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Memento mori
Was lehren die alten Abbildungen
über das Sterben in früheren Zeiten?
Wenn wir uns fragen, was die Menschen Mensch hatte ständig eines frühen, unzei- kann, wenn der Tod kommt, wie ihr hier
im späten und ausgehenden Mittelal- tigen Todes gewärtig zu sein. Steht man seht …)
ter vom Sinn des Lebens und zum Ster- heute – tief bewegt – vor den Fragmen- In dem Talliner (Revaler) Totentanz
ben gedacht haben, sind wir auf das Stu- ten des großartigen Totentanzes in Tal- sieht man den Tod mit dem Papst tanzen,
dium weniger, zumeist handgeschriebe- linn (ehem. Reval), auf dem Menschen mit dem Kaiser, der Kaiserin, dem Kardi-
ner Bücher und gemalter, später auch ers- aller Gesellschaftsschichten – in Lebens- nal (. Abb. 1) und er spricht zu allen:
ter gedruckter Bilder angewiesen. Erst seit größe dargestellt – mit dem Tode tanzen
der Erfindung der Buchdruckkunst in der und dabei ihr Leben verlieren, so kann Zu diesem Tanz rufe ich alle
Mitte des 15. Jahrhunderts vermitteln ers- man sich vorstellen, welchen Eindruck miteinander:
te Bücher einen Einblick in das Denken diese Bilder damals auf den Betrachter Papst, Kaiser und alle Kreaturen,
und Fühlen der Menschen in damaliger gemacht haben. Die beigegebenen Texte arm, reich, groß und klein.
Zeit. Trotz der bald einsetzenden schnel- wurden wohl von den Lesekundigen ver- Tretet hervor, denn jetzt hilft kein
len Verbreitung früher Druckwerke muss lesen: So spricht der Prediger mahnend Trauern!
berücksichtigt werden, dass die meis- von der Kanzel (. Abb. 1): Aber bedenkt zu jeder Zeit,
ten Menschen im ausgehenden 15. Jahr- dass ihr gute Werke mit euch bringt
hundert des Lesens und Schreibens nicht Och redelike creatuer, sy arm ofte ryke, und eure Sünden büßt;
mächtig waren und ihre religiöse Unter- Seer hyr spegel, junck unde olden, denn ihr müsst nach meiner Pfeife
richtung in der Predigt und durch das Be- Unde denket hyr aen ok elderlike, tanzen!
trachten von Bildern in Kirchen oder an Dat sik hyr nemant kann ontholden,
geschützten Außenmauern von Klöstern Wanner de doet kumpt, als gy hyr seen Man erkennt unschwer den mahnenden
und Kirchen erfolgte. … Charakter eines solches Totentanzes, der,
Zwei Gruppen von Ärzten sind heu- (Ach weh, vernunftbegabte Kreatur, seiest in der Kirche aufgestellt, für jeden Men-
te im stationären Bereich besonders mit du arm oder reich, schaut hier den Spie- schen zugänglich war und zu einem Le-
der Betreuung Sterbender konfrontiert, gel, jung und alt, und denkt auch alle da- ben mit guten Werken und zur Buße der
die Onkologen und die Geriater [8, 15]; ran, dass sich hier niemand ausnehmen Sünden riet.
und es ist nur gut, dass die Palliativmedi-
zin sich zunehmend auch um die Betreu-
ung nichtonkologischer Patienten bemüht
und zunehmend auch in den Händen von
Geriatern liegt [4, 7]. Es mag deshalb für
den Geriater reizvoll sein, der Frage nach-
zugehen, wie die Menschen im ausgehen-
den Mittelalter über das Sterben dachten,
zu einer Zeit, als sie in aller Regel in inten-
siver Bindung an das Christentum lebten.
Die ersten Totentänze entstanden um Abb. 1 9 Totentanz in
Tallin (Reval) von Bernt
1350, also ein Jahrhundert vor der Erfin- Notke. Pfarrer, Tod und
dung der Buchdruckkunst. Sie alle mahn- Papst. Entstanden um
ten ein gottgefälliges Leben an, denn der 1500
Abb. 7 8Grafik von Daniel Hopfer. Zwei Frauen, von Tod und Teufel über- Abb. 8 8 Ars moriendi. Sterbebüchlein eines unbekannten Autors, Ende des
rascht 15. Jahrhunderts. (Mit freundl. Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin
– Preußischer Kulturbesitz)
mit deiner Sterbestunde zu beschäftigen“ mus), ein Dritter: „Wir haben eine Seele mie, falls sie demenzkrank werden. Wür-
(. Abb. 11). – Und der Engel spricht: verloren“ (animam amissimus). de ein Angehöriger sie zu Haus versorgen
„Denke nicht an deine Freunde“ (ne in- Heute machen sich alte Menschen be- oder müssten sie in ein Pflegeheim zie-
tendas amicis), und dann: „Sei nicht gie- züglich ihres Sterbens offensichtlich an- hen? Würden Rente und Pflegeversiche-
rig“ (non sis avarus). „Lenke deine Gedan- dere Sorgen als im ausgehenden Mittel- rung dafür ausreichen, müsste das Haus
ken auf himmlische Werte, die du gewin- alter. Sie befürchten, die Ärzte könnten verkauft oder der Weg zum Sozialamt an-
nen solltest …“. Der Teufel verschwindet sich nicht an das Patiententestament hal- getreten werden? Wären sie in ihrer Ster-
mit den Worten: „Was soll ich hier tun?“ ten oder sie müssten die letzten Tage ihres bestunde allein, würde es ein langes Ster-
(quid faciam?; (. Abb. 12). Lebens auf einer Intensivstation verbrin- ben sein? Würde überhaupt jemand von
Das Abschlussbild ist eindeutig. Wäh- gen, beatmet oder an der Dialyse. Heiner ihrem Sterben Notiz nehmen? Solche und
rend seine Seele bereits dem Körper ent- Geissler schreibt, die Intensivstation wür- weitere Gedanken verursachen Angst vor
schwebt, spricht der Sterbende zu den de zur Hölle der Einsamkeit, zum Ab- dem Sterben, der Gedanke daran wird
Teufeln: „Für euch gibt es keine Hoff- sturz der Seele ins Nichts, zur Folterkam- verdrängt. Illhardt spricht von dem „ver-
nung“ (spes vobis nulla). Eindrucksvoll mer [6]. Dabei wird nur der Patient inten- drängten Tod“ [9].
erscheint deren Reaktion. Der Erste ant- siv therapiert, der noch eine reelle Chan- Diese Fragen bewegen die alten Men-
wortet: „Ich werd‘ verrückt“ (heu insanio), ce hat, seine Krankheit zu überleben [2]. schen heute; die Frage zum Geschehen
der Zweite: „Wir sind ruiniert“ (confusi su- Die Menschen fürchten um ihre Autono- nach dem Tode beschäftigt hingegen
sucht. Haben sie uns auch heute noch et- seelischen Gesundheit zweifellos wenig 8. Hallek M, Voltz R, Lehnert H (2011) Was ist Palliativ-
medizin? Internist 52:5–6
was zu sagen, in einer Zeit, in der es bei zuträglich. Der Engel, der zu dem Ster- 9. Illhardt FJ (1989) Ars moriendi – Hilfe beim Ster-
uns keine Hungersnot mehr gibt, die Seu- benden tritt, hilft ihm, in Frieden und vol- ben. Ein historisches Model. In: Matouschek E
chen besiegt sind und nur die Ältesten ler Zuversicht sein Leben zu beenden. Un- (Hrsg) Arzt und Tod. Verantwortung, Freiheiten
und Zwänge. Schattauer, Stuttgart, S 89–103
unter uns sich an einen Krieg erinnern ser Gesundheits- und Sozialsystem sowie 10. Imhof AE (1991) Ars moriendi. Die Kunst des Ster-
können? der Verlust der sorgenden Familie ver- bens einst und heute. Böhlau, Wien
Sicherlich brauchen wir uns nicht so wehren vielen Sterbenden diese Gebor- 11. Kübler- Ross E (1979) Leben bis wir Abschied neh-
men. Kreuz, Stuttgart
auf die Sterbestunde vorzubereiten, wie genheit und Hilfe; hier mag gegenwärtig 12. Lucke C, Lucke M, Gogol M (2009) Lebenstreppen
es unsere Vorfahren vor 500 Jahren taten. ein Umdenken im Rahmen der Palliativ- – oder wie man den Alternsprozess über die Jahr-
Unsere Kirchen lehren nicht, der Versu- medizin in der Hospizbewegung im Gan- hunderte gesehen hat. Euro J Ger 11:132–140
13. Lucke C, Rademacher U, Lucke M, Gogol M (2010)
cher stünde an unserem Sterbelager und ge sein. „Memento mori“ oder was lehren uns die alten
feilsche um unsere Seele. Die Lebens- Niemand möge glauben, dass das Ster- Abbildungen über das Sterben in früheren Zeiten?
erwartung unserer Bevölkerung steigt ben unter den Bedingungen des 15. Jahr- Z Gerontol Geriatr 43(Suppl.1):87
14. Mantels W (1993) Der Totentanz in der Marienkir-
noch immer, und manchmal sprechen hunderts einfach war [2]. Die angewand- che zu Lübeck. H.G. Rathgens, Lübeck 1866 – Neu-
wir von einer Erlösung, wenn ein Mensch te erlernte Kunst des Sterbens, den teufli- druck. Graphische Werkstätten, Lübeck
schließlich abgerufen wird. Andererseits schen Verführungen zu widerstehen, ge- 15. Müller-Busch HC (2011) Definition und Ziele in der
Palliativmedizin. Internist 52:7–14
stehen wir immer wieder fassungslos am währte dem Sterbenden jedoch die Ge- 16. Pickenhain L, Ries W (1988) Entwicklung und
Grabe junger Menschen, die durch Krebs, wissheit eines besseren Weiterlebens im Grundbegriffe der Gerontologie. In: Pickenhain L,
Aids, Unfall oder womöglich durch Sui- Jenseits, was vielen Menschen damals das Ries W (Hrsg) Das Alter. VEB Bibliographisches Ins-
titut, Leipzig, S 1–17
zid verstorben sind. Wir müssen reali- Sterben erleichtert haben mag. 17. Wilhelm-Schaffer I (2000) „Ir mußet alle in diß
sieren, dass der Tod auch heute noch in dantzhus“. Zu Aussage, Kontext und Interpretation
jedem Alter zuschlagen kann, ein hohes des mittelalterlichen Totentanzes. In: Katalog zur
Korrespondenzadresse Ausstellung „Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tan-
Alter nicht einklagbar ist. Dies sollten wir zen“. Harrassowitz, Wiesbaden, S 9–26
berücksichtigen und dankbar sein, wenn Prof. Dr. C. Lucke
wir bei guter Gesundheit alt werden dür- Hansenhof 3
fen. Andererseits gilt es, dem Patienten, 30916 Isernhagen
der von seinem unabwendbaren Schick-
sal erfahren hat, während der Phasen des Danksagung. Die Autoren danken dem Historischen
Nicht-wahrhaben-Wollens, des Zorns Museum Bern sowie der Staatsbibliothek Berlin, Preu-
ßischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, herzlich
über sein Schicksal, der Depression und für die Abdruckgenehmigung der Abbildungen.
schließlich bei der Akzeptanz des Unab-
wendbaren beizustehen [9, 11].
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
Wir sollten auch realisieren, worauf be- gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interes-
sonders Imhof [10] hingewiesen hat, dass senkonflikt besteht.
man damals zumeist ein kurzes Kranken-
lager hatte, denn Infektionen forderten
ihren Tribut zügig. Heute quälen sich al- Literatur
te Menschen häufig über Jahre mit chro-
nischen Erkrankungen, bis sie schließlich 1. Ars moriendi. Holztafeldruck von ca. 1470. Autor
unbekannt. Staatliche Museen zu Berlin. Preußi-
den großen Schritt geschafft haben. Man scher Kulturbesitz. Handschriften-Abteilung
denke nur an die Komplikationen des 2. Daub D (1989) Sterben im Zeitalter der Apparate-
Diabetes mellitus, an die mit Luftnot rin- medizin. In: Matouschek E (Hrsg) Arzt und Tod. Ver-
antwortung, Freiheiten und Zwänge. Schattauer,
genden Patienten bei unheilbarer Erkran- Stuttgart, S 137–145
kung der Lungen oder die Patienten an 3. Egger F (2000) Der Basler Totentanz. In: Katalog zur
der Dialyse [5]. Wir haben heute nicht die Ausstellung „Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tan-
zen“. Harrassowitz, Wiesbaden, S 43–55
Gewissheit eines besseren Lebens im Jen- 4. Genz H, Jenetzky E, Hauer K et al (2010) Pallia-
seits, wie man es damals hatte, sofern man tive Geriatrie. Wie unterscheiden sich onkologi-
den teuflischen Versuchungen widerstan- sche von nichtonkologischen Palliativpatienten im
Krankenhaus? Z Gerontol Geriatr 43:369–375
den hatte. 5. Gärtner J, Simon St, Voltz R (2011) Palliativmedizin
Bescheidenheit, wie sie der Engel dem und fortgeschrittene, nicht heilbare Erkrankungen.
Sterbenden auf einer hier nicht gezeig- Internist (Berl) 52:20–27
6. Geissler H (o J) Ökonomische und sozialpolitische
ten Abbildung anrät (sis humilis), ist auch Aspekte der Intensivmedizin. Zitiert nach [2]
in unserer werteorientierten Gesellschaft 7. Hagg-Grün U, Lukas A, Sommer BN et al (2010)
angezeigt. Das ständige Streben nach An- Die Implementierung eines Palliativkonzeptes in
ein geriatrisches Krankenhaus. Z Gerontol Geriatr
erkennung, Glanz, Reichtum, nach Posten 43:362–368
und Macht ist unserer körperlichen und