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HINFÜHRU N G UND EINLEITU NG

Hinführung zur Lektüre der „Einleitung“ der Phäno-


menologie des Geistes (3. November 2020)

Gegenstand. Als erster Teil seines „Systems der Wissenschaft“ geplant, W as ist Hermeneu-
tik ?
ist die Phänomenologie des Geistes (im Folgenden: PdG) näher besehen
die Hinführung zur Wissenschaft, wie Hegel sie konzipiert hat, nicht
schon deren systematische Entfaltung. Gleichwohl projiziert Hegel den
ganzen Reichtum der geschichtlichen Welt in diesen Entwicklungsgang,
der den Aufstieg des natürlichen zum wissenschaftlichen Bewusstsein
„erzählt“. In diesem Seminarskript soll in einer – sehr groben – Absatz-
für-Absatz-Kommentierung dem Argumentationsgang der „Einleitung“
und der fünften Station dieses Weges nachgegangen werden: dem Über-
gang vom Selbstbewusstsein zur (sich selbst beobachtenden) Vernunft.

Einführung. 1. Geschichtlicher Ort: Die Phänomenologie des Geistes gesc hichtli cher O rt

ist nicht Hegels erstes philosophisches Werk, wohl aber sein erstes
Hauptwerk. 1807, ein Jahr vor Goethes Faust I erschienen, hat Hegel
das Buch turbulenten Entstehungsumständen abgerungen. Auf die Je-
nenser Entwicklung des philosophischen Systems Hegels kann hier nicht
eingegangen werden (vgl. Siep 2000, 52–62; vor allem aber gibt der
Kommentar von Falke 1996 fortlaufende Seitenblicke auf das Jenenser
und spätere Heidelberger System); auch nicht auf die komplizierte Ge-
schichte der Drucklegung (vgl. editorischer Bericht), um die sich Le-
genden ranken, die Hegel zum Teil selbst befördert hat (etwa, dass den
Seiten noch der Pulverdampf der Schlachten bei Jena und Auerstädt
klebe). Sein geschichtlicher Ort ist in jedem Fall inmitten des vierten
Koalitionskrieges gegen Napoleon, so wie Hölderlins Hymne „Friedens-
feier“ ihren geschichtlichen Ort im Kontext des zweiten Koalitionskrie-
ges und des Friedens von Lunéville hat.
2. Begriff des Geistes: „Vor Hegel war es noch möglich, das Wort zu Begrif f des G eist es

umgehen“, schreibt Fritz Mauthner über den Begriff des Geistes und
verweist auf das Kuriosum, dass noch Kants Anhänger Salomon Mai-
mon 1791 ein Philosophisches Wörterbuch herausgeben konnte, in dem
das Lemma „Geist“ fehlt (Mauthner 1910, I, 578). Hundert Jahre später
wäre ein solches Vorgehen nicht mehr denkbar. Die deutschsprachige
Philosophie des 19. Jahrhunderts setzt sich mit Hegels Geistphilosophi e
auseinander wie mit keiner anderen Vollendungsgestalt der neuzeitli-
chen Metaphysik und hat dabei offenbar nur deren Lehre vom objekti-
ven Geist noch philosophisch ernst nehmen können. Wiederum ist es

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PHÄNOMEN OL O G IE (VERNUNFT ) (SOSE 2020) (W ESTERKAMP)

Mauthner, der die philosophische Entwicklung des Jahrhunderts auf den


Punkt bringt: „Geist wird immer mehr zum Menschengeist“ – die For-
mel resümiert das Schicksal jenes Hegelschen Zentralbegriffs, der ab
1850 um die metaphysische Sphäre des absoluten Geistes gekappt und
semantisch entkernt wird. Entsprechend kann die kulturwissenschaftli-
che Adaption des objektiven Geistes als konstruktive Seite jener De-
struktion des spekulativen Wissens verstanden werden, die der frühe
Marx als „Verwesungsprozess des absoluten Geistes“ (Marx 1971, 342 -
343) interpretiert hat. Insofern dieser Prozess Hegels Lehre vom subjek-
tiven Geist nicht weniger erfasst hat als die vom absoluten, ergibt sich
das eigentümliche Bild, dass nach der empirisch-psychologischen Kritik
an der Lehre vom subjektiven Geist (durch Fries, Herbart, Chr. H. W eis-
se) und der linkshegelianischen Kritik an Hegels Lehre vom absoluten
Geist (durch Feuerbach, Kierkegaard, Marx) aus der Trümmerlandschaft
des spekulativen Systems einigermaßen intakt nur noch jene Lehre vom
objektiven Geist herauszuragen schien, die ab Mitte des 19. Jahrhun-
derts in eine „Völkerpsychologie“ (Lazarus 1865/2003, 178), „Kultur-
philosophie“ (Simmel 1900/1996, 643) oder „Gesellschaftsphilosophie“
(Spann 1928, 201) umgedeutet wird. Übersetzt in eine aktuellere Theo-
riesprache ließe sich der Ausdruck „objektiver Geist“ daher am ehesten
vielleicht mit „Kultur“ wiedergeben.
Begriff des objek - 3. Begriff des objektiven Geistes: Hegels begriffliche Innovation eines
tiven Geis tes
objektiven Geistes wirft Licht auf die Entwicklung dieses Begriffs in
den Jenenser Jahren. Geist meint nicht einfach Verstand, oder Ich, Be-
wusstsein, Intelligenz, Wille oder Selbstbewusstsein. Der Geistbegriff
hat in der Jenenser zwei tragende Bedeutungsschichten:
a) Geist ist Resultat einer fortschreitenden Selbstreflexion: er ma cht
sich seine Bewusstheit selbst zum Gegenstand
b) Geist ist „absolute Negativität“ (wie es in Hegels Enzyklopädie § 381
heißt). Damit meint Hegel das Vermögen eines jeden Geistes, stets auch
„das andere seiner selbst“ zu sein. Er hat die Fähigkeit, nicht nur sich in
sich selbst, sondern auch in sein Anderes hineinzuversetzen.
Bewusstsein meint in Kap. I–III zunächst Gegenstandsbewusstsein (ge-
genständlich Anderes); Selbstbewusstsein heißt (in Kap. IV) Bewusst-
sein seiner selbst (als ein Anderes); Vernunft (Kap. V) und Geist (Kap.
VI) meinen das Bewusstsein seiner selbst als ein Bewusstsein auch der
anderen Subjekte und ihrer Handlungen bzw. Institutionen: „kollektive
Vernunft“ (Falke 1996, 33) oder `plurales Subjekt´. Geist meint für
Hegel – in dieser Struktur der Selbstnegation durch ein Anderes – zu-

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letzt die vermittelte Einheit von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und


(geschichtlich-kultureller) Welt.

Hinführung zur „Einleitung“. 1. Gliederung: Dass die PdG einen Gliederung der
PdG
Gang vom subjektiven Bewusstsein zum objektiven Geist vollzieht,
schlägt sich auch in der – auf den ersten Blick – verwirrend erscheinen-
den Gliederung des Werks nieder. Sie changiert zwischen einer jeweili-
gen Doppelverwendung von arabischen Großbuchstaben und römischen
Zahlen. I – VIII sind die abstrakt aufgezählten Stationen des Wegs der
Seele (vgl. Einleitung § 5). Diese Stationen sind noch einmal gegliedert
durch A, B etc. und a), b) etc. gegliederten Abschnitte. Deutlich wird,
dass sie in den Vernunftgestalten des Geistes den ganzen Reichtum der
realen und geschichtlichen Welt einbegreift (vom stammelnden Zeigen,
über das Urinieren [GW 9, 192 29] zur französischen Revolution und
Schillers Gedicht „Die Freundschaft“). Insofern gibt die PdG, wie Hegel
in der Vorrede sagt, „die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Ge-
schichte der Bildung der Welt“ (GW 9, 25 5).
Darunter liegt die systematische Ebene der Philosophie des Geistes als
(A) Bewußtseyn, (B) Selbstbewußtseyn, (C) Vernunft, die sich wiede-
rum als (AA) als abstrakte Vernunft, als (BB) objektiver Geist: Sittlich-
keit und Moralität und schließlich (CC) als Religion auslegt, um den
Übergang in das absolute Wissen (DD) der Philosophie zu machen.
2. Titel: Der erste Teil des Systems, die Phänomenologie, hat den Titel Titel der PdG

„Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns“: Erfahrung meint hier


einmal den „Weg von unten“ (Siep 2000, 63) als Weg der Erfahrungen
eines noch ganz natürlichen, unwissenschaftlichen Bewusstseins. Zum
anderen heißt es, wie Goethe sagt, dass Erfahrungen er-fahren werden:
man muss ausfahren, heraustreten, aufbrechen. Bewusstsein darf nicht,
wie Hegel in der Vorrede süffisant sagt, „im ruhigern Bette des gesun-
den Menschenverstandes fortfliessen[-]“ (GW 9, 47 16). Diese Erfahrung
ist zugleich eine Umkehrung, ja Umwerfung des natürlichen Bewusst-
seins; es ist pervers, verkehrt und wird gleichsam zurechtgebracht; vom
Kopf auf die Füße gestellt. Die PdG ist ein konvertierender „Bildungs-
roman“ (Brandom 2019, 1) – nur eben im welt- und kulturgeschichtli-
chen Massstab.
Phänomenologie heißt: Es werden Erscheinungen beschrieben. An die-
sen Erscheinungen kommen jedoch stets auch die Kategorien zum Vor-
schein, unter welche die Erscheinungen fallen. Erscheinungen sind a)
bloßer Schein, Täuschung, in anderer Hinsicht aber auch b) index veri,
wahrer Schein, Schein eines sich noch unvollständig zeigen könnenden

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Wahren. Das Problem ist, dass das „natürliche Bewusstsein“ (im Fol-
genden: NB) diesen Unterschied noch nicht begreift. Es bleibt – als
Verstandesdenken – beim Gegensatz stehen und weiß die Dinge nur als
gegeneinander stehende. Im Unterschied dazu ist der Geist das „reine
Selbsterkennen im absoluten Anderssein“.
Mit dem allgemeinen Erkenntnisinteresse, die PdG kommentierend zu
verstehen, verbinden sich evidenterweise besondere Erkenntnisinteres-
sen, etwa:
- den logischen Bau der Argumente und die Ableitung der tra-
genden Begriffe zu untersuchen (vgl. Scheier 1980);
- die pragmatische Bedeutungstheorie zu rekonstruieren, die in
Hegels Begriffsverwendung zum Vorschein kommt (vgl. Bran-
dom 2019);
- die historisch-systematischen Positionen und Diskussionen
(„historisches Substrat“) herauszuarbeiten, an denen sich He-
gels Darstellung abarbeitet (Falke 1996);
- den Durchgang und Aufbau der erkenntnistheoretisch-
philosophischen Themen zu erläutern, die Hegels Darstellung
aufgreift (Siep 2000);
- die aktuellen Forschungsdiskussionen zu einzelnen Kapiteln
der PdG aufzubereiten (vgl. Pöggeler [Hg.] 22006)
- die Begriffe und Argumente der PdG an gegenwärtige, vor al-
lem analytische Theoriedebatten anzuschließen (vgl. Stekeler
2014).
Die hier zusammengestellten und auch die folgenden Kommentare und
Erläuterungen beschränken sich auf die ersten drei Erkenntnisinteressen.

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A. Kommentarliteratur Bibliographie

Graeser, A. (1988), Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Kom-


mentar, Stuttgart: Reclam.
Bertram, G. W., Hegels `Phänomenologie des Geistes´. Ein systemati-
scher Kommentar, Stuttgart: Reclam 2017.
Brandom, Robert B. (2019), A Spirit of Trust: A Reading of Hegel’s
Phenomenology, Cambridge (Mass.)/London: Harvard University
Press.
Falke, G.-H. H. (1996), Begriffne Geschichte. Das historische Substrat
und die systematische Anordnung des Bewußtseinsgestalten in Hegels
Phänomenologie des Geistes. Interpretation und Kommentar, Berlin:
Lukas.
Pöggeler, O. (Hg.) ( 2 2006): G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes,
Berlin: Akademie (Klassiker Auslegen; 16).
Scheier, C.-A. (1980), Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomeno-
logie des Geistes. Die Architektonik des erscheinenden Wissens,
Freiburg/München: Alber.
Siep, L. (2000), Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einfüh-
render Kommentar, Frankfurt/M: Suhrkamp.
Stekeler, P. (2014), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogi-
scher Kommentar, Bd. 1, Hamburg: Meiner.

B. Zitierte Literatur

Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes-


wissenschaften (1910). Hg. von Manfred Riedel. Frankfurt/M. 1970.
Freyer, Hans (1923): Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in
die Kulturphilosophie. Leipzig/Berlin.
Lazarus, Moritz (2003): Grundzüge der Völkerpsychologie und Kultur-
wissenschaft. Hg. von Klaus Christian Köhnke. Hamburg.
Marx, Karl (1971): Die Frühschriften. Hg. von Siegfried Landshut,
Stuttgart.
Mauthner, Fritz (1910): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu
einer Kritik der Sprache. 2 Bde. München (Leipzig 21923).
Simmel, Georg: Philosophie des Geldes ( 41996). In: Ders.: Gesamtaus-
gabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 6. Frankfurt/M.

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Spann, Otmar (1928): Der Schöpfungsgang des Geistes. Die Wiederher-


stellung des Idealismus auf allen Gebieten der Philosophie, Jena.

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