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Originalarbeit

Z Gerontol Geriat 2012 · 45:333–338 C. Lucke1 · M. Lucke1 · M. Gogol2 · U. Rademacher3


DOI 10.1007/s00391-012-0331-5 1 Isernhagen
Online publiziert: 28. April 2012 2 Klinik für Geriatrie, Krankenhaus Lindenbrunn, Coppenbrügge
© Springer-Verlag 2012 3 Hannover

Memento mori
Was lehren die alten Abbildungen  
über das Sterben in früheren Zeiten?

Wenn wir uns fragen, was die Menschen Mensch hatte ständig eines frühen, unzei- kann, wenn der Tod kommt, wie ihr hier
im späten und ausgehenden Mittelal- tigen Todes gewärtig zu sein. Steht man seht …)
ter vom Sinn des Lebens und zum Ster- heute – tief bewegt – vor den Fragmen- In dem Talliner (Revaler) Totentanz
ben gedacht haben, sind wir auf das Stu- ten des großartigen Totentanzes in Tal- sieht man den Tod mit dem Papst tanzen,
dium weniger, zumeist handgeschriebe- linn (ehem. Reval), auf dem Menschen mit dem Kaiser, der Kaiserin, dem Kardi-
ner Bücher und gemalter, später auch ers- aller Gesellschaftsschichten – in Lebens- nal (. Abb. 1) und er spricht zu allen:
ter gedruckter Bilder angewiesen. Erst seit größe dargestellt – mit dem Tode tanzen
der Erfindung der Buchdruckkunst in der und dabei ihr Leben verlieren, so kann Zu diesem Tanz rufe ich alle
Mitte des 15. Jahrhunderts vermitteln ers- man sich vorstellen, welchen Eindruck miteinander:
te Bücher einen Einblick in das Denken diese Bilder damals auf den Betrachter Papst, Kaiser und alle Kreaturen,
und Fühlen der Menschen in damaliger gemacht haben. Die beigegebenen Texte arm, reich, groß und klein.
Zeit. Trotz der bald einsetzenden schnel- wurden wohl von den Lesekundigen ver- Tretet hervor, denn jetzt hilft kein
len Verbreitung früher Druckwerke muss lesen: So spricht der Prediger mahnend Trauern!
berücksichtigt werden, dass die meis- von der Kanzel (. Abb. 1): Aber bedenkt zu jeder Zeit,
ten Menschen im ausgehenden 15. Jahr- dass ihr gute Werke mit euch bringt
hundert des Lesens und Schreibens nicht Och redelike creatuer, sy arm ofte ryke, und eure Sünden büßt;
mächtig waren und ihre religiöse Unter- Seer hyr spegel, junck unde olden, denn ihr müsst nach meiner Pfeife
richtung in der Predigt und durch das Be- Unde denket hyr aen ok elderlike, tanzen!
trachten von Bildern in Kirchen oder an Dat sik hyr nemant kann ontholden,
geschützten Außenmauern von Klöstern Wanner de doet kumpt, als gy hyr seen Man erkennt unschwer den mahnenden
und Kirchen erfolgte. … Charakter eines solches Totentanzes, der,
Zwei Gruppen von Ärzten sind heu- (Ach weh, vernunftbegabte Kreatur, seiest in der Kirche aufgestellt, für jeden Men-
te im stationären Bereich besonders mit du arm oder reich, schaut hier den Spie- schen zugänglich war und zu einem Le-
der Betreuung Sterbender konfrontiert, gel, jung und alt, und denkt auch alle da- ben mit guten Werken und zur Buße der
die Onkologen und die Geriater [8, 15]; ran, dass sich hier niemand ausnehmen Sünden riet.
und es ist nur gut, dass die Palliativmedi-
zin sich zunehmend auch um die Betreu-
ung nichtonkologischer Patienten bemüht
und zunehmend auch in den Händen von
Geriatern liegt [4, 7]. Es mag deshalb für
den Geriater reizvoll sein, der Frage nach-
zugehen, wie die Menschen im ausgehen-
den Mittelalter über das Sterben dachten,
zu einer Zeit, als sie in aller Regel in inten-
siver Bindung an das Christentum lebten.
Die ersten Totentänze entstanden um Abb. 1 9 Totentanz in
Tallin (Reval) von Bernt
1350, also ein Jahrhundert vor der Erfin- Notke. Pfarrer, Tod und
dung der Buchdruckkunst. Sie alle mahn- Papst. Entstanden um
ten ein gottgefälliges Leben an, denn der 1500

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Originalarbeit

Und der Maler antwortet:

Hilff einiger Heyland drumb ich dich


bitt/
Dann hie ist keines blybens nit/
So mir der tod min Red wirt stellenn/
Abb. 2 9 Lübecker So bhuet üch Gott, mine lieben
Totentanz (Ausschnitt). Gsellen/.
Papst, Kaiser und der
Tod. Entstanden um
1465 Es ist zu sehen, wie sich der Tod dem Ma-
ler Nikolaus Manuel auf allen Vieren nä-
hert und ihn anspricht. Der junge Maler
scheint bei bester Gesundheit zu sein, ein
baldiges Sterben ist ihm keineswegs anzu-
sehen; trotzdem beugt er sich dem Schick-
sal – „hie ist keines blybens nit“ –, jedes
Feilschen mit dem Tod wäre sinnlos, und
er wendet sich stattdessen an seinen Hei-
land. Auf weiteren Bildern macht der Tod
auch vor dem Bischof nicht halt, ebenso
vor dem Abt; er bittet die junge und die al-
te Frau zum Tanze und hält dabei mal die
Laute, ein andermal die Trommel in sei-
Abb. 3 9 Lübecker To- nen Knochenhänden (. Abb. 5, 6).
tentanz (Ausschnitt).
Jungfrau, Säugling Ein frühes Sterben war damals keines-
und Tod. Entstanden wegs unüblich; Hungersnöte, Kriege, Seu-
um 1465 chen, Tuberkulose und andere Ereignisse
führten zu einer mittleren Lebenserwar-
Tode und nach seiner Pfeife – Papst und tung von etwa 33 Jahren [16].
Kaiser, König, Bischof, Abt, Bürgermeister Mit der Einführung der Buchdruck-
und Arzt, der Wucherer und viele ande- kunst ab der Mitte des 15. Jahrhun-
re, ja sogar die Jungfrau, nur der Säugling derts kam es auch zur Verbreitung ge-
liegt in seinem Bettchen (. Abb. 2, 3). Am druckter Totentänze. Sie gelangten auch
Rande sei erwähnt, dass sowohl der Toten- in die Privathäuser; beispielhaft sei hier
tanz in Lübeck als auch der in Tallin ver- die Graphik von Daniel Hopfer erwähnt
mutlich von Bernt Notke gemalt wurde. (. Abb. 7). Auf den ersten gedruckten
Etwa 50 Jahre später malte Nikolaus Lebenstreppen entdecken wir ebenso den
Manuel in Bern seinen berühmten Toten- Tod mit seinen Pfeilen; wohlgemerkt, er
tanz an der Friedhofsmauer des Prediger- steht nicht bei den Alten, sondern neben
klosters. Er gestaltet ihn in einzelnen Bil- den vor Gesundheit strotzenden Men-
dern, zumeist mit 2 Personen und dem schen in vermeintlicher Lebensmitte [12].
Tod. Diese sind in eindrucksvollen Ko- Mit der Mitte des 15. Jahrhunderts ent-
pien erhalten, die Originale fielen früh- wickelten Buchdruckkunst wurde es nun
zeitig dem verkehrsbedingten Abriss der möglich, die Mahnung für ein gottgefäl-
Abb. 4 8 Berner Totentanz von Nikolaus Ma- Mauern zum Opfer. Der Totentanz be- liges Leben auch in gedruckter Form zu
nuel. Der Tod holt den Maler. Selbstbildnis am stand aus 48 Bildern, die Figuren mögen verbreiten; es galt, sich auf das Lebensen-
Schluss des Totentanzes. (Mit freundl. Genehmi-
etwas weniger als lebensgroß gewesen de und die Kunst des Sterbens vorzube-
gung des Historischen Museums Bern)
sein. Im Schlussbild schleicht der Tod an reiten. Ein Sterbebüchlein mit dem Titel
den jungen Maler heran, das Stundenglas Ars moriendi hat eine für damalige Ver-
Der Lübecker Totentanz, vermutlich auf dem Rücken (. Abb. 4), und spricht: hältnisse weite Verbreitung gefunden
im Jahre 1463 entstanden und nach einer (. Abb. 8). Der Autor und der Künstler,
Pestepidemie vom Rat der Stadt und eini- Manuel aller Wällt Figur/hast gemalet dem wir die Holzschnitte verdanken, sind
gen Patriziern gestiftet, ist im März 1942 an diese Mur/ nicht bekannt [1]. Heute befindet sich ein
einem Bombenangriff zum Opfer gefal- Nun muost stärbenn, da hilft kein Fund/ Exemplar u. a. in der Handschriftenabtei-
len, jedoch in guten Reproduktionen zu bist ouch nicht sicher Minut noch lung der Staatsbibliothek Berlin; wir stan-
sehen [14]. Auch hier tanzen alle mit dem Stund/. den aber auch in Polen in einer ehema-

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Zusammenfassung · Abstract

ligen Privatsammlung vor diesem Buch. Z Gerontol Geriat 2012 · 45:333–338  DOI 10.1007/s00391-012-0331-5


Es besteht aus nur 11 Bildern sowie weni- © Springer-Verlag 2012
gen Textseiten in mittelalterlichem Latein.
C. Lucke · M. Lucke · M. Gogol · U. Rademacher
Schon damals dürften nur wenige in der
Lage gewesen sein, den Text zu studieren. Memento mori. Was lehren die alten Abbildungen
Wer konnte denn lesen und sogar einen über das Sterben in früheren Zeiten?
lateinischen Text? Die Aussage des Werks Zusammenfassung
vermochten die Betrachter trotzdem an- Wenn wir uns ein Bild von der Einstellung an und die Gewissheit, der Tod könne jeder-
hand der beeindruckenden Bilder zu er- der Menschen im 15. Jahrhundert zum The- zeit und unerwartet eintreten. Die ganzseiti-
kennen. ma Sterben machen wollen, sind wir weitge- gen Bilder des sehr frühen Buchs Ars morien-
Das Bändchen enthält fünfmal je- hend auf überliefertes Bildmaterial angewie- di (um 1470) wiesen den Betrachter an, sich
sen, da die Menschen damals zumeist des Le- rechtzeitig auf die Sterbestunde vorzuberei-
weils zwei korrespondierende Bilder so- sens unkundig waren. Von den bedeuten- ten; der Versucher stünde am Bett des Ster-
wie ein abschließendes Schlussbild. Stets den Totentänzen mit ihren lebensgroßen Fi- benden und feilschte mit falschen Verspre-
ist ein Sterbender auf seinem Lager zu se- guren sind in Tallinn (ehem. Reval) nur Teile chungen um die Seele. Es galt, sich darauf
hen. Auf dem ersten Bild ist er jeweils von erhalten; in Lübeck und in Bern sind sie voll- vorzubereiten. Heute ist das Sterben recht
grässlichen Teufeln umringt, die um sei- ständig zerstört, wir kennen sie nur von Ko- unterschiedlich: das Ableben in hohem Al-
pien. Sie zeigen einheitlich, wie der Tod sich ter, nach langem Krankenlager, womöglich
ne Seele feilschen und ihm seine Sünden
alle – den Papst, den Kaiser, den König, die der Apparatemedizin ausgesetzt und einsam,
vorhalten. Auf der korrespondierenden Bürger und sogar das kleine Kind – zum Tan- ohne Unterstützung der Familie. Der Verlust
Abbildung steht tröstend ein Engel dem ze holt, und für niemand gibt es ein „Zurück“. der Bindung an die Religion und innerhalb
Sterbenden bei, weist auf die Vergebung Der Tod griff unerwartet und im „besten Le- der Familie macht das Sterben heute für viele
von Sünden bekannter Personen des Neu- bensalter“ zu, Seuchen und Hungersnöte wa- Menschen so schwer.
en Testaments hin, auf Personen, die zu- ren häufig Gründe für frühes Ableben. Die
großformatigen Totentänze waren – für je-
meist als Heilige, als himmlische Mächte Schlüsselwörter
dermann zugänglich – entweder in den Kir-
hinter dem Bette stehen. chen oder an deren Außenmauern zu se- Tod · Geschichte · Totentanz ·
Die Teufel versuchen den armen Sün- hen; sie mahnten ein gottesfürchtiges Leben Palliativmedizin · Sterbebegleitung
der hinsichtlich seines Glaubens, der
Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung
seiner Situation, seiner Unduldsamkeit, Memento mori. What can be learned from early paintings
seines Strebens nach eitlem Ruhm und and woodcuts about death and dying in former times?
schließlich wegen seiner Habgier in der
Vergangenheit. Imhof beschreibt es so: Abstract
„Teuflische Mächte setzten noch einmal What was the impression on death and dy- timely early death. – A booklet Ars moriendi
ing from people living in the 15th centu- was published about 1470 and taught peo-
alles in Bewegung, um sich seiner Seele
ry? To answer this question written informa- ple how to behave at their hour of death; var-
zu versichern“ [10]. tion is rare on this topic, as few people were ious devils appear at the deathbed haggling
Schauen wir auf die Bilder, wie die able to read at that time, but paintings and for the soul of the dying person. Thereafter an
Versucher den Sterbenden mit der Hoff- early woodcuts may be helpful. Danses ma- angel convinces him to trust in god and to re-
nungslosigkeit seiner Situation ob sei- cabres (Totentänze) could be seen in Tallinn sist those false promises of the devil.
nes Sündenregisters konfrontieren (formerly Reval), Lübeck, Bern and other plac- Nowadays dying is quite different. Usually
es: parts of the original dance macabre still persons die at very old age and are frequent-
(. Abb. 9). Da spricht ein Teufel: „Du exist in Tallinn, but those in Bern and Lübeck ly demented, they die in hospitals, even in in-
hast falsch geschworen“ (periurus es), ein are destroyed; copies however may give a de- tensive care units and possibly without atten-
Zweiter sagt: „Schau auf deine Sünden“ cent impression of their former appearance. dance of family members. They may have suf-
(ecce peccata tua), ein Dritter: „du hast At all these dances macabre the death invites fered for a long time and have spent years in
Unzucht getrieben“ (fornicatus es) und persons for a dance: the pope, the Kaiser, the nursing homes. Today dying may be just a re-
king, the queen, various noblemen and citi- lease from very long suffering.
ein Weiterer: „du hast gemordet“ (occi-
zens, even young women and small children;
disti). Kann es da Vergebung vor Gott ge- to dance with the death meant to die. The Keywords
ben? Eine hoffnungslose Situation. – Da death does not dance with any old person. At Death · History · Dance of death · Palliative
erscheint der Engel (. Abb. 10) und sagt: the time of these dances macabre epidem- medicine · Terminal care
„Du sollst nie verzweifeln“ (nequaquam ics and famines were frequent causes of un-
desperes) und verweist auf St. Peter, der
den Herrn dreimal verleugnete, ehe der
Hahn – auf der Bettkante sitzend – kräh- Sodann versuchen die Teufel den Ster- sagt der eine und zeigt auf die am obe-
te, auf die Sünderin Maria Magdalena so- benden, indem sie auf dessen wirtschaft- ren Bildrand bereits wartenden Erben.
wie auf den Dieb, der erst spät bereute. – liche Erfolge, auf die Habgier in der Ver- Und ein anderer sagt: „Schau, was du er-
Der Teufel verschwindet mit den Wor- gangenheit verweisen, auf Dinge, die ihm arbeitet hast“ (intende thesauro) und ver-
ten:“ Hier gibt es für mich nichts zu holen“ lieb und teuer waren. „Du solltest an dei- weist auf die erwirtschafteten irdischen
(victoria mihi nulla). ne Freunde denken“ (provideas amicis), Güter. „Genieße diese Dinge, anstatt dich

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Originalarbeit

Abb. 6 8 Berner Totentanz. Der Tod und geistliche Würdenträger.


Abb. 5 8 Berner Totentanz. Der Tod und die junge und der ältere Frau. (Mit freundl. Genehmigung des Historischen Museums Bern)
(Mit freundl. Genehmigung des Historischen Museums Bern)

Abb. 7 8Grafik von Daniel Hopfer. Zwei Frauen, von Tod und Teufel über- Abb. 8 8 Ars moriendi. Sterbebüchlein eines unbekannten Autors, Ende des
rascht 15. Jahrhunderts. (Mit freundl. Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin
– Preußischer Kulturbesitz)

mit deiner Sterbestunde zu beschäftigen“ mus), ein Dritter: „Wir haben eine Seele mie, falls sie demenzkrank werden. Wür-
(. Abb. 11). – Und der Engel spricht: verloren“ (animam amissimus). de ein Angehöriger sie zu Haus versorgen
„Denke nicht an deine Freunde“ (ne in- Heute machen sich alte Menschen be- oder müssten sie in ein Pflegeheim zie-
tendas amicis), und dann: „Sei nicht gie- züglich ihres Sterbens offensichtlich an- hen? Würden Rente und Pflegeversiche-
rig“ (non sis avarus). „Lenke deine Gedan- dere Sorgen als im ausgehenden Mittel- rung dafür ausreichen, müsste das Haus
ken auf himmlische Werte, die du gewin- alter. Sie befürchten, die Ärzte könnten verkauft oder der Weg zum Sozialamt an-
nen solltest …“. Der Teufel verschwindet sich nicht an das Patiententestament hal- getreten werden? Wären sie in ihrer Ster-
mit den Worten: „Was soll ich hier tun?“ ten oder sie müssten die letzten Tage ihres bestunde allein, würde es ein langes Ster-
(quid faciam?; (. Abb. 12). Lebens auf einer Intensivstation verbrin- ben sein? Würde überhaupt jemand von
Das Abschlussbild ist eindeutig. Wäh- gen, beatmet oder an der Dialyse. Heiner ihrem Sterben Notiz nehmen? Solche und
rend seine Seele bereits dem Körper ent- Geissler schreibt, die Intensivstation wür- weitere Gedanken verursachen Angst vor
schwebt, spricht der Sterbende zu den de zur Hölle der Einsamkeit, zum Ab- dem Sterben, der Gedanke daran wird
Teufeln: „Für euch gibt es keine Hoff- sturz der Seele ins Nichts, zur Folterkam- verdrängt. Illhardt spricht von dem „ver-
nung“ (spes vobis nulla). Eindrucksvoll mer [6]. Dabei wird nur der Patient inten- drängten Tod“ [9].
erscheint deren Reaktion. Der Erste ant- siv therapiert, der noch eine reelle Chan- Diese Fragen bewegen die alten Men-
wortet: „Ich werd‘ verrückt“ (heu insanio), ce hat, seine Krankheit zu überleben [2]. schen heute; die Frage zum Geschehen
der Zweite: „Wir sind ruiniert“ (confusi su- Die Menschen fürchten um ihre Autono- nach dem Tode beschäftigt hingegen

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Ganz anders die Situation im ausge-
henden Mittelalter: Der Tod trat zumeist
unerwartet auf, ergriff die Menschen oft
im besten Jugendalter [17], häufig im Rah-
men von Seuchen. Auf den Totentanzbil-
dern sieht man ihn nicht mit alten Men-
schen tanzen, er greift sogar nach der
Jungfrau und dem Säugling. Und was sagt
die Jungfrau auf dem Lübecker Totentanz
(. Abb. 3)?

Ich folge, weil ich muß


und tantze, wie ich kann.
Ihr Schwestern, wehlet euch,
bey Zeiten einen Man.
So reichet ihr die Faust
dem Bräutigam im Leben,
die ich dem Tode muß
Abb. 9 8 Die Teufel verweisen auf die Hoff-
doch halb gezwungen geben.
nungslosigkeit in Anbetracht des Todes. (Mit
Abb. 10 8 Rechtfertigung der Hoffnung durch
freundl. Genehmigung der Staatsbibliothek zu
den Engel. (Mit freundl. Genehmigung der Auch der Maler auf dem Berner Totentanz
Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kultur-
besitz)
erscheint bei bester Gesundheit, als sich
der Tod ihm nähert (. Abb. 4). In sei-
nem Alter stirbt man heute sehr selten, am
ehesten durch einen Unfall oder von eige-
ner Hand. Seuchen spielen bei uns kei-
ne Rolle mehr und glücklicherweise auch
Hungersnöte und Kriege nicht.
Der damalige Betrachter wusste, dass
seine Todesstunde jederzeit eintreten
könnte – auf den Totentänzen ist kein
wirklich alter Mensch zu sehen – und dass
er dabei möglicherweise allein sein wür-
de, ohne geistlichen Beistand. Er wusste,
dass der Versucher in dieser Stunde kein
Mittel scheuen würde, sich seiner See-
le zu bemächtigen. Es galt also, auf die-
se Stunde der Anfechtung vorbereitet zu
sein, sie zu bestehen und sich die Aufnah-
me in das Himmelreich zu sichern. Da-
zu sollte das gezeigte Buch helfen. Sich
dem Tode fügen zu müssen, sei ein un-
Abb. 11 8 Versuchung des Teufels, der auf wirt- ausweichlicher Zwang gewesen, dem alle
schaftliche Erfolge im Leben verweist. Habgier. Abb. 12 8 Der Engel spricht: „Lass ab von den Menschen, gleich welchen Standes, unter-
(Mit freundl. Genehmigung der Staatsbibliothek weltlichen Gütern. Sei nicht gierig.“ (Mit freundl. lagen, schreibt Wilhelm-Schaffer; der To-
zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz) der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kul-
turbesitz)
tentanz bedeute ein deutliches Memen-
to mori [17]. Der Totentanz sei als gemal-
te Bußpredigt zu deuten. Da der Tod alle
nur wenige Menschen. Ihre Bindung an langes Leben hinter sich, merken längst, Menschen trifft, die gesamte Gesellschaft
die Kirche ist locker und viele alte Men- wie die Kräfte nachlassen, spüren zuneh- repräsentiert ist, spricht der Totentanz al-
schen gehören keiner Glaubensgemein- mende Hilfsbedürftigkeit und möchten le an [3]. Ungewiss ist nicht der Tod, un-
schaft an. Sie wünschen sich – hochbe- abgerufen werden, ehe körperliche De- gewiss ist nur die Todesstunde.
tagt – ein friedliches Ableben in häusli- fizite und Hilfsbedürftigkeit überhand Die in unserem Beitrag gezeigten Ab-
cher Umgebung, nicht im Krankenhaus, nehmen. Auf das Sterben an sich, auf die bildungen entstanden sämtlich vor mehr
ein möglichst kurzes Krankenlager und Sterbestunde, bereiten sich nur wenige als 500 Jahren, ihre Bedeutung für die da-
keine Schmerzen. Sie haben zumeist ein Menschen vor. malige Zeit haben wir zu schildern ver-

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Originalarbeit

sucht. Haben sie uns auch heute noch et- seelischen Gesundheit zweifellos wenig   8. Hallek M, Voltz R, Lehnert H (2011) Was ist Palliativ-
medizin? Internist 52:5–6
was zu sagen, in einer Zeit, in der es bei zuträglich. Der Engel, der zu dem Ster-   9. Illhardt FJ (1989) Ars moriendi – Hilfe beim Ster-
uns keine Hungersnot mehr gibt, die Seu- benden tritt, hilft ihm, in Frieden und vol- ben. Ein historisches Model. In: Matouschek E
chen besiegt sind und nur die Ältesten ler Zuversicht sein Leben zu beenden. Un- (Hrsg) Arzt und Tod. Verantwortung, Freiheiten
und Zwänge. Schattauer, Stuttgart, S 89–103
unter uns sich an einen Krieg erinnern ser Gesundheits- und Sozialsystem sowie 10. Imhof AE (1991) Ars moriendi. Die Kunst des Ster-
können? der Verlust der sorgenden Familie ver- bens einst und heute. Böhlau, Wien
Sicherlich brauchen wir uns nicht so wehren vielen Sterbenden diese Gebor- 11. Kübler- Ross E (1979) Leben bis wir Abschied neh-
men. Kreuz, Stuttgart
auf die Sterbestunde vorzubereiten, wie genheit und Hilfe; hier mag gegenwärtig 12. Lucke C, Lucke M, Gogol M (2009) Lebenstreppen
es unsere Vorfahren vor 500 Jahren taten. ein Umdenken im Rahmen der Palliativ- – oder wie man den Alternsprozess über die Jahr-
Unsere Kirchen lehren nicht, der Versu- medizin in der Hospizbewegung im Gan- hunderte gesehen hat. Euro J Ger 11:132–140
13. Lucke C, Rademacher U, Lucke M, Gogol M (2010)
cher stünde an unserem Sterbelager und ge sein. „Memento mori“ oder was lehren uns die alten
feilsche um unsere Seele. Die Lebens- Niemand möge glauben, dass das Ster- Abbildungen über das Sterben in früheren Zeiten?
erwartung unserer Bevölkerung steigt ben unter den Bedingungen des 15. Jahr- Z Gerontol Geriatr 43(Suppl.1):87
14. Mantels W (1993) Der Totentanz in der Marienkir-
noch immer, und manchmal sprechen hunderts einfach war [2]. Die angewand- che zu Lübeck. H.G. Rathgens, Lübeck 1866 – Neu-
wir von einer Erlösung, wenn ein Mensch te erlernte Kunst des Sterbens, den teufli- druck. Graphische Werkstätten, Lübeck
schließlich abgerufen wird. Andererseits schen Verführungen zu widerstehen, ge- 15. Müller-Busch HC (2011) Definition und Ziele in der
Palliativmedizin. Internist 52:7–14
stehen wir immer wieder fassungslos am währte dem Sterbenden jedoch die Ge- 16. Pickenhain L, Ries W (1988) Entwicklung und
Grabe junger Menschen, die durch Krebs, wissheit eines besseren Weiterlebens im Grundbegriffe der Gerontologie. In: Pickenhain L,
Aids, Unfall oder womöglich durch Sui- Jenseits, was vielen Menschen damals das Ries W (Hrsg) Das Alter. VEB Bibliographisches Ins-
titut, Leipzig, S 1–17
zid verstorben sind. Wir müssen reali- Sterben erleichtert haben mag. 17. Wilhelm-Schaffer I (2000) „Ir mußet alle in diß
sieren, dass der Tod auch heute noch in dantzhus“. Zu Aussage, Kontext und Interpretation
jedem Alter zuschlagen kann, ein hohes des mittelalterlichen Totentanzes. In: Katalog zur
Korrespondenzadresse Ausstellung „Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tan-
Alter nicht einklagbar ist. Dies sollten wir zen“. Harrassowitz, Wiesbaden, S 9–26
berücksichtigen und dankbar sein, wenn Prof. Dr. C. Lucke
wir bei guter Gesundheit alt werden dür- Hansenhof 3
fen. Andererseits gilt es, dem Patienten, 30916 Isernhagen
der von seinem unabwendbaren Schick-
sal erfahren hat, während der Phasen des Danksagung.  Die Autoren danken dem Historischen
Nicht-wahrhaben-Wollens, des Zorns Museum Bern sowie der Staatsbibliothek Berlin, Preu-
ßischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, herzlich
über sein Schicksal, der Depression und für die Abdruckgenehmigung der Abbildungen.
schließlich bei der Akzeptanz des Unab-
wendbaren beizustehen [9, 11].
Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor
Wir sollten auch realisieren, worauf be- gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interes-
sonders Imhof [10] hingewiesen hat, dass senkonflikt besteht.
man damals zumeist ein kurzes Kranken-
lager hatte, denn Infektionen forderten
ihren Tribut zügig. Heute quälen sich al- Literatur
te Menschen häufig über Jahre mit chro-
nischen Erkrankungen, bis sie schließlich   1. Ars moriendi. Holztafeldruck von ca. 1470. Autor
unbekannt. Staatliche Museen zu Berlin. Preußi-
den großen Schritt geschafft haben. Man scher Kulturbesitz. Handschriften-Abteilung
denke nur an die Komplikationen des   2. Daub D (1989) Sterben im Zeitalter der Apparate-
Diabetes mellitus, an die mit Luftnot rin- medizin. In: Matouschek E (Hrsg) Arzt und Tod. Ver-
antwortung, Freiheiten und Zwänge. Schattauer,
genden Patienten bei unheilbarer Erkran- Stuttgart, S 137–145
kung der Lungen oder die Patienten an   3. Egger F (2000) Der Basler Totentanz. In: Katalog zur
der Dialyse [5]. Wir haben heute nicht die Ausstellung „Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tan-
zen“. Harrassowitz, Wiesbaden, S 43–55
Gewissheit eines besseren Lebens im Jen-   4. Genz H, Jenetzky E, Hauer K et al (2010) Pallia-
seits, wie man es damals hatte, sofern man tive Geriatrie. Wie unterscheiden sich onkologi-
den teuflischen Versuchungen widerstan- sche von nichtonkologischen Palliativpatienten im
Krankenhaus? Z Gerontol Geriatr 43:369–375
den hatte.   5. Gärtner J, Simon St, Voltz R (2011) Palliativmedizin
Bescheidenheit, wie sie der Engel dem und fortgeschrittene, nicht heilbare Erkrankungen.
Sterbenden auf einer hier nicht gezeig- Internist (Berl) 52:20–27
  6. Geissler H (o J) Ökonomische und sozialpolitische
ten Abbildung anrät (sis humilis), ist auch Aspekte der Intensivmedizin. Zitiert nach [2]
in unserer werteorientierten Gesellschaft   7. Hagg-Grün U, Lukas A, Sommer BN et al (2010)
angezeigt. Das ständige Streben nach An- Die Implementierung eines Palliativkonzeptes in
ein geriatrisches Krankenhaus. Z Gerontol Geriatr
erkennung, Glanz, Reichtum, nach Posten 43:362–368
und Macht ist unserer körperlichen und

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