBLE heute, vier Hochschulen führt er jedoch anlassbezogen Mitarbeiterin beschäftigt ist.
Jahre nach seiner Gründung, nicht nur er- immer wieder Projekte durch. So zählt bei-
folgreich seine eigenen Produkte vermarktet,
sondern auch jede Menge Auftragsentwick- „Es war für mich sehr
lung für andere Firmen durchführt. Immer-
unbefriedigend, dass die
hin kann TEXIBLE auf der eigenen Webseite
mit 129 entwickelten Prototypen werben.
erarbeiteten Ergebnisse in der
Doch die Unternehmensgeschichte hat auch Schublade liegen blieben.“ Thomas Fröis

andere Seiten, wie er den ersten Eindruck


berichtigt: „Ich selbst hätte mir gedacht, spielsweise die Alterung von intelligenten
dass alles viel schneller Fahrt aufnimmt und Textilien zu den Themen, über die man noch
dass man sich mit einem neuen Produkt am nicht genug weiß und die das TEXIBLE-Team
Pflegemarkt viel leichter positionieren kann. beschäftigen. Die größte Herausforderung ist
Zeit- und Absatzpläne würde ich vor dem für Thomas Fröis aber der Unternehmensauf-
jetzigen Erfahrungshintergrund wesentlich bau selbst. Die Entscheidung, wann der rich-
pessimistischer anlegen“, meint er rückbli- tige Zeitpunkt ist, um Personal einzustellen
ckend und ergänzt: „Es braucht schon jede oder ob man zusätzliche Investoren hereinho-
Menge Knochenarbeit, Durchhaltevermögen len will, sei immer eine Gratwanderung,
und vor allem aber auch die Flexibilität, einen meint er.  ef

zukunft forschung 02/20 19


UNIVERSITÄT INNSBRUCK IST BEI
UNTERNEMENSGRÜNDUNGEN FÜHREND
Eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) attestiert der Universität Wirtschaft hinauszutragen“, sagt Rektor Tilmann Märk. „Dazu ha-
Innsbruck mit ihrer erfolgreichen Spin-off-Strategie samt Beteiligungs- ben wir bereits 2008 eine Beteiligungsgesellschaft gegründet – die
portfolio und Beteiligungsmanagement eine Sonderstellung in der ös- Uni Holding.“ Forscher*innen, die auf Basis ihrer an unserer Uni
terreichischen Universitätslandschaft. Bestätigt wird diese Rolle auch in entwickelten Ideen ein Spin-off-Unternehmen gründen wollen, er-
einer aktuellen OECD-Studie zum Thema „Supporting Entrepreneurship halten hier bestmögliche Unterstützung, und die Holding begleitet
and Innovation in Higher Education in Austria“. „Wir stimulieren und die jungen Unternehmen mit aktivem Beteiligungsmanagement
forcieren Unternehmertum an der Universität, nicht zuletzt mit dem bis in die Wachstumsphase.
übergeordneten Ziel, Wissen von der Universität in die Gesellschaft und

TRANSFERSTELLE WISSENSCHAFT – WIRTSCHAFT – GESELLSCHAFT


Diese Serviceeinrichtung der Uni wurde 2016 als Zusammenschluss mehrerer Abtei-
lungen eingerichtet und ist seither die zentrale Anlaufstelle im Bereich Entrepreneur-
ship und Innovation: Mitarbeiter*innen der Transferstelle managen den InnCubator,
die Gründungsberatung, die Uni Holding, das Netzwerk für unternehmerische
Post-Docs RESI und entwickeln Kooperationsprojekte zwischen der Universität und
Partnern aus der Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus bietet die
Transferstelle Alumni- und Career-Services für Studierende und Unternehmen, unter-
stützt die Akquise neuer Spitzenforscher*innen durch ein Welcome & Dual Career
Service und kann in all diesen Bereichen auf regionale, nationale und internationale
Netzwerke zurückgreifen. -> www.uibk.ac.at/transferstelle

UNI HOLDING
Die Universität Innsbruck Unternehmensbeteiligungsgesellschaft mbH ist
ein Unternehmen, das sich seit seiner Gründung 2008 an kommerziell aus-
gerichteten Spin-offs der Universität Innsbruck beteiligt. Derzeit umfasst
das Portfolio die Software-Unternehmen 2PCS Solutions, GRID-IT, hydro-IT,
Laserdata, Onlim, QE LaB Business Services und WeMatch IT Solutions, die
Technologiefirmen Alpine Quantum Technologies, BioTreaT, incremental3D
und ParityQC, die Beratungsfirmen alpS, Innfoliolytix, iui-innsbruck univer-
sity innovations, die Biotechexperten INNotope, Sinsoma und UriSalt, den
Textilspezialisten Texible und das Veranstaltungszentrum Gurgl Carat.
-> www.uibk.ac.at/transferstelle/beteiligungen

INNCUBATOR
Die Universität Innsbruck und die Wirtschaftskammer Tirol haben 2016 am WIFI Tirol ein
eigenes Gründerzentrum eröffnet – den InnCubator. Hier werden Unternehmensgrün-
der*innen bei der Entwicklung ihrer Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle
begleitet und unterstützt, in einem Coworking Space werden Arbeitsplätze zur Verfügung
gestellt und es gibt die Möglichkeit des Prototypen-Baus. Die angebotenen Leistungen sind
individuell und flexibel auf die Start-ups zugeschnitten und greifen auf die Kraft der Netz-
werke von Universität und Wirtschaftskammer zurück. -> www.inncubator.at

20 zukunft forschung 01/20


02/20 Fotos: Felsch Fotodesign (1), Stephan Elsler (1), Uni Innsbruck (2), colourbox.de (2), unsplash (1)
TITELTHEMA

PROFESSUR FÜR INNOVATION & ENTREPRENEURSHIP


Die Universität Innsbruck verfügt über einen eigenen Arbeitsbereich für Innova-
tion & Entrepreneurship. Er wurde 2012 im Rahmen einer Stiftungsprofessur der
Wirtschaftskammer Tirol gegründet und mit Johann Füller besetzt. Der Schwer-
punkt der Arbeitsgruppe liegt auf Bildung und Forschung zu den Themen In-
novationsmanagement, insbesondere Open Innovation und Co-Creation sowie
Entrepreneurship. -> www.uibk.ac.at/smt/innovation-entrepreneurship

PROJEKT.SERVICE.BÜRO
Das projekt.service.büro wurde vor 20 Jahren gegründet und unterstützt Wissen-
schaftler*innen bei der Antragstellung, dem Management und der Abrechnung
von Projekten. Es kümmert sich aber auch um die Identifizierung, Sicherung und
Verwertung geistigen Eigentums. Diese ist oft die Grundlage für eine spätere Unter-
nehmensgründung. „Das projekt.service.büro ist eine Erfolgsgeschichte an unserer
Universität: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden hier die kompetente
Unterstützung, die sie neben ihrer wissenschaftlichen Expertise brauchen, um inter-
national erfolgreich zu sein“, erklärt Rektor Tilmann Märk, der die Serviceeinrichtung
seit mittlerweile 17 Jahren zunächst als Vizerektor für Forschung und später als Rek-
tor der Universität begleitet hat. -> www.uibk.ac.at/projektservice

RESI (RESEARCHERS WITH ENTREPRENEURIAL SPIRIT INNSBRUCK)


Die Universität Innsbruck ist über die Transferstelle Wissenschaft – Wirtschaft –
Gesellschaft Teil des von fünf europäischen Hochschulen und drei international
agierenden Unternehmen getragenen Netzwerks p2i – Postdocs to Innovators.
Dieses möchte Nachwuchsforschenden die Chance geben, sich in Workshops,
Kursen und regelmäßigen Treffen unternehmerische Fähigkeiten und Denkweisen
anzueignen und sich außerhalb der Universität zu vernetzen. „Das ist vor allem
wichtig, weil bei Weitem nicht alle gut ausgebildeten Wissenschaftler*innen eine
universitäre Laufbahn einschlagen können“, sagt Alexander Knapp, der Koordina-
tor von RESI. Gründen und unternehmerisch aktiv werden sind attraktive Karriere-
wege, die noch stärker ins Bewusstsein rücken sollen. -> www.resi-network.at

1669 – PROTOTYPENFÖRDERUNG
Der Förderkreis 1669 der Universität Innsbruck gewährt Anschubfinanzierungen für
die Entwicklung und Weiterentwicklung von Prototypen. Dem Willen der zahlreichen
Förderer folgend werden damit Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Rei-
festadium befinden und wirtschaftliches Potenzial haben, finanziell gefördert, um
Prototypen zu erstellen und die kommerziellen Verwertungschancen zu erhöhen.
Außerdem unterstützt der Förderkreis RESI und die Einrichtung eines Internet of
Things-Makerspace. Wer auch einen dauerhaften und aktiven Beitrag zur Zukunfts-
fähigkeit der Universität Innsbruck leisten möchte, findet alle Informationen und
Kontaktmöglichkeiten im Web. -> www.uibk.ac.at/foerderkreis1669

zukunft forschung 02/20 21


STANDORT

KOOPERATION IST WICHTIG


„Wenn man in Europa produzieren will, muss man in irgendeiner Art technologisch führend sein“, ist
­Georg Comploj, ehemaliger Geschäftsführer der Holding Getzner, Mutter & Cie, überzeugt. Mit ein Grund,
warum Getzner auf enge Zusammenarbeit mit Universitäten setzt – auch mit der Universität Innsbruck.

ZUKUNFT: Die Getzner-Gruppe verfügt


mit Textil und Werkstoffe über zwei un-
terschiedliche Standbeine – wie kam es
dazu?
GEORG COMPLOJ: Das waren unsere Vor-
fahren, die in den 1970ern festgestellt
haben, dass man mit Textil langfristig
unter Umständen nicht weiterkommt. Sie
schauten sich dann um, was denn anderes
möglich wäre. Ein Familienmitglied stu-
dierte damals in München, promovierte
dort auch und hat mit Siemens eine doch,
glaube ich, bahnbrechende Entwicklung
vorangetrieben, die sich mit Isolierung
von Körperschall beschäftigte. Das haben
wir dann – anfänglich mit vielen Mühen
– aufgebaut, heute ist es ein erfolgreiches
Produkt, mit dem wir doch weitgehend
Alleinstellungsmerkmale haben.
ZUKUNFT: Wurde dies in Eigenregie oder
in Kooperation mit Forschungseinrich-
tungen aufgebaut?
COMPLOJ: Die neue Idee wurde in sehr en-
ger Zusammenarbeit mit der Technischen
Universität in München umgesetzt.
ZUKUNFT: Wie angesprochen hat die Kri-
se der Textilindustrie in den 1970er bis
2000er Jahren Vorarlberg stark betroffen.
Mit welchen Strategien konnte sich Getz-
ner behaupten?
COMPLOJ: In meiner Berufsphase gab es
– ohne Corona – mehrere Krisen. Als ich
1979 zur Firma gekommen bin, war schon
Krise angesagt – Redimensionieren, Neu-
organisieren, Produktportfolio ändern,
alle diese Themen. Ich bin damit aufge- GEORG COMPLOJ: „Das Institut für Textilchemie und Textilphysik und das COMET-­Projekt
wachsen und bin von der Ausbildung her sind Vorzeigeprojekte, die zeigen, dass man – auch wenn man nicht direkt Universitätsstadt
vorbelastet – ich habe in Zürich an der ist – sehr eng mit Universitäten kooperieren kann.“
ETH Maschinenbau studiert. Ich konnte
dort in einigen Fächern den Stand der COMPLOJ: Wir haben rückblickend die Technologie zu forcieren. Das ist nicht im-
Technik erfahren, das hat mich fasziniert. SARS-Pandemie 2002/03 gespürt, die mer auf Verständnis gestoßen. Wir haben
Daher war mir sehr früh klar, dass wir weltweit dazu geführt hat, dass von ei- aber auch in schlechten Zeiten in unsere
nur bestehen können, wenn wir techno- nem Tag auf den anderen keine Aufträge Produktionsanlagen investiert, um eben
logisch vorne mit dabei sind. Das hat sich mehr gekommen sind. Dann natürlich die diesen Produktivitätsvorteil zu nutzen
offensichtlich bewährt. Weltwirtschaftskrise 2008/09 – das hat und vorne mitzuspielen. In unserer Bran-
ZUKUNFT: Sie sprachen von mehreren Kri- sich wiederholt. Ich habe versucht, stra- che – das waren damals Berufskleidung
sen… tegisch dagegenzuhalten und möglichst und Hemdenstoffe – ist es uns gelungen,

22 zukunft forschung 02/20 Fotos: Martin Mischkulnig


STANDORT

internationale Standards zu schaffen. Ich sität Innsbruck, sind aber auch stark mit
bin nach wie vor der Meinung: Wenn man der TU Graz und der Montanuniversität
in Europa produzieren will, muss man in Leoben verbunden. Das sind unsere drei
irgendeiner Art technologisch führend Anker in Österreich, von denen wir unser
sein. Das geht nur in enger Zusammen- Know-how und Personal beziehen. Es
arbeit mit universitären Einrichtungen. bestehen aber auch darüber hinaus Ver-
ZUKUNFT: Getzner ist führend in der Her- bindungen zu Universitäten – wenn man
stellung von afrikanischem Bekleidungs- weltweit tätig ist, muss man auch welt-
damast, was man nicht unbedingt mit weit Kontakte knüpfen.
einem Produktionsstandort in Vorarlberg ZUKUNFT: Welchen Stellenwert nimmt ge-
verbindet – war das Zufall? GEORG COMPLOJ (*1951) studier- nerell F&E bei Getzner ein?
COMPLOJ: Auch durch eine dieser Krisen, te an der ETH Zürich Maschinenbau. COMPLOJ: Das ist schwer quantifizierbar.
genau da, als ich zur Firma kam. Wir wa- Anschließend arbeitete er fünf Jahre in Tatsache ist, dass beide Tochterfirmen
ren früher schwerpunktmäßig Hersteller Schweizer Industriebetrieben, danach einen sehr hohen Aufwand betreiben.
von hochwertiger Damastbettwäsche. war er Produktionsleiter, Vorstand und Wenn ich zum Beispiel unser chemisches
Durch irgendeinen Zufall haben wir ent- Vorstandsvorsitzender mit Verantwortung Labor anschaue – da ist alles vorhanden,
deckt, dass die Moslems in Westafrika für Technik, Produktion, Entwicklung bei was auch an einem Universitätsinstitut
Bekleidung tragen, die dieser Damast- der Getzner Textil AG. Von 2013 bis 2019 vorhanden ist. Wir sind in diesem Bereich
bettwäsche sehr ähnlich sieht. Es ist eine war Georg Comploj Geschäftsführer der sehr gut ausgerüstet, weil wir in beiden
sehr alte Tradition mit eher bunten, stark Holding Getzner, Mutter & Cie, die 1818 Sparten von einem überzeugt sind: Wenn
gemusterten hochwertigen Bekleidun- gegründet worden ist. Die 1980 aus der wir hier produzieren und überleben wol-
gen. Für einen Boubou, der von Männern Holding ausgegliederte Getzner Textil AG len, ist es nur mit Technologie möglich.
getragen wird, braucht man etwa zehn ist ein international tätiger Textilhersteller ZUKUNFT: Was erwartet sich die Vor-
Meter. Wir hatten ein volles Lager und mit Hauptsitz in Bludenz. Das Unter- arlberger Industrie von der Universität
haben versucht, es dort abzusetzen – und nehmen mit knapp 1.700 Mitarbeitern Innsbruck?
das ging reibungslos. Es war von Anfang zählt zu den größten Buntwebern der COMPLOJ: Es gibt hier in Vorarlberg im-
an ein interessantes Geschäft und wir Welt. Die Getzner Werkstoffe GmbH, mer wieder die Diskussion, im Land eine
lernten, die Wünsche dieser Kunden zu gegründet 1969 in Bürs, ist Spezialist für Universität einzurichten. Das ist Nonsens,
erfüllen und haben dafür Technologien Schwingungsisolierung in den Bereichen Vorarlberg braucht keine eigene Univer-
entwickelt, die in der Literatur nicht be- Bahn, Bau und Industrie und beschäftigt sität. Wir versuchen aber natürlich, den
kannt sind. Das ist ein Geheimnis, sehr weltweit 500 Mitarbeiter. Beide Unter- Kontakt zu Universitäten zu intensivie-
hilfreich war dafür die Universität Inns- nehmen sind Teil der Holding Getzner, ren. Das Institut für Textilchemie und Tex-
bruck mit ihrem Institut für Textilchemie Mutter & Cie. tilphysik und das COMET-Projekt sind da
und Textilphysik in Dornbirn. Wir haben Vorzeigeprojekte, dass man – auch wenn
sehr viel gemeinsame Entwicklungsarbeit man nicht direkt Universitätsstadt ist –
gemacht und das Produkt zu industrieller Wirtschaftskammer. Dieser Verein sam- sehr eng mit Universitäten kooperieren
Größe geführt. Und offensichtlich haben melt Forschungsgelder, mit dem wir uns kann. Es entstehen auch weitere Koopera-
wir das Richtige gemacht. an Projekten beteiligen, die unseren Inte- tionen, natürlich mit Innsbruck, aber auch
ZUKUNFT: Mit den Textil-Sparten Mobility ressen entgegenkommen. Wir dokumen- mit anderen – etwa mit der ETH Zürich
und Technische Textilien haben sie weite- tieren damit, dass es im Sinne der Vorarl- oder der Hochschule St. Gallen. Das eine
re forschungsintensive Bereiche… berger Textilindustrie ist, somit ist es ein- oder andere Thema versuchen wir in die
COMPLOJ: Auch hier kooperieren wir sehr facher, entsprechende weitere Geldmittel Fachhochschule Dornbirn einzubringen.
eng mit dem Institut für Textilchemie und zu lukrieren. Es spielen alle Vorarlberger Themen, die für uns lebensnotwendig
Textilphysik. Textiler mit, natürlich mit unterschied- sind. Nicht nur, weil wir uns schwer tun,
ZUKUNFT: Wie wichtig ist für die Vorarl- lichem Nutzen und Einsatz – die einen Personal zu rekrutieren, sondern auch,
berger Textilindustrie generell die Anbin- weniger intensiv, die anderen mehr, wir weil wir zwingend eine wissenschaftliche
dung an Forschungseinrichtungen wie sehr intensiv, da wir sehen, dass ohne die- Komponente im Land brauchen.
das Institut für Textilchemie und Textil- se universitäre Unterstützung eine Tech- ZUKUNFT: Sie sind Mitglied des Förder-
physik der Universität Innsbruck oder nologieentwicklung extrem schwierig ist. kreises der Universität Innsbruck. Was
das COMET-Center „Textile Competence ZUKUNFT: Gibt es auch bei Getzner Werk- bedeutet das für Sie?
Centre Vorarlberg“? stoffe F&E-Anknüpfungspunkte an die COMPLOJ: Die Anfrage hat uns sehr über-
COMPLOJ: Wir halten es für sehr wichtig, Universität Innsbruck? rascht, es war für uns auch ein Zeichen
wir haben beim Aufbau der beiden Ein- COMPLOJ: Die Herstellung dieser Produk- der Anerkennung. Nach kurzem Nach-
richtungen intensiv mitgewirkt. Meine te ist reine Chemie, ihre Anwendung ist denken haben wir zugesagt, das zu unter-
Vorgänger haben den sogenannten Tex- reine Physik. Insofern haben wir einen er- stützen, weil wir hier im Land so gute
tilverein gegründet, er ist deckungsgleich höhten Bedarf an Zusammenarbeit sowie Erfahrungen mit der Universität Inns-
mit den Mitgliedern der Fachgruppe an Physikern und Chemikern. Wir rekru- bruck haben und das auch nach außen
„Textil Bekleidung“ in der Vorarlberger tieren viele Studierende von der Univer- dokumentieren wollen. ah

zukunft forschung 02/20 23


KURZMELDUNGEN

PFLAN­ZENSELBSTSCHUTZ
ETHISCHER ALS
ERWARTET
Eine experimentelle Studie zeigt: Finanzexperten agieren im Rahmen
ihrer Branche ehrlicher als in abstrakten Entscheidungssituationen.

P U
flanzen geben große Mengen des nehrliches Verhalten in der Finanz- spielt. „Sie verhalten sich ehrlicher in ei-
Kohlenwasserstoffs Isopren an die industrie, wie Bilanzbetrug oder nem Finanzkontext oder einer neutralen
Atmosphäre ab, die Hälfte davon Insiderhandel, beschäftigen immer Situation und unehrlicher in einem ab­
stammt von tropischen Wäldern. Das wieder die Öffentlichkeit. Hohe Kosten für strakten Umfeld“, sagt Christoph Huber.
entspricht etwa der jährlichen Emission Private und Unternehmen, aber auch für „Bei den Studierenden fanden die For-
von Methan auf der Erde. „Es wird ver- die Volkswirtschaft als Ganzes sind die scher dagegen keine solchen Unterschiede
mutet, dass Bäume Isopren emittieren, Folge. Christoph Huber und Jürgen Huber – sie verhalten sich meist unehrlicher als
um sich vor oxidativem Stress zu schüt- vom Institut für Banken und Finanzen der die Banker.“ Die Wirtschaftsforscher zei-
zen“, erläutert Armin Hansel vom Insti- Universität Innsbruck haben nun in einem gen in ihrer Studie, dass unterschiedliche
tut für Ionenphysik und Angewandte kontrollierten Experiment mit 415 Bankern Situationen unterschiedliche soziale Nor-
Physik. Mit Wissenschaftlern aus und Finanzprofis sowie 270 Studierenden men hervorrufen. Dies kann das Entschei-
Deutschland, Finnland und den USA hat als Kontrollgruppe die Einstellungen zum dungsverhalten zumindest teilweise erklä-
er diese Wechselbeziehung von Atmo- Thema Ehrlichkeit in der Finanzindustrie ren. „Weiters fürchten die Banker offenbar
sphäre und Pflanzenwelt näher unter- untersucht. Dabei zeigte sich, dass für Fi- einen möglichen Reputationsverlust. Sie
sucht. Anhand der gesammelten Daten nanzexperten und leitende Bankmitarbei- wollen vermeiden, als ‚unehrliche Bran-
konnte gezeigt werden, dass Bäume die ter die Situation, in der Entscheidungen che‘ angesehen zu werden“, schildert Jür-
für sie schädlichen Verbindungen in ihre getroffen werden, eine wichtige Rolle gen Huber seine Schlussfolgerungen. 
Blätter aufnehmen und in die ungefähr-
liche Verbindung Methylethylketon um-
wandeln. Durch Analysen der Blätter im
Helmholtz Zentrum München konnte
ein Enzym identifiziert werden, das sehr
wahrscheinlich für den Entgiftungspro-
zess verantwortlich zeichnet. „Da dieses
Enzym in Pflanzen weltweit vorkommt,
gehen wir davon aus, dass dieser Pro-
zess global von großer Bedeutung ist“,
sagt Eva Canaval, Erstautorin der nun
im Magazin Communications Earth & En-
vironment erschienenen Arbeit. WIRTSCHAFTSFORSCHER Christoph und Jürgen Huber (v. li.)

AUSFALLSICHERE QUANTENCOMPUTER

Q ubits, die Träger von Quanteninformation, sind anfällig für Fehler, die durch unerwünschte Wechsel-
wirkungen mit der Umwelt verursacht werden. Diese Fehler häufen sich während einer Quanten-
rechnung an, ihre Korrektur ist für den zuverlässigen Einsatz von Quantencomputern entscheidend. Ähnlich
wie der klassische Computer benötigt auch der Quantencomputer eine funktionierende Fehlerkorrektur.
Inzwischen können Quantencomputer mit gewissen Rechenfehlern umgehen. Zusätzlich zu diesen Fehlern
können jedoch auch Qubits ganz aus dem Quantenregister verloren gehen. Je nach Art des Quanten-
computers kann dies auf den tatsächlichen Verlust von Teilchen zurückzuführen sein, oder darauf, dass
Quantenteilchen in unerwünschte Energiezustände übergehen. Ein Team rund um Rainer Blatt vom Institut
für Experimentalphysik hat in Zusammenarbeit mit Physikern in Deutschland und Italien fortgeschrittene
Methoden entwickelt und implementiert, die es ihrem Ionenfallen-Quantencomputer erlauben, sich in
Echtzeit an den Verlust von Qubits anzupassen und den Schutz der fragilen Quanteninformation aufrecht-
zuerhalten. Das Konzept wurde von der Theorie-Gruppe um Markus Müller an der RWTH Aachen und dem
Forschungszentrum Jülich in Zusammenarbeit mit Davide Vodola von der Universität Bologna entwickelt.

24 zukunft forschung 02/20 Fotos: Uni Innsbruck (2), Uni Innsbruck/Harald Ritsch (1)
Stiften Sie Relevanz*

Für eine Universität


als Ort der Freiheit
aller, wo relevanten
Zukunftsfragen
nachgegangen wird zukunft forschung 02/20 25
www.stiftung-universitaet-innsbruck.at
PHYSIK

ROLAND WESTER untersucht elementare chemische Reaktionen, wie sie z. B. in interstellaren Molekülwolken ablaufen.

26 zukunft forschung 02/20 Foto: Andreas Friedle; Grafik: Tim Michaelsen


PHYSIK

GESCHWINDIGKEIT
DER REAKTION
Im Frühjahr 2020 wurde der Physiker Roland Wester mit einem ERC Advanced Grant a­ usgezeichnet. In
seinem Labor am Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik lässt er I­onen auf Moleküle prallen und
will nun in diesen Ionen-Molekül-Reaktionen nach Effekten der Q
­ uantenmechanik suchen.

W
asserstoff (H) ist das häufigste Der Forscher griff dabei auf spezielle wurde gemessen, mit welcher Geschwin-
Element im Universum, mit der Detektoren zurück, die Ende der 1990er- digkeit und in welche Richtung Teilchen
Bildung eines Wasserstoffmole- Jahre für Anwendungen in der Photo- danach wegfliegen“, sagt Wester, der als
küls (H2) – Hauptbestandteil von inter- physik und Photochemie gebaut wurden. Postdoc an der University of California
stellaren Gaswolken – beginnt die Che- „Moleküle wurden mit Laserlicht beschos- Überlegungen anstellte, ob diese Methode
mie des Weltalls. Kosmische Strahlung sen, damit sie platzen. Mit den Detektoren auch bei Ionen-Molekül-Reaktionen an-
kann Wasserstoffmoleküle ionisieren, es wendbar wäre – die Umsetzung erfolgte
bilden sich Wasserstoff-Molekül­i onen in seiner Zeit an der Universität Freiburg.
(H2+). Diese Ionen können nun wieder „Wir waren die erste Gruppe, die damit
mit Wasserstoffmolekülen reagieren. angefangen hat“ erinnert er sich. Ebenso
„Diese Reaktion von H 2+ und H2 ist ei- erinnert er sich an die Aussagen mancher
ne der häufigsten Reaktionen in kalten Kollegen, dass das nie gelingen könne.
interstellaren Gaswolken“, erläutert der „Für einen Wissenschaftler auf der Suche
Physiker Roland Wester, „seit rund 100 nach einem Habilitationsthema und dem
Jahren kennt man auch das Ergebnis. Es Wunsch nach einer Fixanstellung nicht ge-
bildet sich H3+ und ein Wasserstoffatom.“ rade förderlich“, lacht er heute.
Was aber im Detail dabei passiert, welche
Molekülschwingungen angeregt werden, Erstmalige Beobachtung
wie viel Energie in Bewegung übergeht Der Zweifel weckte aber auch den Ehr-
etc. ist bis dato unbekannt – es fehlt ein- geiz, zudem war er Warnung, „daher
fach die experimentelle Vorrichtung, um haben wir alles doppelt und dreifach ab-
mit der dafür notwendigen Auflösung zu gesichert.“ Dem jungen Team gelang es
messen. Roland Wester will dies nun än- IN DER VON Roland Wester konstruier- schließlich, das Experiment erfolgreich
dern. In seinem Labor am Institut für Io- ten Apparatur prallen zwei Gasströme bei aufzubauen (siehe Infobox) und die Aus-
nenphysik und Angewandte Physik der einer Geschwindigkeit von typisch rund tauschreaktion von negativ geladenen
Universität Innsbruck soll eine Messap- 1.000 Meter pro Sekunde aufeinander. Chlor-Atomen (Cl) mit Iodmethan-Mo-
paratur aufgebaut werden, mit der diese Neutrales Gas expandiert aus einem lekülen (CH3I) – es entsteht das Molekül
und andere Ionen-Molekül-Reaktionen Druckbehälter durch ein kleines Loch ins CH3Cl und ein negativ geladenes Jod-
exakt beobachtet werden können. So ex- Vakuum und bildet einen millimetergroßen Atom (I) – zu beobachten. Westers Team
akt, dass Westers Team dabei auch Effek- Strahl. Richtung und Geschwindigkeit des war es damit erstmals gelungen, die ato-
te der Quantenmechanik messen will. ähnlich dünnen Ionenstrahls werden durch mare Dynamik einer sogenannten nuk-
Bei chemischen Reaktionen entstehen elektrische Felder eingestellt. Im rund leophilen Substitutionsreaktion genau zu
aus den Ausgangsstoffen neue Stoffe mit einen Kubikmillimeter großen Kreuzungs- beobachten.
neuen Eigenschaften, nur durch das Ver- punkt treffen rund 100.000 Ionen auf 2010 wechselte Wester an die Universi-
ständnis ihrer Abläufe kann man etwa Milliarden Teilchen. „Eines davon reagiert“, tät Innsbruck und setzte hier seine Arbeit
die Herstellung von Kunststoffen und beschreibt Roland Wester den Vorgang. fort. „Im Laufe der letzten zehn Jahre
Medikamenten verbessern. „Wie solche Gemessen werden dann Geschwindigkeit sind die Experimente komplexer gewor-
chemische Reaktionen ablaufen, unter- und Flugrichtung der Reaktionsprodukte, den. Wir haben mit größeren Molekülen
sucht man daher seit mehr als 50 Jah- aus den Messdaten von eingehenden und gearbeitet, das Chlor durch andere Subs-
ren“, berichtet Wester. Mit immer wieder ausgehenden Teilchen lässt sich ableiten, tanzen ersetzt, das Ion zu einem Cluster
neuen Techniken wurden Moleküle be­ was im Augenblick der Reaktion geschieht vergrößert, die Kontrolle verbessert oder
obachtet, wie sie im Vakuum miteinander – ob sich beispielsweise Zwischenpro- die Moleküle vor dem Experiment mit ei-
wechselwirken. Eine davon hat Roland dukte bilden oder die Reaktionspartner in nem Laser in Schwingung versetzt“, zählt
Wester entwickelt. Schwingung versetzt werden. Wester auf. Teilweise stieß man auch an

zukunft forschung 02/20 27


PHYSIK

die Grenzen der Methode, etwa bei der


Bildung von HCO+ in Reaktion mit H3+,
„ein Prozess, der im Universum wichtig
ist, wenn es um die Molekülbildung in
kalten Wolken geht.“ Und trotz der vielen
neuen Erkenntnisse, die, so Wester, „viel-
leicht auch in der chemischen Praxis ein-
mal eine Rolle spielen werden“, stellte er
sich die Frage, was denn der nächste gro-
ße Schritt sein könnte. Das Ergebnis war
der Antrag für den ERC Advanced Grant,
der im Frühjahr 2020 genehmigt wurde.
„Wenn sich Atome bewegen, gehorchen
sie den Regeln der Quantenmechanik. In
den vielen chemischen Prozessen, die wir
uns angeschaut haben, konnten wir das
aber nicht auflösen – gerade in kleineren
Systemen, wo die Bewegung nicht mehr ROLAND WESTER (* 1971) studierte Physik zuerst an der Universität Konstanz, dann an
klassisch ist, sondern die Quantenme- der Universität Heidelberg, wo er 1999 dissertierte. Von 2000 bis 2002 war er Postdoc
chanik nur noch gewisse Energiezustän- an der University of California, Berkeley und danach wissenschaftlicher Mitarbeiter und
de – diskrete Energieniveaus – erlaubt. Projektleiter am Physikalischen Institut der Universität Freiburg, wo er 2007 habilitierte.
Lasse ich etwa Moleküle schwingen, sind Von 2008 bis 2010 übernahm er dort eine Professurvertretung. 2010 wurde er an die
nur ganz diskrete Schwingungszustände Universität Innsbruck an das Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik berufen.
energetisch erlaubt. Das heißt, lasse ich in Wester wurde für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2011 mit einem
der chemischen Reaktion Energie frei wer- ERC Starting Grant. 2020 wurde ihm ein ERC Advanced Grant zuerkannt, Projektstart ist
den, muss ich eigentlich fragen: ‚Wie viele im Jänner 2021. Für fünf Jahre stehen ihm und seinem Team für das Projekt „Dynamics of
Quanten Energie habe ich in dem Mo- Molecular Interactions with Ions“ bis zu 2,5 Millionen Euro zur Verfügung.
lekül, das ich erzeuge?‘ Um das messen
zu können, muss ich diese Quanten auf-
lösen. Das ist – wenn ich ein Molekül mit eine größere Gasmenge, folglich auch vor Projekthalbzeit stattfinden“, plant der
fünf, sechs Atomen habe und daher viele größere Vakuumpumpen. Von Ansatz 1 Physiker und hält fest: „Ich rechne damit,
Quantenzustände möglich sind – extrem erwartet sich Wester eine Verbesserung dass wir für eine Reihe von chemischen
schwierig“, beschreibt er das Problem, das um „Faktor fünf, vielleicht zehn“. Der – Prozessen neue Erkenntnisse bekommen.“
er nun mit einer neuen Apparatur lösen ambitionierte – Ansatz 2 sieht vor, nicht
will. Mit ihr soll – für elementare Reaktio- nur die Geschwindigkeit des wegfliegen- Chemie des Weltalls
nen aus drei bis vier Atomen – die Auf- den Ions zu messen, sondern auch die des Eine der ersten Reaktionen, die Wester
lösung so gut sein, dass die quantenme- neutralen Produkts und die Differenz zu mit seinen Mitarbeitern untersuchen will,
chanischen Energiezustände sichtbar wer- berechnen. „Dazu muss – ohne das ge- ist die häufigste Reaktion in kalten inter-
den, dass die Geschwindigkeit, mit der samte Ensemble zu zerstören – das neut- stellaren Gaswolken, jene von H2+ und H2
rale Teilchen in ein Ion umgewandelt und , um die Quantenzustände, die H3+ ein-
„Wir verfolgen einen dann gemessen werden. Gelingt uns das, nimmt, zu messen. Als sehr spannend be-
­ambitionierten Ansatz. Gelingt bekommen wir eine so gute Auflösung, zeichnet er auch die Reaktion von H2+ mit
es uns, bekommen wir eine so dass wir – verschiedene – Schwingungs- Kohlenstoffmonoxid (CO), dem zweit-
quanten trennen können“, hofft Wester. häufigsten Molekül im Weltall. Das Er-
gute Auflösung, dass wir – ver-
Manche der benötigten Komponenten gebnis der Reaktion ist HCO+ und H2, das
schiedene – Schwingungsquanten für dieses Experiment sind in der ein- Proton kann sowohl auf die Kohlenstoff-
trennen können.“ Roland Wester
schlägigen Community etabliert, so an- als auch auf die Sauerstoff-Seite des
gewendet wurden sie allerdings noch nie. HCO+-Moleküls übertragen werden. „Bis-
Teilchen nach der chemischen Reaktion Erster Schritt für sein aus drei Postdocs lang konnte aber noch nicht nachgewie-
„wegfliegen“, so genau gemessen wird, und zwei bis vier Dissertanten bestehen- sen werden, wie häufig es welche Seite
dass sie keine breite Kurve mehr ist, son- des Team wird die Arbeit an einem „Digi- wird“, beschreibt Wester sein Erkenntnis-
dern diskret – mit scharfen Linien – wird. tal Twin“, um die benötigten Systeme für ziel. Der kleine, aber feine Unterschied
Roland Wester: „Das wäre ein Novum.“ Laser, Vakuum und Optik zu entwerfen, bedeutet nämlich, dass die Produkte in
Das Team verfolgt dabei zwei Ansätze. Baubeginn wird nicht vor Sommer 2021 der interstellaren Chemie verschiedene
Nummer 1 verlangt eine größere Appara- sein. Anfang 2022 sollte die neue Appara- Pfade einschlagen. Pfade, die in den kal-
tur. Um besser messen zu können, soll die tur aufgebaut sein, danach werden noch ten interstellaren Molekülwolken ent-
Wiederholfrequenz von 20 auf 200 mal pro etliche Monate fürs Feintuning benötigt. scheidend sein können, wie Sterne und
Sekunde gesteigert werden. Dies verlangt „Das erste erfolgreiche Experiment soll welche Art von ihnen entstehen. ah

28 zukunft forschung 02/20 Foto: Andreas Friedle


CHEMIE

NEUER MECHANISMUS
ENTDECKTT
Ein Team um die Chemikerin Kathrin Breuker hat einen Mechanismus entschlüsselt, der für die
Vermehrung des HI-Virus zentral ist und ein neues Angriffsziel für eine Therapie bietet.

KATHRIN BREUKER nahm mit ihrem Team den Replikationsmechanismus des HI-Virus genauer unter die Lupe. (Grafik: Angie Fox / worldofviruses.unl.edu)

M
illionen von Menschen weltweit schnell den Zellkern verlassen kann. mäne des rev-Proteins entspricht, sowie
sind mit dem Immunschwä- Schon lange beschäftigt die Wissenschaft unterschiedlich lange Segmente der Vi-
che-Virus (HIV) infiziert. Wird die Frage, wo genau an der RNA und in rus-mRNA. Deren Interaktionen beob-
dessen Vermehrung nicht mit Hilfe von welcher Reihenfolge diese rev-Proteine achteten sie mit Hilfe der Elektrospray-
antiviralen Mitteln eingedämmt, führt anlagern. Denn hier liegt ein möglicher Massenspektrometrie und Kollisions-ak-
eine Infektion nach einiger Zeit zu einer Angriffspunkt für eine gezielte Therapie, tivierter Dissoziation. „Wir fanden ne-
AIDS-Erkrankung. Viele Wissenschaft- um den zerstörerischen Zyklus der Vi- ben RNA mit einem Peptid auch Kom-
ler forschen immer noch intensiv nach rusvermehrung zu unterbrechen. Bisher plexe mit zwei Peptiden. Bei längeren
neuen Angriffspunkten des Virus, um ef- wurde versucht, mit Hilfe von Kernspin- RNA-Stücken beobachteten wir auch
fizientere Therapien zu entwickeln. Die resonanz-Spektroskopie, Kristallografie solche mit fünf Peptiden“, sagt Breuker,
Arbeitsgruppe um Kathrin Breuker vom und biochemischen Experimenten das die mit ihrem Team diese Konstrukte ge-
Institut für Organische Chemie hat nun Rätsel zu lösen. Für die strukturgeben- nauer unter die Lupe nahm und eine
ein weiteres solches Ziel identifiziert. den Methoden wurden aber modifizierte neue Bindungsstelle entdeckte, die bis-
Um sich zu vermehren und auszubrei- Moleküle verwendet, weil die natürli- her nicht detektiert werden konnte. „Es
ten, dringt das HI-Virus in menschliche chen Moleküle zu dynamisch sind und handelt sich hier um eine transiente Bin-
Zellen ein und baut seine Erbinformati- in den betroffenen Bereichen nicht kris- dungsstelle, die die rev-Proteine ein-
on im Zellkern in die DNA ein. Dadurch tallisieren. „Mit diesen Methoden wurde fängt und dann an die bereits bekannten
wird aus der eingebauten Virus-DNA vor einigen Jahren auch eine wichtige Bindungsstellen weiterreicht und so die
neue Virus-mRNA produziert, die aus Bindungsstelle entdeckt“, erzählt Kathrin Bildung von stabilen RNA-Protein-Kom-
dem Zellkern in das Cytosol transpor- Breuker. Mit ihrem Team hat sie nun eine plexen ermöglicht“, erläutert Breuker
tiert und dort in virale Proteine, die der neue Methode genutzt, um den Repli- das überraschende Ergebnis, das in der
Virus-Replikation dienen, umgeschrieben kationsmechanismus des Virus genauer Fachzeitschrift Nature Communications
wird. Um die Virus-mRNA schnell aus unter die Lupe zu nehmen. veröffentlicht wurde. Dieser Fund ist
dem Zellkern zu lotsen, bringt das Vi- nicht nur in Hinblick auf eine neue The-
rus ein bestimmtes Protein mit, das rev Neue Bindungsstelle rapie interessant, sondern klärt auch
heißt. Es ist bekannt, dass etwa acht bis Das Innsbrucker Team baute die natür- viele Forschungsergebnisse, die bisher
zehn solcher rev-Moleküle an die Virus- lichen Moleküle im Labor synthetisch nicht oder nur teilweise verstanden wur-
RNA binden müssen, damit die mRNA nach: ein Peptid, das der Bindungsdo- den. cf

Foto: Andreas Friedle; Grafik: Angie Fox / worldofviruses.unl.edu zukunft forschung 02/20 29
DIGITALISIERUNG

VOM PAPIER INS INTERNET


Editionen wandern zunehmend in den digitalen Raum. Das eröffnet auch neue Möglichkeiten –
etwa die Verknüpfung von historischen Briefen aus Nachlässen.

E
ditionen der Werke bekannter Kul-
turschaffender sind Teil der Arbeit
von Forscherinnen und Forschern in
den Literatur- und Kulturwissenschaften
– häufig dienen hier als Grundlage Nach-
lässe, werden Briefe, Manuskripte und
weitere zuvor nicht öffentlich zugängliche
Materialien aufgenommen und kontex­
tualisiert. Joseph Wang-Kathrein ist einer
dieser Kulturwissenschaftler, er arbeitet
selbst an einer Edition des Nachlasses von
Ludwig Wittgenstein mit. Ein Teil dieses
Nachlasses befindet sich am Forschungs-
institut Brenner-Archiv der Universität
Innsbruck. Joseph Wang-Kathrein trägt
dabei sozusagen einen Doppelhut: Er ar-
beitet zugleich am Brenner-Archiv und im
Forschungsschwerpunkt Digital Science
Center (DiSC), sein Gebiet ist nämlich
das Digitale Edieren, also die erwähnte
Edition von Texten für digitale Ausgabe-
formate. „Die Arbeiten an einer analogen
Edition, also für ein Buch, und an einer
digitalen ähneln einander natürlich stark.
Es gibt aber einen zentralen Unterschied:
Wir schreiben in der digitalen Edition
nicht nur für Personen, also die künftigen
Leserinnen und Leser, sondern auch für
Algorithmen“, erklärt der Forscher.

JOSEPH WANG-KATHREIN (*1974 in


Taipeh) wuchs in Taiwan und Vorarlberg
auf. Er studierte Medizin (Abschluss 2004)
und Philosophie an der Katholisch-Theolo-
gischen Fakultät (Abschluss 2007) in Inns-
bruck und promovierte 2017 in Philosophie
an der Katholisch-Theologischen Fakultät.
Seit 2006 war er als Projektmitarbeiter
an unterschiedlichen Projekten beteiligt,
darunter auch mehrere zum Philosophen
Ludwig Wittgenstein. Ab 2015 war er
Senior Scientist am Forschungsinstitut
Brenner-Archiv, seit 2020 ist Wang-Kath-
rein Universitätsassistent am Forschungsin-
stitut und am Digital Science Center (DiSC).
Seine Forschungsschwerpunkte sind unter
anderem die digitalen Geisteswissenschaf-
ten und Ludwig Wittgenstein.

30 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle (1), Brenner-Archiv, Sig. 41/53-51 (1), Wang-Kathrein (1)
DIGITALISIERUNG

Der „ideale“ Text für die Edition oder Person unwichtig Er- meistens auch Briefe, allerdings bis auf
„Die Idee beim Edieren ist, dass es sozu- scheinendes auch weg – bei Wittgenstein wenige Ausnahmen nur die, die die jewei-
sagen den ‚idealen‘ Text gibt, ohne Fehler nicht, der ist als Person zu wichtig, aber lige Person erhalten hat, nicht jene, die er
und gut verständlich. Wir machen natür- diese Fälle kommen vor.“ oder sie verschickt. Am Brenner-Archiv
lich alle Fehler beim Schreiben, und bei Die Art dieser Bearbeitung hängt auch haben wir zum Beispiel eine ganze Reihe
älteren Texten ist die Sprache als solche von der Edition und der wissenschaftli- an Briefen an Ludwig Wittgenstein, eben
schon schwer verständlich – alles das chen Disziplin ab, in der die Edition ge- aus Wittgensteins Nachlass, an deren digi-
wird bei Editionen behutsam behoben. macht wird: Eine historische Edition hat taler Edition ich gerade arbeite“, erläutert
Die Edition bringt diesen ‚idealen‘ Text einen anderen Fokus als solche in den der Wissenschaftler. Wittgensteins Briefe
zum Vorschein und bringt den Aus- Literatur- und Sprachwissenschaften, die sollen in Zukunft auch auf ‚correspSearch‘
gangstext in eine für heutige Leserinnen Leserinnen und Leser erwarten sich an- zur Verfügung stehen – und damit, sofern
und Leser verständliche Form, ohne das dere Verweise. „Für Historikerinnen und die Datenbank dort entsprechend wächst,
Original zu verlieren“, sagt Joseph Wang- Historiker sind alle historischen Zeugnis- komplette Korrespondenzketten nachvoll-
Kathrein. Um diese Texte digital lesbar zu se wichtig. Einen Brief weniger intensiv ziehbar machen.
machen, werden sie zuerst transkribiert, zu bearbeiten oder sogar ganz wegzu- Ein Hindernis für den Zugang zu digi-
teilweise auch halb-automatisiert mittels lassen, weil er für den konkreten Zweck talen Editionen ist häufig das Urheber-
Scans und automatischer Texterkennung. der Edition nicht gebraucht wird, kommt recht: Selbst wenn Schutzfristen abgelau-

BRIEF von Ludwig Wittgenstein an Ludwig von Ficker vom 14.7.1914: links im Original, rechts im „Oxygen XML-Editor“ für die digitale Edition.

„Der Text liegt dann digital vor und wir dort gar nicht in Frage“, sagt der Philo- fen sind, verlangen Archive häufig Geld
reichern diesen Text an: Anspielungen, loge. „Um diese unterschiedlichen Arten, für Scans älterer Materialien, online ver-
Personennamen, Ortsnamen und der- Editionen zu erstellen, dennoch einiger- öffentlicht werden können dann nur
gleichen markieren wir und versehen sie maßen vergleichbar zu halten, hat sich Transkripte. „Ich befürworte Open-­
mit Erläuterungen und Verweisen, je nach ein Standard herausgebildet, der Mar- Access-Publikationen sehr und publiziere
der gedachten Leserschaft bereiten wir kierungen für bestimmte Textmerkmale nach Möglichkeit auch selbst so. Gerade,
den Text entsprechend auf. Wie viel hier definiert und der erlaubt, Metadaten zu was den digitalen Zugang zu Scans be-
nötig ist, hängt natürlich auch von der notieren, und das alles in maschinenles- trifft, wäre eine rechtliche Regelung hier
Textbasis ab: Einen mittelalterlichen Text barer Form“, erklärt Joseph Wang-Ka- hilfreich – wenn das Ausgangsmaterial
müssen wir mit deutlich mehr Kontext threin. Diese von der Text Encoding In- gemeinfrei ist, sollte auch die digitale Re-
versehen, ihn weitergehend annotieren, itiative (TEI) entwickelten Definitionen produktion gemeinfrei und damit Open
kommentieren und teilweise sogar über- basieren auf XML und erlauben umfas- Access sein.“ Joseph Wang-Kathrein ver-
setzen, als einen Briefwechsel aus dem 20. sende Annotation und Kommentierung wendet das TEI-Framework nicht nur
Jahrhundert.“ von Texten. selbst inzwischen bereits seit mehreren
Wang-Kathrein nennt ein Beispiel, das Jahren, sondern unterstützt im Rahmen
verdeutlicht, wie aufwändig diese Kon- Verknüpfungen seiner Arbeit am Forschungsschwerpunkt
textualisierung sein kann: „Wenn ich „Ein schönes Beispiel, das zeigt, was digi- DiSC auch Forscherinnen und Forscher
einen Zettel im Nachlass habe, auf dem tale Editionen mit Querverweisen leisten der Uni Innsbruck und anderer Institute
sinngemäß steht: ‚Ja, ich komme gern können, ist ‚correspSearch‘, ein unter an- – digitale Methoden gewinnen in den
zum Abendessen‘ – dann kostet das gar derem von der Deutschen Forschungsge- Geisteswissenschaften immer mehr an
nicht wenig Zeit, herauszufinden, welches meinschaft gefördertes Projekt“, erläutert Bedeutung und Editionen spielen in vie-
Abendessen das war, wann und wo und Wang-Kathrein. In ‚correspSearch‘ können len Disziplinen eine Rolle: „Gerade an der
mit wem. Wir überlegen uns als Philolo- Archive und Institutionen digital edierte interdisziplinären Zusammenarbeit am
gen aber auch, welche Informationen tat- Briefe aus ihrem Bestand erfassen und DiSC zeigen sich neue Chancen für die
sächlich relevant sind und lassen mitunter verknüpfen: „In Nachlässen befinden sich Editionsphilologie.“ sh

zukunft forschung 02/20 31


PÄDAGOGIK

GEMEINSAM LERNEN
Thomas Hoffmann beschäftigt sich mit der Frage, wie Kinder mit Behinderung besser
in den Unterricht einbezogen werden können. Ein spezielles Augenmerk legt er auf
den Chemieunterricht und plädiert für mehr Experimente und methodische Vielfalt.

E
s knallt und pfeift, es raucht und für LehrerInnenbildung und Schulfor- Hoffmann. Wenn, wurde das Thema im
sprüht, bunte Farben wechseln schung der Universität Innsbruck beru- Sinne von Naturkunde behandelt, etwa
sich ab – ein Feuerwerk ist ein fen wurde. „Der Igel im Herbst“. Hoffmann stellt
faszinierendes Ereignis. Ähnlich faszi- aber auch fest, „dass sich das allmählich
nierend ist der Herbst, wenn die Blätter Chemie erkunden ändert.“ Noch in Deutschland konnte der
der Laubbäume ihr Grün verlieren, sich 1990, vor seinem Studium, absolvierte Forscher in einigen Unterrichtsprojekten
gelb, orange und rot verfärben, ehe sie zu Hoffmann seinen Zivildienst an einer zeigen, dass sich Kinder mit Beeinträch-
Boden fallen. Zwei unterschiedliche Phä- Schule für geistig Behinderte in Hamburg, tigung sehr wohl für Naturwissenschaft
nomene, denen chemische Prozesse zu- seither beschäftigt ihn die Frage, wie denn interessieren. „In einem Projekt sollten
grunde liegen und die – wie viele andere Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen 16-, 17-jährige Schülerinnen und Schüler
auch – bestens geeignet wären, „den Che- in den Unterricht, speziell in jenen in na- zehn- bis zwölfjährigen Kindern mit kog-
mieunterricht interessant zu gestalten“, turwissenschaftlichen Fächern, einbezo- nitiven Beeinträchtigungen ‚Chemieunter-
meint Thomas Hoffmann. „Und zwar für gen werden können, welche Lernmöglich- richt‘ geben“, berichtet Hoffmann: „Spaß
alle Kinder, auch für jene mit Lernbeein- keiten für sie die passenden sind. „Lange gemacht hat es allen, einige der älteren
trächtigungen“, ergänzt der gebürtige Zeit wurde diesen Kindern überhaupt Kindern steigerten sogar ihre eigenen
Hamburger, der 2018 als erster Professor abgesprochen, dass sie sich mit Natur- schulischen Leistungen.“ So meinte etwa
für Inklusive Pädagogik an das Institut wissenschaft beschäftigen können“, weiß eine Schülerin, dass sie das erste Mal mit

32 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle (2), Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de (1)
PÄDAGOGIK

Interesse in ihr Chemiebuch geschaut ha- Spricht man von inklusivem Unter- die in sich abgeschlossene Lerneinheiten
be, musste sie chemische Beispiele doch richt, ist es, so Hoffmann, wichtig, Schule (z. B. zu den Themen „Europa“, „Blukreis-
verstehen, um sie erklären zu können. als gemeinsamen Lernort zu begreifen. lauf“ oder „Insekten“) beinhalten – de-
Die Schülerin veranschaulichte damit „Es geht nicht um eine Pädagogik für eine taillierte Lehranweisungen für die Lehr-
aber auch eine Hauptcrux des Chemie­ bestimmte Zielgruppe, vielmehr um die kräfte, Lernkarten, differenzierte Aufga-
unterrichts – er gilt, ähnlich wie Physik, Frage, wo sich im Unterricht bestimmte benstellungen, didaktische Materialien…
als Schreckensfach. „Eigentlich wären Barrieren zeigen, an denen Kinder schei- „Ausgangspunkt ist die Entwicklung und
Chemie und Physik spannend“, ist Hoff- tern“, sagt der Forscher. Nicht die Schü- Implementierung von pädagogisch wirk-
mann überzeugt, „diese Fächer sind aber lerinnen und Schüler seien das Problem, samen Konzepten und Handlungsstrate-
unbeliebt, weil sie abstrakt gestaltet wer- man müsse vielmehr darauf achten, wie gien im Sinne einer inklusiven Schul- und
den.“ Formeln, Periodensysteme und jedes Kind mit seinen Möglichkeiten die Unterrichtskultur, in deren Mittelpunkt

THOMAS HOFFMANN erstellt mit Studierenden „Lernkisten“ für inklusiven Unterricht, wie hier jene zum Thema Hirnforschung.

Gleichungen anstatt experimentieren bestmögliche Leistung erbringen und sein das kooperative Lernen am gemeinsamen
und erkunden, anstatt phänomen- und Entwicklungspotenzial ausschöpfen kön- Gegenstand steht“, erläutern Hoffmann
handlungsorientiertes Lernen. Hoffmann ne. Zur Umsetzung dieser Forderung be- und seine Mitarbeiterin Miriam Sonntag.
räumt zwar ein, dass in diesen Fächern nötigt es spezielles Lehrmaterial, im neu- Rund 15 solcher Kisten wurden mit Stu-
aufgrund des Lehrplans meist die Zeit en Lehr-Lern-Labor (LLL) am Institut für dierenden des Lehramtsstudiums Inklusi-
fehle, er erkennt aber auch einen Wandel LehrerInnenbildung und Schulforschung ve Pädagogik bislang erstellt. „Das Studi-
in der naturwissenschaftlichen Fachdi- beginnt Hoffmann mit dessen Aufbau. um wurde 2016 im Rahmen der LehrerIn-
daktik: „Lange Zeit orientierten sie sich nenbildung neu eingerichtet“, erklärt
an den vermeintlich ‚normalen‘ Kindern. Lernen mit Kisten Hoffmann. Rund 90 Studierende zählt
Doch auch das stimmte ja nicht, wenn Das Konzept des LLL verfolgt das Prinzip diese Spezialisierung, die wie ein „norma-
man sich die Schwierigkeiten, die schon einer Lernwerkstatt als Ort des forschen- les“ Fach studiert wird. Unter den Studie-
Kinder ohne Beeinträchtigung mit die- den Lernens. Als Kernelement bezeichnet renden hatte Hoffmann auch eine Lehre-
sen Fächern haben, anschaut.“ In dem Hoffmann die sogenannten „Lernkisten“, rin, die an einer Berufsschule unterrichtet,
Umdenken der naturwissenschaftlichen darunter auch Schülerinnen und Schüler
Fachdidaktik ab den 1990er-Jahren sieht mit Lernbeeinträchtigungen. „Sie soll an-
er eine Chance, „differenzierte Angebote THOMAS HOFFMANN (* 1971) studier- gehenden Malern Chemie und Physik nä-
zu erstellen und auf unterschiedliche Wei- te Soziologie, Psychologie und Politologie her bringen, unter anderem den Kapillar-
se bestimmte Gegenstände zu erarbeiten.“ an der Universität Hamburg und der effekt, was sie bis dahin auf theoretischer
Doch auch in der Behindertenpädagogik Freien Universität Berlin. Ab 2001 war Ebene versucht hat.“ Für Malerinnen und
hat ein Wandel eingesetzt. „Sie hat das er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Maler ist der Effekt nicht unwichtig, sorgt
Thema der Fachdidaktik lange ignoriert. Pä­dagogischen Hochschule Ludwigsburg er doch dafür, dass sich einerseits Pinsel
Die fachliche Vermittlung stand im Hin- und der Universität zu Köln, war aber auch – durch die Hohlräume zwischen den
tergrund, es ging vielmehr um alltags- als Erzieher in der Behindertenhilfe und Pinselhaaren – mit Farbe vollsaugen, an-
und lebenspraktische Dinge“, so der der Erwachsenenbildung tätig. Hoffmann dererseits Oberflächen mit Hohlräumen
Erziehungswissenschaftler. Diese zwei promovierte 2011 im Fach „Allgemeine – wie z. B. Holz – Farbe aufsaugen. „Im
Ansätze würden sich, sagt Hoffmann, in Sonderpädagogik“. 2015/16 hatte er eine Seminar haben wir eine Art Lernkiste er-
seiner Arbeit sehr gut ergänzen – so kam Vertretungsprofessur an der Pädago- arbeitet, um den Kapillareffekt auf einer
es etwa zur Kooperation mit dem Chemie- gischen Hochschule Heidelberg inne, Handlungsebene zu unterrichten. Einige
didaktiker Jürgen Menthe von der Univer- 2016/17 eine Gastprofessur an der Hum- Studierende waren anfangs skeptisch –
sität Hildesheim in Richtung einer inklu- boldt-Universität zu Berlin. 2018 folgte er doch es hat funktioniert. Die Schülerinnen
siven Fachdidaktik im Chemieunterricht. einem Ruf an die Universität Innsbruck. und Schüler haben es verstanden.“ah

zukunft forschung 02/20 33


WIRTSCHAFT

GRENZEN DER
BILANZKONTROLLE
Der Bilanzskandal beim ehemaligen Börsenliebling Wirecard hat die
­zuständigen Prüfstellen in die Kritik gebracht. Warum sie dennoch wichtig
sind, wissen Pia Meusburger und Christoph Pelger.

CHRISTOPH PELGER ist seit

B
2015 Professor für Financial örsennotierte Unternehmen müssen ten Wirtschaftsprüfern abgesegnet, sondern
Accounting an der Fakultät im Rahmen ihrer Informationspflicht auch durch externe Prüfstellen kontrolliert. In
für Betriebswirtschaft der Uni- an die Öffentlichkeit Bilanzen legen, Österreich und Deutschland sind dies priva-
versität Innsbruck. die Einblick in die Geschäftstätigkeit der te Vereine, die die veröffentlichten Bilanzen
PIA MEUSBURGER ist Sti- Firmen geben. Dafür wurden in den vergan- aller börsennotierten Unternehmen stich-
pendiatin der Österreichischen genen Jahren auch internationale Rechnungs- probenweise regelmäßig einer zusätzlichen
Akademie der Wissenschaften legungsstandards entwickelt, die die Art und Kontrolle unterziehen. In Deutschland wurde
und Doktorandin am Institut Weise regeln, wie kapitalmarktorientierte diese Form der Bilanzkontrolle bereits 2005
für Rechnungswesen, Steuer- Unternehmen ihre Bilanzen erstellen und ihre eingeführt, in Österreich gibt es sie seit 2013.
lehre und Wirtschaftsprüfung Gewinne ermitteln. Diese bilden eine wesent- „Damit sollte einerseits die Kontrolle verbes-
der Universität Innsbruck. liche Entscheidungsgrundlage für mögliche sert und andererseits den Abschlussprüfern
Investoren. Um hier größtmögliche Transpa- der Rücken gestärkt werden“, sagt Christoph
renz zu gewährleisten, werden die Bilanzen Pelger vom Institut für Rechnungswesen,
nicht nur von den von den Firmen beauftrag- Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung an der

34 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle (1), flickr.com/websummit (1)


WIRTSCHAFT

Uni Innsbruck. Neben den privaten Prüfstel- aktiv unterstützt, indem sie regelmäßig Vor-
len für Rechnungslegung gibt es nachgelagert träge halten und Kontakt mit den Akteuren
auch noch eine staatliche Bilanzkontrolle in Unternehmen und Wirtschaftsprüfungs-
– in Österreich die Finanzmarktaufsicht, in kanzleien suchen.
Deutschland die Finanzdienstleistungsauf- Den Ablauf der Prüfung selbst beschreibt
sicht BaFin –, die bei auftretenden Problemen Christoph Pelger als Diskussionsprozess, in
im Prüfverfahren tätig wird. dem die Unternehmen ihre Argumente für
die Auslegungen der Regeln vorbringen und
Einfluss der Bilanzpolizei versuchen, die Prüfer zu überzeugen. „Es
Christoph Pelger hat gemeinsam mit der kommt zu einem Wettstreit der Argumente
Doktorandin Pia Meusburger untersucht, darüber, was richtige Bilanzierung ist“, so
welchen Einfluss diese Kontrollinstanzen auf Pelger über den Alltag in der Bilanzkontrolle.
die Praktiken im Alltagsgeschäft der Unter- Interessant ist, dass die private Kontrolle,
nehmen haben. Sie haben dazu zahlreiche wie es sie in Österreich und Deutschland gibt,
Interviews unter anderem mit jenen Personen international ein Exot ist. Üblicherweise sind
geführt, die in börsennotierten Unternehmen es staatliche Behörden, wie die US-amerika-
für die Bilanzerstellung verantwortlich sind. nische Securities and Exchange Commission
„Unsere Auswertungen zeigen, dass die Bi- (SEC), die für die Bilanzkontrolle verant-
lanzkontrolle die Praktiken im Alltag sehr wortlich sind. Für die privaten Prüfstellen
stark prägt“, sagt Pia Meusburger. Vieles in spreche, dass sie relativ einfach Expertinnen
der Bilanzlegung ist in den Standards nicht und Experten rekrutieren können, weil die
exakt vorgegeben. „Es ist hier viel Ausle- Prüfstellen durchaus als wichtiger Zwischen-
gungsarbeit zu leisten und das schafft auch stopp einer erfolgreichen Laufbahn gesehen
entsprechende Spielräume“, so Meusburger. werden.
„Die Unternehmen berücksichtigen bereits
bei der Bilanzerstellung, wie sie bestimmte Skandale trotz Bilanzkontrolle?
Entscheidungen bei einer möglichen Prü- In der Wirecard-Affäre geriet die private und
fung durch die Prüfstelle rechtfertigen kön- öffentliche Bilanzkontrolle stark in die Kritik. NACHDEM ÜBER JAHRE
nen.“ Die Abschlussprüfer verstärken diesen Es wurde gefragt, warum ein an der Börse immer wieder Gerüchte
erfolgreiches Unternehmen mit über möglichen Betrug bei
„Die Unternehmen berücksichtigen bereits einer Bilanzsumme von acht Wirecard kursierten, gestand
Milliarden Euro über Jahre be- das Unternehmen am 18. Juni
bei der Bilanzerstellung, wie sie bestimmte
trügerisch tätig sein konnte, oh- 2020 ein, dass die Wirtschafts-
­Entscheidungen bei einer möglichen Prüfung ne dass die Kontrollmaßnahmen prüfungsgesellschaft EY keine
durch die Prüfstelle rechtfertigen können.“ Pia Meusburger griffen. „Hier gerät das existie- ausreichenden Nachweise
rende Kontrollsystem an seine über die Existenz von Bankgut-
Zugang noch einmal, indem sie von den Grenzen, weil es nicht dafür geschaffen ist, haben auf Treuhandkonten in
Unternehmen solche Begründungen verlan- solchen Betrug aufzudecken“, betont Chris- der Höhe von 1,9 Milliarden
gen. „Insgesamt kann man sagen, dass die toph Pelger. „Das System ist nicht dafür ge- Euro ermitteln konnte. Dieser
Kontrollverfahren hier schon sehr frühzeitig macht, die grundlegenden Tatsachen zu prü- Betrag entsprach etwa einem
präventiv wirken“, betont Christoph Pelger. fen, also ob zum Beispiel das Geld tatsächlich Viertel der Bilanzsumme
auf einem bestimmten Konto liegt. Dafür der Wirecard AG. Drei Tage
Wettstreit der Argumente fehlt den privaten Prüfstellen schlichtweg das später teilte das Unternehmen
Die Untersuchungen der Innsbrucker Wissen- Mandat. Die Prüfer sind hier auf die Koope- mit, dass die Guthaben auf
schaftler zeigen auch, dass sich die Akteure ration der Unternehmen angewiesen. Aber den Treuhandkonten „mit
aus Unternehmen und Kontrollinstanzen auch für staatliche Behörden stellt sich dies überwiegender Wahrschein-
regelmäßig austauschen. „Sie bilden ge- mitunter schwierig dar.“ Pelger sieht deshalb lichkeit nicht existieren“. Am
meinsam ein Netzwerk, das Vorstellungen das Versagen eher bei den externen Wirt- 25. Juni 2020 stellte Wirecard
von akzeptabler Auslegung der Standards schaftsprüfern. „Hier kann man schon fragen, einen Insolvenzantrag wegen
entwickelt“, erklärt Pelger. „Denn die Stan- ob nicht erwartet werden kann, dass ein sol- drohender Zahlungsunfähig-
dards für die Rechnungslegung sind relativ cher Betrug bei der Prüfung aufgedeckt keit und Überschuldung. Es
abstrakt formuliert und müssen von den wird.“ Das Versagen sieht Pelger aber vor folgten Anzeigen gegen die
Unternehmen entsprechend interpretiert allem beim Unternehmen selbst. „Dass keine ehemaligen Vorstände und
werden. Dafür benötigt es interne Expertise der beteiligten Personen, interne Revision umfangreiche Ermittlungen
und Prozesse, damit die Berichte vor den Ab- oder Aufsichtsrat den Schwindel aufgedeckt der Behörden. Am 24. August
schlussprüfern und der Prüfstelle für Rech- haben, hat wesentlich dazu beigetragen, dass schied der frühere Börsen-
nungslegung standhalten.“ Die Bildung von die Täuschung bei Wirecard so lange Bestand liebling aus dem deutschen
Netzwerken wird auch durch die Prüfstellen hatte“, sagt Pelger. cf Aktienindex DAX aus.

zukunft forschung 02/20 35


PSYCHOLOGIE

SINN ALS STRESSPUFFER


Die Corona-Krise hat auch massive psychische Folgen. Was hilft Menschen, gut durch
diese Zeit zu kommen? Die Sinnforscherin Tatjana Schnell vom Institut für Psychologie
untersucht seit Beginn der Corona-Krise die Auswirkungen auf das psychische Wohlergehen.

36 zukunft forschung 02/20 Fotos: Andreas Friedle


PSYCHOLOGIE

B
ereits zahlreiche Studien haben steigt mit dem Alter an; ältere Menschen schränkungen war die Lage für alle klar.
darauf hingewiesen, dass die Aus- sind oft besser in der Lage, Metaperspek- Es gab eindeutige Vorgaben und alle wa-
wirkungen der Coronavirus-Pan- tiven einzunehmen und profitieren somit ren sozusagen im gleichen Boot. Diese ‚Wir
demie auf die psychische Gesundheit der auch in ihrer psychischen Stabilität stär- packen das’-Stimmung hat sich für viele
Menschen enorm groß sein können und ker von ihrer Lebenserfahrung“, so die Menschen wohl eher positiv ausgewirkt.“
weite Teile der Bevölkerung betreffen. Für Forscher*innen. In den Wochen nach den Lockerungen
Tatjana Schnell vom Existential Psycholo- der strikten Ausgangsbeschränkungen
gy­­Lab am Institut für Psychologie der Klarheit wichtig registrierten Schnell und Krampe sowohl
Universität Innsbruck wurde im Frühling Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich, zunehmende Sinnkrisen und schwerere
2020 rasch klar, dass Erkenntnisse der em- dass die allgemeine psychische Belastung psychische Belastungen als auch gesunke-
pirischen Sinnforschung und existenziel- während der ersten Monate der Pandemie nes Sinnerleben und Defizite in der
len Psychologie von Bedeutung für den deutlich erhöht war. „Menschen, die in Selbstkontrolle. „Wir gehen davon aus,
Umgang mit der Pandemie sein können. ihrem Leben einen starken Sinn sahen, be- dass die Selbstkontrolle bereits kurz nach
Auf diesen Gebieten gilt Tatjana Schnell richteten aber insgesamt von einer weni- dem Lockdown – aber inzwischen auch
als international renommierte Expertin ger starken psychischen Belastung. Auch gesamtgesellschaftlich gut beobachtbar –
und beschäftigt sich bereits seit 20 Jah- die Fähigkeit der Selbstkontrolle – die im deshalb abgenommen hat, weil die Sinn-
ren mit Fragen des Lebenssinns auf ver- Hinblick auf die Einhaltung der Restrik- haftigkeit der Restriktionen weniger deut-
schiedensten Ebenen. Im Frühjahr hat die tionen sicherlich eine Ressource darstellt – lich nachvollziehbar ist: In Österreich und
Wissenschaftlerin gemeinsam mit ihrem war dem psychischen Befinden zuträglich. Deutschland haben die Maßnahmen zu
Kollegen Henning Krampe von der Kli- Beide, Sinnerfüllung und Selbstkontrolle, Beginn so gut funktioniert, dass die Situ-
nik für Anästhesiologie der Charité Berlin wirkten als eine Art Puffer: Sie schwäch-
eine umfassende quantitative Studie ins ten den Zusammenhang zwischen CO-
„Die Probleme waren während
Leben gerufen. Erste Ergebnisse dieser VID-19-Stress und psychischer Belastung
Untersuchung wurden bereits im Journal ab“, erläutert Schnell. des strikten Lockdowns offenbar
Frontiers in Psychiatry veröffentlicht, wei- Interessant war für die Wissenschaft- weniger schlimm als danach. Die
tere Publikationen dazu werden in den ler*innen dabei auch der Verlauf über Einführung der L­ ockerungen hat
kommenden Monaten folgen. mehrere Monate gesehen: „Die Probleme dann nicht zu einer V­ erbesserung
waren während des strikten Lockdowns der psychischen Situation geführt
Lebenssinn & Selbstkontrolle offenbar weniger schlimm als danach. Die – sondern im Gegenteil.“ Tatjana Schnell
Im Zeitraum von 10. April bis 28. Mai Einführung der Lockerungen hat dann
wurden insgesamt 1.538 deutschsprachi- nicht zu einer Verbesserung der psychi-
ge Personen vor allem aus Österreich und schen Situation geführt – sondern im Ge- ation nicht eskaliert ist, was dazu ver-
Deutschland in Form von Online-Fra- genteil.“ Warum das so ist, können auch führt, die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen
gebögen zu ihren Lebensbedingungen, Schnell und Krampe nur vermuten: „Eine in Frage zu stellen – das sogenannte Prä-
ihrer Wahrnehmung der Pandemie-Situ- Sorgenquelle sind natürlich wirtschaftliche ventionsparadox. Hinzu kommt, dass in
ation und zu verschiedenen Merkmalen Einbußen. Darüber hinaus weisen unsere den letzten Monaten die Kommunikation
der seelischen Gesundheit befragt. Das Daten auf einen möglichen Zusammen- durch die Behörden weniger deutlich und
Hauptaugenmerk legte Schnell dabei auf hang mit der Eindeutigkeit der Situation nachvollziehbar war. Wenn die Sinnhaf-
die Aspekte Sinnerfüllung und Selbst- hin: Während der strengen Ausgangsbe- tigkeit aber nicht erkennbar ist, ist es für
kontrolle. „Wir haben uns in dieser Studie viele Menschen schwer, Selbsteinschrän-
angesehen, welchen Einfluss der Faktor kungen auf Dauer aufrecht zu erhalten“,
Lebenssinn für die Menschen in der Zeit verdeutlicht Tatjana Schnell – verbunden
des restriktiven Lockdowns und danach mit einem Appell an die Verantwortlichen
hatte. Konnten Menschen, die einen Sinn in der Politik: „Wer eine gesamtgesell-
in ihrem Leben gefunden haben, besser schaftliche Akzeptanz anstrebt, sollte
mit der Situation umgehen?“, sagt Tatjana auch partizipativ agieren. Das würde be-
Schnell. „Unser zweiter Fokus lag auf der deuten, dass Politikgestaltung verschie-
Selbstkontrolle, das heißt auf der Frage, dene Perspektiven einbezieht, also neben
wie gut die Menschen in der Lage waren, Medizin und Wirtschaft auch Sozial- und
ihre Bedürfnisse einzuschränken und an DIE SINNFORSCHERIN Tatjana Schnell Geisteswissenschaften. Darüber hinaus
die Ausnahmesituation anzupassen“, so ist assoziierte Professorin für Persönlich- bedeutet demokratische Beteiligung auch
Schnell zu den Zielen der Studie. Generell keits- und Differentielle Psychologie am die aktive Einbindung von Minderheiten
konnten Schnell und Krampe feststellen, Institut für Psychologie der Universität und wesentlicher Interessensgruppen.
dass ältere Menschen besondere Resilienz Innsbruck, dort leitet sie das Existential Wenn dies gelingt, dann hat Selbstkon­
zeigen. Die Daten wiesen darauf hin, dass Psychology Lab. Seit Herbst 2020 ist trolle weniger mit Gehorsam oder Wider-
sie mit deutlich weniger negativen psychi- Schnell auch Professor of Psychology of stand zu tun, sondern ist ein mögliches
schen Konsequenzen zu kämpfen hatten Religion and Existential Psychology an der Ergebnis einer informierten persönlichen
als jüngere Personen: „Das Sinnerleben MF Specialized University in Oslo. Entscheidung.“ mb

zukunft forschung 02/20 37


ÖKOLOGIE

„ELIMINATE, INNOVATE,
CIRCULATE“
Anke Bockreis und Martin Stuchtey forschen für eine nachhaltige Zukunft. Bei der Beseitigung von
Plastikmüll und Maßnahmen zum Klimaschutz setzen beide auf das Konzept der Kreislaufwirtschaft.

ZUKUNFT: Herr Stuchtey, in einer kürz- ein internationales Wertschöpfungssystem jeden Tag in der Höhe des Patscherkofels
lich veröffentlichten Studie zeichnen und sie ist zutiefst in unser Konsumver- ansammeln. Für das Land Tirol führen wir
Sie ein düsteres Bild. Demnach würden halten verwoben. Die gute Nachricht ist, gerade eine Studie durch, um ein Mehr-
trotz massiver Anstrengungen 2040 jähr- dass es bereits mit heutiger Technologie wegbechersystem einzuführen. Denn
lich noch mehr als fünf Millionen Tonnen und ohne massive ökonomische Ein- obwohl wir in Österreich ein funktionie-
Kunststoff in die Ozeane gelangen. Ist es schränkungen möglich wäre, den derzei- rendes Entsorgungssystem haben, landet
bereits zu spät, um zu handeln? tigen Eintrag in die Umwelt drastisch zu trotzdem vieles noch in der Umwelt.
MARTIN STUCHTEY: Es ist nie zu spät, um reduzieren. Wir müssen aber noch einen ZUKUNFT: Wie kann man diesem Problem
ins Handeln zu kommen. Es ist aber wich- Schritt weitergehen und durch Innovation großflächiger entgegentreten?
tig, sich mit der Ausgangslage vertraut zu bessere Materialien, bessere Entsorgungs- BOCKREIS: Momentan ist in Österreich
machen. Die ist in der Tat sehr herausfor- systeme und eine bessere digitale Nach- die Debatte um das Einwegpfand ent-
dernd, wenn nicht gar dramatisch und verfolgung von Materialströmen schaffen. brannt, wie es das etwa schon seit Jahren
vielen unbekannt. Die Kunststoffindus- ZUKUNFT: Frau Bockreis, ihr Forschungs- in Deutschland gibt. Ich spreche mich klar
trie ist ein weltweiter Wachstumsmotor. schwerpunkt umfasst neben der Abfall- dafür aus, um künftig die Recyclingziele
Wir müssen damit rechnen, dass sich die behandlung auch die nachhaltige Verwer- der EU zu erreichen. Man merkt in dieser
Produktion bis 2040 verdoppelt. Wenn wir tung und die Vermeidung von Abfällen. Diskussion aber stark das Lobbying der
jetzt nicht handeln, wird sich die Menge Woran arbeiten Sie derzeit, um das Prob- betroffenen Industrien, die darunter lei-
an Kunststoff, die in Ökosysteme ent- lem „Plastik“ in den Griff zu bekommen? den würden. Das PET, um das es haupt-
weicht, bis 2040 auf rund 29 Millionen ANKE BOCKREIS: Wir arbeiten an Projek- sächlich geht, ist ein sehr hochwertiges
Tonnen jährlich verdreifachen. ten, die ein Bewusstsein dafür schaffen, Plastik. Recyclingunternehmen haben
ZUKUNFT: Was sollte man Ihrer Meinung was für ein massives Problem mit unse- Angst, dass sie ohne PET nur noch den
nach tun? rem unbekümmerten Plastikverbrauch schlechter zu verwertenden Kunststoff
STUCHTEY: Das Problem ist komplex: Die einhergeht. Das fängt bei den Einweg- und dadurch enorme Umsatzeinbußen
Kunststoffindustrie ist sehr groß, sie ist bechern an, die wir alleine in Innsbruck hätten. Große Konzerne wie etwa Coca

38 zukunft forschung 02/20 Fotos: AdobeStock/ Farknot Architect (1), Andreas Friedle (1), privat (1)
ÖKOLOGIE

Cola versuchen außerdem, durch gezielte im Bereich Bildung und Bewusstseins-


Maßnahmen ihr Image aufzubessern, um bildung sehr viel tun. Denn wir wissen,
sich davon freizukaufen, dass sie eigent- dass wir als Konsumenten viel bewirken
lich einer der Hauptverursacher dieses und Druck auf die Politik ausüben kön-
Abfallstroms sind. Da muss man viel nen. Wenn die Industrie nicht bereit ist,
mehr Bewusstsein schaffen, wie sorglos wird das zwar das System nicht ändern,
wir in unserem Leben, auch aus Bequem- trotzdem muss ein tiefes Verständnis da-
lichkeit, mit Plastik umgehen. für, welche Auswirkungen Plastik auf die
ZUKUNFT: Ist also nicht Kunststoff selbst, Umwelt und den Klimaschutz hat, ver-
sondern nur unser Umgang damit das ankert werden.
Problem? ANKE BOCKREIS ist seit 2009 Professorin STUCHTEY: Die Bewegung im Bereich
BOCKREIS: Man darf trotz allem nicht für Abfallbehandlung und Ressourcenma- Kunststoff hat ihren Ausgangspunkt bei
außer Acht lassen, dass Plastik auch im- nagement an der Universität Innsbruck. Die den Konsumenten. Die akzeptieren nicht
mense Vorteile hat. Gerade, wenn man an Bauingenieurin leitet den gleichnamigen mehr, dass so viel Kunststoff weggewor-
Hygienevorschriften oder den Gesund- Forschungsbereich am Institut für Infra- fen und nicht weiterverwendet wird und
heitssektor denkt. Da wird es auch in struktur. oft in Ökosystemen landet. Lösen kön-
Zukunft nicht ohne Plastik gehen. Wenn nen die Konsumenten das Problem aber
alles eingesammelt und entsprechend auf- selbst, mit der auch die Kunststoffproduk- nicht. Solange es keine Marktregeln gibt,
bereitet und recycelt werden könnte, dann tion besteuert wird. Hersteller sollten für kommt man als einzelner Konsument in
würde man auch die Auswirkungen auf die Stoffe, die sie in den Verkehr bringen, einer Welt, in der alle Anreize falsch ge-
die Umwelt reduzieren. im Rahmen von Hersteller-Verantwor- setzt sind, nicht dagegen an.
STUCHTEY: Wir müssen unser Verhältnis tungs-Systemen wie dem Grünen Punkt ZUKUNFT: Wie sehen Sie das Verhältnis
zu diesem Werkstoff total überdenken. für rezyklierte oder rezyclierbare Mate- zwischen globalen und lokalen Maßnah-
Nach dem Motto: Eliminate, Innovate, rialien geringer bepreist werden. Bei allen men zur Plastikvermeidung?
Circulate. Das Gute ist, dass es Reduk- Plastikartikeln und Verpackungseinheiten, STUCHTEY: Wenn wir Plastik weiterhin
tionsmöglichkeiten „Eliminate“, die wo eine Rücknahme logistisch möglich ist, genauso verwenden wie heute, dann
sowohl wirtschaftlich als auch für den sollte die Einführung von Pfandsystemen wird alleine die Kunststoffindustrie im
Kunden attraktiv sind, bereits gibt: Aus erwogen werden. Langfristig könnte man 21. Jahrhundert ein CO2-Emmissionsvo-
Plastikprodukten macht man statt eines auch ein Maximum an Primärrohstoffen lumen von 350 Gigatonnen erreichen. So
Verbrauchsguts ein Gebrauchsgut – Wie- definieren, das in Kunststoffen verarbeitet hoch ist das CO2-Budget insgesamt noch,
derverwendbarkeit statt Einmalnutzung. werden darf. Am besten wäre eine sinn- um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Wir
Wir müssen ferner erreichen, dass vieles, volle Kombination aus allem. können es uns also nicht länger erlauben,
was heute als Single-Use-Plastik ange- ZUKUNFT: Welche Rolle spielt die Be- so viel Plastik herzustellen, es nur einmal
boten wird, in Zukunft aus alternativen wusstseinsbildung bei jungen Menschen, zu verwenden oder es in eine thermische
Materialien besteht. Was dann noch üb- zu der ja auch die Universität Innsbruck Verwertung zu geben. Weltweit kommt
rigbleibt, sollte aus Sekundärrohstoffen mit ihren Angeboten beiträgt? die starke Vermüllung hinzu. Und hier
gefertigt werden. Das wäre eine nachhal- BOCKREIS: Um dem Klimawandel ent- gibt es einen Systemzusammenhang:
tige „Circular Plastic Economy“. schieden entgegenzutreten, müssen wir Plastik, das in Europa – auch in Öster-
ZUKUNFT: Wo muss man ansetzen, um reich – produziert wird, geht auf die
einen Systemwandel hin zu einer solchen Weltmärkte. Wenn wir die falschen
Kreislaufwirtschaft herbeizuführen? Kunststoffe liefern, schaffen wir die Ent-
BOCKREIS: Es wäre wichtig, dass die Se- sorgungsprobleme anderswo. Zudem
kundärkunststoffe sich von den Primär- nehmen die Länder des globalen Südens
kunststoffen preislich abheben, etwa über unseren Müll nicht mehr auf. Das erhöht
eine deutliche Besteuerung von Primär- den Entsorgungs- und Recyclingdruck
kunststoffen. Die EU plant bereits Maß- bei uns in Europa. Aber es gibt auch ei-
nahmen: Ab 1. Januar 2021 soll eine Kunst- nen positiven Zusammenhang: Sind wir
stoffsteuer für alle nicht-recycelten Verpa- in der Lage, dieses Problem in Europa zu
ckungen eingeführt werden. Diese muss lösen und kreislauf- und nutzenorientier-
auf Länderebene dann aber auch auf die MARTIN STUCHTEY ist seit 2017 te Systeme aufzubauen, dann ist das ein
Kunststoffproduzenten umgelegt werden, Professor für Ressourcenstrategie und Exportschlager für die Zukunft. Solche
um eine Steuerungswirkung zu erreichen. -management an der Universität Innsbruck Recycling-, Entsorgungs-, Sortier- und
Man darf gespannt sein, wie das ausgeht. und Teil des „Innovation Lab for Sustaina- Tracingsysteme werden auch in den
STUCHTEY: Es gibt eine Reihe von Instru- bility“. Außerdem ist er geschäftsführender Volkswirtschaften des Südens gebraucht.
menten, um das evidente Marktversagen, Gesellschafter von SYSTEMIQ, einer Inno- So positionieren wir uns mit modernen,
das wir aktuell am Kunststoffmarkt haben, vations- und Investmentfirma, welche die sauberen Lösungen und das entspricht
zu korrigieren. Wenig diskutiert wird in Erreichung des Pariser Klimaabkommens als schließlich der Logik des European
diesem Zusammenhang die CO2-Steuer Unternehmenszweck hat. Green Deals.  lm

zukunft forschung 02/20 39


International vernetzt – regional verankert
Internationale Spitzenforschung, engagierte Mitarbeiter*innen und hoch motivierte
Studierende machen die Universität Innsbruck zu einem Motor für Wirtschaft und zum
Impulsgeber für die Gesellschaft in der Region und weit darüber hinaus.

© BfÖ 2020, Foto: © Innsbruck Tourismus / Christof Lackner


Top Forschung Top Performer

19 Fachbereichen
beim renommierten Shanghai-Ranking in unter 1600 Universitäten weltweit

Spitzenforschung in den Forschungsschwerpunkten


Physik und Alpiner Raum
8
Top-Ergebnisse
Quelle: Fachdisziplinen Ranking der Jiaotong-Universität Shanghai 2020 in den Bereichen Internationale
Ausrichtung und Forschung
Top Arbeitgeber
Quelle: U-Multirank Top Performing Universities 2020

in Österreich im
Bildungsbereich zum

International
vernetzt:
4. Mal Beste Spin-off-Strategie:
Österreichweit führend mit

European-
in der

Universities-Allianz
in Folge
19 Unternehmens-
dank spannender Arbeitsinhalte, beteilungen
„Aurora“
familienfreundlicher Arbeits- durch die 2008 gegründete
bedingungen und einem Beteiligungsholding
internationalen Arbeitsumfeld
Quelle:
mit neun europäischen Universitäten Quelle: Ranking „Österreichs beste Arbeitgeber 2020“ www.uibk.ac.at/
von Reykjavik bis Neapel der Zeitschrift trend transferstelle/beteiligungen/

41 Millionen Euro Jedes Jahr über

öffentlicher Forschungsmittel
national und international eingeworben 4000 neue Fachleute

E
die auf dem aktuellen Stand
20% Steigerung in 4 Jahren der Forschung ausgebildet wurden

Quelle: Universität Innsbruck in Zahlen 2020 Quelle: Universität Innsbruck in Zahlen 2020

Wir bauen Brücken in die Zukunft. www.uibk.ac.at


KURZMELDUNGEN

WO MEISEN SPEISEN ENERGIEGELADEN GEGEN


DEPRESSIONEN
In Feldversuchen rund um Innsbruck untersucht Marion Chatelain
den Einfluss der Urbanisierung auf das Wanderverhalten von Meisen. M enschen, die aufgrund von chroni-
schem oder traumatischem Stress
an einer Depression erkranken, erfahren
häufig eine psychische sowie eine körper-

I
n einem vom Wissenschaftsfonds Zoologen den Bogen vom städtischen Le- liche Leistungsreduktion, sie schlafen
FWF geförderten Projekt untersuchen bensraum in Innsbruck bis hin zu den schlechter und verfallen oft in einen
Marion Chatelain und Michael Trau- umliegenden Gemeinden. intensiven Grübel-Modus. Alexander
gott den Einfluss von Nahrungsverfüg- Karabatsiakis sucht als Molekularbiologe
barkeit und Lebensraumqualität in städ- und Systemischer Neurowissenschaftler
tischen Gebieten auf das Wanderverhal- nach biologischen Veränderungen, die
ten von Meisen. „Kohl- und Blaumeisen bei Depressionen auftreten. „Das Gehirn
sind beliebte Modellorganismen, um den ist eines der Organe mit dem höchsten
Einfluss von Städten auf ökologische und Energieverbrauch im menschlichen Körper.
evolutionäre Prozesse bei wildlebenden Energie ist die Voraussetzung für Arbeit,
Tieren zu analysieren“, sagt Projektleite- und Leistung ist definiert als Arbeit pro
rin Marion Chatelain. Die Wissenschaftler Zeit. Da betroffene Patientinnen und Pati-
erhoffen sich aus Feldversuchen, die sie enten weniger psychosomatische Leistung
in und um Innsbruck durchführen, ge- abrufen können, deutet vieles darauf hin,
nauere Erkenntnisse über das Wanderver- dass mit dem Energiestoffwechsel etwas
halten von Meisen, speziell in den Win- nicht in Ordnung ist. Im Fokus unserer
termonaten und zur Brutzeit. Dazu wer- Forschung stehen die Mitochondrien, die
den sie untersuchen, welche Nahrungs- Kraftwerks-Organellen in unseren Zellen“,
quellen den Vögeln in Tirol je nach Jah- erläutert Karabatsiakis. „Als biologische
reszeit zur Verfügung stehen und wie sich Ursache könnte die Depression aus einer
das auf die Wahl des Lebensraums bei funktionellen Veränderung des mitochon-
den Meisen auswirkt. Sie sammeln Kot-
proben der Vögel, die Aufschluss über
ihre Futterquellen geben. Um ihr Wander-
verhalten nachzuvollziehen, untersuchen
sie auch die Schwermetallbelastung im
Gefieder der Vögel – je nachdem, welche
und wie viele Metalle sich in den Federn MARION CHATELAIN analysiert, welche
angereichert haben, können Rückschlüsse Nahrungsquellen den Vögeln in Tirol zur
auf den Lebensraum gezogen werden. In Verfügung stehen und wie sich das auf die
dem umfangreichen Projekt spannen die Wahl des Lebensraums der Meisen auswirkt.
ALEXANDER KARABATSIAKIS unter-
sucht biologische Veränderungen in den
MENSCHEN UND KLIMA VERURSACHTEN MASSENSTERBEN Mitochondrien.

N ahezu die gesamte madagassische Megafauna – darunter der berühmte Dodo-Vogel,


gorillagroße Lemuren, Riesenschildkröten und der bis zu drei Meter große und 500
Kilo schwere Elefantenvogel – verschwand vor 1500 bis 500 Jahren. In einer in Science
drialen Systems hervorgehen, welches bei
chronischer Überbeanspruchung durch
Stress in eine Art ‚biochemischen Burn-
Advances veröffentlichten Studie zeigt ein internationales Team, dass wahrscheinlich eine out‘ rutscht und seine Leistungsfähigkeit
Art „Doppelschlag“ dafür verantwortlich war: Die Zunahme menschlicher Aktivitäten in verliert“, verdeutlicht der Wissenschaftler,
Kombination mit einer besonders schweren der gemeinsam mit seinem Team den
Dürreperiode in der gesamten Region dürfte Sauerstoffverbrauch von Immunzellen
die Megafauna der Inseln ausgelöscht misst, um das Leistungspotenzial der Mi-
haben. Die Wissenschaftler um Christoph tochondrien zu charakterisieren. Die dazu
Spötl vom Institut für Geologie schließen erforderliche Technologie wird im Rahmen
den Klimawandel als alleinige Ursache aus gemeinsamer Arbeiten von dem Innsbru-
und vermuten, dass die Auswirkungen der cker Unternehmen Oroboros Instruments
menschlichen Kolonisierung entscheidend zur Verfügung gestellt. Weiters kooperiert
zum Zusammenbruch der Megafauna bei- Karabatsiakis auch mit dem Innsbrucker
getragen haben. Unternehmen Biocrates.

Fotos: Hanying Li (1), Uni Inns­bruck (2) zukunft forschung 02/20 41


THEOLOGIE

PRÄGENDER THEOLOGE
Der Jesuit Karl Rahner, fast 20 Jahre Professor für Dogmatik an der Universität Innsbruck, hat
die Theologie des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst. In einem FWF-Projekt untersuchen
Innsbrucker Theologen nun sein Verhältnis zur Bibel.

E
gal, wohin man als Theologin, erklärt Collinet. Voraussetzung war eine gelnde Präsenz, die nach Rahners Tod
wohin man als Theologe kommt, ins Deutsche übersetzte Bibel, ein Vor- Kritik laut werden ließ. Rahner habe sich
sagt man, ich arbeite an der Uni- haben, das von katholischen gemeinsam für die Inhalte der Bibel kaum interessiert
versität Innsbruck, bekommt man ‚Ah, mit evangelischen Theologinnen und und habe sie philosophisch überhöht. Ein
die Universität, wo Karl Rahner lehrte‘ Theologen ab 1962 umgesetzt und 1980 anderer Kritikpunkt lautete, Rahner habe
zur Antwort“, beschreibt Benedikt Colli- mit einer approbierten Einheitsüberset- sich wenig für das Judentum und daher
net vom Institut für Bibelwissenschaften zung abgeschlossen wurde. auch nicht für das Alte Testament interes-
und Historische Theologie die Bedeu- „Im Zuge dieser Entwicklung wurde siert. Auch wenn der Priester Rahner sich
tung, die der Theologe Karl Rahner auch die Beschäftigung mit der Bibel ab den in Predigten und Exerzitien mit der Bibel
knapp 40 Jahre nach seinem Tod noch 1960er-Jahren immer wichtiger, in den und dem Leben Jesu auseinandergesetzt
hat. Rahner, der von 1937 bis 1964 (unter- Arbeiten Rahners, von denen viele vorher haben musste, motivierte die Kritik die
brochen durch das nationalsozialistische entstanden sind, war die Bibel aber nicht Innsbrucker Theologen zu dem Projekt
Gauverbot für Jesuiten) an der Univer- so präsent“, erläutert Collinet. Eine man- „Karl Rahner und die Bibel“. Einen Start-
sität Innsbruck lehrte und forschte, gilt vorteil hatten sie im Bücherregal – 2018
als einer der bedeutendsten Theologen wurde die Werkausgabe Rahners, 40 Bän-
des 20. Jahrhunderts, nicht nur für den de mit tausenden Seiten, mit dem Regis-
deutschen Sprachraum, so Collinet, son- terband abgeschlossen.
dern auch weltweit. Insofern mutet es für
Laien seltsam an, dass Collinet in einem Erste Zwischenbilanz
vierjährigen, von Georg Fischer SJ gelei- „Allein der Registerband entkräftet einen
teten FWF-Projekt der Frage nachgeht, Kritikpunkt“, hält Collinet fest, „er ent-
wie es Rahner denn mit der Bibel hielt. hält 40 Seiten mit Bibelstellen.“ Gearbei-
tet hat Rahner mit einem altgriechischen
Konziltheologe Neuen Testament, „die lateinische Vulga-
„Rahner hat die Theologie seiner Zeit ta hatte er im Kopf.“ Dem quantitativen
entscheidend mitgeprägt. Von der Profes- KARL RAHNER wurde am 5. März 1904 Nachweis folgt die inhaltliche Überprü-
sion her war er Systematischer Theologe, in Freiburg im Breisgau geboren. Wie auch fung der Textstellen, rund zwei Drittel
hauptwissenschaftlich hatte er daher mit sein Bruder Hugo trat er in die Gesellschaft der chronologisch angelegten Werkaus-
der Bibel direkt nichts zu tun, obwohl Jesu ein. Nach der ordensüblichen Aus- gabe hat Collinet schon hinter sich. „Wir
sie natürlich in die Arbeit miteinbezogen bildung absolvierte er ein philosophisches können feststellen, dass das Zweite Vati-
wurde“, sagt Projektmitarbeiter Collinet. Spezialstudium in Freiburg, wo er Martin kanische Konzil einen Umbruch in seinen
Hinterfragt wurde Rahners Einstellung Heidegger als Lehrer hatte. Vor Abschluss Argumenten mit sich bringt“, deutet er
zur Bibel durch eine Entwicklung, die er dieses Studiums wurde er von seinen Or- eine Zwischenbilanz an. Ab den 1930er-
maßgeblich mitbeeinflusst hat und die densoberen auf Theologie „umbestimmt“. Jahren brachte sich Rahner stark in die
im Zweiten Vatikanischen Konzil (11. Rahner promovierte und habilitierte sich Diskussion ein, dass Bibelwissenschaften
Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965) ihren in Innsbruck und begann hier 1937 auch anders und frei denken dürfen müssen,
Niederschlag fand. Rahner untersuchte seine Dozententätigkeit, die aber durch er war überzeugt, dass die katholische
ab 1961 für den Wiener Kardinal Franz die Aufhebung der Theologischen Fakultät Exegese hinter der protestantischen zu-
König die Vorlagen für das angekün- und das Gauverbot für Jesuiten durch die rücksteht, da Rom keine Freiheit der
digte Konzil, von Papst Johannes XXIII. Nationalsozialisten abgebrochen wurde. Forschung zuließ. „Das Konzil bewirkte
wurde er zum Theologen des Konzils Danach wirkte er bis 1944 in Wien, das eine Veränderung. Für Rahner war das
ernannt und hatte an dessen Vorberei- Kriegsende erlebte er als Pfarrer in Nieder- Problem somit gelöst und er beschäf-
tung wesentlichen Anteil. Eine Folge der bayern. Von 1948 bis 1964 war Rahner tigte sich nicht mehr damit“, sagt der
dreijährigen Zusammenkunft war, dass Professor für Dogmatik in Innsbruck, da- Projektmitarbeiter. Ein weiterer Punkt
neben der lateinischen Sprache auch die nach bis 1967 in München als Nachfolger betrifft die Ökumene. „Rahner versuchte
jeweilige Landessprache in der Liturgie Romano Guardinis, bis 1971 schließlich in immer, ökumenisch zu denken. Er war
zugelassen wurde. „Die Messe konnte so- Münster. 1981 kehrte er nach Innsbruck überzeugt, dass es wichtig ist, als Katho-
mit auch auf Deutsch gelesen werden“, zurück, wo er am 30. März 1984 starb. lik und Katholikin mit Protestantinnen

42 zukunft forschung 02/20 Fotos: Universität Innsbruck (1), Grace Cathedral/San Francisco (1)
THEOLOGIE

und Protestanten zu diskutieren, sich die


Unterschiede anzuschauen“, erläutert
Collinet, der auch Rahners Bedeutung
für die Ökumene betont: „Rahner hat es
geschafft, von allen Seiten akzeptiert zu
werden. Er war Kenner der Neuscholas-
tik, sprach fließend Latein, wusste alles,
was konservativen Kreisen wichtig war.
Auf der anderen Seite setzte er sich mit
allen zeitgemäßen Themen – Freiheit der
Bibel, ökumenische Bewegung, Neuden-
ken von Sakramenten, Frauenpriester-
tum… – auseinander. So wurde er auch
vom progressiv-liberalen Teil anerkannt.“
Einzig der Kritik, Rahner habe sich
wenig für das Judentum und das Alte
Testament interessiert, kann Benedikt
Collinet wenig entgegenstellen. „In die-
sem Punkt war er – im Gegensatz zu
anderen – seiner Zeit nicht voraus, das
Thema war nicht auf seinem Schirm. Er
hat teilweise einfach Sachen unreflektiert
übernommen. Erst gegen Ende seines Le-
bens gibt es Interviews und Reflexionen
über die Bedeutung des Judentums für
die Kirche“, resümiert Collinet.
Neben der Textarbeit sollen in dem
Projekt auch noch Rahners wissenschaft-
licher Werdegang, Korrespondenzen,
Lektüre etc. untersucht werden, um sei-
nen geistig-biografischen Hintergrund in
Bezug auf die Bibel auszuleuchten. Als
dritter Schritt soll dieses neue Wissen in
den Kontext seines Gesamtwerkes ge-
stellt werden – die dazu geplante Tagung
in Innsbruck ist derzeit für Februar 2022
anvisiert. ah

„LIGHT AFTER DARKNESS“ lautet das


Motto eines der vielen Bleiglasfenster in
der anglikanischen Grace Cathedral, San
Francisco. „Eine Doppelsymbolik“, sagt
Benedikt Collinet, „light für die Aufklä-
rung und ‚after darkness‘, weil es vorher
eine dunkle Zeit gegeben hat: Einerseits
die Weltkriege, andererseits der ökume-
nische Streit, der durch prägende Denker
des 20. Jahrhunderts beendet wurde.“
Unter Johannes Calvin und Richard Hoo-
ker, welche die anglikanische Kirche stark
beeinflussten, sind dies auf der linken,
protestantischen Seite Søren Kierkegaard,
F. D. Maurice (Begründer des christlichen
Sozialismus) und Ernst Tillich, auf der
rechten Vertreter der katholischen Oxford-
Bewegung, der jüdische Religionsphilo-
soph Martin Buber sowie Karl Rahner.

zukunft forschung 02/20 43


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Technikerstr. 21 a (ICT), 6020 Innsbruck, +43 (0)512 507 32207, career-service@uibk.ac.at
PREISE & AUSZEICHNUNGEN

SOSNOVSKY-PREIS
FÜR MICHAEL JUEN
Der Sosnovsky-Preis wurde im Oktober an den Chemiker Michael Juen
verliehen. Er hat in seiner Dissertation eine intensive Untersuchung von
Nukleinsäuren durchgeführt.

PREISVERLEIHUNG im

M
it Hilfe von Methoden der Kern- biologischen Methoden in Nukleinsäuren ein- Archäologischen Museum der
spinresonanzspektroskopie (NMR- gebaut und konnten so zu komplexen Makro- Universität Innsbruck. Im Bild
Spektroskopie) konnte Michael molekülen verknüpft werden. Aufgrund der von links: Hubert Huppertz
Juen in seiner ausgezeichneten Dissertation NMR-aktiven Kerne innerhalb der Nuklein- (Dekan der Fakultät für Chemie
strukturelle und dynamische Eigenschaften säuren war es möglich, strukturelle und dyna- und Pharmazie) , Joachim
von DNAs und RNAs analysieren und ver- mische Eigenschaften sowohl von einzelnen Schantl (Preis-Kuratorium),
stehen. Auch seit der Erkenntnis, dass Nu- Nukleinsäuren als auch Nukleinsäure-Kom- Preisträger Michael Juen, Ulrike
kleinsäuren nicht nur als Speichereinheiten plexen oder Interaktionen von Nukleinsäuren Tanzer (Vize-Rektorin für For-
fungieren, sondern selbst biologische Rele- mit Proteinen oder anderen Molekülen detail- schung) und Christoph Kreutz,
vanz aufweisen können, rückt diese Klasse liert zu untersuchen und zu verstehen. Doktorvater des Preisträgers.
von Makromolekülen immer stärker in den Die Stifter des Preises, Christine und Georg
Fokus wissenschaftlicher Bemühungen. Um Sosnovsky, haben in den ersten Nachkriegs-
den komplexen Fragestellungen begegnen zu jahren an der Universität Innsbruck Chemie
können, hat Juen in seiner Forschungsarbeit studiert. Ihre berufliche Laufbahn führte sie
am Institut für Organische Chemie in der Ar- zunächst nach Australien und später in die
beitsgruppe von Christoph Kreutz eine Viel- USA, wo sie einen Großteil ihres Berufslebens
zahl unterschiedlicher Methoden verbunden. verbrachten. Anlässlich ihres „Goldenen Dok-
Unter Zuhilfenahme der organischen Syn- torjubiläums“ kamen Christine und Georg
these war es möglich, NMR-aktive Kerne in Sosnovsky 50 Jahre nach ihrer Promotion wie-
Bausteine von Nukleinsäuren zu integrieren. der nach Innsbruck und stifteten im Jahr 1999
Diese Bausteine wurden mit chemischen oder den nach ihnen benannten Preis.

Foto: Uni Inns­bruck zukunft forschung 02/20 45


PREISE & AUSZEICHNUNGEN

INTERNATIONALE AUSZEICHNUNG
Die Internationale
Glaziologische Gesell-
schaft IGS hat dem
Innsbrucker Glaziolo-
gen Michael Kuhn die
Ehrenmitgliedschaft
verliehen. Die wissen-
schaftliche Gesell-
schaft würdigt damit Kuhns über 50-jährige
glaziologische und meteorologische For-
schung in den Alpen, der Arktis und der Ant-
arktis. Kuhn war überdies mehr als 40 Jahre
lang als Chefredakteur der Zeitschrift für
Gletscherkunde und Glazialgeologie tätig.

NEUER VORSITZENDER
Der Innsbrucker
Mobilitätsexperte Ste-
phan Tischler ist zum
neuen Vorsitzenden
von CIPRA Österreich AUSGEZEICHNET: Kulturlandesrätin Beate Palfrader, Förderpreisträgerin Gabriella Koltai,
gewählt worden. Bei Preisträger Christoph Spötl und Rektor Tilmann Märk (v. li.)
seiner Tätigkeit für die
österreichische Vertre-
tung der Alpenschutzkommission will Tisch-
ler Prioritäten in der Alpinen Raumordnung,
dem Verkehr und dem Freiraum(-schutz) set-
LANDESPREIS FÜR
WISSENSCHAFT
zen. Der diplomierte Raum- und promovierte
Verkehrsplaner forscht, plant und lehrt als
Senior Scientist am Arbeitsbereich Intelligen-
te Verkehrssysteme der Uni Innsbruck.
Die mit 14.000 Euro dotierte Auszeichnung des Landes Tirol für
EU-AUSZEICHNUNG
Die EU zeichnet jedes
außergewöhnliche Leistungen im Bereich der Wissenschaften ging
Jahr die fünf wirk- in diesem Jahr an Christoph Spötl.
mächtigsten Projekte

D
aus, die aus EU-For- er Geologe und Quartärforscher folgten 60 Drittmittelprojekte mit einer
schungsmitteln ge- Christoph Spötl, Leiter der Bewilligungssumme von insgesamt
fördert werden. Mit Arbeitsgruppe für Quartärfor- knapp fünf Millionen Euro. Von 2007
„Transkribus“ erhielt schung am Institut für Geologie, erhielt bis 2010 war Spötl Präsident der Öster-
nun ein Projekt der im September den Tiroler Landespreis reichischen Geologischen Gesellschaft
Uni Innsbruck den Horizon Impact Award, für Wissenschaft 2020. „Universitäts- und von 2010 bis 2014 Vizepräsident
der mit je 10.000 Euro dotiert ist. In dem professor Spötl ist ein weltweit führen- der Deutschen Quartärvereinigung. Seit
Projekt wurde eine Technologie entwickelt, der Forscher auf dem Gebiet der jüngs- dem Jahr 2013 ist Spötl wirkliches Mit-
mit der dank künstlicher Intelligenz selbst ten geologischen Vergangenheit, dem glied der mathematisch-naturwissen-
Laien handschriftliche Dokumente lesbar Quartär, und leistet durch die Rekons- schaftlichen Klasse der Österreichischen
machen können. Seit 2019 wird Transkribus truktion der alpinen Klimageschichte Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
von der europäischen Genossenschaft READ- als Geologe wertvolle Beiträge zur Kli- 2019 erhielt der Geologe den renom-
COOP SCE als eigenständiges Unternehmen maforschung“, sagte Landesrätin Beate mierten Weiss-Preis des FWF. Christoph
geführt. „Wir sind inzwischen auch kommer- Palfrader: „Sein hohes internationales Spötl wurde 1964 in Innsbruck geboren.
ziell erfolgreich und führen Aufträge für die und nationales Ansehen spiegelt sich Der mit 4.000 Euro dotierte Förde-
Bundes- und Nationalarchive in Finnland, in zahlreichen Preisen und Funktionen rungspreis des Landes Tirol für Wissen-
Schweden, Norwegen, den Niederlanden, wider.“ schaft ging auf Vorschlag von Chris-
der Schweiz und Luxemburg durch“, freut Im Jahr 1999 gewann Spötl als erster toph Spötl an die Geologin Gabriella
sich Projektleiter Günter Mühlberger vom Innsbrucker Wissenschaftler den an- Koltai, eine Mitarbeiterin der Arbeits-
Bereich Digitalisierung & Elektronische Archi- gesehenen START-Preis des österrei- gruppe für Quartärforschung am Insti-
vierung am Institut für Germanistik. chischen Wissenschaftsfonds FWF. Es tut für Geologie.

46 zukunft forschung 02/20 Fotos: Land Tirol/Huldschiner (1), fotostanger.com (1),privat (2)
PREISE & AUSZEICHNUNGEN

PREISGEKRÖNT
FALLING WALLS LAB FINALISTIN
Chiara Herzog vom
Forschungsinstitut für
Biomedizinische Al-
ternsforschung konn-
Philipp Zauner, Juniorchef der Bad Ischler Kurkonditorei,
te im September die
wurde zum Studierenden des Jahres 2020 an den Jury beim Falling Walls
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gekürt. Lab an der Universität
Innsbruck mit ihrer
Präsentation überzeugen. Die Nachwuchs-

P
hilipp Zauner hat das Bachelorstu- wissenschaftlerin holte einen Heimsieg und
dium „Management and Econo- durfte im November gemeinsam mit dem
mics“ an der Universität Innsbruck zweitplatzierten Quantenphysiker Martin
im Juli in Mindeststudienzeit erfolgreich Ringbauer vom Institut für Experimental-
abgeschlossen. Bereits früh hatte er sich physik am internationalen Finale des Falling
dazu entschlossen, eines Tages den el- Walls Lab teilnehmen.
terlichen Betrieb in Bad Ischl weiter-
zuführen und die beinahe 200-jährige TOP-PUBLIKATION
Geschichte des ehemaligen k. u. k. Hof- Im Jahr 2001 hat der
lieferanten Zauner fortzusetzen. So hat er Quantenphysiker Hans
bereits die Tourismusschule Klessheim Briegel mit seinem da-
bei Salzburg und eine Konditorlehre ab- maligen Doktoranden
geschlossen. Seine Entscheidung für ein Robert Raussendorf
Studium an der Universität begründet er das Konzept für einen
damit, dass auch der betriebswirtschaft- messungsbasierten
liche Aspekt für einen Handwerksbetrieb oder Einweg-Quan-
eine wesentliche Rolle spielt. Den Fami- tencomputer präsentiert. Vor Kurzem wählte
lienbetrieb in Bad Ischl wird er in diesem PHILIPP ZAUNER: Nach Konditorlehre die Fachzeitschrift Physical Review A die
Winter übernehmen und dann in der be- und Tourismusschule erfolgreiches Bachelor- Ausarbeitung dieses Konzepts aus dem Jahr
reits siebten Generation führen. studium „Management and Economics“ 2003 zu einem der 26 wichtigsten Beiträge
Neben seinem Studium der Wirt- in der fünfzigjährigen Geschichte der Zeit-
schaftswissenschaften an der Universität Jedes Jahr können sich an der Univer- schrift. Der von Briegel und Raussendorf
Innsbruck kümmert sich Philipp Zauner sität Innsbruck Studierende des Bache- entwickelte Quantencomputer unterschei-
als Aufsichtsrat des Tourismusverban- lorstudiums Wirtschaftswissenschaften det sich vom klassischen Schaltkreismodell
des Bad Ischl auch um touristische und und des Diplomstudiums Internationale dadurch, dass darin zunächst ein von der
kulturelle Angelegenheiten im Salzkam- Wirtschaftswissenschaften um den Titel Fragestellung unabhängiger, verschränkter
mergut, ist als Botschafter der österrei- „Student of the Year in Managament Quantenzustand generiert wird. Die For-
chischen Mehlspeiskultur tätig und hat and Economics“ bewerben. Neben sehr schungsarbeit wurde von Fachkolleginnen
zur erfolgreichen Bewerbung Bad Ischls guten Studienleistungen sind auch ge- und -kollegen bisher über 800-mal zitiert.
als Europäische Kulturhauptstadt 2024 sellschaftliches und soziales Engagement
beigetragen. der Studierenden Voraussetzung für die- NEW ORLEANS-PREIS
Die Wahl der Preisträger erfolgt durch sen Preis. Mit Anerkennungspreisen zu Die Koordinatorin der
den Stiftungsrat der Bank Austria För- je 500 Euro gewürdigt wurden in diesem jährlichen Summer
derstiftung, dem auch Susanne Wendler, Jahr Emma Obermair und Tabea Braun. School der University
Vorstand der Unternehmerbank der Uni- Aufgrund der aktuellen Corona-Situa- of New Orleans (UNO)
Credit Bank Austria, und Dieter Hengl, tion fand in diesem Jahr keine festliche in Innsbruck, Irene
Vorstandsvorsitzender der Schoeller- Preisverleihung statt. Ziegler, wurde im
bank, angehören. „Wir sind stolz, dass „Für mich ist auch das soziale Engage- Oktober von der UNO
wir im Rahmen unseres gesellschaftli- ment ein ganz wichtiges Kriterium, das mit der „Gordon ‚Nick‘
chen Engagements seit so vielen Jahren neben der internationalen Ausrichtung Mueller International Leadership Medallion“
Tiroler Studentinnen und Studenten mit und der starken regionalen Verankerung ausgezeichnet. „Diese Auszeichnung bedeu-
diesem Preis fördern“, sagt Hengl. „Die ein wichtiger Teil unserer Unterneh- tet mir in vielerlei Hinsicht so viel. Während
Auszeichnung verbindet aus unserer menskultur ist. Diese Schwerpunkte set- meiner gesamten Zeit bei der UNO habe ich
Sicht hervorragend Regionalität und In- zen wir auch in Tirol und dieser Preis für Nick Mueller gekannt und bewundert, der
ternationalität und spiegelt damit auch Tiroler Studentinnen und Studenten ist mich auf meinem Weg von der studenti-
unser Selbstverständnis als erfolgreiche ein schönes Zeichen dafür,“ sagt Markus schen Mitarbeiterin bis zur Programmdirek-
paneuropäische Geschäftsbank wider“, Sappl, UniCredit Bank Austria Landes- torin der Sommerschule immer unterstützt
sagt Wendler. direktor in Tirol. hat“, so Ziegler bei der Preisverleihung.

Fotos: Foto Hofer (1), Uni Innsbruck (1), UNO (1), Privat (1) zukunft forschung 02/20 47
ZWISCHENSTOPP INNS­BRUCK

STRASSEN NACHHALTIG
VERBESSERN
Mayara Siverio Lima ist für drei Jahre als junge Wissenschaftlerin zu Gast an der Uni Innsbruck.
Mit ihrer Arbeit möchte sie dazu beitragen, Straßenoberbaumaterialien, Straßenbautechniken sowie die
Erhaltung und E­ ntwicklung von urbanen Straßennetzen nachhaltig zu verbessern.

D
ie gebürtige Brasilianerin Maya- alien vor allem auch Entscheidungsfin-
ra Siverio Lima studierte in ihrer dungsprozesse bei Straßenbauprojekten
Heimat Bauingenieurwesen und unterstützen möchte.
Werkstofftechnik mit dem Schwerpunkt Im Rahmen ihres Auslandsaufenthaltes
Verkehrsinfrastrukturen. Schon in ihrer in Lettland wurde sie auf das Horizon
Masterarbeit beschäftigte sich die Nach- 2020-Projekt SAFERUP! aufmerksam, für
wuchswissenschaftlerin mit der Anwen- das sie an die Uni Innsbruck wechselte,
dung von Abfällen und Reststoffen in wo sie seit Jänner 2019 am Institut für
Straßenbaumaterialien und fokussierte Konstruktion und Materialwissenschaft
sich dabei auf das Materialverhalten von am Arbeitsbereich Baubetrieb, Bauwirt-
Asphalt. „Mein Ziel als Forscherin war es schaft und Baumanagement tätig ist.
schon immer, neue Lösungen zu finden
und so zu einer nachhaltigen Gesellschaft Innovative Entwicklungen
beizutragen“, so Lima. Ziel von SAFERUP! ist es, innovative Lö-
sungen für Städte zu erarbeiten, die zur
„Die Universität Innsbruck wurde Steigerung der Lebensqualität beitragen.
Dabei fokussieren sich die 15 Teil-Projekte
zu meiner zweiten Heimat. Vor
des Horizon 2020-Projekts, welche koope-
allem die qualitativ sehr hoch- rativ von 13 europäischen Forschungsein-
wertige Ausbildung bringt mich richtungen durchgeführt werden, auf die
in meiner Forschung weiter.“ Entwicklung innovativer Straßenkon-
 Mayara Siverio Lima struktionen. „Menschen benützen täglich
urbane Straßen und Verkehrswege. Mit
Mit dem Ziel, ihre Forschungen zu intelligenten, recycelten und dauerhaften
vertiefen und internationale Erfah- Oberbaumaterialien bzw. -konstruktionen
rungen zu sammeln, verbrachte Mayara wollen wir die Zugänglichkeit und den
Lima zwei Jahre als Austauschstudentin Schutz für gefährdete Nutzer erhöhen, das
in Riga. „Auf Deponien werden Fest- Abwassermanagement verbessern sowie
stoffabfälle ohne weitere Anwendung strukturell bzw. akustisch optimierte
gelagert. In meiner Forschung habe ich Oberbaulösungen ermöglichen“, erläutert
mich darauf konzentriert, Lösungen zu Lima, die sich sehr über ihren wissen- MAYARA SIVERIO LIMA studierte
deren weitere Verarbeitung zu analysie- schaftlichen Zwischenstopp in Innsbruck Bauingenieurwesen und Werkstofftechnik
ren. Bauherren und Entscheidungsträger freut. „Die Universität Innsbruck wurde mit dem Schwerpunkt auf Verkehrsinfra-
lassen sich leider nicht allein durch die zu meiner zweiten Heimat und ich habe struktur. Im Rahmen eines Forschungsauf-
Garantie von hochwertigen Baumateri- das Gefühl, hier eine zweite Familie ge- enthalts verbrachte sie zwei Jahre an der
alien zur Verwendung von Reststoffen funden zu haben. Vor allem die qualitativ Universität in Riga, Lettland, wo sie auf
als Rohstoff überzeugen. Deren Anwen- sehr hochwertige Ausbildung bringt mich das Projekt SAFERUP! aufmerksam wurde.
dung soll vor allem günstig sein und in meiner Forschung weiter. Ich habe mich Im Jahr 2019 wechselte sie an die Uni In-
nur bedingt eine positive Umweltbilanz aber auch in die Stadt, die Menschen und nsbruck, wo sie für drei Jahre am Institut
haben bzw. dem Wohl der Gesellschaft die Kultur verliebt und ich möchte mit für Konstruktion und Materialwissenschaft
zugutekommen“, erläutert Lima, die meiner Arbeit beitragen, die Lebensquali- am Arbeitsbereich Baubetrieb, Bauwirt-
mit ihrer ganzheitlichen Analyse von tät und die Nachhaltigkeit von Städten zu schaft und Baumanagement tätig ist, mit
Lebenszyklen von Straßenbaumateri- verbessern“, so Lima.  dp dem Ziel, ihre Dissertation zu verfassen.

48 zukunft forschung 02/20 Foto: Uni Innsbruck


SPRUNGBRETT INNS­BRUCK

URSULA DAXECKER wurde in Innsbruck


geboren und ging nach dem Politikwis-
senschaft-Studium nach New Orleans, wo
sie 2008 promovierte. Sie war Assistant
Professor bis 2012 an der Colorado State
University und dann bis 2016 an der
Universität Amsterdam, wo sie seither
als Associate Professor forscht und lehrt.
2019 erhielt sie einen ERC Starting Grant.

POLITISCHE GEWALT
VERSTEHEN
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Daxecker kam über die USA nach Amsterdam,
wo sie als ERC-Preisträgerin Gewalt bei demokratischen Wahlen untersucht.

F
ür die Politik hatte sich Ursula Daxe- Gewalt Menschen beeinflusst und welche mals bis heute aufrechterhalten, obwohl er
cker schon früh interessiert. In der Rolle dabei die Parteien spielen. „Parteien erst drei war, als wir in die USA übersie-
Auseinandersetzung mit der Nazi- sind prinzipiell gut und wichtig für die delten.“ Nach den Erfahrungen im Aus-
vergangenheit Österreichs beschäftigte Demokratie, können aber auch zur Gewalt land resümiert Daxecker über die österrei-
sie sich intensiv mit der Frage, unter wel- beitragen“, sagt Daxecker und zeigt dies chische Politikwissenschaft: „Das Unisys­
chen Umständen normale Menschen Bö- am Beispiel Indien: „Die BJP, die regie- tem in Österreich hat zwar noch immer
ses unterstützen oder tun. Heute sind es rende Bharatiya Janata Partei, hat dort in viele Nachteile zum Beispiel im Vergleich
Gewaltausbrüche im Zusammenhang mit der Vergangenheit Gewalt gegen Muslime zu den Niederlanden, wo man schon viel
Wahlen, die im Zentrum ihres Interesses unterstützt und auch politisch davon pro- früher wissenschaftlich unabhängig sein
stehen. Für ihr Vorhaben erhielt sie vom fitiert. Mein Ziel ist es zu verstehen, unter kann. Aber es verändert sich auch in Ös-
Europäischen Forschungsrat einen ERC welchen Umständen Parteien für oder ge- terreich einiges und es gibt gute Leute an
Starting Grant, die höchste EU-Förderung gen friedliche Wahlen arbeiten.“ den Instituten.“ Die Bedeutung der Politik-
für Nachwuchswissenschaftler*innen. wissenschaft zeigt sich für sie auch in der
„Eine wichtige Frage in der Politikwissen- Ausgangspunkt Innsbruck aktuellen Pandemie: „In einer Krisensitua-
schaft ist, wie man Interessenskonflikte In einem Seminar von Anton Pelinka ist tion kann man nicht erwarten, dass Men-
löst“, erklärt die Politologin. „Es geht in Daxecker der amerikanischen Tradition schen sich freiwillig an alle möglichen Re-
unserer Gesellschaft ja ständig darum, der Politikwissenschaft zum ersten Mal geln halten. Solche Normen entwickeln
wer was und wieviel bekommt. Demokra- begegnet und hat sich nach dem Bachelor sich nur über lange Zeit. Regierungen spie-
tische Wahlen sind für mich klar das beste für ein Masterstudium in New Orleans len deshalb eine wichtige Rolle und müs-
System, um solche Konflikte friedlich zu entschieden. „Aus dem Master ist letzt- sen die Einhaltung der Regeln kontrollie-
lösen. Schließlich wissen die Wahlverlie- endlich ein PhD geworden – ich bin da al- ren und mit Belohnung, aber auch Strafen
rer, dass sie nach ein paar Jahren selbst so ein bisschen hineingerutscht“, blickt sie durchsetzen.“ Während sie in den Nieder-
zu Gewinnern werden könnten.“ Dort, zurück. Noch während des Bachelorstudi- landen den zweiten Lockdown erlebt, weil
wo Demokratie institutionell noch nicht ums wurde sie unerwartet Mutter und ihre die dortige Regierung zu spät und zu lax
sehr gefestigt ist, und es viele ethnische Beziehung ging rasch in die Brüche. „Vor eingegriffen hat, denkt Daxecker auch ger-
und religiöse Spannungen gibt, kommt und nach der Vorlesung nach Hause zum ne an Innsbruck. „Wie besonders die Mög-
es regelmäßig zu Wahlgewalt. Daxecker Stillen“, erinnert sie sich, „das war schwie- lichkeiten sind, Natur in Tirol zu erleben,
untersucht, unter welchen Umständen in rig. Sehr geholfen hat mir die Kinderkrip- weiß ich erst, seitdem ich woanders gelebt
verschiedenen Landesteilen Wahlgewalt pe der Uni. Erstaunlicherweise konnte habe“, sagt sie: „Gerade in der jetzigen
stattfindet, wer die Gewalt begeht, wie mein Sohn viele Freundschaften von da- Krise geht mir das ab.“  cf

Foto: Jeroen Doomernik zukunft forschung 02/20 49


ESSAY

WISSENSCHAFTLICHES WISSEN
VERWERTBAR MACHEN
Leonhard Dobusch über die schöpferische Rekombination von
­gemeinwirtschaftlicher Produktivität mit Innovation und Entrepreneurship.

V
„Open Science erglichen mit dem Alter der Univer- nehmensgründung. Außerdem trägt die For-
ist ein Weg für sität Innsbruck, die letztes Jahr ihren schung und Lehre zu Entrepreneurship auch
350. Geburtstag gefeiert hat, ist die Be- dazu bei, unternehmerisches Scheitern zu ent-
Wissenschaftler*innen,
triebswirtschaftslehre eine vergleichsweise stigmatisieren: Ein Unternehmen zu gründen
die Verwertbarkeit ihrer junge Disziplin. Erst vor gut 100 Jahren hat bedeutet immer auch, ein Risiko einzugehen.
Ergebnisse zu steigern, die BWL den Sprung von stark praxisorien- Die Mehrheit neugegründeter Start-ups schei-
ohne deshalb gleich tierten Handelshochschulen an Universitäten tert, nur eine kleine Minderheit wird einmal
selbst unternehmerisch­ geschafft. Um Akzeptanz in akademischen ein größeres Unternehmen – und das ist auch
tätig werden zu Kreisen bemüht, suchte man damals den Bei- gut so. Experimentieren, Ausprobieren, Schei-
­müssen.“ trag betriebswirtschaftlicher Forschung gera- tern sind alles notwendige Teile von Innova-
de in Abgrenzung zu individuellem Profitstre- tionsprozessen und einer kreativen Grün-
ben zu betonen: im Fokus stehe, so einer der dungskultur.
Gründerväter der universitären BWL Eugen
Schmalenbach, „die Fabrik als Fabrik und Gleichzeitig ist es wichtig, in Erinnerung zu
nicht als Veranstaltung eines Unternehmers“. rufen, dass Wissenschaft und Universitäten
BWL als Wissenschaft sollte der „gemeinwirt- auch auf eine ganz andere Weise einen Beitrag
schaftlichen Produktivität”, nicht dem Unter- für unternehmerisches Handeln und darüber
nehmertum dienen. Auch nach dem Zweiten hinaus leisten: durch eine möglichst freie und
Weltkrieg fokussierte die BWL Erich Guten- breite Verbreitung ihrer Forschungsergebnis-
bergs vor allem die Steigerung der betrieb- se. Wissen, das nicht patentiert, sondern frei
lichen Produktivität, der kreative Unterneh- zugänglich der Öffentlichkeit zur Verfügung
mergeist wurde als „irrationale Wurzel” von gestellt wird, verbessert die Produktivität
der Betrachtung ausgeklammert. nicht nur eines Einzigen, sondern potenziell
ganzer Branchen und Sektoren. Neue Ge-
In den letzten 20 Jahren hat sich dieser Fokus schäftsmodelle entstehen oft aus kreativer
verschoben. Wenn heute neue BWL-Professu- Rekombination von bekanntem Wissen. Je
ren eingerichtet werden, dann immer häufi- einfacher und niederschwelliger der Zugang
ger mit einem Schwerpunkt in den Bereichen zu wissenschaftlichem Wissen, desto mehr
„Innovation” oder „Entrepreneurship”. Er- Menschen und Unternehmen können ihren
forschung und Förderung unternehmerisch- eigenen Wissens- und Erfahrungsschatz da-
kreativen Handelns rücken dabei zunehmend mit schöpferisch in Beziehung setzen. Am
ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber auch allerbesten funktioniert das, wenn nicht nur
jenseits der BWL ist das Konzept „Entre- die Ergebnisse, sondern auch Rohdaten und
preneurship” auf dem Vormarsch. Vor allem Methoden frei im Netz zugänglich gemacht
Naturwissenschaftler*innen werden angehal- werden.
LEONHARD DOBUSCH ist Be- ten, unternehmerische Verwertbarkeit ihrer
triebswirt und Jurist und forscht Erkenntnisse mitzudenken und Hochschulen Solcherart offene Wissenschaft – Open Science
als Professor für Organisation an bemühen sich, bei Patentierungsprozessen zu – ist deshalb ein Weg für Wissenschaftler*in-
der Universität Innsbruck zum unterstützen. Hinzu kommt die Einführung nen, die Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse zu
Management digitaler Gemein- von Studiengängen in „Entrepreneurship und steigern, ohne deshalb gleich selbst unterneh-
schaften und zu organisationaler Innovationsmanagement”, die gerade Nicht- merisch tätig werden zu müssen. Aus Pers-
Offenheit. Für seinen offenen BWLer*innen zur Gründung von Unterneh- pektive der Betriebswirtschaft würde das be-
Online-Kurs „Organizing in men ermächtigen soll. deuten, die neuen Erkenntnisse zu Innovation
Times of Crisis: The Case of CO- und Entrepreneurship mit der Schmalenbach-
VID19” wurde er 2020 mit dem Diese Entwicklung ist prinzipiell begrüßens- schen Idee von der Steigerung gemeinwirt-
renommierten „Ideas Worth wert. Denn vieles am Unternehmertum ist schaftlicher Produktivität als wissenschaftli-
Teaching Award“ des Aspen Handwerk. Eine gute (Geschäfts-)Idee allein che Aufgabe zusammenzubringen. Eine
Institute ausgezeichnet. reicht kaum je für eine erfolgreiche Unter- schöpferische Rekombination also. 

50 zukunft forschung 02/19 Foto: Ingo Pertramer


SICHERHEIT & GRIP
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… auf Eis, Schnee & rutschigem Untergrund

www.snowlinespikes.com

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Empfohlen von:
Die Idee:
Bei der Produktion von aktuell über 80.000 Paar Tourenfellen fallen
pro Jahr etwa 2 Tonnen Materialreste an, die bisher auf dem Müll
gelandet sind.

Steigfelle werden aus Bergziegenhaar gefertigt, diese Naturfaser


ist eines der feinsten und kostbarsten Naturmaterialien. Die an-
fallenden Materialreste werden entweder direkt bei Koch alpin
oder zusammen mit europäischen Partnern zu hochwertigen
Accessoires verarbeitet.

Das Ziel dieses Upcycling-Projekts ist es, die Abfallmenge auf ein
Minimum zu reduzieren und dem Restmaterial ein zweites Leben
einzuhauchen!
Die Ergebnisse gibt es ab sofort im neuen Online-Shop zu bestellen.

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52 zukunft forschung 02/20 Foto: Andreas Friedle

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