Jakob Gleim
https://ssrn.com/abstract=3297068
Abstract
Die Frage, wie das Zivilrecht auf Verstöße gegen gesetzliche Verbote reagieren soll, quälte und quält
Richter und Rechtswissenschaftler dies- und jenseits des Ärmelkanals. Mit Patel v Mirza hat der Sup-
reme Court des Vereinigten Königreichs das englische Recht der illegality einer Kernsanierung unter-
zogen und dabei, wie häufig bei solchen Renovierungen, vom ursprünglichen Gebäude kaum etwas
stehen gelassen.
In dieser Entscheidungsbesprechung wird zunächst die geschichtliche Entwicklung der illegality-
Doktrin im englischen Recht skizziert (unter 2.), um sodann die Entscheidung des Supreme Court
darzustellen (unter 3.). In den folgenden beiden Abschnitten wird das deutsche Recht dargestellt
(unter 4.) und die Lösung des Supreme Court im Vergleich dazu kritisch gewürdigt (unter 5.).
This article is published in the Max Planck Private Law Research Paper Series with the permission of the rights owner,
Kluwer Law International. As printed in: European Review of Private Law 26 (2018), 227–244.
The Max Planck Private Law Research Paper Series (editors: Prof. Holger Fleischer, Prof. Reinhard Zimmermann) is
an accepted paper series providing recent full text articles authored by scholars of the Max Planck Institute for
Comparative and International Private Law. Papers cover topics on foreign, European and international private law
including commercial law, business law and procedural law as well as comparative legal history and the foundations
for comparative law and legal harmonization. All papers in this series can be accessed at:
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European Review of Private Law 2-2018 [227–244] © 2018 Kluwer Law International BV, The Netherlands.
Jakob GLEIM**
1. EINLEITUNG
1. Die Frage, wie das Zivilrecht auf Verstöße gegen gesetzliche Verbote reagieren soll,
quälte und quält Richter und Rechtswissenschaftler dies- und jenseits des Ärmelkanals.
Mit Patel v Mirza hat der Supreme Court des Vereinigten Königreichs das englische1
Recht der illegality einer Kernsanierung unterzogen und dabei, wie häufig bei solchen
Renovierungen, vom ursprünglichen Gebäude kaum etwas stehen gelassen.2
In dieser Entscheidungsbesprechung wird zunächst die geschichtliche
Entwicklung der illegality-Doktrin im englischen Recht skizziert (unter 2.), um
sodann die Entscheidung des Supreme Court darzustellen (unter 3.). In den fol-
genden beiden Abschnitten wird das deutsche Recht dargestellt (unter 4.) und die
Lösung des Supreme Court im Vergleich dazu kritisch gewürdigt (unter 5.).
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The objection, that a contract is immoral or illegal […], sounds at all times very
ill in the mouth of the defendant. It is not for his sake, however, that the
objection is ever allowed; but it is founded in general principles of policy […].
The principle of public policy is this; ex dolo malo non oritur actio. No court will
lend its aid to a man who founds his cause of action upon an immoral or illegal
act. […] [W]here both are equally in fault; potior est conditio defendentis.6
Hier finden sich bereits drei wesentliche topoi, die die englische Diskussion bis
heute prägen: Erstens das Unbehagen dabei, dass dem ebenfalls nicht rechtstreuen
Beklagten möglicherweise ein unverdienter Vorteil in den Schoß fällt („sounds […]
very ill in the mouth of the defendant“); zweitens der Verweis auf „principles of
policy“; und drittens die beiden angeführten lateinischen Rechtssätze.
4. Die beiden lateinischen Formeln werden in England meistens etwas anders formu-
liert als bei Lord Mansfield, nämlich als ex turpi causa non oritur actio und als in pari
delicto, potior est conditio defendentis. Die erste Maxime, nach der aus einer verbotenen
oder sittenwidrigen Sache keine Ansprüche entstehen, gleicht in etwa §§ 134, 138 BGB:
Diese bewirken durch die Nichtigkeitsfolge, dass aus einem gesetzes- oder sittenwidri-
gen Geschäft keine positiven Ansprüche abgeleitet werden können. Im Unterschied zum
deutschen Recht, das nur Rechtsgeschäfte nichtig sein lässt, kann die englische ex turpi
causa-Regel grundsätzlich auch deliktische Ansprüche vernichten und hat daher einen
deutlich weiteren Anwendungsbereich.7 Die zweite Maxime, nach der von zwei
gleichermaßen verwerflich handelnden Parteien der Beklagte gegenüber dem Kläger
im Vorteil ist, entspricht den Wirkungen des § 817 Satz 2 BGB.
Bei der Entwicklung des englischen Rechts haben diese beiden vermeintlich
klaren Maximen vor allem für Verwirrung gesorgt.8 Wie unklar und letztlich
unbefriedigend sich das englische Recht in den mehr als 200 Jahren seit
Holman v Johnson entwickelt hat, lässt sich exemplarisch an den Urteilen Tinsley
v Milligan und Collier v Collier verdeutlichen:
5. Tinsley v Milligan9 war das letzte große Urteil des House of Lords vor Patel v
Mirza zur Rückabwicklung verbotswidriger Transaktionen. Tinsley und Milligan
6 High Court (King’s Bench), [1775] 1. Cowp. (Cowper’s King’s Bench Reports) 341, 343.
7 Vgl. z.B. UKSC, Urt. v. 30. Juli 2014, Hounga v Allen, www.bailii.org/uk/cases/UKSC/2014/47.
html (statutory tort); EWCA, Urt. v. 21. Dezember 2010, Safeway Stores v Twigger, www.bailii.
org/ew/cases/EWCA/Civ/2010/1472.html (Geschäftsleiterhaftung); E. LIM, ‘Ex Turpi Causa:
Reformation not Revolution’, 80. MLR (Modern Law Review) 2017, 927.
8 Patel v Mirza (Fn. 3), Rn. 95 f. per Lord Toulson.
9 UKHL, Urt. v. 24. Juni 1993, www.bailii.org/uk/cases/UKHL/1993/3.html.
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6. In Collier v Collier hatte ein Vater seiner Tochter einen Londoner Nachtclub
übertragen, um diesen vor dem Zugriff seiner Gläubiger in Sicherheit zu bringen.11
Als es dem Vater finanziell besserging, verlangte er den Nachtclub zurück. Der Court
of Appeal war an Tinsley gebunden und musste daher die Klage des Vaters abweisen.
Denn im englischen Recht gilt die presumption of advancement, nach der vermutetet
wird, dass Zuwendungen im Eltern-Kind-Verhältnis aus Freigiebigkeit erfolgen und
daher grundsätzlich nicht zurückgefordert werden können.12 Um diese Vermutung zu
erschüttern, hätte der Vater die Motive für die Übertragung auf die Tochter offenlegen
und sich damit auf die Gesetzwidrigkeit seines Tuns stützen müssen.
10 Zum resulting trust als Folge der Investition mehrerer in einen Vermögensgegenstand G. THOMAS &
A. HUDSON, The Law of Trusts (Oxford: Oxford University Press, 2. Aufl. 2010), Rn. 26.01 ff.
11 EWCA, Urt. v. 30. Juli 2012, www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2002/1095.html. Sachverhalt
hier stark vereinfacht. Tatsächlich ging es um zwei verschiedene Grundstücke in London, die
zuerst an die Tochter vermietet und dann von ihr in Ausübung einer option erworben wurden.
Für die hier interessierende Frage der reliance spielt dies keine Rolle.
12 Hierzu G. THOMAS & A. HUDSON, The Law of Trusts, Rn. 26.87 f.
13 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 110 per Lord Toulson, Rn. 200 per Lord Mance und Rn. 237 per Lord
Sumption. Lord Sumption will allerdings einen reliance-Test beibehalten, um zu bestimmen, wann
ein Anspruch ex turpi causa erwächst, dabei soll es aber nicht auf die prozessuale
Beweislastverteilung ankommen: aaO., Rn. 239. Kritisch zum reliance-Test und der presumption
of advancement B. HÄCKER, ‘The Impact of Illegality and Immorality on Contract and Restitution
from a Civilian Angle’, in S. Green & A. Bogg (Hrsg.), Illegality after Patel v Mirza (Oxford:
Bloomsbury/Hart Publishing 2018), S. 329, 330.
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14 Siehe auch LAW COMMISSION, The Illegality Defence – A Cosultative Report, Consultation Paper No 189,
Rn. 7.69 und The Illegality Defence, Law Com No 320, Rn. 3.24.
15 UK Supreme Court, Urt. v. 22. April 2015, Bilta (UK) Ltd v Nazir (No 2), www.bailii.org/uk/
cases/UKSC/2015/23.html, Rn. 15.
16 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 266 per Lord Sumption.
17 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 11 per Lord Toulson und Rn. 163 per Lord Neuberger; siehe auch
M. LEHMANN, ZEuP 2017, 712, 726.
18 EWHC, Urt. v. 5. Juli 2013, www.bailii.org/ew/cases/EWHC/Ch/2013/1892.html, Rn. 43 per
Donaldson QC; EWCA, Urt. v. 29. Juli 2014 (Fn. 4), Rn. 44 f. per Rimer LJ und Rn. 65 ff. per
Gloster LJ.
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[…] necessary a) to consider the underlying purpose of the prohibition which has
been transgressed and whether that purpose will be enhanced by denial of the
claim, b) to consider any other relevant public policy on which the denial of the
claim may have an impact and c) to consider whether denial of the claim would
be a proportionate response to the illegality, bearing in mind that punishment is
a matter for the criminal courts.19
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Das Gegenmodell zur „open and unsettled range of factors“ sieht er insbesondere
in einer Neukonturierung des locus poenitentiae31: Diese dogmatische Figur sei
durch falsches Moralisieren zu sehr verengt worden, führe aber (richtig verstanden)
zum korrekten Ergebnis, nämlich: „it restores the position to what it would and
should have been, without any illegality.“32
Solange eine solche Rückkehr zum status quo ante noch möglich ist, soll den
Parteien die rescission ihres verbotswidrigen Vertrages und die entsprechende
Rückabwicklung offenstehen33 – so auch im konkreten Fall. Ansonsten aber soll
es beim vorherigen Rechtsstand bleiben; insbesondere dabei, dass es niemals ein
positives enforcement eines verbotswidrigen Vertrages geben könne.34
26 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 146 per Lord Neuberger. In besonderen Fällen können freilich
Ausnahmen zur „Rule“ nötig werden: Rn. 161 f.
27 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 146 ff. per Lord Neuberger.
28 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 167 ff. per Lord Neuberger.
29 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 170 f. per Lord Neuberger.
30 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 192 per Lord Mance.
31 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 193 ff. per Lord Mance.
32 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 202 per Lord Mance.
33 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 197 per Lord Mance.
34 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 204 ff. per Lord Mance.
35 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 210 per Lord Clarke und Rn. 245 ff. per Lord Sumption.
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19. Kommt man zum Ergebnis, dass ein Verbotsgesetz vorliegt, ist in einem
zweiten Schritt zu prüfen, ob der Verstoß gegen das Verbotsgesetz die Nichtigkeit
36 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 212, 217 per Lord Clarke und Rn. 265 per Lord Sumption.
37 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 265 per Lord Sumption: „a mess“.
38 Zum Betrug „unter Gaunern“ siehe z.B. aus strafrechtlicher Sicht BGH, Beschl. v. 12. März 2002,
3 StR 4/02, NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 2002, 2117 und aus zivilrechtlicher Sicht BGH,
Urt. v. 9. Oktober 1991, VIII ZR 19/91, NJW 1992, 310, 311.
39 R. BORK, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Aufl. 2016),
Rn. 1091 ff. Kritisch zur Leistungsfähigkeit dieser Unterscheidung H. H. SEILER, ‘Über verbotswi-
drige Rechtsgeschäfte (§ 134 BGB)’, in P. Selmer & I. v. Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für
Wolfgang Martens (Berlin, New York: de Gruyter 1987), S. 719, 726 ff.
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234
44 Statt aller K. LARENZ & C.-W. CANARIS, Lehrbuch des Schuldrechts Band II/2 (München: Beck,
13. Aufl. 1994), S. 162.
45 H. SPRAU, in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 817 BGB Rn. 12 mit Nachweisen zur
Rechtsprechung. Ausf. L. KLÖHN, ‘Die Kondiktionssperre gem. § 817 S. 2 BGB beim beidseitigen
Gesetzes- und Sittenverstoß’, 210. AcP (Archiv für die civilistische Praxis) 2010, 804, 809 ff.
46 BGH, Urt. v. 29. April 1968, VII ZR 9/66, 50. BGHZ (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in
Zivilsachen), 90, 92.
47 H. SPRAU, in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 817 BGB Rn. 17; M. SCHWAB, in: F. J. Säcker et al.
(Hrsg.). Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Band 6 (München: Beck, 7. Aufl.
2017), § 817 BGB Rn. 86; L. KLÖHN, 210. AcP 2010, 804, 836.
48 Vgl. A. BURROWS, A Restatement of the English Law of Contract, S. 229: „(b) whether the party
seeking enforcement knew of, or intendend, the conduct“.
49 EWCA, Urt. v. 29. Juli 2014, Patel v Mirza, www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2014/1047.
html, Rn. 71 per Gloster LJ.
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26. Alle neun Richter des Supreme Court sind in Patel v Mirza zu dem Ergebnis
gekommen, dass die Rückgewähr des gezahlten Geldes die Kohärenz der
Rechtsordnung nicht in Gefahr bringt, sondern ihr eher dient, weil so alle
Parteien zum status quo ante vor Eingehung des verbotenen Geschäfts
zurückgelangen.56 Der Ansatz des deutschen Rechts ist ein anderer: Es genügt
50 Zur teleologischen Reduktion allgemein R. BORK, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs,
Rn. 142.
51 Für weitere Beispiele siehe H. SPRAU, in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 817 BGB Rn. 18 mit
weiteren Nachweisen.
52 L. KLÖHN, 210. AcP 2010, 804, 813 f.
53 BGH, Urt. v. 10. Oktober 2005, Az. III ZR 72/05, NJW 2006, 45, 46; BGH, Urt. v. 13. März 2008,
Az. III ZR 181/07, NJW 2006, 1942.
54 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 108 f. per Lord Toulson.
55 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 192 per Lord Mance.
56 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 121 per Lord Toulson, Rn. 143 per Lord Kerr, Rn. 163 per Lord
Neuberger; Rn. 203 per Lord Mance; Rn. 210 per Lord Clarke; Rn. 268 per Lord Sumption.
Siehe auch N. STRAUSS, ‘The Deminishing Power of the Defendant: Illegality after Patel v Mirza’,
24. RLR (Restitution Law Review) 2016, 145, 148.
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5. VERGLEICHENDE BEWERTUNG
29. Obwohl Patel also auch nach deutschem Recht „seine“ 620.000 Pfund von
Mirza zurückfordern könnte, unterscheidet sich der Lösungsweg des deutschen
Rechts nicht unerheblich vom englischen Recht nach Patel v Mirza, und zwar
sowohl nach der Mehrheitsmeinung im Supreme Court als auch nach den abwei-
chenden Meinungen. Dies gibt Anlass zu vier vergleichend-bewertenden
Beobachtungen.
63 Der BGH spricht in seinem Urt. v. 10. Oktober 1996, III ZR 205/95, NJW 1997, 47, 48 allerdings
von „einer angemessenen Risikoverteilung unter den Parteien des nichtigen Auftrags- bzw.
Geschäftsbesorgungsvertrags“.
64 Zur Verhältnismäßigkeit bzw. disproportionality als Kriterium bei der Anwendung von § 817 Satz 2
BGB und der englischen illegality-Doktrin siehe einerseits C. WENDEHORST, in H. G. Bamberger &
H. Roth (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar (42. Edition 2017), § 817 BGB Rn. 20 und
andererseits Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 107 per Lord Toulson.
65 Vgl. auch J. SUMPTION, ‘Reflections on the Law of Illegality’, 20. RLR (Restitution Law Review)
2012, 1, 2: „[ . . . ] distaste for the consequences of applying its own rules“.
66 Supreme Court of Canada, Urt. v. 29. April 1993, Hall v Herbert, 2. S.C.R. (Supreme Court
Reports) 1993, 159, 169. In diesem Fall ging es um die Auswirkungen der illegality-Doktrin auf
deliktische Ansprüche: Der Beklagte hatte den Kläger überredet, den PKW des Beklagten zu
lenken, obwohl der Kläger betrunken war. Natürlich wurde der Kläger dabei verletzt und verlangte
nun Schadensersatz vom Beklagten. Es wäre in der Tat drakonisch, dem Kläger sämtliche
Ersatzansprüche abzusprechen, nur weil er im Zuge einer strafrechtlich verbotenen
Trunkenheitsfahrt verletzt wurde. Für das deutsche Recht stellt sich die Frage nicht, weil § 134
BGB nur Rechtsgeschäfte erfasst und keine deliktischen Ansprüche.
67 K. LARENZ & C.-W. CANARIS, Lehrbuch des Schuldrechts Band II/2, S. 164.
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31. In der Tat besteht ein Bedürfnis danach, Ausnahmen zur Totalnichtigkeit verbots-
widriger Rechtsgeschäfte und zum Rückforderungsausschluss zuzulassen. Evidente
Fälle sind solche, in denen die Kohärenz der Rechtsordnung stärker gefährdet ist,
wenn die Regeln streng angewandt werden, als wenn Ausnahmen zugelassen werden.
Das deutsche Beispiel der „Schenkkreise“ wurde bereits dargestellt. Den englischen
Gerichten haben z.B. illegale Arbeitsverhältnisse Kopfzerbrechen bereitet wie in
Hounga v Allen.69 Hounga wurde von Allen als Kindermädchen beschäftigt, obwohl
sie keine Arbeitserlaubnis hatte. Während der Beschäftigungszeit wurde sie wiederholt
von Allen misshandelt und schließlich fristlos entlassen. Der Supreme Court hatte
zu entscheiden, ob ihr trotz ihres illegalen Arbeitsverhältnisses ein
Schadensersatzanspruch wegen unlawful discrimination zusteht. Das Gericht entschied
für Hounga und argumentierte unter anderem mit der integrity of the legal system:
68 Bis 2013 konnte der Unternehmer für das „schwarz“ (also vor allem unter Hinterziehung der
Umsatzsteuer) erstellte Werk nach §§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB Wertersatz
verlangen (BGH, Urt. v. 31. Mai 1990, VII ZR 336/89, 111. BGHZ 308 ff.), während dem
Besteller nach § 242 BGB Gewährleistungsrechte zustanden (BGH, Urt. v. 24. April 2008, VII
ZR 42/07, 176. BGHZ 198 ff.). Nunmehr hat der Besteller keinerlei Gewährleistungsrechte (BGH,
Urt. v. 1. August 2013, VII ZR 6/13, 198. BGHZ 141 ff.), der Unternehmer kann keinen
Wertersatz für ein erstelltes Werk verlangen (BGH, Urt. v. 10. April 2014, VII ZR 241/13, 201.
BGHZ 1 ff.) und der Besteller kann vorgeleistete Beträge auch bei Mangelhaftigkeit des Werks
nicht zurückverlangen (BGH, Urt. v. 11. Juni 2015, VII ZR 2016/14, 206. BGHZ 69 ff.). Diese
Rechtsfolgen treten auch dann ein, wenn die Parteien nachträglich eine „Ohne-Rechnung-Abrede“
schließen (BGH, Urt. v. 16. März 2017, VII ZR 197/16, NJW 2017, 1808 ff.). Zu den
Schwarzarbeiterfällen siehe auch B. HÄCKER, ‘The Impact of Illegality and Immorality on
Contract and Restitution from a Civilian Angle’, Illegality after Patel v Mirza, S. 329, 362 f.
69 UKSC, Urt. v. 30. Juli 2014, www.bailii.org/uk/cases/UKSC/2014/47.html.
70 UKSC, Urt. v. 30. Juli 2014, www.bailii.org/uk/cases/UKSC/2014/47.html, Rn. 44 per Lord
Wilson.
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33. Lord Mance, Lord Clarke und Lord Sumption kritisieren an der
Mehrheitsmeinung in Patel v Mirza, dass der range of factors approach nicht
dieselbe Rechtssicherheit biete wie ein rule-based approach.73 Dieser Kritik ist
zuzustimmen:74 Das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ist in der Tat das
Hauptargument für ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Zwar ist nicht von der Hand
zu weisen, dass die Vielzahl der Ausnahmen in Deutschland ebenfalls nicht leicht
zu durchschauen ist. Dennoch bewirkt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ein höheres
Maß an Rechtssicherheit,75 weil es zumindest die Argumentationslast klar verteilt:
Ein Rechtssuchender, der sich auf eine Ausnahme beruft, weiß, dass er in der
strukturell schwächeren Position ist. Ebenso weiß ein Richter, der sich vom
Vorliegen einer Ausnahme nicht recht überzeugen kann, wie im Zweifel zu
entscheiden ist.
34. Mit einem gewissen Maß an Optimismus lässt sich sogar hoffen, dass ein
Regel-Ausnahme-Verhältnis geeignet ist, bessere – im Sinne von besser
begründete – Entscheidungen hervorzubringen. Regel und Ausnahme geben
eine gedankliche und argumentative Struktur vor, die offenzulegen zwingt, was
man womit begründen will. Diese Struktur sorgt zugleich dafür, dass
Entscheidungsgründe eher nachvollzogen und mit anderen Entscheidungen ver-
glichen werden können. Das erleichtert nicht zuletzt die Arbeit des
Rechtsmittelgerichts erheblich. Auch wenn Lord Toulson darauf besteht, dass
240
36. Ein Beispiel für eine solche Figur ist die Einteilung in Verbotsgesetze und
bloße Ordnungsvorschriften in einem ersten Schritt und die daran anschließende
Frage, ob der Verstoß gegen das Verbotsgesetz die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts
bewirkt.78 Zwar ist die Rechtsprechung insofern schwer vorhersehbar,79 aber
zumindest betrifft eine einmal erfolgte gerichtliche Entscheidung das Gesetz selbst
und ist damit auf künftige Fälle übertragbar. Nach dem neuen englischen range of
factors approach scheint es hingegen so, dass der Verstoß gegen ein und dasselbe
Verbot mal zur Nichtigkeit führen kann und mal nicht, je nach Vorliegen weiterer
Faktoren.
Diese Einteilung nach Vorschriften selbst ist auch ein geeigneter Weg, um
mit der stetig größer werdenden Zahl an gesetzlichen Regelungen fertig zu werden.
In Deutschland und in England ist beklagt worden, dass die moderne
„Durchregulierung“ aller erdenklichen Lebensbereiche zugleich zu einer
übermäßigen Ausdehnung der illegality-Doktrin bzw. des Anwendungsbereichs
von § 134 BGB geführt habe.80 Bei genauer Betrachtung stellen sich viele dieser
241
38. Will man sich damit nicht zufrieden geben, muss man sich mit der ratio des
§ 817 Satz 2 BGB auseinandersetzen. Diese wird heute überwiegend in der
Rechtsschutzverweigerung gesehen: Derjenige, der die Rechtsordnung missachtet,
darf nicht auf den Schutz der Rechtsordnung hoffen.82 Richtigerweise ist auch die
Rechtsschutzverweigerung kein Zweck in sich,83 sondern bezweckt zweierlei:
Verhaltenssteuerung und konsequente Umsetzung gesetzgeberischer
Wertentscheidungen bei (teil-)ausgeführten nichtigen Verträgen.
39. Die Verhaltenssteuerung erfolgt, indem § 817 Satz 2 BGB die risikolose
Hingabe von Vermögensgegenständen zu verbotenen oder sittenwidrigen
Zwecken verhindert. Genau eine solche risikolose „Wette“ ermöglicht hingegen
379, 391 f.; DERS., ‘Über verbotswidrige Rechtsgeschäfte (§ 134 BGB)’, Gedächtnisschrift für
Wolfgang Martens, S. 719, 725 und 730.
81 H. H. SEILER, ‘§ 817 S. 2 BGB und das römische Recht’, Festschrift für Wilhelm Felgentraeger, 379,
391 f. N. VOSSLER, in B. Gsell et al. (Hrsg.), beck-online.GROSSKOMMENTAR (Stand 15. Mai
2017), § 134 BGB Rn. 11 will daher die Vermutung der Nichtigkeitsfolge beim Verstoß gegen ein
Verbotsgesetz ganz aufgeben.
82 Z.B. BGH, Urt. v. 19. April 1961, VI ZR 217/60, 35. BGHZ 103, 107; weitere Nachweise bei
L. KLÖHN, 210. AcP 2010, 804, 816 f.
83 L. KLÖHN, 210. AcP 2010, 804, 816; LARENZ/CANARIS, Lehrbuch des Schuldrechts Band II/2, S. 162;
J. PRÖLSS, ‘Der Einwand der „unclean hands“ im Bürgerlichen Recht sowie im Wettbewerbs- und
Warenzeichenrecht’, 132. ZHR (Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht)
1969, 35, 43.
242
6. FAZIT
41. Das englische Recht der illegality bedurfte allein schon wegen der zufälligen
und widersprüchlichen Ergebnisse, die der reliance-Test produzierte, einer
Neuausrichtung. Das Ergebnis, zu dem der Supreme Court in Patel v Mirza
mehrheitlich gelangt ist, überzeugt allerdings nicht88: Die Aufgabe eines rule-
based approach zu Gunsten eines range of factors approach ist nicht geeignet,
der früheren Rechtsunsicherheit abzuhelfen, sondern wird diese eher noch
verstärken. Das deutsche Recht bietet demgegenüber mit §§ 134, 817 Satz 2
84 M. LEHMANN, ZEuP 2017, 712, 724; vgl. zur risikolosen Wette auch G. WAGNER, ‘Prävention und
Verhaltenssteuerung im Privatrecht’, 206. AcP 2006, 352, 366 f.
85 Patel v Mirza (Fn. 3) Rn. 167 ff. per Lord Neuberger und Rn. 198 per Lord Mance.
86 Vgl. L. KLÖHN, 210. AcP 2010, 804, 819 unter dem Gesichtspunkt der Schonung von
Justizressourcen.
87 Vgl. N. STRAUSS, 24. RLR 2016, 145, 151 der es für „absurd“ hielte, wenn der Beklagte einen
Verlust, der durch den verbotenen Vertrag eingetreten ist, nicht abziehen dürfte.
88 So auch M. LEHMANN, ZEuP 2017, 712, 728.
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