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Laborübung Werkstoffprüfung 1 Zugversuch

5 Zugversuch
5.1 Einleitung
Für die Dimensionierung von statisch beanspruchten Bauteilen, für die Auswahl von Werkstoffen
sowie für die Festlegung von Umformprozessen werden Kennwerte für die Festigkeit und die Ver-
formbarkeit der Werkstoffe benötigt. Der wichtigste Versuch zur Ermittlung von Festigkeits- und
Verformungskennwerten ist der Zugversuch. Zugversuche werden auch häufig zur Qualitäts-
kontrolle und in der Werkstoffentwicklung eingesetzt.
Um die Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit der ermittelten Werkstoffkennwerte zu sichern,
wurden die Probenformen, das Prüfverfahren und die Kennwertermittlung genormt, z.B. in EN ISO
6892-1 für den Zugversuch an metallischen Werkstoffen bei Raumtemperatur (weitere Normen
siehe Literaturliste am Ende).
In der Übung werden Zugproben aus verschiedenen metallischen Werkstoffen geprüft. Im Rahmen
eines Protokolls sind die mechanischen Kennwerte zu bestimmen und mit den Normwerten der
entsprechenden Werkstoffe zu vergleichen sowie das Verhalten der Werkstoffe bei der Verformung
zu diskutieren.
Alle folgenden Ausführungen beziehen sich deshalb auf metallische Werkstoffe und die genannte
Norm.

5.2 Spannungen und Dehnungen beim Zugversuch


Beim Zugversuch wird eine Probe in eine Prüfmaschine eingespannt und durch eine langsam
zunehmende Zugkraft in Probenlängsrichtung gedehnt, meist bis zum Bruch. Dabei liegt bis zum
Einsetzen der Einschnürung in der Probe ein einachsiger und homogener Spannungszustand vor.
Während der Prüfung werden die Kraft und die erreichte Verlängerung (Längenänderung) gemes-
sen. Beide Größen hängen nicht nur von den Eigenschaften des zu prüfenden Werkstoffs ab,
sondern auch von den Messbedingungen und von der Probenform und Probengröße. So hängt die
Verlängerung (Absolutwert in mm) von der Länge ab, an der sie gemessen wurde; je größer die
Messlänge, desto größer die Verlängerung. Die Kraft hängt davon ab, wie groß die
Querschnittsfläche der Probe ist; bei größerem Querschnitt ist für die gleiche Verlängerung eine
größere Kraft notwendig. Um das Werkstoffverhalten bei unterschiedlichen Abmessungen ver-
gleichen zu können, werden deshalb nicht die Kräfte und Verlängerungen ausgewertet, sondern
Spannungen und Dehnungen ermittelt. (In EN ISO 6892-1 sind weitere, die Vergleichbarkeit
sicherstellende Festlegungen zu Probenabmessungen und Messbedingungen enthalten.)
Die nach EN ISO 6892-1 zu ermittelnden Kennwerte sind sogenannte technische oder nominelle
Spannungen bzw. Dehnungen, die allgemein so definiert sind:

Spannung (Technische Spannung, Nennspannung)


F
R [MPa] (1 MPa = 1 N/mm2) (1)
S0
F………Zugkraft (in N)
S0……..Anfangsquerschnitt (in mm2) innerhalb der parallelen Länge Lc der Probe (vgl. Abb. 4)
Anmerkung: Für die (technische) Spannung wurde früher das Formelzeichen σ verwendet. In EN ISO 6892-1
ist das Formelzeichen R jetzt allgemein für die technische Spannung beim Zugversuch festgelegt worden. Die
Spannungskennwerte, z.B. Rm oder Rp, wurden schon seit längerer Zeit mit dem Buchstaben R bezeichnet.

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Dehnung (Technische Dehnung, Extensometer-Dehnung)

L
e [-] (dimensionslos) oder (2a)
Le
L
e  100 [%] (2b)
Le
ΔL…….Verlängerung (in mm) der Extensometer-Messlänge Le
Le……..Extensometer-Messlänge (in mm)= Anfangsmesslänge der Längenmesseinrichtung (Extensometer)
Anmerkung: Oft wird die technische Dehnung mittels L0 anstelle von Le beschrieben, und es wurde früher
das Formelzeichen ε verwendet. Da die Dehnung während des Zugversuchs aber nur mit Hilfe eines Exten-
someters aufgezeichnet werden kann, ist hier die Extensometer-Dehnung angegeben, für die in EN ISO
6892-1 das Formelzeichen e festgelegt ist. Dementsprechend sind in dieser Norm die x-Achsen der Span-
nung-Dehnung-Diagramme mit “e” beschriftet. Zu L0 und Le siehe auch Abbildung 4 und Abschnitte 5.4.2
und 5.4.3.

Technische Dehnungswerte, insbesondere die Kennwerte (siehe Abschnitt 5.5), werden in Prozent
angegeben - Gleichung (2b). Wird mit der Dehnung gerechnet, z.B. für den E-Modul, dann ist der
dimensionslose Wert zu verwenden – Gleichung (2a).

Zur Darstellung der Zugversuchsergebnisse wird die technische Spannung über der technischen
Dehnung aufgetragen. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel dafür.

300
Spannung in N/mm²

200

100

0
0 2 4 6 8 10 12
Dehnung in %

Abbildung 1: Spannung-Dehnung-Kurve einer Aluminium-Legierung

Bei der technischen Spannung und Dehnung nach den Gleichungen (1) und (2a, 2b) wird auf die
konstanten Anfangsgrößen S0 und Le Bezug genommen. Es bleibt also unberücksichtigt, dass der
Querschnitt während des Zugversuchs immer kleiner und die Messlänge immer größer wird und
dadurch die tatsächlichen („wahren“) Spannungen und Dehnungen von den technischen immer
stärker abweichen. Aus den im Zugversuch gemessenen Daten kann man jedoch die wahre Span-
nung und die wahre Dehnung bis zur Höchstkraft F m (bis zur Zugfestigkeit Rm) relativ einfach
berechnen. Für die wahre Spannung (Gleichung 4) wird dabei vorausgesetzt, dass sich die Probe
über der Probenlänge gleichmäßig verformt (noch keine Einschnürung) und Volumenkonstanz gilt,
also S0∙Le = S1∙L1. Dabei ist S1 die Querschnittsfläche innerhalb der parallelen Länge der Probe zu

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einem beliebigen Zeitpunkt des Versuchs (vor Beginn der Einschnürung) und L1 die Länge (der
Extensometer-Messlänge) zu diesem Zeitpunkt.
Technische Spannung R: Wahre Spannung :
F  L1 F ( Le + L)
 R(1 + e-
F F
R (3)     (4)
S0 S1 S 0  Le S 0 Le
S1……… Querschnittsfläche zu einem beliebigen Zeitpunkt des Versuchs

Zur Bestimmung der wahren Dehnung (Gleichung 6a und 6b) wird die jeweilige differentielle
Längenänderung dL auf die momentane Länge L bezogen (statt auf die konstante Anfangsmess-
länge Le wie bei der technischen Dehnung) und durch Integration aufsummiert.
Technische Dehnung e: Wahre Dehnung :
dL dL
de  (5a) d  (6a)
Le L

L + L
L1
dL L1 - Le L
L1
 ln(1 + e-
dL L
e 
Le

L e

Le
(5b)  
Le
L
 ln 1  ln e
Le Le
(6b)
Le

Diese Umrechnungen von den technischen in die wahren Werte ist nur bis zur Höchstkraft F m
möglich, also während der gleichmäßigen Probenverformung ohne Einschnürung. Ab Beginn der
Einschnürung müssen zur Berechnung des wahren Spannung-Dehnung-Diagramms die Verhältnisse
im Bereich der Einschnürung (kleinerer Querschnitt und größere Verformung als im Rest der Probe,
mehrachsiger Spannungszustand) beachtet werden, wofür verschiedene Modelle existieren. Ab-
bildung 2 zeigt dies. In dieser Abbildung sind neben einer technischen Spannung-Dehnung-Kurve
die zugehörige wahre Spannung-Dehnung-Kurve (Fließkurve) bis zur Höchstkraft (durchgezogene
Linie) sowie nach verschiedenen Modellen berechnete Fortsetzungen der wahren Kurve für den
Bereich nach der Höchstkraft (gestrichelte Kurven) dargestellt.

Abbildung 2: Technische Spannung-Dehnung-Kurve und wahre Spannung-Dehnung-Kurve (Fließkurve) mit Fließ-


kurvenextrapolation nach verschiedenen Modellen
(http://www.zmb-aachen.de/dokumente/V5_Innovation_in_Metall_200807_Szepan.pdf, 22.02.2012)

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Wahre Spannung und wahre Dehnung bis zum Beginn der Einschnürung sind insbesondere für die
Umformtechnik von Bedeutung. Dort wird die wahre Dehnung als Umformgrad φ bezeichnet, und
die wahre Spannung wird Fließspannung k f genannt, das entsprechende Diagramm heißt
Fließkurve.

5.3 Verformungsvorgänge beim Zugversuch


Metallische Werkstoffe verformen sich zu Beginn des Zugversuchs linear-elastisch. In der Span-
nung-Dehnung-Kurve (Abbildung 1) drückt sich das in einem linearen Anstieg der Spannung im
Anfangsbereich der Kurve aus. Der Zusammenhang zwischen der Spannung und der Dehnung wird
in diesem Bereich durch das Hookesche Gesetz beschrieben, das unter der Bedingung eines ein-
achsigen Spannungszustandes lautet:
R  Ee (oder:   E   ) (7)
Der Proportionalitätsfaktor ist der Elastizitätsmodul E (englisch: Young’s modulus). Der
Elastizitätsmodul (kurz: E-Modul) ist ein Maß für den Widerstand des Werkstoffs gegen elastische
Verformung. Er entspricht dem Anstieg der elastischen Gerade in der Spannung-Dehnung-Kurve.
Der E-Modul ist von den strukturellen Eigenschaften des Werkstoffs (Bindungsart, Kristallgittertyp,
Legierung) und von der Temperatur abhängig. Bei Metallen, die für den Maschinenbau von
Bedeutung sind, liegt er zwischen 4,5·104 N/mm2 für Magnesium und 2,1·105 N/mm2 für Eisen.
Entsprechend der Stärke der Bindungen liegen Keramiken darüber und Kunststoffe meist deutlich
darunter.
Die elastische Verformung von Metallen beruht auf einer Vergrößerung der Atomabstände in Rich-
tung der anliegenden Spannung, wobei die Bindungen zwischen benachbarten Atomen erhalten
bleiben. Dadurch ist die elastische Verformung reversibel, sie geht bei Entlastung zurück.
Ab einer gewissen Spannung biegt die Spannung-Dehnung-Kurve von der Hookeschen Geraden ab,
weil plastische Verformung stattfindet, die sich der elastischen Verformung überlagert. Die plas-
tische Verformung ist bei Metallen in der Regel auf die Bewegung von Versetzungen im
Kristallgitter zurückzuführen. Da bei der Versetzungsbewegung Atombindungen aufgebrochen und
neue Bindungen ausgebildet werden, ist die plastische Verformung nicht reversibel.
Für den Übergang von der rein elastischen zur elastisch-plastischen Verformung gibt es zwei For-
men: stetig (Abbildung 1) oder unstetig (Abbildung 3).

500

400
Spannung in N/mm²

300

200

100

0
0 10 20 30 40
Dehnung in %

Abbildung 3: Spannung-Dehnung-Kurve eines unlegierten Stahls (S235) mit ausgeprägter Streckgrenze und Lüders-
Dehnung

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Der in Abbildung 3 sichtbare unstetige Übergang mit ausgeprägter Streckgrenze ist bei unlegierten
und niedriglegierten Stählen zu finden, in denen die Versetzungen zunächst durch Ein-
lagerungsatome (C, N) blockiert sind und sich nicht bewegen können. Erreicht die Spannung die
Höhe der oberen Streckgrenze, können sich die Versetzungen von diesen Fremdatomen losreißen
und sich nun relativ leicht durch das Gitter bewegen. Das äußert sich zuerst in einem plötzlichen
Spannungsabfall von der oberen Streckgrenze, gefolgt von einem Bereich annähernd konstanter
Spannung (Bereich der Streckgrenzendehnung oder Lüders-Dehnung mit unterer Streckgrenze). Im
Bereich der Streckgenzendehnung erfolgt die Verformung des Werkstoffes nicht gleichzeitig über
die gesamte Probenlänge, sondern läuft lokalisiert in einem Abschnitt nach dem anderen (den
Lüders-Bändern) ab.
Jede Behinderung der Versetzungsbewegung bewirkt eine Verfestigung des Werkstoffs, da eine
(weitere) plastische Verformung dann nur bei einer erhöhten Spannung möglich ist. Versetzungen
werden in ihrer Bewegung behindert, wenn sie auf andere Gitterstörungen (z.B. Fremdatome,
Ausscheidungen, Korngrenzen, Versetzungen) treffen. (Hierzu siehe auch Übungsskriptum „ Ver-
festigungsmechanismen und Härteprüfverfahren“.) Besondere Bedeutung haben beim Zugversuch
die Versetzungen, da sich die Versetzungsdichte im Laufe der plastischen Verformung erhöht, z.B.
durch die Bildung neuer Versetzungen nach dem Frank-Read-Mechanismus. Die steigende Zahl
von Versetzungen führt zu einer zunehmenden gegenseitigen Behinderung der Versetzungen, so
dass für eine weitere plastische Verformung die Kraft bzw. Spannung ständig erhöht werden muss
und die Spannung-Dehnung-Kurve ansteigt. Man spricht von Verformungsverfestigung oder
Kaltverfestigung.
Parallel zur Verfestigung findet folgender Vorgang statt: Da sich die Zugprobe während der plas-
tischen Verformung verlängert, das Volumen aber konstant bleibt, nimmt der Querschnitt der
Zugprobe ab. Daraus ergibt sich eine “geometrische” Entfestigung. Bis zur Höchstkraft (Zugfestig-
keit) ist die Verfestigung jedoch größer als die geometrische Entfestigung, und die zur Verformung
erforderliche Kraft bzw. Spannung nimmt zu. Die Zugprobe dehnt sich bis dahin (nach einem even-
tuell auftretenden Bereich der Streckgrenzendehnung) über die gesamte Probenlänge gleichmäßig
und der Querschnitt verringert sich über die gesamte Probenlänge gleichmäßig. Man spricht deshalb
von Gleichmaßdehnung. Am Punkt der Höchstkraft sind Verfestigung und Entfestigung im Gleich-
gewicht.
Wird die Zugprobe weiter verformt, schnürt sie sich an einer Stelle mehr und mehr ein. Damit ver-
bunden ist eine Abnahme der zur weiteren Verformung notwendigen Zugkraft und damit auch der
technischen Spannung, vgl. Abbildungen 1 und 3. Die weitere plastische Verformung findet weit-
gehend im Bereich der Einschnürung statt.
Der Zugversuch endet mit dem Bruch der Probe. Der Bruch wird hervorgerufen durch verschiedene
Schädigungsprozesse wie die Bildung von Mikrorissen und Poren, die sich vergrößern und zusam-
menwachsen können und so schließlich zur vollständigen Werkstofftrennung führen.

5.4 Durchführung von Zugversuchen nach EN ISO 6892-1

5.4.1 Allgemeines
Die Norm EN ISO 6892-1 legt den Zugversuch für metallische Werkstoffe bei Raumtemperatur fest
und definiert die mechanischen Eigenschaftswerte, die mit dem Versuch bestimmt werden können.
Viele Werkstoff- und Erzeugnisnormen beziehen sich auf diese Norm. Einige wesentliche Punkte
der Norm werden nachfolgend angeführt.

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5.4.2 Proben
In den Anhängen B bis E von EN ISO 6892-1 sind Angaben zu Form und Maßen der Proben sowie
zur Anfangsmesslänge L0 zu finden. Welcher Anhang zutreffend ist, hängt davon ab, welche Form
und Abmessung das Erzeugnis hat, von dessen Werkstoff die mechanischen Eigenschaften zu bes-
timmen sind. Erzeugnisformen sind z.B. Feinblech, Grobblech, Stäbe, Draht, Profile, Rohre.
Erzeugnisse mit gleichbleibendem Querschnitt (z.B. Stäbe) sowie speziell für die Prüfung ge-
gossene Probestücke dürfen ohne weitere Bearbeitung geprüft werden. Üblicherweise werden die
Proben aber aus dem Erzeugnis oder einem Rohteil herausgearbeitet. Dabei ist sicher zu stellen,
dass die Eigenschaften des Werkstoffes nicht verändert werden, was z.B. durch eine zu starke
Erwärmung geschehen könnte. Typische Probenformen sind Flachproben (z.B. aus Blechen) und
Rundproben. In Abbildung 4 ist am Beispiel von runden Proben die Bedeutung der für den Zugver-
such relevanten Probenmaße dargestellt.
d0 Anfangsdurchmesser in der parallelen Länge
Lc parallele Länge
L0 Anfangsmesslänge
Lt Gesamtlänge der Probe
Lu Messlänge nach dem Bruch
S0 Anfangsquerschnitt innerhalb der parallelen Länge
Su Kleinster Probenquerschnitt nach dem Bruch

Abbildung 4: Bearbeitete Proben mit rundem Querschnitt nach Anhang D von EN ISO 6892-1

Die Gesamtlänge Lt der Proben wird hauptsächlich durch die Anfangsmesslänge L0 (siehe 5.4.3.)
und die Größe des Probenkopfes (abhängig von den Gegebenheiten der Prüfmaschine) bestimmt.
Die parallele Länge Lc muss immer größer sein als die Anfangsmesslänge L0; Genaues dazu regeln
die Anhänge B bis E.
Zur Bestimmung des Anfangsquerschnitts S0 sollten die relevanten Maße der Proben vor dem Ver-
such an mindestens 3 Querschnittsebenen im mittleren Bereich der parallelen Länge der Proben
gemessen werden; als Anfangsquerschnitt wird der mittlere Querschnitt verwendet.

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5.4.3 Anfangsmesslänge und Extensometer-Messlänge


Bei den Messlängen, die zur Ermittlung von Dehnungen verwendet werden, ist zu unterscheiden
zwischen:
- Anfangsmesslänge L0 und
- Extensometer-Messlänge Le
Die Anfangsmesslänge L0 dient der Ermittlung der Bruchdehnung A. Sie wird durch feine Mess-
marken oder Farbstriche auf der Probe gekennzeichnet. Die Messmarken dürfen nicht als Kerben
wirken, da diese zu einem vorzeitigen Bruch führen könnten.
Die Größe von L0 ist in Abhängigkeit von der Probenart entweder festgelegt (z.B. 50 mm oder
80 mm für Flachproben aus Blechen unter 3 mm Dicke) oder wird abhängig vom An-
fangsquerschnitt entsprechend der Gleichung L0  k  S0 ermittelt. Letztere Proben werden als
proportionale Proben bezeichnet. Der Proportionalitätsfaktor k ist international mit 5,65 festgelegt.
Die Anfangsmesslänge darf allerdings nicht kleiner als 15 mm sein, sonst muss ein größerer Faktor
(vorzugsweise k = 11,3) vorgesehen oder eine nichtproportionale Probe (L0 unabhängig von S0)
verwendet werden.
Die Extensometer-Messlänge Le ist die Anfangsmesslänge einer Längenänderungsmesseinrichtung
(Extensometer), die zum Messen der Verlängerung genutzt wird. Die Extensometer-Messlänge
kann auf einen Wert zwischen 0,5∙L0 und 0,9∙Lc festgelegt werden. Damit das Extensometer alle
Fließeffekte in der Probe erfassen kann, ist eine größere Messlänge günstig. Wenn Kennwerte bei
der Höchstkraft oder danach (z.B. die Bruchdehnung) bestimmt werden, sollte Le ungefähr gleich
L0 sein.
Alle Kennwerte, bei denen die mit einem Extensometer gemessene Längenänderung bzw. die
daraus ermittelte Dehnung verwendet wird, tragen einen entsprechenden Zusatz in ihrem Namen,
z.B. die “Dehngrenze bei plastischer Extensometer-Dehnung” (Rp) oder die “plastische Extensome-
ter-Dehnung bei Höchstkraft”(Ag). Bei der mit einem Extensometer gemessenen Verlängerung han-
delt es sich um die gesamte Verlängerung; die elastische Verlängerung muss davon abgezogen
werden, um die plastische Dehnung zu erhalten.

5.4.4 Prüfeinrichtungen und Prüfbedingungen


Die Proben werden mit geeigneten Einrichtungen, z. B. Keilspannzeugen, Gewindestücken, Paral-
lelspannzeugen oder Schulterhalterungen eingespannt. Dabei sollte alles darangesetzt werden, die
Proben so einzuspannen, dass die Kraft so axial wie möglich wirkt, um den Biegeeinfluss zu mini-
mieren.
Während des Versuches werden die zur Verformung notwendige Kraft und die Verlängerung der
Probe laufend gemessen und aufgezeichnet. Die Kraftmesseinrichtung der Zugprüfmaschine muss
die Bedingungen der Genauigkeitsklasse 1 nach EN ISO 7500-1 erfüllen. Das bedeutet, dass die
relative Anzeigeabweichung von der tatsächlichen Prüfkraft maximal 1 % betragen darf. Die Pro-
benverlängerung wird mit einer Längenänderungs-Messeinrichtungen direkt an der Probe gemes-
sen, um Fehler durch Effekte aus der Einspannung und durch die elastische Verformung der
Maschine auszuschalten. Die benutzte Längenänderungs-Messeinrichtung muss für die Be-
stimmung von Dehngrenzen der Klasse 1 nach EN ISO 9513 entsprechen; für andere Kennwerte
darf eine Messeinrichtung der Klasse 2 benutzt werden.
Von besonderer Bedeutung beim Zugversuch ist die Prüfgeschwindigkeit, da Kennwerte von der
während des Versuchs herrschenden Dehngeschwindigkeit beeinflusst werden können. Für die
Festlegung und Regelung der Prüfgeschwindigkeit unterscheidet die EN ISO 6892-1 zwei verschie-
dene Verfahren:
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Verfahren A: Prüfgeschwindigkeit basierend auf Dehngeschwindigkeit


Verfahren B: Prüfgeschwindigkeit basierend auf Spannungsgeschwindigkeit
Für jedes Verfahren sind die für die einzelnen Kennwerte zulässigen Geschwindigkeiten bzw.
Geschwindigkeitsbereiche in EN ISO 6892-1 vorgegeben. Die Prüfgeschwindigkeit und die Art der
Prüfgeschwindigkeitsregelung sind im Prüfbericht zu dokumentieren.
Zu bevorzugen ist Verfahren A, da es die Unterschiede in den Prüfgeschwindigkeiten reduziert und
dadurch die resultierenden Messunsicherheiten minimiert. Bei diesem Verfahren wird zur
Ermittlung von ReH, Rp oder Rt eine auf dem Signal des Dehnungsaufnehmers (Extensometers)
basierende Regelung der Dehngeschwindigkeit durchgeführt, sofern die Prüfmaschine dies er-
möglicht. Dadurch sind die gewünschten Dehngeschwindigkeiten sehr gut reproduzierbar.

5.5 Bestimmung der Kennwerte

5.5.1 Festigkeitskennwerte
5.5.1.1 Bestimmung der oberen Streckgrenze ReH und der unteren Streckgrenze ReL
Streckgrenzen treten auf bei einem diskontinuierlichen Übergang vom elastischen in den
plastischen Bereich. Die obere Streckgrenze ReH ist die höchste Spannung, bevor der erste deutliche
Spannungsabfall auftritt. Die untere Streckgrenze ReL ist die kleinste Spannung während des
plastischen Fließens, wobei Einschwingerscheinungen nicht berücksichtigt werden.
Abbildung 5 zeigt zwei der möglichen Formen einer Spannung/Extensometer-Dehnung-Kurve und
die jeweilige Lage der Kennwerte ReH und ReL. Bei der Form in Abb. 5b ist keine obere Streck-
grenze vorhanden.

a) b)

a: Einschwingerscheinung
Abbildung 5: Beispiele für obere und untere Streckgrenze

5.5.1.2 Bestimmung der Dehngrenzen Rp und Rt


Die Dehngrenze bei plastischer Extensometer-Dehnung, Rp, wird laut EN ISO 6892-1 aus der
Kraft/Extensometer-Dehnung-Kurve bestimmt, indem eine Parallele zum geraden Teil der Kurve
(Hookesche Gerade) in einem Abstand gezeichnet wird, der der vorgeschriebenen plastischen
Dehnung (am gebräuchlichsten ist 0,2 %) entspricht. Die Ordinate des Schnittpunktes dieser Paral-
lelen mit der Kurve ergibt die der gewünschten Dehngrenze bei plastischer Extensometer-Dehnung
entsprechende Kraft. Die Dehngrenze wird durch Dividieren dieser Kraft durch den An-

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fangsquerschnitt S0 errechnet. In Abbildung 6a ist dieses Verfahren anhand der Span-


nung/Extensometer-Dehnung-Kurve demonstriert.
a) b)

ep: vorgegebene plastische Extensometer-Dehnung et: vorgegebene gesamte Extensometer-Dehnung

Abbildung 6: Vorgehen zur Bestimmung der Dehngrenzen Rp und Rt

Die Dehngrenze bei gesamter Extensometer-Dehnung, Rt, ist analog zu dem für Rp beschriebenen
Verfahren durch eine Parallele zur Kraftachse zu bestimmen (siehe Abbildung 6b).
Bei beiden Kennwerten wird der Prozent-Wert der vorgegebenen Extensometer-Dehnung als Index
an das Formelzeichen angefügt: z.B. Rp0,2 oder Rt0,5.
Es ist nicht üblich, Dehngrenzen während oder nach lokalem Fließen zu bestimmen (also wenn es
Streckgrenzen gibt).

5.5.1.3 Bestimmung der Zugfestigkeit Rm


Als die Zugfestigkeit Rm des Werkstoffes wird diejenige Spannung im technischen Spannungs-
Dehnungs-Diagramm bezeichnet, die der Höchstkraft (nach Überschreiten der Streckgrenze)
entspricht.
Abbildung 7 zeigt die Spannung/Extensometer-Dehnung-Kurven zweier Werkstoffe mit Streck-
grenze. Dabei ist die Zugfestigkeit des Werkstoffs in Abbildung 7b) niedriger als die Streckgrenze.

a) b)

Abbildung 7: Bestimmung der Zugfestigkeit an zwei Beispielen von Spannung-Dehnung-Kurven

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5.5.2 Verformungskennwerte
5.5.2.1 Bestimmung der Bruchdehnung A

Die Bruchdehnung ist in EN ISO 6892-1 definiert als die bleibende Verlängerung der Messlänge
nach dem Bruch (Lu – L0), bezogen auf die Anfangsmesslänge L0. Sie wird in Prozent angegeben.
Lu ist die Länge zwischen den Marken zur Kennzeichnung der Messlänge auf der Probe, die nach
dem Bruch gemessen wird. Dazu werden die beiden Bruchstücke der Probe so zusammengelegt,
dass ihre Achsen eine Gerade bilden und die Bruchflächen möglichst gut ineinander passen. Die
Verlängerung (Lu – L0) muss auf 0,25 mm genau bestimmt werden.
Die Bruchdehnung ergibt sich dann zu:
Lu - L0
A  100 %
L0
Das Ergebnis der Bestimmung der Bruchdehnung ist nur dann gültig, wenn der Abstand zwischen
der Bruchstelle und dem Beginn der Messlänge L0 mindestens ein Drittel der Anfangsmesslänge L0
beträgt, oder wenn die Bruchdehnung mindestens den (z.B. in der jeweiligen Werkstoff-Norm) ge-
forderten Wert erreicht.
Bei Verwendung von Dehnungsaufnehmern zur Messung der Verlängerung beim Bruch sind keine
Messmarken erforderlich. Bei der gemessenen Verlängerung handelt es sich um die gesamte Ver-
längerung. Die elastische Verlängerung muss davon subtrahiert werden, um die Bruchdehnung zu
erhalten. Grundsätzlich ist die Messung nur zulässig, wenn der Bruch innerhalb der Extensometer-
Messlänge Le auftritt oder wenn sie mindestens den geforderten Wert erreicht.
Es ist zu beachten, dass das Formelzeichen A für proportionale Proben mit k = 5,65 gilt. Da metal-
lische Zugproben vor dem Bruch fast immer zumindest ein wenig einschnüren und dadurch die lo-
kale Dehnung entlang der Probenlänge nicht konstant ist (im Einschnürbereich ist sie größer), ist
der für die Bruchdehnung ermittelte Wert von der Messlänge abhängig. Deshalb sollte die ver-
wendete Messlänge durch einen Index zum Formelzeichen A gekennzeichnet werden; entweder
durch Angabe des Proportionalitätsfaktors k (falls abweichend von 5,65) oder durch Angabe der
Anfangsmesslänge in mm bei nichtproportionalen Proben. Beispiele sind: A11,3 oder A80mm.

5.5.2.2 Bestimmung der Brucheinschnürung Z


Die Brucheinschnürung Z ist die auf den Anfangsquerschnitt S 0 bezogene größte Änderung des
Querschnitts nach dem Bruch der Probe. Sie wird in Prozent angegeben. Zur Bestimmung der
Brucheinschnürung wird bei Rundproben an der am stärksten eingeschnürten Stelle der Durchmes-
ser in zwei zueinander senkrechten Richtungen gemessen und aus dem Mittelwert du der kleinste
Probenquerschnitt nach dem Bruch Su errechnet.
S0 - Su d2 -d2
Z  100  0 2 u  100 %
S0 d0

5.5.2.3 Weitere Verformungskennwerte


Abbildung 8 zeigt neben der Bruchdehnung A folgende weitere Verformungskennwerte:
Ag plastische Extensometer-Dehnung bei Höchstkraft (auch als Gleichmaßdehnung bezeichnet)
Agt gesamte Extensometer-Dehnung bei Höchstkraft
At gesamte Extensometer-Dehnung beim Bruch

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Laborübung Werkstoffprüfung 1 Zugversuch

Alle Verformungskennwerte sind in % anzugeben.

A Bruchdehnung [mit einem Dehnungsaufneh-


mer oder direkt an der Probe bestimmt]
Ag plastische Extensometer-Dehnung bei
Höchstkraft (früher auch als Gleichmaßdeh-
nung bezeichnet)
Agt gesamte Extensometer-Dehnung bei Höchst-
kraft
At gesamte Extensometer-Dehnung beim Bruch

mE Steigung des elastischen Teils der Span-


nung/Extensometer-Dehnung-Kurve
Δe Plateaubereich (für die Bestimmung von Ag und Agt)

Abbildung 8: Verformungskennwerte

5.5.3 Prüfbericht
Der Prüfbericht muss mindestens folgende Angaben enthalten:
 Hinweis auf die Norm und (in Kurzform) auf die Prüfgeschwindigkeitsregelung und die
Prüfgeschwindigkeit(en)
 Kennzeichnung der Probe
 Werkstoff, falls bekannt
 Art der Probe
 Probenlage und –richtung (im Erzeugnis, z.B. im Blech)
 Regelungsarten des Versuchs und Prüfgeschwindigkeiten
 Prüfergebnisse
Die Prüfergebnisse sollten zur Angabe mit mindestens der folgenden Präzision gerundet werden:
- Festigkeitswerte in Megapascal: auf die nächste ganze Zahl
- Streckgrenzen-Extensometer-Dehnung Ae: auf 0,1 %
- alle anderen Dehnungs- und Extensometer-Dehnungswerte: auf 0,5 %
- Brucheinschnürung Z: auf 1 %

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5.6 Literatur
EN ISO 6892-1: Metallische Werkstoffe – Zugversuch – Teil 1: Prüfverfahren bei Raumtemperatur
B. Heine: Werkstoffprüfung, Carl Hanser Verlag, 2015
W. Seidel, F. Hahn: Werkstofftechnik : Werkstoffe - Eigenschaften - Prüfung – Anwendung, Carl
Hanser Verlag, 2014
H. Blumenauer: Werkstoffprüfung, Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, 1994
Einige weitere Normen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
EN ISO 6892-2: Metallische Werkstoffe – Zugversuch – Teil 2: Prüfverfahren bei erhöhter Tem-
peratur
DIN 50125: Prüfung metallischer Werkstoffe – Zugproben
DIN EN ISO 527-1 bis -5: Kunststoffe – Bestimmung der Zugeigenschaften
DIN EN ISO 4136: Zerstörende Prüfung von Schweißverbindungen an metallischen Werkstoffen -
Querzugversuch
EN ISO 7500-1: Metallische Werkstoffe – Prüfung von Prüfmaschinen für statische einachsige
Beanspruchung – Teil 1: Zug- und Druckprüfmaschinen; Prüfung und Kalibrierung der Kraftmes-
seinrichtungen
EN ISO 9513: Metallische Werkstoffe – Kalibrierung von Längenänderungs-Messeinrichtungen für
die Prüfung mit einachsiger Beanspruchung

5.7 Fragen zur Vorbereitung


1.) Mit welchen Zielstellungen (zu welchem Zweck) werden Zugversuche durchgeführt?
2.) Wodurch ist die Belastung beim Zugversuch charakterisiert, was für ein Spannungszustand
liegt vor?
3.) Erläutern Sie die beim Zugversuch von Metallen auftretenden Verformungsarten!
4.) Erläutern Sie die Größe „E-Modul“!
5.) Was ist eine Versetzung? (siehe Vorlesung)
6.) Welche Rolle spielen Versetzungen bei der Verformung von Metallen?
7.) Wodurch entsteht die Verfestigung bei plastischer Verformung?
8.) Wie wird der Zugversuch durchgeführt und welche Messgrößen werden aufgenommen?
9.) Wovon ist die Anfangsmesslänge L0 abhängig? Was wird mit Hilfe von L0 bestimmt?
10.) Was ist die Extensometer-Messlänge? Wozu wird sie verwendet?
11.) Wie sind Spannungen und Dehnungen definiert? Welche Einheiten haben sie?
12.) Was ist der Unterschied zwischen technischem und wahrem Spannungs-Dehnungs-Diagramm?
13.) Zeichnen Sie ein technisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm für einen Werkstoff mit ausge-
prägter Streckgrenze (bzw. für einen Werkstoff ohne Streckgrenze)!
14.) Erläutern Sie die im Zugversuch ermittelten Kennwerte!

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