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DENKEN UND DICHTEN DES SEINS

HEIDEGGER • RILKE
ELSE BUDDEBERG

DENKEN UND DICHTEN


DES SEINS

Heidegger · Rilke

J. B. METZLERSCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
ISBN 978-3-476-99342-7
ISBN 978-3-476-99341-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-99341-0

© 1956 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1956
VORWORT

Ist es möglich, einen Denker und einen Dichter aufzuzeigen: am glei-


chen Ort der Zeit, beide in derselben Notwendigkeit, getrieben viel-
leicht vom Geheimnis des Seins selbst, um Antwort zu geben auf ewig
alte Fragen, die neu gefragt, ein Ereignis des Seins selbst sind?
Es ist das Anliegen dieser Arbeit aufzuzeigen, wie ein Denker und
ein Dichter dasselbe such.en. Mit ihren in sich unterschiedenen Mitteln
stellen sie die Frage nach dem Sein: der Eine aus dem Aspekt des Den-
kens, der Andere aus dem Streben nach dichterischer Gestaltgebung.
Keineswegs besteht die Absicht, Rilkes Werk auf die Existenzial-Onto-
logie Heideggers >zurückzuführen<. Das was die Existenzial-Analyse zu
bieten hat, sind formal erfaßte Zusammenhänge; deren Sinn ist es, den
strukturalen Aufbau, die »Ermöglichung« von Existenz darzutun. Die
Ergebnisse des Heidegger'schen Denkens bieten keine Methode zur
Interpretation von Dichtung und werden auch hier nicht zu einer sol-
chen umgebogen. Vielmehr sollen an zwei Exponenten der denkeri-
schen und dichterischen Situation unserer Zeit seinsgeschichtlich ge-
gründete Gemeinsamkeiten aufgewiesen werden. In die Strukturen der
Heidegger'schen Existenzialität gehen aus dem gänzlich unmethodi-
schen »Einsehen« Rilkes ganz konkrete Gestimmtheiten, Gefühle,
Ängste ein und füllen die von Heidegger aufgewiesenen >>Existenzia-
lien« mit den Inhalten eines gelebten Lebens, denen im Werk Gestalt
gegeben wurde. So gelingt es, mit den denkerischen Ergebnissen eines
bedeutsamen, rein strukturalen und gewolltermaßen >leen bleibenden
Seinsverständnisses denkerisch irrexplizit gebliebene Voraussetzungen
bei dem Dichter zu durchleuchten. Die Existenzial-Ontologie Heideg-
gers erweist sich- ganz entgegen dem oft gehörten Einwand - als un-
gemein aufschlußgebendes und scharf geschliffenes Instrument zur Er-
fassung konkreter Lebenstatsachen und ihrer Zurückführung auf den
Grund philosophischen Fragens. Wenn also hier gleichsam auf zwei pa-
rallelen Linien >Strukturen< und >Gehalte< mit einander in Beziehung
gesetzt werden, so liegt doch jedes Bestreben fern, diese imaginären Li-
nien gewaltsam zur Deckung zu bringen. Neben den Gemeinsamkeiten
werden UnterschiedenbeiteD sowohl im Fragen wie im Antworten sehr
deutlich gemacht. Der beiderseitige Ausgangspunkt: die Erschütterung
durch die Seinsferne des modernen Menschen - und das Ziel: die Er-
möglichung einer näheren Nähe zum Sein, das ist der Boden, von dem
aus diese Arbeit ihre Gesichtspunkte setzt.
INHALT

Transzendieren und Oberschreiten 9


Seinsverständnis. Verstehen 31
Einsehen· »Möglichkeit« 32
Befindlichkeit
47
Die Angst
55
Die Sorge 67
Sorge. Fünfte Elegie 69
Wünschen und Wollen (Heidegger) 73
Vierte Elegie (Rilke). Sorge (Heidegger). Armsein (Rilke) 75
Der »Auftrag« (Rilke) 86
Das Gewissen 88
Ausweitung des Begriffes nSinn von Seim 95
Schuldig-sein. Das Nicht und das Nichts 98
Der Tod 111

Die Sonette des Orpheus 134


Ermöglichen · Verwandeln. 136
Das Nicht und das Nichts
Rilkes existenzielle Dialektik. 153
Heideggers Ablehnung jeder Form von Dialektik
Heideggers Ekstase nZukunft«. 153
Rilkes Zeitmodus nGegenwart«
Die Seinsvergessenheit 153
l'engagement de l'Etre 153
Das Wesen des Menschen 153
- physis als Iogos
nZur Seinsfrage« 153
Literaturverzeichnis 153
211
TRANSZENDIEREN UND ÜBERSCHREITEN

Um uns unserem Thema zu nähern, wählen wir für die einführende


Betrachtung diese zwei Begriffe ))Transzendieren« und )) Überschrei-
ten«; sie haben für Heidegger und Rilke in gewissen Grenzen einen
synonymen Gebrauch. Unmittelbar führen sie uns zu einem zentralen
Punkt im Weltverhältnis von Denker und Dichter. Von dieser Mitte
wäre je ein Kreis zu beschreiben, der eine Reihe von Entsprechungen
deckte; und wiederum von diesem aus ließe sich ein ersterUmriß des
beiderseitigen Existenzverständnisses gewinnen. Das, was auf die be-
schriebene Weise zu erreichen ist, hat dann im weiteren und eingehen-
deren Verlauf der Arbeit einer schärferen Gegenüberstellung zu unter-
liegen; eine etwaige Korrektur gewisser, scheinbar voreilig gewonne-
ner Schlüsse kann erst dann möglich werden, wenn eine deutliche Ab-
grenzung erreicht ist.
In der Analyse von ))Welt«, ))Umwelt«, ))Weltlichkeit« als Versuch
eines Begreifens von Dasein = In-der-Welt-sein stößt Heidegger auf
das Wort ))die Dinge«. Er merkt an, daß dieses 'Vort als selbstverständ-
lich bereitliegende Antwort immer dann gegeben werde, wenn man
nach dem zunächst begegnenden Seienden fragt, mit dem das Dasein
als In-der-Welt-sein zu tun hat. Die Bezeichnung dieses zunächst Ge-
gebenen als ))die Dinge« wird als eine unausdrücklich vorgreifende on-
tologische Charakterisienmg abgelehnt, auf deren Begründung hier
noch nicht einzugehen ist. Ein anderes Wort wird vorgeschlagen im
Rückblick auf das, was die Griechen ))pragmata« nannten, d. h. das,
womit man es zu tun hat (Praxis). In der Übersetzung ))das Zeug«
wird es als dieses begegnende Seiende erkannt, das unserem sorgend-
besorgenden Umgang mit Welt immer schon an die Hand gegeben ist
(Schreibzeug, Nähzeug, Schuhzeug). Das Zeug ist nie ein einzelnes (Fe-
derhalter), sondern immer nur Zeug in einem gewissen Zeugzusam-
menhang (Federhalter = Schreibzeug mit Papier und Tmte). Es begeg-
net als ein Ganzes, nämlich als ein ))Um-zu«; in diesem Fall als das
llUm-zu«-schreiben.
Rilke spricht in den frühen Pariser Briefen gefühlig von ))den Din-
gen« unseres täglichen Gebrauchs. Sie leben mit uns, weil wir ohne sie
nicht leben können; sie sind nur in unserem Umgang mit ihnen. Bei Ril-
ke besteht unter dem gefühlsbetonten Wort ))die Dinge« dieses selbe

9
»Um-zu« eines konstitutiven Zusammenhangs von Leben und Um-
welt. Mit der Findung des Wortes »Zeug« durch Heidegger wird dieser
Zusammenhang auf die nüchternste und unmittelbar einleuchtende
Ebene einer sachlichen Analyse gestellt. Wenn also von Heidegger die-
ses Lieblingswort Rilkes - gewiß nicht in Hinsicht auf den Dichter -
zurückgewiesen wird, so ist über der Verschiedenheit der Bezeichnung
aus einer völlig anders gerichteten Absicht nicht zu verkennen, daß eine
durchaus ähnliche Bezogenheit des Menschen zum zunächst begegnen-
den Seienden ausgedrückt werden will. Das, was Rilke schweifend, ge-
fühlsbetont und umschreibend aussagt, wird von Heidegger in einen
scharfen, den ganzen weiteren Fortgang seines Denkens tragenden ech-
ten terminus eingefangen. Er will das Sein dieses »Dinges« = >>Zeug«
in seinem Bezug auf uns, ebenso wie das Sein des Daseins in Bezug auf
diese »Dinge« = »Zeug« begründen. Auch dieses »Zeug« hat kein an-
deres Sein als eben dieses, worin es dienlich ist: nDer je auf das Zeug
zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zei-
gen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erlaßt ... (das Ding)
als das, was es ist, als >Zeug<« (S. u. Z. S. 69). Das Hämmern selbst ent-
deckt die spezifische Handlichkeit des Hammers. Die Seinsart von Zeug
wird »Zuhandenheit« genannt. So wenig hier von »einer Seele der
Dinge«, insbesondere der »schönen alten Dinge«, von ihrer »Verlas-
senheit« im modernen beziehungslosen Leben gesprochen wird, so ent-
hüllen sich diese Dinge im kühlen Licht der Heidegger'schen Betrach-
tung als genau dasselbe, was Rilke gefühlig meinte, nur eben in einer
anderen Betonung und in der Ausrichtung auf eine begriffliche Erfas-
sung und Begründung.
Rilkes Verhältnis zu den Dingen spricht sich eindringlich in den Brie-
fen der ersten Pariser Zeit aus; sie entstammen der Periode seiner eng-
sten Nähe zum Bildhauer Rodin. In überströmender Bewunderung geht
Rilke dieser großen Persönlichkeit auch in ihren täglichen Gewohnhei-
ten nach; beglückt verzeichnet er die Ausdrücke der Ergriffenheit, mit
der Rodin immer wieder ndie Dinge« anstaunt. Denn diese Haltung
entspricht völlig Rilkes eigener immer schon geübten Hinneigung zu
den Dingen. Man hat dem, was Rilke in diesen rein erlebnismäßigen
Zusammenhängen hierzu sagt, schon sehr genau zuzuhören, um unter
der starken Emotionalität die Linie zu verfolgen, auf der das Verhält-
nis zu den Dingen als eine Grundlegung in die Weltsicht des späten
Rilke einmündet. Diese Linie wird einmal gebraucht werden, um die
metaphysische Begründung seines Weltbildes zu stützen. Das, was das
Ding schon für den Rilke der Pariser Zeit bedeutet, weitet und festigt
sich zu einem unentbehrlichen Element seiner Auffassung von Sein und

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Dasein in der siebenten und neunten Elegie. Der Ausgangspunkt bleibt:
»die Dingecc sind nicht ein Etwas, das in einer gleichgültigen Vorhan-
denheit einfach >dac ist. Die Belegung der begegnenden Gegenstände
mit dem von Rilke eingesetzten Wort »Dingcc setzt vielmehr immer
schon voraus, daß der Mensch sich überschreitet, -besser noch, daß er
sich immer schon überschritten hat. In der unlöslichen Verbindung zu
den erfaßten Dingen baut er seine Welt auf. Es geschieht in einer so
engen Bezogenheit zueinander, daß weder Dasein noch Welt sein könn-
te, wenn es nicht wäre aus dem konstituierenden Bezug von Mensch und
Ding. Der Bezug des Daseins zu den Dingen ist ein wechselseitiger;
denn auch die Dinge haben von sich aus ihren Bezug zu Dasein. Ihre
»Dingwerdungcc durch den Menschen ist erst da vollendet, wo in und
durch den Menschen hindurch das verborgene, gleichsam noch nicht
erweckte Leben der Dinge sich voll entfalten kann. Ein Zusammen-
hang, in dem der Mensch steht, in den er sich stellt, in dem er erst, so
sich stellend, auch darin steht, deutet sich unmißverständlich in diesen
frühen brieflichen Äußerungen an. Trotz aller Unklarheit des ver-
schwommen gefühligen Ausdrucks läßt sich erkennen: hier ist eine
existenzielle Erfahrung vollzogen, die sich in ihrem» Erlebnisce-Gehalt
mitzuteilen sucht und hie und da die Linie der einfachen Mitteilung ver-
suchend und ahnend überspielt. Noch wird keinerlei Ansatz unternom-
men, diese vom Gefühl umfaßten Erlebnisse in einen existenzbegrün-
denden Zusammenhang - und das würde heißen, in einen »existen-
zialencc- hineinzustellen. Und doch sind es diese Dinge für Rilke, aus
denen »Weltcc und unser In-der-Welt-sein sich konstituiert. In der
Rilke'schen Sprache ist das so ausgedrückt, daß die Dinge etwas von uns
»wollencc. Sie sprechen uns an, sie zielen auf uns; ohne sie sind wir
nicht wirklich, und sie selbst sind nur in unserem uns-Überschreiten
auf sie zu. Im reifsten Ausdruck dieses umfassenden Bezuges, in dem
Mensch und Ding sich befinden, wird ein Seinszusammenhang einsich-
tig werden. Schon in der ersten Elegie aus dem Jahre I 9 I 2 heißt es: »Ja,
die Frühlinge brauchten dich wohl ... cc (Man hat dabei zu beachten,
daß Rilke jedes begegnende Seiende »Dingcc nennt; allerdings nur
dann, wenn die Begegnung auch wirklich vollzogen wird oder aber
darauf hingewiesen wird, daß sie vollzogen werden müßte.) Beidseitige
Intentionalität von Ding und Mensch und Mensch und Ding ereignet
sich schon in der alltäglichen Erfahrung. Es besteht ein eigentümlicher
Wirkungszusammenhang von Ding und Mensch; er vollzieht sich nicht
in der Weise eines starren Gegenüber. Hier ist genau wie bei Heidegger
keine pure Vorhandenheit gemeint, auf deren immer schon gegebener
Grundlage eine Subjekt-Objekt-Relation willentlich erst zu errichten

II
wäre. Sondern von vornherein ist ein schöpferisches Zueinander von
Ding und Mensch gegeben. Es ist als »schöpferisch« darum anzuspre-
chen, weil dieses Zu-einander ein >Mehn ist gegenüber den beiden
>Partnern< Ding und Mensch. In diesem >Mehr< ist der eine Partner als
das konstitutive Moment für den anderen nicht ohne den anderen für
den einen anzusehen; beide haben ihr Sein nur in diesem >Zusammen<.
In der Bezeichnung »Zeug« = pragmata für die Dinge des täglichen
Umgangs ist ohne weiteres deutlich, daß auch Heidegger nicht von ih-
rer an und für sich seienden Vorhandenheit ausgeht. Dem, was das
Sein dieser Dinge ausmacht, können wir nicht dadurch näher kommen,
daß wir sie zunächst einmal in einer vermeintlichen Objektivität gänz-
lich beziehungslos zu uns beschreiben: »Das schärfste Nur-noch-hin-
sehen auf das so und so beschaffene >Aussehen< von Dingen vermag Zu-
handenes nicht zu entdecken« (S. u. Z. S. 69). Die Zuhandenheit aber
ist der Punkt des Absprungs, aus dem das »Um-zu« in seiner konstitu-
tiven Bedeutung für »Welt« entdeckt wird. Welt insgesamt wiederum
konstituiert Dasein als ln-der-Welt-sein; Welt und Dasein sind nicht
ohne einander. Das Zeug ist also die erste sich bietende Handhabe, ge-
nommen aus der Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins, um den Schleier
zu heben, der über dem liegt, was Sein von Dasein ist. Zunächst sind
wir im Umgang mit Zeug. Aus verwandtem Antrieb fragt Rilke: »Wann
aber sind wir?« Naturgemäß geschieht es ohne jede scharfe Begrifflich-
keit wie noch überhaupt ohne eine systematische Absicht ähnlicher Art.
Was ihn aber aus einem vorontologischen Seinsverständnis heraus be-
wegt und was bei ihm zum mindesten im Versuch des Einsehen-Wol-
lens oder auch nur in der lyrischen Klage explizit geworden ist, das ist
genau das Seihe, wenn auch nicht das Gleiche: die Dinge haben ihr Sein
nur in uns und wir nur mit ihnen, ohne daß wir wüßten, was Sein
überhaupt eigentlich ist. Mit dem Stellen der Frage: Worin liegt unser
Sein? wird das Bewußtsein für das Sein der Dinge geschärft und die
Frage nach dem Sein in das klare Licht des Denkens gehoben. Eine aus-
gezeichnete explizite und explizierende Möglichkeit zum Verständms
dessen vorzudringen, worin immer schon das alltägliche Dasein in sei-
nem Sein sich versteht, ergibt sich aus der aufgewiesenen Zuhandenheit
von Zeug. Gewiß ist auch das zunächst nur ein Ausschnitt aus dem trans-
zendierenden Wesen des Menschen genauso, wie es ein Ausschnitt ist,
was Rilke im gefühligen Umgang mit den Dingen erfährt. Heidegger
aber bietet mit seinem Begriff »Zeug« die mannigfachsten Möglichkei-
ten zu einer existenzialen Grundlegung. Mit einer Anpassung dieser so
zu gewinnenden Strukturmomente an die verschiedenen Schichten von
Dasein ist der ganze Umfang des Daseins selbst zu umfassen. Rilke und

12
Heidegger sind dabei von einem gleichen Grundgedanken geführt.
Das geläufige Abdrängen des Begegnenden in eine leere Vorhandenheit
übersieht einen wesentlichen Bezug zwischen Welt und Dasein. Wie
sehr verschiedenartig der Weg auch ist, der von einem beiderseitig fast
identischen Ausgangspunkt genommen wurde, so handelte es sich doch
zunächst in beiden Fällen darum, einem existenziell erfahrenen funk-
tionellen Zusammenhang nachzugehen. Er bleibt bei Rilke seiner Struk-
tur nach unklar, so lebendig er auch erfühlt worden sein mag; er mün-
det unter Überschlagung des Grundes dieses Zusammenhangs in eine
besondere metaphysische Sicht des menschlichen Daseins. Heidegger
hingegen stößt sich vom Boden einer gleichen, vielleicht in sich etwas
anders getönten Erfahrung ab, um in einem erst zu schaffenden und
dann von ihm auch wirklich geschaffenen Ganzen existenzialer Struk-
turen die ontologische Sicht seines Denkweges weiter zu begründen;
denn der Nachweis des Strukturzusammenhanges ist nicht Selbstzweck.
»Wozu« ist etwas zuhanden? Das mit dem Handwerkszeug herzu-
stellende neue Zeug (z. B. der Schuh) führt in einen weiter greifenden
Zusammenhang. Der Schuh, nun selbst ein dienliches Zeug, schließt
dienend einen ganzen Verweisungszusammenhang auf. Über seine Trä-
gerio - vielleicht eine Bäuerin - führt er über den Bauernhof und
seine Umwelt hinaus in Feld und Wald und Wiese und Dorf und Frucht
und Vieh, in das Ganze der Landschaft und eines Volksganzen. Was
dann Denker und Dichter wieder eint, die auf so ungleichen Wegen
vorwärts schreiten, ist die erstaunliche Tatsache, daß dieses so nüchtern
in seiner Zweckmäßigkeit analysierte Zeug über seine Dienlichkeit
hinweg, ja recht eigentlich krafi seiner Dienlichkeit, zum Gegenstand
künstlerischer Aussage werden kann. Heidegger vergegenwärtigt uns
das bekannte Gemälde van Goghs, das nichts als ein Paar Bauernschuhe
zeigt (»Ursprung des Kunstwerks« in Holzwege, S. 22). In die geho-
bene Sprache der Heidegger'schen Beschreibung dieses Kunstwerkes
fügen sich zwanglos die in »Sein und Zeit« aus rein denkerischer Ab-
sicht gefundenen Worte und Wortverbindungen ein: Zeug, Zeugzu-
sammenhang, Zeugganzes. Mit der Kraft des Eindringens und des Auf-
bauens eines Verweisungsganzen sind diese seihen Worte gleichsam
wieder abgelesen aus dem Gemälde van Goghs; mit ihrer Hilfe wird
ausgesprochen, was das Bild aussagen wollte. Der Maler malte nichts
als dieses Paar Schuhe. Aber in ihrer sachlich-malerischen Darstellung
schließt sich dem Betrachter die ganze bäuerliche Welt auf, in der sie
dienen. Der Denker aber findet ein Paar Bauernschuhe, dargestellt in
einem vollkommenen Gemälde, als nicht zu gering, um mit ihnen die
»Wahrheit« einer ganzen Welt zu eröffnen. Gewiß tritt in dem Bild

IJ
zunächst nur die U nverborgenheit dieses Seienden ins Licht, als das
ein Paar Bauernschuhe ist: ihre »Wahrheit«. Aber gerade dieses, daß es
vom Maler in die Unverborgenheit gestellt werden konnte, wurde nur
dadurch möglich, daß es in seiner Dienlichkeit als Zeug enthüllt ist. Es
ist die Kunst des Malers, die in der schlichten Darstellung der Bauern-
schuhe eine ganze Welt in ihrer Wesenhaftigkeit erblicken läßt. - In
der neunten Elegie Rilkes, weit ab von der Gefühligkeit der frühen
Briefe den Dingen gegenüber, »zeigt« der Mensch der Elegien dem En-
gel den »Seiler in Rom« und den »Töpfer am Nil«. Deren Tun stellt
einfache Gebrauchsdinge her, »Zeug« also im Sinne Heideggers. Es ge-
schieht unter Benutzung des handwerklichen »Zeugganzen«, das zu
dieser Tätigkeit erforderlich ist. Diese Tätigkeit ist ein urtümliches Ver-
fahren, das die Frühzeiten menschlicher Kultur mit unserer Gegenwart
verknüpft; denn auch heute noch wird es verschiedentlich geübt. Das
»Weisen« und »Zeigen« des Töpfers und Seilers in ihrem Handwerk
durch den Menschen an den Engel meint ein Aussagen der Dinge in
ihrer Wesenhaftigkeit. Der Dichter rückt sie durch das eindringliche
Wort in die Unverborgenheit. Eine ganze Welt, fast versunken schon,
leuchtet auf, und in ihr lebt der Mensch, der sich noch empfindet als in
einem wesenhaften Zusammenhang stehend. Diesen Zusammenhang
stiftet er in seinem handwerklichen Tun am Ding immer wieder neu.
In das Anschauen des Engels gehoben, ist diese Ding und Mensch um-
fassende Welt nach der Meinung der Dichtung in die Gesichertheit des
Dauerns gestellt. Ein Verweisungsganzes - hier nicht wie im Bilde der
Bauernschuhe eine räumliche Umwelt, sondern ein Ganzes in der Er-
streckung durch die Zeiten hindurch- ist deutlich geworden. In beiden
Kunstwerken »hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt«
(Holzwege, S. 28).
In seinem im Jahre 1950 gehaltenen Vortrag »Das Ding« (Vortr.
S. 163 ff.) wendet sich Heidegger noch einmal eigens dem »Ding« zu.
Die existenzial-ontologische Grundlegung von »Sein und Zeit« wird
nicht mehr berührt; aber unmißverständlich, wenn auch stillschv.'ei-
gend, ist sie mitgedacht. Die bohrend-begrifflich-nüchterne Betrach-
tungsweise ist zurückgetreten. Das »Zeug« ist zum Rilke'schen »Dingcc
geworden und wird aus einem dem Dichter verwandten Aspekt be-
trachtet: dem der Nähe. Wissen wir überhaupt heute noch davon, was
dieses Wort in sich schließt?- wir Heutigen, die wir immer nur dar-
um bemüht sind, Entfernungen zu überwinden? So nah wie möglich
suchen wir in Rundfunk, Film-Großaufnahme und Fernsehen den
Ereignissen und Gegenständen auf den Leib zu rücken. Bringen wir sie
damit uns wirklich nahe? Ja, ist nur das, mit dem wir täglich um-

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gehen, das was wir die Dinge nennen, in unserer eigentlichen Nähe?
»Der Mensch hat bisher das Ding so wenig bedacht wie die Nähe«
(Vortr. S. 164). Was der Mensch mit dem Überwinden der großen
Entfernungen erreicht hat, »ist dieses Gleichförmige, worin alles weder
fern noch nah, gleichsam ohne Abstand ist«- es ist die leere Vorhan-
denheit, die das Näher-kommen, das Erfassen der Dinge in ihrem
Sein ausschließt.
Heidegger wählt den Krug um zu zeigen, wie ein Ding in einem
handwerklichen Tun entsteht. Einer wissenschaftlich-technischen Be-
trachtung wird diese Darstellung erscheinen, als fange sie am ver-
kehrten Ende an, -nämlich da, wo »die Leere« des Kruges im »Fassen«
seines Inhaltes ein- und ausschenkt. Aber einem aufgerufenen Ver-
ständnis zu dem, worin der Krug sein Sein hat, wird so die Möglich-
keit der Näherung an sein Wesen angeboten, aus dem er eben Krug
ist. Das Fassen von Wasser und \Vein zum Trunk für die Sterblichen
oder zur Spende des Gusses an die unsterblichen Götter stellt dieses
Ding und den Menschen, der es fertigt, sowie den Menschen, dem es
dient, in einen übergreifenden Bezug1 •
Dieser Krug ist dasselbe Ding - ein !arisches Ding -, das in Rilkes
Dichtung so oft erscheint. Für Rilke, der dem Engel den Töpfer am
Nil weist, wird in dessen urtümlichem handwerklichen Tun ein Mensch
erkennbar, der auf eine gestalthafte Weise Dinge herstellt. Gestalt-
haft meint: in die Dinge sind alle die Bezüge, von denen Heidegger in
seinem Vortrag spricht, mit eingestaltet.
Heidegger zeichnet mit dem Wasser der Quelle, mit dem Wein der
Sonnen-genährten Rebe, im fassenden, schenkenden Krug, mit dem
Trunk für die Sterblichen und dem Guß für die Unsterblichen »das
Geviert« von Erde und Himmel, von Irdischem und Göttlichem.
»Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. « In ihrer »Einfalt
zu einander« sind diese Vier »einander zugetraut« (Vortr. S. I 72 ). Im
Sich-ereignen dieses Zueinander des Gevierts geschieht das Dasein des
Menschen in der Weise, daß in es sowohl Irdisches wie Göttliches
eingebunden ist. Das, was der Mensch, gespeist aus diesen mannig-
fachen Bezügen, tut - unter anderem auch das Herstellen und Ge-
brauchen des Kruges -, das ist, wenn er es recht tut, »ein Versammeln«
1 nim Wasser des Geschenkes weilt die Quelle. In der Quelle weilt das Gestein, in

ihm der dunkle Schlummer der Erde, die Regen und Tau des Himmels empfängt. Im
Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde. Sie weilt im Wein, den
die Frucht des Rebstocks gibt, in der das Nährende der Erde und die Sonne des Him-
mels einander zugetraut sind. Im Geschenk von Wasser, im Geschenk von Wein wei-
len jeweils Himmel und Erde. Das Geschenk des Gusses aber ist das Krughafte des
Kruges. Im Wesen des Kruges weilen Erde und Himmel« (Vortr. S. 170 f.).

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der vier Ströme des Gevierts. Und so faßt Heidegger das Wesen des
Kruges als »dieses vielfältige einfältige Versammeln« in das »Ding«, im
Rückgriff auf ein althochdeutsches Wort: Ding = thing = versammeln.
Geführt von der alten Frage nach dem Wesen des Seienden, be-
fragt Heidegger die Synonyma zu Ding in den anderen Sprachen nach
ihrer Fähigkeit, Nähe zum Sein zu spiegeln. Das Ding, der Krug steht
in Stellvertretung zur Vielfalt der Dinge, zum ganzen Umkreis von
»Welt« und weist auf den metaphysischen Ort des Menschen im Ge-
viert. Das Preisen und Zeigen der Dinge an den Engel in den Duineser
Elegien vollzieht dasselbe aus einer ganz verwandten Haltung. Nur
was der Mensch in inniger Hinneigung zu dem Wesenhaften in den
Dingen sich in sein bewahrendes Herz eingesenkt hat, kann sie in ihrem
Sein spiegeln. Nur das kann der Mensch dem Engel »zeigen«, die-
sem Engel, der einmal »Spiegel« geheißen wird. Das gültige Wort
ist für Heidegger wie für Rilke2 ausgezeichnetes Medium, in dem
das Spiegelspiel von Welt durch den Menschen hindurch sich ereignet
(Vortr. S. 178).
Der Mensch der siebenten und neunten Elegie, der Mensch, der die
Bezüge des Gevierts auf sich zieht, steht »im ganzen, im reinen Bezug«
(Rilke). Er weiß deshalb um die andere Seite des Daseins, um den
Tod, als diese »Möglichkeit«, die nur er »ermöglicht« (Vortr. S. 177).
Dieser Mensch ist, bei dem Denker und bei dem Dichter, ein sich-
Übersteigende r; er ist vielmehr einer, der immer schon überstiegen
hat (»apriorisches Perfekt«, S. u. Z. S. 85). Er hat sich überstiegen hin
zu »Welt«, einer Welt, in der auch der Tod eine bejahte Stelle ge-
funden hat. Der Krug ist !arisches Ding, das heißt Ding, das im be-
sonderen noch den Bezug zu den Gewesenen, zu den Toten mit sich
auszudrücken vermag. Und wie Rilke im VI. der Sonette an Orpheus,
erster Teil, den vom Leben zum Tode und wieder zum Leben zurück-
kehrenden Orpheus die magischen Dinge »Fingerring, Spange und
Krug«, »sei es aus Gräbern, sei es aus Zimmern«, rühmen läßt, so
nennt Heidegger unter den Dingen, die den »Ring« von Sein und
Nicht, von Welt und Tod fügen, immer wieder den Krug. Noch ein-
mal und ausdrücklich steht dieses Wort, der Krug, am Ende des Vor-
trages, im »Spiel« mit dem Wort »ring-gering«, neben der Spange
und dem magischen Spiegel.
Allein die Liebe vermag es, aus gleichgültigen Gegenständen einer
leeren Vorhandenheit Dinge- und aus ihnen dann »Kunstdinge« -
werden zu lassen. Diese Vorstellung ist getragen von Rilkes Grund-

2 Rilke: »Da stehen wir mit Spiegeln: •.. und fangen auf."

16
begriff des Verwandelns. Heidegger zitiert Meister Eckhart, der das
Wort »dinc« sowohl für Gott als auch für die Seele braucht: »diu
minne ist der natur, daz si den menschen wandelt in die dinc, die er
minnet« (Vortr. S. 175). Nicht nur spricht sich das spontane Sein zu
den Dingen, gefaßt in das Wort Liebe, in der vagen gefühligen Sprache
der frühen Pariser Briefe Rilkes aus. Der unmittelbar auf die sich an-
kündigende Vollendung der Elegien gerichtete Rilke des Jahres 1921
schreibt einer Malerin: »Sie müssen ein Ding, auf daß es zu Ihnen
spricht, während einer gewissen Zeit als das einzige nehmen, das exi-
stiert, als die einzige Erscheinung, die durch Ihre arbeitsame und aus-
schließliche Liebe sich in den Mittelpunkt des Universums gestellt fin-
det und der an jenem unvergleichlichen Platz an jedem Tage die Engel
dienen«. 3 In diesem seihen Brief nennt Rilke die von ihm geschaffene
Figur, den Malte Laurids Brigge, als denjenigen, der immer wieder ihn,
seinen Dichter »auffordert, alle Dinge, die ich gestalten will, mit allen
Fähigkeiten meiner Liebe zu lieben«. Der Fortgang des Briefes macht es
deutlich, daß hiermit die schöpferische Liebe gemeint ist, aus der Kunst
hervorgeht. Nur sie kann eine Erscheinung J>in den Mittelpunkt des
Universums« stellen- in das »Geviert«, in dessen Bezügen der Mensch
stehen muß, wenn er sich selbst und den Dingen Gehalt geben will.
So nimmt also Rilkes Vollzug des Überschreitens, beginnend mit
seiner Hinneigung zu den Dingen, von Anfang an die direkte Richtung
auf das, was er die »Kunstdinge« nennt. Aus dem Verständnis des Rilke-
schen Verhältnisses zu den Dingen ist diese Namengebung des Kunst-
werks nicht mehr befremdlich; sie weist hin auf den gemeinsamen
Wurzelgrund von Dingwerdung und Kunstwerdung. Schon in den
ersten Pariser Briefen im Zusammenhang mit der Schilderung Rodins
und seiner Beziehung zu den Dingen taucht das Wort »Schönheit« auf.
Es geschieht ganz selbstverständlich und ohne Reflektion auf eine hier
anzusetzende Begrifflichkeit. Schönheit ist überall für den, der sie recht
versteht; und er versteht sie dann, wenn er auf das Leben der Dinge
achtet (Br. o2/o6, S. 33). Rodin, der das immerfort übt, ist ein Künstler.
Als Künstler ist er bei den Dingen, die ihm das »Wichtigste« sind, zu
denen er, wie es heißt, sich »aufreißt« (Br. o2/o6, S. uo). Das Sich-
Übersteigen hin zu den Dingen überschreitet sich dann weiter auf das
Schaffen von Kunst. Auch für Heidegger besteht »Welt« nicht nur im
Bezug zu Zuhandenem; Dasein transzendiert sich auch noch über dieses
Zuhandene hinaus. Seine Beschreibung des van Gogh'schen Gemäldes
3 (Br. 2ri26, S. 17 f.) Wenn Rilke in seiner späteren Zeit von den Engeln spricht,
so ist darin mitgedacht der Engel der Duineser Elegien als absolute Gestalt, die vor
dem Menschen errichtet ist als Forderung auf Gestalthaftigkeit überhaupt.

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läßt es im vorhinein schon verstehen. Von den Dingen lernt der Künst-
ler »als ein Nachahmer von Schönheiten«. So vage Rilke zunächst das
Wort noch gebraucht, es gewinnt sofort an Schärfe. »Die schönen
Dinge zu bauen«- diese Fähigkeit erwarb Rodin dadurch, daß es ))ihm
gegeben war, die Dinge zu sehen«. Und er sah sie »in dieser großen
Gerechtigkeit«, in einem »vor keinem Namen schwankenden Gleich-
gewicht der Welt gegenüber«. Schon in diesem frühen Brief leuchtet
also die Einsicht auf, daß Schönheit nicht einfach das sei, was ein wei-
ches Wohlgefallen auslöst. »Gerechtigkeit« - Härte also, die »kein
Ungewisses<< bestehen läßt, muß das Kunstding der »Unklarheit ent-
rücken«, es »von allen Zufällen« fortnehmen. Einsicht in eine ver-
borgene Gesetzmäßigkeit hat zunächst der zu erfahren, der Kunst =
»Schönheit« 4 hervorbringen will. Merkwürdig unvermittelt in der wei-
chen Sprache dieser frühen Briefe, einer ganzen Entwicklung voraus-
eilend, findet sich der zusammenfassende Satz: »Das Modell scheint,
das Kunst-Ding ist« (Br. ozlo6, S. I I z ). Gewiß ist dieses Wort, das
vom »Schein« und vom »Sein<< in einer Gegenstellung spricht, noch in
keiner Weise gegründet. Es ist aber nicht zu überhören, daß hier schon
diese hohe und strenge Kunstauffassung in den Blick genommen ist,
welcher der späte Rilke sich einmal ganz und ausschließlich verpflichtet
fühlen wird. Die Scheinhaftigkeit des Seienden, des »Dinges« (»Mo-
dell«) verstellt also gemeinhin das Sein. Die Kunst ist schon für den
Rilke der Pariser Zeit eine ausgezeichnete Möglichkeit, dieses Sein zu
enthüllen. Es gibt also für Rilke ein Fortschreiten aus der Verborgen-
heit von Scheinhaftigkeit zur O:ffenbarkeit des Seins. Ganz naiv, das
heißt ohne jede Begründung und reflektierte Einordnung, wird in den
Dingen, in der ganzen Natur »der Wunsch zu sein« wahrgenommen.
Nur weil die Kunst dieses »Fortschreiten« hin zum Sein vollzieht, nur
darum kann es heißen, daß das» Kunstding der namenlose Fortschritt«
ist über das schlechthin Seiende hinaus. Das erhöhte Dasein des Künst-
lers schaltet sich ein in dieses erhöhende Fortschreiten zum Sein. In die-
sem Tun des Daseins wird Sein offenbar. Aus Gesetzmäßigkeit, nicht
aus Willkür ist Kunst; und darum ist sie »der demütigste Dienst und
ganz getragen vom Gesetz«. Dieses Fortschreiten auf der Linie einer
Bewegung vom Ding zum Kunstding, vom Schein zum Sein ist mit
dem Angekommensein im Kunstwerk keineswegs abgeschlossen. Viel-
mehr muß festgehalten werden, daß schon auf dieser frühen Stufe der
Kunstbetrachtung ein Grund gelegt ist für das, was die neunte Elegie
nennen wird: »Das Bewahren der erkannten Gestalt«. Im geschaffenen
4 Diese selbstverständliche und noch ungeklärte Verbindung ist für den Rilke der

ersten Pariser Zeit noch unerschüttert.

!8
Kunstwerk, anschaubar für den, der sich ihm wirklich zuwendet, west
weiter »die stille und steigende Verwirklichung des Wunsches zu sein«.
Die Funktion des Ge-schaffenseins des Kunstwerkes, die für Heidegger
so bedeutsam geworden ist (Holzwege, S. 52 ff.), erscheint hier vorge-
bildet. In der weiteren Entwicklung Rilkes selbst erhält sie eine tiefere
Klärung mit seinem Grundwort des innen Verwandelns. Im innen Ver-
wandeln entfaltet sich voll die ausgezeichnete Möglichkeit, den Men-
schen in die dichtere Nähe zum Sein zu führen. Ein Weg dahin geht
hindurch durch das geschaffene Kunstwerk nicht nur für den Künstler,
der es schafft, sondern auch für den Menschen, der es gewahrend be-
wahrt. Das Rilke'sche Übersteigen und das Heidegger'sche Transzen-
dieren auf Sein-überhaupt im Umgang mit Kunst treffen sich bis hinein
in den Wortgebrauch. Für den Denker wie für den Dichter hält das
Geschaffensein von Kunst eine Hilfe bereit: Wahrheit, Gesetzhaftig-
keit, Lichtung ereignet sich im Werk. Für Ri!ke hat das Geschaffene die
Eigenschaft, »fähig zur Ewigkeit« zu sein. Auch hier wieder ist nicht
gesagt, was Ewigkeit meint. Immer wieder werden auf dieser frühen
Stufe die Worte genommen, wie sie sich aus einem überlieferten Sprach-
schatz dem chiliastischen Schwung zur Aussage einer nur erst erfühlten
umgreifenden Bezogenheit anbieten. Diese »Expektorationen« ent-
ziehen sich naturgemäß einer begrifflichen Fixierung. Was mit diesen
Zitaten jedoch zu belegen ist, das ist die Ausbreitung eines Lebens-
gefühls, das aus sich selbst einer denkerischen Durchdringung in einem
strengen Sinn weder fähig noch gewillt war. Aber in ihm bereiteten
sich doch schon diese Einsichten vor, denen Rilke noch weiter und tie-
fer, wenn auch nicht in einer systematischen Begrifflichkeit, nachgehen
wird. Das Spätwerk wird diese Einsichten ins gültige dichterische Wort
fügen. Aber auch die spätere Tieferlegung durch Rilke selbst harrt auch
heute noch der denkerischen Arbeit. Sie ist keineswegs abgeschlossen.
Wollte man die Frage stellen, was »Sein« in einem exakten hier ge-
meinten Sinn eigentlich ist, so hat man naturgemäß diese Stelle über-
fragt; sie teilt diese Verlegenheit mit der heutigen Wissenschaft, die
sich sehr ausdrücklich diese seihe Frage gestellt hat. Auch sie ist erst in
einer Richtung auf eine Antwort hin begriffen. Wenn also auch das
aus Rilke beizubringende begriffliche Ergebnis mager ist, so scheint es
doch wohl wichtig festzuhalten: eine gefühlsmäßige Einsicht spricht
aus dieser Stelle. Sie wäre dahin zu präzisieren: Seiendes ist in seinem
Sein nicht erkannt, wenn man es ansieht als das, was es vordergründig
scheinhaft ist. Gleichsam hinter diesem Seienden verbirgt sich das, aus
dem die Dinge sind. Wir nennen es das Sein. Die Kunst ist eine Mög-
lichkeit dieses Seiendsein der Dinge zu enthüllen. Aus der gleichen Vor-

153
stellung heraus sagt Heidegger: im Kunstwerk geschieht Wahrheit; es
ist das die Wahrheit des Seins. Rilke sieht dichterisch-metaphorisch im
Ding selbst ein Streben zur Enthüllung; er nennt es: »den innigen
Wunsch zu sein«. Von seiten der Dinge scheint dieser Wunsch dem
Künstler auf halbem Wege entgegenzukommen. Das so zu enthüllende
Sein ist etwas, was von der flüchtigen Zeit nicht angerührt werden
kann; darum wird es schlechterdings der Ewigkeit zugeordnet oder ihr
gleichgestellt. Vorerst meint das nichts anderes, als daß unabtrennbar
von Sein auch »Dauer« ist. Es ist immer wieder das eine identische
Sein, das die Kunst aus den Dingen entbirgt; es ist gegenwärtig »in der
Flucht eines erschreckten Gefühls«, in >>eines Traumes Trümmern<<, im
»Anfang einer Ahnung« (Br. oz/o6, S. 117). Die daraus erwachsenden
Kunstdinge erreichen eine die sogenannte Realität übersteigende» Wirk-
lichkeit«. »Diese Wirklichkeit« übersteigt auch die Flüchtigkeit der
Zeit. Denn die »weite und stille Verwandtschaft« der Kunstdinge, her-
rührend aus der ihnen gemeinsamen Nähe zum Sein, führt hin »ZU den
älteren Dingen« (Kunstdingen). Ein Raum des Dauerns- die hier ge-
nannte »Ewigkeit«- ist damit begründet.
Heidegger hat (Einführung S. 75 ff.) der Scheidung von Sein und
Schein tiefgründige Überlegungen gewidmet. Sie sind so fest in sich
gegründet, daß jedes Herausheben einer Einzelheit der Darstellung
die Gefahr einer Mißdeutung in sich schließt. Überdies stehen sie in
Heideggers umfassender Frage nach dem Sein. Es kann nicht nach-
drücklich genug darauf als auf ein Ganzes verwiesen werden. Und doch
ist es notwendig, mit dem Hervorheben einiger Grundgedanken we-
nigstens eine Linie nachzuzeichnen, die für unseren Zusammenhang
nicht zu entbehren ist. Es gibt drei Weisen des Scheines: 1. den Schein
als Glanz und Leuchten; 2. den Schein und das Scheinen als Erscheinen,
den Vor-schein, zu dem etwas kommt; 3. den Schein als bloßen Schein,
den Anschein, den etwas macht. Zugleich wird aber deutlich: das an
zweiter Stelle genannte >Scheinen<, das Erscheinen im Sinne des Sich-
zeigens, eignet sowohl dem Schein als Glanz, wie auch dem Schein als
Anschein und zwar nicht als eine beliebige Eigenschaft, sondern als
Grund ihrer Möglichkeit. »Das Wesen des Scheines liegt im Erschei-
nen.« Dem griechischen Denken war die Gleichursprünglichkeit zwi-
schen Sein und Schein deutlich. Sie wurzelt in der ursprünglich griechi-
schen Vorstellung: »Sein west aus physis. Das aufgehende Walten ist
Erscheinen. Solches bringt zum Vorschein. Darin liegt schon: das Sein,
Erscheinen, läßt aus der Verborgenheit heraustreten. Indem Seiendes
als ein solches ist, stellt es sich in die und steht es in der Unverborgen-
heit, aletheia.«

20
An Rilkes Unterscheidung, so unbegründet sie angeboten wird, spürt
man deutlich, daß sie nicht im geläufigen Sinn einer abgegriffenen
Sprachmünze gebraucht wird. Ganz selbstverständlich hat es für Rilke
festgestanden, daß Seiendes in einem Scheinen steht, jedoch in der
Weise, daß der Schein, unabtrennbar zum Sein gehörend, zum Vorschein
bringt und eine der Weisen sein kann, in der Sein sich verbirgt. Er weiß
es aber, daß es möglich ist, durch den Schein hindurch das Sein eines
Dinges zur Anschauung zu bringen- ja, daß aus dem Sein von Dasein
und dem Sein des Seienden eine Zielhaftigkeit gleichsam auf einander
zu waltet. In diese Zielhaftigkeit schaltet sich ein, als die eine unter
anderen Möglichkeiten, das Tun des Künstlers, der das »Scheinen« des
Modells bis auf die Wahrheit seines Seiendseins durchdringt, um sie in
die Gestalt des Kunstwerkes zu fassen.
Für Heidegger ist wie für Rilke die Kunst eine ausgezeichnete Mög-
lichkeit, Wahrheit zu enthüllen = in die Unverborgenheit stellen.
Wahrheit gehört zum Wesen des Seins. »Weil das Sein, physis, im Er-
scheinen, im Darbieten von Aussehen und Ansichten besteht, steht es
wesensmäßig und somit notwendig und ständig in der Möglichkeit
eines Aussehens, das jenes, was das Seiende in Wahrheit ist, ... gerade
verdeckt und verbirgt« (Einführung S. 79).
Rilke sagt von Rodin, daß er schon ganz frühe versucht habe, »nichts
auf das Aussehen hin« (Scheinhaftigkeit) zu machen: >>Das Aussehen
seiner Dinge sei ihm gleichgültig: so sehr erlebt er ihr Sein, ihre Wirk-
lichkeit, ihre allseitige Loslösung vom Ungewissen ... « (Br. o2/o6,
S. 1 q). Und das Wort »Wirklichkeit« hier meint: Seinsgehalt =Wahr-
heit. Von sich selbst sagt Rilke, das Wort Wirklichkeit in demselben
Sinn von Wahrheit = Wesenhaftigkeit gebrauchend: »In einem Ge-
dicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung
oder Zuneigung, die ich fühle. Wo ich schaffe, bin ich wahr« (Br.
oz/o6, S. I 15).
In den bewundernden Schilderungen Rilkes über Rodins Arbeits-
weise erkennt man deutlich, daß er sich schon in den frühen Pariser
Briefen darüber klar war, wie auch für ihn selbst das Künstlerturn ein
»Bestehen des Kampfes zwischen Sein und Schein ist«. Heidegger sagt
von den Griechen, sie haben einzig in diesem Bestehen des Kampfes
zwischen Sein und Schein dem Seienden das Sein abgerungen und so
das Seiende »in die Ständigkeit und die Unverborgenheit gebracht«
(EinführungS. So). Das, was Heidegger »Ständigkeit« und »Zum-Ste-
hen-bringen«, »in die Anwesenheit stellen«, nennt, das ist die Unver-
borgenheit eines Seienden in seinem Sein, die Rilke mit der Unerschüt-
terlichkeit des Dauerns ausdrückt, wenn er sagt: »das Ding noch inni-

1I
ger, noch fester, noch tausendmal besser in den weiten Raum einzu-
fügen, gleichsam so, daß es sich nicht rührt, wenn man daran rüttelt.
Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von
allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit ent-
hoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur
Ewigkeit« (Br. o2/o6, S. I I f.).
Wenn zum Sein mitgehört, in die Erscheinung, die Unverborgenheit
treten, so drückt Rilke alle diese Bezüge immer wieder mit dem Wort
»Gestalt« aus. Es ist mit »Ständigkeit« aus der gleichen Wurzel; das
»Dauern« gehört beiden Wörtern zu. Nichtsein besagt dagegen: aus
der Erscheinung, aus der Anwesenheit abtreten (EinführungS. 78);-
oder erst gar nicht in sie eingetreten sein. Ein schönes spätes Gedicht
Rilkes läßt diese vom Begriff der Gestalt aus erfaßte Seinshaltigkeit er-
kennen: nGieb mir, oh Erde, den reinen I Thon für den Tränenkrug.«
Die Doppeldeutigkeit des Wortlautes »Thon« enthält in sich einenge-
doppelten Hinweis auf gestalthaftes Tun: der »Thon« als das Material,
aus dem der Krug geschaffen wird, - er wird dem Dichter zum tönen-
den Ton des Wortes, aus dem allein er schafft: »das gefügte
Gefäß« geht aus beiden hervor. (Hölderlin: »Gefäße machet ein Künst-
ler«; Stuttgarter Ausgabe 2, I S. 221.) Das »Weinen«, »Verhaltenes«
aber ist an sich Ungestalt; es hat die rein subjektive Sphäre des Erle-
bens, die im nirgends und überall sich ausbreitet, nicht überschritten.
Es ist selbst ein Nicht-Seiendes, ein »Nirgends« - »alles Nirgends ist
böse«- ein Störendes, Bedrängendes. Es »löst<< sich erst von dem Nur-
Erleben; es ist erst dann »gelöst<<, wenn ihm Gestalt gegeben worden
ist. Das Gestaltete aber, wie und was es auch immer sein mag, ist »Sein«
schlechthin; von ihm gilt: »Alles Sein ist gemäß.<< Das Substantiv Ge-
mäß ist ein älteres Wort, noch im süddeutschen und schweizerischen
Sprachraum für Gefäß gebraucht. In dem »gemäß<< des Gedichtes klingt
an: Maß, das Gemessene, das Zugemessene, das, was das Gefäß fassen
kann, - als ein Maß, wie es der Krug ist. Darum ist der Krug wie das
gestaltete Wort »gefügtes Gefäß<< -in seinem Sein durchsichtig ge-
wordenes Seiendes: »alles Sein ist gemäß<<.
Rilke wußte darum, wie das eigentliche Sein hinter die Scheinhaftig-
keit sich verbergen kann, die es gerade in ihrem Erscheinen auf leuch-
tenden Glanz und schönen Schein abgesehen hat. Das XIX. der Sonette
an Orpheus, zweiter Teil, spricht in hintergründiger Weise vom Gold
als Geld. So sehr es mit jedermann »vertraulich« tut, wissen wir trotz
aller Theorien nicht um sein geheimes vVesen. Wir sehen von ihm nicht
sein eigentliches »zuhause<< - also das, was es an sich ist, sondern nur
daß es »in den Geschäften entlang ... wie zuhause<< ist. Dort hält es sich

22
auf in seinen »Verkleidungen<< unter dem Schleier der Ware und zwar
in einem farbigen, verführend leuchtenden Scheinen. Denn das dafür
im folgenden Vers gewählte Wort drückt dieses Scheinen der Schein-
haftigkeit aus, ganz unmittelbar um ein Doppeltes wissend: der offen-
bare Anschein, der uns im leuchtenden Scheinen entgegenstrahlt- >>Und
verkleidet sich scheinbar in Seide, Nelken und Pelz<< -, ist nur schein-
haft-scheinbar das Wesen des Geldes.
In der Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins ist es ein geläufiges Vor-
kommnis, daß die Umsicht des »gebrauchenden Umgangs<< eine (mo-
mentane) Unbrauchbarkeit von Zeug feststellen muß. »Zuhandenes
kann beschädigt sein, es kann geschehen, daß sonst Zuhandenes eben
nicht zur Hand ist; U nzuhandenes kann begegnen als etwas das im
Wege liegt.<< In alldiesen Beziehungen wird das Zuhandene abgedrängt
beinah in die leere Vorhandenheit, aber gerade in der Weise, daß es in
der Nur-Vorhandenheit nicht restlos aufgeht. Ein merkwürdiges Et-
was des nun beinah-nur-noch-Vorhandenen überragt vielmehr diese
Nur-Vorhandenheit noch immer. Dieses Etwas stellt den stillschwei-
genden Anspruch an uns einzusehen, daß hier eigentlich ein Zeug vor-
liegt, dem Zuhandenheit innewohnt, - nur ist diese gerade unterbun-
den; seine ihm zugehörige Dienlichkeit für unser Besorgen von Welt
ist verdeckt oder kommt nicht ins Ziel. Heidegger faßt diese Vorgänge
dahin zusammen, daß hier eine »Störung der Verweisung<< sehr offen-
kundig geworden ist. Grundsätzlich aber ist gerade eine solche Störung
die Verweisung auf den Zeugcharakter und den Zeugzusammenhang.
Gerade die Störung als solche läßt ausdrücklich verstehen, daß das Zu-
handene, ein Werkzeug etwa, eigentlich immer schon in sich selbst die
Verweisung auf sein jeweiliges »Dazu-es-dient<< mit sich führt; es zielt
also aus sich immer schon über sich selbst hinaus. »Sein ist das trans-
cendens schlechthin.<< Das hat auch vom Sein »der Dinge« zu gelten.
Zunächst geht dieses Zielen in einen Werkzusammenhang; schließlich
mündet er über die Werkstatt und das in ihr Hergestellte mit eben die-
sem Hergestelltenkraft der mannigfachsten Zusammenhänge von Dien-
lichkeit in das Ganze von »Welt<<. Auf jeder Stufe von Dienlichkeit
führt das Zeug gleichsam den Menschen mit sich. Der so von Heideg-
ger überaus klar und nüchtern dargestellte Zusammenhang von Zeug
zu Dasein, von Dasein über Zeug zu »Welt<< enthüllt nun ausdrücklich
das, was immer schon eingeschlossen liegt in diesem synonymen Aus-
druck für Dasein: »ln-der-Welt-sein<<. Dasein ist nur in einem Sich-
selbst-Übersteigen. Es ist nur im mannigfach gestuften engsten Kon-
takt zu dem, was wir Welt nennen; Welt aber ist nur in diesem Kontakt
und niemals außerhalb seiner.

23
Rilke hat den Malte Laurids Brigge mit einer ungemeinen Fühlfähig-
keit für die Störungen eines solchen Verweisungszusammenhanges ge-
zeichnet. Seine Möglichkeiten, mit der Umwelt zu kommunizieren,
sind merkwürdig widerspruchsvoll in sich: manchmal völlig versagend,
dann wieder gesteigert bis zur Selbstaufgabe- aber immer leidend-
rezeptiv und nie >gekonnt< im Sinne einer Gestaltung des In-der-Welt-
seins. Maltes Begabung, ein untrüglicher Empfangsapparat zu sein für
jede Vibration, die ein Gefüge erschüttert, macht ihn fähig, in die Stö-
rung eines Zeugganzen einen geradezu metaphysisch-existenziellen
Zusammenhang hineinzusehen. Bei seinem Nachbarn ereignet sich eine
solche Störung; aber der Nachbar ist selbst gestört: ein Student, der in
der Vorbereitung für sein Examen von einer nervösen Schwäche des
Augenlides befallen wird; sie hindert ihn, weiter in seinen Büchern zu
arbeiten. Jedesmal ist das Eintreten dieser Schwäche von einem infer-
nalischen Lärm im Zimmer des Studenten begleitet. Eine Blechbüchse
und ein Deckel vollführen diesen Lärm- gleichsam selbsttätig antwor-
ten sie damit auf diese Schwäche. Eine weit ausgesponnene Schilderung
(GW V, S. 208) beschreibt diesen Ablauf in allen seinen Phasen. Die
Dichte des Bezuges von Mensch und Ding, die eine der beglückendsten
Erfahrungen im Leben Rilkes ist, verkehrt sich in der Störung zu
einer dämonischen Besessenheit. Mit einer hohen Kunst der Dar-
stellung macht Rilke - nur scheinbar naiv - die Form der Kausa-
lität für die Erkenntnis dessen, was sich im Nachharzimmer ereignet,
nutzbar (GW V, S. 210). Die Postulierung dieses gestörten Kausal-
zusammenhanges wird zum Vehikel des Einsehens für die Störung
des Bezuges von Mensch und Ding: Büchse und Deckel haben ihre
Zugehörigkeit zu einander aufgegeben, als wären sie selbständige, mit
einem Willen begabte und auseinanderstrebende Wesen (GW V, S.
2 I 5). Rilke nutzt dieses Auseinandertreten eines Zeugganzen in die
Eigenwilligkeit seiner zwei für einander bestimmten Teile zu einer
tiefsinnigen Betrachtung über das in die Unordnung geratene mensch-
liche Dasein. Dieses gestörte menschliche Dasein ist es, das zur Ursache
werden konnte, daß nun auch die Dinge »Versuche machen, sich ihren
Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und nachlässig, und
die Leute sind gar nicht erstaunt, wenn sie sie auf einer Ausschweifung
ertappen. Sie kennen das so gut von sich selbst« (GW V, S. 2 16).
Die Strukturiertheit eines Verweisungsganzen in seiner Störung hat
Rilke, ohne auch nur in einem begrifflichen Sinne davon wissen zu kön-
nen, auf die menschliche Existenz übertragen. Zwar ist nach Heidegger
die menschliche Existenz nicht zu begreifen unter dem Zeichen des
»Dazu-es-dient«. Es unterscheidet geradezu das Dasein von »Zeug«,

153
daß es niemals die Bewandtnis eines Zeugganzen haben kann. Dasein
wird von Heidegger vielmehr unter dem Gesichtspunkt des »Umwil-
len-seiner-selbst« gefaßt, aus welchem Umwillen das Dasein auf Mit-
sein mit anderen verwiesen ist. Aber in den Beziehungen des modernen
Lebens im Zeitalter der Technik ist auch der Mensch, so wie er nun
heute ist, nicht mehr allein aus dem Umwillen-seiner-selbst zu begrei-
fen. Er geht oft genug darin auf, nichts anderes zu sein als Zubehör
eines maschinell-technischen Ablaufes. Heidegger spricht im Vortrag
über nDie Frage nach der Technik« (Vortr. S. 13 ff.) auch vom Men-
schen als einem bereitgestellten »Bestand«,- denaturiert nun auch er,
wie der Rheinstrom im Stauwerk oder der Wald in der Holzverwer-
tungsindustrie5.
Malte, im leidvollen Wissen um die Störung eines selbstverständli-
chen Mitseins, lebt in einer grenzenlosen Isoliertheit und übertreibt
das Verwiesensein von Existenz auf Mitsein in einer Weise, die nur zu
deutlich die Störung des Kontaktes offenbart. Er verfällt auf die Idee,
dem Studenten seinen »Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich näm-
lich, daß der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich es kommen fühl-
te«- die Schwäche und das Lärmen der Geräte in seinem Zimmer-,
»stand ich da auf meiner Seite der Wand und bat ihn, sich zu bedienen«
(GWV,S. 21of.). Dieselbe Antwort auf den gefühlten, aber von ihm
nicht mehr in einer eigentlichen Weise zu realisierenden Anspruch aus
dem Mitsein gab er schon im Erlebnis mit dem Hysteriker: nlch legte
mein bißchen Kraft zusammen wie Geld, und indem ich auf seine Hände
sah, bat ich ihn, er möchte nehmen, wenn er es brauchte« (GWV, S. 86).
Die mit einem negativen Vorzeichen versehene Existenz ist in ihrer
schlechthinnigen Kautaktlosigkeit enthüllt. Die Übertreibungen, aus
denen sie diesen Mangel ausgleichen möchte, bestätigen nur, daß echter
Kontakt für den aus dem Seinszusammenhang gefallenen Menschen
nicht mehr erlebt wird. Kontaktlosigkeit ist also eine Verstellung des
Seins von Dasein. Malte/Rilke sieht die verschiedenen Weisen dieses so-
sich-Ereignens in eines zusammen: im Umgang mit Zeug, im Leben
mit den Dingen und schließlich im Mitsein mit anderen. (Heideggers
Ableitungen erlauben es nicht nur, sie fordern es geradezu, über seine
eigenen Exemplifizierungen hinauszugehen. Er tut es selbst in seinem
Vortrag übernDas Ding«. Man hat dabei hinter sich zu lassen, was in
diesem Umgang mit Zeug als ein Inhaltliches genannt scheint. Denn
dieses als dingliches Zeug, als Werkzeug Genannte stand als solches
5 Es sei hier nur soeben vermerkt, daß dieses sachliche Eingeschaltetsein in den
Produktionsprozeß sich dem Begreifen aus einer restlosen Einordnung in die Seins-
weise der Heidegger'schen Alltäglichkeit entzieht.

25
niemals im Blick, sondern immer nur die an ihm abzulesende Struktur
in Bezug auf Dasein.) Hellhörig gemacht durch den Lärm von Büchse
und Deckel im Zimmer des Studenten, rück-übersetzen wir diesen Auf-
weis rein formaler Strukturzusammenhänge existenzial-ontologischer
Gegebenheiten, die Rilke in dichterischer Sprache aussagt. Trauernd
beklagt er die Losgelöstheit des modernen Menschen. Auf einer ganz
anderen Ebene von Dasein als der von Alltäglichkeit enthüllt sich der
gleiche zugrundeliegende Strukturzusammenhang von Dasein und
Ding, von Mitsein und Welt. Das vorontologische Seinsverständnis,
das sich hier leidvoll und zunächst vergeblich bemüht durchzudringen,
stößt sich ab zu der Klage über eine Störung. Aber es durchdringt um
so fühlbarer die Ausgangssituation auf der Suche nach einer neuen
Sinngewinnung. Es fühlt zunächst: hier >stimmt< etwas nicht. Was aber
heißt »stimmen«? Warum überhaupt ist ein Stimmen-sollen vorausge-
setzt? Diese leidende Erfahrung der Störung kann nur empfunden wer-
den aus einem vorbewußt wesenden Wissen: Zusammenklang von
Mensch und Ding, von Mensch und Mitmensch müßte sein! Die erste
Elegie, aufsteigend aus der menschlichen Verlorenheit, singt: »Es bleibt
uns vielleicht ein Baum an dem Abhang ... « Wahrhaft ein geringes pre-
carium ist diese schwache Möglichkeit für die Herstellung einer Bezo-
genheit. In dieser Klage Rilkes scheint der Verweisungszusammenhang
Heideggers einmal verengt, ein andermal erweitert. Er ist verengt auf
eine besondere schmerzlich empfundene ontisch-existenzielle Erfah-
rung. Sie weiß eigentlich immer schon, daß die Dinge auf uns und wir
auf die Dinge bezogen sind. Dieser Verweisungszusammenhang wie-
derum ist erweitert auf ein sehnsuchtsvoll-ahnend vorweggenommenes
Eigentlichsein, in dem das menschliche Dasein, das jetzt als isoliert
empfunden wird, einen gestalthaften Zusammenhang leben sollte. Ding
und Mensch, Mensch und Mensch, Dasein und Welt sind im In-der-
Welt-sein umfaßt. Die komplizierte seelische und soziologische Kon-
taktstörung charakterisiert den modernen Menschen. An der hier durch-
geführten Parallelisierung dieses Faktums von Störung zu der schlichte-
sten Alltäglichkeit im Umgang mit Zeug wird die Legitimität dieser
Klage plötzlich einsichtig, indem sie auf den Grund von Existenzialität
zurückgeführt werden kann. Mit der Zuhandenheit und dem Verwei-
sungszusammenhang wurde ohne jede gefühlsmäßige Betrachtung ein-
fach und nüchtern eine Grundstruktur festgestellt. Auf ihre allgemeine
Funktion reduziert, besagt sie: Kontakt ist das Wesen des In-der-Weit-
seins. Das, was in der Rilke'schen Klage schmerzvoll gesucht wird, ist
dasselbe Etwas, das als ein durchgehendes Konstitutivum von Dasein-
überhaupt aufzuweisen war; in der unreflektierten, ungefühligen Schicht

26
von Alltäglichkeit ist es immer schon vorgegeben. Auf der erhöhten
Ebene aber von Gestalt (oder der verminderten Ebene von Ungestalt)
des modernen menschlichen Daseins wird es nicht mehr gelebt. Das
Zeug, aus einer »Störung« abgedrängt in eine leere beinah-nur-Vor-
handenheit, richtet gegen uns den Stachel seines Anspruchs: seine wahre
Natur sei Zuhandenheit. übersetzt man diesen Anspruch in den um-
fassenden Verweisungszusammenhang von Welt im Ganzen, so heißt
er: Seiendes anzusehen als leere unbezügliche Vorhandenheit ist nicht
nur momentane Störung von Gebrauchtheit, sondern Störung einer
Bezogenheit, die sich bis in den Seinszusammenhang als solchen erstreckt.
Der Mensch der vierten Elegie verzweifelt an jeder sinnvollen Einord-
nung, in die er gestellt sein könnte. Er sucht aus einer schon tief einge-
wurzelten Störung seiner Kontaktfähigkeit im inter-esse-losen Sitzen
vor der Puppenbühne die Legitimität seines nur-noch-Vorhandenseins
gegenüber anderen nur-noch-Vorhandenem zu erweisen. Über dieses
Nur-noch-Vorhandene hat er sich eine souveräne Verfügbarkeit vindi-
ziert. Und doch läßt auch der in dieser Elegie anfänglich zur Schau ge-
tragene verzweifelte Trotz keinen Zweifel darüber, daß gleichsam einige
Schichten tiefer unter diesem Trotz versteckt ein immer schon vorge-
gebenes Seinsverständnis untrüglich darum weiß: es ist die Störung
eines Inter-esse, die letztlich nun auch den Menschen zum Menschen in
eine Nur-Vorhandenheit abgedrängt hat. Dieser Prozeß begann nach
Rilke schon damit, daß man »die Dinge« in die Vorhandenheit verstieß;
Rilke stellte das immer wieder trauernd fest. Das Zuschaun vor der
Puppenbühne soll mehr schlecht als recht diese Situation korrigieren
und einen fragwürdigen Seinsersatz liefern. (Im Sich-Überschlagen der
Hybris endlich auch gegenüber dem Engel findet die vierte Elegie dann
von diesem Irrweg zurück.) Auch die Dinge der Kunst sind aus dem
bewahrenden Behalten in die Gleichgültigkeit der öffentlichen Samm-
lungen entlassen; sie sind dort, gemeinhin wenigstens, nur noch >vor-
handen<. »Hier, ich bin davor, es gibt immer Zuschaun ... « Im Gegen-
über des Nur-Vorhandenseins nun auch von Mensch zu Mensch ist das
Mitsein aus seinen Wurzeln gerissen. Eine Kultur und Sozialkritik, die
im gesellschaftlichen Gefüge die Beziehungslosigkeit beklagt, könnte
vielleicht tiefer greifen, wenn sie auch hier die alles beherrschende Ka-
tegorie der Vorhandenheit als Mit-Ursache entdeckte. Aus dieser Sicht
entspringt die hemmungslose Verfügbarkeit über alles und jedes, die
de.r heutige Mensch sich anmaßt. Aus dem Nur-Vorhandensein von
gegenüberstehendem Ding zum gegenüberstehenden Menschen ist aber
nicht einmal der Funktionszusammenhang von Mensch und Werkzeug
herzuleiten. Im Zurückgehen auf die schlichten Feststellungen von

27
))Sein und Zeit« über das Zeugganze fällt ein erhellendes Licht auf die
existenziale Strukturiertheit des menschlichen Daseins überhaupt und
damit auch auf seine Störung, als welche die Kautaktlosigkeit des mo-
dernen Menschen sich erweist.
Die hier aufgewiesene Parallele zwischen dem, was für Rilke das
Ding und für Heidegger das Zeug im Zusammenhang zu Dasein lei-
stet, hat den Sinn, einen ersten Schritt des Menschen im Transzendie-
ren (Heidegger) oder im Überschreiten (Rilke) festzuhalten und ein
grundlegendes und durchgehendes Moment des In-der-Welt-seins fest-
zustellen6. Mehr noch: dieser immer schon vorgegebene Zusammen-
hang ist ein unlösbarer, was sich gerade dann erweist, wenn er gestört
ist. Denn in seinen Fehlanzeigen und Ausfallserscheinungen ist er ja
nicht einfach verschwunden, sondern als gestörter hat er seine negati-
ven Wirkungen. Dasein fällt aus dem Seinszusammenhang heraus, und
auch noch in diesem Herausfallen enthüllt sich der Mensch als ein ur-
sprünglich transzendierendes Wesen.
Heidegger weist im Aufbau von Welt die durchgehende Struktur
von Zuhandenheit nach; er nennt sie Verweisung (S. u. Z. S. 83). Das
Wort Verweisung trägt in sich die Anzeige von Transzendieren. Ver-
wiesen wird von etwas fort zu etwas hin. Dieser Bezug meint keinen
leeren Funktionalismus; auch die Vorstellung einer Subjekt-Objekt-
Relation ist davon fernzuhalten. Die souverän zu stiftende Beziehung
zwischen einem für sich bestehenden Subjekt hinüber zu einem eben-
so für sich bestehenden Objekt ließe sich nur aus der Kategorie der
Vorhandenheit denken. Gerade aber diese ist in ihrem fatalen Ver-
sagen für die Frage nach dem Sinn von Sein erkannt worden. Die
von Heidegger für die verschiedenen Bezüge gefundene Wortgebung
hat man prätentiös, gesucht und unklar genannt. Das zeigt aber nur,
daß man nicht durchschaut hat, wie das Einsetzen der leeren Pro-
nominaladverbien und Präpositionen hier die Schwierigkeiten zu über-
winden trachtet, die in der Sprache selbst liegen. Der Starre einer ver-
dinglichten Subjekt-Objekt-Beziehung in unserm Denken leistet die
Grammatik und Syntax unserer Sprache Vorschub. Es mußte also ver-
sucht werden, an der Wurzel eines neuen Denkweges eine Verdingli-
chung oder Vergegenständlichung aus der Kategorie der Vorhandenheit
auszuschalten. Macht man sich die Mühe, unter diesem Gesichtspunkt
in die Sprachgebung einzudringen, so wird man schon in der Wortwahl
als solcher eine bereitgestellte Hilfe entdecken, die das Aufnehmen des
gedanklichen Kerns erleichtert. (Für die Ableitungen im einzelnen ist
6 Heidegger hat in dem Vortrag über »Das Ding(( diesen Zusammenhang im glei-

chen Sinn ausgeweitet.

28
auf »Sein und Zeit«, insbesondere§ r 8 im Kapitel 3 »Die Weltlichkeit
der Welt<< zu verweisen.) Es sei hier nur der Zusammenhang aufge-
zeigt, der vom begegnenden Seienden, also z. B. dem Zeug, am Leit-
faden der Bewandtnis des Zuhandenen über ein jeweiliges Bewandtnis-
ganze, z. B. eine Werkstatt, zu »Welt<< als letzter Bewandtnis führt.
Mit jedem Seienden hat es bei etwas sein Bewenden; denn der Seins-
charakter des Zuhandenen ist die Bewandtnis. »Das Wobei es die Be-
wandtnis hat, ist das >Wozu< seiner Dienlichkeit<< (S. u. Z. S. 84). Dieser
so abstrakt ausgedrückte Satz will Strukturiertheiten aufweisen; das ist
der hier waltende Gesichtspunkt. Füllt man ihn mit ontisch-faktischem
Gehalt, so wird das einfach anschaulich; zum Beispiel: mit dem Ham-
mer hat es beim Hämmern sein Bewenden; das zeigt auf, »wozu<< er
dient: nämlich zum Hämmern, »wofür<< er zu verwenden ist: nämlich
zum Bauen. »Wobei<< - »Wozu<< - »Wofür<<, auf jeder Stufe einer
solchen (relativen) Bewandtnisganzheit eines Werkzusammenhanges
erneuert sich das Ineinandergreifen am Leitfaden des jeweilig entdeck-
ten »Wobei-Wozu-Wofür«, um schließlich in dem letzten und umfas-
senden Bewandtnisganzen- »Welt<<- zusammenzufallen. Aus dieser
Richtung auf Welt speist sich gleichsam die »Weltmäßigkeit<< des Zu-
handenen. Das Wort besagt zunächst gar nichts weiter, als daß Zuhan-
denes immer nur innerweltlich begegnet, also zu Welt gehört. Die
letzte Bewandtnisganzheit aber geht auf ein »primäres Wozu<< zurück:
nämlich auf Dasein, zu dessen Seinsverfassung als In-der-Welt-sein =
»Weltlichkeit<< gehört. ( »Weltlichkeit<< von Dasein entspricht der
»Weltmäßigkeit<< des Zuhandenen.) Hier aber, bei dem Dasein, schlägt
das »Wozu<< um in ein »Worumwillen«. Damitwird noch einmal scharf
die Seinsart des Daseins abgesetzt von der Seinsart des Zuhandenen.
Die Seinsart von Dasein läßt sich nun so ausdrücken: dem Dasein geht
es in seinem Sein immer wesenhaft um dieses Sein selbst, - umwillen
seines Seins = Dasein. Aus dieser Struktur leitet sich das Wort
»Worumwillen<< her, das in einem rein strukturhaften Ausdruck nun
das Wort Dasein zu vertreten hat. Noch einmal sei zusammengefaßt:
Das In-der-Welt-sein läßt sich gleichsam an diesem einen Pronominal-
adverb »Wobei<< und dieser einen Präposition »Um-willen<< fest-
machen. Die Seinsart des dafür notwendigen Zeugs als die Zuhanden-
heit hängt an der Kette des »Wobei-Wozu-Wofür<<. An dieser Stelle,
wo das »primäre Wozu<< umschlägt in ein »Worumwillen<<, steht Da-
sein. Hier endet notwendig die Kette des »Wobei<<; denn die Seinsart
von Dasein ist nicht Bewandtnis. Das Wesen von Dasein liegt einzig
darin, daß es ihm in seinem Sein immer um dieses Seins geht, mit dem
es also keine Bewandtnis haben kann.

29
Im Bemühen, einen denkungewohnten Strukturzusammenhang
anschaulicher zu machen, lassen sich verdinglichte Vorstellungen nicht
ganz vermeiden. Es muß genügen, daß Heidegger selbst in der Ab-
leitung seiner Strukturen sie restlos ausschalten konnte. Weiterhin liegt
es an der Unzulänglichkeit menschlicher Betrachtungsweise, allein
durch die Aufeinanderfolge von Sätzen in der Darstellung eines ein-
heitlichen Ganzen den Anschein eines zeitlichen Ablaufs seiner Ele-
mente hervorzurufen. Es ist daher immer wieder bei der Auseinander-
regung dieser Zusammenhänge zu ergänzen: vorontologisch (d. h. im-
mer schon, vor jeder Frage nach dem Sein) versteht sich das Dasein in
seinem Sein (es geht ihm ja wesensmäßig um dieses Sein) darin, daß es
mit dem Ergreifen der Kette des »Wobei« wirklich erst sei. Auch so
ist dieser engste Zusammenfall der Bezüge nicht dicht genug aus-
gedrückt. Das Dasein hat vielmehr diese Kette immer schon ergriffen,
weil es als In-der-Welt-sein nur ist, indem es begegnendes Seiendes als
Zuhandenes entdeckt hat. Vor jeder faktisch-ontischen Begegnung mit
dem Seienden liegt also für das Dasein dieses »Haben-bewenden-lassen«
als ein »apriorisches« (S. u. Z. S. 85). Der apriori-Charakter des Be-
wendenlassens will also noch einmal ausdrücklich jedes vulgär-zeit-
liche Moment eines »früher<< oder »später« ausschließen. Es ist kan-
tisch gefaßt »als Bedingung der Möglichkeit ... «, - nun nicht von
Erfahrung überhaupt, sondern in diesem Zusammenhang als »die
Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Zuhandenes begegnet«. Hei-
degger spricht hier sehr hintergründig von einem »apriorischen Per-
fekt des je-schon-haben-Bewenden-lassens«, ohne schon an dieser Stelle
die Möglichkeiten des apriorischen Perfekts für seinen oft als so an-
stößig empfundenen Begriff der Geworfenheit auszuwerten; (viel-
leicht ließe er sich von diesem apriorischen Perfekt aus entgiften). Auch
eine Andeutung zu seiner Zeitauffassung wird von hier aus nicht aus-
drücklich gemacht. \Vir werden darauf noch zurückzukommen haben,
um ein »Transzendieren« des Daseins- nun gleichsam hinter sich zu-
rück in die (vulgäre) Zeit - erweisen zu können, in das also, was wir
Vergangenheit nennen. Die dritte Elegie wird uns dafür hilfreich sein.
Den Sinngehalt dieses apriorischen Perfekts schränken wir zunächst
darauf ein: »Das auf Bewandtnis hin freigebende Je-schon-haben-be-
wenden-lassen ist ein apriorisches Perfekt, das die Seinsart des Da-
seins selbst charakterisiert.« Aus seinem eigenen Sein ist Dasein schon
immer darauf verwiesen, das begegnende Seiende entdeckt zu haben
und aus der »Weltmäßigkeit« des Zuhandenen seine eigene »Weltlich-
keit« zu nähren.

30
SEINSVERSTÄNDNIS · VERSTEHEN

Wir haben die Kette des )) Wobei« im Umschlagen des letzten )) Wozu«
in ein HWorumwillen« losgelassen. Das HWorumwillen« erfaßt sie neu,
um gleichsam in anderer Richtung an ihr zurückzugehen. Wenn der
Hammer nicht ergriffen wird, um sich am Lärm des Hämmerns zu
erfreuen, sondern um damit ein HWozu-Dazu« zu bewirken, so be-
deutet das: vorentdeckt ist immer die Bewandtnisganzheit - schlicht
und einfach also das, was mit dem Hämmern letztlich bewerk-
stelligt werden will. Es ist das ein Etwas, das das Dasein immer schon
verstanden haben muß; es reiht gemeinhin nicht >empirisch< die ein-
zelnen Phasen eines Werkvollzuges von ungefähr aneinander, um als
überraschenden Erfolg ein Haus vor sich zu sehen, in das man dann
vielleicht auch einzieht. Es ergibt sich die bedeutungsschwere Folge-
rung: HZum Sein des Daseins gehört Seinsverständnis.« Wenn dieses
Seinsverständnis immer schon bei jedem »Wozu-Dazu« des einfach-
sten Werkvollzuges nachzuweisen ist, so wird man es erst recht bei
dem »primären Wozu« wiederfinden müssen, das in ein »Worum-
willen« umgeschlagen ist. Dieses Verstehen, das das Dasein immer
schon lebt, erweist sich also als das wichtigste Existenzial von ln-der-
Welt-sein. Dasein ist mit Welt immer schon in gewisser Weise ver-
traut. Mit dem ausdrücklichen oder unausdrücklich verstehenden Er-
fassen des Bezugszusammenhangs »Welt« steht Dasein- aus der Struk-
tur des Worumwillen - in einer spezifischen Weise seines Sein-kön-
nens. Worum es dem Dasein geht - umwillen einer besonderen Weise
zu sein - davon ist dieses Verstehen getragen. Wie versteht sich Da-
sein in seinem Worumwillen? Worum geht es ihm in seinem Sein? Das
sind nur zwei verschiedene Formulierungen derselben Frage. Die man-
nigfachsten Spielarten, in denen Dasein kraft seines Seinsverständnisses
faktisch-ontisch sein In-der-Welt-sein leben kann, hat Heidegger onto-
logisch reduziert auf zwei mögliche Weisen eines Sein-könnens von
Dasein-überhaupt: So wie Dasein in seinem Seinkönnen sich versteht,
so vollzieht Dasein entweder ein »Eigentlich-sein« oder ein» Uneigent-
lich-sein«. »Um-zu«-sein, so wie es ihm darum zu tun ist, muß Dasein
in jedem konkreten Fall sich auf ein »Da-zu« verweisen, das in seinem
spezifischen Bewandtnischarakter dem eigenen Umwillen des Daseins
dient. Das Worumwillen-es-ihm-geht hat immer schon ein Zuhan-

31
denes ergriffen, das immer schon vorentdeckt war im »Womit« seiner
Bewandtnis. In den Bezügen des »Wobei« (etwas modifiziert in der
Wortwahl, weil hier vom Verstehen des In-der-Welt-seins ausgegan-
gen ist) hält sich das Verstehen in einer vorgängigen Erschlossenheit.
»Das Verstehen läßt sich in und von diesen Bezügen selbst verweisen«
-nämlich aus einem ursprünglichen Vertrautsein mit der Welt (S. u. Z.
S. 87). »Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir
als bedeuten.« Das Bezugsganze heißt }}Bedeutsamkeit<<, mit der das
Dasein als In-der-Welt-sein vertraut ist.
Zusammenfassend ist zu sagen: »Im Worumwillen ist das existierende
In-der-Welt-sein als solches erschlossen« (S. u. Z. S. 143). Diese Er-
schlossenheit wird »Verstehen« genannt. Das Verstehen wird von Hei-
degger als ein besonders wichtiges Existenzial in seinen Abwandlun-
gen auf das eingehendste herausgearbeitet; seine Formen sind Ent-
werfen, Auslegen, Aussagen. Nicht also wird dieses auf Bedeutsamkeit
ausgerichtete Verstehen gefaßt als eine mögliche Erkenntnisart unter
anderen. Immer ist es die Aufgabe, einen Be-deutungszusammenhang
zu »verstehen«. Dieser zielt letztlich auf das, worum es dem Dasein in
seinem Sein geht (Worumwillen). Das grundlegende Verstehen ist
fundiert also im Worumwillen des Daseins selbst, gerichtet im-
mer auf die Ermöglichung von Dasein als In-der-Welt-sein. Es ist
festzuhalten: Mit Hilfe des Verstehens als einem »fundamentalen
Existenzial« begründet Heidegger weitgehend die gesamte Existen-
zialität von Dasein überhaupt. Das vollzieht sich zunächst in existen-
zialanalytischer Absicht, aber immer in der um für die
Stellung der Frage nach Sein überhaupt einen tief gegründeten An-
satzpunkt zu gewinnen.

EINSEHEN· »MÖGLICHKEIT«

Von diesem Existenzial »Verstehen« ist Rilkes »Einsehen« zu betrach-


ten. In den entscheidenden Äußerungen seines Ringens um eine Sinn-
gewinnung für das Dasein, um die Erkenntnis eines Ortes im Seins-
zusammenhang spricht Rilke kaum je von Verstehen, aber immer
der von Einsehen. Befand er sich hierbei in einer gefühlsmäßigen Ab-
lehnung gegen jenes Wort, dessen geläufiger Sprachgebrauch eine
Tätigkeit des Verstandes nennt, mit einer Tendenz auf wissenschaft-
liche Beweisbarkeit und Theorie, die ihm zu fern lag? Begrifflich-

32
systematische Arbeit war nicht seine Sache. Wenn hier nun der Ver-
such gemacht werden soll, das Verstehen Heideggers und das Einsehen
Rilkes einander gegenüberzustellen, so wird sich ergeben, daß mit
Hilfe der Heidegger'schen existenzialanalytischen Betrachtung Ril-
kes denkerisch inexplizit gebliebene Voraussetzungen sich durchleuch-
ten lassen. Jedoch ist dabei stets festzuhalten: die existenzialanalytische
Betrachtung hat eine »fundamentalontologische<< Zielsetzung. Sie ist
keine Methode zur Interpretation von Dichtung. Es besteht auch nicht
die Absicht, sie dazu zu machen. Immer wieder muß betont werden,
daß diese Arbeit sich darauf richtet, an zwei Exponenten der
geistigen und künstlerischen Situation unserer Zeit seinsgeschichtlich
gegründete Gemeinsamkeiten, über alle Unterschiedenheiten hinweg,
aufzuzeigen. Will man dabei Gewaltsamkeiten vermeiden, so hat man
sich von vornherein zu bescheiden; man hat in Kauf zu nehmen, daß
jeweils ganze Strecken der parallelen Linien, auf denen man Einzel-
heiten bei dem Denker und dem Dichter darzustellen sucht, leer blei-
ben. Eine eingehende Untersuchung des Rilke'schen Wortgebrauches
aber läßt erkennen, daß, existenziell gesehen, das Einsehen für Rilke
»ein Grundmodus des Seins des Daseins<< (S. u. Z. S. 143) ist wie für
Heidegger das Verstehen.
Von vornherein ist eine sehr wesentliche Einschränkung vorzuneh-
men. Es fällt bei Rilkes »Einsehen<< der ganze Unterbau der Heideg-
ger'schen Alltäglichkeit aus. Erkennt man die Verlorenheit des Rilke-
schen Daseins im Uneigentlichsein Heideggers wieder, so ist es uner-
läßlich sofort festzustellen, daß Rilke niemals den Versuch unternimmt,
sein Einsehen-Wollen auf etwaige Struktur-Ableitungen auszudehnen.
Für Rilkes Einsehen bleibt diese Ebene völlig außer Betracht. Das
verlorene Dasein in seiner Uneigentlichkeit (als der Bereich des »Man<<
im Heideggerschen Sinn) ist für ihn lediglich der beklagte Ort, von
dem der Impuls seines Einsehenwollens sich abstößt. Dieser Ort steht
immer unter der Forderung der Verwandlung. Gerade also der Bezirk,
der in hervorragender Weise Heideggers Ableitungen des Verstehens
stützt, findet sich nicht als möglicher Boden für das Rilke'sche Ein-
sehen. Heidegger dient er im besonderen dazu, den durch-gehenden
Struktur-zusammenhang zu erweisen; daneben hat er wohl auch die
Aufgabe, eine relativ leichtere Begreifbarkeit zu tragen. Von vorn-
herein aber gilt bei Rilke: das Einsehen ist immer eine Funktion aus
dem Sein von Dasein, das auf Eigentlichkeit sich richtet. Dabei ist nicht
zu verkennen: dieses sich mühende Einsehen (Sorge) steigt auf aus
dem Sein von Dasein selbst - aber umwillen dieser Weise des Seins,
die für Heidegger nur die eine von den an sich gleichursprünglichen

33
zwei Weisen des Seins von Dasein ist. Es wird dabei die selbstver-
ständliche angesichts des Heidegger'schen Denkens geradezu naiv an-
mutende Voraussetzung gemacht, als sei es das Eigentlichsein, um das
es einzig und allein dem Dasein in seinem Sein gehen könne. Diese
Voraussetzung geschieht unbewußt, in einer gleichsam sentimen-
talischen Haltung; sie ist also von einer wissenschaftlichen Orientierung
gesehen unbewiesen. Das Einsehen will das Worumwillen des eigent-
lichen In-der-Welt-seins in seinen Möglichkeiten ergreifen; das Be-
zugsganze in seinen Bedeutsamkeiten für eigentliches Sein erfassen;
das immer schon Vertrautsein mit Welt in der Ausrichtung auf Eigent-
lichsein nutzen: daraufhin konstituiert das Sein von Dasein sein Ein-
sehen. Jedoch auch für Rilke sind alle diese Bezüge >>als ursprüngliche
Ganzheit verklammert« (S. u. Z. S. 87). Von Rilke aus aber ist diese
Ganzheit zu formulieren lediglich als das Woraufhin des Eigentlich-
seinkönnens. Aber diese >>Ganzheit« müßte Heidegger nur als die eine
Hälfte von Ganzheit bezeichnen. Von dem Heidegger'schen funda-
mentalontologischen Bemühen aus hängt also dieses Rilke'sche Ein-
sehen in der Luft. Und doch ist es vom Grund einer hier aufgewiesenen
(eingeschränkten) Entsprechung dem Heidegger'schen Existenzial
>>Verstehen« zu integrieren. Das wird jedoch nur möglich auf Grund
der von Heidegger herausgearbeiteten Existenzialität von Dasein.
Diese Parallelität ist seinsgeschichtlich bedeutsam; sie herauszustellen
will nicht heißen, daß damit konkrete Einsichten Rilkes >erklärt< wer-
den würden.
Ein Brief aus dem Jahre 1909 (Br. o7/14, S. 79 f.) läßt deutlich die
Richtung des Einsehens auf das Eigentlichseinkönnen erkennen. Das
Zusammenleben zweier Schwestern wurde von der einen freiwillig
und, wie es scheint, ohne Zerwürfnis aufgehoben. Rilke versucht, diese
scheinbar willkürlich vollzogene Trennung in ihrer möglichen Not-
wendigkeit einzusehen. Der Zurückgebliebenen will er zur Einsicht
bringen, daß das, was sie jetzt leidet, aus einer Gesetzhaftigkeit ent-
springt, die unser Leben beherrscht. Das Sich-los-lassen-Müssen auch
in der Liebe gibt lldie ferne Einsicht zu ahnen«, daß man selbst >>als
ein Liebender das Alleinsein nötig hat«. >>Die merkwürdige Gewißheit,
daß alles, was über ein schönes, in seinem Wesen fortschrittloses
Mittelmaß hinausreicht, doch völlig allein, als von einem unendlich
Einzelnen (fast Einzigen) wird empfangen, ertragen und bewältigt
sein müssen«, verdichtet sich vielleicht erst in der Stunde des Sterbens;
aber sie ist es, ))die diese Einsicht einem jeden bringt«. Jedoch: diese
Stunde llist nur eine von unseren Stunden und keine ausnahmsweise«.
Unser Leben ist von Abschied durchtränkt. >>Unser Wesen geht immer-

34
fort in Veränderungen über und ein.« Rilkes Lebensproblem war das
der freiwillig übernommenen Einsamkeit. Weil nun die Notwendig-
keit auseinanderzugehen »jeden Augenblick heraustreten und fordern
kann« - etwa um der Leistung der eigensten eigentlichen Aufgabe
willen, so ist es möglich, daß Menschen, »die sich liebhaben, ausein-
andergehen, eh es nötig ist«. Das »Einsehen<< hier wurzelt in einer
bestimmten Konzeption von Dasein; es hat ein Worumwillen-es-ihm-
geht anvisiert; »die Bedeutungen<<, also Liebe, Einsamkeit, das Über-
schreiten eines Mittelmaßes - sind ihm von daher erschlossen. Damit
ist ein »Woraufhin<< einsichtig geworden, das weitab von dem all-
täglichen Verhalten zur Liebe und zur Daseinsgestaltung und dem
Glücksverlangen sich bewegt. »Erschlossenheit<< hat nach Heidegger
einen ausgezeichneten Bezug zu Wahrheit. Das, was Rilke hier zu er-
schließen sucht, läuft ab in Bezirken des Daseins, die gemeinhin nur
von einem schmerzlichen Gefühl beherrscht werden. Oft genug bleibt
der Mensch im nur gefühlsmäßig Erlebten stehen; er denkt nicht daran,
diese Zusammenhänge als solche und dann noch in Bezug auf eine
mögliche »Wahrheit<< zu erfahren. Die Einsichten Rilkes aber sind
gerade nicht von diesem Blick der Alltäglichkeit getragen. Was an
Gefühligem hier aufsteigen könnte, wehrt er sanft ab. Es handelt sich
für ihn um etwas anderes, und er spricht es aus: es geht um die Ge-
winnung von Wahrheit als einem Konstitutivum von Existenz. Die
Wahrheit, die er hier eingesehen hat, nennt er eine »furchtbare Wahr-
heit<<. Jedoch, sie will sich nicht in der Erkenntnis als Selbstzweck
beruhigen. Sie geht darüber hinaus; nur darum kann sie zugleich
>>Unsere fruchtbarste und seligste<< genannt werden. »Fruchtbar<<kann
sie nur darum sein, weil sie im Erschließen eines Bezugsganzen das
»Woraufhin<< des Eigentlichseinkönnens frei gibt. Wollte man nur im
Uneigentlichen bleiben, in dessen G ewohnheiten man sich schlecht
und recht -wenn auch manchmal ein wenig schmerzlich - genug sein
ließe, könnte ein Gedanke an Fruchtbar-, ja an Seligsein einer so
schmerzlichen Erfahrung gar nicht aufsteigen; man bliebe bestenfalls
dem Gefühligen als solchem ohne weitere Frage hingegeben.- Der Be-
deutungszusammenhang dieses Einsehens wird noch klarer: Jenes Kon-
stitutivum von W elt wird genannt, auf das das Dasein als In-der-W elt-
sein angewiesen ist: die Vertrautheit. Hier ist es das Vertrautsein in
das Bedeutungsgefüge, welches das Rilke'sche In-der-Welt-sein als
Eigentlichsein zu tragen hat. Da wir uns mit diesem Brief in einem
stark gefühlsbetonten Bezirk befinden, verwandelt sich das »Vertraut-
sein mit<< in das »Vertrauen ZU<<: »Das Vertrauen zu ihrer (der Wahr-
heit) Strenge und Schwere nimmt täglich zu.<< Es führt aus der Er-

35
schlossenheit dieser Wahrheit, über das Vertrautsein mit dem Be-
deutungsgefüge eines möglichen Eigentlichseinkönnens des In-der-
Welt-seins zum Vertrauen in diese Gesetzmäßigkeit, die das so kon-
zipierte Dasein schließlich führt. Das, was das Einsehen als »Abschied«
herausheben konnte- »So leben wir und nehmen immer Abschied«
(achte Elegie)- setzt sich um in die Entschlossenheit, freiwillig zu über-
nehmen, was daraus sich ergibt, noch bevor, gerade bevor der Lauf
des Schicksals es aufzwingen könnte. Diese Gegebenheit einsehen, heißt
für Rilke, sie übernehmen; in diesem Obernehmen ist das Dasein ver-
wandelt. Die furchtbarste Wahrheit kann eine fruchtbarste und seligste
genannt werden. Rilkes vorlaufende Entschlossenheit ist hier sehr
zart in ein Vermuten gekleidet. So nah sie aus seinem tiefen Wissen
um den Tod entspringe, meint sie in diesem Augenblick nicht den Tod
als Sterbenmüssen. Jedoch auch er ist in diesen »Kreis« des Einsehens
einbezogen, »der sich hier endlich schließt« -und der nur mit dem Tod
überhaupt sich schließen kann. »Ist die Ahnung solcher Einsicht (die
aus dem hieraufgewiesenen Bedeutungsganzen entspringt) nicht viel-
leicht die Ursache, warum Menschen, die sich lieb haben, von ein-
andergehen?« Die Liebe, die hier im Blick steht, meint »die gewaltige
Liehe«, in der einer dem andern »immerfort das äußerste wünscht und
zumuten mag und darin keiner dem andern durch Beschränkung un-
recht tut«. Loslassen- Freigeben- in gewisser Weise Abschied, das
wird hier geradezu zum Konstitutivum dieser »gewaltigsten Liehe«.
Es ist »die einzige, die diesen Namen verdient«. Sich gegenseitig
»Raum und Weite und Freiheit« erzeugen- etwa um einer übernom-
menen Aufgabe willen -, dieser ungefühlige Aspekt von Liebe, be-
stimmt hier eine Ausformung der Weise des Eigentlichseinkönnens,
die inhaltlich-ontisch als eine Liebe faktisch gelebt wird. So wird sie
»Zu einer täglichen Arbeit an sich selbst und zu einem fortwährenden
Aufstellen kühner und großmütiger Anforderungen an den anderen«.
Das »Einsehen« in diesem Brief hat sich erwiesen als »das existen-
ziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst« (S. u. Z. S. 144).
Dieser Heidegger'sche Satz bezieht sich auf das Verstehen als das
grundlegende Existenzial für die beiden Weisen des Daseins zu sein.
Für Rilke ist er einzuschränken auf das Eigentlichseinkönnen. Ein Mo-
dus des Eigentlichseins ist für Rilke die Ausgestaltung, die das Dasein

7 Die Beziehung zu Rilkes entschlossenem nVorlaufen« in ein nSein-zum-ToJt:<C


(Heidegger) soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, weil es hier zunächst gilt, die
Funktion des Rilke'schen Einsehens klarzulegen. Das Sein-zum-Ende wird gesondert
dargestellt; dieser Brief hat auch dafür wieder seine besondere Bedeutung; vgl. S.
I I 7 ff. dieser Arbeit.

153
einer persönlich gelebten Liebe gibt. Die Berechtigung für die hier
vorgenommene Zurückführung wäre mit Rilkes eigenen Worten zu
belegen; naturgemäß nehmen diese sich etwas fremd aus in dem ter-
minologisch und begrifflich sauber eingegrenzten Bezirk eines strengen
Denkens. Rilke bittet um Verzeihung, die Adressatin des Briefes bei
der Beantwortung ihrer Fragen »ins Hochgebirge« geführt zu haben,
»WO es kalt und glänzend und ohne gewohntes Wachstum« ist. »Ge-
wohntheit« - so ist hier der Bezirk der Alltäglichkeit genannt. Man
muß ihn mit seiner Wärme hinter sich lassen, wenn man ins »Hoch-
gebirge« steigt. Dieses Wort »Gewohntheit« hier, genau wie die »All-
täglichkeit« Heideggers, ist ohne jeden abschätzenden Beigeschmack
gebraucht. Das Alltägliche, das Gewohnte ist das immer schon im ge-
läufigen Umgang eines jeden Tages wieder Begegnende. Aber nur in
dem darüber Hinaussteigen, im Sich-Überschreiten, so meint Rilke,
wäre die Antwort in »den Zusammenhängen<< zu geben gewesen.
Diese Zusammenhänge, von Rilke aus seinem vom Gefühl geführten
Einsehen aufgezeigt, sind hier auf die zugrundeliegenden Strukturen
zurückgeführt worden. Eine Überanstrengung des Rilke'schen Wortes
kann darin nicht erblickt werden. Wäre es nicht sein Bemühen gewe-
sen, hier tief in das Sein von Dasein zu loten, wie hätte er wohl weiter
sagen können: allein aus diesem Zusammenhang wären diese Einsich-
ten nicht trostlos, sondern gut »oder einfach seiend über alles Urteil
hinaus, wie die Natur seiend ist«. Wir haben erkennen können- und
diese Ietzt zitierten Worte sagen es ausdrücklich-: das Rilke'sche Ein-
sehen ist ausgerichtet auf das Seiendsein dessen, was in den mensch-
lichen Erfahrungen begegnet. Dieses Einsehen ist gegeben mit dem
menschlichen Dasein selbst als ein Grundmodus seines Seins. Nur weil
dieses Einsehen nichts anderes ist als eine Weise des Daseins zu sein,
ist es als ein Konstitutivum von Dasein immer wieder aufweisbar. Das
ontisch-faktische Dasein in seinem So-sein erkennt sich kraft dieses
Einsehens in seinen Möglichkeiten und entwirft sich zu seinem Eigent-
lichseinkönnen. Das ist das bedeutsame Ergebnis der Analyse dieses
Briefes.
Es ließen sich eine große Anzahl anderer Belege anschließen, die dar-
tun, wie immer es diesem aus dem Sein von Dasein entspringenden
Einsehen um das eigene eigentliche In-der-Welt-sein geht und nie-
mals um theoretische Erkenntnisse. Einige wenige seien noch beige-
bracht; sie sind gerade in ihrer Unscheinbarkeit ausgewählt, um das
Konstitutivum von Einsehen als ein durchgehendes aufzuzeigen.
Im Anschluß an einen Brief Clara Rilkes schreibt Rilke, wie gut er
verstehe, »daß es eigentlich keine Entschlüsse<< gäbe. Diesen »Ent-

37
schlüssen<< als etwas Va:rgefaßtem- stellt er gegenüber »die Einsich-
ten über das Entschließen<<, wie eine Freundin seiner Frau sie geäußert
habe. Diese Einsichten seien »SO gerecht wie alles, was diese Freundin
aus ihrem aufrichtigen und aufmerksamen Leben wachsen lasse<<. Wer
solche Einsichten »wachsen<< zu lassen vermag,- das ist zu folgern-
dem geht »immer wieder so natürlich eines aus dem andern hervor,
ungewaltsam, so bleibt kein Raum für einen Entschluß<<. Dieser Satz
sucht nur das Bild einzufangen, das ein anderer Mensch in ihm her-
vorrief; er zeigt die Spiegelung einer fremden existenziellen Erfahrung
in seinem Bewußtsein auf. Die Einsichten wachsen; sie gehen also in
diesem organisch-biologischen Bilde unmittelbar aus dem Dasein selbst
hervor. Die Formulierung Rilkes weist zurück in ein Denken, das noch
zu Beginn des Jahrhunderts organologischen Vorstellungen verhaftet
war. Die Strukturen Heideggers dagegen haben das Gesicht eines
Skelettbaus. Beide Weisen der Veranschaulichung eines Denkzusam-
menhanges wollen dasselbe erreichen: das Verstehen wird zu einem
Modus des Seins erklärt. Das tertium comparationis, das beide formal
so verschiedenen Sichten eint, gründet in der existenziell erfahrenen
Nötigung, eine bedeutsame Weise, in der das Dasein ist, so eng im
Ausdruck an die Existenz zu binden, daß eine konstitutive Bedingtheit
einsichtig wird (Br. o7/14, S. 41).
Rilke beklagt wieder einmal sein Unvermögen zum »immer-Arbei-
ten-Können«. Auch in einer unbehaglichen Verfassung müsse man
»Dinge<< machen, eben »aus dieser (unbehaglichen) Verfassung her-
aus<<. Er schildert, wie sich van Gogh und Rodin in solchen Fällen
verhielten: »Mir ahnt aber, daß das nicht bloß Erziehung ist und
Zwang, so zur Arbeit zu sein<<. (Wie aufschlußreich ist diese Wort-
fügung: »so zur Arbeit zu sein<<!) »Es ist das natürliche Wohlsein in
diesem Einen, an das nichts anderes heranreicht. Vielleicht muß man
deutlicher noch die 1Aufgaber einsehen, die man hat, greifbarer noch,
in Hunderten von Einzelheiten erkennbar.<< Auch dieser Wortgebrauch
ist weiterweisend: das Wort »Einsehen<< trägt unmittelbar das Be-
gründen des Eigentlichseins. Das Existenzial »Verstehen<< = »Ein-
sehen<< richtet seine Erschließungskraft auf das Eigentlichsein als die
Weise seines Daseins, die seine >Aufgabe< trug. Das fiel für Rilke per-
sönlich zusammen mit dem übernehmen dieser »eigentlichen<< Auf-
gabe. Genau das meint die Weise seines Seins »so zur Arbeit zu sein«.
Die konkret ontisch-existenzielle Durchführung der Aufgabe aber wird
dann erst auf diesem >>eingesehenen<< Grunde in >>Hunderten von Ein-
zelheiten« faktisch erkennbar (Br. o6/o7, S. 348).
Im Begriff, den zweiten Teil seines Rodin-Buches zu schreiben, unter

153
dem Andrang neuer Eindrücke und Ansprüche, >ertappt< gleichsam
Rilke sich dabei, »gewisse Verschiebungen des Standpunktes« festzu-
stellen, der den ersten Teil dieses Buches trug. Diese »Verschiebun-
gen« sind ihm jedoch »noch nicht geläufig« genug; er wehrt sie ab, da
sie noch nicht ausreichen, »um ein neues, ebenso klares und im tiefsten
Sinne richtiges Verhältnis von Einsichten aufkommen zu lassen«.
Vergegenwärtigt man sich Rilkes Einstellung zum Kunstschaffen und
Kunstbewahren, so kann mit dem hier heraufzurufenden »richtigen
Verhältnis von Einsichten« nicht etwa nur die Grundlage für eine
kunstkritische Betrachtung im geläufigen Sinne gemeint sein. Ein-
sichten, wie sie hier verstanden sind, besonders, wenn sie verlangen, in
»einem richtigen Verhältnis« zu einander sich zu präsentieren, zielen
auf ein Bedeutungsgefüge. Es kann nur aus dem ionersten Wesen des
geschaffenen Werkes abgelesen werden. Es leuchtet auf als die »Wahr-
heit« (Heidegger) einer »erkannten Gestalt« (Rilke). Das aber besagt:
Das Sein des eigenen Daseins muß das Sein dieses seienden Kunst-
dinges »einsehen«. Aus dem Worumwillen dieses Daseins, dem es in
seinem eigenen Sein um dieses Sein selbst geht, müssen die Ein-
sichten entspringen, die das Kunstwerk aufsuchen; sie treten ihm aus
dem Kunstwerk wieder entgegen. Dasein und Kunstwerk begegnen
sich in dieser Dimension von Sein-überhaupt, in der die Kunst als
»Wahrheit geschieht« (Heidegger). Der Bezug dorthin und damit die
Kunst selbst ist ein wesentliches Element dieses Seins von Dasein, dem
es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht (Br. o6/o7, S. 290).
Es ist die Dimension des Heilen, auf die das Verstehen als Ein-
sehen jeweils mehr oder weniger offenkundig zielt. Denn dem Sein
dieses Daseins geht es in seinem Eigentlichsein gerade um dieses Heil-
sein. Auf die eindrücklichste Weise wird diese Funktion des Einsehens
deutlich in einem Brief Ende November 1921 aus Muzot, kurz vor
dem letzten Durchbruch zu den Elegien und dem »Geschenk« der So-
nette. Rilkes innerlichste Hingabe an dieses zu schaffende Werk bestand
durch Jahre hindurch; und doch war es immer wieder faktisch noch
nicht geschaffen. Diese angespannte Bereitschaft hatte in Rilke gleich-
sam das Gefühl einer Identität bewirkt zwischen »der Intensität und
Reinheit . . . (einer) innen entsprechenden Besinnung« und dem aus
dieser dann vielleicht wirklich einmal hervorgehenden Werk selbst.
Gewiß ist »Dasein und Dableiben über uns hinaus« das, was der
Künstler eigentlich meint; aber »ganz gerecht wird man erst, wenn
man einsieht, daß auch diese dringendste Realisierung einer höheren
Sichtbarkeit, von einem endlich äußersten Ausblick aus, nur als Mittel
erscheint, ein wiederum Unsichtbares, ganz und gar Inneres und viel-

39
leicht Unscheinbares-, einen heilerenZustand in der Mitte des eigenen
Wesens zu gewinnen«. Löst man den Hauptsatz aus den verhüllenden
Zwischensätzen heraus, so wird unüberbietbar deutlich: das hier ge-
nannte »Einsehen« zielt auch syntaktisch ganz unmittelbar auf ein
»Heiles«. Und das, was der Künstler »meint« als das seine, ihn immer
wieder Bewegende, eben die faktische Realisierung des Werkes, ist dazu
»nur ein Mittel«. Freilich ist diese Einsicht nur »von einem äußersten
Ausblick« zu gewinnen, von einem Transzendieren auch noch über
psychische und faktische Realitäten. Denn dieser »heilere Zustand in
der Mitte des eigenen Wesens« ist ein »wiederum Unsichtbares«. Mit
dem Beiwort »wiederum<< wird dieses »Unsichtbare<< hier gleichsam
auf dieselbe Ebene gestellt wie »die höhere Sichtbarkeit der Reali-
sierung<< des Werkes; denn, wahrhaftig, »sichtbar<< = tastbar im üb-
lichen Sprachgebrauch ist ja am Werk nur das Stoffliche. Die »höhere
Sichtbarkeit<< eines Wort-Werkes liegt von vornherein nur im Un-
sichtbaren; sie liegt auch im Wort selbst noch höher als im gemeinhin-
nigenGebrauch dieses Wortes. Das Unsichtbare- wir werden es im-
mer wieder hinter Rilkes Aussprüchen darüber zu erkennen haben -
ist der Bereich des Engels. Es ist der Bereich des »Heilen<<, des ''Hei-
ligen<<, aus dem die »erkannte Gestalt<< eines Kunstwerkes hervorgeht,
das nur ist aus dieser Dimension des Seins. Es ist das dieser Bereich, der
den weitesten Umfang des Rilke'schen Überschreitens = Transzendie-
rens beschreibt (Br. 2 r/ 26, S. 48).
Der Malte Laurids Brigge hat Rilke Jahre hindurch bis zu seiner
Vollendung und die Jahre danach bis an sein Lebensende nie wieder
ganz losgelassen. Dieses Buch ist ein Kompendium der Negativitäten
über das in die Sinnlosigkeit ausgesetzte moderne Leben; es ist die Ab-
sprungbasis für die reifere Einsichtgewinnung Rilkes. Liest man Ril-
kes eigene briefliche Auslassungen zu diesem Werk, so hat man unter
dem hier vorwaltenden Gesichtspunkt eine gewisse Zurückstellung
des psychologisch-tatsächlichen Gehaltes vorzunehmen. Zielt dann der
Blick auf die existenzbegründende Funktion des Einsehens, so ist klar
zu erkennen, wie das, was Rilke Dasein nannte, aus dem Sein selbst
dieser um ihr Eigentlichsein im Einsehen besorgten Existenz hervor-
wächst. Auch hier ist von den hohen Inhalten dieses Daseins völlig ab-
zusehen. Denn unsere Betrachtung will keine Wertakzente gesetzt se-
hen, sondern Strukturen vergleichend erkennen, die vor jedem Gehalt
und vor jeder dichterischen Gestaltung liegen. Wir werden noch dar-
zustellen haben, in welcher Weise die Gestimmtheit = Befindlichkeit
im Heidegger'schen Sinn für das sich begründende Rilke'sche Dasein
aufschlußreich ist. An dieser Stelle unserer Untersuchung ist vorerst

153
festzuhalten: Die in Malte eindeutig negative Färbung der tragenden
Gestimmtheit als Grundbefindlichkeit treibt immer wieder unmittel-
bar ihr Verstehen qua Einsehen sofort auf das Eigentlichsein, eben auf
»Dasein«. Damit kann natürlich nicht gemeint sein, daß das Verstehen
des In-der-Welt-seins der Alltäglichkeit nicht immer auch >da< ist, im
Gegenteil. Das Verstehen des alltäglichen In-der-Welt-seins, gerade in
der Weise des zum Bewußtsein kommenden Uneigentlichseins, muß
immer als ein schon-Verstanden-Haben geschehen sein; es bleibt für
Rilke aber gewöhnlich uninteressant und unexpliziert. Das Umwillen,
worum es diesem Dasein geht, sieht das gemeinhinnige Sich-Verstehen
als defizienten Modus. Und darin ist es vom Heidegger'schen Existen-
zial Verstehen deutlich unterschieden; dieses letztere ist ausdrücklich,
als Fundamentalstruktur, wert-indifferent. Was es hier jedoch zu er-
kennen gilt, ist Folgendes. Das Umwillen dieses Rilke'schen Daseins
geht direkt auf Eigentlichsein; und das ist nicht etwa nur an den Ge-
halten zu erkennen, die auf ihre persönlich bestimmte \Verthaftigkeit
hin orientiert sind. Der Satz Heideggers: »Im Worumwillen ist das
existierende In-der-Welt-sein als solches erschlossen, welche Erschlos-
senheit Verstehen genannt wurde<< (S. u. Z. S. 143), ist, bezogen auf
das Rilke'sche Dasein, nur in den zwei folgenden gesperrt gesetzten
Worten zu ändern: Im Worumwillen ist das existierende In-der-Welt-
sein als Eigentlichsein erschlossen, welche Erschlossenheit Einsehen ge-
nannt wurde. Diese Direktheit der Funktion des Einsehens gilt es noch
näher darzulegen.
Aus der Zeit, in welcher Rilke noch mit der Arbeit am Malte Lau-
rids Brigge rang, liegt ein Brief an Clara Rilke vor. Er stammt aus den
Oktobertagen des Jahres 1907, dem Augenblick der Cezanne-Begeg-
nung. Rilke spricht von der heftigen Erschütterung seiner Kunstauf-
fassungs durch Cezannes Werk und von dem zu vollendenden Buch;
beides steht in Beziehung zu einander. Die Legende von St. Julian dem
Gastfreien, erzählt von Flaubert, wird für Rilke zum Paradigma für
»die äußerste Liebesmöglichkeit«, mit der der schaffende Künstler jedes
Seiende, und sei es auch das abscheulichste, umfassen müsse. Dann erst
geschieht »das einfache Leben einer Liebe, die bestanden hat, die, ohne
sich dessen je zu rühmen, zu allem tritt, unbegleitet, unauffällig, wort-
los. Die eigentliche Arbeit, die Fülle der Aufgaben, alles fängt erst hin-
ter diesem Bestehen an ... <<. Auf den Dichter und Menschen Malte ge-
wendet, heißt es weiter: »Ist es nicht das, daß diese Prüfung ihn über-

8 Die außerordentliche Bedeutung der Cezanne-Begegnung für Rilkes Kunst:mf-

fassung ist in einem besonderen Abschnitt dieser Arbeit dargestellt; vgl. S. 81 ff.

4I
stieg, daß er sie am Wirklichen nicht bestand, obwohl er in der Idee von
ihrer Notwendigkeit überzeugt war, so sehr, daß er sie so lange instink-
tiv aufsuchte, bis sie sich an ihn hängte und ihn nicht mehr verließ? Das
Buch von Malte Laurids, wenn es einmal geschrieben sein wird, wird
nichts als das Buch dieser Einsicht sein, erwiesen an einem, für den sie
zu ungeheuer war.« Die Einsicht, von der Rilke hier spricht, die Ein-
sicht, aus der das noch nicht geschriebene Buch wachsen sollte, konnte
nur sein Schöpfer selbst haben. Aber besaß er sie wirklich schon? Galt
nicht auch für den Dichter des Malte, daß er nur »in der Idee von ihrer
Notwendigkeit überzeugt war«? Im Brief ist diese Einsicht verstan-
den als ein Grundmodus des Seins von Maltes Dasein; aber im Brief
steht der Malte für den Dichter und der Dichter für den Malte. Das
Wachsen der Einsicht, die das Dasein des Dichters gestaltet, konstituiert
auch das Dasein des Malte; Schöpfer und Geschöpf fallen darin bis zur
Identität zusammen. Die existenzbegründende Funktion des Rilke'schen
Einsehens entspringt dem Sein seines eigenen Daseins; ihm geht es um
das, woran der Malte vielleicht einmal zerbrechen wird. Das Worum-
willen des Malteschen Daseins richtete sein Einsehen auf etwas, was
Rilke mit seinem eigenen Sein zu ergreifen bereits unterwegs war; und
der erdichtete Malte konnte es nur ergreifen, wenn sein Dichter es
schon ergriffen hatte. Aber Rilke war noch nicht angelangt; so schließt
der Brief: »Ich weiß jetzt viel mehr von ihm (dem Malte), oder doch:
ich werde es wissen, wenn es nötig wird« (Br. o6/o7, S. 393 ff.). Von
diesem »Wissen« hat der Satz Heideggers zu gelten: »Dieses >Wissen<
ist nicht erst einer immanenten Selbstwahrnehmung erwachsen, son-
dern gehört zum Sein des Da, das wesenhaft Verstehen ist« (S. u. Z.
s. 144)·
Sehr deutlich ist in diesem verhältnismäßig frühen Rilke-Brief der
Möglichkeitscharakter des Einsehens ausgesprochen. Heidegger formu-
liert: »Dasein ist ... primär Möglichsein«. Der Brief ließ erkennen: das
Dasein entwirft sich in seinem Einsehen-wollen auf eine mögliche Weise
seines eigentlichen Seinkönnens. »Das wesenhafte Möglichsein des Da-
seins betrifft ... in all dem und immer schon das Seinkönnen zu ihm
selbst, umwillen seiner« (S. u. Z. S. 143). Diese Weise wird von Rilke
im Zusammenhang mit dem zu schreibenden Buch sofort objektiviert
zur möglichen, aber möglichenfalls auch unmöglich zu erreichenden
Weise des Seins einer erdichteten Gestalt: »Vielleicht bestand er ja auch:
denn er schrieb den Tod des Kammerherrn; aber wie ein Raskolnikow
blieb er, von seiner Tat aufgebraucht, zurück, nicht weiterhandelnd im
Moment, wo das Handeln erst beginnen mußte, so daß die neu errun-
gene Freiheit sich gegen ihn wandte und ihn, den Wehrlosen, zerriß.«

153
Aus diesen Sätzen des Rilke-Briefes wäre deutlich das nachfolgende
Wort Heideggers abzulesen: »Die Möglichkeit als Existenzial ist die ur-
sprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Da-
seins« (S. u. Z. S. 143 f.). Das heißt schlicht und einfach: seiner Struk-
tur nach ist das Sein des Daseins Möglichsein. Dieses Möglichsein ist das
erste und letzte, was man vom Sein des Daseins überhaupt aussagen
kann. Die Inhalte dieses Daseins können darum sowohl diese wie jene
sein. Deshalb besagt das faktische Unmöglichwerden der Realisierung
einer konkreten, sich schon inhaltlich gefüllthabenden Einsicht nichts
gegen ihren existenzialen Möglichkeitscharakter als solchen; er eignet
dem Einsehen als einer konstitutiven Funktion aus dem Sein des Sein-
könnens von Dasein.
Bei unserer Untersuchung stoßen wir immer auf die gleiche Schwie-
rigkeit; sie liegt im Thema selbst. Das, was der Dichter uns gibt, sind
Menschen von Fleisch und Blut, mit konkreten Einsichten und bestimm-
ten Gefühlen, mit Leidenschaften und Ängsten. Das, was die Existen-
zialanalyse zu bieten hat, sind Strukturen und formal erfaßte Zusam-
menhänge, die dieErmöglichung von konkretem Dasein aufzeigen. Die
Gehalte dieses Daseins liegen >späten; sie kommen zunächst gar nicht in
die Vorhabe. In gewisser Weise ist also die Vorhabe des Dichters und
des Denkers, etwas banal ausgedrückt, so unvergleichbar wie Form und
Inhalt. Was sie dennoch in eine nahe Beziehung zu setzen zwingt, ist der
Anstoß für ihre beiden in sich so verschiedenen Wege, der aus einer ver-
wandten existenziellen Erfahrung hervorging: die Seinsferne des mo-
dernen Menschen erzwingt die Frage nach dem Sein von Dasein: »Wann
aber sind wir?« (Rilke), die Frage nach seinen Möglichkeiten: »Schmeckt
denn der Weltraum, in den wir uns lösen, nach uns?« Auf dem anderen
Wege liegt die Frage nach seinen Strukturen. Der gemeinsame Kairos
über dem Denker wie über dem Dichter vor-bestimmt in gewisser Weise
ihre Fragen; diese Fragen selbst zielen von sich aus in die ihnen mög-
lichen Antworten. Denker und Dichter wollen wissen, was Sein-über-
haupt ist, in welchem Bezug Sein zu Sein von Dasein steht und umge-
kehrt; sie fragen nach dem Grund der Möglichkeit, aus dem Dasein auf
die eine oder andere Weise ist.
Die Möglichkeitsstruktur im Einsehen des Malte sagt Rilke auch
noch nach dem Erscheinen des Buches immer wieder aus. Oft genug
möchte er es jungen Leuten aus der Hand nehmen: »denn die Aufzeich-
nungen sind, in einem gewissen Sinne, mehr verführend als wohltuend«,
obwohl sie »durchaus hoffnungsvolle, große, zur Leistung anfordernde
Einsichten (enthalten), die über dem Schweren und Unüberwindlichen
sich einstellen ... « (Br. o7/ 14, S. 195). Dieses »Schwere und Unüber-

43
windliehe (ist) zu Bestandteilen eines Untergangs geworden«. Daß sich
jedoch »hoffnungsvolle zur Leistung auffordernde Einsichten« mögli-
cherweise darüber »einstellen« können, will besagen: Das Einsehen in
seiner Möglichkeitsstruktur kann sich abstoßen vom Unüberwindli-
chen hin zu einem Entwurf, der das im Buch unüberwindlich Geblie-
bene dennoch überwindet. Eine geheime Nötigung liegt auch in dem
»Unüberwindlichen«; das gewählte Wort» anfordernde« Einsicht spricht
es aus. Diese »anfordernden Einsichten« können ins Ziel kommen. Das-
selbe Faktum aber als ein »unüberwindlich«-bleibendes weist auf Kräfte
hin, die »auch gelegentlich zur Zerstörung führen« können und tat-
sächlich zur Zerstönmg führen werden, wenn »das Buch einem in
einem nachgiebigen Augenblick mit seiner verhängnisvollen Seite sich
zukehrt«. »Wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel
geht, muß notwendig abwärts kommen.« Das ist jedoch das Merkwür-
dige daran und so besonders aufschlußreich für die Möglichkeitsstruk-
tur der Einsichtgewinnung von Dasein: auch dieses Abwärtskommen
geschieht in der Weise des Eigentlichseins, wenn auch als ein ontisch
mißglücktes. Denn die ganze Konzeption des Malteschen Seinkönnens,
von ihm selbst her gesehen, gründet ja in einer Idee von »Notwendig-
keit«, nur daß er für ihre Realisierung zu schwach war. Es gibt also
einen existenzialen Entwurf zum Eigemlichsein, gleichsam mit ontisch-
negativem Vorzeichen. (Das ist für eine weiterführende Betrachtung
festzuhalten.) Der Leser aber, der es vermag, das Buch »gewisserma-
ßen gegen den Strom zu lesen«, der wird die »Höhenlage der einzel-
nen Punkte« erkennen. Sein eigenes Sich-Entwerfen auf die gleiche
Weise des Seins als Eigentlichsein, die dem Malte mißlang, wird positiv
und in diametral entgegengesetzter Richtung verlaufen. So lassen sich
aus der Möglichkeitsstruktur von »Entwurf« dem Malte-Buch drei Li-
nien entnehmen: I. eine in Bezug auf den Malte persönlich; sie geht auf
Eigentlichsein; trotzdem ist sie ein Versagen; 2. die andere Linie, vom
Leser aus gesehen, kann zu dem Ergebnis führen, daß die »zur Leistung
anfordernden Einsichten« gewissermaßen nicht ankommen; der Leser
geht dem Malte parallel und in den Untergang; 3· die letzte Möglich-
keit zeigt, daß sich aus der gleichen Funktion von Einsehen ergeben
kann, wozu Rilkes eigenes Einsehen durch den Malte hindurch auf dem
Wege war: die Kristallisation der großen zur Leistung auffordernden
Einsichten in einem voll erfaßten Eigentlichsein, welches dann auch
faktisch-ontisch gekonnt ist. Das aus dem Buch vom Niedergang des
Malte sich abstoßende Einsehen des Lesers in seiner Möglichkeitsstruk-
tur realisiert diese letzten beiden einander entgegengesetzten Wege aus
dem gleichen Tatbestand und aus dem gleichen Worumwillen.

44
Es gibt noch einen Brief Rilkes aus dem Jahre 1915, der diese Mög-
lichkeitsstruktur des Einsehens mit ihren Ergebnissen eines (mögli-
chen) negativen oder (möglichen) positiven Vorzeichens außerordent-
lich anschaulich macht9 • Aus ihm ist zu erkennen, wieweit »die Aufzeich-
nungen des Malte Laurids Brigge« und damit der Impuls seines Ein-
sehen-wollens in den Wurzelgrund von Rilkes eigener Existenz herab-
reichen. Dies ist nicht in dem banalen Sinn zu verstehen, der aus den
Aufzeichnungen einen autobiographischen Roman machen möchte;
sondern in dem viel tieferen Sinn, der das So-sein des konkreten Da-
seins Rilkes und des erdichteten Daseins seines Geschöpfs bis in die
existenzialen Bedingungen von Dasein-überhaupt zurückgeführt sehen
möchte: ,, Was in Malte Laurids Brigge ausgesprochen und eingelitten
steht, das ist ja eigentlich nur dies, mit allen Mitteln und immer wieder
von vorn und an allen Beweisen dies: Dies, wie ist es möglich zu leben,
wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind?« (Br.
14/z1, S. 86). Das so eindringlich wiederholte ))Diesrr ist Chiffer; sie
wird dann weiterhin eingehend in ihre konkreten Tatbestände ent-
faltet. Die intensivste seelische Kraft des Begreifens, aus der heraus sie
zu entziffern ist, scheint Rilke an dieser Stelle mit dem von ihm dafür
gewöhnlich eingesetzten Wort »einsehen« noch nicht eindringlich ge-
nug ausgedrückt. Das hier zu erwartende Wort »eingesehen« ist zu
»eingelitten« geworden. Das Existenzial »Einsehen« wurde in dem
Wort neingelitten« zu Fleisch und Blut einer faktisch-ontischen Exi-
stenz. Die existenzielle Wirklichkeit des fühlenden Menschen will aus
dem Einsehen in den Gründen ihrer Ermöglichung erschlossen werden.
Rilke schweift ab und denkt zurück, daß ihm schon vor Jahren das Er-
schrecken eines Lesers an diesem Buch entgegengetreten sei. Diesem
begegnete er mit der Erklärung, er, Rilke selbst, empfände das Buch
nmanchmal wie eine hohle Form, wie ein Negativ, dessen alle Mulden
und Vertiefungen Schmerz sind, Trostlosigkeiten und weheste Ein-
sicht ... «. (Unsere Interpretation zu neingelitten « bestätigt sich also mit
dem Wort ))weheste Einsichtcc.) Die Möglichkeitsstruktur aber dieses
Einsehens, die Existenz-begründende Funktion, erweisen die folgen-
den Worte auf das eindringlichste. Dieses Negativ der wehesten Ein-
sicht erlaubt vielleicht etwas durchaus Positives; n---der Ausguß
aber, wenn es möglich wäre einen herzustellen (wie bei einer Bronze
die positive Figur, die man daraus gewönne), wäre vielleicht Glück, Zu-
stimmung;- genaueste, und sicherste Seligkeit«. Und so sagt der Malte
fast wörtlich (GW V, S. 66): nOh, es fehlt nur ein kleines, und ich
9 Der Brief wird für das Verhältnis Rilkes zum Nicht und zum Nichts und zum

Tode uns noch eingehend zu beschäftigen haben; vgl. S. 107 ff.

45
könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und mein
tiefes Elend würde Seligkeit sein.«
Diese Möglichkeitsstruktur des Entwurfs kann man im »Malte« selbst
immer wieder aufsuchen. Von dieser erfundenen Gestalt aus gesehen,
ergibt sich schon allein die existenzbegründende Funktion von Einse-
hen; nur eine Stelle noch sei dafür aus dem »Malte« beigebracht. Der
Impuls, der den jungen Dänen, fünf Treppen hoch, an einem grauen
Pariser Nachmittag antreibt, stößt sich ab von der Negativität: »Ich
sitze hier und bin nichts. Und dennnoch, dieses Nichts fängt an zu den-
ken« (GW V, S. 29). Das erste »nichts« ist das micht< zum Sein. Aber
Malte wendet sich ab von der Negativität und hin zum Nichts als Er-
möglichung von Etwas. Es ist das dieses »Nichts«, das anfängt zu den-
ken. Hier will aus dem Sein der schon fast vernichteten Existenz des
Malte die Sicht eines positiven Eigentlichsein aufbrechen. Das auf knapp
drei Seiten dreiundzwanzigmal in der fragenden und bejahenden Form
wiederholte »ist es möglich« - »ja - es ist möglich« greift aus den
Tatbeständen und Erlebnisformen des sinnentleerten modernen Le-
bens fast willkürlich einige Anlässe heraus; und es scheinen gar nicht
die bedeutendsten, um in ihnen die Ansätze zu einem möglichen Ent-
wurf von »Dasein« zu enthüllen. Malte scheiterte. Die Kraft seines
Einsehens erschöpft sich im »nicht« zum Sein; seine Kraft reicht noch
gerade aus für die Durchstoßung des Nichts zur Ermöglichung von Et-
was. Aber dieses »Etwas« selbst kann er nicht ergreifen. Im Februar
1912 schreibt Rilke wieder einmal warnend vor dem Verlauf des Un-
tergangs, in den die Einsichten des Malte eingeschlossen sind: »Daß der
arme Malte daran zugrunde geht, ist seine Sache und braucht uns nicht
weiter zu bekümmern. Wichtig ist nur, daß das Übergroße nicht ver-
schmäht, sich so vertraut mit uns einzulassen« (Br. o7/14, S. 207). Die
»sehr angewachsenen Leiden«, die das Negativ der »wehesten Ein-
sicht« aus ihm herausgebosselt hat, »be-deuten« uns. Dieses Be-deutet-
werden-können ist nur gegeben aus einem immer schon Vertrautsein
mit der Doppeldeutigkeit des Übergroßen als Negativ und Positiv.
Hier wird uns aus demNegativ die Ermöglichung eines ganz anderen als
Untergang und uferloses Leid bedeutet: wir können aus diesem Nega-
tiv eine positive Sicht entwerfen; es geschähe dann das, was Rilke Ver-
wandlung nennt. Verwandeln heißt: sich abwenden von der Kategorie
der Vorhandenheit und ihrem schlechthinnigen und ausschließenden
Realitätsanspruch. Verwandeln heißt: die Wirklichkeit auf ihre Mög-
lichkeitsstruktur abgetastet zu haben. Dann werden wir vielleicht ein-
mal fähig sein einzusehen, »bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen
könnte, die mit der Fülle derselben Kräfte zu leisten wäre«. Bevor wir

153
das aber aus einer Einsicht Rilkes heraus selbst einsehen, ist es nötig,
erst noch die Funktion des Nicht, des Nichts und die Bedeutung des
Absprungs Rilkes aus der Negativität zu begreifen. Dann werden wir
wissen, was Verwandeln eigentlich meint.

BEFINDLICHKEIT

Wir waren bestrebt, die existenzbegründende Funktion des Rilke-


schen Einsehens zu zeigen und es dem Heidegger'schen Existenzial Ver-
stehen zu integrieren. Dieses Verstehen und dieses Einsehen geht ganz
und gar nicht in der Weise von statten, als erscheinen auf dem weißen
Blatt der menschlichen Psyche Zeichen und Formeln, mit deren Hilfe
der Mensch sein In-der-Weh-sein meistern könne. Wenn wir einen
Augenblick in diesem nicht ganz zutreffenden Bilde bleiben wollen:
Dieses >weiße Blatt< ist immer schon getönt; es weist eine ganz be-
stimmte Eigenfärbung auf. Gewiß ist sie wechselnd und nicht zuletzt
durch die aufgenommenen und aufzunehmenden Zeichen des immer
erneut zu vollziehenden Verstehens wandelbar. Aber eine Situation
auch nur zu denken, in der die Innerlichkeit des menschlichen Daseins
ein neutrales Weiß zeigen könnte, ist gegen jede mögliche Erfahrung.
Eine Untersuchung, die vom Einsehen und nicht vom Verstehen aus-
geht, hat es leichter, die Tatsache der immer schon >da<-seienden Färbung
festzustellen. Das Einsehen hat auch schon für das geläufige Verständ-
nis eine größere Nähe zur Stimmung. An der Exemplifizierung am
Malte und seinem Einsehen, an den Briefen Rilkes und dessen eigenem
Einsehen sahen wir, wie es immer schon von einer stimmungshaften
Negativität getragen ist. Wenn endlich diese Grundverfassung bis zur
Unerträglichkeit bewußt geworden ist, kommt es erst zu der wört-
lichen Aussage und dann zu der möglichen Fixierung der Ergebnisse,
die das Einsehen zeitigt. Heidegger weist auf das eindrückliebste nach,
daß diese immer schon >da<-seiende Gestimmtheit, ob licht oder dunkel,
unablöslich zur existenzialen Konstitution des >Da< gehört (S. u. Z.
§§ 29, 30). Er nennt- ontologisch- diese Gestimmtheit »Befindlich-
keit«. Denn immer schon »befinden« wir uns in einem Gestimmtsein,
mag es die vage »fahle U ngestimmtheit «, mag es das wechselnde »über-
gleiten vom ungestörten Gleichmut zum gehemmten Mißmut« sein.
Wie flüchtig und oft unbeachtet dieses Gestimmtsein in uns auch ab-
läuft, wir sind unser Dasein als Befindlichkeit, das heißt als immer-

47
schon-gestimmtes. Diese Gestimmtheit ist ein Existenzial, genau eben-
so fundamental wie das Verstehen = Einsehen: »Die Stimmung macht
offenbar wie einem ist und wird.« Und so gestimmt, auf die eine oder
andere Weise, »wird das Dasein vor sein Sein als >Da< gebracht<<. Nicht
also findet man sich selbst erst einmal vor, gleichsam neutral daseiend,
in einer Art ungestimmter Vorhandenheit und erlebt dann an sich
Stimmungen; sondern daseiend ist man schon immer gestimmt. Es ist
ein Griff in den Wurzelgrund der Sprache, mit dem Heidegger »Be-
findlichkeit« und »Gestimmtheit<< identisch setzt. Es geschieht unter
zwei verschiedenen Blickpunkten; es sei dem hier einmal nachgegangen.
Beispielhaft gibt diese Wortwahl zu erkennen, daß Heideggers so oft
als willkürlich angesehene Sprachgebung wohl immer tieferen Über-
legungen entspringt, in die die Kritik vorerst eindringen sollte, ehe sie
sich befugt glaubt, Willkür festzustellen. »Was wir ontologisch mit
dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und All-
täglichste: die Stimrimng, das Gestimmtsein.<< Zur Erläuterung diene
die ganz banale Frage: »Wie befinden Sie sich?« Vor jeder möglichen
Antwort ist damit immer schon selbstverständlich mitgedacht: 1. ein
körperliches Dasein, das räumlich >da< ist; 2. dieses Dasein, daseiend,
muß auf die eine oder andere Weise gestimmt sein. Ließe man das
»Wie« des Fragesatzes fort, so spräche man von einem Sich-befinden
im örtlichen Sinne. Denn fragt man einen Menschen ausdrücklich:
»Wo<< er sich befände, klingt das gestelzt, und ein feineres Sprachgefühl
wird sofort ein gewisses Unbehagen empfinden: ein Dasein ist damit
in die Nähe der Kategorie Vorhandenheit gebracht. Wir fassen das
erste Ergebnis unserer Überlegung zusammen: im >Da< von Dasein,
genau wie im Sich-Befinden eines Menschen, wird die räumliche Di-
mension immer schon mitgedacht. Das ist das eine Moment, das er-
laubt, »Dasein als Befindlichkeit<< zu betrachten, was also eigentlich
schon einen Pleonasmus in sich schließt; denn das räumliche Moment
ist zweimal ausgesprochen. Gerade aber dieses steht hier nicht im Blick;
es schwingt aber immer mit. Das andere Moment liegt in der mögli-
chen Doppeldeutigkeit von »Sich-befinden<<. Aus dieser Doppeldeutig-
keit ergibt sich die Folgerung: Mit dem übertragenen Gebrauch von
Sich-Befinden, welchen die Frage nach dem» Wie« deutlich macht, wird
die räumliche Dimension völlig aus dem Blickpunkt gerückt, aber nicht
zum Verschwinden gebracht. Aus diesem Umstand erlaubt sich das
Doppelspiel mit dem Worte »Befinden« = »Gestimmtheit«: Das Da-
sein als das räumliche >Da< ist ein räumlich sich-befindendes. Schaltet
man sofort auf die Bedeutung: befinden = gestimmtsein um, so ergibt
sich zwanglos die Überschrift des§ 29 in »Sein und Z eit«: »Da-sein als

153
Befindlichkeit«. Unter diesem Titel handelt Heideggerdas Immer-schon-
Gestimmtsein des Da-seins ab. In der Frage nach dem »\Vie« des Ge-
stimmtseins eines sich befindenden >Da' fallen Gestimmtheit und Befind-
lichkeit zusammen. Der Schluß, Dasein als sich-befindendes ist immer
irgendwie gestimmt, ergibt sich also sd1on aus den beiden Wortbedeu-
tungen von sich-befinden, die der je möglichen Antwort auf die beiden
Umstandswörter »Wo« und »Wie« antworten.
Das Existenzial »Befindlichkeit«, lediglich als Struktur gesehen, ist
notwendig ohne jeden Inhalt; ontisch-existenziell als Gestimmtsein hat
sie immer eine bestimmte Färbung; sie meint diejenige, )) Wt1e« es einem
ist. Ohne dieses »Wie« kann ein konkretes Dasein nicht angetroffen
werden. Rein formal, in ihrer Leere als Existenzial, hat die Befindlich-
keit so etwas wie einen Verdiktscharakter; dem Dasein wird in ihr Stim-
mungshaft offenbar: »daß es (das Dasein) ist und zu sein hat«, ganz
unabhängig davon, wie immer auch die Gestimmtheit in concreto ge-
färbt ist. Warum dieses Dasein ist, woher es ist, wohinaus es ist und zu
sein hat, - das bleibt im Dunkel. Um dieser brutalen Faktizitätwillen
findet Heidegger hierfür das Wort »Geworfenheit«. Dasein ist und hat
zu sein als In-der-Welt-sein. Das kurze Wort »Da« drückt die Blitz-
haftigkeit der Erschlossenheit ohne jeden Gehalt aus, aber in der Un-
erbittlichkeit des überantwortetseins. Es gibt keine Instanz, dagegen
zu apellieren; vor dem Aufbrechen dieses: »Daß es ist und zu sein hat«,
ist kein Ausweichen; das ist unwiderruflich in die Existenz hineinzu-
nehmen. Und wenn das Dasein ontism-existenziell in Ausflüchte und
Verschleierungen vor dieser Unabwendlimkeit auszuweimen sumt-
und gemeinhin tut es das wirklich -, so ist das nach Heidegger nur ein
Indiz mehr für den Fundamentalmarakter des Existenzials Befindlim-
keit. Man lese unter diesem Gesichtspunkt die vierte Elegie. In ihr jagt
eine Ausflucht vor dem »Daß es ist und zu sein hat« die andere. Im inter-
esse-losen Sitzen vor der Puppenbühne »Hier, ich bin davor. Es gibt
immer Zusmaun« -meint der Mensm dieser Elegie eine stets offene
Zuflumt vor dem »... und zu sein hat« gefunden zu haben. Der Fort-
gang des Gedimts erweist auch dieses AusweidJen als hoffnungslos
vergeblich. Überwältigend deutlich wird, daß die Lösung des Daseins-
problems in irgendwelcher Flucht nicht möglich ist. Denn im Versum
einer Abwendung ist immer mitersmlossen, wovor man zurückweimt;
es ist dieses Überantwortetsein an das >Da<, das man zu sein hat und
immer nur ist in dieser unausweimlichen Weise des »Zu sein«. Die
Verdeckungen selbst machen die Tatsame der Gestimmtheit offenbar.
Aum »diese Abkehr ist, was sie ist, immer in der Weise der Befindlim-
keit « (S. u. Z. S. 135).

49
Um das Existenzial Befindlichkeit näher verstehen zu können, hatten
wir in diesem Wort die räumliche Komponente freigelegt. Das Wort
hat aber noch eine zeitliche; sie klingt im Begriff »Geworfenheit<< an:
»Daß das Dasein ist und zu sein hat.<< Etwas das sich befindet, etwas
das in seinem Geworfenheitscharakter sich erschlossen ist, erschließt
damit immer schon eine gewisse Gewesenheit. Dieses Dasein ist >da<
und hat sich doch nicht angefangen. (»Aber begann er sich je?<< dritte
Elegie.) Die Faktizität des Sich-Gegebenseins kann hinter sich selbst
nicht zurück. Erschlossenheit vollzieht sich auf der Grundlage eines
vorgegebenen Seinsverständnisses; es begegnete uns zuerst im Um-
gang mit Zuhandenem. Wir erkannten: kraft seines immer schon be-
reiten Seinsverständnisses, ausgerichtet auf das Bedeutungsganze eines
Werkzusammenhanges, gibt das Dasein das je einzelne Zuhandene
»auf Bewandtnis frei<<; beziehungsweise, es hat es immer schon freige-
geben. Das »apriorische Perfekt<<, welches die Seinsart des Daseins cha-
rakterisiert, zeigt also einen in die Zeit zurückgreifenden Zusammen-
hang. In dem Existenzial Befindlichkeit begegnet uns, abgewandelt,
dieses apriorische Perfekt wieder. Die »Faktizität der Überantwor-
tung((, welche den Ausdruck »Geworfenheit<< so einprägsam aber auch
für viele so anstößig macht, enthält in sich notwendig ein »schon-ge-
schehen-sein<<: Vergangenheit wird also immer mitgeführt. Das ist
wohl der innere Grund dafür, daß Heidegger für Vergangenheit vor-
zugsweise das Wort Gewesenheit einsetzt: sie west weiter. Dieses »je-
schon-haben-Bewenden-lassen(( aus dem Umkreis des Zuhandenen
wird in der Befindlichkeit, obzwar das bei Heidegger nicht ausdrück-
lich wird, in ein je-schon-gewesen-sein umgedacht werden müssen.
Sein Inhalt ist: Dahinter kann man nicht zurück. Das spricht sich aus
in der Gegenwärtigkeil dieser unverhüllten blitzartigen Erschlossen-
heil des >Da< als Seinscharakter von Dasein. Die fundamentale Bedeu-
tung des »Daß es ist<< erschließt sich aber in der ganzen Brutalität von
Geworfenheit erst mit dem Blick auf das gleichursprüngliche Vergan-
genheitsmoment des »immer-schon-Gewesenseins<<. Es vollendet sich
zur Fatalität mit der Einbeziehung des Zukunftsmomentes, apodiktisch
ausgesprochen in dem ».•• und zu sein hat<<. Man fragt: mildert sich
diese Fatalität im Hinblick auf den existenziellen Entwurf, der dem Da-
sein zwei mögliche Weisen zu sein, Uneigentlichsein und Eigentlich-
sein, eröffnet? Bei der Beantwortung dieser Frage hat man sich zu er-
innern, daß der Entwurf nach Heidegger stets ein »geworfener Ent-
wurf<< ist, auf welche Weise von Seinkönnen er selbst sich auch ausrich-
ten mag. Das Übernehmen des Vergangenheitsmomentes im Gewor-
fensein, sei es auch in der Weise der Abwendung, ist seine Vorausset-

153
zung. Entwurf meint Zukunft, wenn er - der Entwurf als Findung -
auch geschieht in der Gegenwart auf dem Grunde von Vergangenheit.
Das fundamentale Existenzial Befindlichkeit enthält in sich in nuce
die Heidegger'schen drei Ekstasen der Zeitlichkeit. Erstens Vergangen-
heit; Heidegger nennt sie Gewesenheit. Der tiefere Sinn dieser Wort-
prägung wurde dargetan mit der kurzen In-Beziehung-Setzung zum
Begriff der Geworfenheit, der notwendig in sich enthält das »schon-
gewesen-sein«, als apriorisches Perfekt. Sein Sinn ist: Vergaugenes ist
nicht vergangen. Sie west weiter über die zweite Ekstase, die Gegen-
wart des übernehmens, bis hinein in die dritte Ekstase, die Zukünftig-
keit des »geworfenen Entwurfs«. Die überragende Bedeutung der bei-
den Ekstasen Vergangenheit und Zukunft (insbesondere der letzteren)
für das Heidegger'sche Zeitdenken spiegelt sich im geworfenen Ent-
wurf mit seinem schon aus der Wortgebung aufleuchtenden doppeldeu-
tigen Zeitcharakter: »geworfen« = er nimmt die Gewesenheit in sich
hinein; »Entwurf« = er ist nur im Augenblick einer Gegenwart, die
über sich selbst unvermittelt vorläuft in eine Zukunft. Die mögliche
Seinsweise, zu der Dasein sich entwirft, liegt in der Zukunft; der Hori-
zontcharakter der Zeit wird so besonders anschaulich. Damit ist Ge-
genwart eingeschränkt auf das unverhüllt einbrechende »Daß es ist« =
>Da< des Daseins. Es ist aber auf dem Grunde der Gewesenheit, einge-
engt vom andrängenden Entwurfscharakter der Zukunft: »... zu sein
hat«.
Schon eine etwas nachdenkliche Betrachtung der räumlich-zeitlichen
Strukturelemente von Befindlichkeit läßt erkennen, was der zweite Ab-
schnitt von »Sein und Zeit« über Dasein als Zeitlichkeit tief und einge-
hend in allen Bezügen begründet (S. u. Z. S. 3soff.). »Die Erschlossen-
heit des Da und existenziellen Grundmöglichkeiten des Daseins, Eigent-
lichkeit und Uneigentlichkeit, sind in der Zeitlichkeit fundiert«; und
zwar in der Weise: »die Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit
und diese nicht früher als die Gegenwart«. \Vir werden im Zusammen-
hang mit der Rilke'schen »Verwandlung« und einer Klärung des Zeit-
denkens Rilkes einzusehen haben, daß für den Dichter die vorzügliche
Dimension der Zeit die Gegenwart als ein Gegenwärtig-sein im Tun
des Verwandeins ist und nicht ein entwerfendes Vorlaufen in das zu
Verwandelnde mit dem Akzent auf dessen Zukünftigkeit. Auch hier
wieder ist eine unmittelbare Einfühlung in den Stimmungsgehalt der
beiden bevorzugten Wörter» Verstehen« und »Einsehen« erhellend für
die beiden auseinandergehenden Wege des Denkers und des Dichters,
auf denen das Selbe gesucht wird. Das entwerfende Verstehen richtet
sich aus einer ihm eigentümlichen Dynamik notwendigerweise »pn-

51
mär« auf die Zukunft. Das Einsehen als ein >Hineinsehen< kann sich nur
vollziehen in einer ausgedehnten Gegenwärtigkeit, die Vergangenheit
und Zukunft in sich hineinholt und alle drei Dimensionen der Zeit zu
einem Raum des Dauerns verschmilzt. Ähnlich wie bei Heidegger ge-
ben die drei Ekstasen ihre Eigenständigkeit auf, wenn auch bei dem
Denker und dem Dichter zugunsten einer andern Dimension bezie-
hungsweise Ekstase. Schon hierin deutet sich eine Verschiedenheit der
letzten metaphysischen Sicht des menschlichen Daseins an; über der
Fülle von Übereinstimmungen darf sie nicht übersehen werden; sie
wird weiterhin auf das nachdrücklichste herauszuarbeiten sein.
Wir stellen diese letzten Konsequenzen vorerst zurück und hören
unter der Voraussetzung dessen, was wir am Existenzial Befindlichkeit
erkannt haben, den ersten Vers der dritten Elegie: »Eines ist, die Ge-
liebte zu singen«. Auch dieses Singen, wenn es wirklich geschähe, voll-
zöge sich auf dem dunklen Grunde »Ein(es) anderes(n)«. Diese »An-
dere« hält die Gegenwart des Singenwollens im unerkannten Woher
und Wohin von Gewesenheit und Zukunft umklammert. Heidegger
sah: dieses Woher und Wohin ist nicht wißbar. Und so sagt auch Rilke
vom Jüngling: »Was weiß er selbst« von dem Urgrund, der sein liebendes
Singen stimmt. Die Dichtung verkörpert diesen Urgrund zu »jenem
verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Blutes«. (Man ist ihm immer
schon an etwas verschuldet, vor jeder konkret gewordenen faktischen
Schuld.) Jedoch - »von welchem Unkenntli c hen (hier gesperrt)
triefend, das Gotthaupt aufhob, aufrufend die Nacht zu unendlichem
Aufruhr«, weiß der Jüngling nicht. Dieses Unkenntliche wird nicht als
ein zu Kennendes ins Wissen erhoben. .Tedoch die Kraft des Erschließens
dieser wahrhaft fundamentalen Gestimmtheit, das die Dichtung bild-
lich auf diese Weise ausdrückt, wird den Jüngling bis in die Wurzeln
der »Herkunft« zurückführen. Er geht in seiner Gegenwärtigkeit an
der Generationenkette des Geschlechts zurück in eine Gewesenheit, die
im Blut weiter west. Die Gleichursprünglichkeit des dunklen Existen-
zials Befindlichkeit und des helleren Existenzials Verstehen = Einsehen
für die Gründung von menschlichem Dasein überhaupt spiegeln die
nächsten Verse. Das dunkle »U « in den Bildern für die dunkle Unheim-
lichkeit der Nacht und des Urgrunds steht gegen die helleren Vokale,
mit denen der Liebende das »Antlitz seiner Geliebten« den Sternen zu-
ordnet. Dunkel und Licht sind, was sie sind, nur in ihrer Gegensätzlich-
keit zu einander, so wie die jetzt heraufgerufene helle Einsicht auf dem
Grunde der unerhellten Befindlichkeit erwächst: »hat er die innige
Einsicht in ihr reines Gesicht nicht von dem reinen Gestirn?« Die Ele-
gie taucht weiter tief hinab: In die harm-lose Hinwendung des Jüng-

153
lings zum Mädchen - »du, die wandelt wie Frühwind« -bricht ein
das Wissen um ein Immer-schon-Überantwortet sein der liebenden Ge-
genwart an die zu übernehmende Gewesenheit, und gleichursprüng-
lich ist Zukunft gefordert. Auch hier kommt dieses »Daß es ist und zu
sein hat« aus einem »Woher«, das weit zurückliegt, vor dem gegen-
wärtigen >Da<. Nur scheinbar ist dieses >Da< von der ersten Lichensbe-
gegnung ganz ausgefüllt: »Meinst du wirklich, ihn habe dein leichter
Auftritt also erschüttert?« Von dem »berührenden Anstoß« dieser ge-
genwärtigen Begegnung »Zwar erschrak ihm das Herz«. Doch »ältere
Schrecken stürzten in ihn«, aus deren »dunkelem Umgang« sie ihn
»nicht ganZ« zu rufen vermag. Denn diese fundamentale Gestimmtheit
ist »nicht nichts« (Heidegger), wenn sie auch nicht wißbar wird; ihr ist
niemals »ganz« zu entgehen, - auch wenn »er will«, wenn »er ent-
springt« in die Gegenwart »ihres heimlichen Heqens«, das dem Jüng-
ling Gesichertsein für einen unvorbelasteten Anfang zu versprechen
scheint: >mnd nimmt und beginnt sich«. Wie sehr jeder Entwurf eines
»Sichbeginnens« auf dem Grunde von Befindlichkeit erwächst, faßt der
Fortgang der Elegie ins anschaulichste Bild. Das ist umso überzeugen-
der, als auch die leiseste Absicht einer systematischen Überlegung dem
Dichter völlig fern gelegen hat: Das »Unkenntliche« lichtet sich im
dichterischen Wort. »Und nimmt und beginnt sich«; aber schon der
nächste Vers gibt hintergründig die ganze Zweideutigkeit eines neuen
Anfangs zu ahnen: »Aber begann er sich je?« Das Wort leitet nur einen
noch tieferen Rückgang in die Gewesenheit ein. Über die wachen Äng-
ste der Kindheit, die die Mutter in etwa zu beschwichtigen vermochte,
tauchen wir zurück in ungeschützten Schlaf und Traum und Fieber, wo
»die Fluten der Herkunft« ohne Gegenwehr mächtig sind. Und noch
weiter zurück führt die Dichtung, »die eigenen Wurzeln hinaus in ge-
waltigen Ursprung, wo seine kleine Geburt schon überlebt war«. Die
Ungeschiedenheit von Zeit und Individuation versetzt uns in das ge-
staltenfeindliche Chaos als den zeugerischen und immer wieder ver-
schlingenden Urgrund menschlicher Existenz, in dem Vergangenheit
nicht vergeht und in dem eine in etwa vorgeformte Zukunft immer-
schon die Gegenwart des Entwerfens bestimmt. Schlicht und einfach
faßt die Elegie endlich den Ertrag dieser Besinnung in die Worte:
»Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einem I einzigen Jahr; uns
steigt, wo wir lieben, I unvordenklicher Saft in die Arme.« Das immer-
schon-Gestimmtsein, das immer wieder sich wandelt, ist in dichterische
Bilder von tiefer Aufschlußkraft gefaßt; sie legen dafür das Heidegger-
sche Wort »Befindlichkeit« nahe; die existenzbegründende Funktion
wird deutlich. Befindlichkeit als gestimmtes kommt von weither aus

53
einer Gewesenheit, die über den Einzelnen in das Chaos selbst zurück-
geht und die gegenwärtige Liebeserfahrung in ihrer zukünftigen Ge-
staltung überschattet. Die dichterische Aussage gipfelt in zweieinhalb
Versen: ))0 Mädchen, I dies: daß wir liebten in uns, nicht Eines, ein
Künftiges, sondern I das zahllos Brauende ... « Sie fassen unser immer-
schon-gestimmtes Sich-Befinden in Worte, die ohne konkreten Inhalt
sind und also nicht etwa nur die eine oder andere Stimmung malen.
Gerade darum lassen sie uns in tiefer N achdenklichkeit zurück. Diese
Worte öffnen unser Begreifen-Wollen wenigstens für die Ahnung der
Hintergründigkeit dessen, was Existenzialität meint: )) ... sondern die
ganze I lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder I reinen Verhäng-
nis-: dies kam dir, Mädchen, zuvor.«
Es ist leider üblich geworden, die dritte Elegie als das Privat-Kom-
pendium Rilkes zur Psychoanalyse zu lesen. Dabei wird verkannt, daß
es sich in dieser Elegie um Grundgegebenheiten des menschlichen Da-
seins handelt; sie haben einen viel zu weiten Umfang, als daß sie mit
der Methode einer Psychotherapie zu erschöpfen wären. Macht man
die Psychoanalyse zu einer Weitanschauung oder läßt man zu, daß ihr
die Stellung einer philosophia prima gegeben werde, so sieht man aller-
dings daran vorbei, daß sofort der ganze Gehalt dieser Dichtung um-
gefälscht wird, wenn man sie unter eine solche Sicht stellt. An dieser
In-Beziehungsetzung von Dichtung und Analyse ist nur soviel richtig,
daß die Methode der Psychoanalyse aus einem nicht unbegrenzten Vor-
rat von seelischen Erfahrungen schöpft - ebenso wie Dichtung. Dieser
Vorrat aber ist ein allgemeiner und steht auch anderen Denkweisen of-
fen. Daraus aber umgekehrt zu schließen, daß dieser seelische Erfah-
rungsbereich zum alleinigen Gut der psychoanalytischen Methode ge-
worden sei, die sich mit ihr beschäftigt, ist wohl nur ein Rest des grund-
sätzlich überwundenen Psychologismus. Die hier versuchte Durch-
leuchtung der existenziellen Gegebenheiten der Elegie mit dem Exi-
stenzial Befindlichkeit = Gestimmtheit zeigt auf, daß die dichterische
Intuition in den Grund des menschlichen Daseins gelotet hat. Die Auf-
hellung ihrer naturgemäß inexplizit gebliebenen existenzial-ontologi-
schen Voraussetzungen läßt einem wissenschaftlich ausgerichteten Blick
erkennbar werden, was einer dichterischen Einfühlung vielleicht un-
mittelbar offenbar gewesen sein mag. Einsichten von weittragender Be-
deutung sind hier dichterisches Wort geworden. Die existenzialontolo-
gische Forschung stellt über die Frage nach den Strukturen von Dasein als
Zugangsweg die Frage nach Sein überhaupt. Der von der Last des Da-
seins gestimmte Dichter fragt mit dem Wort der Dichtung dieFrage nach
dem Sinn von Sein für das Dasein und nach dem Sinn von Sein überhaupt.

54
DIEANGST

Aus der Strukturiertheit von Befindlichkeit erkannten wir, daß Da-


sein immer schon als gestimmtes »vor sein Sein als Da gebracht ist«. Es
ist die Gestimmtheit, die dem Dasein das »Sein als Da erschließt«, in
einem Verdikt: »daß es existierend zu sein hat«. Gerade auch darin,
daß Dasein dieser Unausweichlichkeit des »ZU sein« unter allerlei Ver-
deckungen sich zu entziehen sucht, liegt der eindringlichste Beweis für
die »stimmungsmäßige Erschlossenheit des Da in seinem Daß«. Aber
auch dann, wenn das Dasein sich entzieht, handelt es aus dem Sein seines
eigensten Daseins heraus, dem es dabei um dieses Sein selbst geht. Nur
ist dieses Sein, um das es ihm dabei geht, dann nicht sein Eigentlichsein-
können, sondern das Sein in der entziehenden Abkehr. Es ist das Sein
in der Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins. Auf alle erdenkliche Weise
macht es sich geschickt, das Selbst-sein (Eigentlichsein) zu verstellen
und zu beschwichtigen. Heidegger prägte dafür den Ausdruck: Das
Dasein der Alltäglichkeit ist zumeist an dieses uneigentliche In-der-
Welt-sein verfallen. Es begreift sich aus dieser Alltäglichkeit gerade
nicht in seinem eigentlichen Selbst-sein; sondern es ist an das verloren,
was »Man« so allgemeinhin tut und für richtig hält. Aus seinem Ver-
fallensein an das »Man« bekommt Dasein sich gleichsam zurück als ein
»Man-selbst« unter Auslassung des eigentlichen Selbst. So gehören
alsozusammendie Begriffe: »Man«, »Alltäglichkeit«, »Verfallen« »Un-
eigentlichsein«, »Man-selbst«; mit ihnen wird die Weise des Seins um-
grenzt, in der das Dasein gemeinhin ist.
Es ist das dringende Anliegen Heideggers, immer wieder die durch-
gehenden Strukturelemente in ihre Gleichursprünglichkeit aus den bei-
den Weisen des Seins von Dasein aufzuzeigen. Einzig so soll das Da-
sein als eine Seinsganzheit erfaßt werden, dessen Sein die Sorge ist.
Dieses Wort »Sorge« will in einem gänzlich ungefühligen Sinn ver-
standen werden. »Der Sinn von Sein des Daseins ist die Sorge.« Auch
das Wort »Sinn« hier hat keinen eigentlich metaphysischen Charakter,
auch nicht die Färbung einer Wertbetontheit. Man hat in einer existen-
zialontologischen Betrachtung alle diese Vorstellungen auszuschließen;
ebenso ist die ontische Bedeutung von Sorge = Beschwernis, die man
ganz allgemein diesem Wort gibt, beiseite zu lassen. »Sinn von Sein«
meint hier gewissermaßen Richtungssinn: das Sein als Sorge hat und

55
betätigt seinen Sinn darin, daß es sich auf das Besorgen von In-der-
Welt-sein richtet. Das Dasein aber befindet sich gemeinhin in der Weise
der besorgenden Alltäglichkeit. Um nur zwei geläufige Weisen des
Seins als Sorge zu nennen: Das Dasein lebt sein alltägliches In-der-
Welt-sein im besorgenden Umgang mit Zuhandenern und im fürsor-
genden Mitsein mit anderen. Darum sucht Heidegger zunächst dieses
Strukturganze der Alltäglichkeit »in seiner Ganzheit zu fassen« (S. u.
z. s. 181).
Wir haben immer wieder gesehen, daß zur ontologischen Struktur
von Dasein Seinsverständnis gehört: Dasein kann sein In-der-Welt-sein
»besorgen«, indem es sich in seinem In-der-Welt-sein versteht. Das
Existenzial Befindlichkeit (Gestimmtheit) und das Existenzial Verste-
hen erkannten wir als eine Seinsart von Dasein selbst, in der es seine
eigene Erschlossenheit ist und so seiend sein In-der-Welt-sein besorgt.
Für die Bewältigung der Aufgabe, das Strukturganze der Alltäglich-
keit zu fassen, gilt es, »eine der weitgehendsten und ursprünglichsten
Erschließungsmöglichkeiten (zu) suchen, die im Dasein selbst liegt<<
(S. u. Z. S. 182). Heidegger findet sie in der Grundbefindlichkeit der
Angst (S. u. Z. S. 1 84). Er sucht die Angst auf in dem Verfallensein des
Daseins an die besorgte Welt. Denn sie muß in dieser gemeinhinnigen
Seinsweise nachgewiesen werden, wenn sie den Anspruch erfüllen soll,
eine der »weitgehendsten und ursprünglichsten Erschließungsmöglich-
keiten« zu sein, die im Dasein selbst liegt. Man muß die glänzenden
Analysen der beiden Phänomene Angst und Furcht in ihrer Verwandt-
schaft, aber auch in ihrer strengen Geschiedenheit von einander in »Sein
und Zeit« selbst nachlesen. Für unsem Zweck hier kann nur das Er-
gebnis zusammengeiaßt werden, so wichtig es auch wäre, in die Be-
gründung selbst einzudringen. Das Verfallen des Daseins an die be-
sorgte Welt, aus der das Dasein sich als ein Man-selbst zurückbekommt,
ist eine Flucht vor dem Dasein als eigentliches Selbst. Das Dasein flieht
dabei nicht vor einem innerweltlichen Seienden, das ihm »furchtbar«
ist (das gehörte zum Phänomen der Furcht); es ängstet sich vielmehr
vor und um das In-der-Welt-sein als solches. In dieser Angst ist jedes
innerweltlich Seiende völlig unbedeutsam geworden. Die inhaltlich
konkretisierte Welt entweicht gewissermaßen ins Nichts. Die Aufge-
hobenheit im öffentlichen Ausgelegtsein des Man und damit die ge-
wohnte Sicherheit des Meinens, des für richtig- und für bedeutsam-
Haltens, verflüchtigt sich. Dasein findet sich allein. Die beliebige Aus-
wechselbarkeit im Man hat sich als trügerisch herausgestellt. Dasein
ist auf sich selbst zurückgeworfen: »Die Angst erschließt das Dasein
auf sein eigenstes In-der-Welt-sein« (S. u. Z. S. 187). 'Wir suchen die

153
existenzielle Erfahrung dieser so existenzialanalytisch durch Heidegger
aufgewiesenen Angst bei Rilke auf. Mehr als zwei Jahre Schweigen
zwischen Lou Andreas-Salome und Rilke nach seiner Verheiratung mit
Clara Westhoff wurden am letzten Juni 1903 durch einen Brief Rilkes
aus Paris gebrochen. Rilke war bei einem Aufenthalt in Viareggio krank
und anfällig gewesen. In seiner nur sehr mühsam ansteigenden Gene-
sung wurde er von merkwürdigen Zuständen heimgesucht: »Ich weiß
gar nicht wie ich sagen soll was es war« (Br. Lou S. 46). Es scheint, als
zögere er noch, dieses »Es« mit dem Wort Angst zu benennen: »Aber
dann kam etwas so Banges, kam und kam wieder und verließ mich
nicht mehr ganz.« Er erinnert die Kindheitsängste aus Fiebern und
Krankheiten: »Ängste wie vor etwas zu Großem, zu Hartem, zu Na-
hem, tiefe unsägliche Ängste.« Brauchten sie damals »Nacht und Fieber
als Vorwand« um aufzutauchen, so überfallen sie ihn jetzt »mitten am
Tage, wenn ich mich gesund und mutig meinte«. Wie hellsichtig und
doch nicht ganz durchdringend steht hier das Wort »Vorwand«! Die
Schilderung dieser Ängste wird in tiefer Ratlosigkeit gegeben: sie »nah-
men mein Herz und hielten es über das Nichts«. Bis in den Wortlaut
hinein wird man an Heideggers wissenschaftliche Durchleuchtung der
Angst erinnert: »Alles verändert sich, fälltmir von den Sinnen ab und
ich fühle mich hinausgedrängt aus der Welt, darin alles vertraut und
nahe und sinnvoll ist, in eine andere ungewisse, namenlos bange Um-
gebung. Wohin? Dann war mir, als würde ich keinen erkennen, der bei
mir einträte, und als wäre auch ich allen fremd wie ein in fremden Lan-
den Gestorbener, allein, überzählig, ein Bruchstück anderer Zusam-
menhänge« (Br. Lou S. 47). Die Erklärungen und Herleitungen, die er
dann sich und Lou zu geben sucht, weichen aus in das Phänomen der
Furcht vor »innerweltlich Bedrohendem« (Heidegger), vor Furcht-
barem. Ganz kennzeichnenderweise wird das »Sich-Ängsten« sofort
durch das Wort »Fürchten<< abgelöst (Br. Lou S. 48). Mit dieser seiner
»Sorge<< kommt er zu Lou; sie nimmt nur das Wort »Furcht<< auf; ihre
Antwort antwortet dann auch nicht der Angst, sondern der Furcht
(Br. Lou S. so). Am 18. Juli 1909 (Br. Lou S. 53) schreibt Rilke den
langen Brief über die Pariser Ängste, die dann einmal in den Malte ein-
gestaltet werden sollen. Als »die tiefe Angst der übergroßen Städte«
fanden sie vorher schon, im April 1903 in Viareggio, ihren Ausdruck im
dritten Teil des Stundenbuches. Es ist diese Angst, von der Rilke
»Oder ist dies die Angst in der ich bin.<<
Geradezu hellsichtig hat Rilke das Entweichen von Welt und Mit-
dasein in den Briefen zum mühsam gefundenen Ausdruck dieser be-
stürzenden Ängste zusammengefaßt. Und doch gehört Welt unab-

57
trennbar zu Dasein. Es wird auch in den Äußerungen Rilkes offenbar:
Weltlichkeit der Welt als eng dem Dasein zugehöriges Element seines
In-der-Welt-seins ist es, der die Angst gilt, - noch bevor und ohne
daß überhaupt an ein Jint dieser Welt vorkommendes Zuhandene oder
Vorhandene auch nur zu denken ist. DerSchluß ergibt sich: sieht »Welt«
von allem »Inhalt« ab, bleibt übrig »Wehlichkeit<< und das heißt, es
bleibt nur die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) innerweltlich begeg-
nenden Seienden von der Seinsart von Dasein (Mitdasein) oder der
Seinsart von Zuhandenern (oder Vorhandenem). Allein an Zuhande-
nern oder in Verbindung mit Mitdasein kann sich jedes mögliche In-der-
Welt-sein vollziehen; wir sahen, daß es ein weltloses Subjekt nicht gibt.
Ist nun jede inhaltliche Konkretion von Dasein versunken, so kann nur
»Weltlichkeit« als mögliche Welt und damit das eigene ln-der-Welt-
sein-können Gegenstand der Angst sein. Es ist also vollkommen deut-
lich geworden, warum Heidegger die Angst als »die weitgehendste und
ursprünglichste Erschließungsmöglichkeit« bezeichnen konnte: Angst
ist »der Modus der Befindlichkeit, (der) zu allererst Welt als Welt« er-
schließt. Denn Dasein sieht sich aus seinem immer schon vorgegebenen
Seinsverständnis auf Welt verwiesen, die unabtrennbar von dem eige-
nen ln-der-Welt-sein ist. Sie ist vorgegeben, und nun entschwindet sie
in dieser Erfahrung des Nichts an Zuhandenern und Mitdasein. Mit
dem Unbedeutsam-werden alles Seienden entfällt demnach jede Mög-
lichkeit des besorgenden In-der-Welt-seins in der Weise der Alltäg-
lichkeit, auf welche Dasein gemeinhin angelegt ist. Dasein kann also
auch nicht mehr sein eigenes Dasein als Man-selbst leben. Das heißt:
es entschwindet somit diese geläufig von ihm besorgte Weise des Seins,
in die es aus Abkehr von seinem eigentlichen Selbstsein sich begeben
hat.
Diese zum »Nichts« entleerte Welt und die »Vereinzelung« des Da-
seins auf sich als Einzelnes haben den Anschein von N egativität. Je-
doch, was ist es, das in dieser Erfahrung negiert wird? Dieses »Was<(
ist selbst ein zweimaliges Negativum: 1. das Negativum der Verfallen-
heit an das öffentliche Ausgelegtsein; es wird sich herausstellen, daß es
in der durchgestandenen Angst aufgehoben werden kann, zugunsten
eines Sich-Entwerfens auf wesenhafte eigenste eigentliche Möglich-
keiten; 2. das Uneigentlichsein des Man-selbst; aus ihm kommt das
Dasein zurück auf sein eigentliches Selbst, die es als Möglichkeit schon
immer ist.
Viele Vorwürfe gegen die Negativität dieses Denkens, gegen den
»Nihilismus« einer Weltanschauung hätten sich erübrigt, würde man
diesem Aspekt der Negation eines Negativum in etwa nachgedacht und

ss
die Positivität dieses Nicht als Ermöglichung von Etwas sich vorgestellt
haben. Gewiß ist zuzugeben, daß Heidegger selbst das nicht leicht ge-
macht hat. Vielleicht aber gibt es zwei Gründe für dieses Erschwernis,
die in der Sache selbst liegen. Der eine wurzelt tief im Methodischen;
der andere ist nur eine Folgerung aus dem ersten. Es ist notwendig,
beide zu spezifizieren. Sie sind das Gerüst des Heidegger'schen Den-
kens zur Existenz. Andererseits liegt in ihnen die Schwierigkeit, die
sich im Weiterdenken Heideggers selbst nach »Sein und Zeit« erhebt.
Auf den hiermit angedeuteten Punkt können wir erst am Ende unserer
Untersuchung zurückkommen; mit unseren weiteren Überlegungen
werden wir auf ihn hingeführt werden10•
Die Gründe selbst sind folgende. Heideggers Ausgangspunkt für die
Stellung der Frage nach dem Sein ist nun einmal das vorontologische
Seinsverständnis des Daseins, welches letztere einzig und allein die
Frage nach dem Sein stellen kann. Die Richtung einer Fragestellung bis
in die Möglichkeit einer Antwort hinein ist mitbestimmt von dem, der
fragt. Es fragt aber das Dasein aus seinem immer schon vorgegebenen
Seinsverständnis. Darum muß dieses Dasein da aufgesucht werden, wo
es zumeist angetroffen wird: in der Alltäglichkeit, als welche das Dasein
gemeinhin ist und worin es also sein Seinsverständnis betätigt. Die Dif-
ferenzierung und systematische Eingrenzung der Existenzialität, ins-
besondere auf dem Grund von Befindlichkeit und Verstehen, beruht in
diesem Strukturzusammenhang »Seinverständnis«, das aus seinem vor-
ontologischen Stadium in die ontologisch-explizite Erschlossenheit
zu überführen war. Weiterhin ist es Heideggers Vorhabe, Existenzial-
analyse in ontologischer Absicht zu treiben. Daraus folgt zwangsläufig,
die Strukturen von Dasein-überhaupt aufzuspüren. Dasein begegnet
aber zumeist als uneigentliches. Die Notwendigkeit des Ausgangspunk-
tes von der Alltäglichkeit war soeben dargelegt. Sie verstärkt sich, wenn
Dasein als Strukturganzes in seinen durchgehenden Bezügen aufgewie-
sen werden soll. Die These von der Gleichursprünglichkeit beider Wei-
sen zu sein, des Eigentlich- und des Uneigentlich-sein-könnens, folgt
aus dem Begriff und der Reichweite von Existenzialität. Sie ist das Er-
gebnis einer Analyse, die auf dem breitestmöglichen Grund ihrer Fra-
gestellung ruht. Die immer wieder betonte Aussage, daß mit den Wor-
ten »Alltäglichkeit« und »Verfallenheit« keine absagenden Urteile oder
moralische Wertakzente gesetzt werden sollen, spricht nur die Selbst-
verständlichkeit aus, daß die Existenzialanalytik als Fundamentalonto-
logie sich selbst verkennen würde, wollte sie Vorbehalte aus morali-
scher Perspektive machen. Ist es also unleugbare Tatsache, daß das Da-
10 vgl. S. 139 f., 174 ff. dieser Arbeit.

59
sein gemeinhin sich in dem Bezirk bewegt, der mit Alltäglichkeit, Ver-
fallenheit usw. umschrieben wurde, so gab es nur zwei Alternativen,
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit untereinander sowohl in Bezie-
hung zu setzen wie gegeneinander abzugrenzen: die Eigentlichkeit
wird der Uneigentlichkeit aufgestockt, oder die Uneigentlichkeit wird
zum defizienten Modus der Eigentlichkeit erklärt. Beides aber bedeu-
tete Verzicht auf die durchgehende Strukturganzheit von Dasein zu-
gunsten einer werthaft bestimmten Sicht. Es soll nicht übersehen wer-
den, daß gelegentlich diese letztere Alternative durchschimmert. So
zum Beispiel da, wo der Eindruck entsteht, daß die Möglichkeiten des
Uneigentlichseinkönnens sich zumeist aus einer Privation von Erschlos-
senheit = Verschlossenheit vollziehen, die das Eigentlichsein verdeckt,
während die Erschlossenheit des Eigentlichseinkönnens die Verschlos-
senheit des Uneigentlichseins durchstößt. So ist auch die »Wahrheit«
von Uneigentlichsein eine Wahrheit in der Verdeckung und in der Ver-
stellung. Aber jedenfalls ist grundsätzlich eines erreicht: die Gründung
von Eigentlichkeit als immer schon gegebene Möglichkeit von Dasein
neben der andern ruht jedenfalls sicherer in der ganzen Breite von
durchgehender Existenzialität, als es in der Postulierung von Werten
oder Sätzen eines Moralsystems der Fall wäre. Diese setzen ihrerseits
auch wieder einen Begriff oder eine Ordnung »Existenzialität« vor-
aus, auch wenn gerade ihre Gründung vernachlässigt und sie selbst
nicht ausdrücklich wird. (Eine theologische Betrachtung bleibt hier
außer Ansatz.) Heideggers methodischer Ausgangspunkt erlaubt es,
die Eigentlichkeit im Sein von Dasein als die eine der zwei Möglichkei-
ten zu fundieren, in denen es diesem Sein um sein Sein selbst geht. Wir
,erinnern: »Die Möglichkeit als Existenzial ist die ursprünglichste und
letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins« (S. u. Z. S. 143).
In der Eigentlichkeit trägt die Entschlossenheit den Bezug zur Wahr-
heit als Entborgenheit; sie trägt die Freiheit, das Offensein für den ge-
schichtlichen Kairas in der staatsbegründenden Tat, das Schaffen und
das Bewahren von Kunst. Sie trägt, mit einem Wort, den Bezug zur Di-
mension des Heilen und des Heiligen, aus der Götter oder der Gott
überhaupt erst anwesen können. Aus dieser Dimension lichtet sich eine
»Welt« - »Welt« hier verstanden in dem weitesten Umfang von In-
der-Welt-sein, die wir transzendierend konstituieren. Es ist das eine
Welt, deren Reichweite über den Umgang mit Zuhandenern und die
Fristung der Notdurft hinausgeht; sie spart den Raum erst aus für alles
Werthafte, den Ansatz von Moral und Ethik, die Möglichkeit einer re-
ligiösen Erneuerung.
Die Enthüllungskraft der Angst ist von Heidegger als wirksam nach-

6o
gewiesen in den beiden Modi des Seins von Dasein. Im Modus der Un-
eigentlichkeit erschließt sie das Worum und Wovor die Angst sich äng-
stet als das In-der-Welt-sein selbst. Der Fluchtcharakter des Man-selbst
und die Verdeckungsstruktur der Alltäglichkeit werden offenbar. Glei-
cherweise enthüllt sie aber das ganz andere Möglichsein des Daseins in
der Zurückgeworfenheit auf die Freiheit des Selbst-seins mit seinem
wesenhaften Entwurfscharakter. Die Grundbefindlichkeit der Angst
leistet also die verlangte ursprünglichste und weitgehendste Erschlie-
ßung in durchgehender Fundiertheit. Über das micht< von Seiendem
führt sie zu einer Positivierung des Nichts als die Ermöglichung von
Etwas. Daraus entspringt die Möglichkeit des Daseins, sich vor sein
eigentliches Selbstsein gebracht zu sehen.

Vom Grunde dieser Darlegungen betrachten wir die Angst in den


»Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Gleich auf der ersten
Seite dieses Buches sucht Rilke die Gestimmtheit des Ausgeliefertseins
mit der Schilderung einer Gasse von Paris in der Nähe des Hotel Dieu
einzufangen: »Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform,
nach dem Fett von Pommes frites, nach Angst.« Die Angst als Grund-
befindlichkeit aller dieser die Gasse passierenden Menschen der All-
täglichkeit hat sich jedem Winkel mitgeteilt, so daß sie von ihr gleich-
sam wieder ausgeschwitzt wird. In diesem penetranten Bild ist die
Angst so unabtrennbar von der Alltäglichkeit des Daseins geworden
wie Atemholen. Sie wird mit jedem Lufthauch hereingenommen und
wieder ausgegeben, noch vor jeder möglichen Konkretion von Schick-
sal. Die Angst als Grundbefindlichkeit hat sich zu einem unentrinnba-
ren Raum um Maltes Dasein zusammengeschlossen. In der Hellsichtig-
keit seiner ver zweifelten Angst weiß er zwar, daß es dabei nicht um
das Fertigwerden mit der einen oder anderen schweren Erfahrung geht,
sondern um das In-der-Welt-sein-können überhaupt. Aber irgendwie
möchte er doch das Eingeschlossensein im Raum seiner Angst nicht
wahrhaben. Und so entwickelt er geradezu eine Virtuosität im Immer-
wieder-Aufspüren von zufälligen Anlässen. An sich sind sie mehr oder
weniger bedeutungslos; sie haben nur die eine Funktion, seiner innen
aufbrechenden Angst die Legitimation eines äußerlich-berechtigten
Grundes zu geben. Darum ist die Abgrenzung von Angst und Furcht
nicht deutlich. Beide Worte kommen vor; das Wort »Angst« überwiegt.
Wenn man auch eine begriffliche Unterscheidung beider Phänomene,
mit der es vor Kierkegaard und Heidegger im Argen lag, nicht erwarten
durfte, so konnte man doch wohl annehmen, daß das untrügliche Sprach-

6r
gefühl Rilkes hier ganz intuitiv eine sichere Unterscheidung erwirkt
hätte. Das ist nicht der Fall. Zwar folgt der Wortgebrauch gewissen
Gewichtsverlagerungen, die wohl instinktiv in der Richtung der wis-
senschaftlichen Abgrenzung von Angst und Furcht liegen; aber sie ist
nicht durchgeführt. Das Schwanken in der Benennung hat Gründe, die
im Phänomen selbst liegen. Man kann daran überzeugend die Heideg-
ger'sche These ablesen: das Fürchten äußerer Abträglichkeit ist nur
möglich auf der Grundlage der immer schon daseienden Angst. Hier
im Malte will die Angst gleichsam bestätigt sein in der Berechtigung
ihres Angst-haben-Wollens. Ein äußerer ))furchtbarer« Anlaß legiti-
miert die Angst- und fälscht sie gleichzeitig um in Furcht. Und so ha-
ben wir das in seiner Widersprüchlichkeit zugleich folgerichtige Ergeb-
nis: tief wird erfühlt, daß dieses Angst-haben-wollen um der Erschlie-
ßungskraft der Angst willen durchgemacht werden müsse. Aber unter
der Verschleierung in nfurchterregende« Anlässe bewerkstelligt sie die
Flucht vor ihr selbst. Immer wieder hat man den starken Eindruck, als
begänne diese ))Furcht« als eigentliche Angst, um auf halbem Wege
sich abzublenden in die Uneigentlichkeit der Furcht, die das verfallende
Dasein immer wieder neu produziert. Es wird in dieser geradezu raf-
finiert verschleiemden Entschleierungskunst der flüchtenden Existenz
alles Mögliche enthüllt - nur nicht das, wozu Maltes Angst ursprüng-
lich unterwegs war: ndas Freisein ... für die Eigentlichkeit seines Seins
als Möglichkeit, die es immer schon ist« (S. u. Z. S. 1 88) - auf dem
Grunde derGeworfenheit. Dieses llFreiseinfür« beginntfür Malte/Rilke
erst hinter dem unverschleierten Übernommen-haben der Kindheit.
Aber gerade diese Funktion der Angst wird abgedrosselt durch das fin-
dige Anbieten ))furchtbarer<< Anlässe. Es geschieht hier gewissermaßen
dasselbe auf einer anderen Ebene, was der Dichter den Hysteriker tun
läßt. Im Haltsuchen vor dem nzweisilbigen Hüpfen« in seinem Körper,
das den Anfall einleitet, klappt eine heimlich-rasche Bewegung den
Kragen hoch; eine andere nausführliche, anhaltende, gleichsam über-
trieben buchstabierte Bewegung« legt den Kragen wieder zurück (GW
V, S. 84).
Sehr deutlich wird das, wo die Ängste der Kindheit wieder aufste-
hen (GW V, S. 78 :ff.). Die Fixierung dieser Ängste zu einer Art skurri-
ler Gegenständlichkeit ist eine solche Verschleierung. Wenn die Psy-
choanalyse etwa sich begnügte, in der Angst, daß nein kleiner Woll-
faden, der aus dem Saum der Decke heraussteht«, in der Angst, ndaß
dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf«,
phallische Symbole zu entdecken, so bliebe sie trotz aller Tiefenabsicht
vordergründig. Hier bei dem erwachsenen Malte in Paris sind es gar

153
nicht diese Ängste der Kindheit oder das, was sie möglicherweise ein-
mal verdecken konnten, was jetzt Inhalt der Angst ist. Diese Gegen-
stände werden nun zur Verdeckung der neuen, in Paris aus dem erwach-
senen Malte aufsteigenden Angst heraufgerufen; sie sind gleichsam
lange schon fertig, immer bereit, der Entschleierungskraft der Angst
sich entgegenzustellen. An ihnen scheint die einstmalige Kindheit zu
hängen; sie gehörten zwar zur Kindheit; aber es ist diese Kindheit
selbst, die jetzt der eigentliche Gegenstand der Angst ist. Die ängsten-
den Gegenstände der Kindheit haben sich vor die Kindheit als solche
geschoben und verdecken nun diese selbst. Im trügerischen Vertraut-
sein mit ihrer Legitimität als ängstende Gegenstände, die die Kindheit
einst beherrschten, können sie gleichsam synonym mit Kindheit ge-
nannt werden und damit verschleiern, daß nunmehr aber die Kindheit
schlechthin gemeint ist. Alleiniger Grund der Angst, ihr »Wovor«
und ihr »Worum«, ist das Nicht-Übernommen-haben und immer
wieder nicht Übernehmenwollen der Kindheit als der geworfene
Grund auch noch seines jetzigen In-der-Welt-seins. Das Sich-
Wehren absorbiert alle Kraft zum Eigentlichseinkönnen, das die Angst
doch gerade freimachen will. Die nicht übernommene Kindheit, illegi-
tim repräsentiert durch die in ihr ängstenden Gegenstände, stellt sich
davor. Diese Repräsentation ist naturgemäß unvollkommen. Diese
Gegenstände sind nicht die ganze Kindheit und noch weniger sind sie
der Gegenstand der jetzigen Angst. Die Angst geht um die Kindheit
als solche: Daß sie war, daß sie so war, wie sie war, und daß man mit
und in ihrer weiter wesenden Gewesenheit »ZU sein hat«, überantwor-
tet an die Faktizität dieses »Daß«,- das ist jenes Kindheitsproblem, das
Rilkes ganzes Leben überschattet. Die Vergangenheit der gewesenen
Kindheit ist nicht vergangen; sie west weiter. In der Angst ist dem er-
wachsenen Malte, ist dem erwachsenen Rilke selbst immer wieder be-
deutet worden, was Malte/Rilke in der unausweichlichen Notwendig-
keit zwar ahnte, aber dennoch nicht vollzog: das Übernehmen der
Kindheit. Malte/Rilke drängt die Angst ab in die Furcht vor den Ge-
genständen, die die Welt seiner Kindheit ängstend ausfüllten; er hält
sich an diese Gegenstände, um der eigentlichen Angst auszuweichen. An
diesem Verhalten des Malte ist der Satz Heideggers abzulesen: »Furcht
ist an die Welt verfallene uneigentliche und ihr selbst verborgene
Angst.« Das Schwanken Rilkes in der "\Vortgebung zwischen Angst und
Furcht ist nur das Symptom davon; es weist in die gleiche Richtung.
Wie aufschließend sind dafür die Worte: »Ich habe um meine Kindheit
gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer
noch so schwer ist wie damals und daß es nichts genutzt hat, älter zu

153
werden« (GW V, S. So). Warum aber hat Malte/Rilke um seine Kind-
heit gebeten? Was bedeutet die Aussage, »daß sie immer noch so schwer
ist ... «? Was hat die gängige Meinung, daß das Älter-werden vielleicht
etwas nutzen könne, hier für eine Funktion? Dem Malte war in der
Grundbefindlichkeit seiner Angst offenbar geworden: verstellend vor
dem Freisein für die Freiheit des Selbstsein-könnensliegt noch immer
das Nicht-Übernommen-haben der eigenen Kindheit. Sie ist immer
noch so schwer wie damals. (Wäre sie nicht schwer, würde sich das Pro-
blem gar nicht stellen.) Sie ist zu schwer für das in ihr Geforderte, so
schwer, daß man vor der Aufschließungskraft der Angst ausweicht in
»furchtbare« Gegenstände, die das von der Angst eigentlich Verlangte
zustellen und einem gleichzeitig doch >erlauben<, »Angst« zu haben,
um ihr das Geschuldete gewissermaßen in kleiner Münze abzuzahlen.
Aber die Angst verweigert die Annahme; das Zahlungsmittel gilt ihr
nicht. Die Kindheit ist zu schwer noch immer, schwerer noch gewor-
den; denn das Älterwerden »hat nichts genützt«, um sie leichter zu
machen. Wie sollte das auch möglich gewesen sein! Die immer wieder
hochsteigenden Ängste zahlen sie nicht ab; ·sie legen sich der Schwere
gleichsam zu wie Zins und Zinseszins zum Kapital, das man schuldig
geblieben ist. In ihrer Existenzialität naturgemäß nicht ergründet, ex-
istenziell aber immer wieder bis zu den schwersten Erschütterungen
erfahren, liegt hier die Wurzel für die Forderung Rilkes an sich selbst:
»die eigene Kindheit noch einmal zu leisten«.
Malte/Rilkes Problem der Angst ist geradezu symbolhaft eingefan-
gen und vorweggenommen in der Schilderung Maltes von dem gespen-
stischen Erlebnis mit der fremden Hand, die seiner eigenen suchenden
Kinderhand entgegenkam, als er unter dem Tisch im Halbdunkel den
heruntergefallenen Buntstift suchte (GW V, S. 110 ff.). Erstarrt vor
Grauen wollte er sich befreien und erzählen: »Aber wie? ich nahm mich
unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es
einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein,
welche zu finden.« Mehr noch als das Entsetzen über dieses Erlebnis
aber ergriff ihn »die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus,
auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als
alles, sie dann sagen zu müssen«. Der kleine Malte schon wich instink-
tiv zurück vor dem, was ihm auferlegt war als vor einem zu Schweren.
Es in Worte zu fassen, es in Worten gleichsam als eine neue Art von
Gegenständlichkeit vor sich hingestellt zu finden, es also noch einmal,
bewußter zu erleben in einer anderenForm als soeben, wirklicher gleich-
sam- das schien über seine Kraft: »Das Wirkliche da unten noch ein-
mal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören,

153
wie ich es zugebe (hier gesperrt), dazu hatte ich keine Kraft
mehr.« Dieser kleine Zwischensatz »Wie ich es zugebe« schließt alles
auf: Zugeben müssen, auch und gerade vor sich selbst, das ist das
Schwere.
Aus solchen unaufgearbeiteten Rückständen mag sich zusammenge-
setzt haben, was dann im erwachsenen Rilke zu der Forderung anstei-
gen sollte: »die eigene Kindheit noch einmal zu leisten«. Etwas notwen-
dig zu Bewältigendes war nicht bewältigt worden. Rilke fühlte es selbst.
Die Erschließungskraft der Angst wurde auch später nicht in ihrer gan-
zen Stärke genutzt. Vor diesem >noch-mehr-an-Angst< war er immer
wieder geflohen, anstatt sich diesem moch-mehn zu überantworten,
von dem Malte selbst später sagt: »Wir haben keine Vorstellung von
dieser Kraft, außer in unserer Furcht. Denn so ganz unbegreiflich ist
sie, so völlig gegen uns, daß unser Gehirn sich zersetzt an der Stelle,
wo wir uns anstrengen, sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile
glaube ich, daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark
ist für uns« (GW V, S. 196 ff.). Allerdings steht hier an dieser Stelle
das Wort »Furcht«. Jedoch der Ausgangspunkt in der Überlegung die-
ses Zusammenhanges ist die Angst vor dem Tode. In ihr weichen alle
Dinge vor Malte zurück und »nicht einmal das Licht, dem er (ich) doch
soeben den Dienst erwiesen hatte, es anzuzünden, wollte von ihm (mir)
wissen«. Malte ist in seiner Angst vor das Nichts gebracht. Auch aus
dieser Angst geht die Erinnerung wieder zurück auf einschneidende
Furchterlebnisse der Kindheit: »Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich
ins Gesicht und sagten mir, daß ich feige sei. Das war, weil ich mich
noch schlecht fürchtete. Aber seitdem habe ich mich fürchten gelernt
mit der wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt,
die sie erzeugt.« Unverkennbar aber ist die hier zitierte »wirkliche
Furcht« Angst. Nur aus Angst kann das Gebet aufsteigen, Gott möge
ihm, wenn ihm noch weitere Nächte der Angst bevorstehen, »doch we-
nigstens einen von den Gedanken (lassen), die er zuweilen denken
konnte«. Diese Gedanken, um die er jetzt bittet, gingen auf Gott und
Tod, auf unser »Kostbarstes« und auf unser »Eigentum«. Sie wa-
ren im Laufe seines Lebens aus der Erschließungskraft der Angst um
sein Eigentlichseinkönnen erzeugt. Aus dieser Kraft, von der Malte
sagt: »Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade unser
Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen?« Diese Gedanken mühten
sich um den Sinn von Dasein und seinen Bezug zu Sein überhaupt. Nur
als solche können sie diese Kraft aufgenommen haben und diese Kraft
wieder ausgeben, die in der letzten eigensten Möglichkeit des Daseins,
dem zu bestehenden Tod, von Belang wären.

153
Es ist das Anliegen von Heidegger, Dasein = In-der-Welt-sein als
»eine ursprüngliche und ständig ganze Struktur« zu erweisen. Die Ein-
heit von Existenzialität und Faktizität, als welche Dasein ist, versuchten
wir zu begreifen, indem wir die beiden grundlegenden Existenzialien,
Verstehen und Befindlichkeit, näher betrachteten. Das Verstehen er-
möglicht dem Dasein die Konstitution von Welt im verstehenden Um-
gang mit Zuhandenern und mit Mitdasein, ohne welche beiden es sein
In-der-Welt-sein nicht sein könnte. In der Befindlichkeit wird das Da-
sein vor es selbst gebracht. Im plötzlich aufleuchtenden >Da< seiner Ge-
stimmtheit erschließt es sich in seiner Geworfenheit, überantwortet an
das faktische »daß es ist und zu sein hat«. Es wird sehr einsichtig, wie
gleichursprünglich in der gestimmten Befindlichkeit Existenzialität und
Faktizität zusammenhängen. Die stimmende Angst als eine ausgezeich-
nete Erschließungsmöglichkeit ist dem Dasein als Grundbefindlichkeit
gegeben. »Das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens« und
damit die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt
sich in einer ursprünglichen elementaren Konkretion in der Angst. Und
zwar gilt das für die beiden Seinsweisen, in denen Dasein sein kann.
Diese so abstrakt scheinende Bezüglichkeit von Existenzialität und Fak-
tizität als das Strukturganze »Dasein« suchten wir auszufüllen mit dem
Leib und der Seele einer erdichteten Gestalt. In sie waren die existenzi-
ellen Erfahrungen ihres Schöpfers eingegangen. Der Malte Laurids
Brigge gab sich zu erkennen als geradezu geschaffen dafür, die weitrei-
chende und ursprüngliche Erschließungskraft der Angst mit sich selbst
darzustellen. Unüberbietbar deutlich wurde an ihm, daß das Dasein
»je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, daß es sich in und aus ihnen
versteht (auf sie sich entwirft)« (S. u. Z. S. 181). Wir lasen aus Dich-
tung und Briefen Rilkes existenzielle inhaltlich-konkret gewordene Er-
fahrungen ab, die ohne Rest in die formalen Strukturen Heideggers
eingehen. Sieht man von diesen Erfahrungen hin auf Heideggers Ex-
istenzialität, so scheint es, diese sei für jene erdacht. Blicken wir von der
»Existenzialität« des Denkers auf die gelebte Gestalt des Dichters und
sein Geschöpf, so möchte man glauben, sie seien zur Ausfüllung jener
geschaffen. Ein Dichter und ein Denker stellen an einem gleichen Ort
der Zeit gelebte Erfahrungen und denkerische Möglichkeiten zur Auf-
nahme dieser Erfahrungen bereit. In der Erschütterung durch die Seins-
ferne des modernen Menschen finden sie beides auf ihrem Wege zur
Ermöglichung einer näheren Nähe zum Sein. Vom Blickpunkt dieser
Arbeit wird in der eigenartigen Entsprechung dieser beiden Wege zu
einander der Versuch eines Antwortgebens gesehen auf ein und dasselbe
Angesprochen-werden des Daseins durch das Sein selbst.

66
DIESORGE

Die Grundbefindlichkeit der Angst ist für Heidegger eine vorzügli-


che »Weise des Erschließens, in der das Dasein sich vor sich selbst bringt
... in ihr (wird) das Dasein selbst in gewisser Weise vereinfacht zu-
gänglich<<. Elementar erschließt die Angst, daß es dem Dasein in seinem
Sein um dieses Sein selbst geht. Die Betrachtung der Angst und der
Furcht des Malte machte das sehr einfühlsam. Von seiner Gestalt aus
gesehen mag es weniger befremdlich erscheinen, daß dieses Sein des
Daseins Sorge genannt ist. Dasein in seiner Sorge um das, was es um-
willen seiner selbst zu besorgen gilt, ist immer über sich hinaus. Es ist
vorweg auf das Worumwillen zu, um das es ihm geht, auf das hin sein
Sein sich entworfen hat. Dieses Worumwillen des Daseins, auf das Sein
als Sorge sich richtet, bricht auf in der Konkretion je einer seiner bei-
den Möglichkeiten zu sein, dem Eigentlich- und dem Uneigentlichsein-
können. Denn auch in dem Uneigentlichsein-wollen geht es der Sorge
als Sein von Dasein um das In-der-Welt-sein, und zwar auch hier in
eben dieser »uneigentlichen« \Veise, um die es dem Dasein zu tun ist.
Dasein hat dafür »sich freigegeben«, freigegeben für eben dieses Un-
eigentlichsein. Und die Angst in dieser Konkretion von Dasein geht auf
das Umwillen des Beibehaltenkönnens der Verdeckungen vor dem
Eigentlichseinkönnen. Malte flieht in seiner Angst vor seiner Angst
weg von der Erschließungskraft der Angst zu den Verdeckungen des
eigentlichen Umwillen seiner Angst, hinein in die »furchtbare« Ge-
genständlichkeit von besorgter Welt, und sei es auch nur die Gegen-
ständlichkeit der imaginierten Welt seiner Kindheit. Sie drosselt ihm
seine Angst zur Furcht ab und täuscht ihm so noch eine Weile die Mög-
lichkeit des Uneigentlichseinkönnens vor. Auch dieses alles ist >>Sorge«
des Seins von Dasein um sein eigenstes Seinkönnen. In »Sein und Zeit«
§ 4r ist nachzulesen, in welcher Weise die Bestimmung des Seins von
Dasein als Sorge das Ganze der Daseinsverfassung von In-der-Welt-sein
zu umspannen vermag. Es versteht sich, daß innerhalb einer existenzial-
ontologischen Untersuchung die üblichen rein ontischen Bedeutungen
diesem terminus fernzubleiben haben. Es versteht sich aber auch erst
jetzt, mit welchem tiefen Recht das Sein des Daseins bei Zuhandenern
als Be-sorgen gefaßt werden konnte. Die Sorge enthüllt sich gleicher-
weise als Sinn von Sein des Daseins im Eigentlich- und im U neigendich-

153
sein; das ist immer wieder zu erinnern. Auf dieser Grundlage ruht die
Einheitlichkeit des Strukturganzen, genannt Dasein. Das Freisein aber
für eigentliche existenzielle Möglichkeiten- eben weil es» Freisein für<<
ist- kann sich versagen und versagt sich zumeist zugunsten des Un-
eigentlichseins. Wichtig allein hierbei ist es zu erkennen: »Auch in der
Uneigentlichkeit bleibt das Dasein wesenhaft Sich-vorweg, ebenso wie
das verfallende Fliehen des Daseins vor ihm selbst noch die Seinsver-
fassung zeigt, daß es diesem Seienden um sein Sein geht<<(S. u. Z.
s. 193)·
Wir suchen nunmehr Rilkes Konzeption von Dasein auf. Sie drückt
sich naturgemäß in dichterischen Worten und Bildern aus. Die Struk-
tur bleibt zumeist unausdrücklich, falls man von einer »Ausdrücklich-
keit<< nur dann sprechen darf, wenn die Struktur als solche in Begriffe
gefaßt ist. Vom rein wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus ist es natür-
lich durchaus notwendig, daß diese Strukturen rein abgelöst von der
dichterischen oder brieflichen Aussage über eine existenzielle Wirklich-
keit aufgewiesen werden müssen. Jedoch, die Aussagen Rilkes in Ge-
dicht und Brief sind aus sich selbst durchsichtig auf die Strukturiertheit
des Seins von Dasein, wie es sich selbst, unausdrücklich, immer schon
versteht. Dasein existiert in und aus seinen Einsichten über Sein; es
setzt sich diese oft genug ins Wort gefaßt gegenüber. Man kann von
diesen vVorten ablesen, daß es diesem Dasein immer wieder um Sinn
und Sein des menschlichen Daseins zu tun ist. Dies alles als vorontolo-
gisches Seinsverständnis zu fassen, weil es unmethodisch bleibt, griffe
zu kurz. Denn an entscheidenden und weiterweisenden Stellen des Ril-
ke'schen Werkes wird die Frage nach Sein-überhaupt, nach Sein von
Dasein und nach dem Bezug beider zu einander wörtlich und eindring-
lich gestellt. Die gefundenen Antworten bestimmen die Weise des
eigenen Existierens; aus ihnen geht in die Dichtung die für das Dasein
maßgebliche Sicht von Welt und Gott und Mensch ein. Will man je-
doch die Charakterisierung als vorontologisch immer da einsetzen, wo
die Fragestellung sich zu keiner explizit-wissenschaftlich-ontologischen
Formulierung geklärt hat, so müßte diese allerdings auch gegenüber
den Rilke'schen Einsichten zu gelten haben. In ihrer höchst persönlich
gebliebenen Ausdrucksweise sind Rilkes Aussagen über das Sein von
Dasein mit seinen verschiedenen Modifikationen jedoch auf einen Ge-
neralnenner zurückzuführen. Auch Rilkes Sein von Dasein geht es in
seinem Sein um dieses Sein selbst. Für beide Weisen zu sein (Eigentlich-
keit und Uneigentlichkeit) wird bei Rilke die Sorge um das einmal er-
griffene Worumwillen ganz ausdrücklich offenbar. Je tiefer das Dasein
an die Welt der Alltäglichkeit verfallen ist; je willentlicher es sich aus-

68
legt aus diesem Man, das die Alltäglichkeit entwirft; je bereiter es ist,
sein Selbst von diesem Man als Man-selbst zurückzuerhalten, - desto
mehr geht das Sein auch dieses Rilke'schen Daseins auf im Be-sorgen
einer alltäglichen Welt.

Sorge. Fünfte Elegie

Wir lesen dieses Be-sorgen von Alltäglichkeit ab an der fünften Ele-


gie. Das Umgetriebenwerden der fahrenden Leute gibt ein Bild für das
menschliche Dasein überhaupt. Angesichts der Fahrenden stellt das Ge-
dicht die Frage nach dem Sinn von Sein des menschlichen Daseins. Und
so fragt, betont, gleich der erste Vers: »Wer aber sind sie, sag mir, die
Fahrenden, diese ein wenig I Flüchtigern noch als wir selbst«. Die Fra-
genden dieser Elegie- »Wir selbst« -sind schon allein mit unserer
Frage abgehoben zu einem »Selbst-sein«; »ein wenig« nur abgehoben
von den um eben dieses Wenige »Flüchtigem«. Sie heißen darum die
Flüchtigem, weil im Umgetriebensein in der Alltäglichkeit ihr Selbst
sich völlig verflüchtigt hat. Denn nicht einem eigentlichen Selbst »ZU
Liebe« besorgen sie ihre alltägliche Welt: »ein wem - wem zu Liebe
niemals zufriedener Wille« »wringt sie, biegt sie, schlingt sie und
schwingt sie« von früh an des Tages, von früh an ihres Lebens. In der
Essenz ihres Seins als Artisten, in ihrem Tun, das ihr Selbst ausfüllt,
sind sie bestimmt von einem anonymen Willen. Sie identifizieren sich
mit diesem so weitgehend, daß ihr eigenes Selbst zum Man-selbst die-
ser Anonymität geworden ist. Es geschieht in solcher Ausschließlich-
keit, daß diese Sorge die ganze Weise-zu-sein ihres Daseins geworden
ist.
Vielleicht ist es notwendig, hier noch einmal eine grundsätzliche Be-
merkung zum Thema dieser Arbeit einzufügen: wir betrachten auch
hier wieder diese Elegie lediglich unter dem Blickpunkt, das Aufgehen
des alltäglichen menschlichen Daseins bei der zu besorgenden Welt auf-
zuzeigen. Ihr viel weiter greifender Gehalt und ihre tiefe Symbolik
müssen außer Ansatz bleiben11 • Wie es sich in der ganzen hier vorge-
legten Untersuchung keineswegs darum handelt, Rilke überhaupt oder
die Elegien im besonderen zu interpretieren, so besteht auch keineswegs
die Absicht, dieses Werk auf die Existenzial-Ontologie >Zurückzufüh-
ren<. Vielmehr ist es immer wieder das Anliegen aufzuzeigen, wie ein
Dichter und ein Denker an einem gleichen Punkt der Zeit dasselbe su-
chen. Mit ihren in sich unterschiedenen Mitteln stellen sie die Seins-
11 vgl. Else Buddeberg »Die Elegien R. M. Rilkes«. Karlsruhe: Stahlberg
Verlag 1948.

153
frage. Die wissenschaftliche Zurüstung Heideggers an das dichterische
Werk herangetragen, erlaubt, dieses Werk an den gleichen Ort der
Seinsgeschichte zu stellen, von dem das Werk des Denkers ausging. Die
Parallelisierung dichterischer Aussagen zu den denkerischen Ergebnis-
sen hingegen füllen diese letzteren mit Anschauung und zeigen weiter-
hin deren außerordentlich bedeutsame und umfassende existenzielle
Reichweite. Dieses letztere Ergebnis insbesondere darf vielleicht für
sich in Anspruch nehmen, die Fehlmeinung in etwa einzuschränken,
nach der Heideggers existenzial-ontologisches Denken in einer wirk-
lichkeitsfremden Abstraktheit verläuft, um in leerem Funktionalismus,
ja in Nihilismus zu enden.
Die fünfte Elegie ist, vom Ganzen des F.legienwerkes gesehen, ein
Ort des Ungenügens. An ihm vollzieht sich das unablässige, einem nicht
erkannten Willen blind gehorsame Bemühen um eine lange nicht ge-
konnte Kunstübung. Diese ist die konkrete Sorge jenes Daseins; denn
einzig im Können dieser Kunstübung sieht es sein Sein. Von dieser
Konkretisierung der Sorge aus in die existenzbegründende Tiefe von
Sorge überhaupt gesehen, erkennt man erst die Sorgestruktur als sol-
che. Sie konstituiert Dasein; erst von dieser Struktur her kann das je-
weilige Dasein sie ontisch-faktisch mit Gehalt füllen. Es ist gewiß im
Hinblick auf die bestimmte Existenz wie auf die dichterische Ausfor-
mung sehr erheblich, mit welchem konkreten Gehalt sie sich gefüllt
hat. Grundlegend wichtig aber bleibt es zu erkennen, daß ohne diese
Struktur Dasein nicht Dasein wäre. Und gerade das wird in dem un-
ablässigen Bemühen dieser Fahrenden deutlich. Ist das »Können<< end-
lich erreicht, so enthüllt es sich im ))leeren Zuviel<< als belangloses Vir-
tuosentum. Dessen gekonnte Wirklichkeit liegt niedriger als die im
Nichtkönnen wenigstens noch offen gebliebene Möglichkeit auf ein er-
fülltes Können. (Wie sehr erhellen wieder diese Verse das Dasein in
seiner Struktur der Ermöglichung!) Die S0rge als Sinn von Sein eines
Daseins in der Alltäglichkeit ist immer dieselbe, wenn sie auch ontisch
in ungleichen Konkretionen sich abspielt. Die Modistin Madame La-
mort, eine Moira der Alltäglichkeit, beherrscht den Schauplatz dieses
alltäglichen Daseins: »Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz ... «
Hier schlingt sie »die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder« zu
Garnituren für die ))billigen Winterhüte des Schicksals«, konfektioniert
für das Man-selbst. Denn auch der Schmuck, um den dieses Dasein in
seinem Sein konkret besorgt ist, auch noch der Tod selbst, wird fertig
geliefert von den Konventionen des Man12• Es ist dichterisch von gro-
12 Wie diese Herrschaft einer vom Man errichteten Konvention auch noch den Tod

selbst, nachdem er gestorben ist, in eine von der in bestimmten Kreisen geläufigen

70
tesker Wirkung, daß in dieser Elegie die Konventionalität der Alltäg-
lichkeit in Bilder unbürgerlichen Lebens der Fahrenden gekleidet ist.
Daraus ergibt sich ohne Worte eine großartig durchgeführte Anschau-
ung für die einheitliche Strukturiertheit der Uneigentlichkeit. Ob Bür-
ger oder Fahrende, ihr Verfallensein an das Man ist bei aller inhaltli-
chen Verschiedenheit des Besorgens von gleicher Struktur. Auch das
Leben der Artisten verläuft nicht in Freiheit, wie eine jugendlich-ro-
mantische Vorstellung wohl gerne glaubte; es ist im Gegenteil von
strenger Pflichterfüllung, pausenloser Arbeit und mannigfachen For-
men der Askese aus der Diktatur des Man bestimmt.
Unter der Last dieses fremd-bestimmten Daseins leuchtet die Ah-
nung echter Gestalthaftgkeit auf,- und die Möglichkeit von Eigentlich-
seinkönnen. Hier an diesem Ort der Alltäglichkeit wird es nicht im ent-
schlossenen Entwurf übernommen, wenn auch der Tod anklopft. Es
ist aber wenigstens eine Ahnung da: sie ist in das sehr zarte, fast schüch-
terne Bild eines Lächelns gekleidet. Das mühsame Gesicht des Arti-
sten, »glänzend mit dünnster Oberfläche leicht scheinlächelnder Un-
lust«, wird plötzlich von einem echten eigengestaltigen Lächeln »hin-
über zu seiner selten zärtlichen Mutter« erhellt. In den »halben Pausen«
seiner Mühsal formt er »ein liebes Antlitz« aus seinem sonst nur kör-
perhaft daseienden alltäglichen Gesicht. Für einen Augenblick des
Selbstseins wird es zu einem menschlichen Antlitz geprägt. Die eigent-
liche »Sorge« ist hier die vom eigenen Selbst getragene Liebesbeziehung
zur Mutter. Das Lächeln geschieht nur in den »halben Pausen« der All-
täglichkeit; aber es geschieht doch wenigstens und es hat die Bedeutung
von Gestaltgewinnung, wenn auch nur im Ansatz, wenn auch nur in
halben Pausen, wenn auch schnell wieder versinkend. Denn nur in der
gesteigerten Bedeutung, die diesem Vorgang gegenüber zunächst un-
angemessen scheinen mag, ist es überhaupt begreiflich, daß das Lächeln
dem Engel dargeboten werden kann mit der Bitte, es zu »bewahren«.
Die hier versuchte Herstellung eines erfüllten Bezuges zum Engel ist
gleichfalls Sorge als Sinn von Sein, nun aber verstanden vom Eigent-
lichsein aus. Sie meint Gestaltgewinnung des menschlichen Daseins.
Gestalthaftigkeit ist in der Rilke'schen Auffassung dasselbe wie Eigent-
lichseinkönnen. Gemäß der Konzeption des ganzen Werkes geht die

Meinung geforderte Verschleierung rückt, das ist in der Novelle von Evelyn Vaugh
»Tod in Hollywood« auf eine groteske Weise dargestellt. Die Konvention hat es fertig
gebracht, auch noch die Unheimlichkeit der grotesken Gebräuche, die sie übt, zu do-
mestizieren. Das Grotesk-Unheimliche ist nur dem von außen zusehenden Betrachter
fühlbar. Die in den Gebräud1en stehenden und sie ausübenden Menschen leben so
gänzlich unter ihrer Herrschaft, daß sie Marionetten in einem dämonischen Spiel glei-
chen, das über ihre Köpfe hinweg gespielt wird.

153
Sorge des Seins im Menschen der Elegien auf die Herstellung (oder die
Außerachtfassung oder die Verfehlung) des Bezuges zum Engel als der
absoluten Gestalt. Nur in dieser erfüllten (oder unerfüllten oder ver-
fehlten) Beziehung hat der Mensch sein Sein. Das Lächeln meint Ge-
stalt; und darum kann der Engel als solcher die Bitte hören, das Lächeln
zu rühmen und zu verwahren. Der Engel steht für die Dimension des
Heiligen; eigene eigentliche Gestalthaftigkeit ist erfüllter Bezug zum
Engel. In ihr lichtet sich dem Dasein die Möglichkeit, aus der konven-
tionellen Ungestalt des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein zu ge-
langen.
Aus der gleichen Sorge um Eigentlichkeit, um Gestalt ersteht am
Ende der Elegie die Vison echter >gekonnter< Liebe. Im Weg durch
das umgetriebene Leben der Fahrenden sind wir an Bildern unerfüllter
Erotik vorbeigeführt worden. Auch angesichts dieser Vision hat sich
das Dasein noch nicht zur Entschlossenheit für sein Eigentlichsein zu-
sammengefaßt. Es spricht sich vorerst aus nur in der Form der Mög-
lichkeit: »Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen.« Aber das,
was das Dasein schon weiß, ist dieses: der hier als möglich erahnte
»Platz« kann nicht der Ort der Alltäglichkeit sein. Er wird nicht von
einer Modistin (das Man) beherrscht, die schließlich und letztlich
auch noch den Tod konfektioniert, sondern vom Engel. Unter Anru-
fung des Engels wird er erschaut. Alles, was diese Anrufung herauf-
ruft, steht weiterhin in der Form der Möglichkeit - einer sehnsüchtig
wünschenden, fast beschwörenden Möglichkeit. Die Führung dieser
ganzen Strophe aber läßt erkennen, daß es sich bei diesem Wünschen
nicht um ein Ausweichen in unverbindliche Traumbilder handelt, das
an einem Entschlossensein für die Eigentlichkeit sich vorbeischleichen
möchte. Dieses beschwörende Wünschen hier ist echtes Vorlaufen in
eine Möglichkeit von Gestalt, zu der das Dasein im Sich-hinaus-schwin-
gen über die gestaltlose Umgetriebenheit der Artisten schon unter-
wegs ist, die nur mit Gestaltung spielei1. In dieser Vision sind echte
Möglichkeiten eines gestalthaften Seinkönnens heraufgerufen; sie sind
hervorgetrieben aus der Sorge des Daseins um sein Eigentlichseinkön-
nen. Diese Sorge spricht sich zunächst in visionären Bildern aus; sie
sind von äußerster Irrealität. Jedoch haben sie als Gesichte des Unsicht-
baren ergreifende mythisch-gestaltverheißende Wirklichkeit; ihnen
eignet die Kraft, das Dasein zu befreien für sein Freisein für das eigen-
ste eigentliche Seinkönnen.

72
WÜNSCHEN UND WOLLEN (HEIDEGGER).
SORGE (HEIDEGGER). ARMSEIN (RILKE).

Nach Heidegger sind Wünschen und Wollen »ontologisch notwen-


dig im Dasein als Sorge verwurzelt« (S. u. Z. S. 194). Im bloßen
Wunsch »entwirft das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, ... deren
Erfüllung nicht einmal bedacht und erwartet wird« (S. u. Z. S. 195).
Die Bilder, die wir in der Vision der fünften Elegie schauen durften,
sind nicht von der charakterisierten Unverbindlichkeit des Wünschens.
Diese Wünsche als Sein zu Möglichkeiten, die doch nicht ernstlich er-
griffen werden wollen, können wir in der vierten Elegie ablesen. Das
verzweifelte Dasein flieht hier vor jeder Möglichkeit des In-der-Welt-
sein-könnens. Der Entschluß entwirft sich zum Gegenübersein vor der
Puppenbühne: »Hier, ich bin davor ... es gibt immer Zuschaun.« über
diese Verse wäre der Satz Heideggers zu schreiben: »Das In-der-Welt-
sein, dessen Welt primär als Wunschwelt entworfen ist, hat sich haltlos
an das Verfügbare verloren, so jedoch, daß dieses als das einzig Zu-
handene im Lichte des Gewünschten doch nie genügt.« Das Ungenü-
gen am soeben noch vollzogenen spielerischen Entwurf spricht der
Mensch dieser Elegie noch im gleichen Atemzug aus: der Tänzer als eine
Figur der Leichtigkeit wird als eine möglicherweise zu ergreifende
Seinsform angesehen, in die jeder Nicht-Tänzer als Man hineinschlüp-
fen könnte. Sofort folgt der Vers: »Nicht der. Genug! Und wenn er
auch so leicht tut, I er ist verkleidet und er wird ein Bürger I und geht
durch seine Küche in die Wohnung.« Die Banalität des Bildes drückt
bizarr den Abscheu vor dem soeben noch Gewünschten aus. - Im Ent-
wurf dieses Daseins zum bloßen Zuschauer wird der Sinn von Sein als
Sorge zum Be-sorgen von Stoff für das unbeteiligte nDavor« verein-
facht. Schon das In-der-Welt-sein als bloßes »ln-sein« wird damit rein
räumlich-körperhaftzum Verkümmern bestimmt, nämlich zum bloßen
»Davor«. Von der ganzen umfassenden Weltlichkeit des In-der-Welt-
seins bliebe nur die Funktion des selbstgenügsamen Zuschauens. nDie
Vorherrschaft des Sich-vorweg-seins im Modus des bloßen Wünschens
bringt ein Unverständnis der faktischen Möglichkeiten mit sich« (S. u.
Z. S. 195). Die folgenden Verse sprechen das aus: das Mitsein zum Bei-
spiel mit den anderen war tatsächlich unergriffen geblieben: >> ••• für den
kleinen Anfang Liebe zu euch, von dem ich immer abkam ... « Diese
Wunschwelt nähme sich selbst nicht ernst, gesetzt den Fall, sie könnte
sich überhaupt erfüllen. Das vorweggenommene Ungenügen an ihr

73
wird schon in der Übersteigerung des Wünschens deutlich; es enthüllt
sich dann auch restlos als ein solches vor den Bildern echten Seins, die
mit dem Aufsteigen der Sterbenden vor das innere Auge gestellt wer-
den. Angesichts ihrer wird im Zurückkommen von diesem Vorlaufen
erkannt: »wie voll Vorwand das alles ist, was wir hier leisten.« Unter
dem Aspekt des Todes sehen wir: auch diese Wünsche hier sind vorge-
wendet, um das Eigentlichseinkönnen zu verdecken. Und doch ist die-
ses schon am Aufbrechen mit der hochsteigenden Einsicht in die ge-
meinhinnige Vordergründigkeit des alltäglichen das mit dem
künstlichen Spiel auf der Puppenbühne die Not zum eigentlichen Selbst-
sein zu verstellen sucht. Die echten und fordernden Bilder des eigentli-
chen Seins behaupten am Ende der Elegie den Schauplatz; die Puppen-
bühne ist versunken.
Es ist nicht von ungefähr, daß bei einem künstlerischen Menschen die
Sorge um sein Seinkönnen ausweicht in die Uneigentlichkeit eines Da-
seins, das im bloßen Zuschauen sich zu genügen glaubt. Das Besitzer-
greifen der Welt durch das Auge, die Entzückungen im Ästhetischen,
die Ausflucht in das reine l'art pour l'art und in die Selbstgenügsamkeit
des Virtuosenturns - das alles sind Gefahren, die auf dem Wege eines
Künstlerturns von intensiver Sensibilität liegen; sie haben in Rilkes
Werk ihre Spuren hinterlassen. Die Erkenntnis davon hat Rilke in sei-
ner Cezanne-Begegnung13 im Herbst 1907 bewußt vollzogen; und die
Abkehr von den Verirrungen, die im Geschmäcklerischen liegen, war
danach eine endgültige. Dieses Cezanne-Erlebnis fand seinen Nieder-
schlag in der Formel von der Sachlichkeit des Sagens als der alleinigen
Aufgabe der Kunst. Sie bedeutete für Rilke eine entscheidende Station
auf dem Wege zum Eigentlichseinkönnen in seiner eigenen Kunst. Die
Kunstgestaltung ganzer Partien des »Malte« und der »Neuen Gedichte«
wird von ihr geprägt. Denn das Worumwillen des Rilke'schen Daseins,
das, worum es ihm in seinem Sein einzig ging, war die Bewältigung
seiner künstlerischen Aufgabe. Weitere bedeutende Einschnitte folgen
nach; »Wendung« im Jahre 1914: »Denn des Schauens, siehe, ist eine
Grenze . .. «, und andere, unmerklichere, sind ihr vorausgegangen. Sie
entspringen alle aus einem Vollzug seines Existierens und nicht einer
von diesem loszulösenden Spekulation über abstrakte Probleme. Es ist
hier nicht der Ort, das auszuführen; es sei nur erwähnt, damit die Kon-
tinuität seiner Einsichtgewinnung um das Wesen der Kunst als die
»Sorge« um sein Eigentlichsein-können wenigstens in der Andeutung
aufleuchtet. Im Suchen danach liegt die gelebte Sorge seines Daseins,
aus der er um das Seinkönnen zu seiner eigentlichen Aufgabe ringt.
13 vgl. S. 8 z ff dieser Arbeit.

74
VIERTE ELEGIE (RILKE).

Jedoch schon lange vor dieser Wende steigen merkwürdige Klänge


auf. In den Ausbrüchen der Stunden-Buch-Gedichte, in den Evokatio-
nen vor der Natur in der Monographie über Worpswede, ja selbst in
den »Neuen Gedichten« nehmen sie sich fremdartig aus. Diese Dich-
tungen, innerhalb derer das jeweils Neue auftritt, enthalten noch nicht
den eigentlichen Rilke; aber seine Gestaltung ist plötzlich von diesem
Neuen aus einer tieferen Schicht seines Wesens erschüttert. Die Ce-
zanne-Begegnung wird erst die eine, die »Wendung« dann die andere
Summe ziehen.
Das, was im dritten Teil des Stunden-Buches durchzubrechen sucht,
nennt Rilke immer wieder mit dem gleichen Namen: Armsein, Armut.
Das Rilke'sche Problem der Armut hat nichts mit der sozialen Weh-
leidigkeit der Jahrhundertwende zu tun. In Paris wurde er ausgebrei-
teter sozialer Mißstände ansichtig; er selbst mußte dürftig-leben. Wenn
auch die Erinnerung an die Bedrängnisse seiner kleinen Familie in We-
sterwede die innere Hellhörigkeit für das Ausgesetztsein in Paris ver-
schärft haben mag, so ist doch das Problem der Armut nicht erschöpft
mit dem Hinweis auf Rilkes eigene Mittellosigkeit. Noch wäre es zu
bagatellisieren dadurch, daß man ihm nachrechnete, er habe bei aller
Schlichtheit seiner persönlichen Lebensführung eine Menge Geld ver-
braucht. Es war ihm zum Beispiel, wie er immer wieder betont, eine
unerläßliche Voraussetzung für sein Schaffen, einen behüteten stillen
Ort außerhalb von kleinbürgerlicher Banalität zu haben; so etwas ist
nicht billig. Alles reicht nicht aus, um Rilkes Problem der Armut zu
fassen. Schon im dritten Teil des Stunden-Buches kann man deutlich er-
kennen, wie weit über die Härte von Entbehrungen und die Sorge um
Kleidung und \Vohnung und Nahrung dieses Armsein hinausgeht.
Vielleicht zunächst noch völlig unbewußt mag es geschehen sein, daß
seine Gedanken um Armsein in die Sorge um sein Kunstschaffen zielen.
Nicht etwa so wäre das zu verstehen, als könne ihn dieses Armsein am
Schaffen hindern; gewiß mag das eine Rolle gespielt haben. Aber es
geht ihm auch hierbei um Probleme der Gestaltung an sich; sie mögen
auf den ersten Blick nur eine sehr lose Beziehung zum Problem des
Armseins haben. Jedoch eine plötzlich eintretende Selbstbeschränkung
in Prosa und Gedicht tritt gleichzeitig auf mit dem bewußten Sinnen
über das Armsein. Die schwärmerisch hingegebenen Landschaftserleb-
nisse treten zurück. Das rauschhafte Aufgehen im Wort, das sich in den

75
volklichen und religiösen Weiten Rußlands verloren hatte, wird auf-
gegeben. Darin liegt ein Sich-Entäussern von Reichtümern, die im Stun-
den-Buch seiner Ausdrucksweise in verschwenderischer Fülle zu Gebote
gestanden haben. Rilke erkannte allmählich in dieser strömenden Pro-
duktivität eine selbstverschwenderische Gestaltlosigkeit. Damit war
eine Abkehr vollzogen von den Gefahren der Auflösung, die unter die-
sem scheinbaren Reichtum verborgen lagen. Zunächst aber bedeutete
das alles: Aufgeben von Besitz = übernommenes Armsein. Die Hin-
wendung zu menschlichen und künstlerischen Formproblemen von
westlicher Struktur verlangte ein ganz anderes Sich-zusammen-Fassen,
ein Beschneiden wildwuchernder Schößlinge des Gefühls und der
Sprachgebung; war das alles vielleicht nur scheinhafter Reichtum? As-
kese = Armsein auch gegenüber dem Wort war zu leisten. Aus Werk
und Briefen wäre das im einzelnen zu belegen.
Die Erhebung des Zustandes »Armsein« ins Mystische vollzog sich
zunächst; sie gipfelte in der Glorifizierung des Franz von Assisi. Der
Erfolg war jedoch, daß das Problem des Armseins in dem weiten hier
gefaßten Vorwurf vorerst erneut verschleiert wurde; eine andere
Schwärmerei schien an die Stelle einer abgetanen getreten zu sein.
Jedoch, darunter ist nicht zu verkennen, daß schon im Jahre
1903 der innere Impuls dieses Freisens nicht zu der wirklichen Gestalt
des poverello ging als »der Armut großen Abendstern«. Diese Gestalt
ist vielmehr in einem ganz weiten Verstand als Sinnbild gemeint. Der
eigentliche Gegenstand dieser Hinwendung ist noch verborgen unter
allden immer neuen Formulierungen von Not und Genüge, von Rein-
heit und Unschuld der Armut und von ihrem unerschöpflichen Reich-
tum. Dieser Gegenstand sucht sich selbst noch in den Möglichkeiten des
Armseinkönnens. Er wird sich einem schärferen Zusehen unter dem
verschwenderischen Wort dann sehr überraschend als ein möglicher
Weg zum Eigentlichseinkönnen enthüllen. Gewiß, der heilige Franz
hatte das alles einmal sehr eigentlich und auf seine Weise vollkommen
geleistet, und so wird er als die vollendete Gestalt, die er war, vor das
innere Gesicht gehoben. Die Sorge aber um das eigentliche Worum-
willen des Rilke'schen Daseins steigt aus dem Sein-selbst des Rilke'-
schen Daseins auf; es kann nicht hergeleitet werden von einem fremden
wenn auch bewunderten, wenn auch innerlich erfaßten Dasein. Mit
Hilfe des franziskanischen Bildes will es nur alle die Vorstellungen
durchdringen und überwinden, die dieses Rilke'sche Dichterdasein um-
drängen. Da ist die Gefahr der Artistik; die Gefahr des Geschmäckleri-
schen; eine Art der Anfälligkeit gegenüber den Härten der Wirklich-
keit, die aus der Überbewertung des Ästhetischen sich herleitet; eine

153
gewisse Verwöhntheit in Bezug auf die alltägliche Umgebung. Daraus
folgt wieder ein Begehren nach beschützendem Besitz, der diese Härten
abmildern könnte. Ein Umschlossensein in menschlichen Bindungen ge-
währt gewiß Beschwichtigungen innerer Nöte; es gibt Wärme und
Nähe- aber gerade das kann der wachen eigensten Sorge für die eigent-
liche Aufgabe gefährlich werden. Sogar die Liebe zum Leben wäre eine
solche Gefahr, wenn sie sich vor die eigenen Aufgaben stellte. Alles das
ist Besitz - Besitzenwollen schlechthin. Es hält das Dasein zurück auf
seinem Wege zum Selbstsein und drängt es ab in die besorgte Welt der
vordergründig sich sichernden Alltäglichkeit. Es ist nicht Unabhängig-
keit, nicht Freisein für das Eigenste, sondern Fremdbestimmtheit.
Im Falle einer beginnenden Dichterexistenz hat dieser Alltäglichkeit
die Verkleidung als öffentliches Ausgelegtsein in den literarischen Be-
trieb. Das literarisch Gefragte eines gängigen für >schön<- und >künst-
lerisch<-Haltens ist auch eine Herrschaft des Man. Im besonderen Fall
Rilkes war es die Geläufigkeit einer Produktion wie die des Stunden-
Buches; etwas dieser Dichtung Verwandtes war es, was das »Man« von
Rilke erwartete. Armseinwollen, wie sich dieses Grundwort bei Rilke
allmählich schärfer umreißt, ist auch ein Verzicht aufalldiese Erleich-
terungen eines Geborgenseins durch ein öffentliches für Wahr- und für
Richtig-Halten und ein Entsprechen an die Erwartungen, die hinsicht-
lich einer weiteren Produktion an einen Dichter gestellt werden kön-
nen. Es ist ein Verzicht auf das sichere >Ankommen<beim Leser, der
den Dichter schon in eine Schablone gepreßt hat. In einer Anpassung
an diese könnte vielleicht eine literarisch-bürgerliche Existenz mit dem
Gefolge von Anerkennung, Honorar und sogar Ruhm-bei-Lebzeiten
stehen. Während der Frühzeit ihrer Ehe hat Clara Rilke ihm das viel-
leicht einmal nahe gelegt. Ausall diesen sich ineinander verschränkenden
Bezügen folgt, daß das Problem der Armut nicht in einer Glorifizierung
des heiligen Franz beschlossen liegen konnte. Dieses Wissen jedoch, als
klare Einsicht, gewinnt Rilke erst viel später. Die Wahrheit des Franz
von Assisi umfaßt uns nicht mehr, erkannte er 1914, in Assisi weilend;
und ihre Nachahmung wäre unfruchtbar; inzwischen ist »das Geld
geistig geworden«; es hat »eine Atmosphäre geschaffen, die keinen Ge-
gensatz mehr hat«. Das Problem ist nunmehr auf eine viel intensivere
Weise von innen zu sehen: »Die richtige Armue 4 muß wieder von
neuem innen in der Seele geboren werden und wird vielleicht gar nicht
franziskanisch sein« (Br. o7h4, S. 352). Im Grund ist heute das Pro-
blem der Armut dasselbe wie das des Reichtums, betrachtet man es
vom Selbstsein aus. Eigentlich weiß das schon das Stunden-Buch: »Aber
14 Heidegger spricht von der »wesenhaften Armut« im gleichen Sinn.

77
die Reichen sind nicht reich« (Sperrung im Gedicht!) und die Armen
sind »nur die Nicht-Reichen«. Rilke verlangt später einmal, daß wir
das Wort »Tod« »ohne Negation« lesen müssen. Dieser Parallelisie-
rung der Armen als den Nicht-Reichen zu den nicht wirklich seienden
Reichen wäre die gleiche Forderung des Lesens ohne Negation zu
unterstellen. Die Armen leben ihre Armut nicht aus ihrem Selbst, son-
dern im Ressentiment gegen das ihnen verwehrte Reichsein; und die
Reichen haben ihr Sein nicht in sich selbst, sondern in den Atrappen
ihres Reichtums. Für die Armen gilt die Bitte: »Nur mach die Armen
wieder arm.« Mißt man die im Gedicht ausgesprochene überschwäng-
liche Verherrlichung des Armseins an der harten Wirklichkeit sozialer
Armut und ihrer Bitterkeit, so bleibt nur ein Alternative: Ist alles das
wirklich so vordergründig gemeint, wie es oft aufgefaßt wird, dann
müßte man ehrlicherweise Rilke als einen Schwärmer bezeichnen. An-
gesichts der Härte des sozialen Armseins im Jahre 1903, die noch un-
vergleichlich drückender war als heute, kann sich dieser Einwand nur
verstärken. Oder aber man erkennt hinter all den Metaphern, fast
durch jede einzelne hindurch scheinend, das Sinnbildhafte des hier
gemeinten Armseins. Gewiß machen die Gedichte es nicht leicht, dahin
durchzudringen. Das liegt einerseits an der damaligen Ungelöstheit
des Problems bei Rilke selbst; andererseits aber an der künstlerischen
Unzulänglichkeit, mit welcher das erst sich entwickelnde Grundprinzip
der Rilke'schen Dichtung, das Verwandeln, noch gehandhabt wird.
Man muß es aussprechen: auch der eine oder andere schöne Vers kann
nicht darüber hinwegtäuschen: die Verwandlung ist noch nicht gekonnt.
Der harte Realismus in der Schilderung, der oft unerträgliche N atura-
lismus in der Bildwahl verträgt sich schlecht mit der mystischen Ver-
nebelung, in die die soziale Armut gehoben wird. Jenseits dieses Nebels
soll sie dann wieder heraustreten als ein Sinnbild für etwas ganz an-
deres, als das sie in diesen Nebel hineingenommen wurde. Doch auch
die Erkenntnis, hier sei vielleicht ein Sinnbild errichtet worden, hilft
nicht viel weiter. Denn dieses »Sinnbild« bietet keinen konkreten sinn-
haften Gehalt. Bestenfalls wird man ihm die Form der Möglich-
keit zuerkennen zur Ermöglichung von etwas, was vielleicht erreicht
werden könnte. Einerseits wird die Armut verstanden in einem ganz
weiten Sinn, der geistig werden möchte; andererseits wird dieser Sinn
wieder erneut verschleiert dadurch, daß dann doch die nahe Bezie-
hung zu einem sozialen Stand in Bildern des Schreckens von der groß-
städtischen Armut aufrecht erhalten wird.
Der eigentlich gemeinte Sinn der von Rilke besungenen Armut liegt
darin, ohne Rücksicht auf Besitz oder Begehren oder lchbezüglich-

153
keit das Sein eines Seienden erfahren zu dürfen, wie es an ihm selbst
ist. Das ist aber künstlerisch nicht erreicht. Der Reichtum dieser so
erhöhten Armut kommt nicht zum Leuchten. Denn immer wieder
schwingt die Voraussetzung mit, sie dringt sogar peinlich mit ihren
realistischen Bildern in die Verse ein, als sei diese Haltung eines »Arm-
seins« im sozialen Stand des Reichtums schwerer zu erreichen. Der
Reichtum ist in der Notwendigkeit, Besitz als Voraussetzung seines
Standes sich erhalten und vielleicht mehren zu müssen; er steht in der
unendlichen Verführung einer lockenden Alltäglichkeit des Genusses
und der Verwöhntheit. Das Freisein von diesen ichmäßigen, affektiven
Verführungen und Verdeckungen- so wird prätendiert- lassen der
Armut alle Dinge eigentlicher sichtbar werden. Daran ist nur eines
wahr: die Dinge zeigen sich in ihrem Seiendsein ganz und vollkommen
nur dem Nichtbesitzenwollenden. Es geht in diesen Gedichten nicht
ohne gefährliche (und im übrigen schlecht durchgeführte) Dialektik
ab. Immer wieder scheint die Voraussetzung durch, die für die mo-
dernen Großstadtverhältnisse sehr fragwürdig ist: »Die Armen brau-
chen nur das eine I so arm sein dürfen wie sie wirklich sind.« Auf die
harte soziale Armut gewendet, setzte das die Ergänzung einer mittel-
alterlichen Sozialordnung voraus, die die Armen sich eingegliedert hat.
Ohne diese Ergänzung wäre der Bezug zum heiligen Franz gar nicht
möglich. Das moderne geldwirtschaftliche Gefüge im »Unsichtbaren«
hat eine völlige Veränderung der sozialen Situation mit sich gebracht.
Wenn möglicherweise aus ihr eine »innen« sich formende Armut her-
vorgehen könnte, die dichterisch zu gestalten gewesen wäre, so hätte
das eine Kunst der Verwandlung des Ausgangspunktes gefordert, die
Rilke 1903 noch nicht leisten konnte. Der Intention nach ist der Sinn
dieses Armseins etwa im Gedicht »Der Fremde« (Neue Gedichte,
Anderer Teil) eingefangen: »Und dies alles immerunbegehrend I hin-
zulassen ... «Nur so gelangt man dazu, das Seiende, so wie es an ihm
selbst ist, in seinem Sein sein zu lassen.
Der Betrachtung des Armseins im dritten Teil des Stunden-Buches
wurde einiger Raum gewidmet. Gerade unter der künstlerischen Un-
zulänglichkeit dieser Gedichte ist die Not einer existenziellen Erfah-
rung und Bemühung hinsichtlich ihrer Struktur besonders deutlich
geworden. Das frühe Rilke'sche Problem des Armseins gibt die Sorge
als Sinn von Sein des Daseins zu erkennen. Man kann sie gleichsam
feststellen im Augenblick ihrer Konkretisierung wie auf der Mitte
einer Linie, die von der Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit zu ziehen
wäre: näher hin zum Sein geht der Durchstoß durch die gemeinhin
besorgte Alltäglichkeit und ihre Wertungen, ihre Begehrungen und

79
ihre Entbehrungen; daraufhin wendet dieses Dasein sein Sein als Sorge.
Der weitere Fortgang läßt diese Zielrichtung noch deutlicher werden:
»Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ... « Unvermittelt von
dieser Seligpreisung der Armut gehen die Verse über zu Gott selbst,
dem der Arme fast gleichgestellt wird. Das kann nur dann einen Sym-
bolwert haben, wenn dieses eine, was beide eint, das Sein selbst ist.
So hätte der Arme in seinem Nicht-Begehren und seiner Ich-Unbe-
züglichkeit die Möglichkeit, schlechthin zu sein; er könnte durch das
Seiende zum Sein selbst durchdringen, zu diesem Sein, das das Stunden-
Buch in Gott setzt und aus dem alles das ist, was begegnet. Die Men-
schen in den großen Städten der heutigen soziologischen Wirklich-
keit aber sind, als Arme oder Reiche, sich selbst verloren und preis-
gegeben an die Seinsferne. Die Gedichte malen das in vielen Bildern
und sprechen es dann wörtlich aus, worum die Sorge als Armsein-
wollen unterwegs ist. Die Menschen, ob arm oder reich: JJSie können
gar nicht mehr sie selber sein.<< Hier ist es unmißverständlich aus-
gesprochen: Es ist das »Selbstsein<<, um das Rilkes Sinnen unter der
Metapher vom Armsein kreist. Armseinkönnen ist in den Gedanken
von 1903 und späterhin noch oft die Chiffer, in der die Sorge als Sinn
von Sein sich verbirgt; sie ist gerichtet auf die existenziellen Möglich-
keiten des Eigentlichseinkönnens. Dieses Eigentlichsein muß so lange
verstellt bleiben, wie man mit den Maßen der Alltäglichkeit Armut
und Notdurft jeglicher Art mißt. Es gilt durchzustoßen zu der Er-
kenntnis, daß nur Entäußerung von jedem Begehren, das aus der Wer-
tung von Alltäglichkeit seinen Impuls zieht, den Schleier heben könnte,
der das Sein des Seienden verbirgt.
Was die Darstellung an sich schon deutlich gemacht haben dürfte,
das sei nun noch ausdrücklich betont. Rilke war naturgemäß von einer
klaren Erkenntnis dieser Bezüge, die, wie es scheint, hier zum ersten-
mal aufgedeckt sind, weit entfernrt5 • Im Gegensatz zu Rilkes eigenem
dumpf unbewußten und dann wieder chiliastisch-überschwenglichen
Verhalten seinem Problem gegenüber wurden hier die Gedichte ledig-
lich als Material für eine denkerische Durchdringung betrachtet; ein
Dichter legt es vor, indem er, existierend, sich dichterisch ausspricht.
Wir haben dieses Material mit dem Begriff »Sorge als Sinn von Sein«
gleichsam aufbereitet, so wie ein im Bergbau gefördertes Gut auf-
bereitet wird, wenn man darin Erz vermutet, das man nutzen möchte.
Hier gilt die Mühe einer Erkenntnis und nicht einer künstlerischen
Bewertung. Vorsätzlich wird hier nicht Interpretation von Dichtung
15 vgl. Else Buddeberg nR. M. Rilke. Eine innere Biographie<<. Stuttgart: J. B. Metz-
lersehe Verlagsbuchhandlung 1955·

8o
als Selbstzweck getrieben. Die Zurückführung dieser existenziellen
Erfahrungen und Nöte eines Dichters auf ihre existenzialen Bedingun-
gen ist das Anliegen. Wenn nebenbei daraus vielleicht auch ein tie-
feres Verständnis des Dichters und der Gedichte herausspringt, so mag
das unser Anliegen fördern, auch wenn der Blickpunkt nicht primär
darauf gerichtet ist. Schwerlich sind diese Stunden-Buch-Gedichte heute
noch zu lesen, ohne ein Mißbehagen ob ihrer mannigfachen Unzu-
länglichkeiten zu empfinden. Die Unschärfe des Gottesbegriffs, die
Verschwommenheit einer religiösen Haltung zwischen christlichem und
pantheistischem Gottesverständnis, vermischt mit einer gewissen Sä-
kularisierungstendenz, sind noch das Erbteil der ersten beiden Teile
des Stunden-Buches. Das alles gehört zum Rußlanderlebnis und dem
Einfluß von Lou Andreas-Salome auf Rilke. Es ist mehr oder weniger
Allgemeingut aus der Zeit der Jahrhundertwende; mit dem eigen-
ständigen Rilke hat es wenig zu tun. Es läßt nur ahnen, was alles zu
überwinden war, bevor er zu sich selbst fand, was für ein weites Feld
für die Sorge als Sinn von Sein vorlag, um durch es hindurch zu diesem
Selbst zu gelangen. So stellen sich diese Gedichte dar, gerade in dem,
was sie nicht zu leisten vermochten: als eine Station auf dem Wege
zur Eigentlichkeit des späten Rilke. Sie sind Absprungsbasis zum Spät-
werk, vor dem noch als breiter Graben die im >>Malte« zu leistende
Selbstbefreiung lag.
Wir verfolgen die Linie dieser Entwicklung in den Briefen weiter.
Rilke ist auf seinem sonntäglichen Weg zum Salon d'Automne, dort-
hin, wo er wieder einmal die Bilder Cezannes sehen wollte. Sein Arm-
seinwollen hatte sich an Cezanne erneut entzündet. Auch Cezanne war
ein Armer, wie Rilke sagte, obwohl im sozialen Sinn davon nicht die
Rede sein konnte. Nur war es Rilke inzwischen deutlich geworden, daß
die aus seinen Bildern abzulesende Kunstauffassung der Sachlichkeit
des Sagens auf einem vorher vollzogenen Armseinwollen ruht. Ge-
schmäcklerische Willkür ist nichts anderes als eine unverantwortliche
Form des Reichseins. Und die Absage daran ist ein solches Armsein-
wollen im Sinne der Cezanne'schen Kunstauffassung, zu der Rilke
sich allmählich hindurchgerungen hatte. Cezanne hatte sich in diesem
Armseinwollen freigemacht für die völlig ich-unbezügliche Rioge-
gebenheit an ein vorbehaltloses Schauen. Unverstellt durch eigene
Vorlieben vermochte er in das Seiendsein der Dinge einzudringen und
sie in ihrem Sein darzustellen. Eine genau gleiche Absage an alle Vor-
lieben fordert Rilke nunmehr von sich selbst und vollzieht sie (vgl.
Br. o6/o7, S. 396 ff.). Im Faubourg Saint-Germain stehen noch die alten
vornehmen Paläste mit den großen Namen der Vergangenheit. Rilke

81
schildert sie in ihrem lnnem, ohne noch darin gewesen zu sein. Er
kann es aus einem intuitiven Wissen um ihren gesellschaftlichen Or-
ganismus, der einem unerhört gepflegten Lebensstil einst dienstbar
gewesen war. Man fühlt förmlich aus dieser Schilderung und man
weiß es außerdem aus Rilkes Leben, was ihn daran immer wieder von
neuem fasziniert hat. Und so spricht er es auch aus: »man hat irgend
etwas im Blut, was dorthinein gehört.« Aus diesem »Etwas« kann
man all das einfühlen, was aus den Palästen gewissermaßen zu einem
selbst gehört. Man spürt die Verführung genießerisch-sehnsüchtiger
Vorstellungen, die Rilke gelegentlich immer wieder befallen haben.
Hier aber erfolgt plötzlich die harte Wendung. Sie wird hervorge-
trieben aus der Sorge seines Daseins um seine Eigentlichkeit. »Aber
das muß abgedankt werden, abgetan, abgelehnt. Selbst einer, der solche
Paläste zu sagen hätte, müßte ihnen arm und ahnungslos gegenüber-
stehen, nicht als einer, den sie noch verführen könnten.« Das, was er
hier von sich oder von jedem anderen Aussagenden noch vor jeder
künstlerischen Verwandlung in das darstellende Wort verlangt, ist eine
»Unparteilichkeit«; sie kommt der Sachlichkeit des Sagens gleich, wie
Cezanne sie geübt hatte. »Gefühlserinnerungen ... Überlieferungen
ererbter Vorlieben und Vorurteile« hatten Rilke soebenangesichtsder
Paläste überflutet. Sie müßten in diesem Armseinwollen zu allererst
so verwandelt werden, daß ihnen jede auf die eigene Gefühligkeit be-
zogene, von einem heimlichen Begehren genährte »Auslegung« »ver-
weigert« würde. Denn wer in diesen Verführungen stecken geblieben
ist, der hat das eigentliche Armsein noch nicht geleistet. Seine Unpar-
teilichkeit ist noch getrübt von einem heimlichen Verlangen. Verborgen
unter der Schicht einer harmlos scheinenden persönlichen Hinneigung
lauert die Gefährdung der Sachlichkeit der Aussage. Die Wahrheit
der neuen Namen, die man finden müßte, ist in Gefahr. »Was an
Kraft, Bewunderung und Wollen« mit diesen vagen Gefühlserinne-
rungen heraufkommt, ist »namenlos und neu an die eigenen Auf-
gaben zu wenden« (hier gesperrt). Um dieses »namenlos« hier in
seiner ganzen Bedeutung zu fassen, erinnere man sich an das gleiche
Wort, das die erste Elegie in Bezug auf die Toten braucht: sie haben
»den eignen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug «.
Nur so können sie vielleicht »ein wenig Ewigkeit spüren«. Die Ewig-
keit in der ersten Elegie, das Seiendsein der Dinge im Brief meint in
beiden Malen die gleiche Nähe zum Sein; sie zu erlangen, fordert in
beiden Fällen das Absehen von der Ichbezüglichkeit. Darum wehrt das
Wort »namenlos« hier eine Haltung ab, die mit ihren Vorlieben das
eigene Ich in den Vordergrund schiebt. Denn die Ichbezüglichkeit ist

82
es, die mit den Vorlieben den »eignen Namen« vor die Dinge stellt.
Das Sein des Seienden wird durch die mit diesem »Namen« auf-
steigenden privaten Auslegungen verdeckt und verstellt'6 •
Heidegger sagt im »Brief über den Humanismus«: »Soll der Mensch
noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen,
im Namenlosen zu existieren« (Platons Lehre, S. 6o). Hier ist dieses
selbe ich-unbezügliche Namenlose gemeint, das Rilke suchte. Dieses
Existieren im Namenlosen bei Heidegger ist eine Vorbedingung zu
neuer und erneuernder Seinsbegegnung. Sie will den Menschen frei
machen »in gleicher Weise sowohl (von der) Verführung durch die
Offentlichkeit als auch (von) der Ohnmacht des Privaten«. Mit den vor-
eiligen Namen des Man und den Vorlieben des Man-selbst wird die
Nähe zum Sein verstellt. »Die Sprache verweigert uns ihr Wesen«,
und dieses Wesen besteht darin, »daß sie das Haus der Wahrheit des
Seins ist«. Die Wahrheit des Seins aussagen, ist die Sache des Denkers;
dasselbe, auf einer anderen Ebene, ist die Aufgabe des Dichters: Das
Heilige zu nennen (Heidegger). Aber nur der kann diesen Anforde-
rungen gewachsen sein, der das Seiendsein der Dinge ohne Vorbehalt
erfährt und ihre Sprache hört. Und so muß der Mensch, »bevor er
spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen« (Platons Lehre,
S. 6o).
Das Wort »namenlos« hat für Rilke diesen weiten, das Metaphy-
sische berührenden Gehalt, für den wir das Elegienzitat beibrachten.
Noch einmal finden wir es in diesem Werk als ein bedeutendes Wort;
es spricht das Gelöbnis des Menschen zum willentlichen Übernehmen
seiner Stellung im ganzen Seinszusammenhang aus. Der Mensch der
neunten Elegie sagt zur Erde: »Namenlos bin ich zu dir entschlossen,

16 Wenn man einen Anschauungsunterricht für das hier von Rilke Gemeinte
haben möchte, so lese man vergleichend Cezannes Auslassungen über seine Malweise
und seine Auffassung von Kunst in seinen späteren Briefen und demgegenüber Schil-
derungen von Menschen und Begegnungen im Lebensrückblick von Lou Andreas-Sa-
lome. Die völlige Ich-Unbezüglichkeit dessen, was Cezanne in seiner Kunst erstn:bt,
und die Überlegungen, wie es zu ermöglichen sei, sprechen in ihrer leidenschaftlichen
Sachlichkeit für sich selbst und bedürfen keines Kommentars. Die unerhörte Egozen-
trik in den Schilderungen Lou Andreas-Salomes verstellt mit sich selbst immer wieder
die dargestellten Personen. Die Fülle der Menschen, die sie an sich gezogen hat, ziehen
durch dieses Buch wie ein Gespensterreigen. Denn nicht sie werden dargestellt, son-
dern ihr Reflex im Wünschen und Wollen Lous oder die Spiegelung ihres eigenen
Wesens in den Dargestellten. Ihre lch-Bezüglichkeit ist so zehrend, daß von der frem-
den Persönlichkeit nur das in Erscheinung tritt, was Lou in ihrer Menschen-Uner-
sättlichkeit gebrauchen konnte. Nicht der fremde Mensch steht dann in der Darstel-
lung, sondern nur das von ihm, was sie sich selbst zulegen konnte. Ein Seiendes sein
lassen so wie es an ihm selbst ist,- das wäre ihr wohl die unverständlid:lste Forderung
gewesen.

153
von weither.« Die Ausleger haben nachträglich die verschiedensten
Namen für diese »Entschlossenheit« gefunden: »Pantheismus«, »Sub-
limer Materialismus«, »heroischer Pessimismus«, »ImmanenZ«, »Ab-
lehnung von Transzendenz« usw. Sie sagen in ihrer vordergrün-
digen Unangemessenheit nur aus, daß diese »Entschlossenheit« bis
heute ihren gemäßen Namen nicht gefunden hat. »Namenlos«- ohne
einen Namen zu wissen, kommt diese eigene Entschlossenheit für den
Menschen der neunten Elegie »von weither«. Der weite Weg ist durch
die Elegien hindurch in seinen Stationen aufgezeigt; er entsprang in
der Tiefe des Gewissens, das zu dieser Entschlossenheit aufruft; er
rührte an das Andenken an das Sein. Diese Entschlossenheit ist voll
und ganz im Heidegger'schen Sinn zu verstehen.
Auch das ist ein Armsein, das Heidegger kennt: Das Hindenken in
die Wahrheit des Seins bedingt zunächst einen »Abstieg«; er »führt in die
Armut der Existenz des homo humanus« (Platons Lehre, S. I03, I9I).
Und dieser homo humanus ist in der heutigen Weltstunde einer, der
noch nicht weiß; er fragt vorerst »nach der Wahrheit des Seins« und
bestimmt dabei »den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her
und auf dieses hin« (Platons Lehre, S. I 10). Wenn er in diesem Fragen
»vom Sein erst wieder sich ansprechen läßt«, steht er in der »Gefahr,
daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat<<
(Platons Lehre, S. 6o). Aber es ist schon viel, wenn der Mensch diese
seine seinsgeschichtliche Situation kennt. Er ist also ein Armer, der
keine Namen findet; er weiß nur, daß heute »das Denken auf dem
Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens ist« (Platons Lehre,
S. I I9). Es ist dies ein Abstieg, der »zumal dort, wo der Mensch sich
in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und gefährlicher (ist)
als der Aufstieg<< (Platons Lehre, S. I03). Rilkes Wortevon der Armut
und der N amenlosigkeit weisen in die Richtung von Heideggers
weiterführendem Denken. Der Denker fand diese Worte auf seinem
Wege; ob bei Rilke oder aus dem Wurzelgrund der Sprache selbst, das
zu erörtern ist nicht wesentlich. Um die Nähe und die Ferne der Denker
und der Dichter zu einander auszusagen, braucht Heidegger einen
Hölderlin'schen Vers in einer Paraphrasierung: Denker und Dichter,
»die nah wohnen auf getrenntesten Bergen«. Sie begegnen sich
in der Aneignung der Wahrheit des Seins, die in der Sprache liegt; aus
ihr bestreiten sie das »Schuldigseincc ihrer Leistung.
Die schwärmerischen Evokationen des Stunden-Buches sind nun zu
einer klaren Forderung zusammengefaßt: »Ein Armer muß man sein
bis ins zehnte Glied.<< Das, was im Stunden-Buch in eine mystische
Aussage verschwebte, zielte gewiß auch schon in die spätere Einsicht;

153
diese reifte zur Klärung aber erst an der Cezanne-Begegnung. In ihr
wird deutlich, daß dieses Armseinkönnen und Armseinwollen in einem
dunkel gefühlten Bezug zum eigenen Kunstschaffen immer schon stand;
es lag vor der eigentlich zu bewältigenden Aufgabe. Unter dieser Me-
tapher ging die Sorge immer nur zu der eigentlichen künstlerischen
Aufgabe, auch durch das Armseinkönnen hindurch: bis in den eigenen
Ursprung hinein hat man die wählerischen Verwöhntheiten abzutun.
Das gewohnt Überkommene der »Auslegung«, die »Überlieferung«
im Blut stellen sich als ein zu sichernder Besitz vor den neuen eigent-
lichen Aufbruch. Der mögliche neue Ursprung wird damit verdeckt.
Nur aber vom eigenen neuen Ursprung aus kann ein eigenes Selbstsein
getragen werden. Darum muß »man auch noch für die, die vor einem
gewesen sind, arm sein können, sonst reicht man nur bis an ihren Auf-
stieg zurück, bis in ihren ersten Glanz«. Es ist dies ein »Glanz«, der
auch noch die Späteren vernebelt. Darüber muß man hinaus, um »die
Wurzeln (zu) fühlen und die Erde selbst«. »Die Wurzeln und die
Erde« haben hier die gleiche Funktion wie in den Vorstellungen Höl-
derlins das Chaos; etwas von diesem Hölderlin'schen Chaos ist in die
dritte Elegie eingegangen als Ursprung und Urgrund. Wenn auch in
diesem Brief Rilkes längst noch nicht die gleiche Kraft und Dichte des
Bildes und auch noch nicht die wirklich tiefe Durchdringung Hölder-
lins erreicht ist, so will doch mit diesen Worten ein Urgrund genannt
sein. In ihm muß der Mensch und seine errichtete Welt immer wieder
eintauchen, um dem Ursprung nahe zu bleiben. Die »tragende Erde«,
in Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«, ist der gleichen Bildvor-
stellung verpflichtet; auf ihr »ruht« »Welt« auf, sich lichtend in der
Wahrheit = Unverborgenheit, als welche Kunst »geschieht«. Im Um-
fang erweitert und in der Tiefe durchdacht, werden dort die Gedanken
verfolgt und wirklich zu Ende geführt. Sie haben denselben Gegen-
stand, von dem Rilke hier nur stammelt: ein Sich-Befreien von der
gewohnten Vordergründigkeit, von der öffentlichen Ausgelegtheit des
Man ist zu leisten. Das Seiende, so wie es an ihm selbst ist, ist mit
neuen unverstellten Augen zu sehen. Und alles dies hat der künst-
lerischen Aussage vorauszugehen. Denn die im Kunstwerk errichtete
»Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt die Welt<<
(Holzwege, S. 37). Seinsaussage als die im Kunstwerk »geschehende
Wahrheit« kann nur aus der Seinsbegegnung hervorgehen. Wahrhaft
aus der Armut der Existenz steigt der Rilke'sche Satz auf, der rührend
naiv anmutet, mißt man ihn an der späteren Gedankenarbeit des Den-
kers: »Man muß jeden Augenblick die Hand auf die Erde legen kön-
nen, wie der erste Mensch.«

153
Um den unter unserer Untersuchung über das Armsein fortlaufen-
den Faden wieder zu finden, erinnern wir uns: der Sinn von Sein ist die
Sorge; aus seinem Seinsverständnis hat das Dasein ein Worumwillen
ergriffen; es hat sich immer schon entworfen auf eine der beiden Mög-
lichkeiten seines Seinkönnens, dem Eigentlichsein-und dem U neigent-
lichseinkönnen. Im engen Zusammenhang mit dem Aufweis der Grund-
befindlichkeit »Angst« wurde dieses Moment des Sich-vorweg-seins
deutlich, das erlaubte, den Sinn des Seins von Dasein als Sorge zu be-
nennen. Das Dasein übernimmt auf die eine oder andere Weise sorgend
die Verwirklichung seines Seinkönnens. Auf der Grundlage der Hei-
degger'schen Existenzialität haben wir dieselbe Struktur in ihrer ex-
istenziellen Konkretion in Briefen und Dichtung Rilkes aufgezeigt, und
zwar zunächst im Modus der Uneigentlichkeit. Die Angst drängte ab
in die Furcht; sie warf sid1 in verdeckender Rückerinnerung auf die in
der Kindheit >ängstenden< Gegenstände; damit wurde die eigentliche
ErsdUießungskraft der Angst gebrochen. Das, >>worum« die Angst an-
setzte, kam nicht ins Ziel. Dieses Ziel wäre gewesen, die Sorge des
Seins von Dasein gleichsam hinzulenken auf das Übernehmen der
Kindheit selbst. Die Angst als Furcht leistete Abschlagszahlungen mit
der in der Kindheit >furchtbaren< Gegenständlichkeit; jedoch diese Ab-
schlagszahlungen konnten nicht angerechnet werden. Die Kraft zum
Übernehmen der Eigentlichkeit reichte nicht aus und verzettelte sich in
der Uneigentlichkeit der Furcht. Modifikationen des sorgenden Sich-
vorweg stiegen dann doch immer wieder innerhalb der U neigentlichkeit
auf und zielten über diese hinweg. Sie erhellten immer wieder diese
Uneigentlichkeit als Uneigentlichkeit durch plötzlich aufbrechende Bil-
der echten Seins (vierte und fünfte Elegie), so oft auffi das Zurückge-
worfensein in Verstellungen und Verdedmngen sich ereignen mochte.
Aber die Sorge des Rilke'schen Daseins wurde immer wieder abge-
drängt; sie >besorgte< die Ermöglichung der Flucht vor dem Eigentlich-
sein. Über dem lange vergeblich bleibenden Kampf steht dieses resi-
gnierte Wort aus der vierten Elegie: >>Alles ist nicht es selbst, was wir
hier leisten.«

DER >>AUFTRAG« (RILKE)

Dem Rilke'schen Problem der Armut spürten wir in Dichtung und


Briefen nach. Wir sahen, daß die Sorge bei der Durffidringung des Pro-
blems der Armut in der allmählichen Erweiterung seines Sinnes schon

86
zielsicherer wurde. Über soziale und soziologische Erkenntnisse, über
persönlicheNötehinweg meint die Sorge um das Eigentlichsein schließ-
lich in klarer Erkenntnis das Kunstschaffen. Wesensmäßig geht es die-
ser Sorge immer wieder nur um das Sein selbst des eigenen Da-
seins. Es weiß sich aber nur dann als das eigene eigentliche Sein in
der Konkretisierung seines Kunstschaffens, wenn dieses von der Nähe
zum Sein getragen ist.
Ein Brief vom September 1908 (Br. o7h4, S. 48) gibt diesem Sein
den Namen »das Göttliche«. Dem sei er nahe gewesen, »immer schon,
schon als Kind, und komm gehend davon her und bin ausgesandt ...,
um unter dem Menschlichen zu sein, um alles zu sehen, um nichts ab-
zulehnen, keine der tausend Verwandlungen, in denen das Äußerste
sich verstellt und schwärzt und unkenntlich macht«. Deutlich sagen es
die Worte, wie in allem diese konkrete Sorge eine Weise-zu-sein seines
Daseins geworden ist. Außerhalb ihrer ist das Dasein nicht. Die
Sorge steht im Dienst der »Wirklichen Aufgabe«, mit der das Eigent-
lichsein seines Daseins nunmehr restlos zusammengefallen ist. Diese
Sorge nimmt im Brief die Haltung eines Menschen an, der »Pilze sam-
melt und Heilkräuter unter den Kräutern«; er steht »gebückt und mit
Geringem beschäftigt«. Aber auch in dieser Haltung zielt er ganz be-
wußt in die Mitte seiner eigentlichen Aufgabe: »Aber die Zeit wird
kommen, wo ich den Trank bereite. Und die andere, wo ich ihn her-
aufbringe ... zu Gott.« Im Jahre 1908 braucht er noch diesen direkten
Namen »Gott«; später, »in einer unbeschreiblichen Diskretion« zwi-
schen ihm und Gott (Br. 21/26, S. 185), vermeidet er ihn: »Das Faß-
liche ... verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug.«
Aber auch diese anscheinend nur leeren Worte zielen nur wieder in die
Dimension des Heiligen, die in den Elegien der Engel vertritt. Dieses
W erk hat es unmißverständlich deutlich gemacht, daß nur in der Aus-
richtung auf das Heilige der wesensmäßig gestellte »Auftrag« erfüllt
werden kann. Es ist das ein Auftrag, der jedem Menschen in immer an-
derer Konkretion gestellt wird und doch immer dasselbe meint. Er
läßt sich mit dem umfassenden Begriff »Verwandlung« bezeichnen;
denn dieses Wort meint keineswegs nur die einem Künstler aufgege-
bene künstlerische Verwandlung. Wenn es sich für Rilke persönlich
auch immer um die dichterische Verwandlung ins gültige Wort gehan-
delt hat, so ist doch das »innen Verwandeln« der allgemein menschliche
Auftrag; und das künstlerische Verwandeln ist nur eine Form von Ver-
wandeln, wenn auch vielleicht eine höhere. Die erste Elegie sagt es, in-
dem sie den Menschen schlechthin anspricht: »Das alles war Auftrag.
Aber bewältigtest du's?« Bis zu dieser Bewältigung ist der Weg noch

153
weit. Jedoch Rilke weiß das schon im Jahre 1908: »Aber ich habe es
weit bis zu alledem und werde mehrmals hinunter müssen und wieder
hinauf, eh ich den Ausblick habe und den Weg auf dem Grat.«
Die öffentliche Ausgelegtheit des Man ist immer wieder bereit, die-
sen Weg zu blockieren. Im Fall einer sehr sensiblen und moralisch emp-
findlichen Natur gebraucht dieses Man nicht die groben Mittel, denen
es sich einfacher organisierten Menschen gegenüber bedienen kann.
Rilke war ein Dichter; sein soziales, aber auch sein innerliebstes Pro-
blem des Armseinkönnens hängt eng mit diesem Beruf und seiner Be-
rufung zusammen. Die Verführungen der Alltäglichkeit aus den Wer-
tungen des Man mußten also Rilke gegenüber Tatsachen betreffen, die
diesen Beruf angingen; sie mußten Formen annehmen, die seine Beru-
fung und die Entschlossenheit zu dieser erschüttern konnten. Er war
aus dem Sein seines Daseins, aus der Sorge um seine »wirkliche Auf-
gabe« schon selbst tief in die Erschlossenheit dieser Berufung einge-
drungen. Immer wieder mochte ihn sein Gewissen zurückgerufen ha-
ben, wenn seine soziale Not ihn abzudrängen drohte, unter Hintanset-
zung der eigentlichen Berufung den Beruf zu mißbrauchen. Es lag nur
zu nahe, in die leichte, weil zu gut gekonnte, aber nunmehr innerlich
nicht mehr wahre Produktivität etwa nach Art des Stunden-Buches
oder der Künstlermonographie auszuweichen. Feinere und darum
schwerer noch abzuwehrende Verführungen aus einer öffentlich ausge-
legten Wertungsweise durch nächste Menschen kamen hinzu. So droh-
ten sich zum Beispiel Freunde, deren Verständnis für seine Dichtung
er schon einmal gewonnen hatte, angesichtsder »Neuen Gedichte« zu
versagen. Zu dem inneren geistigen und seelischen Kampf, den Rilke
im ganzen Umkreis seines Kunstdenkens und Kunstschaffens zu be-
stehen hatte, traten auch noch solche ganz konkreten Nöte und Erfah-
rungen; die Briefe zeigen es.

DAS GEWISSEN

Wir nannten soeben die Worte, die in der Heidegger'schen Sprache


ihre ganz besondere Färbung haben: »Entschlossenheit«, »Erschlos-
senheit«, »Gewissen«. Heidegger festigt sie zu terminologisch strengen
Begriffen. Mit den gleichen Worten drückt Rilke ohne jede methodi-
sche Bemühung dieselben existenziellen Erfahrungen aus. Wir folgen
Heidegger bis in die Schlüsse seiner Untersuchungt 7 des Gewissensphä-

88
nomensund nehmen dann aus seinem Denken diese Worte wieder zu-
rück, um zu erhellen, wie Rilke sich aus der Erschlossenheit von Da-
sein zu dem ihm gestellten Auftrag, das heißt, der Entschlossenheit für
seine »Situation« (S. u. Z. S. 299) verstand. Wir erkennen darin wie-
derum die Nähe der existenzialontologischen Untersuchungen Heideg-
gers zum existenziellen Selbstverständnis Rilkes. Wieder sehen wir den
Denker und den Dichter an demselben Ort der Zeit in einer Sorge, die
dasselbe meint.
Wir folgen zunächst dem Denker. Auch in seiner Erhellung des Ge-
wissensphänomens erkennen wir, daß das Dasein aus seinem Seinsver-
ständnis sich in seinem Gewissen versteht, das nichts weiter als eine ex-
istenzielle Modifikation dieses grundlegenden Seinsverständnisses zum
»Da« des Daseins ist, modifiziert für dieses »Da«, als welch.es das Selbst
existierend »ZU sein hat«. Es wird von Heidegger gefaßt als »die da-
seinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens« (S. u. Z.
S. 267). Das Gewissen hat Rufcharakter; es ist »Anruf des Daseins auf
sein eigenstes Selbstseinkönnen und das in der Weise des Aufrufs zum
eigensten Schuldigsein « (S. u. Z. S. 2 69). Dasein holt sich in diesem An-
gerufenwerden »eigens aus der Verlorenheit in das Man zurück zu ihm
selbst«. Diesem Rückruf muß ein »Versäumnis« vorausgegangen sein,
dessen Wiedergutmachung den Charakter des »Nachholenseiner Wahl«
hat; ein »Sichentscheiden« ist gefordert. »Im Wahlen der Wahl ermög-

17 Die existenzial-ontologische Grundlegung des Gewissens zeigt den Ruf-


charakter des Gewissens auf, das im Man-selbst das eigentliche Selbst aufruft. Der
Rufer des Rufes ist nicht ein außer-uns, eine dunkle fordernde Macht, sondern das im
Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein (S. u. Z. S. 276). Es ist der Ruf
der Sorge, »sich ängstend in der Geworfenheit um sein Seinkönnen« (S. u. Z. S. 277).
Es ist nicht möglich, aus der engsten Verlmüpfung dieses Gewissensrufes in die ge-
samte Existenzialität (Geworfensein, Faktizität, Verfallen usw.) Einzelheiten heraus-
zubrechen. Es kann nur auf das Ganze der zwingenden Ableitungen Heideggers ver-
wiesen werden als eines der großartigsten Kapitel in »Sein und Zeit«. Es muß für
unseren Zweck der Hinweis genügen, daß es Heidegger gelingt, den Gewissensanruf
und das Anrufverstehen zu gründen in seinem ganz eigenständigen Schuldbegriff =
Grundsein einer Nichtigkeit; jenseits von jedem ethischen oder moralischen Schuld-
begriff gewinnt ihn Heidegger aus dem Existenzial »Geworfenheit«. Wie das Dasein
niemals zurückkommen kann hinter sein immer-schon-Dasein, weil es dafür den
Grund nicht selbst gelegt hat, obwohl es existierend der Grund dieses Seinkönnens
immer schon ist und zu sein hat, bestimmt Heidegger das Schuldigsein existenzial als
»Grund-sein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein« (S. u. Z. S. 283 ). Als dieses
Grundsein bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück, um die es
sorgt; denn das Sein des Dasein ist die Sorge. Die Existenzialität der Existenz ist also
aus ihr selbst her ständig vom Nicht durchsetzt. Das Dasein, das sich zumeist in der
Nichtigkeit des an das Besorgen des alltäglichenuneigentlichen ln-der-Welt-seins ver-
fallen sieht, kann das Rufverstehen des aus der Unheimlichkeit sich auf- und zurück-
rufenden Daseins von eben diesem seihen Dasein = Man-selbst verstehen als das Sich-
Entwerfen auf das eigenste eigentliche Sdmldigsein.

153
licht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen« (S. u. Z.
S. 268). »Das Gewissen« ist nur in der Seinsart des Daseins und bekun-
det sich als Faktum je nur mit und in der faktischen Existenz« (S. u. Z.
S. 269). In dem Gewissen ist das Dasein seine eigene Entschlossenheit,
und das »Anrufverstehen« enthüllt sich als »Gewissenhabenwollen«.
Das daraus folgende »existenzielle Wählen der Wahl eines Selbstseins«
hat die existenzielle Struktur »Entschlossenheit«. Das Gewissen ist der
»Ruf der Sorge«. »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.« Es ruft
»als das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein«
(S. u. Z. S. 276). Das Dasein ist »der Rufer des Gewissensrufes«, der
»das Selbst des Dasein aufruft aus der Verlorenheit in das Man« (S. u.
Z. S. 274). Es ruft auf zum eigensten eigentlichen Seinkönnen, auf das
das Dasein sich zu entwerfen hat: Das Dasein ist also der Rufer = als
das Selbst; und der Angerufene = als das Man-selbst. In »Sein und
Zeit« §§ 55, 56 ist diese Ableitung im einzelnen überzeugend aufge-
zeigt. Es wird auf diese Weise möglich, das Gewissen als einen Modus
des Seins des eigensten Seinkönnens zu erweisen. Die Zurückführung
des Gewissens auf eine transzendente Macht wird ausgeschaltet. Das
Gewissensphänomen wird in den aufgezeigten allgemeinen Zusam-
menhang von Existenzialität eingeordnet.
Wir suchen nun in der faktischen Existenz Rilkes den Tatbestand des
Gewissens auf, wie er ihn aus seinem Seinsverständnis in sein Dasein
einordnet. Auch aus dem Rilke'schen Seinsverständnis wird klar er-
sichtlich, daß er den Gewissensanruf versteht als ein Aufruf zum eigent-
lichen Seinkönnen, wie dieses sich in Bezug auf seine »wirkliche Auf-
gabe« im Kunstschaffen konkretisiert. Das Man, das Man-selbst, die
Verlorenheit an das Herkömmliche und Gewohnte, die öffentliche Aus-
gelegtheit begründen die Alltäglichkeit. Das alles scheint zu der gewis-
sen Esoterik im Dasein Rilkes, zu seinem Hang zur Einsamkeit in un-
aufhebbarem Widerspruch zu stehen. Wie wäre mit diesen Worten
seine Fremdheit gegenüber den Notwendigkeiten, aber auch gegen-
über den Verlockungen der alltäglichen Welt in irgendwelche Zusam-
menhänge einzufangen? Nur wenn man diese Wörter unversehens in
ihrem ungefähren ontisch-faktischen Bedeutungsgehalt einsetzt, kann
diese Oberflächenauslegung auftauchen. Diese Begriffe gehören einer
spezifischen Betrachtungsweise an, innerhalb derer sie reinen Punk-
tionscharakter haben. Sie müssen immer wieder frei gemacht werden
von den immer wieder sich einschleichenden Bedeutungen, die ein ge-
läufiger Sprachgebrauch ihnen gegenüber durchzusetzen sucht.
Heidegger sagt: »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.« Es ruft
»als das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein«; es

153
ist der »Rufer des Gewissensrufes«, der »das Selbst des Daseins auf-
ruft aus der Verlorenheit in das Man« (S. u. Z. S. 2 74, 2 76). Scheint
das alles nicht ungemäß gegenüber der Tatsache, daß wir Rilke begeg-
nen immer schon im Aufbruch begriffen aus der Alltäglichkeit, immer
schon im Gegensatz zu dem ihr zugehörigen Wertmaßstab? Jedoch, das
besagt nur: wir haben in das Stadium, das vor dem Aufbruch liegt,
kaum einen Einblick18• Die Situation der Unheimlichkeit und des in ihr
sich ereignenden verzweifelten Fragens haben wir in den Briefen des
Jahres 1903 aus Paris und aus dem »Malte« zur Genüge kennen ge-
lernt. Diese Situation kann nicht von ungefähr aufgetreten sein; ihr vor-
aus muß also zum mindesten eine relativ beruhigte Periode gelegen
sein, vielleicht durchschüttert von der Unsicherheit sozialen Armseins,
in welche dann die Angst einbrach. Aber nur in der Unheimlichkeit der
Angst kann der Zwang, sich auszusprechen, dringlich geworden sein.
Ferner hat man selbstverständlich zu unterstellen, daß auch die Rilke-
sche Phase des Man differenzierter gewesen sein muß als die gemeinhin
gegebene. Mit dem notwendigerweise vereinfachenden Schema einer
allgemeinen Strukturanalyse sind derartige Unterschiedenheiten kon-
kreter Natur »schematisch« schwer zu erfassen. Besonders dann wird
es unmöglich, wenn von vornherein die formalen Begriffe mit Inhalten
aus einem geläufig-ontischen Wortgebrauch gefärbt sind. Wir müssen
also voraussetzen, was viele Stunden-Buch= Gedichte besonders der er-
sten beiden Teile vermuten lassen. Ihre geläufige Metaphorik, die un-
beschwerte Sicherheit, mit der sie immer wieder vom Dichter gebraucht
wird, lassen darauf schließen, daß in Rilke mit diesen Gedichten die
Illusion eines gewissen Angekommenseins, eines erreichten Zieles auf-
gestiegen sein mag. Das hat gewiß nur kurze Zeit angehalten. Das Sta-
dium der Angst brach aus. Es wird besonders erkennbar in den Briefen,
die zeitlichnachViareggio geschrieben wurden; derdritteTeil desStunden-
Buches ist der künstlerische Niederschlag. Und gerade in dieser immer
wieder zur Entschleierung aufgebrochenen Angst mußten wir sehen,
daß Rilke auswich in die »Feigheit der Furcht«. Die Ängste steigerten
sich in der Pariser Zeit 1903; die Briefe zeigen es; der »Malte« ist der
Versuch einer künstlerischen Verwandlung. Und alles, was in Rilke
vorging, ist zusammenzufassen als Gewissensruf. Dieser selbst hat kei-
nen konkreten eindeutigen Inhalt; auch er verkleidet sich noch. Wir
haben es gesehen, wie die Angst sich mit »furchtbaren« Gegenständen
selbst verdeckt. Aber wir können an den Reaktionen Rilkes und seinen
18 Es sei denn, man wolle dafür die jugendlich unreife Betriebsamkeit seiner
Prager Jahre in Anspruch nehmen. Aber das führte, aus leicht erkennbaren Gründen,
nicht weit.

153
Einsichten feststellen, was der Heidegger'sche Satz aussagt: »Und doch
ist das Selbst eindeutig und unverwechselbar getroffen« (S. u. Z. S. 2 74).
Wir kennen einen Brief aus dem Jahre 1909 (Br. o7/z4, S. 73), den
wir in engste Beziehung zu dem existenzialontologischen Begriffssche-
ma Heideggers setzen. können. In ihm sind ganz konkrete existenzielle
Erfahrungen Rilkes zu Einsichten verarbeitet, die sich in die Heideg-
ger'sche Begrifflichkeit einfügen. Ein Freund, der sich nicht in die
»Neuen Gedichte« finden konnte, meint, daß frühere Arbeiten (das
Stunden-Buch) auf einen Leser »Rücksicht« und Bezug genommen hät-
ten. Rilke ist überrascht; er muß sehen, daß von ihm eine Kunst gefor-
dert wird, »die vom Leser weiß«. Was ist dieses vom Dichter verlangte
»Wissen-sollen« anderes als das Sich-Ausrichten-sollen im Kunstschaf-
fen nach Maßen, die von einem fremden und nicht vom eigenen eigent-
lichen Selbst bestimmt sind. Rilke antwortet mit sehr ernsten schwer-
wiegenden Worten; lediglich aus ihrem Ton kann man entnehmen, hier
werde nicht zum ersten Male eine empfindliche Stelle seines Innern ge-
troffen. Sie ist darum empfindlich, weil der Gewissensanruf immer
schon, lange vor dieser akuten Berührung durch den Brief, diese Stelle
empfindlich und empfindend gemacht hatte. Wir finden nun in diesem
Brief alle diese Wörter wieder, die Heidegger im engsten Umkreis sei-
ner Analyse des Gewissensphänomens verwendet. Rilke braucht sie
aus dem selbstverständlichen Offensein für den tieferen existenziellen
Sinn seiner Erfahrungen. Er hat an ihnen Einsichten gewonnen, die er
in Bezug setzt zum Sein seines eigenen faktischen Daseins. Aus dem
Grund dieses Seins erkennt er sich in der Sorge um sein Kunstschaffen.
Die Diktion dieser Aussagen läßt nicht die leiseste theoretische, er-
kenntnismäßige Absicht gewahren; und doch führt sie aus sich selbst in
das Zentrum der Heidegger'schen theoretischen, das heißt fundamen-
talontologischen Besinnung. Auch das Gewissen Rilkes erweist sich,
so wie er selbst es versteht, als die »daseinsmäßige Bezeugung eines
eigentlichen Seinkönnens«, zu dem sich, wie bei Heidegger, die Ent-
schlossenheit stellt (S. u. Z. S. 267). Der Brief fährt fort: »Ich kann
Ihnen, was jeneneueren Bücher angeht, mein gutes, klares Gewissen
zusichern: jedes Wort, jeder Wortzwischenraum in jenen Gedichten
ist mit äußerster Notwendigkeit entstanden, unter dem Bewußtsein
jener endgültigen Verantwortlichkeit, unter deren innerem Gericht
meine Arbeit sich vollzieht.« Rilke stand zur Zeit der »Neuen Gedich-
te« unter dem Zwang zur Rechenschaftsablegung über sein Kunstschaf-
fen: »seit lange wahrscheinlich auf dieses eine vorbereitet, von dem so
vieles abhängt« (Br. o6/o7, S. 390). Aber erst die Cezanne-Begegnung
hatte es in sein waches Bewußtsein gehoben; die Notwendigkeit, zur

153
Sachlichkeit des Sagens vorzudringen, war in ihr unabweisbar gewor-
den. Und so räumt er ein, daß in diesen Gedichten »jene harte Sach-
lichkeit und Ungefühlsmäßigkeit des Dargestellten« vielleicht in »Män-
geln meiner Natur oder nachzutragenden Versäumnissen meiner Ent-
wicklung« ihre Ursache haben mochte. Wir erinnern uns, daß Heideg-
ger den Gewissensrückruf aus einem vorangegangenen »Versäumnis«
herleitet, der das »Nachholen einer Wahl« auslöse. Rilke spricht von
»nachzutragenden Versäumnissen«. Er ist sich bewußt geworden, daß
die rauschhafte Produktion des Stunden-Buches zu Versäumnissen ge-
führt hatte und daß Anlaß genügend gegeben war, das Versäumte
»nachzutragen«. Die »Mängel seiner Natur« lagen bei der frühen Pro-
duktion in einer zu großen Nachgiebigkeit gegen überbordende Ge-
fühlserlebnisse, in einem Sich-Verlieren an den zu bereitwillig sich ein-
stellenden Ausdruck. Das Wort von den »nachzutragenden Versäum-
nissen« ist nicht nur eine gelegentliche, aus dem unmittelbaren Anlaß
des Briefes hervorgehende Bemerkung. Die entscheidende Cezanne-
Begegnung, die wahrhaft den Charakter eines Rückrufes hatte, erhärtet
es. Die Zitierung des Gewissens erfolgt im tiefsten Ernst; das Wort
>>Gericht« bezeugt es. Alles das steht in direktem Bezug zum Eigent-
lichseinkönnen des eigensten Selbstseins. Der Aufruf des Gewissens zu
dem, was dieses Selbst »schuldig« ist, wurde vernommen: >> Vielleicht
sind gefälligereWege denkbar: ich muß auf meinem, schweren, weiter.«
Die von Rilke gelebte existenzielle Haltung und seine eigenen Ein-
sichten darüber werden hier zur methodischen Forderung Heideggers
gestellt, die »daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkön-
nens« aufzuzeigen. Wie berechtigt das ist, geht unter anderem auch
daraus hervor, daß in dem Zusammenhang dieses Wort nicht fehlt, das
von Heidegger immer wieder in direktem Zusammenhang mit dem
Phänomen des Gewissen-haben-Wollens gebraucht wird: ))Entschlos-
senheit((. Heidegger nennt sie »die ursprünglichste, weil eigentliche
Wahrheit des Daseins« (S. u. Z. S. 297). Es ist das diese vVahrheit =
Erschlossenheit, zu der die Erschließungskraft der Angst in der Sorge
um das Eigentlichseinkönnen so lange unterwegs war. Diese Sorge
wurde in die Entschlossenheit überführt. Das ist der Name für das tä-
tige Rufverstehen des Gewissensrufes, nunmehr faktisch zu leisten,
was man aus dem eigensten eigentlichen Seinkönnen schuldig ist. Rilke
fährt in seinem Brief fort: >>Glauben Sie nicht, daß schon das Stunden-
Buch ganz erfüllt war von der Entschlossenheit, in der ich (einseitig,
wenn Sie wollen) zugenommen habe?: Die Kunst nicht für eine Aus-
wahl aus der Welt zu halten, sondern für deren restlose Verwandlung
ins Herrliche hinein.« Hier ist eine Erkenntnis ausgesprochen. Der ge-

93
wisse Ton dieses Absatzes läßt erkennen, daß diese Einsicht aus einer
ionersten Anteilnahme an der Wahrheit hervorgeht. Daraus wird un-
mittelbar deutlich, daß diese dem Gewissen entspringende Entschlos-
senheit eine »ursprünglichste, weil eigentliche Wahrheit des Daseins«
(Heidegger) ist. Er entwickelt dann seine (hier noch näher 19 zu brin-
gende) Kunstanschauung aus der Cezanne-Begegnung, deren Ergebnis
in die Worte gefaßt ist: die künstlerische Verwandlung läßt auch das
Schreckliche und Absagende nmit einem großen, positiven Überschuß
zurück, als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes: als einen Engel«.
Diese Worte wurden schon zitiert. Hier im Zusammenhang mit dem
Phänomen des Gewissens und der Entschlossenheit zum Selbstsein ge-
sehen, enthüllen sie noch einmal eine andere Bedeutung: das Eigent-
lich-, das Selbstsein hat für Rilke eine >metaphysische< Färbung; sie geht
über den Heidegger von nSein und Zeit« hinaus. Aber sie berührt sich
schon mit dem Heidegger des Humanismusbriefes. Dieses »Eigent-
liche«, dieses nWirklichsein« erfüllt sich in einer nRichtung des Her-
zens«, in der nach Rilke heute allein noch Gott erfahrbar ist. Die Na-
menlosigkeit, von der er des öfteren spricht, muß bei Gott beginnen,
num wahrhaft und ohne Ausrede zu sein« (Br. zi!z6, S. 67). In diesem
Wort von der nRichtung des Herzens« fängt Rilke also späterhin das
Wesenhafte jeder religiösen Haltung ein. Immer wieder nennt er, und
so auch hier im interpretierten Brief, das gültige Kunstwerk einen En-
gel. Religiöse Haltung und echte Beziehung zur Kunst, sei es im Schaf-
fen oder im >>Bewahren« von Kunst, sind für Rilke wesenhaft ver-
wandt (vgl. die siebente und die neunte Elegie). Nicht wäre daraus zu
folgern, wie man es getan hat, daß hiermit die Kunst zum Religions-
ersatz gemacht werden solle. Vielmehr ist mit diesem Wort die hohe
Kunst wie die Religion in den Bezug zu jener Dimension gestellt, die
Heidegger als die des Heilen, des Heiligen bezeichnet, aus dem allein
ndas Wesen von Gottheit zu denken« ist (Platons Lehre, S. 102). Der
Engel vertritt für Rilke diese Dimension schon immer. Jedoch erst die
Elegien erreichen die Kraft der Aussage, diesen Bezug in einer voll-
kommen anschaubaren Gestalt- dem Engel der Elegien- zu verdich-
ten. Von dieser Dimension aus kann allein eine Lichtung aufbrechen,
die das Verwandeln führt. Von dieser Dimension her erhellen sich dem
Menschen die wenigen, aber immer gleichen, ))diese ersten unmittel-
barsten, ja genau genommen einzigen Aufgaben«: Gott-Liebe-Tod.(Br.
14/zi, s. 86).

19 vgl. S. 13 8 ff. dieser Arbeit.

94
AUSWEITUNG DES BEGRIFFES »SINN VON SEIN<<

Rilke faßt die mit den drei Worten Gott-Liebe-Tod genannten äu-
ßersten Bezüge des menschlichen Daseins als Aufgabe. In ihnen trans-
zendiert sich das Dasein über seinen nächsten Kreis des In-der-Welt-
seins hinaus. Um die Lösung einer Aufgabe sorgt man; man besorgt
sie; sie will ein Ergebnis haben. Nach dem Charakter dieser hier gestell-
ten Aufgabe muß dieses Ergebnis sinnvoll sein. Wir haben daraus den
Schluß zu ziehen: der rein funktionale Begriff »Sorge als Sinn von
Sein des Daseins« aus »Sein und Zeit« behält gegenüber Rilke seine
Bedeutung zur Kennzeichnung dieser Weise zu sein, in der das Dasein
sorgend sein Sein ist. Der Begriff wird da überspielt, wo er aus seiner
existenzial-ontologischen Struktur kraft des dynamischen Charakters
des Sich-vorweg einen Inhalt ergreift, der als dieser den Anspruch
macht, sinnvoll zu sein. In Bezug auf Rilke muß damit dem »Sinn« von
Sein eine metaphysische Umfärbung zuerkannt werden. Er liegt bei
Rilke da, wo der Ennöglichungscharakter des Sorgens sein »Mögli-
ches« inhaltlich erreicht. Es ist dieser Punkt, an dem sich der Inhalt
seines Tuns des Verwandeins im Spätwerk abzeichnet und formulieren
läßt. Wenn Heidegger den Menschen als »Hirt des Seins anspricht«
(»Brief über den Humanismus«) geht auch bei ihm das Wort »Sinn von
Sein« über den exakt-nur-ontologisch-existenzialen Begriff von »Sein
und Zeit« hinaus. Denn auch diesem »Hirten« ward ein »Auftrag« er-
teilt: nWächterschaft«, nSorge für das Sein« (PlatonsLehre,S. 9of.). Die-
ser Auftrag ist zunächst in sich genau so von einer »leeren« Inhaltlich-
keit bestimmt wie der Rilke'sche nAuftrag« des nVerwandelns«. Wie
das zu bezeichnen ist, was mit dieser so konkretisierten Aufgabe des
Menschen als Hirten des Seins bei Heidegger über den nur-exakt-ex-
istenzialontologischen Begriff hinausgeht, bleibt vorläufig eine offene
Frage. Bei Heideggers Einstellung zur Metaphysik wird er dieser Er-
w eiterung des Begriffes »Sinn von Sein« nicht das Prädikat »metaphy-
sisch« zuerkennen wollen.
Dieses Hinausgehen über den Begriff des Sinnes von Sein des Da-
seins, wie ihn nSein und Zeit« exakt gezeichnet hat, scheint im Zuge
des Heidegger'schen Denkens zu liegen; das hebt in der Zeit nach sei-
nem Hauptwerk an. Im Augenblick des Zu-Ende-Denkens der Exi-
stenzial-Analyse wurde der Blick frei für das eigentliche Anliegen: die

95
Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Es ist das der Moment dieser
so viel beredeten »Kehre«. Diese ist absolut notwendig in der ganzen
Konzeption des Denkweges angelegt, was gern übersehen wird. Sorge
als Ekstasis: sieht man diese Sorge daraufhin an, »worin« sie steht und
was sie »aussteht«, so muß man vermeiden, das »Hinaus« als das »weg
von dem Innern einer Immanenz des Bewußtseins und des Geistes<<
aufzufassen; man hat es zu begreifen als das »Innestehen im >aus< und
>Da< der Unverborgenheit, als welche das Sein selbst west(( (W. i. M.
s. I4)· In dieser Unverborgenheit muß die Existenz in der vVahrheit
stehen, vom Sein selbst her in die Sorge genommen. Nur so ist zu ver-
stehen, daß die Existenz nicht nur »auf die Wahrheit des Seins<< zu,
sondern auch »aus ihr her denkt<<.
Damit ist der Begriff des Transzendierens erweitert. Es sei ange-
merkt: Bis hierher haben wir den Blickpunkt von der Existenz her
nicht überschritten. Auch das Transzendieren wurde bisher lediglich
von der Existenz her darzustellen gesucht. Gerade von diesem Aus-
gangspunkt ist die Reichweite des Transzendierens noch einmal aus-
drücklich zu umschreiben. Nur im Festhalten dieses Blickpunktes ist
einzusehen, wieso das Wort »aus ihr (der Wahrheit) her<< die »Kehre<<
einschließt und damit ein ungelöstes Problem des Heidegger'schen
Denkens enthält, das hier noch nicht angegangen werden kann 20 • In
»Sein und Zeit<< wurde durch eine breite Exemplifizierung an den Ge-
brauchsdingen als an dem Zuhandenen der Eindruck hervorgerufen,
als sei das transzendierende Dasein als In-der-Welt-sein eingeschränkt
auf dieses Zuhandene. Damit wäre die Heidegger'sche Welt von allden
Bezügen entleert, die der allgemeine Gebrauch von Transzendieren mit
diesem Wort verbindet. Unsere Untersuchung hat zwar diesem Miß-
verständnis keinen Vorschub geleistet. Immer wieder wurde die weite-
ste Reichweite des Transzendierens in den Blick gestellt. Das geschah
schon dadurch, daß der parallele Gegenstand dieser Betrachtung aus
dem Werk Rilkes entnommen wurde. Heidegger faßt seinen Begriff
des Transzendierens noch einmal zusammen: »Im Überstieg kommt das
Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als es JJSelbstrr.
Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit.« Es ist das Selbst, wel-
ches das Dasein als ganzes und umfassendes In-der-Welt-sein ist; alle
Bezüge dieses In-der-Welt-seins gehören dazu21 (W. d. Gr. S. r 8).
2ovgl. S. r 72 ff. dieser Arbeit.
21Heidegger die Einschränkung seiner »Welt« zurück (W. d. Gr. S. 33,
Anm.): »Wenn man aber den ontischen Zusammenbang der Gebrauchsdinge, des
Zeugs mit der Welt identifiziert und das ln-der-Welt-sein als Umgang mit Gebrauchs-
dingen auslegt, dann ist freilich ein Verständnis der Transzendenz als In-der-Welt-sein
im Sinne einer Grundverfassung des Daseins aussichtslos.« Auf einer ähnlichen wie

153
Wir führen uns noch einmal den weitesten Umfang des Rilke'schen
Transzendierens vor Augen; er ist aus dem folgenden Brief ersichtlich;
von ihm aus erhält auch das Rilke'sche Gewissensphänomen seine be-
sondere Färbung22 • Immer schwerer und gehaltener werden die Worte,
in denen Rilke, sparsam nur noch, von seiner »wirklichen Aufgabe«
spricht; es ist »die im Engel geschaute Welt« (Br. I4!2I, S. 8o). Das
eigentliche Selbstsein hat die Strenge des >;Gesetzes« gewonnen, »Un-
erbittlich befehlend« fordert >>das Gewissen ... sich in sich selbst einzu-
schließen« und dem zu gehorchen, was ihm »im Zentrum seines Her-
zen diktiert wurde« (Br. 21l26, S. I5). Die »Aufopferung und der Ge-
horsam« zu diesem Auftrag verbietet nun endgültig ein Ausweichen
in eine leichtere und umgänglichere Welt. »Eine merkwürdige Ver-
antwortung« fühlt er auf sich liegen. Die ganze Haltung, in der er in
einem Brief vom September I 92 I (Br. 2 I! 26, S. 35) davon spricht, las-
sen es noch einmal sehr deutlich werden, daß seine spezifische Weise
des Kunstschaffens die Weise-zu-sein seines Daseins geworden ist. Zu
ihr war die Sorge als das Sein seines Daseins durch die Jahrzehnte hin-
durch unterwegs; sie wollte für das menschliche Dasein eine Möglich-
keit der Sinngewinnung aufweisen: >>Diese Worte, ja alle, die ich noch
je werde zu formen haben.... werden schwer und massig sein von Na-
tur.« Es ist nur noch >>Eines, ein letztes Gültiges, das Eine, das nottut<<,
das ihn zur Aussage berechtigt (Br. 21l26, S. 36). Hier ist eine Sprache,
die von der letzten Verantwortung des eigenen Selbst getragen ist. Das
Auszusagende ist unabtrennbar von diesem einen unauswechselbaren
Selbst, aus dem es hervorgeht. Es will wieder einmünden in dieses
Selbst, um ihm >>einen heilerenZustand in der Mitte des eigenen vVe-
sens« gewinnen zu helfen (Br. 2I!26, S. 48). Der Heidegger'sche Be-
griff der Transzendenz wird hier sehr anschaulich: »Die Transzendenz
konstituiert die Selbstheit.« Sorge als Sinn von Sein des Daseins ge-
winnt dem Dasein einen Sinn. Die metaphysische Ausweitung des Be-
der von Heidegger zurückgewiesenen, wenn auch nicht so weitgehenden Verengung
der Transzendenz als ln-der-Welt-sein ruht auch Bollnows Auffassung des Engels der
Duineser Elegien; vgl. 0. Fr. Bollnow »Rilke«, Stuttgart: Kohlhammer 1951. Er
nimmt den Engel heraus aus dem Umkreis der von Rilke als verbindlich gemeinten
und als verbindlich aufzufassenden Aussagen. Das geschieht trotz der ausdrücklichen
Berufung auf den Heidegger'schen Begriff des Transzendierens; vgl. dazu: Else Budde-
berg »'Transzendieren' und 'Überschreiten'« in: Zeitschr. f. philos. Forschung, VII,
I, S. 72 ff.
22 Das alles ist noch von der Existenz her einsehbar. Mit dem Augenblick aber, wo

die Existenz nicht nur »auf die Wahrheit des Seins zu«, sondern auch JJaus ihr her"
denkt, wird vom Sein aus und nicht mehr nur von der Existenz her gedacht. Das hängt
mit der »Kehre« und der von ihr aus veränderten Blickrichtung zusammen. Vom au-
genblicklich erreichten Punkt unserer Betrachtung kann diese Frage nur angemerkt
werden; sie ist von hier aus noch nicht in allen ihren Bezügen zugänglich.

97
griffes Sinn von Sein findet in diesem Brief noch einmal eine Bestäti-
gung. Sie ist darum so bedeutsam, weil der Brief unmittelbar vor dem
letzten Durchbruch des Spätwerkes geschrieben ist. Man könnte über
ihn die Worte aus »Sein und Zeit« setzen, die Heidegger noch einmal
im »Brief über den Humanismus« (Platons Lehre, S. 91) zitiert, »daß al-
les Fragen der Philosophie in die Existenz zurückschlägt«. Im Schwung
dieses Zurückschiagens wird mit dem existenzialontologischen Sinn von
Sein des Daseins = Sorge dem Dasein als Ertrag des Sorgens ein Sinn
gewonnen.

SCHULDIG-SEIN. DAS NICHT UND DAS NICHTS

Der ganze Duktus des zuletzt zitierten Briefes erwies das Rilke'sche
Gewissen als eines, das unerbittlich fordert. Von »Fordern« zu spre-
chen, ist nur sinnvoll, wenn dem irgendwie auch ein Schuldigsein ent-
spricht. Nicht fixiert das Gewissen, was jeweils in einem konkreten
Moment zu leisten ist. Der Gewissensanruf kann nur daraufhin ver-
standen werden, »was zur existenzialen Bedingung der Möglichkeit des
je faktisch-existenziellen Seinkönnens (S.u.Z.S.z8o).Dieeine
entscheidende Bedingung dieser Möglichkeit verfolgten wir in der Ent-
wicklung Rilkes zum »Freisein« für die Wahl seiner eigensten eigentli-
chen existenziellen Möglichkeiten des Geschuldeten; sie konkretisierte
sich in der spezifischen Weise seines Kunstschaffens. Das Ringen um
dieses »Freisein für« verbarg sich unter der Metapher von Armsein,
Armut, Namenlosigkeit und schließlich der Sachlichkeit des Sagens.
Ein Freisein für das eigenste Schuldigsein, »das Eine, das not tut« zu
sagen. Aus dem Wählen dieses Freiseins dafür versteht es sich, daß Rilke
das Wort Gewissen aus dem tiefsten Grunde seiner Existenz herauf-
rufen und höchst sinnvoll gebrauchen konnte. Die »Stimme des Gewis-
sens« ist nic.'tt »freischwebend« (Heidegger) außer uns und irgendwo
vorhanden. Auch an Rilkes Gewissensproblem ist einzusehen, daß so-
wohl der »Anruf« wie das »Anrufverstehen« als »Gewissen-haben-
wollen« eine Weise-zu-sein des Daseins selbst ist. Im Modus der Eigent-
lichkeit entwickelt das Dasein nur darum die Bereitschaft zum Schuldig-
sein, weil das Schuldigsein zum Grund des Daseins gehört. (S. u. Z.
S. 286 f.). Daraus folgt die Erweiterung dieses Satzes, den wir schon
kennen: »Das Gewissen ist der Ruf der Sorge.« Dieser lautet nun: »Das
Schuldigsein konstituiert das Sein, das wir Sorge nennen.« Die nähere
Begründung hierfür folgt freilich erst aus der Ableitung von Schuldig-

153
sein; das heißt nach Heidegger: »Grund-einer-Nichtigkeit-sein«. Das
bedeutet: das je konkrete Dasein ist in seinem Sein der Grund (Ursprung)
dafür, daß etwas nicht ist. Wobei zu ergänzen ist, daß dieses »nicht«-sei-
ende Etwas irgendwie und eigentlich der Möglichkeit nach sein könnte.
Wieder wird hier ein völliges Absehen von den ontisch-faktischen Be-
deutungen verlangt, die wir gemeinhin mit dem Wort »schuldig« ver-
binden. Das Studium des ganzen zweiten Abschnittes in »Sein und
Zeit« ist dafür unerläßlich, insbesondere ein Durchdenken der Funk-
tion des »Nicht« für die Möglichkeit, nfrei (zu sein) in der Wahl der
eigenen existenziellen Möglichkeit, (und) d. h. im Tragen des Nicht-
Gewählthabens und Nicht-wählen-könnens der anderen« (S. u. Z.
S. 285). Das dreifach gegründete nNicht« ist aus der Struktur von Ex-
istenzialität abgeleitet.
Der Sinn von Geworfenheit meint, daß das Dasein den Grund seines
Existierens nicht selbst gelegt hat und doch ihn zu sein hat. Dieses Nicht
gehört zum existenzialen Grund seiner Geworfenheit (S. u. Z. S. 284).
Dieses Dasein steht je in der einen oder anderen Möglichkeit seines
Seinkönnens. Und das heißt, daß es sich zu der einen entwerfend im-
mer schon der anderen begeben hat. Der Entwurf als solcher operiert
mit einem nNicht« als Voraussetzung für den je konkret werdenden
Entwurf. Heidegger sagt dazu: »Der Entwurf als Entwurf ist wesen-
haft nichtig« (S. u. Z. S. 285). Das Wort »nichtig« hier ist befremdend;
es meint jedenfalls nicht nichtig im Sinne von ungültig. Umschreibt
man es mit »nichtend«, so erkennt man, daß der bejahte und vollzo-
gene Entwurf die anderen von ihm in der Wahl vernichteten Möglich-
keiten aus seinem primären Nicht >genichtet< hat. Damit ist gesagt, daß
in seiner Struktur selbst das Nicht ist, ohne welches der Entwurf nicht
wäre und nicht vermöchte, was er ist und was er leistet. Zu dieser pri-
mären Nichtigkeit aus dem Begriff nEntwurf« ist schon immer als seine
andere unabdingbare Voraussetzung das Nicht der Faktizität (Gewor-
fenheit) hinzuzurechnen. Sie ist die zweite Nichtigkeit des Entwurfs;
denn der Entwurf ist immer geworfener Entwurf. Das besagt, er hat
das Grundsein für das Entwerfenkönnen nicht selbst gelegt, sondern
mußte es in seinem Geworfensein immer schon übernehmen. Man er-
kennt an diesem Aufsummen des Nicht, daß das Dasein ein in seiner
Existenzialität einmal aufgewiesenes Nicht immer weiter als unab-
dingbare Voraussetzung jeder weiteren Phase seines So-seins mit sich
schleppt. Und so kumuliert auch folgerichtig diese zweifache Nichtig-
keit zu der dritten umfassenden Nichtigkeit, der Sorge = Sinn von
Sein des Daseins. Wenn wir diese Sorge einen Augenblick losgelöst von
ihrer Ermöglichungsstruktur betrachten, nämlich als das, was sie

99
meist immer schon rein faktisch ist, so ist sie, verfallend, der Grund
der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins: »Die Sorge selbst ist in ih-
rem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt« (S. u. Z.
S. 285). Und nur darum kann die Sorge das Dasein »vor seine unver-
stellte Nichtigkeit bringen, die zur Möglichkeit des eigensten Seinkön-
nens gehört« (S. u. Z. S. 287). Und eben das ist das Schuldigsein zu
einem eigentlichen Seinkönnen. Aus der Grundbefindlichkeit der Angst
wird das Dasein vor das dreifache im Grunde seiner Existenz grün-
dende Nicht gebracht. Daraus erwächst die Möglichkeit, daß das Da-
sein im Gewissen-haben-Wollen sich auf sein eigenstes Schuldigsein
hin entwirft.
Das Nicht dringt vor bis zur Schwelle der Eigentlichkeit. Das Nicht
ist also aus der leeren Negation herausgehoben und trägt in seinem Er-
möglichungscharakter mit sich die Positivität zur Ermöglichung nicht
nur von Etwas, sondern die Positivität zur Ermöglichung von Eigent-
lichsein. Auch im Entwerfen zum Eigentlichsein bleibt der Entwurf
geworfener Entwurf; er führt als solcher die ihm wesenhafte Nicht-
Struktur immer mit sich. Wenn auch in einer Gegenwendung gleich-
sam sie bestätigend, trägt er die Nichtigkeit im geworfenen Entwurf
in sich. Sie ist in sich selbst die Möglichkeit, aus der erst das Heile, das
Heilige, das Lichtende für die Existenz sich ereignen kann. Das Nicht
ist also nicht schlechterdings nichts; es gehört zu seiner Funktion, den
Raum der Eigentlichkeit auszusparen, - so wie um eine Plastik herum
ein leerer Raum von Nicht-Plastik sein muß, damit die Plastik als Pla-
stik überhaupt sein kann. Heidegger hat in »Sein und Zeit« die existen-
ziale Nichtigkeit abgeleitet. Er erkannte: »Der ontologische Sinn der
Nichtheit dieser existenzialen Nichtigkeit« blieb aber »noch dunkel«
(S. u. Z . S. 285). In »Was ist Metaphysik?« fragt Heidegger noch aus-
drücklicher nach Sein überhaupt und muß nun die davon unabtrenn-
bare Frage nach dem Nichts stellen. Denn schon in »Sein und Zeit« hat
er gewußt, daß mit der existenzialen Ableitung der ontologische Ur-
sprung der Nichtheit noch nicht zum Problem gemacht worden sei. Die
Möglichkeit, dieses Problem auch nur zu stellen, liegt für ihn »in der
thematischen Klärung des Sinnes von Sein überhaupt« (S. u. Z. S. 286).
Denn ebenso wie existenzial »das Schuldigsein nicht erst aus einer Ver-
schuldung« resultiert, sondern »diese (Verschuldung) erstmöglich wird
>auf Grund< eines ursprünglichen Schuldigseinsrr (S. u. Z. S. 284), des-
sen Nicht-Charakter aus dem Grund der Existenz selbst aufsteigt,
ebenso hat ontologisch zu gelten, daß es die Verneinung und das Nicht
nur gibt, weil es das Nichts gibt: »das Nichts ist ursprünglicher als das
Nicht und die Vemeinung« (W. i. M. S. 26). Wurde für die Frage nach

100
dem Schuldigsein existenzial in den Grund der Existenz zurückgefragt,
so geht im Problem des Nicht ontologisch die Frage zurück in das Nichts
und, das heißt, in den Grund des Seins. Daraus ergibt sich aber für die
Existenzialität: das Nicht-Element des schuldig und damit der Grund
der Existenz reicht über das Nicht der Verneinung in das Nichts selbst.
Und wie das Nicht unabtrennbar zu Sein von Dasein gehört, so gehört
das Nichts unabtrennbar zu Sein überhaupt. Die ontologische Grün-
dung des existenzialen Nicht im ontologischen Nichts ist nur das Spie-
gelbild des Verhältnisses von Sein von Dasein zu Sein-überhaupt. Der
Mensch hat sein Wesen darin, »daß er das >Da<, das heißt die Lichtung
des Seins ist« (Platons Lehre, S. 69 ), aus welcher Lichtung heraus er sich
erst zu Seiendem verhalten kann. Zu diesem Sein der Lichtung gehört
unabtrennbar das Nichts. Die Gegenwendigkeit im Wesen der Wahr-
heit z. B. zwischen Entbergung und Verbergung ist darauf zurückzu-
führen, wenn sie ontologisch gegründet sein will. Und nur weil dem
so ist, kann es gelten, daß das so sich verhaltende Dasein als solches »je
schon aus dem offenbaren Nichts herkommt« (W. i. M. S. 32). Es be-
steht die »alles tragende Vermutung, gemäß der Unverborgenheit des
Seins« (aus der der Mensch das >Da< der Lichtung ist) »gehöre der Be-
zug des Seins zum Menschenwesen gar zum Sein selbst« (W.i.M. S. q).
So muß auch das »Grundsein einer Nichtigkeit<<unmittelbar aus einem
Bezug dieses existenzialen Nicht zum ontologischen Nichts gründen.
Haben wir nicht in der Unheimlichkeit der Angst direkten Zugang
zum Nichts? Das ist gleichsam die andere Seite des Leitsatzes aus »Sein
und Zeit« (S. u. Z. S. I I 7, 212) »die Substanz des Menschen ist die
Existenz«. Schärfer noch ist die in diesem Satz gemeinte »Realität« aus-
gedrückt dadurch, daß später das »Ex« von Existenz umgewandelt
wurde in das »Ek« von Eksistenz: Ek-sistenz = Ausgesetztsein in den
Bereich des Offenen. Auf das Sein als das Nichts bezogen, hat das die
Tragweite: Dasein heißt »Hineingehaltenheit in das Nichts'< (W. i. l\1.
S. 32). »Von der in Sein und Zeit recht gedachten >Existenz< her läßt
sich das >Wesen< des Daseins denken, in dessen Offenheit das Sein selbst
sich bekundet und verbirgt.« Man denkt die Existenz aber erst dann
»recht«, wenn man auch das Ve.rbergen auf die im W esen des Daseins
sich bekundende Offenheit des Seins zurückführt. Es ist das dann die
Offenheit des Seins als die Offenbarkeit des Nichts, das der Schleier des
Seins genannt ist. Das Nichts muß also auf das Sein hin und vom Sein
her begriffen werden. Dann also versteht man auch die Verbergung
nur aus der Lichtung. Die Heidegger'sche Auslegung des Satzes von
Regel (gegen Regel) erlaubt wohl diese Ableitung (Platons Lehre,
S. 8I).

IOI
Heidegger faßt das Sein selbst im Wesen als endlich, dieses Sein, das
»sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Da-
seins offenbart« (W. i. M. S. 36). Man erkennt nun unschwer: den vol-
len Umfang des Transzendierens ermißt man erst da, wenn der Satz
»Sein ist das transcendens schlechthin« auf das Nichts erweitert wird.
Vom Dasein wird gesagt (W. i. M. S. 32): »Da-Sein heißt: Hineinge-
haltenheit in das Nichts.« Über das Seiende im Ganzen hinaus-sein ist
ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts; sie wird erfahren in der Grund-
befindlichkeit der Angst. Erst aus dieser Offenbarkeit des Nichts kann
das Dasein seinem Wesen nach zu Seiendem, das es nicht ist und das es
selbst ist, sich verhalten. Der zunächst paradox scheinende Satz, daß
sich auch die Verbergung erst aus der Lichtung begreift, wird so ver-
ständlicher. Die weitere Folge ist dann: »Ohne ursprüngliche Offenbar-
keit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit.«
In nSein und Zeit« wurde der Sinn von Sein des Daseins als Sorge
bezeichnet und diese Sorge zunächst verstanden vom Dasein aus, das
als solches Grund und erster Absprung für diese Begriffsbestimmung
war: »Das Wort nennt eine Weise ... desjenigen Seins, das offen steht
für die Offenheit des Seins, in der es steht, indem es sie aussteht.« Wie-
der macht sich die »Kehre« als Umkehrung der Blickrichtung bemerk-
bar: es wird jetzt nun sehr ausdrücklich wert darauf gelegt, daß »Um-
gekehrt die Sorge nur in ihrem ekstatischen Wesen zureichend erfahren
wird« (W. i. M. S. 14). Wir müssen noch einmal, jetzt im Zusammen-
hang zum Nichts, diesen Satz zitieren, daß das ekstatische Wesen der
Existenz unzureichend verstanden wird, wenn man »das >Hinaus< als
das >Weg von< dem Innern einer Immanenz des Bewußtseins und des
Geistes auffaßt«. Die Begründung dafür, daß »das >Aus< als das Aus-
einander der Offenheit des Seins zu denken bleibt«, begreift nun aus-
drücklich die Sorge als Sinn von Sein des Daseins auch vom Sein-über-
haupt her. Aus dieser Begründung muß mehr als nur die »Vermutung«
folgen, daß der Bezug des Seins zum Menschenwesen gar zum
Sein selbst gehöre. Unter dem Anliegen, die Sorge eindeutiger
noch zu bestimmen, ist hiermit »die alles tragende Vermutung« in die
indirekte Ableitung umgesetzt, die viel weiter trägt. Das geschieht
gleichsam nebenher, jedoch ganz zwangsläufig. Aus der dreifach ge-
gründeten Nichtheit in der Existenz geht der Bezug des Menschen-
wesens zum Nichts hervor als ein Bezug, der zum Sein selbst gehört.
Es schien notwendig, dieses Nicht und dieses Nichts dem Anschein
einer grundsätzlichen Negativität oder des Nihilismus zu entreißen. In
mancher vordergründigen Befassung mit Heideggers »Denkversuch«,
die nur vom geläufigen Wortgebrauch orientiert ist, wird diese ver-

102
meintliehe Negativität immer wieder angemerkt. Zu diesem Nicht als
dem falsch verstandenen Nichts des Nihilismus und der Verzweiflung
stellt man immer wieder Rilke und meint, ihn auf diese Weise einer am
Mißverständnis Heideggers orientierten »Existenzphilosophie<< ein-
ordnen zu dürfen. Man glaubt ihn aus einer ähnlich nihilistischen
Grundhaltung begreifen zu können, die man Heidegger imputiert. Das
Nicht hat ohne Frage eine außerordentlich bedeutsame Funktion im
existenziellen Selbstverständnis Rilkes; wir werden ihr noch nachzu-
gehen haben. Aber dann dürfen wir feststellen, daß dieses Nicht genau
wie das Heideggers in seiner Positivität aufzuweisen ist. Gewiß vollzog
sich bei dem Dichter der Absprung in die Posivität aus einer erlebnis-
mäßig stark gefühlten Negativität. Es war von ihm ein mühsamer, ja
ein lebensgefährlicher Weg zu durchschreiten, bis er diese Negativität
in ihrer ganzen angstvollen Unheimlichkeit durchlitten und verwan-
delnd hinter sich lassen konnte. Das soll keineswegs verkannt werden;
es ist im Gegenteil stark herauszustellen. Bietet doch dieses faktische
Durchschreiten der Angst und die Handhabung des Nicht der Vemei-
nung tief innen im wirklich gelebten Dasein des Dichters die existen-
zielle Bezeugung zu den existenzial-ontologischen Untersuchungen des
Denkers. Durch Rilkes Selbstzeugnisse und durch sein Werk hindurch
werden gerade diese existenzial-ontologischen Untersuchungen wie in
einem Vergrößerungsglas anschaubar.
Es erhebt sich die Frage, warum wohl den Dichter wie den Denker
dieses Nicht und dieses Nichts ganz grundsätzlich beschäftigt hat. Den
Dichter hat dieses Nicht intensiv leidend jahrelang beherrscht. Das
Nicht trägt nicht von ungefähr das Stigma der Negativität. Es stellt
sich also die genannte Frage zu recht, aber nur dann, wenn sie ohne den
gewissen beleidigten Ton des Vorwurfs aufgeworfen wird. Denn ist es
von der Hand zu weisen, daß die Befassung mit dem Nicht, mit der
Unheimlichkeit der Angst in sich selbst schon die Gefahr einer Ver-
dunkelung der Welt birgt, in die wir gestellt sind? Hat nicht Malte sich
in seiner Leidenschaft des Einsehen-Wollens so tief über das Nichts ge-
bückt, daß es ihn verschlang? Die Frage ist auch nicht damit zu baga-
tellisieren, daß die Zeit um den ersten Weltkrieg und nach ihm von
einem immer weiter um sich greifenden Nihilismus beherrscht ist. Sich
auf den >>Geist der Zeiten<< zu berufen, ist immer eine prekäre Auskunft,
die mit der Fortsetzung des Zitates gegen den Zitierenden zurückschla-
gen könnte. Man muß also tiefer fragen; so wird man vielleicht gerade
aus dem Versuch einer Beantwortung der Frage für das Vorhaben
dieser Arbeit eine weiterführende Sicht gewinnen. Das Sich-Vorfinden
im Nicht und im Nichts ist vielleicht als eine Schickung des Seins selbst

103
zu begreifen, die den Dichter und den Denker an einem gleichen Ort
der Zeit in die seihe Frage schickt. Der Absprung aus der Negativität
muß erfolgen, wenn die Seinsvergessenheit aus sich selbst die Frage
nach dem Sein hervortreiben soll. Es wird durch den Schleier des Nichts
nach einer näheren Nähe des Menschen zum Sein gefragt. Auch hierin
erweisen sich wieder die aufzuzeigenden Entsprechungen einer rein
denkerischen Bemühung zu dem existenziell durchschrittenen Weg
eines Dichters zu seinem Werk nicht als eine willkürliche Fragestellung.
Gerade die vermeintliche oder tatsächliche Negativität ist in ihrem Er-
möglichungscharakter zu betrachten, auf zwei in sich zu unterscheiden-
den Wegen ein Selbes zu suchen.
Noch in der achten Elegie macht Rilke die unerbittliche Feststellung:
»Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, I den reinen Raum vor uns ...
Immer ist es Welt I und niemals Nirgends ohne Nicht.« Der Ton der
Klage will diese unumstößliche Gegebenheit nicht erweichen; hier soll
ein Faktum hingestellt werden. Das »niemals Nirgends ohne Nicht«
spricht eine zweifache Verneinung aus, nicht eine doppelte, etwa in der
Weise, daß die eine sich gegen die andere aufhöbe. Vielmehr enthält
in diesem Vers je die Erlebnisform des Raumes und je die Erlebnisform
der Zeit in sich dieses Nicht; es ist unabtrennbar von den Möglichkei-
ten, unter denen dem Menschen sein Dasein in der Welt >gegeben< ist.
»niemals . . . ohne Nicht<<: das heißt jedes zeitliche Jedesmal trägt die
Verneinung ihrer selbst in sich; und »Nirgends ohne Nicht<< gibt es den
Ort im Raum, der von seinem Nicht frei wäre. Gegenüber der Beja-
hung der siebenten Elegie ist die achte in ihrer ausgebreiteten Nicht-
haftigkeit ein Rückschlag. Sie steht darin in einer Entsprechung zur
völligen Verneinung der vierten Elegie. Gewiß befindet die achte Ele-
gie sich auf einer erhöhten Stufenleiter; denn bei dem streng architek-
tonischen Aufbau des Elegienwerkes steht sie nicht ohne Bedeutung
nach dem einen Höhepunkt, dem der siebenten Elegie, der erst wieder
mit der neunten Elegie erreicht und übertroffen wird. In beiden Ele-
gien, der vierten und der achten, erscheint der Engel nicht, der mit sich
selbst die Anschauung einer Welt ohne Nicht ist. Wird doch von uns,
als den Lebenden, ausgesagt, daß wir »ZU stark unterscheiden« (erste
Elegie). Das >krinein<, das >cernere< ist nur mit Beanspruchung des nicht
durchzuführen. Dieses Wort der ersten Elegie wird angesichts der To-
ten gesprochen. Der Tod ist die geläufigste und sinnfälligste Unter-
scheidung von Sein und Nicht-sein. Von den Engeln aber, zu deren
Existenz das Nicht nicht gehört, gilt: »Sie wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehn oder Toten.<< Das unbeirrbare ins-Auge-fassen dieses
»niemals Nirgends ohne Nicht<<fand in der siebenJahrefrüheren vier-

104
ten Elegie einen viel subjektiveren Ausdruck: nDa wird für eines Au-
genblickes Zeichnung I ein Grund von Gegenteil bereitet, mühsam, i
daß wir sie sähen«. Die Verzweiflung dieser Elegie möchte sich auf-
lehnen gegen das Gebanntsein in den nGrund von Gegenteil«. Das
»niemals Nirgends ohne Nicht« der achten Elegie aber ist gefaßtes Wis-
sen um unser So-sein.
Das XIII. Sonett an Orpheus, zweiter Teil, bringt diese Erkenntnis
der von unserem Dasein unabtrennbaren Nichthaftigkeit in eine kate-
gorische Forderung. Es ist bezeichnend, daß diese Erkenntnis da Forde-
rungscharakter annimmt, wo angesichts der Symbolgestalt der Eury-
dike ein tiefes Wissen um den Tod und die Entschlossenheit zu ihm ins
dichterische Wort eingeht. Der Tod als »Nichtsein« (Rilke), als »Un-
möglichkeit der Existenz« (Heidegger) trägt in sich über ndas helle
Nichts der Angst« (Heidegger) hinaus einen ausgezeichneten Bezug
zum Nichts als Endlichkeit. Die Forderung des Orpheus-Sonettes lau-
tet: nSei- und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung ... « Diese Be-
dingung des Nicht-Seins muß als existenziale Bedingung von Dasein
überhaupt verstanden werden. Dieses Nicht ist im Gedicht gefaßt -
wortwörtlich - als die unaufhebbare Bedingung, unter der unser Da-
sein existierend steht. Existierend: das heißt, diese Bedingung ist nicht
nur eine von außen über uns verhängte, sondern wir sind diese Bedin-
gung immer schon selbst, indem wir existieren. Ein möglicher Ein-
wand dagegen, den strengen terminus »existenzial« hier einzusetzen,
etwa mit der Begründung, daß eine systematische Bemühung Rilkes
überhaupt nicht vorgelegen habe, muß von vornherein zurückgewiesen
werden. Gewiß ist es ganz ohne Frage richtig, daß Rilkes Einsehen, sei-
ner ganzen Artung nach, als Rilkes höchst persönlich begangener Weg
nicht dem anderen Weg des Heidegger'schen systematischen Denkens
gleichgeordnet werden kann. Aber das unausgesetzte Einsehen-wollen
Rilkes aus der Mitte seiner Existenz ging von Anfang an auf ndie Ele-
mente des Daseins«. Auch er fand ein Ganzes, die nGanzheit von Le-
ben und Tod«; erst diese als solche darf den Namen nDasein« tragen.
Auch Heidegger suchte eine Ganzheit - die der Existenzialität -, die
Dasein erst begründet. Das unerbittliche Einsehen Rilkes mußte ja ein-
mal aus dem bloßen Erleiden des Nicht in das Nicht als in die Bedin-
gung dieses Erleidens hineinführen; es führt ja in den Grund der Exi-
stenz. Und darum fand Rilke dieses Nicht auch im Grund von Existenz.
Darum geht das Gedicht ganz folgerichtig weiter: die Bedingung des
Nicht-Seins, die in unser nWissen« hineinzunehmen verlangt wird, ist
als der »unendliche Grund bezeichnet«. Dieses Wissen hier ist keine
theoretische Erkenntnis, sondern ein Sein zu diesem Wissen, das aus

105
dem tiefsten Grund der Existenz zu leben ist; aus diesem ist es hervor-
gegangen. Nur ein so gewußtes Nicht-Sein kann als der ))unendliche
Grund ... « bezeichnet werden, weil er unendlich aus dem immer ge-
genwärtig bleibenden Wissen sich erneuert. Er ist ))der unendliche
Grund deiner innigen Schwingung«. Diese selbst ist ein endliche: ))daß
du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal«. Es ist das diese Schwin-
gung, die du selbst bist im Vollzug deiner Existenz; in ihr hast du dein
Sein; und außerhalb von ihr bist du nicht. Dieses als endliches Sein
gewußtes Sein von Dasein, das du nur dann ))völlig vollziehst« aus
dem Wissen um seine Endlichkeit - das kannst du nur eigentlich
leben im entschlossenen übernehmen des Nicht als ))Sein zum Ende«
(Heidegger) ))dieses einzige Mal« (Rilke). Das ist wohl die reifste
Fassung, die Rilke dem aus der Existenz aufsteigenden Wissen um
das Nicht innert der Existenz selbst gegeben hat; darin gründet ihre
Endlichkeit.
Aus der gleichen Quelle und im gleichen Moment seines Schaf-
fens vollzieht Rilke in der neunten Elegie die Einordnung des
Menschen in den ganzen Seinszusammenhang mit den Versen: ))Ein
Mal I jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr. Und wir auch I
ein Mal. Nie wieder.« Auch noch über seine reife Dichtung hinaus
bleibt ihm dieses Wissen um das Nicht und das Nichts. Nach dieser
ergeht es sich nun nicht mehr in der Klage oder fragend oder fordernd
oder verteidigend. Es ist zum selbstverständlichen und kaum noch be-
sonders zu betonenden Besitz geworden. Eines der französischen
Rosengedichte spricht von ))Cet ineffable accord du neant et de l'etre,
que nous ignorons?« (Franz. Gedichte, S. 81). Dieser Besitz war müh-
sam genug erstritten worden. Wenn wir von den schweifenden Vor-
stellungen des frühen Rilke absehen dürfen, so ist es wieder der Rilke
des Malte Laurids Brigge und der Nach-Malte-Zeit, der uns Aus-
kunft gibt über die Notwendigkeit, dieses Nichts zu durchleiden, da
wo es als pure Negativität auftritt. Malte selbst wußte das in seinem
tiefsten Elend, und doch vergrößerte er es nur noch mit seiner Wei-
gerung: ))Ich wehre mich noch« (GW V, S. 64), durch das Nichts der
Angst hindurchzugehen. Wir erfahren von ihm auch seine ansteigende
Einsicht in das Nicht und das Nichts und die durch beides zu ermög-
lichenden Positivität: )) Wenn meine Furcht nicht so groß wäre, so
würde ich mich damit trösten, daß es nicht unmöglich ist, alles anders
zu sehen und doch zu leben« (GW V, S. 65). Gleichsam hinter seiner
))Furcht« war ihm offenbar geworden, daß er ))schließlich doch wie
einer (ist), der vor etwas Großem steht«. Aus dem Wurzelgrund seiner
Angst setzt er, hellsichtig geradezu in seiner Verdüsterung, dieses

106
l>Große« zu dem, was seine »wirkliche Aufgabe« ist: das Schreiben;
und er erinnert sich: »daß es früher oft ähnlich in mir war, ehe ich zu
schreiben begann«. Es kann uns nicht wundernehmen, daß wir auch
hier, wo wir Rilkes Einsicht in das Nicht und das Nichts darstellen
wollen, wieder zum »Malte« greifen müssen. Er ist nun einmal »die
große Wasserscheide« dieses Lebens. Auch noch in der Arbeit am
»Malte« hätte das Wort aus einem der schrecklichsten Briefe des Juni
1903 an Lou unbedingte Geltung gehabt: »Dinge machen können aus
Angst«. Die Positivierung der Negativität ist damit, dem besonderen
Rilke'schen Dasein angemessen, auf die kürzeste Formel gebracht. Im
Brief vom 18. Juli 1903 bricht die seit Monaten in Rilke gestaute un-
geheure Angst aus. So schreibt er auch noch im nMalte«: nHätte ich
die Ängste, die ich so erlebte, machen können, hätte ich Dinge bilden
können aus ihnen ... «, dann wäre das Nichts der Angst positiviert
worden; dann wäre das Heidegger'sche »Freisein für« schöpferisch
geworden; das »Freisein für« wäre angefüllt, ganz faktisch-ontisch,
mit dem Inhalt der Rilke'schen Möglichkeiten, mit »wirklich stillen
Dingen, die zu schaffen Heiterkeit und Freiheit ist«. Das hier ge-
brauchte Wort Freiheit im Zusammenhang mit einer möglichen Pro-
duktivität aus Angst ist beweisend für Rilkes tiefe Einsicht in die
Möglichkeiten des Nichts. Rilke mußte feststellen, daß er zwar
»schöpferisch« an diesen Ängsten wurde, aber nur so, daß er »ihnen
sein Leben (gab), das sie wider mich kehrten und mit dem sie mich
verfolgten bis weit in die Nacht«. Er hatte das, was er selbst in tiefer
Ahnung der Zusammenhänge als notwendig und befreiend erkannte,
nicht vermocht: »Dinge (das heißt Kunstdinge) machen aus Angst«.
Dieses »aus<< hier versteht sich nicht so wie in der banalen Redensart:
aus Angst machte er eine Dummheit. Sondern: die Gestimmtheit
»Angst<< lotet in den tiefsten Grund der Existenz; sie stellt das Dasein
vor das Nichts und reißt es damit heraus aus der Negativität der ge-
läufigen »Auslegungen<<; daraus erwächst positiv die Freiheit zum
eigentlichen Schaffen.
Das Buch vom »Malte Laurids Brigge<< gehört schon zu den »Dingen
machen aus Angst«. Rilke erkannte es in der Nach-Malte-Zeit, wenn
er immer wieder davon sprach, dazu »SO unbeschreiblich verpflichtet<<
gewesen zu sein, »Wahl hatte ich keine<< (Br. o7h4, S. 1 12). Rilke
wußte dieses Buch »als einen so harten und abschließenden Auftrag,
daß ich meinte, alle meine Aufgaben darin zusammenzugreifen und
sie in mich zu rennen, wie jener Einzelne, der im Handgemenge alle
Lanzen, die wider ihn stehen<<, (Negativität), »so weit er nur reichen
kann, an sich nimmt und in sich für alle unschädlich macht<< (Posi-

153
tivität); (Br. o7/14, S. 128). Fast zwei Jahre nach dem Abschluß spricht
er es aus, daß der »Malte« »zum Teil aus meinen Gefahren gemacht
ist«. Gegen das Ende des Buches habe er es als »einen unbeschreiblichen
Abschnitt« empfunden, »als eine hohe Wasserscheide«. Das galt auch
dann noch, als er feststellen mußte, »daß alles Gewässer nach der
alten Seite abgeflossen« war und er jenseits dieser Wasserscheide nichts
anderes erfuhr »als Dürre« (Br. o7/x4, S. 147). Doch trotzder tiefen
Depression in der Nach-Malte-Zeit hat Rilke sein ahnendes Wissen
um die Positivität des Nichts nicht verloren; es scheint durch alle diese
Äußerungen hindurch. Wenn auch noch unsicher, so ist er doch auf
dieses Ziel gerichtet, die Verwandlung ins Positive zu leisten und aus-
sprechen zu wollen. Ein Brief aus dem November 1915 (Br. 14/z1,
S. 87) sagt das deutlich. Dieser stammt aus einer Zeit, in der Rilke
noch mitten im schwersten Leiden an der unverdünnten Negativität
stand. Schon vor Jahren habe er jemandem, den dieses Buch erschreckt
hatte, zu schreiben versucht, daß er selbst es manchmal »wie eine
hohle Form, wie ein Negativ empfände«, aus dem man »eine positive
Figur« gewinnen könnte. Das vorbewußte Wissen dieser Möglichkeit
war es, was ihn in die Tiefe des Nichts dieses »schweren, schweren
Buches« hineingetrieben hatte. Nur nach dem Durchmessen der Tiefe
war, wenn auch nicht die Sicherheit, so aber doch die Möglichkeit ge-
geben, daß der untergehende Malte ihm, seinem Dichter, »gewisser-
maßen den Untergang ersparte«, weil er, der Dichter, diesen Untergang
dichtend, ihn auch selbst mit seinem Geschöpf durchmessen hatte. Es
muß in Rilke eine ganz eigentümliche Gespaltenheit während des
Schreibens an diesem Buche bestanden haben: einmal vollzog er eine
nahe Identifizierung des eigenen Selbst mit dieser geschaffenen Ge-
stalt; gleichzeitig stieß er sie in den Untergang. Aber dieses letztere
tat er aus der Erkenntnis, daß die unverwandelt bleibende Negativität
notwendig in den Untergang führen müsse. Wie sehr wußte er in und
nach dem Schreiben dieses Buches, was er noch schuldig geblieben war.
War Malte nicht die Möglichkeit, das eigene Selbst zu befreien und
damit den Zwang zum eigenen Untergang von sich abzulösen? Der
ihm überbürdete Untergang war eine Abschlagszahlung an das Nichts;
denn auch dieses wußte Rilke ganz genau: die Ablösung war nur
möglich im vollendeten Durchleiden der Negativität. Eine Umschul-
dung vollzog sich: Malte/Rilke der Untergehende zahlte die Schuld,
indem er an die Stelle von Rilke, den Überlebenden, trat. Aber auch
der Malte als der Untergehende war Blut vom Blut Rilkes des Über-
lebenden. Nur darum konnte die stellvertretende Zahlung schließlich
und endlich einmal angenommen werden. Nur so versteht es sich,

108
wenn Rilke im gleichen Satz sagen kann, es sei sein Ehrgeiz gewesen,
mit diesem Buch sein »ganzes Kapital in eine verlorene Sache zu
stecken«. Im seihen Atemzug aber behauptet er, den Malte »nicht
so sehr als einen Untergang, vielmehr als eine eigentümlich dunkle
Himmelfahrt an eine vernachlässigte abgelegene Stelle des Himmels«
empfunden zu haben (Br. Lou, S. 247). Der Untergehende war der
Malte; die Himmelfahrt galt dem Dichter. Dunkel war sie und »ab-
gelegen« die Stelle, zu der sie führte. Aber sie war doch immerhin
eine »Stelle des Himmels« (Br. 14/z1, S. 148). Von ihr aus war viel-
leicht »genaueste und sicherste Seligkeit« zu erahnen (Br. 14iz1, S. 87),
die hinter dem Durchleiden des Untergangs einmal zu erblicken sein
mochte.
Heidegger zeigt, wie in der Angst »das Seiende im Ganzen ent-
gleitet«. »Nur das reine Dasein ... ist noch da« also nicht mehr das
Dasein = In-der-Welt-sein, also nicht mehr das Dasein, das aus der
einen seiner beiden Möglichkeiten, dem Uneigentlich- oder dem Ei-
gentlichsein, sich entschieden hätte: ein Dasein also, das auf die Frage
nach dem »Wer« dieses Daseins weder die Antwort >>Man-selbst« noch
die Antwort »eigentliches Selbst« geben könnte. Denn dieses Dasein
ist nur noch in der >> Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich
an nichts halten kann« (W. i. M. S. 30). Es ist also nur vor oder gleich-
sam zwischen dem Ergreifen einer seiner beiden Möglichkeiten. Rilke
spricht ganz entsprechend vom Schaffen des »Malte«. Dabei sei »er mit
ihm in der konsequenten Verzweiflung bis hinter alles geraten ... bis
hinter den Tod gewissermaßen, sp daß nichts mehr möglich war, nicht
einmal mehr das Sterben«. Nie habe es einer deutlicher durchgemacht,
»wie sehr die Kunst gegen die Natur geht, sie ist die leidenschaftlichste
Inversion der Welt«. Derjenige, der diese unbedingte Kunst im Ma-
chen der Dinge aus der Verzweiflung der Angst betreibt, ist wie auf
»dem Rückweg aus dem Unendlichen«. Es war also »das Seiende im
Ganzen« (Heidegger) hinter ihm geblieben. Auf seinem Rückweg
kommen ihm nun alle »ehrlichen Dinge entgegen«; »man sieht sie in
ihrer ganzen Gestalt«. Das meint also, daß man sie vorher nicht ganz
gesehen habe. Und das wiederum kann nur heißen, man sieht jetzt das
Seiende so wie es »an ihm selbst« (Heidegger) ist- »ehrlich« (Rilke)-
und nicht mehr in der Erleichterung einer geläufig-alltäglichen ein-
schränkenden Betrachtungsweise. In dieser Alltäglichkeit scheinen diese
»ehrlichen Dinge« wie in Rücksicht auf unser normales Fassungsver-
mögen uns nicht mit der Unheimlichkeit ihres ganzheitlichen Aspektes
strapazieren zu wollen. Dieser volle Aspekt ist uns nur nach der Er-
schütterung durch die Angst gegeben, wenn wir in der Angst hinter die

153
Dinge geraten sind. Jetzt aber, auf dem »Rückweg« nach dem Entglei-
ten des Seienden im Ganzen fragt Rilke im tiefsten ergriffen: »Ja aber
wer ist man denn, daß mans darf, daß man man diese Richtung geht
wider sie alle, diese ewige Umkehr ... « Das Wort ''man« hier ist
nicht mehr das »Man-selbst«; das war man vor dieser Umkehr. ''Darf
mans denn«, fragt er aus der Unsicherheit einer noch nicht endgültig
vollzogenen Wa1hl, aus der noch nicht gefestigten Entschlossenheit.
Ist man wirklich der, der Hschon irgendwo angekommen ... an irgend
einem Ende ist«; oder läßt man das nur glauben und ''betrügt« sich
und die Dinge? Das ist Rilkes Frage an das Schicksal in der Nach-Malte-
Zeit. Auch mit dem ''Malte« war alles »Schuldig-sein« noch nicht ge-
leistet, wohl aber erkannt, daß man aus einem Schuldig-sein zu leisten
habe. Wie hätte er sonst mit diesem kühlen Anschein von Objektivität
im Januar 1912 aus Duino schreiben können (es war der Augenblick
des Engelanrufs der ersten Elegie): »... das nun schon so alte Buch (in
gewissem Sinne alt): während manches von einem Erfundenen, dem
Malte, drinnen Gewagte, Erkannte, Angestimmte, mir, dem Seienden,
erst noch ganz zu versuchen bevorsteht« (Br. o7/14, S. 185).
Während des Aufenthaltes in Duino erlebte Rilke eine kurze Phase
der Erhebung aus der Nach-Malte-Depression; sie setzte dann schwerer
als je wieder ein. In dieser Zeit wandte er sich dem Buch gleichsam
mit neuen Augen wieder zu. Er fand Äußerungen, die nicht tastend
mehr und fragend, sondern klar und bewußt im ''Malte« »aus der De-
kadenz des Verlaufes« »die Höhenlage der einzelnen Punkte(( hervG!"-
heben (Br. o7/r4, S. 196). Sie stammen aus einem tiefen existenziellen
Wissen um die Zusammenhänge von ''Untergang(( und »Himmel-
fahrt«, von sinkendem Malte und ''überlebendem« Dichter, von der
llRekonvaleszens(( zu diesem Buche und dem, was seinem Autor
»erst noch ganz zu versuchen bevorsteht«. Es ist die Erkenntnis von
den Möglichkeiten, die im Nicht der Negativität verborgen liegen. Sie
können zur Ermöglichung einer Positivierung befreit werden: »Die
Kräfte, die (im Malte) an den Tag kommen, sind durchaus nicht de-
struktiv, wenn sie auch gelegentlich zur Zerstörung führen(( (Br.
o7/r4, S. 196.) Damit ist das Nichts als zum Sein gehörend verstanden.
Es ist das existenziale Nicht im Grunde der Existenz zum Sein von
Dasein hinbezogen; und wiederum ist das Sein von Dasein im Bezug
zu Sein überhaupt und darum auch zum Nichts begriffen. Nur aus
diesem umfassenden Aspekt läßt sich die ganze Tragweite des folgen-
den Satzes verstehen: diese gelegentliche Zerstörung, das »ist die Rück-
seite jeder großen Kraft, das Alte Testament so ausdrückt, daß es im
Grunde nicht angeht, einen Engel zu sehen, ohne an ihm zu sterben((.

I IO
Dem gegenüber aber hat die Einsicht vorzuherrschen, daß ndas Über-
große nicht verschmäht, sich so vertraut mit uns einzulassen«. Es ist
eine »reine schuldlose Macht«, die in Maltes Trostlosigkeiten ausbricht.
Rilkes Einsicht in das Nicht und in das Nichts fordert, diese Macht als
eine solche zu erkennen, aber dabei zu sehen, >>bis zu welcher Höhe die
Seligkeit steigen könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu lei-
sten wäre« (Br. o7!I4, S. 207 f.). Das ist es, was ihn auch noch über die
schweren Jahre einer vermeintlichen Unproduktivität hinwegführt.
Der Schleier des Nichts hat sich gehoben.

DER TOD

Sowohl für das Denken Heideggers als auch für die Daseinsauffas-
sung Rilkes hat das Problem des Todes seine schwerwiegende Bedeu-
tung. Es ist in sich unterschieden. Jedoch für den Dichter wie für den
Denker geht die Notwendigkeit, den Tod in das Dasein einzuordnen,
aus dem zentralen Punkt ihrer beiden Begriffe von Dasein als einer
Ganzheit hervor. Das Wort >>Ganzheit« hat in beiden Fällen nicht den
gleichen Inhalt. Fürs erste sei nur das Gemeinsame festgestellt: der
Tod gehört in diese >>Ganzheit« = >> Dasein«; kraftdes Denkens, kraft
des Einsehens muß das erwiesen werden. Rilkes Begriff dieser Ganz-
heit von Leben und Tod hat sich während der jahrelangen Arbeit am
>>Malte« gewandelt; und doch ist die in den >>Malte« schon eingegan-
gene frühe Konzeption des Todes auch im Stadium der Vollendung
des Werkes beibehalten worden: nder eigene Tod« als >>Kern« einer
Frucht, die mit dem Leben, in dem Leben reift. Heidegger nimmt,
wenn auch nicht im ausdrücklichen Hinweis auf den >>Malte«, diesen
Vergleich des Todes mit einer Frucht auf23 • In dem Bemühen, klar und

23 In der Untersuchung über Ausstand, Ende und Ganzheit (S. u. Z. S. 48). -


Das Verhältnis zum Tode faßte Rilke in und bis zum »Malte« in die Formel vom
»eigenen Tod« ; auf diese soll hier nicht weiter eingegangen werden. Sie ist immer
wieder, und zwar ausschließlich, in den Darstellungen über Rilke als die Todesauf-
fassung Rilkes behandelt worden. Aber unter allen Paraphrasierungen zu diesem
Thema ist man zum Kern des Problems nicht vorgedrungen. Das war bei dieser For-
mulierung Rilkes, in die die divergentesten Vorstellungen eingegangen sind, schon aus
dem Grunde nicht möglich, weil Rilke selbst, trotz aller emphatischen Betonung, den
Kern dieser Formel nicht genügend gefestigt hatte. Diese Versuche des frühen und
mittleren Rilke wollen wohl immer schon den Tod in die gelebte Existenz hineinneh-
men und dem Selbst zuordnen. Die endgültige Zusammenfassung seiner Anschauung
ist ihm aber mit dieser F ormel nicht gelungen.

III
unmißverständlich den Tod als Sein-zum-Ende scharf abzugrenzen ge-
gen scheinbar ähnliche Phänomene von Ende, zu-Ende-sein, Vollen-
dung, kommt Heidegger zu dem Schluß, »Reife als >Ende< und Tod
als >Ende< decken sich nicht<< hinsichtlich der »Ontologischen Endstruk-
tur<<.
Es ist damit ein Erfordernis umschrieben, mit dessen Erfül-
lung oder Nichterfüllung alles im Denken wie im Einsehen Er-
reichte steht und fällt. Für Heidegger formuliert sich die Frage: Kann
dieses Existieren, das wir Dasein nennen und das als ln-der-Welt-sein
in seiner ursprünglich ganzen Struktur aufgewiesen werden soll, über-
haupt als ein Ganzseiendes zugänglich werden? (S. u. Z. S. 236). Die
Sorge bildet »die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins<<. Das »Sich-
vorweg<< als Strukturmoment der Sorge weist aber aus sich selbst auf
eine »ständige Unabgeschlossenheit<<; es trägt mit sich ein »Noch-
nicht«. Erst wenn das Dasein zu Ende ist, ist es »ganz<<; dann aber
ist es nicht mehr ein Daseiendes und kann also auch nicht mehr Gegen-
stand der (Selbst)-Sorge sein. Es ergibt sich daraus die Aufgabe, die
Begriffe von »Ende<< und »Ganzheit<< in eindeutiger Orientierung an
der Seinsverfassung von Dasein auf das schärfste in ihrem existen-
zialen Sinn zu fassen. Nur so kann es überhaupt möglich werden, diese
Begriffe in Bezug zu Dasein zu gebrauchen. Es erweist sich dazu als
notwendig: auch das »Zu-Ende-sein<< und das »Noch-nicht<< ist in das
Dasein einzubeziehen. Gewisse bei diesen Worten immer mitschwin-
gende Momente sind auszuschalten: das, was noch nicht »da<< ist, das
Ende nämlich, darf nicht als ein Noch-nicht-Vorhandenes angesehen
werden. Zwar unter dem Gesichtspunkt des »Noch-nicht-da<< kann
das Ganze als die Summe seiner Teile angesehen werden; dem Ganzen
ist das, was zum Ganzen der Summe noch nicht »da<< ist, möglicher-
weise abzurechnen oder abzustreichen. Aber die Vorhandenheit zeigt
sich dabei wieder als eine Kategorie, die der Existenz nicht gemäß ist.
Das hier verborgene Phänomen ist nur als Phänomen des eigenen un-
vertretbaren Existierens zu fassen. Es darf nicht abgedrängt werden
in die Seinsart von Zuhandenern oder in die Erfahrung des Totseins
an anderen oder in gewisse organologische Vergleiche. Bei dem uns
beschäftigenden Phänomen gilt es vielmehr einzusehen: das Dasein
muß als es selbst mit diesem »Noch-nicht<< existieren und immer schon
das, »was es noch nicht ist, sein<< (S. u. Z. S. 243). Dasein ist, »solange
es ist, je schon sein N och-nicht'r (S. u. Z. S. 244). Das ist die einzige, dem
Begriff des Existierens gemäße Sicht für das Problem des Todes. Aus
ihr versteht sich die Einbeziehung des Todes in das Dasein, die mit
dem folgenden Ausdruck gegeben wird: das daseinsmäßige »Sein zum

II2
Tode ist ein Sein-zum-Endecc. Somit wird der Tod erkannt als »eme
Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist« (S. u. Z.
s. 245).
Es ist deutlich geworden: wir bewegen uns nicht in einer biologi-
schen Erkenntnis, sondern in einer ontologischen Interpretation des
Todes aus dem ganzen Umfang von Existenzialität. Sie muß demnach
getragen sein und wieder einmünden in die Grundverfassung des Da-
seins, die Sorge. Der Tod, verstanden als Sein-zum-Ende, verstanden
aus der Grundverfassung Sorge gibt dann die Möglichkeit, das Dasein
mit dem in dieses Dasein einbezogenen Tod als Ganzheit zu begreifen.
Indem der Tod dem Dasein immer schon bevorsteht, diesem Dasein,
dessen Sein die Sorge ist, wird auch der Tod als Sein-zum-Ende etwas,
wozu das Dasein sich in seiner Sorge auf die eine oder andere Weise
verhält. Wir wissen, daß das sowohl im Modus der Eigentlichkeit wie
der Uneigentlichkeit geschehen kann. »Der Tod ist eine Seinsmöglich-
keit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hatcc, in der einen oder
anderen der zwei Möglichkeiten von Existenz. Nun ist Dasein mit
seinem bevorstehenden Tod »völlig auf sein eigenstes Seinkönnen ver-
wiesen« (S. u. Z. S. 250)- und zwar in der Weise, daß es hierbei dem
Dasein geht »um sein In-der-Welt-sein schlechthin«. Denn der Tod »ist
die Möglichkeit des nicht-mehr-dasein-könnenscc. Und diese Möglich-
keit ist eine »unüberholbare Möglichkeit« (danach gibt es nichts weiter
mehr), die als eine existenzielle dem Dasein »selbst wesenhaft erschlos-
sen ist und zwar in der ':Veise des Sich-vorweg« (S. u. Z. S. 251). Auch
hierin wird wieder die Grundbefindlichkeit der Angst als die ausge-
zeichnete Erschlossenheit offenbar. Als Angst vor dem Tode kann sie
das Dasein herausholen aus seiner alltäglich geübten verdeckenden Ab-
wendung vor der äußersten Möglichkeit des Sterbenkönnens. Die
Angst ist fähig, die ständigeoberflächliche und allen geläufige »Beruhi-
gung« des Man über den Tod zu nichte zu machen. Die Angst durch-
bricht das alltäglich verhüllende Ausweichen, als welches das Dasein
seinuneigentliches Sein zum Tode gemeinhin ist. Denn meistens über-
nimmt das Dasein das Sein-zum-Ende gerade nicht; es befindet sich
vielmehr gemeinhin in der Flucht aus der Unheimlichkeit. Aber gerade
die Grundbefindlichkeit der Angst vor dem Tode ist es, die dem Dasein
die Geworfenheit in dieses eigenste und äußerste Seinkönnen des Ster-
benmüssens im Sichängsten enthüllt. Auch ihr gegenüber gilt: daß
man ist und zu sein hat, - zu sein in der Bedrohung von dem irgend-
wann-einmal-sterben-müssen. Die Angst ängstigt sich 'VOr dem nun als
Sein-zum-Ende konkretisierten In-der-Welt-sein selbst und damit um
das Dasein-können als In-der-Welt-sein.

IIJ
Nachdem Existenz, Faktizität, Erschlossenheit, Verfallen, Sorge, die
Grundbefindlichkeit der Angst als Anruf aus der Verfallenheit auf-
weisbar geworden sind, haben wir alle diese, die Uneigentlichkeit der
Existenz konstituierenden Momente wieder erkannt, - auch hier im
Dasein als Sein-zum-Ende. Es ist also an diesem »ausgezeichneten Be-
vorstand« des Sterben-Müssens besonder klar einzusehen, daß es dem
Dasein als Sein-zum-Ende »auch in der durchschnittlichen Alltäglich-
keit ständig um dieses eigenste ... Seinkönnen« geht (S. u. Z. S. 255).
Die durchgehende Strukturiertheit von Dasein als uneigentliches ist
wiederum in einer breiten Exemplifizierung an der Alltäglichkeit her-
ausgestellt (S. u. Z. §§ 5 I, 52). Die gleiche Strukturiertheit ist nun-
mehr noch für das Dasein als eigentliches Sein-zum-Ende aufzuzeigen.
Die Frage, die nun sich erhebt, ist: Gibt es auch eine Möglichkeit, ein
eigentliches Sein-zum-Tode ontologisch zu charakterisieren? Das Da-
sein in einem eigentlichen Sein-zum-Ende gilt Heidegger als ein »Sein
zu einer Möglichkeit« (S. u. Z. S. 26 I) und zwar als eine solche, die
>>Ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet
und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden« ( = exi-
stieren) muß. Das Sichverhalten zu dieser Möglichkeit kann weder als
ein Erwarten noch ein Verwirklichen-wollen bezeichnet werden. Aus
der Sorge-Struktur des Daseins, aus dem primären Sich-vorweg dieses
Sich-Haltens in einer Möglichkeit kennzeichnet Heidegger das Sein-
zum-Tode als »Vorlaufen in die Möglicbkeit«, »als die der Unmög-
lichkeit der Existenz überhaupt«. Der Tod »ist die Möglichkeit der
Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu ..., jedes Existierens« (S. u. Z.
S. 262). Im verstehenden Sein zu ihr erschließt sich »dem Dasein
eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Daseins schlechthin
geht« (S. u. Z. S. 263). Das Dasein ist im Sein-zum-Tode auf es selbst
vereinzelt. Diese Vereinzelung »macht offenbar, daß alles Sein bei dem
Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das
eigenste Seinkönnen geht«. Darum kann das Dasein »vorlaufend sich
je schon dem Man entreißen«. Das Freiheitsmoment in diesem Vor-
laufen und im Heidegger'schen Gebrauch der Wörter »Möglichkeit«,
»Ermöglid:mng« ist dabei auf das strengste festzuhalten. Aus diesem
Freiheitsmoment versteht sich der Satz: »Dasein kann nur dann eigent-
lich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht«.
Das als Erschlossenheit existierende Verstehen zu dieser Möglichkeit
eines »Noch-nicht«, im »Sich-vorweg« enthüllt sich als einzigartige
Möglichkeit, in der die »Unmöglichkeit der Existenz« überhaupt dem
Dasein gewiß wird und zwar unbestimmt wann, jedoch gerade in
dieser zeitlichen Unbestimmtheit unausweichlich deutlich (S. u. Z.

I 14
S. 262). Sowohl also das »Sich-vorweg« wie das »Noch-nicht« sind da-
mit konstitutiv für das Sein-zum-Ende. »Weil das Vorlaufen in die
unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit
erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorweg-
nehmens des ganzen Daseins, die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen
zu existieren« (S. u. Z. S. 264). Damit ist das Dasein in der vollen
Eigentlichkeit seiner Existenz bestimmt. Vom ganzen Umfang der
Existenzialität aus ist der Tod in das Dasein als in sein Existieren ein-
bezogen. Dieses Dasein ist sowohl im Modus der Eigentlichkeit wie im
Modus der Uneigentlichkeit als Ganzheit offenbar geworden - als
ontologische Möglichkeit. Im Eigentlichsein zu dieser Möglichkeit, als
Vorlaufen in diese Möglichkeit versteht sich das Dasein dahin, »daß
ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst auf-
zugeben«, gewiß zwar, aber unbestimmt wann. Dasein steht also in
einer ständigen Bedrohung. Als ausgezeichnete Gestimmtheit, die das
Verstehen seiner Situation mit sich führt, ist wieder die Grundbefind-
lichkeit der Angst erkannt worden; sie ist es, die das Dasein immer
wieder dahin zurückruft, diese äußerste Möglichkeit zu übernehmen.
Heidegger formuliert diese nSituation« zum eigensten eigentlichen
Sein-können als die nsich ängstende Freiheit zum Tode« (S. u. Z.
s. 266).
Am Schluß des ersten Kapitels des zweiten Abschnittes von »Sein und
Zeit« stellt Heidegger fest, daß »die ontologische Möglichkeit eines
existenziellen eigentlichen Seins zum Tode sichtbar gemacht« sei. Ist
damit ein eigentliches Ganzsein-können des Daseins schon gegeben?
Es hat sich erst in seiner ontologischen Möglichkeit angezeigt. Die
nun folgende Erforschung des Gewissensphänomens, der Nachweis
seines Ursprungs aus der Seinsverfassung des Daseins selbst (Exi-
stenzialität) mündet in die Feststellung, daß das Dasein auch von sich
selbst ein eigentliches Sein-können fordert. Der Denker, der zunächst
ontologisch ein mögliches Gewissen aufgewiesen hatte, es dann in den
ganzen Umkreis von Existenzialität (Zweites Kapitel des zweiten Ab-
schnitts) einzubauen versucht hat, hat damit die existenziale Struktur
des im Gewissen bezeugten eigentlichen Ganzsein-könnens erwiesen.
Er vernimmt nun im Gewissensruf aus dem Dasein selbst phänomeno-
logisch = existenziell bezeugt- die Forderung zum eigentlichen Ganz-
sein-können. Es wird zurückgegriffen auf die »Erschlossenheit« der
»Situation« und die aus dieser folgende »Entschlossenheit«; daraus
wird abgeleitet der existenziale Entwurf zum eigentlichen Ganz-sein-
können des Daseins; fest gegründet in allen seinen Prämissen und Fol-
gen ist es nun sichtbar geworden (Schluß des zweiten Kapitels).

115
Das Ganz-sein-können eines eigentlichen Daseins begriff Rilke im-
mer schon aus einer Sicht des Todes. Die Ganzheit von Leben und Tod
erst hieß ihm »Dasein« -und das meint bei ihm immer: eigentliches
Dasein. In der Eigentlichkeit seines Existierens hat es immer schon
den Tod mitumfaßt. Rilke lebte diese Eigentlichkeit. Aber für den
Denker kann dieses Ganzsein als Sein-zum-Ende erst dann als auf-
gewiesen gelten, wenn es gelingt, die existenzial gegründete Ent-
schlossenheit zum Eigentlich-sein »in ihrer eigensten existenziellen
Seinstendenz selbst« gerichtet zu sehen nauf die vorlaufende Ent-
schlossenheit als ihre eigenste eigentliche Möglichkeit« (S. u. Z. S. 302 ).
Vorlaufen und Entschlossenheit sind als in einander verschränkt auf-
zuweisen. Die Entschlossenheit wird erst dann zu dem, was sie wirk-
lich sein kann, wenn sie als verstehendes Sein-zum-Ende sich in das
Vorlaufen einrichtet. Darin liegt ein Zeitmoment; denn dieses ent-
schlossene Vorlaufen- einmodusder Sorge- gerichtet auf das »jetzt-
noch-nicht« eines »gewiß-Kommenden<<, mit dem dann das Ende »da<<
ist, muß ein ständiges sein. Es gelingt Heidegger in einer genau ins
Einzelne gehenden Schlußfolgerung, den Sinn von Sein, die Sorge, als
Zeitlichkeit freizulegen. »Phänomenal ursprünglich wird die Zeitlich-
keit erfahren am eigentlichen Ganzsein des Daseins, am Phänomen der
vorlaufenden Entschlossenheit<< (S. u. Z. S. 304).
Es ist geradezu erregend, alle diese einzelnen Momente, die Rilkes
Einsehen zu seiner Ganzheit von Leben und Tod = Dasein rein intui-
tiv zusammengebunden hat, im systematischen Denken Heideggers
wieder aufzufinden. Hier ist das eine jedes dieser Momente in das
andere eingegrenzt; im Aufeinander-zu und -zurück sich stützend ist
diese gesuchte Ganzheit ontologisch-existenzial gegründet und als
existenziell erfahrbar nachgewiesen.
Es liegt im Begriff einer existenzial-ontologischen Untersuchung,
daß in ihr dem Dasein nicht »ein inhaltliches Existenzideal vorzuhalten
und von außen aufzuzwingen<< ist. Und doch nliegt der durchgeführten
ontologischen Interpretation der Existenz von Dasein ... eine bestimm-
te ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal
des Daseins zu Grunde<< (S. u. Z. S. 3 10). Heidegger spricht diesen
Satz als Frage aus, um ihn tief heraus aus dem Quellgrunde seiner Be-
weisführung, dem vorontologischen Seinsverständnis, zu bejahen. In
der recht verstandenen Zirkelstruktur dieses Seinsverständnisses und
der aus diesem hergeleiteten Schlüsse sieht er nur eine positive Not-
wendigkeit. Auch die »Voraussetzungen« eines Denkens schweben
nicht irgendwie in der Luft; sie sind existenziell zu begreifen und onto-
logisch-existenzial einzubeziehen, um »in eins mit ihnen das, wofür sie

II6
Voraussetzungen sind, zu eindringlicher Entfaltung« zu bringen. Ein
ontisch-faktisches vom Selbst gefordertes Ganzsein-können muß sich
in das existenzial-ontologische Gerüst einbauen lassen, wenn das alles
nicht leere Spekulation bleiben soll.
Heidegger selbst deutet in einem kurzen Abschnite4 die Färbung
eines ontisch-faktischen Daseins an, das sich im Übernehmen des ge-
kennzeichneten existenzialen Entwurfes zur vorlaufenden Entschlos-
senheit bekennt. Aber er selbst sieht damit »die Grenzen, die der vor-
liegenden Interpretation durch ihr fundamentalontologisches Ziel ge-
setzt sind«, bereits überschritten. Zum Vorhaben unserer hiermit vor-
gelegten Arbeit jedoch ist aus diesem Zusammenhang heraus zu sagen:
Der Versuch, ein faktisch gelebtes und ein dichterisch gestaltetes Da-
sein, das in einer unmittelbar existenziell erfahrenen Ganzheit von Le-
ben und Tod sich gründet, in das existenzial-ontologische Gerüst des
Denkers einzufügen, muß damit in sich selbst als gerechtfertigt gelten.
Es ist ungemein aufschlußreich zu sehen, wie Rilke aus dem bohren-
den Einsehen-Wollen des Sinnes von Dasein die Frage nach dem Tod
in den Mittelpunkt seines Fragens stellt. Und zwar keineswegs geht es
ihm hierbei um ein Wissen wollen, was der Tod >an sich< oder das >Nach-
dem-Tode< sein mag: »Und was im Tod uns entfernt, I ist nicht ent-
schleiert«. Sondern um die Bedeutung des Todes für unser lebendes Da-
sein müht sich sein Fragen.
Diese unüberholbare Gewißheit des Sterben-Müssens- gewiß, aber
unbestimmt wann- wird in der Nach-Malte-Zeit für Rilke ganz ent-
schieden und bewußt zu einem entschlossen vorlaufenden Sein-zum-
Ende. Es steht genau in der Kennzeichnung Heideggers als der »Mög-
lichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, der
Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren« (S. u. Z. S. 264) und
zwar in der Weise, daß diese vorlaufende Entschlossenheit als »Frei-
heit zum Tode« nicht nur eine bestimmte Verhaltung des Daseins, son-
24 S. u. Z. S. 3 r o: »Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden, um

den Tod zu >Überwinden<, sondern das dem Gewissensruf folgende Verstehen, das
dem Tod die Möglichkeit freigibt, der Existenz des Daseins mächtig zu werden und
jede flüchtige Selbstverdeckung zu zerstreuen. Das als Sein zum Tode bestimmte Ge-
wissen-haben-wollen bedeutet auch keine weltflüchtige Abgeschiedenheit, sondern
bringt illusionslos in die Entschlossenheit des >Handelnsc. Die vorlaufende Entschlos-
senheit entstammt auch nicht einer die Existenz und ihre Möglichkeiten überfliegen-
den >idealistischen< Zumutung, sondern entspringt dem nüchternen Verstehen fakti-
scher Grundmöglichkeiten des Daseins. Mit der nüchternen Angst, die vor das ver-
einzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an dieser Möglichkeit zusam-
men. In ihr wird das Dasein frei von den >Zufälligkeiten< des Unterhaltenwerdens,
die sich die geschäftige Neugier primär aus den Weltbegebenheiten verschafft. Die
Analyse dieser Grundstimmungen überschreitet jedoch die Grenzen, die der vor-
liegenden Interpretation durch ihr fundamentalontologisches Ziel gezogen sind.cc

117
dern dieses in der vollen Eigentlichkeit der Existenz (S. u. Z. S. 265)
bestimmt. Das Dasein empfängt aus der Erschlossenheit seines eigen-
sten Seinkönnens in seinem Gewissen unmittelbare Impulse zum Eigent-
lichsein; es erschließt existenzielle Möglichkeiten dieses Eigentlichseins
direkt und fordert sie von sich im Übernehmen eines Schuldigseins.
Denn die Freiheit zum Vorlaufen ist keine nur gelegentliche Handlung,
sondern sie begreift- auch nach Rilke, sehr deutlich spricht er es immer
wieder aus - eine Verwandlung des ganzen Daseins in sich. In dieser
Freiheit versteht sich das Dasein gleichsam neu und in einer Umfassung
aller seiner Bezüge, die ohne dieses Vorlaufen nicht zu erreichen wäre.
Das Eigentlich-sein-zum Ende als eine Seinsweise begreift das Dasein
in seiner Ganzheit als endliches -und das in der ganzen Tragweite, die
dem Begriff Endlichkeit hier zukommt. Aus diesem Freisein für das
Sein zum Ende verstehen wir auch die vor dem Tode liegenden eigenen
existenziellen Möglichkeiten wie die im Mitsein mit Anderen erschlos-
senen fremden Möglichkeiten als endliche. So bestimmen auch die Ant-
worten, die Rilke findet, im einzelnen jedes Lebensproblem im Ganzen
die Sicht von der Stellung des Menschen im Seinszusammenhang.
Für die Formung der Einzelheit eines Lebensproblems aus dem im-
mer schon gelebten Sein zum Ende sei dieses eine Wort »Abschied«
heraufgerufen. Die unauswechselbare Färbung, die es in der dichteri-
schen Sprache und in den persönlichen Mitteilungen Rilkes annimmt,
entstammt einzig einem Existenzgefühl, das aus der »Vertraulichkeit
zum Tode« lebt (Br. 14/z1 S. 227). Dieses Dasein hat die «ständige
Bedrohung« (Heidegger) gleichsam eingeschmolzen in die nicht mehr
zu beschönigende Möglichkeit des Sterbenmüssens, die »als Möglich-
keit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit« auszuhalten
ist (S. u. Z .S. 261). Diese Haltung empfindet Rilke nicht nur als sein
rein privates Anliegen. Er sieht hier vielmehr eine Aufgabe, die zu lei-
sten er »schuldig« ist. Schon allein das Sich-Verstehen als sein in-diese-
Aufgabe-Gestellt-sein, beweist, wie sehr das von ihm gelebte Sein-
zum-Ende die volle Eigentlichkeit seiner Existenz in Anspruch genom-
men hat. Gegenüber »der allgemeinen Trübung und Unberatenheit des
Menschlichen« hat er noch »eine Aufgabe rein gestellt und unabhängig«
vor sich: »die Vertraulichkeit zum Tode aus den tiefsten Freuden und
Herrlichkeiten des Lebens heraus zu bestärken«. Es gilt, den Tod, »ihn,
der nie ein Fremder war, wieder als den verschwiegenen Mitwisser alles
Lebendigen kenntlicher und fühlbarer zu machen« (Br. 14/z 1, S. 2 2 7).
Mit diesem mahnenden Einsehen und ins-Wort-Fassen dient Rilke
der »Korrektur<<jener »alten Verdrängungen ..., die uns die Geheim-
nisse entrückt und nach und nach entfremdet haben, aus denen wir un-

118
endlich aus dem Vollen leben könnten(( (Br. Sizzo S. 40). Rilke spricht
dann weiter von der »Furchtbarkeit(( des Lebens- »nicht als Wider-
sacher«, sondern nur um fortzufahren: »Wie vermöchten wir ihr ge-
wachsen zu sein?«, wenn nicht »irgendwie in einem Vertrauen, daß
eben diese Furchtbarkeit ein ganz Unsriges sei, nur ein, vor der Hand,
für unsere lernenden Herzen noch zu Großes, zu Weites, zu Unumfaß-
liches ... , sowie wir, meine ich, seine schrecklichste Furchtbarkeit be-
jahen, auf die Gefahr hin, an ihr ( d. h. an unserem Zuviel!) zu Grunde
zu gehen -, erschließt sich uns eine Ahnung des Seligsten, das um die-
sen Preis unser ist« (Br. Sizzo, S. 41).
Heidegger spricht im Rückgriff auf die griechische Tragödie vom
»deinon« als dem Furchtbaren, dem Unheimlichen im Sinne des über-
wältigenden Waltens, das auch den Menschen durchwaltet und über-
wältigen kann. Der Mensch, durchwaltet von Gewalt, Gewalt erlei-
dend und selbst Gewalt brauchend, heißt »deinotaton« darum, weil er
in »der unheimlichen Zweideutigkeit« einer gegenwendigen Ausein-
andersetzung mit dem Geheimnis des Seins steht (EinführungS. I I4).
Aber am Tod, diesem unheimlich-Furchtbaren, scheitert alle »Gewalt-
tätigkeit«. »Dieses Un-heimliche, das schlechthin und zumal aus allem
Heimischen endgültig hinaussetzt, ist kein Sonderereignis, das unter
anderem auch genannt werden muß, weil es sich zuletzt auch einstellt.
Der Mensch ist ohne Ausweg dem Tod gegenüber nicht erst, wenn es
zum Sterben kommt, sondern ständig und wesenhaft« (Einführung
S. I 2 1). Nur in diesem wissenden Gegenüber zum Geheimnis gründet
der Mensch: »Da-sein ist die geschehende Un-heimlichkeit selbst« (Hei-
degger). Und das Kunstwerk ist nach dem Dichter und dem Denker die
ausgezeichnete Möglichkeit, Seiendes und Daseiendes (oder aber »Un-
seiendes«, Heidegger) bestätigt und zugänglich deutbar und verstehbar
werden zu lassen. Der Denker aber - hier über das schlichte Einsehen
des Dichters hinausgehend - gründet aus seinem Verständnis griechi-
schen Denkensund Dichtens das Kunstwerk in »das wissende Erkämp-
fen des vordem verschlossenen Seins in das Erscheinendecc (Einführung
S. 122), das als das so geschaffene Kunstwerk nun für uns zu einem
sichtbar-hörbaren >Seiendenc geworden ist.
Rilke lebte in diesem Geheimnis der Ganzheit von Leben und Tod.
In genau dem gleichen Sinn wie für Heidegger entspringt auch für
Rilke aus dem tiefen Wissen um unser Sein-zum-Ende: Freiheit. Das
»Freisein fürcc die vor dem Ende liegenden eigensten existenziellen
Möglichkeiten wird aus diesem Wissen gesteigert 25 • Das geht schon aus
einem Brief vom November I909 hervor (Br. o7h4, S. So). Zu einer
25 vgl. S. 1 29 f. dieser Arbeit.

II9
Zeit also, als noch die in den »Malte« eingestaltete Vorstellung vom
Tode als Kern einer Frucht aufrecht erhalten bleibt, obwohl sie inner-
lich für Rilke schon überholt war6 • Das Bewußtsein von der Zugehö-
rigkeit des Todes zum Dasein strahlt in der Folge immer mehr seine
formende Kraft über in das zu lebende Leben. Aus dieser Kraft werden
die Probleme gemeistert, die es uns stellt. Dieses gelebte Wissen läßt
eine neue Sicht auf unsere Aufgaben fallen: Abschied, Fortlassen, Auf-
geben, den geliebten Anderen nicht halten wollen um seiner Freiheit
willen. Heidegger sagt: »Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der
Tod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend
zu machen für das Seinkönnen der Anderen. Weil das Vorlaufen in die
unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit
erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorweg-
nehmens des ganzen Daseins, d. h. die Möglichkeit, als ganzes Seinkön-
nen zu existieren« (S. u. Z. S. 264).
So wie Rilke deutlich fühlt, daß er nur aus dieser Freiheit zum Tode
seine eigensten Aufgaben bewältigen kann, so steht dieses Gesetz für
ihn auch über jeder liebenden Beziehung zu Anderen. Es wurde als ein
solches erkannt im vorlaufenden Rücklaufen in das gelebte Leben:
»Unser Wesen geht immerfort zu Veränderungen über und ein.« Der
Tod ist eine solche Veränderung neben den anderen, immer schon im
Leben zu erleidenden und zu lebenden Veränderungen: »Und so wie
wir einander an einer bestimmten Stelle jenes auffallenden Wedlsels
ganz und gar lassen müssen, so müssen wir, streng genommen, einander
jeden Augenblick aufgeben und weiterlassen und nicht zurückhalten«
(Br. o7/r4, S. So). Deutlich ist hier aus dem Sein-zum-Ende die Ge-
wissensverpfiichtung und die Kraft gezogen, eines der schwierigsten
Probleme des Lebens zu meistern: die Forderungen, die aus der Frei-
heit des Anderen an unser Verzichten gestellt werden.
Die achte Elegie hingegen ist ganz erfüllt von jener Sicht auf den
Tod, die ihn nur als Grenze erlebt; sie verströmt sich noch einmal in der
widerstandslosen Klage über dieses Unfaßbare. Ihre letzten Verse spre-
chen, hier ohne Auftrieb zur Verwandlung, nur in sanft elegischem Ton
ein Lebensgefühl aus, das jede einzelne unserer Handlungen durch-
tränkt: »Wer hat uns also umgedreht, daß wir, I was wir auch tun, in
jener Haltung sind I von einem, welcher fortgeht? "\Vie er auf I dem
letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal I noch einmal zeigt, sich wendet,
anhält, weilt-, I so leben wir und nehmen immer Abschied.« -Das
XIII. Sonett an Orpheus (Zweiter Teil) hingegen meistert diese Situa-
26 Man vergleime dafür die beiden Requien, das eine für Paula Modersohn-Becker,

das andere für den Grafen Kalckreuth aasdem Jahre 1908.

!20
tion im entschlossenen Sein-zum-Ende. Bis in die Wortwahl hinein geht
die Parallelität zur Heidegger'schen Anschauung: »Sei allem Abschied
voran.« Das ist die Forderung zum Vorlaufen in den Tod. Er wird er-
kannt als die >>Bedingung« des Nichtseins, unter der unser Leben steht.
(Wir wiesen schon einmal daraufhin.) Die Bedingung, in der wir im-
mer schon sind, aus der wir allein dieses Leben leben können, indem
wir sie übernehmen. - Das Vorlaufen zum Tode im Bewußtsein der
Endlichkeit bestimmt nicht nur die Lösung der einzelnen Lebenspro-
bleme des vereinzelten Daseins; auch die Erkenntnis der metaphysi-
schen Stellung des Menschen ist von ihr getragen. Auf ihre Ausgestal-
tung in der siebenten und neunten Elegie wurde schon hingedeutet.
Es stellt sich nunmehr die Aufgabe, den Heidegger'schen und den
Rilke'schen Begriff von der »Ganzheit« des Daseins schärfer gegen ein-
ander abzugrenzen.
Das Nach-Denken der Heidegger'schen existenzial-ontologischen
Untersuchung zum Todesproblem mit dem Hinblick auf Rilke hat ge-
zeigt, daß die existenzielle Erfahrung eines Ganzseinkönnens ohne ein
ontologisches Fundament der tieferen Gründung entbehrt, so subjektiv
verbindlich dieses Ganzseinkönnen auch gemeint und vollzogen sein
mag. Ebenso bleibt die existenzial-ontologische Ableitung als solche
leer, wenn sie sich nicht im Bereich des Ontisch-Faktischen bewährt.
Das Anschauen von Rilkes faktischer Existenz hat den gelebten existen-
ziellen Gehalt zu den existenzial-ontologischen Strukturen als ihre
existenziellen Entsprechungen beigetragen; das wird auch weiterhin
geschehen. Denken wir alle diese Bezüge in ihrer wechselseitigen Durch-
dringung zusammen, so verstehen wir erst ganz, warum Heidegger
dem zweiten Kapitel in »Sein und Zeit« diese Überschrift geben konnte
und worauf sie hinauswill: »Die daseinsmäßige Bezeugung eines eigent-
lichen Seinkönnens und die Entschlossenheit«; der erste Paragraph ist
benannt: »Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen
Möglichkeit.« Das ganze Kapitel weist das Gewissensphänomen auf im
ontisch-faktischen Dasein. Es leitet nun aus ihm ein eigentliches exi-
stenzielles Seinkönnen her, gleichsam auf einem \Veg, der umgekehrt
liegt zur existenzial-ontologischen Ableitung. In seiner existenzial-onto-·
logischen Möglichkeit war er im vorhinein gegründet worden; dieser
wesenhafte Zusammenhang beider Ableitungen ist einzusehen; nur in
diesem Zusammenhang kann sich das Dasein in seiner Ganzheit ab-
zeichnen: einmal tatsächlich-ontisch einsehbar dem nicht besonders ge-
schulten Begreifen, zum Beispiel dem Aufnehmen von Dichtung; und
ein andermal für das nachdenkende Fragen, das in den Grund von Exi-
stenz einzudringen sucht.

121
Worauf es Rilke in seiner Konzeption der Ganzheit von Leben und
Tod ankommt, das ist immer wieder das Existieren in einem eigentli-
chen Dasein, das nur in dieser Ganzheit überhaupt ein eigentliches sein
kann. Rilke postuliert das Übernehmen der eigensten »wirklichen Auf-
gabe« aus einem »endlosen Bewußtsein der Ganzheit«; er postuliert
ferner, daß erst eine solche Existenz den Namen »Dasein« führen kann.
Es wird nun die Frage gestellt: Gibt Rilke in irgend einer zusam-
menhängenden Äußerung eine Gründung seiner Anschauung, auch
wenn diese Gründung nicht als eine solche im streng denkerischen Sinn
gewertet werden könnte. Oder haben wir seine Anschauung nur als
Postulate zu werten? So verbindlich sie auch gemeint sein mögen, so hät-
ten sie dann diese verbindende Kraft nur für seine eigene Person, oder
aber für andere Personen, dann nur aus der diesen Postulaten mögli-
cherweise innewohnenden Kraft zur Überredung. Des öfteren schon
wurden »die großen Fragedynastien« genannt. Der Brief, der von ih-
nen spricht, soll jetzt einer gründlichen Durchleuchtung unterzogen
werden (Br. 14fzi, S. 86 ff.). Können die Antworten, die Rilke findet
-immer in den Grenzen seiner unsystematischen Betrachtungsweise-
doch wenigstens den Versuch einer solchen Gründung erkennen lassen?
Das wäre dann erreicht, wenn unter den Antworten Rilkes »Struktu-
ren« sichtbar würden, die reibungslos einer ausdrücklichen existenzial-
ontologischen Untersuchung einzuordnen wären.
Zu den »großen Fragedynastien ---wer hat denn je geantwor-
tet?« gehört für Rilke die Frage nach dem Tod. »Die Elemente des Le-
bens sind uns völlig unfaßlich«, meint er. Wenn aber dem so ist, wenn
es erkannt ist, daß dem so ist, so erhebt sich dringlich diese eine Frage:
»Wie ist es möglich zu leben?« Diese Frage war das eigentliche Anlie-
gen des Malte-Buches. Die ontisch-faktische Tatsächlichkeit des Lebens
bedarf ja keines Beweises. Diese Frage nach der Möglichkeit fragt also
nach der Ermöglichung von Existenz. Sie fragt hier aus einem leiden-
den, von der Sinnlosigkeit des gemeinhin gelebten Lebens beleidigten,
ja verwundeten Gemüts. Diese Frage fragt nicht nach Strukturen, son-
dern ist primär bestimmt von den Gehalten, die ein geläufiges Bewußt-
sein den Worten »Gott, Liebe, Tod« gegeben hat. Das also muß fest-
gehalten werden: Diese Frage fragte nicht primär nach der existenzialen
Ermöglichung, sondern richtet ihren Blick auf die gelebten existenziel-
len Möglichkeiten. Sie haben sich diesem Blick enthüllt als eigentlich
>Unmögliche<; und doch bekundet sich gerade darin ein selbstverständ-
liches Wissen, daß dem Dasein = ln-der-Welt-sein ein Seinsverständ-
nis eignen müsse. Dieses Seinsverständnis fordert das alltäglich ontisch-
faktisch für »möglich«-Gehaltene vor sein Forum. Es wird gefragt aus

122
einer Verneinung der gängigen Lösungen heraus. Das heißt aber, daß
Dasein, sich transzendierend, eine mögliche Welt errichtet, die auch an-
ders sein kann, ja anders sein müßte als die abgelehnte gängige. Zu den
Bedingungen, die für die Errichtung der Welt unerläßlich sind, gehört
auch ein Sich-Verhalten zu dieser Dimension, die mit den Fragedyna-
stien ausdrücklich umschrieben ist. Diese stecken gleichsam den weite-
sten Umfang des Transzendierens ab; ihre wenn auch noch so unge-
fähre Beantwortung gehört in das Transzendieren mit hinein. Nun
wissen wir: Sein ist das transcendens schlechthin; das gilt auch und
besonders von Sein von Dasein. Der Sinn von Sein von Dasein aber ist
die Sorge. So müssen sich auch hinter den Möglichkeiten dieses Trans-
zendierens »aus« oder »mit<< diesen Fragedynastien Strukturen ab-
zeichnen, die in der »Sorge<< einen Zusammenhang erkennen lassen.
Man hat bei dieser Umkehrung der Rilke ursprünglichen Fragestellung
also von den Inhalten abzusehen. Im Rilke'schen Absprung von der
Negativität und der Negation hat man sich vor Augen zu halten: er
geht von einem Dasein in der Uneigentlichkeit aus, das er in seinem
ontischen So-sein und nicht primär nach seinen Strukturen betrachtet.
In den sehr wichtigen Äußerungen dieses Briefes wird also nicht die
»Existenzialität<< an sich offen gelegt. Aber doch geschieht die Frage-
stellung in der ausgesprochenen Absicht, über das Ontisch-Faktische
hinauszugelangen: »Wie ist es möglich zu leben?« Ganz selbstver-
ständlich steht unter dieser Frage die Annahme, daß ein notwendiger
Zusammenhang in den Voraussetzungen bestehen müsse, unter denen
Dasein existiert und zu existieren hat. Die weitere Annahme ist ge-
macht, daß dieser Zusammenhang in etwas gründet, das über das On-
tisch-Faktische und auch über das Nur-Psychologische hinausgeht.
Denn: Existenz kommt eben nicht ohne dieses Fragen vor, ob die In-
h alte dieser Fragen nun in der Position oder in der Negation stehen;
ob die Existenz sich zu ihnen in der Hinwendung oder in der Abwen-
dung verhält. Das schließt die unausdrücklich gebliebene Vorausset-
zung in sich: Dasein lebt also immer schon in einem Seinsverständnis,
mag man es auch von dem hier von Rilke bezogenen Standpunkt aus
als ein mißgeleitetes benennen müssen. Diese selbstverständlichen Vor-
aussetzungen, in denen Dasein lebt, werden nun gewissermaßen >em-
pirisch-geschichtlich< aufgewiesen. Existenz begründet sich im über-
stieg aus oder mit diesen Elementen und kommt auf sich zurück. Der
Zusammenhang wird zwar wiederum inhaltlich nur aus den Worten
»Gott, Liebe, Tod« der Fragedynastien hergeleitet. Jedoch ist mit dem
\Vort »Dynastie<< immer schon ein Strukturmoment- das der über-
und Unterordnung - mitgedacht. Die Elemente des Lebens sind für

123
den Aufbau des Rilke'schen Daseins unter sich so verschränkt wie Hei-
deggers formale Existenzialien zur Existenzialität. Dabei dringt Rilke
nicht zu der expliziten Erkenntnis vor, daß aus diesen Elementen,
inhaltlich als Gott, Liebe, Tod gedacht, diese Verschränkung als solche
gar nicht einzusehen ist. Das, was die Verschränkung ausmacht, ihre die
Konstituierung bewirkende Momente, kann nicht in ihrer Inhaltlich-
keit liegen. Das Gemeinsame von Heideggers Existenzialien und dem
Rilke'schen Moment der Notwendigkeit im Zusammenhalt der Ele-
mente ist die Sorge als der Sinn von Sein, der den »Bedeutungszu-
sammenhang« von Welt errichtet, ohne den das Dasein als In-der-
Welt-sein nicht sein kann. Auch Rilke weiß, daß wir in einer »gedeu-
teten Welt« leben (Erste Elegie). »Seit Jahrtausenden« gehen die
Menschen mit diesen »Elementen<< um; im Grunde aber ist alles beim
alten geblieben. Denn noch heute tun die Menschen es ebenso wie im-
mer: »neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede«. Diese
Aussage wird im Sinne von Kritik und Verwunderung gemacht. Aber
bei diesem geschichtlich-rückwärts und fragend in die Zukunft ge-
richteten Blick stößt Rilke doch auf etwas, was rein geschichtlich nicht
mehr ableitbar ist. Dieses »Etwas« reicht in den Grund der Existenz
hinab, so heute wie ehedem; es müßte also auch nach Rilke unter dem
Ontisch-Faktisch-Geschichtlichen aufweisbar sein. Mehr noch: ist es
vielleicht sogar konstituierend für das, was ontisch-faktisch begegnet?
»Schrecken« und »Ausrede« sind Aussagen, die das Nicht in sich ent-
halten. Es ist genau das, was Heidegger mit dem Ausdruck Sorge =
Sinn von Sein bezeichnet, die von Grund auf mit Nichtigkeit durch-
setzt ist. Der Schrecken gehört zur Angst, und die Ausrede ist nichts
anderes als die Flucht vor der Unheimlichkeit in die Beruhigungendes
M an. Der, der dem zusieht und es auch an sich selbst erfahren haben
mag, bekennt, daß er darüber zunächst »von größter Bestürzung und
dann von einer Art Grauen« erfaßt worden sei. Dieses Grauen erhebt
sich angesichts der Nichthaftigkeit dieser Lösungsversuche des Man
und macht für Rilke diese Lösungen persönlich zunichte. Jedoch der
Rilke dieses Briefes verharrt nicht in den nichtenden Erfahrungen:
»auch hinter dem Grauen ist etwas Nächstes und Übernächstes, etwas
so Intensives, daß ich mit dem Gefühl nicht zu entscheiden vermöchte,
ob es glühend oder eisig sei«. Der unmittelbare Fortgang des Briefes
läßt deutlich erkennen, daß das, was hier ''glühend oder eisig« genannt
wird, in einer Entsprechung steht zu dem ,,Negativ« der Einsichten
Maltes, »aus dessen Ausguß« »die positive Figur« zu gewinnen wäre 27 •
Negativ oder Positiv, das Glühende oder Eisige, ist hier noch unge-
27 vgl. S. 107 ff. dieser Arbeit.

124
schieden erfahren. Gefühlsmäßig, wenn auch noch nicht klar durch-
dacht, hängt es in der einander fordernden Gegensätzlichkeit in sich
zusammen: so wie aus »der hohlen Form, dessen alle Mulden und Ver-
tiefungen Schmerz sind, Trostlosigkeiten und weheste Einsicht, Glück,
Zustimmung, genaueste und sicherste Seligkeit« hervorgehen können.
So wird zugeordnet: Entbergung und Verbergung in der anfänglichen
Un-Wahrheit Heideggers, die als »Gegenwendigkeit« einander bedin-
gen; so wie das Sein selbst sich bekundet und verbirgt in der Offen-
heit des »Wesens« von Dasein; so wie die Offenheit des Seins gleicher-
maßen die Hineingehaltenheit in das Nichts bedeutet. Es ist bei Rilke
dieselbe Gegenwendigkeit im Sein und in der Existenz zu verstehen,
die auch Heidegger kennt. Es geschieht bei dem Dichter und bei dem
Denker aus dem Nichts der Angst und des Schreckens und der Unheim-
lichkeit der gleiche Anruf des Gewissens zu einer Leistung der Eigent-
lichkeit, die nur aus einer sehr verwandten Strukturiertheit von Dasein
zu verstehen ist; auch wenn diese Strukturen vom Dichter nicht in ihrer
klaren Ablösung aufgezeigt worden sind.
Das Hingeführtwerden durch das Nicht und das Nichts ist für Rilkes
Fragen nach dem Tod wegweisend. Der Tod ist, »in seiner Wirklich-
keit uns nicht erlebbar, uns immerfort überwissend, von uns nie recht
zugegeben« (Br. 14121, S. 89). Dies wird in ein paar Sätzen genau aus
dem gleichen Aspekt geschildert, unter dem Heidegger die Abdrän-
gung »dieser äußersten Möglichkeit der ExistenZ« in die ungefähren
Auskünfte des Man erörtert: der Tod, von uns so angesehen, daß er
»den Sinn des Lebens kränke<<, wird »ausgewiesen, hinausverlegt« in
ein außer uns. Um diesen Preis der Ausscheidung, die ganz klar als
Flucht begriffen wird, gehen wir ein in die fragwürdige >Beruhigung<
des Man. Der retrospektivische, quasi-geschichtliche Aspekt wird von
Rilke festgehalten: »Unser Leben (schien) menschlich zu werden«. Das
Ganze erweist sich als ein vorzeiten einmal unternommener Entwurf
zum Uneigentlichsein, unter dessen verhängnisvollen Folgen wir heute
noch stehen28• Die von Rilke dafür eingesetzten vVorte und Bilder er-
lauben diese Parallelisierung zur Heidegger'schen Terminologie: ein
»gewissermaßen für Anfänger eingerichteter Lebenskurs«, eine »Le-
bensvorklasse«, die »zwischen gelösten Aufgaben und nur eben vor-
läufig übersprungenen nie ganz strenge Unterschiede« gemacht hatte.
28 Wie genau kennt man aus Heideggers streng methodischer Beweisführung etwa

zu physis, Iogos, aletheia in seinermeta-physischen Frage nach dem seinsgeschichtlichen


Grund der Seinsvergessenheit, in der wir leben, eine ganz verwandte Betrachtungs-
weise: die Verdeckungen von etwas Ursprünglichem, Ursprunghaftern sind aufzuwei-
sen, um gewisse, sich als verhängnishaft auswirkende Fehlhaltungen und Fehlmeinun-
gen in der Frage nach dem Sein zu korrigieren.

125
Es herrscht hier also das gleiche Ungefähr wie im Man Heideggers.
Aber selbst »diese eingeschränkte Fassung« ergab keinen »geraden
und zuverlässigen Fortgang, sondern man lebte, wie es eben kam, von
wirklichen Erträgen und Fehlersummen«. Wie kamen die »Fehler-
summen« zustande? Die Menschen haben den Tod so angesehen, daß
er »den Sinn des Lebens kränke«, also nur in der Negation und nicht
im Aufruf zum Übernehmen dieser äußersten Möglichkeit des Sterben-
könnens. Und doch ist er das Leben »überholend von Anfang an« und
»uns wahrscheinlich so nahe, daß wir die Entfernung zwischen ihm
und der inneren Lebensmitte in uns gar nicht feststellen können«. Diese
beiden Halbsätze bekunden eine zweifache Parallele zu Heideggers
Grundgedanken. »Unser Leben überholend von Anfang an« könnte
geradezu als eine halbdichterische Paraphrasierung der Heidegger'-
sehen Geworfenheit aufgefaßt werden: Wie wir den gründenden An-
fang unserer Existenz nicht selbst gelegt haben, sondern das Grund-
sein aus diesem Nicht mit jedem Augenblick unserer Existenz zu über-
nehmen haben (Faktizität), so ist dieses »Überholtwerden« von An-
fang an etwas, was aus diesem von uns nicht gelegten Grund hervor-
und in ihn zurückgeht. Die »nicht ausmeßbare Entfernung« zwischen
dem Tod und unserer »inneren Lebensmitte« stellt das damit vor-
gegebene »Nichte< zu dem Sinn von Sein, aus dem unser Dasein diese
von Nichtheit durchsetzte Sorge ständig ist. Präzise geradezu im Sinne
einer Untersuchung über die Bedingungen der Möglichkeit einer Exi-
stenz in der Ausrichtung auf das Man, gelingt Rilke dann die Zu-
sammenfassung seiner oft schweifenden Betrachtungen zum Thema:
im »Ergebnis» dieses Entwurfes muß ein solches Seinkönnen als
»Grundfehler eben diejenige Bedingung hervortreten (lassen), auf
deren Voraussetzung dieser ganze Daseinsversuch aufgerichtet war«:
»der Tod warcc »aus jeder in Gebrauch genommenen Bedeutung ... ab-
gezogene<. Der Bedeutungszusammenhang >>ln-der-Welt-sein« aber
ist unteilbar. Dasein in seiner Ganzheit aufzuweisen, ist dann nicht
möglich, wenn man den Tod, der zur »innern Lebensmitte« gehört, zu
»etwas täglich Ferngehalteneremcc macht und somit im Entwurf eine
entscheidende Prämisse wegläßt, - eine Prämisse nicht nur des Den-
kens, sondern eine solche, mit der und aus der das Dasein ständig ist.
Der wichtigste Unterschied zur Heidegger'schen Betrachtung aber
ist der, daß Rilke wertet, -und zwar genau an dem, was in Heideggers
Sprache das Eigentlichseinkönnen zu nennen wäre. Dieser Wertung
liegt die beinah naive Vorstellung zu Grunde, im Laufe der Entwick-
lung hätte doch das alles allmählich anders werden können! Nur aus
einer Wertung heraus kann Rilke von >>Grundfehlern« sprechen. Hei-

126
degger (scheinbar) aber stellt nur fest und weist auf. Innerhalb seiner
rein existenzial-ontologischen Betrachtung kann ihm das Eigentlichsein
nur der eine Modus des Seinkönnens sein gegenüber dem andern, dem
U neigentlichsein. Soll die formale Struktur als eine durchgehende auf-
gewiesen werden, so müssen beide Modi als >gleichberechtigt< bezeich-
net werden, - wenn nicht schon dieses Wort allein von vornherein
einen unangemessenen Akzent in die Betrachtung hineintrüge. (Das
gilt, wohlverstanden, nur von dem Heidegger'schen Gesichtspunkt aus
gesehen, jedoch nicht von dem Rilke'schen.) Strukturen sind wertfrei;
sie sind rein als solche aufweisbar; ihre »Berechtigung« besteht einzig
darin, daß sie ihren Ort in einer wissenschaftlich-systematischen Unter-
suchung haben. Das Strukturganze liegt gleichsam unter seinen Modi
und ist eben nur dann ein Ganzes, wenn in und mit diesen Modi die
gleichen Strukturen zu tage treten, die den Funktionszusammenhang
ermöglichen. Dabei ist es unerheblich, wenn sie auch entgegengesetzte
Vorzeichen tragen. Diesen Blickpunkt stets festzuhalten, ist im übrigen
eine unerläßliche Voraussetzung, um Heidegger in dem zu verstehen,
was er mit dem Strukturganzen innerhalb seines Denkens zu erreichen
sucht. Die Sorge als Sinn von Sein des Daseins ist in ihrer reinen Mög-
lichkeit im Eigentlich- und im Uneigentlichsein dieselbe; sie ruht in
dem einen identischen Grund von Existenz. Denn immer geht es dem
Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst, sowohl im Modus der
Eigentlichkeit wie in dem der Uneigentlichkeit. Nun ist aber Rilke
alles andere als ein systematischer Denker. Sein Einsehen- wir stellten
es immer schon fest - ist kein theoretisches Erkennen-wollen, son-
dern stellt sich von vornherein in den Dienst einer, wenn auch zunächst
nur dunkel gefühlten mehr oder weniger inhaltlich vorbestimmten
Konzeption von Dasein. Gewiß hat diese Konzeption weiteste und
vage gelassene Ausmaße; sie schwingt in diesen »Möglichkeiten« und
stellt nicht einfach ein »inhaltliches Existenzideal« dar. Sie entspricht
in vielen Punkten dem, was an »Ermöglichungen« existenzieller Mög-
lichkeiten im Heidegger'schen Eigentlichsein vorgegeben ist; aber Hei-
degger hat diese letzteren auf dem methodischen Weg gewonnen, der
Rilke fremd ist.
Rilkes Konzeption weiß um diese Dimension, die Heidegger als die
des Heilen bezeichnet; diese ist es, die für das Rilke'sche »Dasein«
konstitutiv ist. Ganz und gar das, was von Rilke zur Durchleuchtung
der Uneigentlichkeit beigebracht wird, entspricht keiner systematischen
Bemühung; es erklärt sich auch nicht aus einer solchen. Das, was dabei
zu Tage gefördert wird, liegt vielmehr auf seinem Wege der Einsicht-
gewinnung in die Bedingungen der Möglichkeit von Eigentlichkeit.

153
Jene Einsichten stoßen sich zwar auch ab aus der Uneigentlich-
keit; aber diese hat bei Rilke die ausgesprochene Funktion der Ne-
gativität, die bei ihm der Uneigentlichkeit als solcher zukommt; sein
Einsehen will nur forträumen, was von der Uneigentlichkeit her das
eigentliche Ziel seiner Besinnung verstellt. In der Beunruhigung durch
das Nicht muß Rilke dieses Nicht immer wieder aufsuchen. Nur erst
sehr allmählich enthüllt sich ihm die positive Funktion des Nicht; wir
haben im einzelnen zugesehen, wie das während der Nach-Malte-Zeit
in einer immer wiederholten neuen Zuwendung zu diesem Buche ge-
schieht. Es werden noch Belege dafür beizubringen sein, daß Rilke
später dieses Nicht in seiner Gegenwendigkeit durch mannigfache Aus-
formungen hindurch ganz sicher in den Grund der Existenz einbezieht
und in dem Grund von Sein-überhaupt wieder erkennt. (Etwas Ähn-
liches geschieht bei Heidegger nach »Sein und Zeit«.) In einem Augen-
blick aber, in dem noch die Unklarheiten bei Rilke überwiegen, kann es
sein, daß er von »Grundfehlern« spricht. Solange werden alle Möglich-
keiten, die aus dem Nicht andrängen, überwiegend als »Verunmög-
lichungen« ins Auge gefaßt. »Le vent de dedain«, den seinerzeit Rodirr
um die Kathedrale von Chartres wehen fühlte, wird für Rilke erst viel
später in »la sainte loi du contraste« einbegriffen werden; der »ineffable
accord du neant et de l'etre« ist noch nicht erklungen.
Rilkes letzte grundsätzliche Zusammenfassung über die Ganzheit
von Leben und Tod im sogenannten Elegienbrief (Br. 21!26, S. 332 ff.)
läßt deutlich die Zielstrebigkeit erkennen, die seine Bemühungen ge-
führt hat. Den Elegien war es gelungen, ins dichterische Wort zu
fassen, was ihn mehr als ein Jahrzehnt bewegt hatte: »Die endgültige
Bejahung«. Um dieses Zieleswillen war »Lebens- und Todesbejahung
... als Eines<< zu erweisen und zwar, das ist entscheidend, »aus den
gleichen Gegebenheiten heraus«, aus denen im Malte »beinah der Be-
weis<< geführt worden war, »daß dieses so ins Bodenlose gehängte Le-
ben unmöglich sei <<. Damit ist ausdrücklich das Nicht in die Bejahung
hineingenommen und in der so oft wiederholten Rückschau auf den
»Malte<< der Absprung aus der Negativität nicht nur zugegeben, son-
dern gerechtfertigt. Schon im Brief aus dem Jahre I 9 I 5 suchte Rilke
ein »endloses Bewußtsein des Ganzen<< (die »Ganzheit von Leben und
Tod« ist das immer wiederkehrende Grundwort). Eine ähnliche For-
mulierung findet sich im Anschluß an das Wort von der endgültigen
Bejahung im Elegienbrief: »Wir müssen versuchen, das größeste Be-
wußtsein unseres Daseins zu leisten.« Diese Fassung ist gewiß sehr sub-
jektiv. Aber mit sich selbst bekundet sie doch die Ausformung einer
existenziellen Möglichkeit, die aus den ihr eigenen existenzialen Be-

I28
dingungen und Strukturen in »das mögliche Ganzsein des Daseins«
als »Sein zum Tode« (S. u. Z. S. 235) zu integrieren wäre. Denn unter
der spezifisch Rilke'schen existenziellen Ausformung sind die Struk-
turen deutlich faßbar und sehr oft auch als solche ausgesprochen, wenn
sie auch nicht denN amen tragen, der ihnen erst die explizit gewordene
begriffliche Unterscheidung verleihen konnte. Diese hier vollzogene
ausdrückliche Ablösung der strukturellen Grundlage von ihren Ge-
halten läßt jedenfalls den Bedingungscharakter diese Gehalte deut-
lich hervortreten. Wenn Heidegger »den existenzialen Entwurf eines
eigentlichen Seins zum Tode<< (S. u. Z. § 53) aus einer Analyse des
Daseins und zunächst in »prohibitiven Anweisungen<< aus dem un-
eigentlichen Sein zum Tode ableitet, so finden wir auch dieses Moment
wieder in Rilkes »Ergebnis<< (Br. 14/zi, S. 85 ff.) aus »wirklichen Er-
trägen und Fehlersummen«. Rilkes »Ausrede<< und »Schrecken<< ent-
sprechen Heideggers »Ausweichen«, »Verdecken<< und der »Unheim-
lichkeit«; das »Herausweisen« des Todes -dem »Umdeuten<<; »der
eingeschränkte Daseinsversuch« -dem »Entwurf aus der Verständig-
keit des Man«, auf welche hin ja die »Einschränkung<< erfolgt. Die »um
den Preis der Ausscheidung erreichte Leistbarkeit des Lebens als des
unsrigen« kräftigt sich aus der >>Beruhigung<< einer »alltäglich ab-
schwächenden Sicht des Todes«; und beides ist gewonnen aus dem
»Man« für das »Man-selbst<<. Im Brief erwähnte Rilke ausdrücklich
die Erzählung von Tolstoi »Der Tod des Iwan Iljitsch<<: »Dieser
Mensch hat an sich und an anderen viele Arten von Todesangst beob-
achtet ... und sein Verhältnis zum Tode wird bis zuletzt eine groß-
artig durchdrungene Angst gewesen sein, eine Fuge von Angst gleich-
sam ... <<. Heidegger sagt kurz und knapp: »Das Sein zum Tode ist
wesenhaft Angst« (S. u. Z. S. z66). In dem Abschnitt: »Das Sein zum
Tode und die Alltäglichkeit des Daseins<< zitiert Heidegger die gleiche
von Rilke hervorgehobene Erzählung Tolstois, »die das Phänomen
der Erschütterung und des Zusammenbruches der Beschwichtigung
dieses >man stirbt< darstellt«. Das >>man stirbt<< ist die von Heidegger
gebrauchte kurze Formel dafür, wie das Man-selbst im Sterben-Sehen
der Anderen auch noch das Man von dem diesen zugehörigen »Selbst«
( = Man-selbst) ablöst, um diesem anonymen Man den Tod zu über-
bürden und dadurch zu glauben, ihn vom >>Selbst<< ( = Man-selbst) eine
Weile noch fern gehalten zu haben.
Das Eigentlichsein steht zum Tode als Sein zu einer Möglichkeit.
Nicht ein >>Grübeln« über den Tod oder »ein gespanntes Erwarten«
seiner, sondern ein entschlossenes Verhalten als zu einer Möglichkeit
ist das Heidegger'sche >>Vorlaufen«. In diesem wird die >> Möglichkeit«

129
als solche »ausgebildet und ausgehalten«. Auch für Rilke liegt das Grü-
beln über den Tod, das sich Aufhalten bei gewissen Erscheinungsfor-
men des Todes um ihrer »Seltsamkeit« willendahinten (z. B. der Tod
von Kleist; Br. o7h4, S. 3 14). Vom Gesichtspunkt der Eigentlichkeit
wird das »Sich-Wehren« gegen seine Möglichkeit (Malte) abgewiesen.
Rilke hat den Tod tief zum Leben hinbezogen und zwar mit der aus-
drücklichen Begründung, daß er (Rilke) »langsam anfängt vom Schö-
nen einen Begriff zu haben und vom Großen« des Lebens, zu dem die
Möglichkeit des Sterbenkönnens gehört. »Der Tod ist die uns ab-
gekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens«, wird es einmal hei-
ßen (Br. zrlz6, S. 332). Nur weil er schon lange auf dieses Wissen
zulebt, konnte er sagen, daß ihn »der Tod bald nichts mehr angeht«
(Br. o7h4, S. 315),- nichts mehr angeht in eben diesem negativen
Sinne, der den Tod einstmals als »den Widerspruch, den Widersacher«
dieses Lebens ansah (Br. 14/zr, S. 89). Bei der Nachricht vom Tode
eines Freundes schreibt Rilke: »daß die Veränderung, die ihn uns ent-
zieht, in seinem (des Verstorbenen) wirksamen Wesen mit Sorgfalt
vorgesehen war ..., sein ausgelerntes Herz ... war die letzten Jahre
schon gleich stark, gleich furchtlos, mit dem ihm eigenen bescheidenen
Stolz im Leben wie im Tode beschäftigt«; der Verstorbene »reichte
gleichmäßig in das eine und andere hinein, seine Erfahrungen kehrten
nirgends um, erschraken nicht, horchten an keinen Türen ... « (Br.
o7/r4, S. 297). VVir erkennen im ersten Teil des Satzes Heideggers
»Ausbilden und Aushalten« einer Möglichkeit wieder, wodurch ein
existenzielles Ganzsein sich bezeugt. Ebenso wird im zweiten Teil des
Satzes das »Nicht der prohibitiven Anweisungen« Heideggers gerade-
zu illustriert. Es mutet an, als sei in die formale Struktur des Hei-
degger'schen Ausdrucks konkret anschaulich hineingetan: »kein Aus-
malen«, »keine Spannung der Erwartung«, kein Schrecken« vor der
Unheimlichkeit, »keine Abwendung« in die Flucht.
Das Heidegger'sche Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit
»ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei«
(S. u. Z. S. 282), -als solche, das heißt als die Möglichkeit eigent-
licher Existenz, auf die hin das Dasein in der Entschlossenheit sich ent-
wirft. Rilke spricht vom Seiben in einer sanfteren Tonart. Aber aus
seiner »Vertraulichkeit zum Tode« erwächst ihm das Gleiche: die Ent-
schlossenheit zur »wirklichen Aufgabe«. Alle Bitternis verwandelnd
ist er zu dieser Sicht gelangt. Eine dieser »Aufgaben« ist es, »die Ver-
traulichkeit zum Tode zu bestärken«. Und zwar ist das eine vorzüg-
liche Aufgabe; sie steht nicht nur neben der künstlerischen Leistung.
»Rein gestellt und unabhängig« ist sie vielmehr eine wesenhafte Vor-

IJO
aussetzung für diese künstlerische Leistung. Denn sie ist die konsti-
tuierende Grundlage für die Aussage »des Einen das not tut« im dich-
terischen Wort.
Wir fahren fort, den mannigfaltigen Ausdruck, den Rilke diesem
Bewußtsein des Ganzen gegeben hat, näher an Worte Heideggers
heranzutragen. Wenn wir dem einen oder anderen Ausdruck in an-
derem Zusammenhang schon begegnet sind, so war damit nur vor-
bereitet, was nunmehr hier ausdrücklich vollzogen wird. Mit Hilfe des
Heidegger'schen Wortes wird aus dem oft bildhaften Ausdruck Rilkes
die Herauslösung der existenzialen Struktur möglich, - aus dem ein-
zigen Grunde, weil sie diesem Ausdruck gleichsam vorgegeben ist.
Den Tod »aus den tiefsten Freuden und Herrlichkeiten des Lebens
begreifen«, heißt unter diesem Gesichtspunkt, das Existenzial »Ver-
stehen« aus der durchgehenden Strukturiertheit von Existenzialität
auch dafür fähig zu halten, »Ganzheit« zu erkennen. Wenn es gilt, den
Tod »als den verschwiegenen Mitwisser alles Lebendigen kenntlicher
und fühlbarer zu machen<<, so wird der Tod damit wieder zur »innern
Mitte<< hinbezogen, aus der wir existieren. Denn diese innere Mitte
konstituiert sich aus den »Bedingungen<< unserer Existenz als einer
Ganzheit. Zu ihnen gehört ontologisch der Tod und existenzial das
Sich-Verhalten zum Tod, auf die eine oder andere Weise unseres Exi-
stierens. Rilke weiß es auch, daß wir dem Tode »immer gleich nahe
sind«, und er selbst hält diese Nähe »ohne fühlbare Gegenwehr<< aus.
Denn »in Wirklichkeit sind wir ihm durch die bloße Tatsache des Le-
bens so nahe, daß wir ihm unter keinen Umständen, uns noch näher
annähern könnten<<. Heidegger zitiert im gleichen Zusammenhang aus
dem gleichen Aspekt in »Sein und Zeit<< (S. u. Z. S. 245) das Wort aus
dem Ackermann von Böhmen: »Sobald ein Mensch zum Leben kommt,
sogleich ist er alt genug zu sterben.<< Heidegger faßt dieses ontisch-
faktisch feststellende Wort in den existenzial-ontologischen Ausdruck:
»Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald
es ist.<<
Die Entschlossenheit in das Vorlaufen spricht Rilke aus als einen ei-
gensten Besitz. Es wird sehr deutlich in den Worten, mit denen er das
eine von den »zwei innersten Erlebnissen<< kennzeichnet, die »für die
Hervorbringung<< der Elegien und Sonette »entscheidend<< waren: es ist
das »der im Gemüt mehr und mehr erwachsene Entschluß (hier ge-
sperrt), das Leben gegen den Tod hin offen zu halten<< (Br. 2 r/z6,
S. 220). Das eigene Leben »offen halten<< auf etwas hin, auf das man
auch ohne sein Zutun hingehen muß, ist genau ein Ausbilden und Aus-
halten einer Möglichkeit, in deren unabdingbarer Gewißheit das Da-

13 I
sein existiert, ohne doch zu wissen, wann diese Möglichkeit faktisch
wird. Das gerade meint »das Aushalten« einer Möglichkeit als Mög-
lichkeit. Dieses Offenhalten hat aber noch den andern Sinn, daß von
dem her, auf-das-zu man »offen« hält, Einflüsse, in das
Offenhaltende zurückströmen: »Und selbst Leben und Tod! Wie
offen die Wege von einem zum anderen für uns ... « (Br. 2 r/z6, S. 47).
Für Heidegger ist das »Sein zum Ende eine Weise zu sein«. In der
Übersetzung in die Rilke'sche Sprache heißt das: »Zeit und Alter sind
mir immer weniger geworden, Gott, wenn ich bedenke, wie flutets
herüber über die Ränder der Kindheit-, und kann ich behaupten, daß
meine Jugend je irgendwann zu Ende war?« Verwandlung ist ge-
schehen in dieserneuen Weise zu sein. Im Rilke'schen Wort von der
»Offenheit« der Wege vom Leben zum Tod steckt beides: die Offenbar-
keit als existenziale Erschlossenheit und die Weise zu sein, die existen-
ziell sich konkretisiert in der Erfahrung, daß Grenzen niedergelegt
wurden. Das »Herüberfluten« und sich Überfluten-lassen von Ver-
gangenem und Künftigem geschieht über die »offenen Wege von einem
zum andern«. Es zeitigt die Entschlossenheit, sich durch diese neuen
Maße der Zeit gegenüber den geläufigen der drei Modi zu verwan-
deln.
Das Offenhalten für die letzte unüberholbare Möglichkeit hat
»Vereinzelung« der Existenz dem eigenen Tod gegenüber: »Der Tod
ist eigenste Möglichkeit des Daseins ... er beansprucht dieses als ein-
zelnes« (S. u. Z. S. 263). Indem der Tod den unvertretbaren Einzelnen
als Einzelnen beansprucht, ist dieser vom Man-selbst gelöst und frei
geworden für das eigene Selbst. Er gewinnt vom Ende zurücklaufend
die gestaltgebende, freimachende Kraft für die Bewältigung der eigen-
sten Möglichkeiten: »Das Dasein ist im Vorlaufen auf den Tod ver-
einzelt; und diese Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des >Da<
für die Existenz.« Dieses >Da<, existenzial als Erschlossenheit gefaßt,
wird in der Entschlossenheit existenziell zu dem, was durch die Er-
schlossenheit erschlossen worden ist. Das gilt gerade auch gegenüber
den eigensten eigentlichen Aufgaben des Lebens, die vor der letzten
Möglichkeit des Sterbenkönnens liegen. Rilke weiß es, daß unsere
eigensten eigentlichen Möglichkeiten »völlig allein, als von einem un-
endlich Einzelnen (fast Einzigen) .. . empfangen, ertragen und bewäl-
tigt sein müssen«. Es ist »die Stunde des Sterbens, die diese Einsicht
einem jeden bringt« (Br. o7/ r4, S. So). Vorlaufend in sie und von ihr
zurückkommend, ist dieses Wissen in die Existenz übernommen und
konstituierend für sie geworden. - Das Vorlaufen befreit nicht nur
sich selbst für die Eigentlichkeit seiner eigentlichen Aufgaben, sondern

132
macht auch frei für die Erkenntnis jener Aufgaben, die die Anderen
zu leisten haben, denen der Einzelne im Mitsein mit Anderen verbun-
den ist. Das »Freisein für« gilt nicht nur dem Einzelnen; es schließt eine
Freiheit für die Freiheit der Anderen ein. Mitsein ist also nicht die
Addition einer Zahl mehr oder weniger unverbundener Individuen.
Das Mitsein enthüllt sich unter diesem Aspekt vielmehr als in die Exi-
stenzialität-überhaupt verschränkt. Das Freisein der einen Existenz,
indem sie sich als freie konstituiert, ist die ermöglichende Bedingung
für die Freiheit der Anderen. Das Selbst wird frei für es selbst, aber
auch zugunsten der Anderen. Nicht nur gewährt es die Freiheit, ein
Seiendes sein zu lassen, wie es an ihm selbst ist. Es verschenkt die eben-
so wichtige Freiheit, ein anderes Daseiendes sein zu lassen für die Mög-
lichkeiten, die diesem fremden Selbst eigentlich zugehören. »Als un-
bezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um als unüber-
holbar das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Sein-
können der Anderen« (S. u. i. S. 264). Die ungemein gesteigerte
Empfindlichkeit für die Freiheit der ihm liebend verbundenen Men-
schen zugunsten der diesen zugehörigen eigensten Aufgaben durch-
zieht Rilkes ganzes Leben, genau so wie der oft genug tragisch sich
auswirkende Anspruch insbesondere an die ihn liebenden Frauen, daß
ihm selbst die gleiche Freiheit gewährt werden möge. Aus dem schon
zitierten Brief war zu erkennen, wie Rilke dieses »Weiter-
lassen« aus den Tiefen unserer Existenz herleitet, die vom Wissen
um den Tod bestimmt schon immer im Vorlaufen in jede Art »Ab-
schied« geprägt ist. Aber noch in anderer Weise wird vom Tode her
unser Mitsein geformt. Die Aufgaben, die der vor uns Dahingegangene
nicht mehr erfüllen konnte, fallen an uns als die Überlebenden. Das
Verbundensein im Mitsein geht von der Ganzheit von Leben und Tod
her gesehen auch noch über das Hinscheiden hinaus und schlägt ins
Leben zurück. Rilke sagt, daß er an vielen nahen Todeserfahrungen
lernen mußte, die Aufgaben um sich herum »vermehrt« zu finden
(Br. o7/x4, S. 57). Das ist im Munde Rilkes kein gedanklicher Rück-
schluß, der Vorsätze auslöst, sondern ein Ausdruck der verwandelnden
Kraft aus einem eigentlichen Sein-zum-Ende. Das Vorlaufen erschließt
die eigensten existenziellen Möglichkeiten, - vom Ende her als end-
liche. Nur so kann die eigenste unüberholbare Möglichkeit steigernde
Kraft haben und uns im Bewußtsein unserer eigenen Endlichkeit
»gleichmäßiger und tiefer ins Leben« hineindrücken. Es ist die End-
lichkeit selbst, die »die äußersten Verpflichtungen auf die langsam
wachsenden Kräfte« legt.

133
Die Sonette des Orpheus

Am ersten Abend des bedeutungsvollen Jahres 19 2 2 las Rilke die


Aufzeichnungen der Frau Oukama Knoop über das Leiden und Ster-
ben ihrer Tochter Wera, eines sehr jung verstorbenen Mädchens. Die
wenige Tage später geschaffenen ))Sonette an Orpheus« wurden ihr
als Totenmal errichtet. Entstehung und Gehalt dieser Dichtung sind
in sich eine überzeugende Bestätigung dafür, daß Rilke seine Einsichten
über die Ganzheit von Leben und Tod, über das llÜffenhalten« des
Lebens hin zum Tode auch wirklich gelebt hat. Es könnte darüber der
Heidegger'sche kurze und knappe Satz stehen: ))Das Sein-zum-Ende
ist eine Weise zu sein.« Die Dichtung ist hervorgegangen aus einem
einzigen auf das tiefste erfühlten Bewußtsein von dieser Ganzheit, in
die wir aus einer Verwandlung von Flüchtigkeit und Grenze eintreten
können. Das bleibt hier nicht nur eine allgemeine Erkenntnis. In den
Versen sind die Grenzen niedergelegt zwischen einer Verstorbenen
und ihrem Dichter, zwischen einem jahrtausende alten Mythos und
der Gegenwart. Diese Dichtung ist entstanden aus der ))äußersten Ver-
pflichtung«, die von jenseits des Todes durch die Gestalt der Ver-
storbenen ))sich auf die langsam wachsenden Kräfte« Rilkes legte und
diese Kräfte zum Schöpferischen befreite. In den letzten Jahren war
Rilkes Sinnen damit beschäftigt, die Ganzheit von Leben und Tod
ins gültige Wort der Dichtung zu fassen. Die Lektüre der Aufzeich-
nungen von Weras Mutter erschütterten ihn in einer Weise, die über
eine intensivste Teilnahme am Geschick der Freunde und ihrer Tochter
hinausging. Sie reicht tief hinab in den eigenen Grund der Existenz;
denn sie berührte unmittelbar das, worum Rilkes Einsichtgewinnung
unablässig rang: die Anschauung der gelebten Ganzheit von Leben und
Tod. In Wera war sie Rilke geschenkt worden. Ein Wesen in seinem
)) einigen Einssein ihres, allem erschlossenen Herzens mit dieser Einheit
der seienden und währenden Welt«, ein Wesen, dem das härteste Lei-
den nicht ))diese Zusage ans Leben« erschüttern konnte, enthüllte sich
ihm. Er findet es >> in dieses bis ins Letzte fähigen Hineingehörigen ins
Hiesige ..., ins Ganze, in ein viel mehr als Hiesiges« eingelassen. Rilke
bedurfte, so scheint es, der Begegnung mit einer anschaubaren Gestalt,
die gelebt hatte, was Rilke bisher nur denken konnte. Die Frucht seines
jahrzehntelangen Einsehens ins dichterische Wort zu überführen, es in
der Dichtung zur bleibenden Gestalt zu erheben,- das war die ))Er-
möglichung« seiner selbst, die er aus der Lektüre gewann. Ein lebendi-

134
ger Anstoß, aus dem Tode eines verstorbenen Mädchens herüberkom-
mend, hatte ihn aus der Erstarrung der angesammelten und in ihm ein-
geschlossenen Einsichten befreit: Verwandlung! Er hat es nach dem
Lesen der Aufzeichnungen als eine Verheißung gespürt. Nur so läßt
sich der schwere Ernst begreifen, der mit dem Ietzen Absatz des Briefes
an die Mutter ein Zukunft-Werden-Wollendes ins Auge faßt. In tiefer
Ergriffenheit fühlte er, daß es nahe am Kommen war: in enger Ver-
schränkung zu einander entstanden in wenigen Wochen die Vollen-
dung der Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus. Rilke schreibt:
))Mir ists wie eine ungeheure Verpflichtung zu meinem Innersten und
Ernstesten und (wenn ichs auch nur von fern erreiche) Seligsten ge-
wesen, daß ich am ersten Abend des neuen Jahres diese Blätter in Be-
sitz habe nehmen dürfen« (Br. 2I!26, S. 83).
Wir beschließen mit einer Erinnerung an ein Problem Heideggers
diesen Abschnitt über den Tod bei Heidegger und Rilke, indem wir das
Ende an den Anfang knüpfen. Heidegger hatte im ersten Kapitel des
zweiten Abschnitts von ))Sein und Zeit« lldas mögliche Ganzsein des
Daseins und das Sein zum Tode« aufgewiesen; gegen Ende stellte er
fest (S. u. Z. S. z66): )) Und trotzdem bleibt doch dieses existenzial
>mögliche( Sein zum Tode existenziell eine phantastische Zumutung«,-
solange nicht die Frage beantwortet ist: >>Wirft sich das Dasein je fak-
tisch in ein solches Sein zum Tode?(( Wir zeigten auf, wie Hei-
degger selbst diese Frage beantwortet; unsererseits brachten wir
zu dieser seiner Antwort faktisch-ontische Entsprechungen aus dem
Dasein und Werk Rilkes und schließlich aus Leben und Sterben Weras
bei. Diese ruhten auf existenziell gewonnenen Einsichten Rilkes; wir
konnten sie auf ihre existenzial-ontologische Strukturen zurückführen.
Dabei erkannten wir die nächste Nähe dieser Strukturen zur Existen-
zialität Heideggers. Wir stellten das Verhältnis Rilkes zu den Aufzeich-
nungen über Weras Leiden und Sterben und die Beziehung dieser Auf-
zeichnungen in den Bezug zu den immer schon gehegten Einsichten Ril-
kes. Die Bezogenheit beider Punkte auf die ))Sonette an Orpheus(( stellt
die Frage der ))phantastischen Zumutung« noch einmal neu. Das Sein-
zum-Tode Rilkes beantwortet mit der Dichtung und ihrem aufgewie-
senen Zusammenhang zur Existenz des Dichters diese Heidegger'sche
Frage im Sinne einer Bejahung. Und zwar geschieht das nicht nur ex-
istenzial-ontologisch, sondern von vornherein in phänomenologischer
Aufweisung vom Boden eines gelebten Daseins, durch das die existen-
zial-ontologische Strukturiertheit hindurchleuchtet. Rilke hatte dieses
llGanzsein(( ein halbes Leben hindurch in seinem Einsehen immer wie-
der bewegt; das ))Ende(( dieses llGanzseins« stand noch aus. Das voll-

135
endete Dasein Weras hatte auch dieses »Ende« faktisch gelebt; es ging
in das Sein-zum-Ende Rilkes ein. Alle diese Bezüge sind in den »Sonet-
ten an Orpheus« zur vollkommenen Ganzheit einer anschaubaren Ge-
stalt zusammengeschlossen.

ERMÖGLICHEN· VERWANDELN
DAS NICHT UND DAS NICHTS

»Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich


von ihm selbst her dazu ermöglicht« (S. u. Z. S. 263). Für das
Sich-von-ihm-selbst-her-dazu-Ermöglichen ist aus der Rilke'schen
Sprache der Begriff des Verwandeins einzusetzen. Jedoch wird sich im
Zuge dieser Parallelisierung sehr bald herausstellen, daß dem Grenzen
gezogen sind. Sie liegen genau da, wo aus den Strukturen des Rilkc'
sehen Begriffes von Existenz sich die ganz eigenständige metaphysische
Sicht Rilkes erhebt. Vorerst aber kann festgehalten werden: in Rilkes
Verwandeln ist das gleiche Moment der Freiheit einbeschlossen wie in
Heideggers Ermöglichen. In beiden Begriffen ist das gleiche Offensein
des Transzendierens und zwar in seiner ganzen Reichweite nachweis-
bar. Sowohl von Heidegger als auch von Rilke gesehen, schließen diese
beiden Momente aus, dem Dasein ein »inhaltliches Existenzideal vor-
zuhalten«. Es wird ihm vielmehr vom Denker wie vom Dichter die
Freiheit in dem ganzen Umfange der eigentlichen existenziellen Mög-
lichkeiten angeboten.
Heidegger hat einen ungeläufigen Begriff des Transzendierens ge-
prägt; er kommt zunächst zum Ausdruck in seinem Synonym für Da-
sein = ln-der-Welt-sein. Dasein übersteigt sich immer schon auf >Welt<,
die unabtrennbar ihm zugehört. Da, wo Rilke und Heidegger von Da-
sein oder Existenz sprechen, ist dieses Transzendieren immer schon mit-
gesetzt. Worauf jedoch hier Wert gelegt wird, ist etwas Weitergehen-
des. Von vornherein liegt im Rilke'schen Begriff des Verwandeins jener
intensive Bezug zu dem äußersten Umfang des Transzendierens. N atür-
lich kennt den auch Heidegger; es wurde wiederholt auf seine eigene
Hinweisung zu diesem Punkt aufmerksam gemacht: >Welt< in »ln-der-
Welt-sein« bedeutet nicht eine Ansammlung von Zuhandenern oder
Vorhandenem. >Welt< mitumfaßt vielmehr auch alle weiteren gestalt-
haften Bezüge, in denen das menschliche Dasein steht. Aber dieser wei-
teste Bezug ist wenigstens für »Sein und Zeit« 29 nicht absolut untrenn-
bar von der Heidegger'schen Ermöglichung, während er zum Verwan-

IJ6
dein Rilkes unablösbar zugehört. Da, wo Rilke'sche Begriff voll
ausgebildet ist, eignet ihm die Bezogenheit auf diese Dimension, die
Heidegger als die des Heilen bezeichnet. (Er spricht von dieser Dimen-
sion in einem anderen Zusammenhang und nicht im ausdrücklichen Be-
zug auf Ermöglichung.) Rilke hingegen sagt: ''Denn da ich mich, von
Dingen und Tieren gründlich herkommend, danach sehnte, im Mensch-
lichen ausgebildet zu sein, da wurde mir, siehe, das übernächste, das
Engelische beigebracht, und darum habe ich die Leute übersprungen und
schaue zu ihnen zurück mit Herzlichkeit« (Br. o7h4, S. 275). »Das
Engelische« Rilkes steht für den Begriff des »Heilen« und des »Heili-
gen« bei Heidegger. Es ist gerade dieses Zurückschauen auf das nur-
Menschliche, nachdem das Engelische erschaut worden war, was das
Rilke'sche Verwandeln kennzeichnet - sei es, daß diese Erfahrungen
dem innerstenmenschlichen Dasein anzuverwandeln wären, sei es, daß
sie, dieses übersteigend, in ein nach außen zu entlassendes Kunst-Ding
zu verwandeln wären. ZweieinhalbJahre später nach diesem im März
I 9 I 3 geschriebenen Brief heißt es in Bezug auf seine eigentliche Kunst
schon ganz entschieden: »Diese, nicht mehr von Menschen aus, sondern
im Engel geschaute Welt, ist vielleicht meine wirkliche Aufgabe, wenig-
stens kämen in ihr alle meine früheren Versuche zusammen<< (Br. I4/2I,
S. 8o). Dieses Zurückschauen vom »Engelischen<<, dieses Zurückkom-
men aus dem Unendlichen von »hinter den Dingen<<, dieses Erschauen
im Engel als ein Erschauen und Gestalten auf das Heile zu leitet die
Ausrichtung des Verwandelns; sie ist also zielhaft bestimmt.
Da, wo dieser Begriff sich zu seinem spezifischen Gehalt zu festigen
beginnt, wird sehr deutlich, daß er seinen Absprung aus der Negativi-
tät nimmt. Auch da, wo zunächst der Gesichtspunkt des eigenen ge-
hemmten Produzierens vorwaltet und von »verwandeln<< in einem en-
geren Sinn, also von »umsetzen«, von »verwirklichen« gesprochen
wird, ist die Bedrängnis durch das nur-Erlebte, das nicht-Bewältigte,
das >>Unverwandelt<<-Bleibende als ein störend-Negatives empfunden.
Für dieses Rilke'sche Grundwort ist in einer nachdrücklichen Weise
konstituierend: Überwindung des flüchtig-Vorübereilenden durch das
Hineinretten in das Dauern der Gestalt. Die zunächst negative Färbung
des jeweiligen Inhaltes des zu Verwandelnden ebenso wie die positive
Färbung des Verwandelten nimmt vom Nicht den Ausgangspunkt. Der
Weg ist bestimmt von der Negierung eines Nichthaften. Schon damit

29 Es sei hier nur angemerkt, daß der Heidegger'sche Begriff des Transzendierens

einen großen Spielraum hat; er steht im weiteren Verlauf seines Werkes unter den
Aspekten der jeweils heraufgerufenen Zusammenhänge; darauf kann hier nicht näher
eingegangen werden.

137
geht der Begriff des Verwandeins über Heideggers Ermöglichung hin-
aus. Zwar, auch diese kann abspringen vom Nicht (Angst, Schuldig-
sein); zwar ist auch sie »durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt«
(Sorge, Rückruf vom Verfallen) -aber die durch sie ermöglichte Mög-
lichkeit ist ihrem Inhalte nach gegenüber dem Nicht neutral.
Es ist zusammenzufassen: Einerseits ist der Begriff des Verwandeins
in seiner Strukturiertheit von Heideggers Ermöglichung aus zu ver-
stehen und läßt sich von da aus in die Grundstruktur von Dasein ein-
fügen. Andererseits aber, voll ausgebildet, sprengt er diese reine Er-
möglichung, so wie »Sein und Zeit« sie vermittelt hat. Das Verwandeln
leitet in sich selbst unmittelbar hinüber in Rilkes Konzeption vom me-
taphysischen Ort des menschlichen Daseins. Gerade das ist es, was Hei-
deggers Existenzialität ihrem Begriff wie der immanenten fundamen-
tal-ontologischen Zielsetzung nach durchaus vermeiden will. Eindring-
lich wird der Unterschied da, wo dieses Grundwort als Innen-verwan-
deln die Ausgestaltung der Elegien und Sonette bestimmt. Hier erst
enthüllt sich ganz seine immanente Zielhaftigkeit und damit die >meta-
physische< Perspektive, in der das Verwandeln immer schon, mehr oder
weniger deutlich, steht. Dieser Zusammenhang ist mit den anderen
beiden Grundworten Rilkes: »Unsichtbares«, »Weltinnenraum« vor-
erst zu umschreiben. Auch diese Worte verstehen sich nur aus einer
Gegenwendung zu einem Nicht; und diese Gegenwendung wird gleich-
sam erzwungen in einem bestimmten Augenblick der Zeit. Das Dahin-
schwinden der »äußern Gestalt« ist für die Heutigen das seinsgeschicht-
liche Schicksal. Die Worte enthalten in sich selbst den ihnen notwendi-
gen Bezug zu einem bestimmten Moment der Zeit: »Immer geringer
schwindet das Außen.« Dieser Moment als solcher ist bestimmt vom
Nicht; der so bestimmte Augenblick ist der zeitgenössische. Und die
zitierten Grundworte Rilkes enthalten die Antwort des Daseins auf
diesen Augenblick, auf den Anspruch, den dieser Augenblick als seine
seinsgeschichtliche Forderung an uns stellt. Diese Antwort ist gefunden
in der Entschlossenheit zu einer Verwandlung des nichthaften Momen-
tes. Angesprochen vom Augenblick ent-spricht das Dasein: hörend auf
diesen Augenblick, gehorcht es, wenn es sich selbst in diesem Augen-
blick als angesprochen »versteht«. Das» Verstehen« geschieht aus Seins-
verständnis, also aus der Bezogenheit des Seins von Dasein zu Sein
überhaupt- und das heißt hier auch: zu Zeit = Geschichte.
In den Schriften nach »Sein und Zeit«, insbesondere im »Brief über
den Humanismus«, in der »Einführung in die Metaphysik«, im »Ur-
sprung des Kunstwerkes« und in verschiedenen Vorträgen und Auf-
sätzen geht Heidegger zwar nicht ausdrücklich über seinen Begriff von

153
Existenzialität als solchen hinaus; aber er erweitert den Umfang der
Bezüge, in denen Dasein steht, und füllt sie in gewisser Weise mit In-
halt. Er fügt jedoch diesen erweiterten Umfang nicht systematisch in
die Ableitungen zur Existenzialität von »Sein und Zeit« ein.
Wir müssen nun ein erregendes Ergebnis der Gegenüberstellung von
Ermöglichen - Verwandeln verzeichnen: Das Heidegger/Rilke'sche
Ermöglichen- Verwandeln, rein formal-existenzial gesehen, ermög-
licht eine konkrete existenzielle Möglichkeit. Einmal holt die Rilke-
sche Weltsicht ihre Gehalte aus den Tiefen der menschlichen Existenz
herauf; ein andermal geht Heidegger selbst nach der »Kehre« nicht
mehr auf dem Wege von »Sein und Zeit« weiter, also vom Dasein aus
nach Sein-überhaupt fragend; sondern er fragt nun vom Sein aus nach
dem Sein von Dasein. (An dieser Tatsache hat sich die bekannte heftige
Kritik entzündet.) Aber damit ist die Grundlage der Daseins-Analytik
von »Sein und Zeit« und der Begriff der Existenzialität keineswegs auf-
gegeben. Jedoch ist es bisher unterblieben, diese Existenzialität aus-
drücklich einzustimmen in den erweiterten Umfang des Fragens.
Das, was in diesem kurzen Aufriß vorweggenommen und zusam-
menfassend ausgesprochen wurde, ist jetzt nachzuweisen; es hat das in
einer gewissen Ausführlichkeit zu geschehen.
In der Rodin-Zeit Rilkes kommt zunächst das Wort Verwandeln
kaum vor. Hier wird seine schlichteste und später noch gelegentlich ge-
nutzte Bedeutung durch das Wort »umsetzen<< vertreten: ein Umsetzen
von »Erlebnissen« mit dem Ausdrucksmittel der Kunst, das man »sich
entdeckt hat« (zum Beispiel le modele in Bezug auf die Rodin'sche
Kunst). Unter dem Eindruck der gewaltigen Persönlichkeit des Bild-
hauers, der in einem hand-werklichen Tun eine anschaubare Realität
erschafft, wird dieses »Umsetzen« auch »Verwirklichen« genannt. Je-
doch schwingt schon sehr bald in diesem Wort jenes hintergründige
Moment mit, das aus Rilkes Grundüberzeugung hervorgeht: Das
Verwirklichen mit den Mitteln der Kunst läßt eine »Wirklichkeit« viel
höheren Grades erstehen, als sie in der handgreifliebsten Realität gege-
ben sein könnte. Denn es ist die Aufgabe der Kunst, das draußen dasei-
ende, in sich schon bestimmte »Ding noch inniger, noch fester, noch
t ausendmal besser in den weiten Raum einzufügen, gleichsam so, daß
es sich nicht rührt, wenn man daran rüttelt«. »Das Kunst-Ding muß
noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklar-
heit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd
geworden, fähig zur Ewigkeit.« Das Modell »scheint« nur, das »Kunst-
Ding ist« (Br. o2/o6, S. 111 f.). Dieses ))Sein<<, diese dichtere ))Wirklich-
keit<< ist es, die llin einem Gedicht liegt, das gelingt<<, auf deren »Wahr-

139
heit« Rilke sein »Leben ganz gründen« will (Br. oz/o6, S. II5). Wenn
auch noch ziemlich unklar, wenn auch noch in der gefühlsstark ausbre-
chenden Evokation des Jahres 1903, so ist allein schon dieses Zusam-
mentreffen der Worte »Sein«, »Wahrheit«, »dichtere Wirklichkeit«,
»Ewigkeit<< ebenso bedeutungsvoll wie die Entgegensetzung von Zeit/
Vergänglichkeit zu Raum/Dauern. Damit sind die Linien vorgezeich-
net, auf denen Rilkes spätere Einsichten in das Wesen der Kunst und
in ihren Ort im menschlichen Dasein, ja im ganzen Seinszusammenhang
verlaufen werden. Von vornherein ist damit das menschliche Dasein
als wesensmäßig verwandelnd begriffen, gerade auch dann, wenn es
Kunst will; und das heißt, daß es als transzendierend in der weitesten
Dimensionalität gefaßt ist, für welche die Worte »Sein<<, »Wahrheit<<
usw. stehen. Kunst-schaffend und Kunst-bewahrend ist das Dasein ein
sich Übersteigendes, das als solches immer wieder auf sich zurück-
kommt; es ist bestimmt von dem Sich-Überschwingen auf Sein über-
haupt. Erstaunlich früh fand Rilke einen Ausdruck (Juli 1904), der
für sein weiteres Denken geradezu zukunftsträchtig ist. Er faßt alle
diese Perspektiven zusammen: »Das Wort muß Mensch werden. Das
ist das Geheimnis der Welt!<< (Br. ozlo6, S. 203). Sein Sinn ist: im dich-
terischen Wort wird die größtmögliche Nähe zum Sein darstellbar. Der
ausgebildete Begriff von Verwandeln enthält diese Bezüge. Rilke ver-
sucht ein halbes Leben hindurch, sie aus seiner Einsicht in die »Ele-
mente des Lebens << zu begründen. Wenn wir diesen Weg weiter ver-
folgen, werden wir das Verwandeln eingelassen finden in den existen-
zialen Strukturzusammenhang von Dasein = »Elemente<<; wir werden
sehen, wie das Verwandeln ontologisch in Sein von Dasein und darüber
hinaus in Sein-überhaupt gründet. Wir werden das Verwandeln als Er-
möglichung zu den existenziellen. Möglichkeiten des Eigentlichsein-
könnens wieder finden und schließlich in diesem Begriff die letzte Er-
möglichung der >metaphysischen< Sicht Rilkes von der Stellung des
Menschen im Seinszusammenhang aufdecken.
Das Wort Verwandeln als Ermöglichen in seiner ganzen existenziel-
len Reichweite braucht Rilke wohl zum ersten Mal im Oktober I 907
(Br. o6/o7, S. 377 ). Gleichzeitig wird die Einbeziehung des Nicht der
Negativität deutlich: Herbsterlebnis und Herbstschilderung Clara Ril-
kes aus der Heimat »verwandelten sich in meinem Gefühl zurück und
erfüllten mein Bewußtsein bis an den Rand mit Stärke und Strahlung<<.
Es verbindet sich mit Rilkes eigenem so ganz anders gearteten Herbst-
erlebnis: »Und das eine reicht an uns heran und das andere; so tief auf
den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir \Vandelbarsten.<<
Kennzeichnenderweise findet sich diese Fassung in einem Brief aus der

153
Zeit der Cezanne-Begegnung. Nur vom Hintergrund dieses Erlebnis-
ses, das ihn selbst so tief verwandelte, lassen sich die schweren Worte
verstehen, die aus dem unmittelbaren Anlaß des Briefes allein nicht
herzuleiten wären:» ... wir Wandelbarsten, die mit einer Neigung alles
zu begreifen, herumzugehen und die ... das Übergroße zur Handlung
unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre((. Nur im »Han-
deln unseres Herzens((, das heißt in der Mitte unseres eigensten Selbst,
das wir »gewählt(( (Heidegger) haben, können wir uns dem Andrän-
den des Nicht stellen. Heidegger kennt etwas durchaus Verwandtes: das
Dasein, damit es überhaupt verantwortlich sein kann, läßt »das eigen-
ste Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln(( (S. u. Z.
S. 288). Dieses Handeln, dem puren Nicht der Negativität gegenüber
zur Verantwortung gerufen, konkretisiert sich für Rilke darin, das Nur-
Zerstörerische zu wenden. Die Handlung unseres Herzens, das ist das
Geschehen der Verwandlung zur Ermöglichung unserer eigentlichen
Möglichkeiten; mit ihnen können wir das Nicht bestehen. Eine solche
Möglichkeit ist für Rilke sein Dichten.
Was aber heißt Dichten jetzt für Rilke? Er hat schon immer gedich-
tet, schon immer Erlebnisse in dichterische Worte umgesetzt, also ver-
wandelt. Aber vom Grund der Verwandlung, die er selbst soeben an-
gesichts der Kunst Cezannes erlitten hat, erinnert er: das, was Clara
jetzt erlebt, hat er selbst einmal ganz erlebt und geteilt. Indem er es da-
mals ganz erlebte, hat zwar »diese Verwandlung . . . einen Teil des
Stunden-Buchs hervorgerufen; aber damals war mir die Natur noch ein
allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten
sich meine Hände wiederfanden((. Jetzt ist er aus der Verherrlichung
des »Erlebnisses(( als solchem in seiner Frühzeit heraus- und in die
strenge Schule Cezannes eingetreten; auf etwas Derartiges hin war er
die letzten Jahre immer schon unterwegs gewesen, von sich selbst aus
lange in einer leisen unterirdischen Verwandlung begriffen. Darauf
zielte ja die »Sorge(( seines »Arm-sein-Wollens((. Die »Neuen Ge-
dichte(( sind dessen Zeuge. Aber jetzt erst dieser Verwandlung voll be-
wußt geworden, versteht er als ein von Grund auf Verwandelter, was
Verwandlung für ihn und seine Kunst meinen kann. Die von ihm fort-
an künstlerisch zu leistende Verwandlung kann nur vom Grunde eines
tief innerlich bestrittenen Verwandeins vollzogen werden. Dazu ver-
langt er zunächst von sich ein Einschränken »des großen übertriebenen
Daseins(( seiner Seele. Nicht mehr ein Sich-Hinreißen-lassen »von der
Seele, die von mir ausging((, um ihn »mit den eigenen Gesichten(( zu
überschütten. Zu der Zeit stand Rilke in den Arbeiten an den »Neuen
Gedichten, Anderer Teil« und insbesondere an dem »Malte(( . Diese Ge-

153
stalt zog ihn immer wieder hinein in die Tiefe seiner Ängste und damit
zu seiner nächsten eigentlichen Aufgabe: dem Bestehen des Nichts und
seiner tötlichen Gefahren. Denn das »Übergroße<< hatte sich ihm bisher
nur in der Gestalt des Zerstörerischen zugewandt. Aus dieser existen-
ziellen Erfahrung wußte er: Kunst als Erguß von Stimmungen, Kunst
als Ausübung persönlich geschmäcklerischer Vorlieben, Kunst als arti-
stisch-ästhetisches und im übrigen unverbindliches Spiel - das ist nicht
die »Handlung des Herzens«, die die Kraft hat, dem Zerstörerischen zu
begegnen. Verwandeln in Kunst als die »wirkliche Aufgabe« des Men-
schen und Dichters Rilke ist fortan viel mehr als die Umsetzung von
Erlebnissen mit dem Kunstmittel, das »man sich entdeckt hat«. Noch im
April 1906 hieß es schlechthin: »Das Unverwandelte drückt«, denn es
»verwirrt<<; damit waren die nicht verarbeiteten Erlebnisse als solche
gemeint. Jetzt liegt der Akzent auf dem unverwandelt Schweren der
Negativität in seiner Zerstörerischen Möglichkeit; diese ist es, die die
Notwendigkeit des Verwandeins herbeiruft. »Zur Handlung des Her-
zens machen« heißt, aus dem Nichts des Zerstörerischen handeln. Der
Brief gibt dem Wort »zerstören<< keine weitere Folge; und doch ist es
nicht von ungefähr in die Feder gekommen. Die nichtende Erfahrung
»Paris« der Jahre 1902/03 mit ihrem Niederschlag in den Briefen und
ihrer späteren künstlerischen Verarbeitung im »Malte<< haben ihm lang-
sam und schmerzhaft deutlich gemacht, daß Verwandeln in Kunst die
eine unabdingbare Vorausetzung hat: »in einer Erfahrung bis ans Ende
gegangen sein, bis wo kein Mensch mehr weiter kann«. Und zwar ist
es die Erfahrung des vereinzelten Menschen als eine »einzige«. »Kunst-
dinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-Gewesen-Seins«; sie
sind »die notwendige ununterdrückbare, möglichst endgültige Aus-
sprache dieser Einzigkeit« der bestandenen Gefahr (Br. o6/o7, S. 28o).
Diese Worte sind vier Monate vor dem Brief geschrieben, der vom
»Zerstörerischen« spricht; er sagt unüberbietbar deutlich dasselbe.
Versucht man diese tief erfühlte existenzielle Erfahrung in begriff-
liche Klarheit zu fassen, so dürfte man sagen: was Rilke fortan Kunst
nennt, kann nur hervorgehen aus den existenzialen Bedingungen im
Heidegger'schen Sinn, welche das Eigentlichsein konstituieren. Einige
Gegenüberstellungen Heidegger'scher Erkenntnisse zu parallelen Ril-
ke'schen Einsichten werden das verdeutlichen: Erfahrung des Nichts
der Angst (Heidegger) = in der ängstenden Erfahrung »bis ans Ende
gehen<< (Rilke); als der »Einzelne<< (Heidegger) = der als solcher die
endgültige Aussprache dieser »Einzigkeit« vollzieht (Rilke); die »Ent-
schlossenheit<< (Heidegger) = sie nur kann in die »notwendige, unun-
terdrückbare« Aussprache führen (Rilke) . - Eine der »eigensten ex-

153
istenziellen Möglichkeiten« (Heidegger) ist das Schaffen von Kunst;
der Künstler gestaltet aus »der Offenheit des Seienden«, um die »Wahr-
heit ins Werk einzurichten«; Kunst ereignet sich also im Bezug zum
Sein (Holzwege, S. 49 f.). Für Rilke liegt im Kunst-Ding der dem Schaf-
fenden »selbst gegebene Beweis seiner Einheit und "\Vahrhaftigkeit«.
Wenn bei dem Dichter auch hier wieder die denkerische Präzision des
Ausdrucks fehlt, so wird doch in seinen ungefähren "\Vorten eine durch-
aus verwandte Haltung deutlich; man erkennt sie, wenn man sich seines
Ringens um Kunstanschauung erinnere0 • Dieser innere »Beweis« für
den Schaffenden schlägt, nach außen entlassen, in das nun >da<-seiende
Kunstwerk um; er geht von diesem zurück in die eigene Eixstenz. Das
nun da-seiende Kunstwerk zielt aber auch in die Existenz der Mitda-
seienden. In der Heidegger'schen Sprache wird diese Wirkung ausge-
sprochen: Es werden »die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde
verwandelt«; der Mensch wird »fortan mit allem geläufigen Tun und
Schätzen, Kennen und Blicken an sich halten, um in der im Werk ge-
schehenden Wahrheit zu verweilen« (Holzwege, S. 54). Für Rilke
schafft dieser »Beweis« das eigenste Heilsein des Künstlers als die »Zu-
sammenfassung, der Knoten im Rosenkranz, bei dem sein Leben ein
Gebet spricht«. Darum ist das Kunst-Ding eine »ungeheure Hilfe ...
für das Leben dessen, der es machen muß«. Es steht nun außen, abge-
löst von seinem Schöpfer, »anonym ... namenlos, als Notwendigkeit
nur als Wirklichkeit, als Dasein« (Rilke). Es ist genau die gleiche Ano-
nymität des »Geschaffenseins«, die Heidegger meint, wenn er sagt:
»Das einfache factum est soll im Werk ins Offene gehalten werden«,
»nicht das N. N. fecit soll bekannt gegeben werden« (Holzwege, S. 53).
Vor dieser Dimension des Seins, aus der hohe Kunst sich ereignet, hat
der Name des Künstlers keine Bedeutung mehr.
Die Erfahrungen des »Malte« und die nachhaltige Wirkung der Ce-
zanne-Begegnung für das eigene Kunstschaffen führen Rilke zu einer
Einsicht in die dialektische Funktion des Nicht innerhalb des Prozesses
künstlerischen Verwandelns. Der Kunstschaffende hat es mit allen Din-
gen zu tun, ohne Ausnahme (Br. o7/14, S. 74). Schon unter dem un-
mittelbaren Eindruck des Cezanne-Erlebnisses wußte er: »eine Ab-
wendung von irgendwelcher ExistenZ« ... »drängt den Schaffenden aus
dem Zustand der Gnade« (Br. o6/o7, S. 393). Kunst ist nicht »Aus-
wahl aus der Welt, sondern deren restlose Verwandlung ins Herrliche«.
Das »Absagende«, das »Verneinende« wird in der künstlerischen Be-
wältigung »mit einem positiven Überschuß« zurückgelassen. Wo sollte

ao vgl. S. 8 r ff. dieser Arbeit.

143
dieser positive überschuß herkommen, wenn nicht aus dem verwan-
delten Nicht des >>Absagenden« und »Verneinenden« selbst? Ist es so,
daß die »Häßlichkeit« und »Verworfenheit« gleichsam die Positivie-
durch die Kunst fordert? Entzündet sich am Stachel des Nicht,
der im Sein von Dasein wirkt, die »Freiheit« für die Verwandlung?
Das kann nur geschehen aus der Bezogenheit dieses Seins von Dasein zu
Sein-überhaupt. Darf man von einer aus der Existenz selbst sich ver-
stehenden Dialektik sprechen? Eine Beantwortung dieser Fragen wäre
vielleicht auf folgende Weise zu geben. In der existenziellen Möglich-
keit von Eigentlichseinkönnen, die das Dasein immer schon als seine
eigene Möglichkeit ist, liegt auch die Bezogenheit zu der Dimension
von Sein, aus der Kunst sich in der Lichtung des >Da< ereignet. Die Exi-
stenz, durch das andrängende Nicht beunruhigt, findet sich zur Bewäl-
tigung des Zerstörerischen aufgerufen. Sie verwandelt dieses Zerstö-
rerische in Kunst. Aus dem Nicht selbst empfängt das Dasein eine An-
weisung auf Positivität. Hierin gründet der Zusammenhang von Kunst
und Existenz; er liegt also im Bezug des Seins von Dasein zu Sein über-
haupt und in der ontologischen Gründung des Nicht der Verneinung
im Nichts zum Sein. Die Freiheit zur Ermöglichung von Kunst im
Eigentlichseinkönnen aktiviert den Bezug von Dasein zu Sein aus einer
Dialektik des Nicht. Was wäre die »Freiheit für«, wenn ihr nicht,
durchaus in den Grenzen von Endlichkeit, ein schöpferisches Moment
zukäme?
Die Strindberg'sche Gestaltung »dieser entsetzlichen Welt, bei deren
Einsicht jeder andere wie verschüttet verstummt wäre«, ergreift Rilke
mit höchster Bewunderung: »Die Kraft eines Elements scheint nötig,
um die Beweise dieser Zersetzung so enorm großartig aufzubringen,
um da zu schaffen, wo ein Riese nur noch stöhnen könnte.« Man ver-
steht aus Rilkes eigener persönlicher und künstlerischer Problematik,
das ihn das »tagelang beunruhigt und auch wieder befreit« -befreit,
weil er als Künstler »an solchen Werken erfährt, wie die reine Ausge-
staltung auch dem Schrecklichsten noch einen Sinn gibt über seine (man
möchte ergänzen: faktisch-ontische) Macht und Bedeutung hinaus, wie
es im Werk zur Potenz wird, zur puren Intensität und so fort zur Se-
ligkeit« (Br. 07 Ir 4, S. 20 5). Immer klarer stellt Rilke in der Kunstbe-
trachtung auch dem eigenen Werk gegenüber die dialektische Funktion
des Negativen heraus. Sein rückwärts gewandtes Bemühen um »die
großen zur Leistung auffordernden Einsichten« des »Malte« hatten uns
das schon deutlich werden lassen. Als ihm im Februar I 9 I 7 ein Buch
über Trakl zugesandt wurde, ist er erschüttert; es bestätigt ihn darin zu
sehen, wie diese »von Anfang an flüchtende ... Gestalt imstande war,

144
das Gewicht ihres fortwährenden Untergangs in so genauen Bildungen
zu beweisen« (Br. 14/21, S. 126). Er erkennt an den Werken Trakls
»eine neue Dimension des geistigen Raums«, der das »gefühls-stoff-
liche Vorurteil widerlegt, als ob in der Richtung der Klage nur Klage
sei-: auch dort ist wieder Welt« 300 • In der Ablösungvom nur »Gefühls-
stofflichen« der Klage wird es hier sehr deutlich: Aus der N egativität
selbst ist eine »neue Dimension des geistigen Raums« befreit. »Welt«
meint hier das Ganze unseres In-die-Welt-Gestelltseins, die aus dem
Transzendieren in seiner vollen Dimensionalität hervorgegangen ist.
Sieht man »Welt« als dieses Ganze, so fällt die Betonung der Vorzei-
chen weg, die nur eine Isolierung und Verselbständigung der Teile ih-
nen geben konnte. Von der Zuordnung zum Ganzen gesehen, steht das
Negative und das Positive in einer Entsprechung zu einander. Es ist
Überwindung der Negativität, wenn es der Kunst gelingt, durch den
Schleier des Absagenden und Verneinenden hindurch das Ganze in der
Erhöhung künstlerischer Verwandlung »transparent« werden zu lassen.
Hat man das intensive Ringen Rilkes um die Einsicht in den struktu-
rellen Zusammenhang von Kunst und Existenz vor Augen, so sollte es
ausgeschlossen scheinen, seine Auffassung von der Berechtigung des
Absagenden in der Kunst als eine ästhetizistische Haltung zu bezeich-
nen. Hier ist nicht die Rede von einer Sanktionierung des Negativen
durch die Kunst. Es äußert sich hier kein reines l'art pour l'art, das die
Kunst über den Trivialitäten des Lebens zu einer Bel etage aufstocken
möchte. Rilkes Kunstanschauung ist vielmehr tief verwurzelt in einer
ganz persönlich errungenen existenziellen Haltung. Sie ist hervorge-
gangen aus der Entschlossenheit gegenüber der ungeheuerlichen Be-
drohung des Nichts im Grunde der menschlichen Existenz. Seine Kunst-
anschauung ist schließlich nur eine der möglichen Ausgestaltungen sei-
ner Grundeinsicht, die er als Forderung an sich selbst gelebt hat: der
Überwältigung durch das Leid muß die Entscheidung zur Verwand-
lung begegnen. Das Negative des Leidens erzwang in Rilke diese Ein-
sicht, und der »Malte« ist dafür Kronzeuge: es gibt nur Verwandlung
oder Untergang. Aus der Angst um das In-der-Welt-sein-können geht
die Entschlossenheit hervor, die N egativität zu positivieren. Wir haben
im Kapitel über den Tod gesehen, wie aus der Anvisierung des Todes
als Nicht-mehr-sein, als einem nicht zu beschönigenden Negativum,
das Übernehmen dieses >Nicht< im entschlossenen Sein-zum-Ende alle
30a Heidegger widmet Georg Trakl eine »Erörterung« (im nMerkur« 1953):
nSie frägt nach der Ortschaft des Ortes« dieses neinen einzigen Gedichtes«, aus dem
njeder große Dichter dichtet«, als einem nungesprochenen«. Denn jede Dichtung spricht
naus dem Ganzen des einen Gedichtes und sagt jedesmal dieses «. Es nsagt« also die
nWelt«, die Rilke hinter der der Klage auftauchen sah.

145
die positiven gestalterischen Möglichkeiten eines eigentlichen Daseins
hervorgehen können.
Nun ist Rilkes Verhältnis zur Kunst, das Schaffen-wollen-und-kön-
nen, in sich selbst eine existenzielle Möglichkeit seines Seinkönnens, die
als solche unablösbar von seiner faktischen Existenz ist. Aber doch läßt
sich gleichsam noch eine Schicht tiefer in seiner Existenz eine ionerste
Ebene der »Gestimmtheit« 31 freilegen; sie trägt und nährt auch noch
die Möglichkeit seines Kunstschaffens. Im November I 9 I 2 schreibt er:
»Ich bin gerade jetzt mehr als je im Einseitigen, die Klage hat vielfach
überwogen, aber ich weiß, man darf. die Klagesaiten nur dann so aus-
führlich gebrauchen, wenn man entschlossen ist, auf ihnen, mit ihren
Mitteln, später auch den ganzen Jubel zu spielen« (Br. o7/r4, S. 254).
An dieser Briefstelle wird es unüberbietbar deutlich, wie tief die intim-
ste Schicht der Gestimmtheit und die im Nur-Gefühligen zu leistende
Verwandlung auch die Ebene des Kunstschaffens bestimmt. Und nicht
nur das, wie es Rilke durchaus bewußt ist: dasselbe Moment der Ne-
gativität ist konstituierend für die auf beiden Ebenen zu erreichende
Leistung. Sie besteht zunächst darin, durch das Negative der »Schwere
und des Schmerzhaften« zur Überwindung hindurchzudringen; dann
aber da, wo diese geschehene innere Verwandlung im geschaffenen
Wort sich objektivieren soll, ist auf den Klagesaiten selbst, »mit ihren
Mitteln auch der ganze Jubel zu spielen«. Nicht das wäre Verwand-
lung im Rilke'schen Sinn, wenn das Negative, etwa in einer willens-
mäßigen Anstrengung, einfach durchgestrichen würde. Verwandlung
ist vielmehr Übernehmen, Hindurchgehen und Sich-Formenlassen von
der Erfahrung der Widerständigkeit, um damit eine höhere Ebene der
eigenen Möglichkeiten zu gewinnen. Von diesem so Erreichten aus er-
weist sich das Übernommen-haben des Schweren als sinnvoll.
Verwandlung ist auch nicht erreichbar im Augenschließen vor dem
Andrängen des Leides, etwa im Sich-Flüchten in einen Kunstgenuß.
Eine junge Frau wirft die Frage auf, ob Kunst »Vergessen« sei. Sehr
behutsam stellt Rilke erst einmal die Frage richtig: »ob Kunst als ein
großes Vergessen zu erleben sei oder als ein größeres Einsehen« (Br.
I4h I, S. I 13 f.) . Weder noch, vielmehr sowohl als auch, lautet die Ant-
wort. Sehr zart übergeht die Antwort zunächst dieses Vergessen-wol-
len, das offenbar pure Negativität eines Fluchtversuches ist. Aber das ge-
schieht nur um des Ansatzes willen, dieses Nicht vorsichtig, geradezu so-
kratisch, hin zu entwickeln zur Ermöglichung von Etwas: >>ein gewisses,
bis ans Vergessen heranreichendes Hingegebensein« ist auszunutzen,
>>gleichsam (zur) Übersiedlung auf eine höhere Lebensebene «. Schon
3t vgl. S. 45 ff. dieser Arbeit.

153
in diesem »Hingegebensein« an das Vergessen, auf der Stufe noch der
eindeutigen Negativität, ist also die Möglichkeit der Positivierung an-
gelegt. Begreift man diese in ihrem Ermöglichungscharakter, so bildet
sie die (mögliche) Vorstufe neuer Einsichten aus, »auf der dann ein rei-
feres größeres Gewahren, ein Schauen mit ausgeruhten, frischen Augen
einsetzt«. Nachdem der positive Ansatz vermittels der reinen Negati-
vität gewonnen und sicher gestellt worden ist, wird dann ausdrücklich,
wiederum echt sokratisch, das Vergessen-wollen als schlechthinniges
Nicht kurz und knapp gestellt: »Im Vergessen zu bleiben, wäre freilich
das Falscheste.«
Rilke hatte die Einsicht in die existenzielle Notwendigkeit gewon-
nen, alles leidvoll Entgegenstehende im menschlichen Dasein entschlos-
sen zu verwandeln. Diese Einsicht hat auch seine persönliche Entschei-
dung gegen die Psychoanalyse getragen. Sie war ihm als ein Ausweg in
der Zeit der schweren Nach-Malte- und Kriegs-Depression nahe gelegt
worden. Die Bereinigung liegengebliebener Lebensrückstände mit Hilfe
der Psychoanalyse schien ihm jede fruchtbare Verwandlung des Nega-
tiven völlig auszuschließen. Denn sie ist unschöpferisch; sie nutzt nicht
die im Nicht enthaltene Anweisung zur Positivität aus der Freiheit des
eigensten Selbst. »Die Kindheit in Brocken von sich zu geben«, rein me-
chanisch, »unter Auslösung einer Art geistigen Brechreizes«, das schien
ihm mit dieser Methode angestrebt. Er aber war zutiefst von den po-
sitiven Möglichkeiten einer innersten eigenständigen Aufbereitung des
Nicht überzeugt; er sah hier eine unvertretbare Leistung. Nur aus der
Einzigkeit des eigensten Entschlossenseins ist das eigentliche Selbst zu
seinen äußersten Möglichkeiten zu befreien; das Kunstschaffen ist nur
eine dieser Möglichkeiten. Für den Künstler gilt allerdings entschei-
dend, daß er »darauf angewiesen ist, ihr (der Kindheit) Unbewältigtes
... in Erfundenem und Gefühltem verwandelt aufzubrauchen, in Din-
gen, Tieren- worin nicht?-, wenn es sein muß in Ungeheuern« (Br.
14h1, S. 14). Daß aber dieses Unbewältigte durch eine spontane Lei-
stung verwandelt, überhaupt aufgebraucht werden kann, das ist nur
möglich, wenn in dem Nicht der Negation eine geheime Anweisung auf
Positivität verborgen ist. Diese selbst ist nur aus der Entsprechung von
Sein des Daseins zum Nichts sowohl wie zu Sein herzuleiten.

147
RILKES EXISTENZIELLE DIALEKTIK.
HEIDEGGERS ABLEHNUNG JEDER FORM VON DIALEKTIK

Die immer schon fühlbare und besonders im letzten Abschnitt deutlich


gewordene Unablösbarkeit des Nicht-Moments sowohl zum Begriff der
Ermöglichung Heideggers wie zum Grundwort Rilkes, dem Verwan-
deln, richtet den Blick auf eine mögliche dialektische Fragestellung.
Der Ausgangspunkt für die Aufstellung des Begriffes Verwandeln
war das »Umsetzen« von »Erlebnissen« mit dem Kunstmittel, das man
»sich entdeckt hatte«; er wurde erst allmählich zu seiner Reichweite
entwickelt. Das Bewußtsein von der grundlegenden Bedeutung des
Nicht für alle Bezüge des menschlichen Daseins führte dazu, das Ver-
wandeln aus der Tiefe der Existenz herzuleiten. Wie Sein von Dasein
in Bezug steht zu Sein überhaupt, so reicht Existenz über das Nicht der
Vemeinung in das Nichts zum Sein. In der Überwältigung durch die
Zerstörerischen Möglichkeiten unverwandelten Leides kam in Rilke
eine grundlegende Einsicht zum Durchbruch. Die Verwandlung der
persönlich-negativen Erfahrungen zur Erreichung »eines heileren Zu-
standes in der Mitte des eigenen Wesens« »gebraucht« genau dieselbe
Funktion des Nicht, wie es die Verwandlung des Absagenden und Ver-
neinenden in der Kunst tun muß. Zur »Handlung des Herzens« ma-
chen, war dafür der Rilke'sche Ausdruck; so wie Rilke dieses »Han-
deln« handhabt, ist darin eine spezifische Form von Dialektik aufzu-
weisen. Wir wollen sie existenzielle Dialektik nennen und dieses Wort
hier einsetzen. Der Begriff bietet sich an und wurde gepräge2 für eine
gedankliche Durchdringung dessen, was Rilke in seiner eigenen Ex-
istenz, im Einsehen und im Handeln, tatsächlich vollzieht, aber natür-
lich nicht so bezeichnet. Er soll uns dazu dienen, die Tragweite von Hei-
deggers grundsätzlicher Ablehnung jeder Dialektik klarzulegen33• Die
Unterschiedenheit der beiden Wege des Dichters und des Denkers ist
an diesem Punkt aufzuzeigen, zu dem die Aus-Entwicklung des Rilke-
schen Begriffes von Verwandeln hingeführt hat.
Rilkes Einsicht in die dialektische Funktion des Nicht trägt im enge-
32 vgl. Else Buddeberg "Kunst und Existenz im Spätwerk Rilkes. Eine Darstellung
nach seinen Briefen«. Karlsruhe: Stahlberg-Verlag 1948.
33 Sie ist hier nicht auszuschöpfen und muß einer besonderen Untersuchung vorbe-
halten bleiben.

153
ren seelischen und im weiteren künstlerischen Bereich sein Vertrauen
in die großen Möglichkeiten des Verwandelns. Schon damit steigt ein
Moment auf, daß über die rein funktionelle Ermöglichung Heideggers
hinausreicht. Zwar sahen wir: auch für den Denker liegt ein Ausgangs-
punkt von Ermöglichung in der Erfahrung von Nichtigkeit (Sorge,
Rückruf; Grund-sein einer Nichtigkeit= Geworfenheit; Schuldigsein).
Sie mündet in die entschlossene Hinwendung zum Eigentlichsein und
zu den von hier aus bestimmten Aufgaben. Diese letzteren füllen sich
aber für Rilke nur im Hinblick auf die Dimension des Heilen mit kon-
kreten Gehalten. Von vornherein ist also bei Rilke eine gewisse Ziel-
haftigkeit vorgegeben, die sich dialektisch entwickele\ Heidegger
schweigt jedoch völlig über die in der ermöglichten Möglichkeit mög-
lichen existenziellen Gehalte. Das ist von seinem existenzial-ontologi-
schen Blickpunkt aus durchaus folgerichtig 35 • Die Nutzung des Nicht
wird für einen Übergang zu dem engeren existenziellen Bereich nicht
dialektisch »gebraucht«, und gegen den Anschein einer Dialektik in
Heideggers eigenem Denken, der immer wieder sich nahelegt, steht
Heideggers ausdrückliche Ablehnung. Das äußerste Maß von Positivi-
tät, das er seinem Nicht vindiziert, ist die Ermöglichung von Etwas. Sie
ist freilich groß genug, eine ganze Welt zu errichten; jedoch sie bleibt
in der völligen übergangslosen Unbestimmtheit von Möglichkeit. Aus
dem rein strukturalen Charakter von Existenzialität ergibt sich zwangs-
läufig, daß jeder Aspekt von Werthaftigkeit zu vermeiden war. Wenn
auch aus seiner Sprachgebung (Alltäglichkeit, Man, Uneigentlichkeit,
Eigentlichkeit, Verfallen) gelegentlich Mißverständnisse in dieser Rich-
tung entstanden sind, so wurden sie von ihm zurückgewiesen. Und
doch wurde nicht nur zugegeben, sondern ausdrücklich die Vorausset-
zung eines Existenzideals bejaht. (Von diesem hier gebrauchten Wort
»Ideal« ist natürlich jeder Anklang etwa an Vorbildlichkeit fernzuhal-
ten.) Eine billige >Auch-Dialektik<, die ganz bequem vom >>Man-selbst«
zum eigentlichen Selbst kraft des beliebten »Umschlagens« hinleiten
könnte, hat selbstverständlich in Heidegger keinen Platz. Es scheint
aber, daß Heidegger auch die >transzendentalen< 36 Möglichkeiten zu-
rückweist, um von seinen Strukturen aus die in diesen mitgedachten

3 4 Man vergleiche hierfür nur die Ausgangssituation des Elegienwerkes, die mit der
ersten und zweiten Elegie den Menschen im spannungsvollen Gegenüber zum nfast
tödlichen« - aber nicht schlechterdings tötenden -Engel zeigt.
35 u. a. vgl. S. u. Z. S. 310.

36 Das geht, wenn auch unausgesprochen, zum Beispiel aus fast jeder Ableitung und

Folgegebung von Heidegger >>Kant und das Problem der Metaphysik«, S. I56-176,
hervor. Die Härten der Beweisführung, z. B. »Jetztfolge« S. 163, »produktive Repro-
duktion«, S. 165, um nur einiges zu nennen, leiten sich meines Erachtens.

149
spannungsvollen Möglichkeiten für die sich konkretisierende Existenz
dialektisch zu nutzen. Und doch gibt er selbst dazu formal-strukturale
Ansätze an die Hand. Heideggers Ablehnung muß so lange respektiert
werden, wie das Bemühen, Heidegger zu verstehen, sich selbst versteht.
Jedoch ist, über diese Feststellung hinausgehend, zu erwägen, ob nicht
Möglichkeiten einer Näherung der existenzialen an die existenzielle
Fragestellung, der ontischen an die ontologische Wahrheit zu erreichen
wären. Nicht in einer Verwischung der von Heidegger erst sorgfältig
erarbeiteten Grenzziehung zwischen ontisch und ontologisch, zwischen
existenziell und existenzial sollte das geschehen. Es müßte jedoch ein
Gelenk auffindbar sein, in dem gewissermaßen beide Betrachtungswei-
sen hängen. Dieses Gelenk böte das Gewissen, das immer schon schul-
dig-Sein37. Aber ist es von Heidegger im hier gemeinten Sinn nutzbar

daher. Am Beispiel der Jetztfolge erkennt man: das Nicht-Element ist zwar
nicht völlig ausgeschaltet, aber nicht in seiner Bewegung genutzt. Unser
ständiges »jetzt und jetzt und jetzt«-sagen, damit >jetzt das< und >jetzt das< und alles
dieses jetzt zumal »begegnen kann« -und zwar als Jetzt-folge, denkt ja immer ein
pirJOV mit. Damit »all dies jetzt zumal« zustande kommen kann, muß durch ein je-
weiliges Nicht jedes einzelnen Jetzt-Momentes hindurchgegangen werden (bui), wel-
ches Hindurchgehen die Jetzt-Folge als Gegenwart erst konstituiert. Die Jetztfolge
ist ein anderes gegenüber den bloß addierten »Jetzt«-Momenten. Das einzelne Jetzt-
Moment verwandelt sich im Folgen. Was hier gemeint ist, wird vielleicht deutlicher,
wenn wir uns der Handhabung des Vergessens durch Rilke erinnern (S. 145). Gewiß
ist das dort Gesagte durchaus inhaltlich verknüpft; das Folgemoment wird aus dem
Nacheinander des Inhaltes schon anschaubar. Das darf jedoch nicht darüber täuschen,
daß das Nicht-Element als solches erst die Folge ermöglicht hat. Demnach muß es
also auch formal-strnktural ablösbar bleiben: Das Nicht-Moment im Vergessen-wol-
len ist Träger der Verwandlung, gesehen von einer formal-strukturalen Betrachtung
aus; der Inhalt des Vergessen wird lediglich als Substrat kenntlich. Nur weil dieses
originär gegebene Nicht sich verwandelt, das zum Vergessen gehört, kann kraft des
Vergessens (und das meint eigentlich: kraft des »Nicht« als Vergessen) eine höhere
Stufe »ermöglicht« werden. -
In Bezug auf die »produktive Reproduktion« (Vergangenheit, Kantbuch) stellt sich
die gleiche Frage: »Das ursprünglich bildende Behalten des >Damals< ist in sich das
behaltende Bilden des Nicht-mehr-Jetzt« (S. r66). Diese zweifache Negation hat sich
nur dia-lektisch auflösen können und ist nur auf diese Weise auflösbar. Das Ergebnis
im behaltenden Bilden des Nicht-mehr-Jetzt bietet uns Heidegger auch an, - als
Faktum; aber er enthält uns vor die Weise der-- »Ermöglichung«.
Auch im Kantbuch (S. r67 ff.) wird das »Vor« nur immer wieder genutzt, um den
Zeitcharakter von Kants drittem Modus der Synthesis aus der Zukunft zu begründen,
ja zu zeigen (S. r7o), daß »das ursprüngliche Wesen der Zeit sich aus der Zukunft
zeitigt «. Da »das reine endliche Selbst« in sich Z eitcharakter hat (S. 174), konstituiert
es sich also primär aus der Zukunft. Jedoch - all dem nachzugehen, verlangte eine be-
sondere und sehr weitgehende Untersuchung.
37 Etwa im »schuldig-sein« = »Grundsein-einer-Nichtigkeit« (S. u. Z. S. z83); im
»vorlaufenden Rückruf« (S. 287); in der »Zirkelstruktur« des Seinsverständnisses, die
sich ausdrücklich der »Konsequenzlogik« entgegenstellt. -Dieses schon in »Sein und
Zeit« entwickelte >kreisende< Denken hat sim in der Folgezeit nur nom stärker aus-
gebildet.

ISO
gemacht? Im engeren Bereich einer Philosophie der Existenz könnte
damit einiges gewonnen werden. Und weiterhin führte über das Nicht
im Sein von Dasein zum Nichts im Grunde von Sein eine Brücke, die
zum »vermuteten« Bezug von Sein von Dasein zu Sein-überhaupt leitet.
Möglichkeiten zu beiden hier angedeuteten Aspekten leuchten oft ge-
nug auf, um so mehr, als der in »Sein und Zeit« noch »vermutete(( Be-
zug inzwischen durch die Schriften nach diesem Hauptwerk eigentlich
zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Sollte nicht der Versuch einer Hinführung über das Nicht der Ver-
neinung zum Nichts vor dem Sein einen der Probefälle ergeben für die
grundsätzliche hermeneutische Situation von Dasein, »die als Analytik
der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens
dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt((.
Denn: »Die Herausstellung der Seinsverfassung des Daseins bleibt ...
ein Weg. Das Ziel ist die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt.«
(S. u. Z. S. 38; noch einmal, mit Nachdruck, steht dieser Satz am Ende
von »Sein und Zeit« S. 436.)
Es wir in den Schriften nach »Sein und Zeit<< immer deutlicher, was
in >>Sein und Zeit<< schon angelegt ist (aber oft verkannt wird), daß
vom Sein überhaupt das Sein von Dasein in die Lichtung von Sein auf-
gerufen ist,- dieses Sein, >das liebt, sich zu verbergen< (Heraklit), das
immer wieder in der Gegenwendung von Entbergung und Verber-
gung (Heidegger) steht. Wenn der Absprung jeden Handeins im Da-
sein immer nur vom Grunde einer Nichtigkeit geschehen kann; wenn
das Heidegger'sche Denken von der Gegebenheit eines vorontolo-
gischen Seinsverständnisses (keineswegs es grundsätzlich negierend)
ausgeht, das notwendig über die Verneinungen hinweg zum explizit
existenzial-ontologisch gegründeten Seinsverständnis vordringt; wenn
dafür die »Konsequenzlogik<< abgelehnt wird-- muß dann nicht ge-
radezu zwangsläufig eine Form von Dialektik angeboten und in der
Existenz selbst gegründet werden?
Es ist die Erschlossenheit, hervorgetrieben in der ausgezeichneten
Grundbefindlichkeit der Angst, die in der engsten Bezogenheit zum
Nichten des Nichts die Entschlossenheit für das Sein-zum-Ende er-
möglicht. Der existenziale Entwurf eines eigentlichen Seinkönnens
zum Tode erwächst auf dem Nicht des geworfenen Grundes. In diesem
paradigmatischen Ausdruck für die vollkommenste Unfreiheit ver-
steht sich das Dasein als immer-schon-schuldig. Wie kann daraus Frei-
heit werden? Wie soll die »Freiheit zum Tode« überhaupt begriffen
werden können, wenn nicht aus einem spontanen Sein des Daseins zur
Verwandlung, das vom Nicht des geworfenen Grundes sich abstößt?

151
Das Dasein macht sich im Durchschreiten eines entgegenstehenden Ne-
gativum frei zur Ermöglichung der positiven Möglichkeiten, die es im
Übernehmen der Situation, in die es gestellt ist, erst entdeckt. Ist
»Konsequenzlogik« abgelehnt- und wie sollte sie hier weiterhelfen
können?- und ist auch ein (von Heidegger an anderen Stellen seines
Werkes oft nahegelegtes) Kreisdenken unkräftig, die Schwierigkeit zu
lösen, so bleibt nur noch ein spezifisch dialektischer Vollzug übrig.
Nicht eine Dialektik des Begriffes wird hiermit nahegelegt. Genau so
wie das Heidegger'sche Existenzial »Verstehen« als ein »fundamen-
tales Existenzial« (S. u. Z. S. 336) gefaßt ist und nicht als »eine be-
stimmte Art von Erkennen, unterschieden etwa von Erklären und Be-
greifen, noch überhaupt ein Erkennen im Sinne des thematischen Er-
fassens«38, - so wird auch hier der dialektische Vollzug begriffen im
Sinne der Konstituierung »des Seins des Da«, dergestalt, daß »ein Da-
sein auf dem Grunde des Verstehens die verschiedenen Möglichkeiten
der Sicht ... existierend ausbilden kann«.
Die Grundschwierigkeit hierfür und ebenfalls der Grund für die
nun erreichte Grenze einer Parallelisierung von »Ermöglichen« und
»Verwandeln« liegt allerdings darin, daß für Heidegger »das primäre
Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit die Zu-
kunft ist« (S. u. Z. S. 329). Von Heidegger aus gesehen ist das insofern
begründet, als im »Sich-vorweg«, im »Vorlaufen«, im »Entwurf« und
schließlich in der »Sorge = Sinn von Sein des Daseins = Zeitlichkeit«
ein gewisses »vor«-haftes Element liegt, das das geläufige Seinsver-
ständnis vereinfachend als Zukunfts-Gerichtetheit auslegen mag. Es
erhebt sich an dieser Stelle der Betrachtung aber die entscheidende
Frage: ist dieses »vor« in Sorge = Zeitlichkeit wirklich nur auf Zu-
kunft bezogen? Liegt dieses »Vor«-Element nicht überhaupt und
grundsätzlich im Entwurfcharakter jeglichen zeitlichen Horizont-Ge-
bens? Hält Dasein sich nidlt in jeder der drei zeitlichen Ekstasen in
einem Horizont, also in einem nvor«? Allein schon darin, daß Dasein
nie anders denn ekstatisch- das heißt immer »sorgend« -also »Zeit-
lich«, »zeitigend« existiert, ist es als »vor«-haft zu kennzeichnen. Es
muß klar ausgesprochen werden: in jeder Ekstase als Horizont von
Zeit liegt dieses »Vor«-Element. Die immer wieder von Heidegger be-
tonte »Gleichursprünglichkeit<< von Zeit verlangt, auch diese Folge-
rung für jede der drei Ekstasen einzusehen. Es ist dieses grundsätzlich
vor-hafte Element von Zeitlichkeit, welches allein erlauben kann, von
as woraus allein hier in dieser Arbeit die Berechtigung hergeleitet werden konnte,
das Rilke'sche »Einsehen(( in das Heidegger'sche Existenzial »Verstehen(( zu inte-
grieren.

153
einer Gleichursprünglichkeit der drei Ekstasen zu sprechen, -ja von
»Ekstase« überhaupt. Trotz der verschiedenen Zeitigungen in den
unterschiedenen drei Ekstasen hält es sich durch.

HEIDEGGERS EKSTASE »ZUKUNFT«.


RILKES ZEITMODUS »GEGENWART«

Es muß versucht werden, zum Verständnis der Heidegger'schen


Zeitlichkeit als Sinn von Sorge eine Begründung des »Vorranges von
Zukunft« herauszustellen. Erst von da aus läßt sich einsehen, wie das
»Ermöglichen« Heideggers und das »Verwandeln« Rilkes sich nun
grundsätzlich scheiden. Erst vor diesem Hintergrund kann deutlich
werden, daß Rilkes Verwandeln und seine Ganzheit von Leben und
Tod in einem vom vulgären Zeitverständnis durchaus sich abhebenden
Begriff von Gegenwart gegründet ist. Es ist das eine Gegenwart, die
erweitert ist durch das Hereinnehmen der vom Dasein gelebten Ver-
gangenheit und einer vom Dasein immer schon vollzogenen Zukünf-
tigkeit. Dabei ist es geradezu erregend festzustellen, wie trotz dieser
in sich unterschiedenen >Nutzung< von »Gegenwart<< und »Zukunft«
in entscheidenden Einzelheiten immer wieder nahe Berührungen zwi-
schen Denker und Dichter sich ergeben.
Das auf-sich-Zukommen-Lassen eines Kommenden und dieses Zu-
kommenlassen als ständige Möglichkeit aushalten - das ist nach Hei-
degger das ursprüngliche Phänomen der Zukunft. Wir sahen, daß das
Dasein, sich befindend in der im außerordentlichen Sinne aufschlie-
ßenden Grundstimmung der Angst, immer schon sich erschlossen hat
auf ein zukünftiges Sterben-Müssen. Das Dasein - sowohl in seinem
eigentlichen wie in seinem uneigentlichen Sein - verhält sich immer
schon zu diesem Zukünftigen in der einen oder anderen Weise. Hei-
degger versucht nun aus dieser »Kunft<< des Kommenden jeden An-
klang an den vulgären Zeitbegriff - und das meint mit: die geläufige
Unterteilung in die drei modi - auszuschließen: »Zukunft ist hier
nicht ein Jetzt, das noch nicht >wirklich< geworden, einmal erst sein
wird<<. Er will aber dabei sowohl das »Vor<< des Vorlaufens als auch
das ausdrückliche Zukunftsmoment des »Kommens<< irgendwie er-
halten. »Zukunft«, »Kommen«, »vor<< wird hereingenommen in die
»Kunft<<, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich
zukommt. Aber es wird nicht deutlich, wie das möglich sein soll, ohne

153
daß das »vor«-hafte Element in seinem geläufigen Verstande mitge-
dacht ist. Denn es wird nicht aufgezeigt, wie es etwa umgedaCht wor-
den wäre. Auch mit der Zurückweisung eines »Jetzt, das noch nicht
wirklich geworden, einmal erst sein wird« und der Reduktion von Zu-
kunft auf »Kunft« ist eben doch dieses Moment nicht ausgeschaltet, von
dem wir im modus Zukunft nicht absehen können, auch wenn wir
eine geläufige und sehr fragwürdige Unterteilung der Zeit in ihre drei
modi, als wären sie drei von einander getrennte Abteilungen eines Be-
hälters, hinter uns gelassen haben (S. u. Z. S. 3 2 5). Es ist ja gerade Hei-
deggers Herausbrechen des einen der drei modi aus >Zeit< für die Grün-
dung des »Vorranges von Zukunft« und damit letztlich von Sorge als
Zeitlichkeit, was in einer so entscheidenden Abhebung gegen die bei-
den anderen modi diese Verselbständigung von Zukunft erneut her-
aufruft und sie mit dem heimlich sich einschleichenden, aber ungeklärt
bleibenden »vor« wieder der »vulgären« Zeitauffassung annähert, -
wenn dann auch die Konsequenzen dieser Annäherung wieder aus-
geschaltet werden sollen und immer wieder die Gleichursprünglich-
keit von Zeitlichkeit nicht nur betont, sondern auch aufgewiesen wird.
Aber gerade diese Aufweisung ist es, die den Vorrang von Zukunft
um so fragwürdiger macht. Die Kennzeichnung des »Noch-nicht«, die
diesem einen modus nach der geläufigen Auffassung gegeben wird, ist
trotz ausdrücklicher Verwahrung dagegen mit dem Wort »Kunft«
genutzt, um gerade damit diesem modus den Vorrang zu geben. Nach
der Heidegger'schen Ableitung als solcher ist nicht einzusehen, wie
dieses »vor« ein anderes sein kann als eben dieses selbe, gegen das Hei-
degger es abgrenzen möchte. Und doch ist es gerade ganz unerläßlich,
die Modifizierung dieses »vor« einzusehen- und nicht nur für Hei-
deggers eigene Gründung von Zeitlichkeit.
Dazu kommt noch eine andere Schwierigkeit. Heidegger beansprucht
das »vor« in einer Besonderheit für den Vorrang von Zukunft, nach-
dem er jede der drei Ekstasen als ein »Horizont«-Geben verstanden
und sie also damit schon ganz grundsätzlich mit einem »vor« ausge-
stattet hatte. Naturgemäß ist dieses »vor« als Horizont in den drei
Ekstasen in sich unterschieden; aus dieser Verschiedenheit kommt ihnen
ja das Spezifische der jeweiligen Zeitlichkeit zu. Was aber hat es nun
mit dem besonderen »vor« von Zukunft auf sich, das es jetzt ein-
zusehen gilt? (Viertes Kapitel des zweiten Abschnitts von S. u. Z.)
Es wird plötzlich klar, daß in der Heidegger'schen Heraushebung
von Zukunft zwei verschiedene »vor« in einander spielen: I. das »vor«
von Horizontgeben als solchem, wie es grundsätzlich in jeder der drei
Lkstasen wirksam werden muß; 2. ein ungeklärt bleibendes »vor«,

I 54
das in einer Entsprechung steht zu dem geläufigen »VOr« in »Zu-
kunft«.
Wenn anders Dasein ein schlechthin ekstatisch-Existierendes, ein
sich Transzendierendes sein soll, dessen Sein die Sorge, der Sinn von
Sorge aber Zeitlichkeit ist, so kann gar nicht davon abgesehen werden,
daß gleichmäßig jeder der drei Ekstasen das grundsätzliche (wenn
auch in sich unterschiedene) »vor« innewohnt. Das ist eine der Vor-
aussetzungen, die die Ganzheit des Strukturganzen, genannt Existen-
zialität, begründen. Wie aber sieht nun dieses ganz besondere »Vor«-
Moment aus, ohne das wir, wie unklar zunächst auch immer, Zukunft
nicht denken können? Wie kann das ganz unwillkürliche Zurück-
greifen auf das geläufige »Vor«-hafte der gemeinhin verstandenen Zu-
künftigkeit fundamental-ontologisch verstanden und gleichzeitig ein-
geordnet werden? Jedenfalls kann das Mitschwingen dieses »vor« nicht
damit zurückgewiesen werden, daß man feststellt, es stamme aus dem
vulgären Zeitbegriff. Es muß auch geleistet werden, was Hei-
degger gelegentlich anderer Einwände aus dem vorontologischen Seins-
verständnis immer geleistet hat: ein Sich-Absetzen dagegen, - aber
außerdem die existenzial-ontologische Gründung dessen, was an dem
Abgesetzten nicht zu entbehren ist. Im »vor« von Zukunft ist diese
Frage offen geblieben.
Solange ist auch das »Zurückkommen-auf<< aus dem »Vorlaufen<<
nicht genügend fundiert. Es wird gesagt: »Das Vorlaufen macht das
Dasein eigentlich zukünftig<<. Das ist nicht dasselbe, was mit den Wor-
ten ausgedrückt wird, daß das Dasein »als seiendes überhaupt schon
immer auf sich zukommt<<. Nur von der Ekstase Gegenwart kann es
einen Sinn haben, ein ȟberhaupt-schon-immer<< festzustellen. Die Ver-
klammerung im »Zurückkommen« aus der Übernahme des »Gewe-
senen<< durch das »zukünftige Dasein<< einerseits, andererseits die Er-
möglichung der »Zukünftigkeit<< von Dasein auf Grund des übernom-
menen »Gewesen<< nivelliert doch den »Vorrang<< von Zukunft auf die
gleiche Stufe der Notwendigkeit, die auch der Vergangenheit zukommt
-als Gewesenheit. Denn das eine ist nicht ohne das andere. Gerade das
»Zurückkommen<< stellt einen anderen Vorrang heraus, den von Ge-
genwart; und dieser Vorrang konstituiert sich auf die Weise, daß zu
ihm sowohl Gewesenheit wie Zukünftigkeit zusammen treffen müs-
sen. Allein die Gegenwart kann »vorlaufen<<, »übernehmen<<, »zurück-
kommen << (S. u. Z. S. 325), aus welchem »schon immer<< Dasein, das
in der W eise der Eigentlichkeit existiert, in seiner Seiendheit zukünftig
sein kann.
Mit diesem Vorrang einer (erst noch näher zu kennzeichnenden)

155
Gegenwart bekommt das Wort »zukünftig« einen modifizierten Sinn
gegenüber dem Wort Zukunft als Ekstase. Wenn es das Vorlaufen ist,
das das Dasein »eigentlich zukünftig« macht, so vollzieht sich dieses
Vorlaufen nicht >innerhalb< einer Zukunft; noch konstituiert es diese
Zukunft. Ist nicht gerade das der Sinn von Vorlaufen, daß dieses immer
nur aus der jeweiligen Gegenwart heraus gesehen werden kann und
daß ein vorlaufend sein Gegenwart und zwar primär - mitsetzt?
Wenn es bis jetzt zweifelhaft bleiben konnte, daß das hier gesuchte
»vor« (neben dem grundsätzlich - ekstatischen allgemeinen »vor«
notwendig erfragt werden muß, so wird das sehr einsichtig werden,
wenn man die Ableitung »zukünftig« (als Adverb oder Adjektiv)
von Zukunft bedenkt. Zunächst scheinen in der Wortverbindung »ZU-
künftig seiend« zwei Ekstasen benannt, Gegenwart und Zukunft. Denn
»seiend sein« - wie auch immer im besonderen - meint in seinem
existenzialen Verstand »Gegenwart« immer schon mit, auch und viel-
leicht gerade dann, wenn dieses »seiend-sein« als ein »zukünftiges« ge-
kennzeichnet wird. Ist nun hier mit dem Wort »zukünftig« die Ekstase
Zukunft als solche in ihrer Gesondertheit genannt? Es wird gesagt:
»Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz ... « (S. u. Z. S. 350);
gerade das soll den Sinn von Existenzialität erst ausmachen. Aber da-
mit ist man nicht der notwendigen Klärung dessen enthoben, daß
erstens das »zukünftig« und zweitens das »seiend« in der Zusammen-
bindung von »zukünftig-seiend« nicht einfach den Horizont »vor«
der Ekstase Zukunft dem Horizont »vor« der Ekstase Gegenwart auf-
stockt (was Heidegger ohne Frage auch nicht will). Es muß möglich
sein, aus dem zweiten hier gesuchten »VOr«, das dem vVort als Ekstase
innewohnt, eine Modifizierung der Ekstase Gegenwart herzuleiten,
woraus erst verständlich werden könnte, daß in ihr das Dasein als ein
»zukünftig-seiendes« überhaupt existieren kann.
Ein Seiendes zeigt sich in seinem Sein durch Anwesen. Anwesen
heißt Erscheinen, Gegenwärtig sein. Das muß auch in der Abwand-
lung, die aus der notwendigen Unterscheidung von Dasein und Seien-
dem gefordert ist, für Dasein gelten. Dasein faßt in seinem eigentlichen
Sein sich aus seinem Gewesenen und zukünftigen Sein zusammen;
wenn auch unsichtbar, bringt es sich so erst zum Erscheinen, zum
Offenbarwerden des Geheimnisses, aus dem Dasein ist und in seinen
Möglichkeiten sein kann. In der vorlaufenden Entschlossenheit wird
es so sich selbst zur Gestalt; und das heißt, es wird als ein Selbst kennt-
lich und bringt sich in seinen Handlungen nach außen zur Erscheinung.
Sein Eigentlich-sein-können ebenso wie das sich selber in die Stän-
digkeit-dieses-Seins-Bringen und das in ihr sich-halten gelingt nur

153
auf dem Grunde von Schuldig-sein (Vergangenheit = Gewesenheit).
Mit dem vorlaufenden Blick zum Ende (zukünftig-sein) zusammen-
gebunden, ist das ein gegenwärtiges, gegenwärtigendes Geschehen im
Existieren als solchem. Dieses so seiende Selbst läuft aus von der mit
jedem Augenblick sich bezeugenden eigentlichen Existenz, die Vergau-
genes und Zukünftiges in ihrer jeweiligen Gegenwart kraft diesem
ihrem Selbst zum Stehen bringt. Es ist schon allein die Ständigkeit
des Stehens in einer Möglichkeit (zwar grundsätzlich immer wieder
erschütterbar in ihrer jeweiligen Gegenwart und immer wieder neu
zu festigen), die zwingt, das nvor«-hafte Moment von Zukünftigkeit
aus dieser Gegenwart her zu verstehen. Dieses zweite nvor« der Zu-
künftigkeit aber ist im Augenblick des Hereinnehmens von >Zukunft<
in eine auszuhaltende gegenwärtigende39 Gegenwart zu etwas gleich-
sam Inhaltlichem geworden. Zum mindesten aber ist es nicht ab-
trennbar mehr von dem, was jeweils nun konkreter Inhalt dieser Mög-
lichkeit werden soll oder schon geworden ist. (Mit dem Blick auf die
Angst vor der ausgezeichneten letzten unbezüglichen Möglichkeit des
Todes wird das besonders einfühlbar.) Dieses so modifizierte nvor«,
in dem das vulgärzeitliche »vor« irgendwie wieder zu erkennen ist,
ist damit aufgewiesen als ein spezifisches zur Zukunft als solcher ge-
hörendes Element, das gesondert von dem jeder Ekstase als »Hori-
zont« eignenden »vor« im Blick zu behalten ist, wenn anders eine Be-
trachtung die Zeit, die Zeitlichkeit existenzial-ontologisch verstehen
will. Heidegger sagt, daß die Gewesenheit der Zukunft entspringt, so
zwar daß, Dauer ausdrückend, »die gewesene ... Zukunft die Gegen-
wart aus sich entläßt«. Heidegger selbst korrigiert das »gewesene«
dieses Satze in: »die gewesene, besser gewesende« Zukunft. Wieder
wird im folgenden Satz ein participium praesentis »gewesend gegen-
wärtigend« zu Zukunft gestellt. Der Zukunft werden die Elemente
von Gegenwart und Vergangenheit hinzugetan, und das in einem Sinn
von Dauern, der wiederum doch nur mit Gegenwart zusammenzu-
stellen sinnvoll wäre. Und zwar geschieht das auf eine Weise, in der
das Hervorgehen-lassen sein Hervorgebrachtes gewissermaßen in ei-

39 Heidegger will das Wort »gegenwärtigen« inS. u. Z.S. 33 8nur für die uneigent-
liche Gegenwart gebraucht wissen, während er die eigentliche Gegenwart mit »Augen-
blick« bezeichnet. Aber auf S. 3 z6 heißt es: »Zukünftig auf sich zurückkommend
bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation.« Das aber ist ein
Eigentlichsein. (Wahrscheinlich ist hier ein unausgeglichener Sprachgebrauch stehen
geblieben.) Nur um Mißverständnissen vorzubeugen, sei betont, daß in den nun fol-
genden Erörterungen davon abgesehen wird, das Wort »gegenwärtigen« nur für die
uneigentliche Gegenwart zu gebrauchen. Es kann in unserer Untersuchung das Wort
"gegenwärtigen« nicht entbehrt werden.

157
nem Prozeß mit sich führt. Aber auch diese Vorstellung läßt sich nur
unter dem Horizont Gegenwart vollziehen. Mit all dem will aber
Heidegger eine Modifizierung der Ekstase Zukunft ermöglichen, im-
mer wieder unter dem Gesichtspunkt einer noch stärkeren Begrün-
dung des Vorranges von Zukunft. Ware es nicht einzig sinnvoll, die
jeweilige Gegenwart des Existierens mit den sie verwandelnden Ele-
menten aus Vergangenheit und Zukunft gleichsam anzureichern? Wäre
nicht überzeugender auf diese Weise das einheitliche Phänomen der
Zeitlichkeit aufzuzeigen (worauf es doch Heidegger ankommt)? Das
in seiner einheitlich durchgehenden Struktur als Zeitlichkeit bestimmte
Dasein ermöglicht sich erst »als das eigentliche Ganzseinkönnen der
vorlaufenden Entschlossenheit« (S. u. Z. S. 3 26). Dieses »Sich-ermög-
lichen« darzutun scheint unentbehrlich. Aber ist dieses seihe Resultat
nicht besser und ungezwungener zu sichern, wenn die Ekstase Zukunft
aus ihrer präponderierenden Stellung zurückgenommen würde? Sie
konnte dahin nur gelangen aus einem gewaltsamen und unbefriedigend
bleibenden Zurückdrängen dieses »vor«-haften Elementes, das allen
drei Ekstasen eignet. Damit wurde die Struktur von »Horizont« in
ihrer grundsätzlichen und durchgreifenden Funktion für alle drei Ek-
stasen geschwächt. Eine nähere Untersuchung ergab jedoch, daß ein
»vor« von diesem »vor« des Horizontes zu unterscheiden, ja als ein
selbständiges Element herauszustellen war. Ferner war ein ungeklärter
Rest geblieben; denn das »vor« des allgemeinen Seinsverständnisses
war nur negiert worden. Die Anzeige der Notwendigkeit einer Klä-
rung des »vor«- schon darum, weil es in der Grundbefindlichkeit der
Angst immer wieder aufbricht ( »Wiederholbarkeit«: S. u. Z. S. 343) -
wurde mit der Beantwortung aus einer existenzial-ontologischen Fra-
gestellung nicht aufgegriffen.
Wenn jede Gegenwart für ein eigentliches Existieren nur ist in
einem entschlossenen Sein-zum-Ende, wobei in jeder Situation, die ein
Sich-Entscheiden und ein Handeln verlangt, immer schon eine Stän-
digkeit mitgedacht ist (auszuhaltende Möglichkeit), die dieses Ende
einschließt; wenn also das Dasein nicht einfach einmal aufhört, sondern
als ein endliches existierendes ist, so ist der Vorrang von Gegenwart
gegeben. Es bedarf gar nicht eines Vorranges von Zukunft, um die
Zeitlichkeit als endliche zu erweisen. Da dieses »endlich existieren«
immer ein »Zukünftig seiendes« sein muß (Sein-zum-Ende), bestimmt
dieses >>zukünftig« aus einem spezifischen «vor« als einem quasi inhalt-
lichen Element vom Ende her >>Zurückkommend« das »endlich Exi-
stieren« in der jeweiligen Gegenwart.
Wie aber ist nun das gesuchte besondere >> Vor<<-Element von Zu-

153
kunft, jetzt von der Gegenwart her gesehen, imstande, diese Gegen-
wart zu modifizieren?Die Existenz, die sich in der Freiheit zum Tode
entschlossen entwirft zum Sein zum Ende und in diesem in jedem
»Augenblick« einer Entscheidung ständig existiert, verwandelt das äng-
stende »vor« des »Jetzt-noch-nicht« zu einem »immer-schon-Jetzt<<.
In diesem verwandelt-Haben erst kann das Dasein ein zukünftig-
existierendes geheißen werden. Für jeden neu in die Gegenwart ein-
tretenden »Augenblick« ist das Verwandelt-Haben des zukünftigen
»vor« zu einem apriorischen Perfekt geworden. Das »Nicht« im »Jetzt-
noch-nicht« als Zukunft ist der Reichweite des alltäglichen Daseins
entrückt. Es ist darum ein echtes Negativum und keineswegs zu be-
schönigen damit, daß es »noch« in der Ferne liegt. Seiner sich be-
mächtigen verlangt einen dialektischen Vollzug, der nur mit der Exi-
stenz selbst zu leisten ist. Dieses nNicht« habhaft zu werden im ent-
schlossenen Einbeziehen in die gelebte Gegenwart, ist nur möglich
in einem spontanen Sein zum Verwandeln, das aus der Freiheit zum
Tode sich ermöglicht. Ein unausweichlich in Zukunft Kommendes,
das gerade in seiner Unbestimmtheit des »Wann« das Ängstende an
sich hat, wird zum Momen.t des »Immer-schon-Jetzt« gemacht. Das
>>noch-nicht« als ein Zeitliches ist, weil es Moment von Zeitlichkeit
überhaupt ist, nur aus dem Sein von Sorge = Dasein = Zeitlichkeit
(Gleichursprünglichkeit) in einer dialektischen Verwandlung erreich-
bar. Das geschieht im Vorlaufen in eine Zukunft, aus einer seienden
Gegenwart heraus, um aus dieser Zukunft mit dem ihr zugeordneten
Zukünftigen zurückzukommen in die Ständigkeit des »Jetzt-schon-
immer«. Diese Ständigkeit des »Jetzt-schon-immer« ist gar nicht an-
ders zu denken, als daß sie auch immer schon die Gewesenheit einge-
schmolzen hat (denn wo sollte das »immer« sonst anfangen?) als das
Geworfensein ihres Grundes. Dieser Grund enthält die Endlichkeit in
sich, die aus dem »ständig« »zukünftig-sein« »immer« auch in einem
jeden Jetzt sich bestätigen muß.
Wenn es das Wesen des ursprünglichen Nichts ist: »es bringt das Da-
sein allererst vor das Seiende als solches«, so ist damit das Dasein
erwiesen als ein Transzendierendes, und das heißt: es hält sich »im
vorhinein in das Nichts hinein«. Ware dem nicht so, so »könnte es sich
nie zu Seienden verhalten, also auch nicht zu sich selbst« (W. i. M.
S. 3 2 ). Wenn »ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbst-
sein und keine Freiheit« ist, so ist das Nichts nicht nur »die Ermög-
lichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das mensch-
liche Dasein«; sondern es ist auf dem Grunde der Angst auch die Er-
möglichung der Erschlossenheit für jeden gegenwärtig zu ergreifenden

159
Augenblick. Zwar: »das Nichts ist uns zunächst und zumeist in seiner
Ursprünglichkeit verstellt. Wodurch denn? Dadurch, daß wir uns in
bestimmter Weise völlig an das Seiende verlieren«. Jedoch, eindring-
lich zeugt »für die ständige und ausgebreitete, obzwar verstellte Offen-
barkeit des Nichts in unserem Dasein ... die Verneinung«, das immerzu
von uns gesagte »nicht« (W. i. M. S. 3 2 f.).
Aus einem solchen verstellten Offenbarsein sagen wir unter anderen
auch das >>Nicht'' des »Jetzt-noch-nicht''· Das »Nicht« aber »entsteht
nicht durch die Verneinung, sondern die Verneinung gründet sich auf
das Nicht, das dem Nichten des Nichts entspringt«. Verneinen wir
nicht in verstellender Abkehr mit der Verneinung das Nicht, das auf
dem Grunde unseres Daseins west? Aber überschwingt sich nicht ge-
rade dann das Dasein, wenn es nach dem Tod fragt, über die geläufig
verneinenden Antworten aus der Alltäglichkeit? Wenn es zu sich als
einem Selbst kommt, so erhält es nicht nur »das Seiende ... als ein sol-
ches und im Ganzen für das Begreifen zurück«, sondern in der Frei-
heit zum Tode besitzt es dann auch Sich Selbst als Dasein in seiner
Ganzheit (W. i. M. S. 35). Sind es nicht diese Überlegungen, aus
denen hervorgeht, daß immer schon das Dasein darauf verwiesen sein
muß, das »Nicht« dieser ausgezeichneten Verneinung des »Jetzt-noch-
nicht'' in jedem »Augenblick« seiner seienden Gegenwart zu verwan-
deln?- aus welcher Verwandlung erst die Ganzheit als das notwendige
»Immer-schon-jetzt« wird. Heidegger sagt: »Im Nichts des Daseins
kommt erst das Seiende im Ganzen seiner eigensten Möglichkeit nach,
d. h. in endlicher Weise, zu sich selbst« (W. i. M. S. 36). Das muß im
besonderen gelten für das Sein des Daseins, die Ganzheit von Leben
und Tod. Es ist hierbei keineswegs vergessen, daß Dasein nicht ein
»Seiendes« ist wie das es umgebende Seiende. Dasein ist im Sprach-
gebrauch Heideggers unterschieden von dem einzelnen Seienden inner-
halb des Seienden im Ganzen. Ebensowenig ist außer acht gelassen, daß
in »Was ist Metaphysik?« primär nach Sein überhaupt und nach dem
Nichts zum Seienden gefragt wird und nicht nach dem Sein von Da-
sein. Aber dieses Nichts zum Sein greift im Nicht der Verneinung hin-
ein in das Dasein, -wo anders hin sollte es sich ereignen? Heidegger
nennt (W. i. M. S. 33 f.) außer dem Nicht der Verneinung verschiedene
und durchgreifende Weisen der Offenbarkeit des Nichts im Dasein,
und zwar geschehen sie ausgehend vom Nichts zum Sein. Gerade
das ist Heideggers Ausgangspunkt für die Gründung von Verneinung
im Nichts zum Sein. Diese hier vorgenommene Ausdrücklichkeit der
Ausweitung ist darum keine Gewaltsamkeit; sie rechtfertigt sich aus
der ursprünglichen Heidegger'schen Fragestellung.

r6o
Der Versuch, einige Ableitungen Heideggers zur Zeitlichkeit durch-
zudenken, möchte hier nur dazu dienen, verschärft das Augenmerk
auf Folgendes zu richten: vom Punkt der Nutzung oder Nicht-Nut-
zung des Nicht-Momentes in der Zeit-Anschauung und damit auch
im Verwandeln, beziehungsweise im Ermöglichen, gehen die Wege des
Denkers und des Dichters auseinander. Erst von dieser »Gegenwart«,
die im Durchschreiten des Nicht verwandelt wurde, lassen sich einige
Äußerungen Rilkes zum Problem des Todes in ihrer ganzen Tragweite
einsehen. Nur zu gern weist man sie einem unverbindlich bleibenden
Bereich des Metaphorischen zu. Sieht man jedoch scharf zu, so eröffnet
sich eine von Gewesenheit und Zukünftigkeit erfüllte, wirklich gelebte
Gegenwart. Verwandelt ist sie in das gegenwärtige Existieren hinein-
genommen: »Und selbst Leben und Tod! Wie offen die Wege von
einem zum anderen für uns ... « (Br. 21/26, S. 47). »Gott, wenn ich!
denke, wie flutets herüber über die Ränder der Kindheit -, und kann
ich behaupten, daß meine Jugend je irgendwann zu Ende war?« 40 Der
Grund von Gewesenheit führt in eine ständige Annäherung an den Tod:
»Er, der uns wahrscheinlich so nahe ist, daß wir die Entfernung zwi-
schen ihm und der inneren Lebensmitte in uns gar nicht feststellen kön-
nen ... « (Br. 1 4!2 1, S. 89). So wäre schon das gelebte Leben fähig, in
seinem Gegenwärtigsein von sich zu sagen, was die achte Elegie von
dem Augenblick des Sterbens aussagt: »Denn nah am Tod sieht man
den Tod nicht mehr ... « und das heißt hier: Man sieht ihn nicht mehr
in dem Nicht der Negativität.
Es ist deutlich geworden: die primäre Ekstase ist für Heidegger
die Zukunft; der primäre modus der Zeit ist für Rilke die Gegenwart.
Es ist das eine Gegenwart der Vergegenwärtigung; Rilkes Dasein kon-
stituiert sich primär aus dieser; und damit schließt sich der Kreis der
Betrachtung. Der Differenzpunkt des Rilke'schen Verwandeins zur
Heidegger'schen Ermöglichung liegt in der Zeitauffassung; er zeigt
deutlich: die Gegenwart ist der modus der Zeit, der notwendig für
eine existenzielle Dialektik vorzugeben wäre. Nur von ihr aus ist es zu
verstehen, wie das Verwandeln schließlich zum Innen-verwandeln wer-
den kann. Mit oder ohne die Objektivierung im Kunstwerk »ermög-
licht« das Verwandeln »einen heilerenZustand (hier gesperrt) in der
Mitte des eigenen Wesens« (Br. 2 r/26, S. 48). Ein Zustand ist nur als
Gegenwart zu denken. Auch diese Gegenwart Rilkes gründet in einer
»Gleichursprünglichkeit« von Vergangenheit, Zukunft und Gegen-
40 vgl.dazu RilkesAusführungen zurvon ihm so genannten »Bewußtseinspyramide«

(Br. 21/z6,S. z8o); vgl. dazu Buddeberg »Rainer Maria Rilke, eine innere Biographie «,
s. 379 f.
161
wart, aber mit dem Schwerpunkt in der Gegenwart: nWie kann I das
Geringste geschehn, wenn nicht die Fülle der Zukunft, I alle voll-
zählige Zeit, sich uns entgegenbewegt?« (nPerlen entrollen . . . «,
Ged., S. 99 f.), --um in uns anzuwesen, um Gegenwart zu sein.
Das Vorlaufen zum Tode und die Entschlossenheit zum Sein-
zum-Ende befreit eigenste existenzielle Möglichkeiten. Davon aus-
gehend, wird von Rilke eine metaphysische Sicht vom Ort des mensch-
lichen Daseins ausgebildet. Die Duineser Elegien in erster Linie und
manches späte und späteste Gedicht geben davon Zeugnis. Etwas Der-
artiges in einer ausgesprochenen Ausdrücklichkeit bleibt bei Heidegger
offen, so viele Ansatzstellen dazu man auch in den Schriften nach nSein
und Zeit« erkennen zu können meint. Es muß aber durchaus festge-
halten werden, daß die in einem gewissen Sinn inhaltlichen Ausge-
staltungen Rilkes in sich selbst eine Heidegger'sche ermöglichte Mög-
lichkeit aus dem vorlaufenden Rücklaufen darstellen.
Solche Möglichkeiten vor der äußersten unüberholbaren Möglich-
keit des Sterbens zu erschließen im rücklaufenden Vorlaufen zum Tode,
müssen aus der Heidegger'schen existenzial-ontologischen Fragestel-
lung notwendig ihrem Gehalt nach unbestimmt gelassen bleiben. Die
jeweilige Existenz hat ndie Freiheit für« ihre Ausfüllung. Daraus den
Vorwurf abzuleiten, sie bestünden nicht, zeigt nur das Unverständnis
für das Verfahren einer nfundamental-ontologischen« 41 Betrachtung.
In der persönlichen Konzeption Rilkes ist es dasselbe vorlaufende
Rücklaufen Heideggers, das- nun existenz-dialektisch vollzogen- aus
der nichtenden Erfahrung von Vergänglichkeit das Bewußtsein von
Dauer hervorgehen läßt. Es ist diese Anschauung von einer gleichsam
dialektisch-handelnden Gegenwart, von einer verwandelnden Gegen-
wärtigkeit, die Rilkes metaphysische Sicht trägt. Diese Sicht ist nicht ab-
lösbar von einer Bezogenheit von Zeit zu Sein, die allerdings formal-
struktural erst zu durchleuchten wäre. Aus dieser Bezogenheit kann ein
Geschehen im Sein - zum Beispiel das transzendente Ereignis, das sich
uns als eine Verlegung des Schwerpunktes aller Geschehnisse von außen
nach innen anschaulich macht- das Dasein erst ansprechen, auf daß das
Dasein seinerseits entsprechen kann42 • Es ist das dieses Ereignis, das

41 Die Millverständnisse, die sich an dieses Wort angeschlossen haben, veranlassen


Heidegger, diese Kennzeichnung- jedoch keineswegs ihren Gehalt- zurückzunehmen.
(Platons Lehre, S. 109 f.)
42 über das »Zurückschlagen einer im Äußern überfüllten Welt ins Innere« vgl.
Br. o7h4, S. 219. »Die Welt zieht sich ein«, S. 213. Man lese aus dem Blickpunkt des
Textes die Verse der siebenten Elegie: »Wo einmal ein dauerndes Haus war ... « im
Zusammenhang mit Heideggers Vortrag »Die Frage nach der Technik« in Vortr.
5. IJ ff.

153
unsere Weltstunde bestimmt, nach der Meinung des Dichters und -
wenn auch erst aus wirklich begründeter Einsicht - ebenso aus der
Meinung des Denkers. Es ist das dieser Wandel, aus dem der geschichts-
fremde Rilke an diesem Ort der Zeit die Notwendigkeit des innen-
Verwandeins für das Dasein herleitet, wenn anders es noch Gestalt
verwirklichen will. Erstrebte, erreichte Gestalthaftigkeit bedeutet für
Rilke die Möglichkeit einer Überwindung der Seinsferne. Sein heißt
nach Heidegger anwesen: »Anwesen ist Währendes, das in die Unver-
borgenheit herein und innerhalb ihrer west«, in ihr »gegenwärtig«
wird. Zum »Anwesen« gehört also Gegenwart und Dauern (»Was
heißt Denken?<< in Vortr. S. 142). Der Mensch ist in dieses Ge-
schick gestellt, welches Sein auf mannigfache Weise entbirgt und doch
wieder verstellt: »Der Menschwest so, daß er das >Da<, das heißt die
Lichtung des Seins ist<< (Platons Lehre, S. 69; vgl. dazu S. u. Z. S. 42;
W. i. M. S. 13). Heidegger denkt unter dem (vorläufigen) Titel einer
»Geschichte des Seins<< in immer wieder aufgenommenen Ansätzen
dem Problem der Lichtung des Seins in der ekstatischen Existenz im-
mer wieder nach. Der Dichter erfühlt die hier waltenden Bezüge; er
begnügt sich damit, sie in ein Bild zu fassen: eine »in den Dingen<<
waltende Bezogenheit - und diese Dinge sind schließlich >Welt<, das
Seiendsein des Seienden- scheint den Menschen zu beanspruchen. Ins-
besondere der Dichterist angefordert, aus seinem tieferen Wissen darum,
was Gestalt eigentlich meint, in dieses aus dem Sein selbst ereignende Ge-
schehen sich einzustellen, wenn er die Zeichen der Zeit recht versteht.
Der letzte Satz von »Sein und Zeit<< Heideggers erhebt sich auch ge-
genüber Rilke zu einer Grundfrage: »Offenbart sich die Zeit selbst
als Horizont des Seins?<< 43 Nimmt man sich die Freiheit, diesen Satz in
einem metaphorischen Gebrauch an Rilkes existenzielles Verhältnis zur
Zeit heranzutragen, so rücken seine einprägsam geschauten dichteri-
schen Bilder, die den Horizont der Zeit einzufangen suchen, in den
Aspekt eines heutigen philosophischen Fragens. Daß diese Bilder in ihm
aufsteigen konnten, zeigt ihn in der Beunruhigung durch ein neu ge-
stelltes Fragen der ewigen Frage nach dem Ort des Menschen im Seins-
zusammenhang. Das innen-Verwandeln begründet ihn in jeder neuen
Gegenwart aus einer immer wieder veränderten Situation immer wie-
der neu,- aber immer wieder in Bezug zu dem, was in ihr als Lichtung
von Sein überhaupt sich enthüllen will. Da, wo seine Gedanken über

43 Mit dem Nachweis des inneren Zeitcharakters der transzendentalen Einbildungs-

kraft sucht Heidegger der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen (Kant und
das Problem der Metaphysik).

153
das Sein des Menschen in kosmische Weiten vorzudringen suchen (im
sogenanten Elegien-Brief, Br. 2 x/26, S. 3 35) gehen sie über versuchende
Spekulation nicht hinaus. Aber auch dort ist das Bemühen am Werk; die
für ihn aus existenzieller Erfahrung gewonnene Bezogenheit nicht nur
von Sein von Dasein zu Sein überhaupt, sondern von Sein überhaupt zu
Dasein zu erfassen. Der Dichter erscheint bei ihm (und auch bei Hei-
degger) gleichsam vom Sein selbst berufen, Antworten zu suchen. Von
Rilke persönlich aus gesehen, ist das nicht - wie man kurzschlüssig
immer wieder meint- eine »Reduktion« der bewegenden Frage nach
dem Ort des Menschen auf das Ästhetisch-Unverbindliche. Der Dichter
erfühlt vielmehr in Rilke die innerste Bezogenheit von Wortgebung
und Sein. Und für den Denker Heidegger ist dies ein Blickpunkt, aus
dem er, streng methodisch, die Frage der Seinsvergessenheit immer er-
neut angeht.

DIE SEINSVERGESSENHEIT

Wollte man einen dem Denker und dem Dichter gemeinsamen Punkt
bezeichnen, vom dem das Denken und das Einsehen-wollen beider sich
abstößt, einen Punkt, bewußt geworden und formuliert in der Sprache
des Denkens, so wäre er 'mit einem Satz Heideggers zu bezeichnen:
»Wie, wenn das Ausbleiben des Seins den Menschen immer ausschließ-
licher nur dem Seienden überließe, so daß der Mensch vom Bezug des
Seins zu seinem (des Menschen) Wesen fast verlassen und diese Ver-
lassenheit zugleich verhüllt bliebe? Wie, wenn es so wäre und wenn es
seit langem schon so wäre? Wie, wenn Zeichen dahin deuteten, als
wolle diese Vergessenheit inskünftig sich noch entschiedener in der
Vergessenheit einrichten?« (W. i. M. S. I 1). Und immer kämen
Denker und Dichter in einem Wort überein als ihrer beider Wege
Sinn und Ziel: »Wohin anders geht >die Sorge< als in die Richtung,
den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen?<< (Platons
Lehre, S. 61).
Das, was den Malte schon in seinen sieben Fragen (GW V, S. 29;
Br. 14h1, S. 86) beunruhigte, war die eine Frage nach den »Elementen
des Lebens<<. Hier ist »Element<< nicht als Bestandteil zu denken. Das
von Rilke in diesem Zusammenhang gebrauchte »möglich<< legt nahe,
die Elemente als »das eigentlich vermögende <<zu verstehen: »Das Ver-
mögen<<, wie Heidegger dieses Wort (Platons Lehre, S. 56) gebraucht.

153
»Wie ist es möglich dazusein? « Diese in der Einfalt des geängsteten
Herzens ausgesprochene Frage, die allen anderen zugrunde liegt, ent-
hüllt sich dem näheren Zusehen als die Frage nach der »Ermögli-
chung« des Seins des »Da« und seinem Ort im ganzen Seinszusammen-
hang.
Heidegger begründet den Sinn von Sein dieses »Da« in der dieses
Sein konstituierenden Existenzialität. Diese ermöglicht nicht nur das
Fragen als Fragen, sondern ist in sich selbst der Grund der Ermög-
lichung des Seins von Dasein auch in allen den Bezügen, die Malte mit
seinen sieben Fragen, stellvertretend gleichsam, nur soeben anrührt.
Wenn »die Elemente des Lebens uns völlig unfaßlich sind«, so ist
diese Faßbarkeit nicht freischwebend von einem beliebigen inner-
menschlichen Aspekt aus, so oder so, mehr oder weniger überzeugend,
zu lösen. Das weiß auch Malte, trotz seiner offenbaren Ratlosigkeit.
Die zu findende Antwort kann erst ihre Verbindlichkeit aus einer
Gründung des Bezuges von Sein von Dasein zu Sein überhaupt ge-
winnen. Wenigstens hat das dann zu gelten, wenn die Verbindlich-
keit einer Antwort kraft der Bindungen im religiösen Bekenntnis nicht
mehr gewährt ist. Die erlittene Negativität einer Daseinsverfassung
wie die des Malte, der Versuch, aus ihr herauszufinden, ebenso wie Hei-
deggers >>Besinnung auf das Wesen des Menschen«, geht aus von der
(zunächst) »unausgesprochenen, weil erst zu erweisenden Erfahrung
der Seinsvergessenheit (und) schließt die alles tragende Vermutung
ein, gemäß der Unverborgenheit des Seins gehöre der Bezug des Seins
zum Menschenwesen gar zum Sein selbst« (W. i. M. S. 13). Wte aber
ist dieser Bezug zu erfahren?
Für den Denker wie für den Dichter gibt es eine der Weisen, in wel-
cher, ihnen offenstehend und sehr naheliegend, die U nverborgenheit
des Seins in ihrem Bezug zu Dasein sich enthüllen kann: die Sprache
und das Kunstwerk. In der Sprache, im Wort, in der Gestalt der Kunst
wird es auf die eindringlichste und vielleicht am leichtesten faßliche
Weise deutlich, daß und warum »der Mensch so west, daß er das >Da<,
das heißt die Lichtung des Seins ist« (Platons Lehre, S. 69). Denn dieses
»Da« ist nur als »ekstatisches Ionesteben in der Wahrheit des Seins«.
Um das etwas besser zu verstehen, müssen wir uns der Abhandlung
vom »Wesen der Wahrheit<< wenigstens kurz zuwenden.
Mit der Nennung dieser Schrift ist das Problem von Heideggers
»Kehre« berührt. In »Sein und Zeitc< war die Frage nach dem Sein auf..,
gerollt worden, ausgehend von einer existenzialen Analytik des Da-
seins. Die Existenzialität konstituierend, gehört ihr »ein Verstehen
des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden<< wesensmäßig zu (S. u.

153
Z. S. q). Dasein fungiert in »Sein und Zeit« »als das grundsätzlich
vorgängig auf sein Sein zu befragende Seiende« (S.u.Z.S.r4). Von »Sein
und Zeit« aus gesehen, ursprünglich gedacht als dritter Abschnitt des
ganzen ersten Teiles dieses Werkes, »kehrt sich das Ganze um«. Im
Humanismusbrief (Platons Lehre, S. 72) sagt Heidegger, daß und
warum dieser Abschnitt zurückgehalten wurde. In dem Vortrag »Vom
Wesen der Wahrheit« ( 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst 1943 ge-
druckt) ist ein »gewisser Einblick in das Denken der Kehre von »Sein
und Zeit« zu >Zeit und Sein«< gegeben.
Diese »Kehre<< ist das Angehen desselben Zieles von »Sein und
Zeit<<, nämlich der Frage nach dem Sein, aber gleichsam vom anderen
Ende des Weges. Die so viel und so oft mißverständliche beredete
Kehre44 soll hier nur insoweit befragt werden, um sie wenigstens
grundsätzlich begreifen zu können. Von ihr aus fällt nicht nur auf
manches bis hierher Erörterte aus dem Heidegger'schen Denken ein
erhellendes Licht. Von hier aus wird auch das Anliegen der vorliegen-
den Arbeit noch deutlicher: Ist es möglich, einen Denker und einen
Dichter aufzuzeigen am gleichen Ort der Zeit, beidein derselben Not-
wendigkeit, getrieben vielleicht vom Geheimnis des Seins selbst, um
Antwort zu geben auf ewig alte Fragen, die neu gestellt ein Ereignis
des Seins selbst sind?
Der neuzeitliche Mensch fragt alle Fragen aus seiner Entfernung
vom Sein. Von der Heidegger'schen Kehre aus steht »zur Entschei-
dung, ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Be-
zug zum Wesen des Menschen ereignen kann ... << (W. i. M. S. ro).
Im Ereignen dieses Bezuges geschieht Wahrheit. Vorhinein aber wäre
die Frage zu beantworten: Wie ereignet sich Wahrheit? Was ist ihr
Wesen? Es kann hier nicht im einzelnen auf die Schrift »Vom Wesen
der Wahrheitcc 45 eingegangen werden. Es ist von unserer Frage nach
dem Bezug von Sein-überhaupt zu Dasein, und also dem »Wahrcc-
werden, dem Offenbar-werden dieses Bezuges aus nur mit einem alle
Beweisführung überfliegenden Sprung zusammenzufassen: Aus der
Erschlossenheit seines eigensten Seins ist Dasein »in der Wahrheit<<;
weil aber zur Seinsverfassung des Daseins »Verfallen<< gehört und da-

44 In den Zusammenhang dieser Kehre ist auch die Antrittsvorlesung »Was ist Me-
taphysik?« zu stellen, veröffentlicht im gleichen Jahr, hier zitiert nach der fünften Auf-
lage von 1 949·
45 Diese Schrift ist keineswegs »eine Änderung des Standpunktes von Sein und
Zeit«, wie Heidegger ausführt (Platons Lehre, S.7z), im unausgesprochenen Bezug auf
die vielen Mißverständnisse, die sich an das »Wesen der Wahrheit« angeschlossen
haben.

166
mit »Verschlossenheit», so ist Dasein zugleich wesenhaft »in der Un-
wahrheit«46 (S. u. Z. S. 220 ff.). Wahrheit, zu der diese Gegenwendig-
keit in ihr selbst wesensmäßig gehört, steht in einem ursprünglichen
Zusammenhang mit Sein überhaupt. Nur darum .kann Heidegger die
Frage »nach dem Wesen der Wahrheit« zurückbiegen in die Frage nach
»der Wahrheit des Wesens« (W. d. W. S. 25).
Heidegger hat darauf hingeführt: »Das Wesen der Wahrheit ist die
Freiheit«. Diese zunächst befremdende Definition muß sich erst ent-
hüllen aus einem Verständnis dessen, was Freiheit hier meinen kann.
Und zwar muß dazu auf beiden Seiten des gestifteten Bezuges »in der
Wahrheit«, also auf Seiten von Sein-überhaupt zu Sein von Dasein
wie von Dasein zu Sein, die hier gesuchte Erklärung von »Freiheit« in
einer wesenhaften Entsprechung zu einander stehen. Von seiten der
Existenz ist diese Freiheit ein »Freisein-für« ein jeweiliges Seiende, um
es sein zu lassen als das, was es ist. Zu diesem »Freisein für« gehört
primär und notwendig auch ein »Freisein von« allen Vormeinungen
der Subjektivität, die dieses »Freisein für« als ein Offenstehen für das
jeweilige Seiende einschränken könnte. Dieses »Freisein für« hat sich
diesem Seienden auszusetzen; das ist nur eine andere Umschreibung
für das Wesen der Existenz.
Das »Freisein für« hat zwei Voraussetzungen. Die eine liegt darin,
daß die Existenz sich immer schon freigegeben haben muß »in ein
Offenes für ein aus diesem waltendes Offenbares« (W. d. W. S. 12).
Das »Freisein für« setzt sich vor: das Übernehmen einer Bindung an
das Walten dieses Offenen. Zusammenfassend wäre also das Wesen
der Wahrheit auf seiten der Existenz zu denken als »Freisein für«
eine Bindung. Heidegger wehrt nachdrücklich die Irrmeinung ab, als
sei diese Freiheit in ein menschliches Belieben gestellt. Freiheit zu be-
greifen in Bezug auf diese sich hier ereignende Wahrheit bedeu-
tet: »Der Mensch >besitzt> die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern
höchstens gilt das Umgekehrte: die Freiheit, das ek-sistente, entber-
gende Da-sein besitzt den Menschen und das so ursprünglich, daß ein-
zig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und
auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen
gewährtcc (W. d. W. S. 16).
An diesem Satz wird deutlich, daß in der Frage nach dem Wesen der
Wahrheit als Frage nach der Wahrheit des Wesens = Sein das Sich-

46 Zur Unverborgenheit als »Lichtung«, als Wahrheit gehört das »Verweigem«

von Lichtung und Gelichtetem in der Weise des Verbergens. Zur Frage der Gegen-
wendigkeit der Wahrheit, immer wieder eindringlich erörtert in der Schrift »Vom
Wesen der Wahrheit«, vgl. auch »Ursprung des Kunstwerkes« (Holzwege, S. 43).

153
Ereignen von Wahrheit in Bezug zu Geschichte und also zu Zeit und
als Zeit zu Dasein = Zeitlichkeit gestellt ist. Für die »Zur Entschei-
dung« stehende Frage, »ob das Sein selber aus seiner eigenen Wahr-
heit einen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann«, ist mit
Geschichte = Zeit = Zeitlichkeit eine Brücke geschlagen.
Es gilt, noch deutlicher nun, vom Sein aus gesehen, eine Entspre-
chung zu Freiheit = Wahrheit in der E>istenz aufzuweisen. Wenn das
Wesen der Wahrheit Freiheit ist und diese Freiheit nicht in dem Macht-
bereich des Menschen liegt, sondern diese Freiheit die Bindung an eine
»Richte« einschließt, die der Existenz »vorgegeben<< und also von ihr
zu übernehmen ist, so muß in Sein-überhaupt etwas walten, was sich
in diesem Zusammenhang als Freiheit enthüllt: Das kann nur die Du-
verborgenheit des Seins selbst sein, als das Offene, in der die Ent-
bergung des Seienden sich ereignet.
Das kreisende Denken Heideggers über das Wort »Freiheit<<, »Frei-
sein für<< mit seiner »Freiheit von<<, das »Offene«, »Offenbare«, »Du-
verborgenheit<< ermöglicht sich aus einer verschwiegenen Bezogen-
heit dieser Wörter zu dem Grundwort »Freiheit<< in der Weise, daß
mit ihrer jeweiligen Nennung immer das »Freie<< von Freiheit mit-
schwingt wie Obertöne eines Grundtones: was offen ist, ist frei von
Einschränkung; was unverborgen ist, tritt in die freie Sichtbarkeit,
usw. Diese zweiseitig gestützte Ableitung vom Wesen der Wahrheit
als Freiheit leuchtet dann besser ein, wenn diese Substantiva verbal
gedacht werden. Nur so sind sie aus der Vergegenständlichung zu
befreien, in die unser Denken immer wieder zurückfällt; und so sind
sie vor dem Mißverständnis einer Gegenüber-Situation von Subjekt-
Objekt zu bewahren47•
Die Umfassung des im Wesen der Wahrheit Gedachten kann mit
diesen notwendig unzulänglich bleibenden Hinweisen nicht erreicht,
sondern nur dem Nachdenken anheimgegeben werden. Aber diese
Ausführungen hier sind gleichwohl nicht zu entbehren, um e.ine, wenn
auch notdürftige Brücke herzustellen, von der aus erst die Frage des
Bezuges von Sein überhaupt zu Sein von Dasein angegangen werden
kann. Wenn »die alles tragende Vermutung« sich rechtfertigen soll, als
»gehöre der Bezug des Seins gar zum Menschenwesen selbst<<, so kann
dieser Bezug nur offenbar werden - und das heißt, als Wahrheit sich
ereignen- »gemäß der Unverborgenheit des Seins selbst«. Diese Du-
verborgenheit als »Wahrheit<< ist auf beiden Seiten des Bezuges (einer-

4 7 Auch hier wieder stellt sich die Schwierigkeit für eine Sprachgebung entgegen,

die einem über die gewohnten Kategorien hinausgehenden Denken aus der überkom-
menden Syntax und Grammatik erwachsen.

168
seits Existenz - andererseits Sein) »Freiheit« - Freiheit gleich Offen-
heit, ein Freisein für = Bindung48•
Hiermit sind wir an dem vorläufigen Zielpunkt dieses Rückgriffes
auf die Schrift »Vom \Vesen der Wahrheit« angelangt. Schon längst
konnte sich die Frage erhoben haben: was hat das alles mit dem Schaf-
fen eines Dichters zu tun? Der gesuchte Berührungspunkt liegt darin:
der Bezug von Sein überhaupt zu Sein von Dasein als »Wahrheit« =
»Freiheit« kann offenbar werden im Schaffen und im Ge-schaffensein
von Kunst. Auch »die Kunst ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit«
(Holzwege, S. 64) und zwar eine ausgezeichnete Weise des Sich-Er-
eignens von Wahrheit. Dieses Ergebnis unserer vorstehenden Betrach-
tung soll uns zurückführen von der abstrakten Region des reinen Den-
kens zu heute immerhin noch bewohnten menschlichen Gefilden der
Kunst, in denen hie und da »dieser Stoß ins Offene« der Unverborgen-
heit des Seins fühlbar wird: er kann ausgehen von einem »Werk,
festgestellt in die Gestalt« der Kunst (Holzwege, S. 54).
Das besondere Verhältnis Heideggers zur Sprache stützt seine Über-
zeugung darauf: »alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der
Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung« (Holz-
wege, S. 59). Und zwar ist »die Sprache selbst ... Dichtung im wesent-
lichen Sinne« (Holzwege, S. 61). Das ist nicht so zu verstehen, als sei
Sprache »Urpoesie«. In diesem Gedankenvollzug wird vielmehr
Sprache aufgefaßt als die ursprüngliche Bewahrerio der Möglichkeit
von Poesie. Denn die Sprache ist es, die >>das Seiende als ein Seiendes
allererst ins Offene« bringt. (Holzwege, S. 6o). Die Sprache allein er-
öffnet diesen Raum, der im \Vort, also im gegebenen Namen, Seien-
dem das Erscheinen gewährt. Mit seinem Namen sprechen wir be-
gegnendes Seiendes erst an als ein uns »wahr«, d. h. kenntlich, d. h.
in seinem So-sein offenbar Gewordenes. Es scheint also, als müsse den
anderen Künsten, dem Bauen und Bilden, der mit dem Wort erst er-
öffnete Raum vorgegeben werden, auf daß aus ihm her diese Künste
ihr Werk in die äußere Sichtbarkeit erstellen können. Denn auch diese
Künste meinen in ihrem Wesen: Eröffnung des Seins. Deshalb hat zu
gelten, daß »Bauen und Bilden ... immer schon und immer nur im
Offenen der Sage und des Nennens « geschehen können. »Sie sind
ein je eigenes Dichten innerhalb der Lichtung des Seienden, die schon
und ganz unbeachtet in der Sprache geschehen ist« (Holzwege, S. 61).
Rilke als Dichter mußte es nahe liegen, das Wort in eine hohe Gel-
tung zu stellen. An seinen eigenen Äußerungen zu Wort und Sprache
48 vgl. hierfür audJ. die Ausführungen über den gen. subj. u. obj. aufS. 174 anläß-

lidJ. der Erörterung zu l'engagement de l'Etre.

153
erkennt man bald, daß beides ihm mehr bedeutet als das bevorzugte,
immer bereit liegende >Material< für die Kunst, die er übt. Noch in
einer Zeit, in der er gleichsam von außen herantretend der Sprache
gegenübersteht und verzweifelte Anstrengungen macht, sie in ihrem
»Gewordensein« zu begreifen als »das Handwerk seiner Kunst«, fin-
det sich unvermittelt ein Satz, der darauf hinweist, daß Rilkes ihm
selbst noch nicht ganz bewußtes Wissen um Sprache in tiefere, ge-
heimere Gründe reicht: »Das Wort muß Mensch werden. Das ist das
Geheimnis der Welt!« (Br. ozlo6, S. 203). Hiermit ist ein Geheimnis
gemeint, das erst im menschlich gefundenen Wort offenbar werden
kann. Der Mensch, der »vom Hange des Bergrands« nicht die dort
erblühte Blume »Zu tal«- in den menschlichen Bereich, in seine Wohn-
stätte mitbringt, sondern ein »erworbenes Wort, reines«, das er sich
erst »erwerben« mußte als ein »reines«, das heißt adäquates, - er
nennt die Blume in »Wahrheit«; denn er sagt das Wesen der Blume
aus, nicht sein, sondern ihr »Meinen«. Er übt das Benennen- aller-
dings auf eine W eise, die von unserem geläufigen Reden weit entfernt
ist,- auf eine so gesteigerte Weise (S.u.Z. §34; Platons Lehre, S. 58 f.),
»wie niemals die Dinge selber innig vermeinten zu sein«. Daß sie es
selbst nicht »vermeinen«, das heißt als das Ihre »meinen« können,
darin liegt schon der geheime, gleichsam fordernde Bezug vom Sein des
Seienden zu Dasein, den erst die Sprache lichtet. Der Mensch vermag
mit diesem Namen die Blume selbst und ihr Geheimnis immer wieder
in die innere Anschauung heraufzurufen. Erst mit ihrem Namen ist sie
zu einem unsichtbaren Besitz geworden. Der Mensch, der so erlebt, der
so das Wesen der Sprache versteht als Kommunikation mit dem Grund
des Seins, in den er, so sprechend, sich einläßt, der kann vielleicht
begreifen, was Heidegger meint, wenn er die Sprache zum »Haus des
Seins« ernennt (Holzwege, S. 53). »In ihrer Behausung wohnt der
Mensch«, falls er als Mensch auf der Erde wohnt. »Die Denkenden
und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist
das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins insofern sie diese durch
ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren«
(Platons Lehre, S. 53).
Hiermit sind nicht nur gelegentliche Aussprüche eines Denkers und
eines Dichters zur Sprache in eine mehr oder weniger erkennbare Über-
einstimmung zusammengestellt. In diesen Äußerungen wird vielmehr
deutlich, daß beider Verhältnis zum Wort in den Grund ihres Verständ-
nisses vom Ort des Menschen im ganzen Seinszusammenhang reichen.
Es ist noch ein anderer bedeutsamer Gesichtspunkt, der nahelegt,
Rilkes Verhältnis zur Sprache in einer metaphysischen Sicht zu sehen.

153
Es ist ein Blickpunkt, der gewissermaßen über die Tatsache hinaus-
geht, daß Rilke Dichter schlechthin ist. Mit diesem nun zu erörternden
Aspekt ist der Dichter Rilke in seinem Verhältnis zum Sein unter den
»Horizont von Zeit« gestellt. Muß nicht in einem Augenblick der Zeit,
in dem das »Außen« »sich einzieht«, in dem der »Zeitgeist« nicht
mehr in der »äußeren Gestalt« sich ausdrückt- »Weite Speicher der
Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos, wie der spannende Drang,
den er aus allem gewinnt« - in einem Augenblick, in dem Tempel
nicht mehr »gekannt« sind, ja, in dem das »Ding«, das einstmals »ge-
betete«, »gediente«, gekniete«, »SO wie es ist (sich) schon ins Unsicht-
bare hin«-hält; in einer Zeit, in der der Mensch aufgefordert werden
muß zur »Bewahrung der noch erkannten Gestalt«, - muß nicht in
einer solchen gestaltlosen Zeit, die Dichtung, das Wort eine gesteigerte
Funktion ausüben, wenn der Mensch überhaupt noch gestalthaft leben
soll? Die Sprache ereignet die Lichtung des Seins in diesem Augenblick
der Zeit- dieser »Augenblick«- nun gesehen im »Horizont von Zeit«
auf eine neue Weise. Er fordert, daß das Lichten neu und anders ge-
schehe. Einstmals kam auch das außenstehende Kunstwerk in der Lich-
tung des Seins zum Erscheinen. In einer Zeit der Vergessenheit des
Seins, die groß gebildete und gebaute Kunst nicht mehr zu brauchen
scheint, die neue kaum mehr schafft und die die einstmals geschaffene
-sie nicht mehr »gewahrend«- auch darum nicht mehr >>bewahren«
kann, in einer solchen Zeit ist die Sprache gleichsam auf sich selbst zu-
rückgeworfen. Aus einem tiefen Wissen um das Unentbehrliche des
>>gestalteten Bildes« als Ermöglichung des Bezuges zum Sein verweist
der Dichter diese gestaltlose Zeit auf das >>Unsichtbare«, den »Weltin-
nenraum«. Soll in einer Zeit, in der das technische Tun überwiegt, die-
ses Tun, das alles Verhalten unseres modernen Lebens bis in seine fein-
sten Verästelungen bestimmt, überhaupt noch Gestalthaftigkeit gelebt
werden, so ist dem Wort die umfassendste Leistung zugewiesen: >>Hier
ist des Säglichen Zeit. Hier seine Heimat. Sprich und bekenn!« Was ist
das Preisen und Darreichen der außen dahinschwindenden Gestalt an
den Engel der Elegien anderes als eine Gestaltung im Wort. Aus dem
Geheimnis des Seins selbst scheint der Mensch aufgerufen, im innen-
Verwandeln einen neuen gestaltgebenden Raum zu erstellen, in dem
die Lichtung des Seins auf eine neue Weise, gemäß der heutigen Welt-
stunde, sich ereigne. Der Mensch selbst gewinnt in ihr Gestalt und er-
fährt sich in der Nähe zum Sein als der in der Wahrheit des Seins Ex-
istierende.
Im Zeitalter der Technik ist es vielleicht deutlicher noch als in dem
Augenblick, in dem Hölderlin sein Wort sprach: >>Voll Verdienst, doch

171
dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Was an Verdienst er
sich auch erwerben mag, - es entfällt zu nichts, wenn das dichterische
Wohnen, das heißt das Beheimatetsein im Wort der Dichtung, versto-
ßen ist. In dem von Heidegger erweiterten Sinn von Dichtung gehört
zu ihr auch das Bauen und Bilden, das nach außen gestellte Kunstwerk.
Das ist in der Weise zu verstehen, daß der geistig-seelische Raum, aus
dem echte nach außen gestellte Kunst sich ereignen kann, im Wort, im
Logos sich erst enthüllt haben muß. Wir leben in einer Zeit, in der die
Maschine »alles Erworbene« (Rilke) zu verdrängen scheint; in einer
Zeit, in der das Drohende wächst. Aber auch in dieser Zeit erscheint
»das Rettende« Hölderlins. Heidegger spricht von der »anfänglichen
Zugehörigkeit des Wortes zum Sein« (Platons Lehre, S. 59). »Anfäng-
lich« meint hier ))ursprünglich«, »entspringen-lassend«, (vgl. W. i. M.
S. 46). Rilke weiß in einer echten Nachfolge Hölderlins: »Worte ge-
hen noch zart am Unsäglichen aus«. Immer ist unser Dasein »an hun-
dert Stellen noch Ursprung«. Das Sagbar-werden des Unsäglichen kann
nur da sich ereignen, wo Sprache »vom Ursprung« her erfahren wird.
Über die Vernutzung der Worte und über das geläufige Reden hinaus
muß wieder verstanden werden, daß »Wahrheit« = »Sein« = Offen-
barwerden« aus dem Geheimnis im Sagen des gültigen Wortes ge-
schieht.

I/ENGAGEMENT DE L'ETRE

Für die nun folgende zurückschauende und zusammenfassende Be-


trachtung wird nunmehr Heideggers »Brief über den Humanismus«
zugrundegelegt. Das bedarf einer Begründung. Gewiß ist dieser schon
gelegentlich zitiert worden; aber schwerwiegende Überlegungen hat-
ten dazu geführt, die Strukturen von Heideggers Existenzialität an Ril-
kes »Einsehen-wollen« überwiegend mit den brieflichen Äußerungen
des Dichters zu belegen. Es geschah im Rückgriff auf »Sein und Zeit«. Da-
bei ergaben sich immer wieder die gleichen Nöte, wenn persönliche Aus-
lassungen eines Dichters einer streng begrifflich-wissenschaftlichen aufs
äußerste geschärften Ausdrucksweise gegenübergestellt werden muß-
ten. (Bei einer Zugrundelegung des dichterischen Wortes - entgegen
der hier geübten sehr sparsamen Heranziehung nur einiger Verse -
wäre diese Diskrepanz vielleicht noch größer gewesen. Überdies würde
der Anschein entstanden sein, als wolle hier Interpretation von Dich-

172
tung geübt werden, in der Weise, als sei ein Dichten an einem Denken
zu ergründen.) Nun haben wir in Heideggers »Brief über den Huma-
nismus« auch eine briefliche Äußerung vor uns. Gewiß ist auch diese
in denkerischer Absicht geschrieben; ihre Sprache ist weitab von den
gefühlsbetonten Auslassungen Rilkes. Aber doch ist die Diktion des Hu-
manismusbriefes menschlich-persönlicher, - begreiflicherweise. Denn
die strenge Arbeit, den ganzen Begriffsapparat erst einmal aufgestellt
und gegen die geläufig-alltägliche wie gegen die überkommene wis-
senschaftliche Ausdrucksweise abgegrenzt zu haben, war geleistet.
Außerdem stellt dieser Brief sich dar als eine Art Selbstkommentar.
Er ist geschrieben nach der »Kehre((' also nach »Was ist Metaphy-
sik?((, >>Wesen des Grundes((' >>Wesen der Wahrheit((. Darum erlaubt
er, im Zurückgehen das Geleistete auch einmal korrigierend anzu-
sehen. Er hält an einem Punkt des Weges vom anderen Ende, der der
zu erreichenden Mitte schon näher liegt. Vom »Brief über den Huma-
nismus(( aus wäre eine Fülle von Entsprechungen zu Worten Rilkes
beizubringen; sie würden die Diskrepanz zwischen der Gefühls- und
der Denkebene, unter der wir im Verlauf der Arbeit zu leiden hatten,
nicht mehr in dieser Härte aufweisen. Heidegger bewegt sich hier in
einer fast dichterisch zu nennenden Ausdrucksweise. Warum - so
könnte gefragt werden- ist also nicht von Anfang an der Humanismus-
brief zugrunde gelegt worden? Es ist zu antworten: wir hätten uns unser
Vorhaben zu leicht gemacht. Die Möglichkeit zu leisten, was beabsich-
tigt ist, bietet sich nur vom Boden eines streng gedanklichen Unterbaus;
den boten die existenzial-ontologischen Untersuchungen Heideggers.
Zu seinen Ergebnissen mußte die unsystematische Einsichtgewinnung
Rilkes in Beziehung gesetzt werden. Nur mit der so zu erreichen-
den Aufweisung ihrer Strukturen konnte auch ihnen ein gewisser syste-
matischer Halt gegeben werden. Nur so konnte es offensichtlich werden,
daß Rilkes Einsichten in einer verwandten, wenn auch nur stillschwei-
gend und gleichsam ungewußt zugrundegelegten »Existenzialität(( be-
ruhen. Diese wurde im Verlauf unserer Darlegungen immer durchsich-
tiger und konnte endlich als die konstituierenden Bedingungen der
Rilke'schen Konzeption von Dasein in vielen Teilpunkten aufgewiesen
werden.
Erst auf dieser so gefestigten Ebene kann nun vom »Brief über den
Humanismus(( zur Spätzeit Rilkes eine Brücke geschlagen werden, auf
der sich die Ergebnisse des Heidegger'schen Denkens über das Sein von
Dasein mit dem erreichten Ziel des Rilke'schen Einsehen-wollens über
den Ort des menschlichen Daseins im ganzen Seinszusammenhang be-
gegnen. Es kann bei der vorsichtigen Parallelisierung eines Denkens zu

173
einem Dichten und eines Dichtens zu einem Denken nicht anders sein,
als daß das »Inhaltliche« dieser »Entsprechungen« wiederum nicht ohne
Einschränkung zu verstehen ist. Es ist nicht die Rede davon - und
nachdrücklich ist dieses etwa aufkommende Mißverständnis von vorn-
herein auszuschließen-, daß hier ein Denken und ein Dichten in ihren
»Resultaten« zur Deckung gebracht werden soll.
Schon auf der ersten Seite des Humanisbriefes 49 tritt uns entgegen,
was wir mühsam in den langsam sich klärenden abstrakten Ableitungen
Heideggers gesucht haben: eine Auskunft über den Bezug von Sein-
überhaupt zu Dasein. Fehlte eine solche, so bliebe alles Geleistete ohne
sichere Begründung: »Das Denken bringt ihn (den Bezug des Seins zum
Wesen des Menschen) nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben
ist, dem Sein dar.« Der Bezug von Sein-überhaupt zu Dasein und von
Dasein zu Sein-überhaupt ist hiermit ganz klar, jedoch ohne ontologi-
sche Gründung und ohne ausgesprochenen Bezug auf die ausgearbeitete
Existenzialität ausgesagt.
Dieser Bezug von Sein zu Dasein ereignet sich im Denken (und man
darf darum wohl ergänzen: im Dichten), und zwar auf eine Weise, als
sei dafür das Denken vom Sein selbst in seinen Dienst gestellt. Heideg-
ger findet in diesem Brief über den Humanismus an seinen französi-
schen Korrespondenten die Formulierung: »Denken ist l'engagement
par l'Etre pour l'Etre. « Die damit ausgesprochene Identität sucht Hei-
degger noch deutlicher zu machen, indem er dieses »par et pour« gleich-
sam condensiert zu einem genitivus subjectivus und objectivus: »pen-
ser, c'est l'engagement de l'Etre«. (Heidegger macht den Vorbehalt, da
diese Ausdrucksweise in der französischen Sprache möglich sei.) Die
damit erreichte Aufhebung des im >>par et pour« noch mitschwingen-
den Ursache-Wirkung-, beziehungsweise Subjekt-Objekt-Verhältnis-
ses scheint Heidegger fatalerweise auch so noch nicht erreicht. Das Den-
ken muß sich bemühen, entgegen den geläufigen Normen der Sprache,
die sich dem widersetzen, darüber hinauszugelangen: »Subjekt und Ob-
jekt sind ungernäße Tttel der Metaphysik.« Deutlich zeigen die voran-
gehenden und die sich anschließenden Überlegungen Heideggers, daß
eigentlich ein noch engerer sprachlicher Ausdruck gesucht werden
müßte: »Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprüng-
licheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten.« Es
sei hierfür an das Teilhabe- und Teilgabe-Verhältnis des menschlichen
Daseins im Bezug zum Engel der Duineser Elegien erinnert. Dieser En-
gel ist als »Gestalt der Transzendenz« zu begreifen50 • Er ist gleichfalls
49 Die Zahlen hinter den Zitaten ohne nähere Angabe auf den folgenden Seiten

beziehen sich auf den Humanismusbrief in Platons Lehre.

174
nur zu fassen, wenn man dieses Wort »Gestalt der Transzendenz« als
gen. subj. und obj. versteht. Dem Engel wird vorn Menschen etwas dar-
gebracht, was zu seinem, des Engels Wesen gehört - wodurch der
Mensch arn Engel teilhat. In diesem Bild desDarbietensaus der mensch-
lichen Sphäre in die des Engels und des Rückfließens einer »unsichtba-
ren« Wirkung von dieser in jene, ist, im gen. subj. und obj. nicht den-
kerisch wie bei Heidegger aber bildhaft-dichterisch, die Enge einer Be-
zogenheit ausgesprochen, die die Gegenüber-Situation von Subjekt und
Objekt hinter sich gelassen hat. Das Ziel ist, hier wie dort, die Errnög-
lichung eines Ausdrucks der Identität von Sein von Dasein und Sein-
überhaupt (unbeschadet der »ontologischen Differenz51 ).
»Das Denken ist 1'engagernent durch und für die Wahrheit des Seins. <c
Das Wort »engagernent« ist wieder in seiner ganzen Streuweite gefaßt.
Engagiert ist man für das Bewirken einer Handlung; man ist engagiert
in ein Unternehmen, das sich ein bestimmtes Ziel gesteckt hat. Man hat
sich in etwas engagiert. d. h. man ist darin eingelassen auf einer Weise,
daß man sich mit diesem Etwas identifiziert. Das »Sein«, das im »par<c
»wirkt«, »handelt«, ist dasselbe Sein, das im »pour« »bewirkt« wird.
Das Denken, das in der Sorge als Sinn von Sein von Dasein geschieht,
stellt sich handelnd in den Dienst dessen, wohin es selbst gelangen will.
»Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Men-
schen« (S. 53). »Vollbringen« aber heißt nach Heidegger: »Etwas in
der Fülle seines Wesens entfalten, in dieses hervorbringen, producere. <<
Es ist das »das Vollbringen des Seins«, das die Denkenden, die Dich-
tenden »durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache be-
wahren«. Damit ist eines deutlich geworden: Heidegger, im Augen-
blick, wo er aus der Begründung seiner strengen Begrifflichkeit von
Existenzialität herausgetreten ist, gibt diese zwar keineswegs auf. Aber
nun, vorn anderen Ende seines Weges, zur Mitte hingehend, denkt er
von Sein-überhaupt her: »Der Mensch muß erst ... vorn Sein sich wie-
der ansprechen lassen ... « (S. 6o). Dazu fügt sich der Satz: »Der Mensch
west in seinem Wesen nur, indem er vorn Sein angesprochen wird.«
Diesern Anspruch des Seins stellt sich der Denker mit dem »Versuch,
den Menschen für den Anspruch bereit zu machen« (S. 61, S. 74). So-

50 vgl. Else Buddeberg »Die Duineser Elegien R. M. Rilkes«. Karlsruhe: Stahlberg-

Verlag 1948.
51 vgl. zu letzterer: »So wie die Offenheit der räumlichen Nähe jedes nahe und

ferne Ding, von diesem her gesehen, übersteigt, so ist das Sein wesenhaft weiter als
alles Seiende, weil es die Lichtung selbst ist« (Platons Lehre, S. 83 ). Wenn Dasein auch
von Heidegger streng unterschieden wird von jedem Seienden, so wäre doch wohl
dieser Satz auch auf das je einzelne Dasein anwendbar.

175
mit ist es ganz entschieden ausgesprochen, daß die Existenzialität =
Sinn von Sein = Sorge = Zeitlichkeit nun vom Sein-überhaupt mit
einer gewissen >leeren< Inhaltlichkeit zusammengefaßt wird; diese ist
in ihrer Gerichtetheit vorbestimmt. Und so fragt Heidegger auch aus-
drücklich: »Wohin anders geht die >Sorge< als in die Richtung, den
Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen?« Die »Sorge« ist in
diesem Satz jetzt das genaue Gegenspiel zum »Auftrag« Rilkes gewor-
den. Weder »Sorge« noch »Auftrag« haben einen ontisch-faktischen
Inhalt; aber beide sind »engagiert« vom Sein-überhaupt in die Ausrich-
tung auf Sein-überhaupt.
»Im Denken kommt das Sein zur Sprache.« Aber unsere geläufige
Sprache ist vemutzt; denn der heutige Mensch lebt in der Seinsverges-
senheit und überdies noch in der Vergessenheit dessen, daß er in ihr
lebt. »Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden,
dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren(< (S. 6o).
Auch Rilke weiß um die Not und die Armut dieses Zwanges zur Na-
menlosigkeit - aber auch um seine Reinigung. In einem Brief aus dem
Jahre 1923 spricht er von der »unbeschreiblichen Diskretion«, die zwi-
schen ihm und Gott sich aufgetan habe, im Gegensatz zum rauschhaf-
ten Nennen dieses heiligen Namens in der Stundenbuchzeit: »Das Faß-
liche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug,
und es entsteht eine N amenlosigkeit, die wieder bei Gott beginnen
muß, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein« (Br. 2dz.6, S. 185).
Heidegger fährt fort: »Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom
Sein sich wieder ansprechen lassen, auf die Gefahr, daß er unter diesem
Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat.« Er west »nur in sei-
nem Wesen ..., in dem er vom Sein angesprochen wird« (S. 66). Der
Dichter hat nach der Vollendung des »Malte« das Wesen der Sprache
als das dem Sein Nächste auf diese Weise verstanden. Ein leichthin-Sich-
Angesprochen-Fühlen durch irgend welche Erlebnisse, die Verführung,
dieses im ästhetisch schön gefügten Wort wieder auszusprechen, hatte
er längst hinter sich gelassen. Etwa I9IJII4 schreibt er das Fragment
gebliebene Gedicht: »Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe wie
klein dort, I siehe: die letzte Ortschaft der Worte ... «. Er steigt in seinem
Sich-Ausgesetzt-Haben über sie hinaus; >>Und höher, I aber wie klein
auch, noch ein letztes I Gehöft von Gefühl«. Im Suchen nach dem gül-
tigen Sagen des »Einen, das not tut«, wartete er wahrhaft »ausgesetzt«
als der Ek-sistente auf den möglichen Anspruch des Seins selbst: »Ach,
der zu wissen begann, I und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen
des Herzen«- den Gipfel »reine(r) Verweigerung« im Blick (vgl. da-
zu Platons Lehre, S. 9 2).

153
In »Sein und Zeit« heißt es: »Nur im echten Reden ist eigentliches
Schweigen möglich. Um schweigen zu können, muß das Dasein etwas
zu sagen haben ... « Und Rilke weiß es: »Schweigen. Wer inniger schwie-
ge I rührt an die Wurzeln der Rede.« Diese Wahrheit gilt ihm auch
noch nach Vollendung der Elegien, die das auszusprechen vermochten,
woraufhin er so lange im Schweigen verharrt hatte.
Im immer neu gewendeten sprachlichen Ausdruck versucht Heideg-
ger die Nähe von Denken (und immer ist Dichten mitgemeint) zum
Sein herauszustellen: »Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des
Seins. Der Genitiv sagt ein Zweifaches. Das Denken ist des Seins, inso-
fern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist
zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend,
auf das Sein hört.« Es meldet sich in dieser Wendung wieder das Stre-
ben nach der in unserer Sprache möglichsten Nähe von Subjekt und
Objekt; sie will auch hier wieder bis zu einer Aufhebung der Gegen-
übersituation vordringen. Der gen. subj. und obj. wird auch hier ge-
braucht, um das Wesen des Denkens vom Gesichtspunkt des Bezuges
des Seins zum Dasein auszudrücken; er >>enthält ... den aus der Frage
nach der Wahrheit des Seins gedachten Hinweis auf die anfängliche
Zugehörigkeit des Wortes zum Sein« (S. 59) 52•
Das Kreis-Denken Heideggers über die Wortsubstanz von >>hören«
in allen seinen Spannungen führt vom schlicht physiologischen Sinn des
Gehörs bis zum Gehorsam-sein dem, was man hört. Dieses >>gehören-
de« Hören übereignet gleichsam den Hörenden an das, wovon das zu-
Hörende ausgeht. Hier ist es das Sein, dem das Dasein, »das des Seins
ist, hörend gehört«. In der ersten Elegie ist es das Heilige, dem der ge-
hört, der hört und der darum, weil er zu hören vermag, ein Heiliger ist.
Denn dieses in der Elegie gemeinte »Hören« kann sich nur ereignen
aus einem zum Ereignis gewordenen Bezug zur >>Dimension des Hei-
len, des Heiligen« (Heidegger). >>Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz,
wie sonst nur I Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf I aufhob vom
Boden; sie aber knieten, I Unmögliche, weiter und achtetens nicht: So
waren sie hörend« (Rilke). Sie waren dem zugehörend geworden, dem
sie vermeinten, erst noch hinhören zu müssen- >>Unmögliche«, ihrem
eigenen Vorhaben gegenüber- und doch Erfüllte.
In den Orpheus-Sonetten ist es das Hören, das eine Welt verwan-
delt, ja, sie erst eigentlich erschafft. Aber haben wir je gehört in dem
von Heidegger gemeinten Sinn, demselben Sinn, der auch in die Sonette
eingestaltet ist? Am Vorabend dieser Dichtung, am I. Februar 1922,

52 vgl. dazu auch: Einführung, S. 88ff.

177
ruft Rilke mit dem letzten Vers eines Gedichtes aus: »Hörende end-
lich,- die ersten hörenden Menschen!« 53
Das erste der »Sonette an Orpheus« faßt die ganzen Möglichkeiten
ins Wort, die aus dem Hören hervorgehen können. Sie reichen bis zur
Wesensverwandlung durch Hören. Sie vollzieht sich hier, gemäß dem
orphischen Mythos, an der bisher nicht hörenden Kreatur. Auch hier
ist ein Hören gemeint, das sich dem übereignet, was das zu Hörende
ausspricht, wovon es ausgeht. Heidegger führt im selben soeben zitier-
ten Absatz vermittels eines weiteren Kreis-Denkens über das Wort
»mögen = lieben« über »Möglichkeit« bis zur »Ermöglichung«. Der
Kern des Wortes »mögen« wird von ihm als »Wesensschenkung« auf-
gefaßt. Auch das Hören im Orpheus-Sonett »schenkt« der Kreatur ihr
neues eigentliches Wesen: »Stille« ist die Ermöglichung des Hörens;
»Tiere aus Stille« gehen aus dem Hören hervor. In der Verwandlung
durch Hören sind sie »in sich so leise« geworden, daß sie nunmehr
weitab von ihrem gewohnten kreatürlichen Tun sich befinden.
Heidegger wendet sich gegen die Herleitung des Menschen aus der
animalitas und gegen jeden Biologismus als Erklärungsversuch seines
Wesens; beides greife zu kurz: »Der Leib des Menschen ist etwas we-
sentlich anderes als ein tierischer Organismus« (S. 67). Es will Heideg-
ger scheinen, als »ist für uns von allem Seienden, das ist, das Lebe-We-
sen am schwersten zu denken, weil es uns einerseits in gewisser Weise
am nächsten verwandt und andererseits doch zugleich durch einen Ab-
grund von unserm ek-sistenten Wesen geschieden ist« (S. 65 f.). Mit
der achten Elegie ist die ganze Breite der Entfernung des Menschen
vom Tier ins dichterische Wort gefaßt. Unüberbrückbar bleibt sie selbst
dann, wenn aus einem Fluchtverlangen vor der eigentlichen Aufgabe
der Mensch romantisch-sehnsuchtsvoll in das unbewußt-Tierhafte zu-
rückstrebt. Unüberbrückbar wird gerade dann die Entfernung erfah-
ren; unweigerlich zieht das Tier »in andrer Richtung«. Immer weiter
noch sich entfernend verlaufen die Wege, vom Menschen gesehen, auch
wenn er in seiner Sehnsucht vermeint, ihnen zustreben zu sollen. Aber
die Erfüllung dieser Sehnsucht wäre Flucht. Dagegen möchte es Hei-
degger »scheinen, als sei das Wesen des Göttlichen uns näher als das
Befremdende der Lebe-Wesen, näher nämlich in einer Wesensferne, die
als Ferne unserem eksistenten Wesen gleichwohl vertrauter ist als die
kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem
Tier« (S. 69). Im selben Sinn vollzieht Rilke in voller Bejahung unseren
ekstatischen Bezug zum Engel der Elegien. Tief bis zur Vernichtung ist

53 aus: Ged. S. 147.

153
in den ersten Elegien seine Wesensferne erlitten worden. Und doch wird
der Weg durch die Elegien nur dadurch leistbar, daß der Engel dem Men-
schen als »eksistentem Wesen« »vertrauter« wird, je weiter er fort-
schreitet. Es ist das dieselbe Vertrautheit zum »Wesen des Göttlichen«
aus unserer Ekstasis, die Heidegger meint. Erst aus unserem Ausge-
setztsein erwerben wir diese Vertrautheit mit dem, was der Engel ist.
Wir verstehen, was unsere Aufgabe des Rühmens und Preisens eigent-
lich meint: vom Sein gerufen, vollziehen wir mit unserem Tun den
Seinszusammenhang, der ohne unser Tun nicht wäre und der sich nicht
ereignen könnte, wären wir nicht vom Sein in diesen Dienst gerufen.
»Die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen zum Sein an-
west, ist das ekstatische lnnestehen in der Wahrheit des Seins« (S. 74).
Es ist die Frage Heideggers, ob der Mensch dem Geschick des Seins
entspricht, zu dem er geschickt ist. Und es ist unsere Frage, in der alle
Einzelfragen zusammenlaufen, die hier ausgebreitet worden sind: Wie
kann der Bezug des Seins von Dasein zu Sein-überhaupt sich ereignen,
wenn er nicht vom Sein her ereignet ist. Im Humanismusbrief ist es
klar und entschieden ausgesprochen: »Der Bezug des Menschenwesens
zur Wahrheit des Seins ... ist so, wie er ist, nicht auf Grund der Ek-
sistenz, sondern das Wesen der Ek-sistenz ist existenzial-ekstatisch aus
dem Wesen der Wahrheit des Seins« (S. 78). Der Mensch hat, dem
Geschick des Seins gemäß, »als der Eksistierende die Wahrheit des
Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins«. »In der wesenhaf-
ten Armut des Hirten« besteht seine Würde darin, »vom Sein selbst in
die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu seincc. Der Mensch wird der
»Nachbar des Seins« geheißen (S. 90). Sein »ek-statisches Wohnen in
der Nähe des Seins ... ist die Wachterschaft, d. h. die Sorge für das
Sein« (S. 91).
Die mythische Gestalt des Hirten ist für Rilke voll von tiefer Sym-
bolkraft gewesen. Nicht von ungefähr findet sie von der als Mythos er-
fahrenen spanischen Landschaft Eingang in die »Spanische Trilogie«.
Von ihm gilt der Vers: »Noch immer dürfte ein Gott heimlich in diese
Gestalt.« Das letzte große Gedicht Rilkes »Nicht Geist noch Inbrunst
wollen wir entbehren« nimmt das Bild des Hirten noch einmal auf.
Schon unter dem Andringen des furchtbaren Leidens entstand es ein
halbes Jahr vor dem Tode Rilkes als ein letztes Bekenntnis zum Dasein
und der ihm gestellten Aufgabe. Die, welche »Geist und Inbrunst nicht
entbehren« wollen, sind insbesondere jene, denen das Denken und das
Dichten anvertraut ist. Mit ))Geist und Inbrunst« sind die Bereiche des
menschlichen Daseins gemeint, denen der ausgesetzt ist, der die Wahr-
heit des Seins hütet, »damit im Lichte des Seins das Seiende als das Sei-

179
ende, das es ist, erscheine« (S. 75). »Das Wahrheitswesen aber ist in
sich selbst ein strittiges.« Geschieht die Lichtung als Hervorbringen
eines Werkes, so ist das auch ein »Streit«, -aber nicht als Hader und
Zwietracht wird er vom Dichter wie vom Denker verstanden, sondern
als das wesenhafte »Gegeneinander von Welt und Erde« (Holzwege,
S. 37), in das »die Streitenden, das Eine je das Andere, in die Selbstbe-
hauptung ihres Wesens« heben (Holzwege, S. 38), auf daß es so offen-
bar werde. »Welt« gründet sich auf »Erde«, und »Erde« durchragt
»Welt«. Wir wissen, daß »Welt« im »ln-der-Welt-sein« den ganzen
Umfang des Transzendierens bezeichnet, durch welches, von der Exi-
stenz her gesehen, die Lichtung des »Da« geschieht. »Welt« bedeutet
im In-der-Welt-sein jetzt ausdrücklich »die Offenheit des Seins«
(S. 100). Die »Erde« hingegen ist das immer schon Gegebene, das »we-
senhaft sich Verschließende«. Jedoch: »Die Erde kann das Offene der
Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten Andrang ihres
Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht
entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen
Geschickes sich auf ein Entschiedenes gründen« (Holzwege, S. 3 8) 54•
Im Rilke'schen Gedicht geschieht eine andere Gegenwendigkeit; es
ist die von »Geist und Inbrunst«. Aber auch sie ist kein Hader; auch
sie geschieht als »wesenhafter Streit«. »Eins durch das andre lebend zu
vermehren, sind wir bestimmt. Und manche sind erwählt, in diesem
Streit ein Reinstes zu erreichen.« Diejenigen, die als eksistente Wesen
diesen Streit ausstehen, müssen »erwidern« dem, was aus diesen so be-
zeichneten Dimensionen des menschlichen Bereiches auf sie andringt.
Dieser »Streit« - wie jener Heidegger'sche - darf nicht »in einem
faden Übereinkommen zugleich niedergeschlagen« und geschlichtet
werden (Holzwege, S. 38). Auch hier ist weder das Eine noch das An-
dere, weder Geist noch Inbrunst zu entbehren. Ein »Reinstes« ist auch
nach Rilke zu erreich.en. Nicht aus Vernichtung des Einen oder des
Anderen geht jenes >Mehr< hervor, das zu gestalten ist. Die, welche
diesen Streit bestreiten, müssen »Gewaltigstem zu gleich gewachsen
sein«; und doch sind sie »zerstörbare« Wesen. Sie müssen das aussagen,
was das Seiende, das auf sie einfällt, in seinem Wesen ist: »Der Schläge

54 vgl. die eingehenden, vielleicht nicht ganz leicht zu lesenden Darlegungen im

W. d. W.: über die wesenhafte Zugehörigkeit der Unwahrheit zur Wahrheit S. 17,
19; über das Un-wesen der WahrheitS. 20; über die Unwahrheit als die IrreS. 21 ff.
- Weil die folgenden Ausführungen des Textes im besonderen das Geschehen der
Wahrheit als die Hervorbringung des Kunstwerkes im Blick haben, wird auf »Ur-
sprung des Kunstwerkes« verwiesen. Vielleicht wird dort im Kampf um das zu er-
stellende Werk der Bezug von Dasein zur Wahrheit in ihrem gegenwendigen Wesen
anschaulicher (Holzwege, S. 36 ff.).

180
Rhythmen«. Sagten sie klagend die Schläge, so nennten sie nur ein
Seiendes. Was aber dies ist, worin die Schläge ihr Sein haben, aus dem
diese Schläge sind, das ist hier im Vers »Rhythmus« genannt. Wie Hei-
degger dem Menschen den Namen gibt »Hirt des Seins«, so ist im
Gedicht der, welcher im Andrang des Seienden steht, mit der Auf-
gabe, es in seinem Sein auszusagen, ein Hirte genannt. »So ausgesetzt
dem Übermaß von Einfluß ... « hieß es vierzehn Jahre zuvor vom Hir-
ten. Auch im letzten Gedicht müssen diese Ek-statischen »dastehn wie
der Hirt, der dauert«. Hat er nicht wahrhaft im Mythos Jahrtausende
überdauert? Heidegger nennt den Menschen auch »den Wächter des
Seins«. Im Gedicht heißt es: »Selbst noch im Schlafe bleiben sie die
Wachter.« Warum wachen sie? Um die sich lichtende Wahrheit herein-
zuholen: »Aus Traum und Sein, aus Schluchzen und Gelächter fügt
sich ein Sinn.« Es ist für die Heutigen, die im Gangbaren Verlorenen,
ein neuer Sinn: »Aus dem Sein selbst kann die Zuweisung derjenigen
Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden
müssen« (S. I 14). Von dem, was so »kommt«, gilt, was vom Kunst-
werk gesagt ist, (Holzwege, S. 54): es ist das »ein Stoß .... ins Offene« ... ,
der »das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Schei-
nende umgestoßen« hat. Die Folge ist, daß »die gewohnten Bezüge
zur Welt und Erde (sich) verwandeln«. Neue Maße werden gesetzt,
im Denken und im Dichten. »Das Dichterische ist das in Band und Maß
Gehaltene, das Maßvolle« (Erläuterungen, S. uo). Das dichterische
Sagen Rilkes fügt dieses Ereignis-werden des »Maßes« in ein anschau-
bares Bild: Die der Wahrheit des Seins sich Aussetzenden, die »dastehn
wie der Hirt, der dauert«, geben mit ihrem eigenen Dastehen dem
Geschehen der Wahrheit mythische Gestalt: »Und stürzen sie ins Knien
vor Tod und Leben, I so ist der Welt ein neues Maß gegeben mit die-
sem rechten Winkel ihres Knie!<<

DAS WESEN DES MENSCHEN -PHYSIS ALS LOGOS

Der in die Wahrnis des Seins Gerufene gibt als »Hirt des Seins<<, als
dessen »Nachbar«, der Welt »ein neues Maß«. Dieses Maß, aus dem
Sein selbst ereignet, ist also nicht ein immerwährend gleiches, seinem
Inhalt nach. Es selbst ist »unverborgen« nur unter dem Horizont von
Zeit, wie diejenigen unter den Horizont von Zeit gestellt sind, die als
eksistente Wesen dieses Maß finden müssen aus der »Sorge« = »Zeit-
lichkeit» von Dasein.

181
Zeit und Sein = Zeitlichkeit und Sein von Dasein sind Entspre-
chungen zu einander, aus denen folgt, daß die Existenz des Menschen
geschichtlich ist. »Ek-sistierend steht er (der Mensch) im Geschick des
Seins« (Platons Lehre, S. 8z). Mit diesem Maß, das er, dem Geschick
jeweils ausgesetzt, sucht, fragt der Mensch die Frage nach der Bestim-
mung seines Wesens. Er kann aber diese Frage »nur im Fragen nach
dem Sein« fragen (Einf. S. 109). »Das Fragen dieser Frage(= nach
der Bestimmung des Wesens des Menschen) und ihre Entscheidung ist
geschichtlich nicht nur überhaupt, sondern das Wesen der Geschichte«
(Einf. S. 107). Das geschichtliche Fragen des Menschen fragt hinein in
das »Geschick« des Seins. Wenn in diesem Fragen und seiner Entschei-
dung das Wesen der Geschichte gründet, so muß das Sein im wech-
selnden Eröffnen eines »Maßes« selbst geschichtlich sein: »... unser
Suchen nach der Bestimmtheit der Wortbedeutun g »Sein« (wird) aus-
drücklich zu dem, was es ist, zu einer Besinnung auf die Herkunft
unserer verborgenen Geschichte(( (Einf. S. 70).
Wir haben drei auf einander bezogene Entsprechungen gefunden:
1. Zeit und Sein = Zeitlichkeit und Sein von Dasein
2. Geschichte des Seins = Geschichtlichkeit der Bestimmung des
Menschenwesens
3· Sein-Wahrheit -Offenbarkeit = Sein von Dasein-Freiheit für-
Lichtung des Da.
Die Angewiesenheit von Sein von Dasein auf Sein-überhaupt ent-
spricht nun sehr deutlich einer Angewiesenheit von Sein-überhaupt auf
Sein von Dasein. Das »engagement de l'Etre« mit seinem gen. sub. u.
obj. scheint weiterzuweisen in die Richtung einer Identität von Sein
von Dasein und Sein überhaupt, die schon in »Sein und Zeit« (S. 38,
wiederholt in Platons Lehre, S. 83) sich nahelegte mit dem Wort »Sein
ist das transcendens schlechthin«.
Was aber als Gründung dieser Bezüge noch ausstand, ist jetzt mit
der »Einführung in die Metaphysik« gegeben. Der Weg, das Wesen
des Seins zu erfragen, verläuft in dieser Schrift über die geschichtlich
gewordenen Einschränkungen und Begrenzungen des Seins in den vier
uns geläufigen Entgegensetzungen: Sein und Werden, Sein und Schein,
Sein und Denken, Sein und Sollen55 • Sie mögen zunächst formelhaft an-
55 Und wieder führt Heideggers. Weg über das Befragen der Sprame, nimt um
Ethymologie zu treiben, sondern um der Verhaftung von Wort und Bedeutung in
ihrer gesmimtlichen Entfaltung und Verdeckung namzugehen, die bei dem Wort
»Sein« vielleicht eine »ursprünglimere« ist als bei jedem anderen wortgewordenen
Ausdruck. »Das Sein selbst ist in einem ganz anderen und wesentlicheren Sinne auf das
Wort angewiesen als jegliches Seiende« (Einf. S. 67).- Wir können diesen Weg nimt
im einzelnen verfolgen. Nur soviel sei angemerkt: Dieses Vorgehen wirft mit sich

182
muten. Aber die so gestellte Frage: »Wie steht es um das Sein? muß
sich selbst in der Geschichte des Seins halten, um ihrerseits die eigene
geschichtliche Tragweite zu entfalten und zu bewahren« (Einf. S. 70).
Man versteht das Wort: »Die Sprache ist das Haus des Seins. In
dieser Behausung wohnt der Mensch«, nur zu leichthin-metaphorisch.
Im Zurückgehen auf die griechischen Worte physis und Iogos bei
Heraklit, auf das einai, estin und im engsten Zusammendenken zu dem
noein bei Parmenides in der ursprünglichen Bedeutung dieser Wörter56
treten wir ein in dieses »Haus«, das einen Raum der «Lichtung« er-

selbst ein erhellendes Licht darauf, was Heidegger mit seinem Ausdruck von »der Ge-
schichte des Seins« meint. Die Geschichte des Wortes Sein ist ein Spiegel, der die Ge-
schichte des Seins selbst auffängt. Und daß dieses Auffangen möglich werden kann,
gründet in dem ursprünglichen Zusammen von physis und Iogos. Vielleicht ist nur aus
dieser ursprünglichen Zugehörigkeit zu begreifen, daß später Iogos auch Rede, Aus-
sage, Wort heißen kann.
Wenn hier wenigstens der Faden dieses Gedankenganges aufgedeckt werden muß,
so darum, weil Heidegger in dem Verhältnis von Sein und Iogos in seiner ursprüng-
lichen Zusammengehörigkeit und späteren Entgegensetzung den Schlüssel zu suchen
scheint für den Nachweis, daß das Wesen und die Weise des Menschseins aus dem
Wesen des Seins sich bestimmt. Der ursprüngliche Zusammenhang von Wort und Be-
deutung in »Sein« mit seinen Abwandlungen, seinen Entstellungen und Verdedrun-
gen, bis hinein in seine grammatikalischen Funktionen, - das enthüllt sich als die vor-
züglichste Möglichkeit, den Menschen in seinem jeweilig geschichtlich gewordenen
Seinsverständnis zu verstehen und daraus zu erkennen, wie er sich selbst im ganzen
Seinszusammenhang begreift.
56 also nicht gesehen von dem uns heute geläufigen Bedeutungswechsel, der be-
stimmt ist vom nachplatonischen Sprachgebrauch (Einf. S. 91 ff.). Wir können für
unseren Zweck nur auf einige Punkte in der Unterscheidung von Sein und Denken
aufmerksam machen. »Die Unterscheidung entspringt aus einer anfänglichen inneren
Zugehörigkeit des Unterschiedenen und Geschiedenen zum Sein Selbst« (S. 91).
Es besteht »ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen physis und Iogos« (S. 94),
und darum ist »auch die Scheidung entsprechend ursprünglich« (S. 103). »Der Titel
>Sein und Denken< nennt eine Unterscheidung, die vom Sein selbst glt:ichsam verlangt
wird« (S. 91). Im Laufe dieser geschichtlich gewordenen Unterscheidungen kommt
es schließlich »Zum Heraustreten und Auftreten des Iogos« und endlich wird »der
Iogos (das >Logische<) zum Wesen des Denkens« und »als Vernunft und Verstand zur
Herrschaft über das Sein« (S. 94). Weit vom Ursprung entfernt ist das, nach Heideg-
ger, seit langem unsere Situation, in der sich seit der platonischen Schule die geistige
Geschichte des Abendlandes vollzieht. Der Nachweis des ursprünglichen inneren Zu-
sammenhanges von physis und Iogos wird im griechischen Denken an Heraklit und
Parmenides (S. 96) geleistet. »Das Auseinander- und Gegenstrebige einbehalten« »in
eine Zusammengehörigkeit« bezeichnet Heidegger als die »in sich stehende Gesam-
meltheit des Seins«. In diesem »Einbehalten« hat der Iogos den Charakter des Durch-
waltens »der physis« (S. 102), so daß schließlich gesagt wird: »physis und Iogos sind
dasselbe«; »Iogos kennzeichnet das Sein in einer neuen und doch alten Hinsicht«
(S. 100).- Dasselbe Vorhaben im Nachweisen eines ursprunghaften Zusammenhanges
wird dann noch eiumal aufgenommen in einer Erläuterung des Bedeutungswandels
im noein des Parmenides (S. 104): noein heißt »vernehmencc und ursprünglich nicht
denken, noch »nous« Vernunft: »vernehmen ... = hin-nehmen, auf einen zukommen
lassen, das ... was erscheint«, »wobei nicht einfach hingenommen, sondern dem Sich-

153
baut, in dem der Mensch noch denkt, aufruhend auf der tragenden
»Erde« und erleuchtet vom sich darüber wölbenden »Himmelcc, also
fest gegründet in uranfänglichen Zusammenhängen; und so nennt er
das Sein aus einer ursprünglichen Einheit von Sein und Denken. Je
weiter der Mensch in dem geschichtlichen Bauen dieses Hauses fort-
schreitet, verengen sich diese Räume und erlauben schließlich nur noch
eine Perspektivität aus menschlichen Teilfunktionen ( cogito sum,
'Wille, Vorstellen), die, künstlich erweitert, nun zu einem gleichsam
denaturierten, weil dem Ursprung entfremdeten >Sein< hypostasiert
werden. Dieses Geschehen ist nach Heidegger ein Geschehen im Ge-
schick des Seins selbst. Heidegger verfolgt es als die Geschichte der
Metaphysik hinein bis in das Wesen der Technik.
Das Ergebnis der weit ausgesponnenen Untersuchungen Heideggers
will auch hier nachweisen: »Sein und Denken, im gegenstrebigen Sinne
einig, ... sind dasselbe als zusammengehörig.« Das Wesen der Physis
ist Erscheinen, »in die Unverborgenheit treten«; wo Unverborgenheit
geschieht, »das heißt, wo Sein waltet, da waltet mit und geschieht mit
als ihm zugehörig: Vernehmung, aufnehmendes Zum-Stehen-bringen
des sich zeigenden in sich Ständigen«. Zu physis = Sein gehört Ver-
nehmung; dieses Walten ist Mit-walten von Vernehmung. Der Nach-
weis gipfelt in dem Satz: »Dasselbe ist Vernehmung und das, worum-
willen Vernehmung geschieht. Vernehmung geschieht umwillen des
Seins« (Einf. S. 106).
Es geht Heidigger um diesen Schluß, auf den die ganze Unter-
suchung von vornherein hinstrebt: »Soll aber nun am Geschehnis die-
ser Erscheinung und Vernehmung (physis und noein (Iogos) = Sein
und Denken) der Mensch beteiligt sein, dann muß der Mensch aller-
dings selbst sein, zum Sein gehören.« Der enge Bezug dieser Unter-
suchung Heideggers zum Sein von Dasein läßt sich schon an dem einen
Wort erkennen: »worumwillen«. 'Wir erinnern uns, daß dieses Wort
lediglich in Bezug, in Kennzeichnung dessen gebraucht wird, worum es
dem Dasein geht57• Eindeutig wird nun der letzte Schluß gezogen:
JJDas Wesen und die Weise des Menschseins kann sich dann aber nur
aus dem Wesen des Seins bestimmen« (Einf. S. 106).
Hiermit ist ein gewisses Angekommensein an der Mitte des Weges
vom anderen Pol dieses seihen Weges bezeichnet. Ging »Sein und Zeit«

zeigenden gegenüber eine Aufnahmestellung bezogen« wird (S. xos). Auch in diesem
Satz ist die ursprunghafte Bezogenheit von physis und Iogos aufeinander, ihr nZu-
sammene<, als eine notwendige ursprüngliche Angewiesenheit von Sein-überhaupt auf
Sein von Dasein zu erkennen.
57 S. 29 f. dieser Arbeit.

153
davon aus, in der Erfragung des Sinnes vom Sein »primär« das Dasein
zu befragen, so ist nun, vom anderen Ende des Weges, vom Erfragen
des Seins, Sein selbst- die Mitte- berührt. Es ist das diese Mitte, an der
»Sein und Zeit« abbrach, dieser Punkt, der sich nun als diese Mitte
herausstellt, der die »Kehre« mit innerer Dotwendigkeit erzwang.
Beide Ausgangsstellungen begegnen sich: Aus dem Wesen des Seins be-
stimmt sich das Menschsein, weil physis und Iogos ein ursprünglich
Zusammengehörendes sind, dessenAuseinandertreten ebenso ursprüng-
lich bedingt ist: »Insofern nun aber zu solchem Erscheinen Verneh-
mung gehört, hinnehmendes Vernehmen dessen, was sich zeigt, läßt
sich vermuten, daß gerade von hier aus das Wesen des Menschseins
sich bestimmt« (Einf. S. 107).
In der zweiten Entsprechung hatten wir gefunden:
Geschichte des Seins = Geschichtlichkeit der Bestimmung des Men-
schenwesens.
Das am Wort des Parmenides von Heidegger herausgestellte »Ver-
nehmen« ist keine »Eigenschaft des Menschen, sondern eine Weise des
Seins selbst«. »Vernehmung ist jenes Geschehnis, das den Menschen
hat.« Im »Geschehen« dieser Vernehmung tritt »der Mensch erst als
der Seiende in die Geschichte ... erscheint, d. h. (kommt) im wört-
lichen Sinne selbst zum Sein« (Einf. S. ro8).
Mit dieser zweiten Entsprechung ist in der Zurückführung dessen,
was wir heute »denken« nennen, auf noein = vernehmen die ursprüng-
liche Zugehörigkeit von Dasein zum Sein selbst erst recht gegründet.
»Aus der anfänglichen inneren Zugehörigkeit« von Denken zum Sein,
von Iogos und physis, versteht sich die Scheidung von Sein und Denken
als entsprechend ursprünglich. In ihr tritt »der Mensch dem Sein ins
Angesicht«. Dieses Geschehnis ist das >>wissentliche In-Erscheinungtre-
ten des Menschen als des geschichtlichen«.
»Der Mensch tritt dem Sein ins Angesicht >>-als ein geschichtlicher,
als ein in das Geschick des Seins Eingelassener, als einer, der aus dieser
Eingelassenheit heraus nach dem >>Maß« fragt. Rilke, in der ursprüng-
lich mythisch-magischen Struktur seines Wehverhältnisses, war recht
eigentlich geschichtsfremd. Und doch stellte auch er endlich seine Fra-
gen nach Ort und Sinn des menschlichen Daseins in einem geschicht-
lich gewordenen Augenblick der Zeit aus einer geschichtlich gewor-
denen >>Situation«, die als solche Absprung und Richtung seines
Fragens bestimmte. Dieserzeitliche Augenblick in seiner besonderen Pro-
blematik erzwang gleichsam in Rilke selbst den Durchbruch zur Kon-
frontierung dieser Problematik als einer geschichtlich gewordenen. Der
Dichter, der noch soeben mit der achten Elegie in einen Raum magi-

153
scher Zeitlosigkeit entweichen zu wollen schien, der vom Menschsein
zurückschauderte, wieder abgesunken vom Auftrieb der siebenten Ele-
gie, faßt sich mit dem Anfang der neunten Elegie zu einem neuen Auf-
schwung zusammen. Deren erste Verse sind eine klare Absage an die
Verführung, die ausgehen kann von einem magisch-mythisch ange-
schauten Bild der Kreatur als eines unbewußt-schicksallosen Daseins.
Die Absage dieser ersten Verse der neunten Elegie wurzelt in einer
klaren Erkenntnis vom augenblicklichen Ort des Menschen in der Zeit.
Schon die siebente Elegie hatte es ausgesprochen: »Immer geringer
schwindet das Außen«. Vage, oft geträumte Möglichkeiten des Sich-
Entziehens werden im schön gefügten Vers und Bild noch einmal her-
aufgerufen; dann wird die Frage gestellt: »Warum ... Menschliches
müssen und Schicksal vermeidend sich sehnen nach Schicksal?« Schick-
sal vermeiden wollend - also dem Geschick ausweichend - ist der
Mensch dennoch getrieben von einer Sehnsucht nach Schicksal.
Schicksal aber meint Geschichtlichkeit. Denn »Menschliches müssen«
kann sich nur als Geschichtlichkeit vollziehen. Der Mensch findet die
Antwort auf dieses »Warum«: »weil Hiersein viel ist, und weil uns
scheinbar alles das Hiesige braucht«. Die Schicksalhaftigkeit, die Ge-
schichtlichkeit des Menschen ereignet sich also in einer notwendigen
Verknüpfung seiner selbst mit allem »Hiesigen«. Diese geht so weit,
daß der Mensch »gebraucht« wird von »diesem(ses) Schwindenden(e),
das seltsam uns angeht«. Nicht um seiner selbstwillensteht der Mensch
in dieser Verbindung. Wir, »die Schwindendsten«, als Schwindende,
stehen mit den zeitlichen Dingen, diesen schwindenden, in der Zeit,
eingelassen in das Geschick des Seins.
»Und immer geringer schwindet das Außen.« Damit ist ein Augen-
blick in der Zeit gemeint, der in seinem Geschehen nicht etwa aus der
Willkür des Menschen bestimmt ist, als sei er es, der die äußere Gestalt
aus einem ihm zuzurechnenden Verschulden vernachlässige. Gewiß,
er »bewahrt« dieses Außen nicht mehr, wie frühere Zeiten es erstellt
haben, und der Mensch bleibt damit etwas schuldig. Aber auch mit
diesem schuldig-Bleiben, mit dieser Abwendung an »jener dumpfen
Umkehr der Welt« steht der Mensch in einem seinsgeschichtlichen Zu-
sammenhang. Auch hier wieder enthüllt sich dieses »Grundsein einer
Nichtigkeit« 58• Hier reicht der Mensch mit seiner Sorge (Nicht-Sorge)
= Zeitlichkeit über Zeit = Geschichte in das Nichts zum Sein.
Das, was in den Versen der siebenten Elegie ausgesagt wird, ist eine
Kennzeichnung des technischen Zeitalters nach einem ganz entschei-
denden Blickpunkt. (Noch einmal muß in diesem Zusammenhang
ss vgl. S. 98 f. dieser Arbeit.

x86
unter einer anderen Hinsicht auf diese ganz grundsätzlich zu be-
denkenden Verse zurückgekommen werden.) Nicht von der Heraus-
stellung eines technischen Tuns sprechen sie; sie enthalten vielmehr
eine Aufzeigung einiger wesentlicher Momente im Wesen der Technik
selbst: »Wo einmal ein dauerndes Haus war, I schlägt sich erdachtes Ge-
bild vor, quer, zu Erdenklichem I völlig gehörig, als ständ es noch ganz
im Gehirn.« Das »dauernde Haus« von einstmals, das hier gemeint ist,
war vielleicht noch errichtet worden aus einem anfänglichen Wissen
um das, was »Wohnen« auf der Erde eigentlich meint, als das Hausen,
das Beheimatetsein in »der Einfalt des Gevierts<< von Erde und Him-
mel, Göttlichen und Sterblichen (Vortr. S. 149). Die anfänglich-ur-
sprüngliche Zugehörigkeit des Denkens zum Sein, die Heidegger im
frühen griechischen Denken aufgewiesen hatte, ist im Laufe der ge-
schichtlichen Entwicklung zu einer immer schärferen Geschiedenheit,
ja zu einer Zerstörerischen Trennung geworden. Das »Haus<< als das
»erdachte Gebild<<, wie es jetzt gemeinhin errichtet wird, steht »quer<<
zu allen ursprünglich erfahrenen Zusammenhängen. Aus der Ver-
selbständigung eines beziehungslos gewordenen Denkens hervorge-
bracht, gründet es weder auf »Erde<< noch weiß es um die »Sterblichen<<
-das heißt um den Tod- noch um ihren Bezug zum »Himmel<< und zu
den »Göttlichen<<. In der Loslösung von allen diesen tragenden und
gestaltgebenden Verknüpfungen steht es draußen- zwar nun errichtet
scheinbar an derselben Stelle, von der aus alle diese Bezüge sich ereignen
sollen, aber nun doch nur nackt und kahl für sich, so »als ständ es noch
ganz im Gehirn<<.
»Äußere Gestalt<< im Sinne eines nach außen hervorgebrachten ge-
staltgewordenen Bezuges zum Sein, wir wissen es, ist heute nicht mehr.
»Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos I wie der
spannende Drang, den er aus allem gewinnt.<< Da, wo bei Rilke das
Wort »Gestalt<< - hier, in der Negation als »gestaltlos» - anklingt,
denkt er auf seine Weise den Bezug zum Sein, ja, die zur Anschauung
gelangte Wahrheit des Seins selbst. Heidegger hat in seinem Vortrag
über die Technik ihr »Wesen<< in den weiten Zusammenhang seines
Verständisses vom Wesen des Seins und der Wahrheit gestellt. Das dort
Ausgeführte ist von einer alles bisher Gesagte abrundenden, die ge-
setzten Akzente betonenden Erschließungskraft. Es verlangt, wenig-
stens etwas näher sich mit dem Vortrag »Die Frage nach der Technik<<
einzulassen.
»Das Wesen der Technik« ist »ganz und gar nichts Technisches<<
(Vortr. S. 13), sondern eine Weise des »Entbergens« (Vortr. S. zo).
Damit ist der Bereich abgegrenzt, aus dem und in dem die Frage nach

153
der Technik und damit die Frage nach unserer Situation in ihr sinn-
gemäß zu stellen ist. Dieser ganze Bezirk scheint mit den Heidegger'
sehen Worten außerordentlich befremdend gekennzeichnet als ein
»Bereich, wo Entbergen und Unverborgenheit, aletheia, wo Wahrheit
geschieht« (Vortr. S. 21). Der Raum aber, in dem, wann und wie auch
immer »Entbergen« geschieht, ist der, den das Dasein bewohnt,- Da-
sein als Lichtung des »Da«, von dem aus »der Mensch dem Sein ins An-
gesicht tritt<<. Auch da, wo der Mensch die Technik betreibt, auch da
»findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht<< (Vortr.
S. z6). Wir erfahren es bitter, daß der Mensch im Verkehr mit der
Technik nur allzuleicht von allen tragenden, im weiteren Sinn transzen-
dierenden Bezügen sich abgeschnitten sieht, und, was schlimmer ist,
abgeschieden ist und es vielmehr nicht sieht. Auch im Betreiben der
Technik »entspricht der Mensch nur dem Zuspruch der Unverborgen-
heit<<. An diesem Ort der Zeit, in diesem Bereich, wird der Mensch von
einer Weise des Entbergens in Anspruch genommen, mit der Heidegger
die moderne Technik charakterisiert: ihr Entbergen, ihr Hervorbringen
»ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie
zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann«
(Vortr. S. 22). Die Natur wird dazu »gestellt<<, im Sinne dieser »Her-
ausforderung<< einen »Bestand« zu liefern.
»Welche Art von Unverborgenheit eignet nun dem, was durch das
herausfordernde Stellen zustande kommt? Überall ist es bestellt, auf
der Stelle zur Stelle zu stehen, und zwar zu stehen, um selbst bestellbar
zu sein für ein weiteres Bestellen.:< 59 Das so Bestellte nennt Heidegger
»Bestand« und gibt diesem Wort »den Rang eines Titels». »Was im
Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegen-
über.« Mit diesem Satz ist angedeutet, daß der technische Mensch sogar
schon aus der Gegenübersituation als solcher herausgetreten ist, die
unter der Herrschaft des cogito sum die vorletzte Phase des modernen
Seinsverhältnisses bestimmte. Inzwischen ist der Mensch eingetreten
in eine völlig autonome Verfügbarkeit über die unbegrenzte Nutzung
und Verarbeitung alles Seienden, um dessen Überführung in den »Be-
stand« zu betreiben.
Die Wörter »stellen», »bestellen«, »Bestand«, die Heidegger in allen
Möglichkeiten ihrer Reichweite hin und her wendet, gemäß seiner Art,

59 Es ist auch hier wieder daran zu erinnern, daß mit dem Wort >> Unverborgenheit"
kein Wertakzent gesetzt ist. Unverborgenheit meint Lichtung schlechthin - aurh
Lichtung eines Zustandes, in dem die Verborgenheit herrscht. - Eine eingehende Er-
läuterung wird an Beispielen aus dem extremen Funktionalismus der modernen Wirt-
schaft gegeben (Vortr. S. 24 ff.).

188
von der Wurzel des Wortes aus zu denken, bilden ein engmaschiges
Netz. Er spannt es auch hier über den Bereich des gerade zu Denken-
den, um einzufangen, was in ihn hineingehört. Das alles gipfelt in der
Kennzeichnung, die er »jenem herausfordernden Anspruch (gibt), der
den Menschen dahin versammelt, das Sieheutbergende als Bestand zu
bestellen- das Ge-stell«.
Es ist das Auszeichnende von Heideggers Denken über die Technik,
daß seine Erkenntnisse sich nicht in den üblichen zu nichts führenden
Klagen über die Entstellung von Mensch und Welt durch die Technik
ergehen. Diese Gedanken sind weit davon entfernt, im Wirken der
Maschine Teufelswerk zu erblicken. Wohl ist die Technik »das plane-
tarische Schicksal«; denn sie ist kein blosses »menschliches Gemächte«,
sondern eine »Schickung des Geschickes wie jede Weise des Entbergens«
(Vortr. S. p). Und gerade daraufhin will ausdrücklich auch das so oft,
ganz unberechtigterweise als geradezu anstößig empfundene >Spiel< mit
dem Wort »stellen« hinaus- bis hin zu »Ge-stell«. Dieses Wort will
mehr als ein paradoxer oder eigenwilliger Ausdruck sein. »Es soll zu-
gleich den Anklang an ein anderes >Stellen< bewahren, aus dem es ab-
stammt, nämlich an jenes Her- und Dar-stellen, das im Sinne der poiesis
das Anwesende in die Unverborgenheit hervorkommen läßt« (Vortr.
S. 28). Als Beispiel dafür nennt Heidegger das Aufstellen eines Stand-
bildes im Tempelbezirk Damit wurde einstmals in einer Weise der
poiesis entsprochen, die gewiß vom Bestellen der Technik grundver-
schieden ist. Wir schrecken davor zurück, dieses wie jenes als eine
Weise des Entbergens anzuerkennen, beides in einem Atemzug zu nen-
nen und der aletheia zuzuweisen, weil wir vielleicht noch nicht konse-
quent genug sehen: »Das Wirkliche ist das Wirkende, Gewirkte: das
ins Anwesen Hervorbringende und Her-vor-gebrachte.« Es ist in die-
sem Sinne »wahr«. Wir haben uns aus dem Erschrecken zurückzu-
nehmen und uns zu erinnern: Wahrheit ist nach Heidegger ein Sich-
Ereignen, das wir nur im Horizont von Zeit erfahren können. Es
kommt also unter dem Horizont von Zeit gemäß der Schickung des
Seins in mannigfachen Gehalten zum Erscheinen.
Wir suchen der Befremdung zu begegnen, die uns gefangen hält. Es
ist ungemein aufschließend, daß Rilke im seibern Atemzug, in dem er
vom gestaltlosen, spannenden Drang des Zeitgeistes spricht, auch den
Tempel nennt. Es geschieht unter demselben Horizont von Zeit, im
sich-Abstoßen aus der gleichen geschichtlichen Situation, getrieben vom
gleichen Einsehen-wollen des Bezuges von Sein von Dasein zu Sein-
überhaupt: »Tempel kennt er (der heutige Mensch) nicht mehr«. Ohne
das geringste systematische Wissen um die erst von Heidegger viel

153
später herausgestellten Zuammenhänge, ohne die Möglichkeit, rein
denkerisch den geschichtlichen Herleitungen nachzuspüren, steigen in
dem Dichter Bilder und Gleichnisse hoch, die rein intuitiv in denselben
Zusammenhang loten. Sie gehen hervor aus einem ihm selbst tief ver-
borgenen Wissen um die hier waltenden Bezüge. Allein mit ihrem
Aufkommen sind sie ein Zeugnis für den Zusammenhang selbst, in
dem einzig diese Fragen gefragt werden können, wenn sie weiterfüh-
rend über die bloße Feststellung hinaus gefragt werden.
Die Frage nach dem Wesen der Technik ist in eine Beziehung zu der
Frage nach dem Wesen des Seins und der Wahrheit gestellt. Im Zeit-
alter der Technik steht der Mensch als der vom Geschick des Seins
»Herausgeforderte . . . im Wesensbereich des Ge-stells« (Vortr.
S. 3 x), im Ge-stell als »einem Geschick der Entbergung« (Vortr.
S. 33). Daraus folgt, daß der Mensch nicht von sich aus, in reiner
Willkür, eine Beziehung zur Technik aufnehmen kann. Es folgt aber
nicht daraus, daß der Mensch in »das Verhängnis eines Zwanges«, in
»das Unausweichliche eines unabänderlichen Verlaufs« (Vortr. S. 32,
33) eingespannt sei. Wir haben uns auch hier zu erinnern, daß das We-
sen der Wahrheit (Entbergung) die Freiheit ist. »Der Mensch wird
gerade erst frei, insofern er in den Bereich des Geschickes gehört und
so ein Hörender wird, nicht aber ein Höriger<< (Vortr. S. 32). Es folgt
aus dem gegenwendigen Wesen der Wahrheit, daß der Mensch als ein
Hörender sich verhören, daß er in die Irre gehen kann. Denn »das Ge-
schick der Entbergung ist als solches in jeder seiner Weisen und darum
notwendig Gefahrrr (Vortr. S. 34) - und zwar »nicht irgend eine,
sondern die Gefahr<<.
Heidegger zeigt eingehend die Besonderheit dieser Gefahr, die dem
Menschen aus der Herausforderung des Ge-stells in allen Einzelheiten
der Gestaltung seines Daseins im Zeichen der Technik droht. Aber »die
eigentliche Bedrohung, in der alle Gefahr zusammenläuft<<, ist die
»Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprüng-
licheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer
Iieheren Wahrheit zu erfahren<< (Vortr. S. 36).
An dieser Stelle ruft Heidegger den Dichter auf, Hölderlin: »Wo aber
Gefahr ist, wächst I Das Rettende auch.<< Heidegger versteht dieses
»vVo<< des Verses gleichsam als eine Ortsbezeichnung, so dicht und nah,
daß er folgert, im Drohenden selbst wachse das Rettende. Jedoch, was
retten soll, muß »höheren, aber zugleich verwandten Wesens sein ...
wie das Gefährdete<< (Vortr. S. 42 ).
Wir sahen, daß es das Wesen der Technik ist, den Menschen in die
der Technik. allein gemäße Weise des Entbergens herauszufordern. Es

153
ist das die Weise des Ge-stells. Die besondere Gefahr aber des Ge-
stells ist die, »daß alles Entbergen im Be-stellen aufgeht«. Es gibt aber
ein anfänglicheres Entbergen. Auch es hieß einstmals »techne« und be-
deutete das »Hervorbringen des Wahren in das Schöne«. Techne hieß
auch die poiesis der schönen Künste (Vortr. S. 42). Den Namen
»poiesis erhielt zuletzt jenes Entbergen als Eigennamen, daß alle Kunst
des Schönen durchwaltet, die Poesie, das Dichterische«. Damit ist auf
eine Möglichkeit des Rettenden hingewiesen, die als Hervorbringen
im anfänglichen und umfassenden Sinn von poiesis das einseitig abge-
leitete, verstellende Wesen des technischen Hervorbringens wieder in
sich zurücknehmen könnte in die weiten Bezüge, in denen ursprüng-
lich der Mensch stand. Die Gefahr des technischen Tuns liegt eben
darin, daß es ein Hervorbringen ist, das in seinem alles an sich reißen-
den Maße- auch wenn es an sich »Entbergung« ist- gerade als Ent-
bergung den Menschen in eine verarmende Einschränkung stellt, die
ihn in seinem ganzen Wesen zu enteignen droht. Hier sei ein Wort von
Heidegger aus einem anderen Zusammenhang angeführt: es ist mög-
lich, daß im Entbergen des Wahren »die Wahrheit ihr Wesen spart«.
Durch Heideggers eigene Beweisführung aus der poiesis sind wir von
ihm selbst sehr nahe an das Dichterische herangeführt worden. Wir
verweisen darum wieder auf Rilke, der um dieses »sparende« Wesen
der Wahrheit und des Entbergens im technischen Zeitalter weiß. Da,
wo er die Tempel nennt, den nach außen gestellten und damit anschau-
lich gewordenen Bezug zur Dimension des Heiligen- im Gegensatz zu
dem »gestaltlosen<<, dem spannenden technischen Drang-, da fährt er
fort: »Diese (einstmals in das Bauen von Tempeln eingehende), des
Herzens, Verschwendung sparen wir heimlicher ein<<.
Inmitten der höchsten Gefahr sind wir von Heidegger auf »das
Rettende<< hin angesprochen und darauf verwiesen, es »zu verhoffen<<:
»Hier und jetzt und im Geringen so, daß wir das Rettende in seinem
Wachstum hegen<< (Vortr. S. 41). In dieser äußersten Gefahr, die auch
Rilke gesehen hat: »Ja, wo noch eins übersteht, ein einst gebetetes Ding,
ein gedientes, geknietes -,hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsicht-
bare hin.<< Es bietet sich selbst dem Menschen zum Innen-verwandeln
dar. Damit weist der Dichter auf ein rettendes Tun hin, das auch eine
poiesis ist; eine solche, die im Augenblick des gestaltlosen spannenden
Dranges kaum noch hoffen darf, nach außen zu dringen. Auch dieses
Tun schafft eine neue, dichtere Wirklichkeit; sie geht ein ins Wort.
Dieses rettende Tun ist steigerndes Preisen und Rühmen des einst
Hervorgebrachten und nun Dahinschwindenden an den Engel. Dieses
Bewirken einer weiter wirkenden Wirklichkeit verwandelt den Men-

153
sehen selbst. In einer Zeit, deren Tun »ohne Bild(( sich vollzieht, ge-
schieht alles gleichsam »unter Krustencc. Aber es ist die gläubige Zu-
versicht Rilkes, daß sie »willig zerspringen, sobald innen das Handeln
entwächst und sich anders begrenztcc (neunte Elegie). So wie es der
Glaube Hölderlins war, daß ein Rettendes wachsen könne, so wie auch
Heidegger noch immer die Möglichkeit sieht, daß das gegenwendige
Wesen der Wahrheit nicht nur in die Irre führt, als deren letzten
Schritt. Es gilt vielmehr auch hier: »Als Beirrung schafft die Irre zu-
gleich mit an der Möglichkeit, die der Mensch aus der Ek-sistenz zu
heben vermag, sich nicht beirren zu lassen, indem er die Irre selbst er-
fährt und sich nicht versieht am Geheimnis des Da-seinscc (W. d. W.
s. 22 f.).
Heidegger hat sich also nicht damit begnügt, die Frage nach der Tech-
nik mit der Aufweisung ihres Wesens als Ge-stell zu beantworten. Er
hat dargetan, wie der Mensch dem Anspruch des Seins entsprechen
kann, der aus dem Wesen der Technik an den Menschen gestellt wird,
wie er Möglichkeiten sieht, daß der Mensch aus der Freiheit von Er-
möglichung der Gefahr begegnen kann, die aus dem Geschick des Seins,
der Technik, dem Menschen droht. Der Denker und der Dichter kom-
men auf einander zu auf dem Wege zum »Rettenden<<.
Wir kehren zum »Brief über den Humanismus(( zurück, nachdem wir
in seine Fragestellung wenigstens einen Teil der Ergebnisse des Hei-
degger'schen Denkens hineingehoben haben, die in den »Vorträgen und
Aufsätzen(( und in der »Einführung in die Metaphysik(( nach dem
Humanismusbrief veröffentlicht worden sind. Und da bleibt uns noch
eine wesentliche Frage zu stellen.
Der Mensch ist der Hirt des Seins. Das Sein schickt die Wahrheit
als Wahrheit des Seins. In ihrer Gegenwendigkeitwest das Nichten als
das Nichts, das zum Sein selbst gehört. Der Mensch scheint vom Sein
selbst für die Wahrheit des Seins »engagiert<C. Er hat dem Ruf des Seins
zu antworten. Es erhebt sich die grundlegende Frage: Rufverstehen
war in »Sein und Zeit<C immer Entschlossenheit zum Eigentlichsein. Ist
also auch der Mensch, der »in der Nähe des Seins wohnt<C, der Mensch
als »Nachbar des Seinsec (Humanismusbrief) der für sein Eigentlichsein
schon Entschiedene? Man möchte es zunächst ganz gefühlsmäßig be-
jahen; insbesondere dann, wenn man das Rilke'sche Gedicht und die
mit diesem in vielen Punkten übereinstimmende bildhafte Sprache Hei-
deggers im »Brief über den Humanismuscc bedenkt. Sieht man jedoch
schärfer zu, so erheben sich aus der Heidegger'schen Struktur von Exi-
stenzialität Schwierigkeiten, gewissermaßen systematischer Art, die
durch keine bildhafte Sprache zu überbrücken sind. Entstehen sie nur,

153
weil man vielleicht ganz unbillig, immer wieder auf »Sein und Zeit«
zurückgreift? Sind es vielleicht nur unbemerkt stehen gebliebene Un-
ebenheiten, weil die Mitte des Weges, nun von Sein-überhaupt her an-
gegangen, noch nicht ganz erreicht worden ist? Oder aber- und das
ist die entscheidende Frage - wurde diese Mitte etwa darum nicht er-
reicht, weil diese Schwierigkeiten tiefer liegen? Ist das vielleicht ein
Hinweis darauf, daß »Sein und Zeit« auch im Stadium des Humanis-
musbriefes keineswegs vernachlässigt werden darf, auch gerade dann
nicht, wenn Schwierigkeiten entstehen? Wir versuchen, dieser Frage
nachzugehen.
Immer wieder muß dar an erinnert werden, daß auch das U neigendich-
sein in den Bezug zu Sein-überhaupt hineingehört, wie er sich vom Sein
selbst her ereignet. Denn auch im Humanismusbrief verlangt die durch-
gehende Strukturiertheit von Existenz durchaus als eine einheitliche
in den beiden Weisen-zu-sein festgehalten zu werden. Das ist sehr
deutlich ausgesprochen, wo noch einmal das in »Sein und Zeit<< ge-
nannte »Verfallen << von einem »moralphilosophisch<< verstandenen und
»zugleich säkularisierten Sündenfall<< des Menschen abgehoben wird
(Platons Lehre, S. 78). Das Verfallen ist vielmehr »ein wesenhaftes Ver-
hältnis des Menschen zum Sein innerhalb des Bezuges des Seins zum
Menschenwesen<<. »... das Wesen der Ek-sistenz ist existenzial-eksta-
tisch aus dem Wesen der Wahrheit des Seins<< - also der Wahrheit in
ihrer ganzen Gegenwendigkeit in Bezug auf die Existenz im ganzen
Umfang von Existenzialität. Und so ruft das Sein den Menschen in
seinen ganzen Möglichkeiten zum Hirten des Seins. Es ruft den Men-
schen also auch als den Verfallenden, und, so scheint es, nicht nur dar-
um auch als den Verfallenden, als der der Mensch gemeinhin ist, auf
daß er aus der Uneigentlichkeit seines Daseins heraustrete. Denn nir-
gends ist davon die Rede, daß dieser Bezug des Seins sich gabeln könne
in einen Bezug, der von vornherein angelegt wäre als ein solcher zum
eigentlichen und in einen anderen zum uneigentlichen Dasein.
Das ganze Werk Heideggers wird von einer Gegenwendigkeit durch-
zogen. Sie beherrscht insbesondere seine Auffassung vom Y\lesen der
Wahrheit. Zum WesenderWahrheit gehört die anfängliche Un-ent-
borgenheit als die »dem Wahrheitswesen eigenste und eigentliche Un-
wahrheit<< (W.d.W.S. 19). Aber: »das eigentliche Un-wesen der Wahr-
heit ist das Geheimnis<<, das älter ist als jede partielle Entbergung eines
Seienden, die, entbergend, immer schon wieder verstellend sich vor das
Seiende im Ganzen stellt - insbesondere und darum, weil die Offen-
heit eines einzelnen Seienden dem Menschen genügt und das Geheim-
nis als solches vergessen läßt. Gerade darin gründet ja die Gefahr aus

193
dem »Geschick der Entbergung«, die »in der Weise des Gestells ...
höchste Gefahr ist« (Vortr. S. 34). Und doch entspricht der Mensch
mit dem Entbergen auch in der Weise des »Ge-stells« einem Anspruch
des Seins selbst. Es ist also festzuhalten: wenn der Mensch als der Ek-
sistierende »ausgesetzt ist in die weiteste Un-entborgenheit« (W. d. W.
S. 20), ausgesetzt in die eigentliche und anfängliche Un-wahrheit, so
insistiert er doch immer zugleich als der Eksistierende, sich wegwen-
dend vom Geheimnis. »Sich versteifend (besteht er) auf dem, was das
wie von selbst und an sich offene Seiende bietet« (W. d. W. S. 21). Es
ist deutlich geworden: der in »Sein und Zeit(< (und auch sonst) als der
»Verfallende« bezeichnete Mensch wird im Bezug zum Wesen der
Wahrheit der eksistent-Insistente genannt. Dieses Hin und Her zwi-
schen dem »Ek« und dem »In« führt Heidegger in jeder nur denkbaren
Kreuzung von Entbergung und Verbergung, von offenbarem und ver-
schlossenem, von als verborgenem wenigstens gewußtem oder aber un-
gewußt bleibendem Geheimnis durch. nJene insistente Zuwendung
zum Gangbaren und diese ek-sistente Wegwendung vom Geheimnis
gehören zusammen. Sie sind eines und dasselbe« (W. d. W. S. 22):
nämlich das Irren oder die Irre, welche nzur inneren Verfassung des
Da-seins, in das der geschichtliche Mensch eingelassen ist«, gehört. Ir-
ren, Beirrung und die Bedrängnis durch diese, das Walten des nGe-
heimnisses als eines vergessenencr schaffen eine zwiefadte ;;Not der N ö-
tigungrr (W. d. W. S. 23). Wie die wesenhafte Angst, die in das Nichts
stößt und Entschlossenheit zeitigt, so erwächst aus der Not dieses We-
sens der Wahrheit, das ihr volles eigenstes Un-wesen mit einschließt,
Entschlossenheit. Diese Not steht in Entsprechung zum anfänglichen
Wesen der Un-wahrheit; übernimmt der Mensch sie, so »ist er zum
Geheimnis unterwegs in die Irre als solche«.
Es ist nur noch der Schluß zu ziehen, der unsere Frage präzisieren
soll: Entbergung und Verbergung, Irre und Beirrung, die Bedrängnis
durch das vergessene Geheimnis, - das ist das Gegenspiel in der Exi-
stenz zum anfänglichen Wesen der \Vahrhheit des Seins und ihrem
»Un-«. Der von Sein überhaupt ausgehende Ruf, der das Dasein zum
Hirten der Wahrheit des Seins bestellt, hat zum Inhalt nicht die Wahr-
heit gleichsam als einsinnige Entborgenheit mit einem rein positiven
Vorzeichen, sondern das nvolle sein eigenstes Un-wesen einschließende
Wesen der Wahrheit«. Das Sein ruft also aus der Fülle, die seine ganze
Gegenwendigkeit im »wesen« (verbal!) von Verborgenheit und Ent-
borgenheit gleichsam ausbreitet. So kann der >Adressat< dieses Rufes
nur das Dasein in allen seinen »Möglichkeiten« sein, wie sie in der
durchgehenden existenzialen Struktur von Dasein gründen. Der Ruf

194
des Seins macht gewiß nicht vor dem verfallenden Dasein halt, aber
auch nicht hinter ihm. Erst die hier in diesen Darlegungen versuchte
Rückführung des Rufes auf das volle \Vesen der Wahrheit läßt die um-
fassende Reichweite des Rufes einsehen. Der Ruf ruft den Menschen
als solchen. Es scheint auch, daß der Mensch als solcher den Ruf ver-
nimmt. Erst wie er ihm entspricht, entscheidet über sein Eigentlich-
oder Uneigentlich-Sein. Und doch wäre hiermit die gestellte Frage nur
abgebogen.
Vom Sein aus wird das Sein des Daseins = Sorge angesprochen ond
auf das Sein selbst und seine Wahrheit in ihrer Gegenwendigkeit aus-
gerichtet. Diese Rückführung ist im Humanismusbrief nicht gegeben.
Wir mußten also, um den Ruf in der vollen Tragweite zu erfassen, auf
den Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« zurückgehen, als in den
Grund, der dort aufgepflügt worden ist.
An diesem Punkt ist eine Rückerinnerung einzuschalten auf die Fest-
stellungen, die hinsichtlich des Rilke'schen Einsehens gemacht wurden.
Wir erkannten dieses Einsehen als lediglich vom Eigentlichsein her
und zu diesem hin bestimmt. Jedoch wurde eine Integrierung in das
Heidegger'sche Existenzial »Verstehen« möglich; damit fiel aus der
Gründung dieses» Verstehensec qua Einsehen das Uneigentlichsein aus.
Von der Heidegger'schen durchgehend strukturierten Existenzialität
her gesehen - so stellten wir fest - hängt also dieses >>Einsehen« in
der Luft. An der Untersuchung der Rilke'schen Sorge qua Auftrag er-
gab sich folgerichtig die gleiche einseitig determinierte Ausrichtung.
Ebenso steht der >>Hirt der dauertcc des letzten Gedichtes im Lichte
der Eigentlichkeit.
Müssen wir nun ein ähnliches in-der-Luft-Hängen, nur jetzt von
der Seite des Heidegger'schen Sein-überhaupt in seinem Bezug zu Sein
von Dasein, also gleichsam vom entgegengesetzten Ende des Weges
aus angesichts der Dimension des Heilen und des Heiligen aussagen?
Soll und kann dieses Sein, jetzt unvermittelt aus seiner Dimension des
Heilen und des Heiligen, das verfallende Dasein mit seinem Ruf an-
sprechen? In »Sein und Zeitcc ist sehr geflissentlich für die beiden Wei-
sen von Existenz (Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit) eine Gleichgül-
tigkeit in Bezug auf eine mögliche Zielgerichtetheit oder Wertbetont-
heit aufrecht erhalten. Das sprach sich sogar ausdrücklich auch gegen
den bloßen Anschein aus, der mit Heideggers Wortgebrauch etwa her-
aufgerufen sein könnte. Diese Gleichgültigkeit ist im >>Brief über den
Human.isumscc und auch sehr oft in den »Holzwegencc aufgegeben. Es
geschah in einer Weise, daß nunmehr der gegenteilige Anschein ent-
stehen konnte, als sei die Bestellung des Menschen zum Hüter der

195
Wahrheit des Seins ein »Auftrag« aus der Wahrheit= (positiver) Ent-
borgenheit und daher zu ihren Gunsten. Dieses aber hätte die Konse-
quenz, daß mit dem Ruf des Seins nur die Eigentlichkeit angesprochen
sein könnte. Als weitere Folge träte ein, daß die Wahrheit des Seins
eingeschränkt werden würde und nicht mehr die anfängliche eigent-
liche »Un-wahrheit« in sich schlösse, in die Heidegger sie doch gegrün-
det hat und der auf seiten der Existenz Irre, Verirrung, Bedrängnis
entspricht.
Jedoch erhebt sich nun gerade darum die letzte grundsätzliche Frage,
die beim Studium des Humanismusbriefes schon lange beunruhigt hat:
Weder im Sinn vom Sein des Daseins noch in Sein-überhaupt ist eine
inhaltlich bestimmte Zielgerichtetheit mitgedacht, die den komplexen
Anspruch der ganzen einen auf die ganze andere Seite (Sein-überhaupt
- Sein von Dasein) irgendwie differenzierte oder determinierte. Wir
stellten lediglich eine »Angewiesenheit« der ganzen einen auf die ganze
andere Seite fest, mit aller Einschränkung, die dieses ungernäße Wort
auferlegt. (Es wird hier nur als Chiffer eingesetzt; sie steht für den
gen. subj. und obj. des »de l'engagement« Heideggers.) Beide Formu-
lierungen gehen schließlich auf den Grund-Satz Heideggers zurück:
»Sein gibt es nur, so lange Dasein ist. «60 Nun ist aber die Annahme einer
Dimension des Heilen im Sein-überhaupt eine solche Differenzierung,
der auf der anderen Seite der Existenz eine Entsprechung gegeben
werden müßte. Diese Entsprechung kann nicht erblickt werden in der
Eigentlichkeit von Dasein; das wäre eine unzulässige Simplifizierung,
und zugleich läge darin eine Einschränkung von Existenzialität einer-
seits und andererseits von der anfänglichen »Un-wahrheit« als deren
ursprünglichem Wesen. Nach dem Humanismusbrief besteht kein Zwei-
fel, daß ontisch-faktisch die Existenz dieser Dimension »entspricht<<,
negativ oder positiv; die Sorge ist zielhaft geworden, wenn sie auch
möglicherweise ihr Ziel verfehlen oder nicht wahrhaben kann. Deut-
lich läßt das der folgende Satz erkennen: »In der Nähe (zum Sein)
vollzieht sich wenn überhaupt die Entscheidung, ob und wie der Gott
und die Götter sich versagen und die Nacht bleibt, ob und wie der Tag
des Heiligen dämmert, ob und wie im Aufgang des Heiligen ein Er-
scheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann. Das Heilige
aber, das nur erst der Wesensraum der Gottheit ist, die selbst wieder-
10 vgl. die Auslegung dieses Satzes S. 85 in "Sein und Zeit«, die in gewisser Weise
eine Erweiterung in sich schließt, nun im Humanismusbrief (Platons Lehre, S. Soff.);
vgl. auch "Zur Seinsfrage«, Festschrift für Ernst Jünger, 1955, S. 33, S. 38.- S. 28: HSo
bleibt denn die Rede von einer "Zuwendung des Seins" ein Notbehelf und durchaus
fragwürdig, weil das Sein in der Zuwendung beruht, so daß diese nie erst zum >Sein<
hinzutreten kann."

153
um nur die Dimension für die Götter und den Gott gewährt, kommt
dann allein ins Scheinen, wenn zuvor und in langer Vorbereitung das
Sein selbst sich gelichtet hat und in seiner Wahrheit erfahren ist. Nur
so beginnt aus dem Sein die Überwindung der Heimatlosigkeit, in
der nicht nur die Menschen, sondern das Wesen des Menschen umher-
irrt«61 (Platons Lehre, S. 85).
Damit wäre die Uneigentlichkeit zum defizienten Modus von Ei-
gentlichkeit geworden, und das verfallende Uneigentlichsein hätte den
Charakter der Gleichursprünglichkeit einer Weise des Daseins - zu -
sein verloren. Nun könnte vielleicht eingewendet werden: nirgends ist
es gesagt (und vielleicht geflissentlich vermieden), die Dimension des
Heilen »spräche an«; es ist immer nur das Sein, das >lruft«. Jedoch,
wenn das Unheil dieses Weltalters in der »Verschlossenheit der Di-
mension des Heilen« besteht (Platons Lehre, S. 103), dann muß diese
wenigstens, grundsätzlich, sich auch öffnen können. Der Mensch ver-
mag doch in diese Dimension »hineinzudenken« (Platons Lehre, S. I 02);
er tut es auch in seinem stillschweigend-fragenden Rufen. Was aber
ist »Öffnen« in dieser Dimensionalität anderes als vernommener Ruf des
Seins und der »ermöglichte « Rückruf der Existenz? Der ganze Tenor
des Briefes offenbart eine ontisch-faktisch-zielhaft gerichtete Sorge.
Heidegger setzt dieses Wort in dem Zusammenhang einmal in Anfüh-
rungssstriche; und das kann nur meinen, daß der Sinn von Sein des
Daseins zu einem »Sinn« für das Dasein werden will, den die zielhaft
gewordene »Sorge« sucht. Sie will die »Heimatlosigkeit« des neuzeit-
lichen Menschen und seine »offenkundige Ratlosigkeit« überwinden.
Es besteht doch wenigstens die Hoffnung, daß »die Nacht weichen
und der Tag des Heilen dämmern« möge. Wenn aus dem Sein selbst
>>Zuweisung derjenigen Weisungen« erwartet wird, damit sie »für den
Menschen Gesetz und Regel werden müssen« (Platons Lehre, S. I 14),
so können sie in der Lichtung des Seins nur als das Heile erscheinen
und im strebenden Daraufhin der Existenz >>ermöglicht« werden, -
der Existenz im Stand der Eigentlichkeit. Die Bedeutsamkeit des >> Woh-
nens « für den Menschen und die Herleitung desWortes >>Ethik« von
(Aufenthalt) im Zusammenhang mit der Interpretation des Heraklit-
schen Spruches und der von Aristoteles überlieferten »Geschichte«, -
alles das stößt die gleiche Frage auf. Das, was immer wieder im Huma-
nismusbrief auf die mannigfachste Weise sich ausdrückt, ist Gerichtet-

61 Das sind Gedanken, die an Hölderlins späte Hymnen, an seine Vorstellung von
der einmal weichenden Götternad:lt erinnern; ebenso wie die Gegenwendigkeit im
Sein und im Wesen der Wahrheit an das Hölderlin'sche Chaos denken läßt, das aber
trotzder in ihm gleichsam ruhenden Gegensätzlichkeit ein »heiliges« Geheimnis ist.

1 97
heit, steht in einer Richtung, die sogar eine gewisse Tnhaltlichkeit in
sich aufgenommen hat. Wir können aber nicht sehen, wie die Richtung
cmkommt. Die auf einander zugehenden Enden des Weges zur Mitte-
das eine entspringend aus dem Sein von Dasein, das andere hervor-
gehend aus dem Sein selbst - treffen sich nicht, wenn das Sein als die
Dimension des Heilen von der ganzheitlich strukturierten Existenzia-
lität erfragt wird; und wenn der Weg dieses Fragens über das Fragen
nach dem »Wesen der Wahrheit« angetreten werden muß, wie es doch
aus der Heidegger'schen Gleichsetzung »das Wesen der Wahrheit ist
die Wahrheit des Wesens« notwendig hervorgeht. Oft wird also diese
Mitte zu einem Punkt der Identität. Oft scheint dafür die gedankliche
Gründung erreicht. Aber von der Dimension des Heilen aus gesehen,
muß sie sich wieder aufheben. Von der Dimension des Heilen aus ist
das Sein überhaupt, gesehen auf Sein von Dasein hin, überdimensio-
niert62. Selbst dann, wenn dem Sein von Dasein die weiteste Reichweite
seines Transzendierens zuerkannt wird, ist nicht zu ersehen, wie seine
vom Sein gerufene Zielhaftigkeit hin-zu auf die Dimension des Heilen
in der Existenzialität als Struktur-Ganzem gegründet werden kann.

»ZUR SEINSFRAGE«

Die in dem letzten Abschnitt offen gebliebenen Fragen waren vom


bisherigen Denken Heideggers nicht schlüssig zu beantworten. Sie
stellen sich neu und etwas verändert von Heideggers letzter Ver-
öffentlichung63 aus.
Als Grundlage für die erneute Aufnahme unserer Frage sei vorerst
ein Ergebnis des Heidegger'schen Denkens mit seinen eigenen ent-

6 2 Die ontologische Differenz kann hier nicht helfen, weil Sein-von-Dasein-über-


haupt in seinem wesenhaften Transzendieren auf das Seiende im Ganzen und nicht ein
einzelnes Seiendes oder Daseiendes oder eine Vielfalt beider dem Sein-überhaupt
gegenübersteht.
63 Heidegger »Zur Seinsfrage«, 1955· Diese Schrift ist der kaum veränderte Abdruck
von Heideggers Beitrag zur »Festschrift für Ernst Jünger« (1955): »Über >die Linie«<.
Diese Abhandlung ist in gewissem Sinn eine Antwort Heideggers auf den Beitrag
Ernst Jüngers zur Festschrift für Heidegger, der den Titel führte »über die Linie«.
Beide Abhandlungen sprechen vom Wesen des Nihilismus und der Möglichkeit oder
Unmöglichket, eine (gedachte) Linie in der Phase der Vollendung des Nihilismus zu
überschreiten. Aber Heideggers Beitrag geht weit darüber hinaus. »Der neue Titel soll
anzeigen, daß die Besinnung auf das Wesen des Nihilismus aus einer Erörterung des
Seins als Sein herstammt« (Vorwort).

153
schiedeneu Worten festgehalten: »Wir sagen vom "Sein selbst" immer
zuwenig, wenn wir, "das Sein" sagend, das An-wesen zum Menschen-
wesen auslassen und dadurch verkennen, daß dieses Wesen selbst "das
Sein" mitausmacht<< (S. 2 7) 64 • In den beiden »Wesen«, einmal verbal und
mal nominal gefaßt65 , ist ein Punkt der Identität fixiert, aber eben nicht
volle Identität ausgesagt. Denn das »mit« in »mitausmacht« mag wohl
auch, abweisend, ausdrücken, daß, wenn wir "das Sein" selbst sagen,
wir wohl immer »mit«-sagen: An-wesen zum Menschenwesen, daß
aber damit nicht alles vom "Sein selbst" ausgesagt ist. Der folgende
Satz scheint das zu bestätigen: »Wir sagen auch vom Menschen immer
zuwenig, wenn wir, "das Sein" (nicht das Menschsein) sagend, den
Menschen für sich setzen und das so Gesetzte dann erst noch in eine
Beziehung zum Sein bringen.« 66 Das Denken aus der Subjekt-Objekt-
Relation ist dem neuzeitlichen Menschen so eingewurzelt, daß es auch
dem Sein gegenüber eigens abgewehrt werden muß. Es geht hieraus
deutlich hervor: in welchem Bezug auch immer vom "Sein selbst" ge-
sprochen werden mag, in diesen Bezug gehört auch immer hinein das
Menschsein. Zwar nicht in der Weise, als sei »das Sein« ein Allum-
fassendes, in das alles Seiende und unter anderem auch der Mensch
hineingehört, so als wäre dann gewissermaßen nachträglich dieses alles
mit einander in Beziehung zu setzen67 • Vielmehr wird im folgenden
Satz - wenn auch nicht dem Wortlaut nach - noch einmal der Begriff
des In-der-Welt-seins aufgenommen und, stillschweigend, auf seiner
Grundlage formuliert: »Der Bezug«, »das Beziehen im Sinne des Brau-
chens« gehört unabdingbar zum Menschenwesen68 , und, so ist zu fol-
gern: da das Menschenwesen das "Sein selbst" »mit«-ausmacht, also
auch zum "Sein selbst". Das Sein der Dinge in der Beziehung zum

64 Das ist eine Verschärfung der Formulierung in »Was heißt Denken?« (1954),

S. 74: »Sobald ich denkend sage, >Menschenwesen<, habe ich darin schon den Bezug
zum Sein gesagt«.
65 Dieses »Wesen« ist einmal verbal und darum ein andermal nominal, und ebenso
einmal nominal und darum ein andermal verbal gefaßt, weil vielleicht nur so, gewis-
sermaßen neben unserer Grammatik, aus der Subjekt-Objekt-Relation heraustretend,
>Bezug< ausdrückbar ist.
66 »Sobald ich denkend sage: >Sein des Seienden< ist darin schon der Bezug zum

Menschenwesen genannt« (»Was heißt Denken?«, S. 74).


67 »Eine Ansetzung des Seins, die das Sein aus der Rücksicht auf die Subjekt-Ob-

jekt-Beziehung nennen möchte, bedenkt nicht, was sie schon an Fragwürdigem unge-
dacht läßt« (Zur Seinsfrage, S. z8).
68 »ln jedem der beiden Glieder der Beziehung zwischen Menschenwesen und

Sein liegt schon die Beziehung selber« ("Was heißt Denken?«, S. 74).

199
Menschenwesen ist nicht erst einmal neinem vermeintlichen an-und-
für-sich-sein« zu entnehmen.
Diesem mit Heideggers eigenen Worten gegebenen Resurne des
Denkens vom "Sein selbst" in Bezug auf das Menschsein, und um-
gekehrt, wäre von Rilkes unsystematischen rein dichterischen Ein-
sehen weder etwas hinzuzufügen noch abzustreichen69 •
Aber wir müssen über die Zusammenfassung Heideggers und über
die rein dichterische Aussage Rilkes fragend hinausgehen. Wir suchten
nach einer systematisch zureichenden Begründung dieses Seinszusam-
menhanges im Heidegger'schen Denken. Denn dieser hier gesuchte Zu-
sammenhang soll ja kein Zusammenfall sein. Wäre er das, so wären
wir mit unserem Fragen überhaupt am Ende0 •
Wir scheiterten in unserem Fragen dar an, daß wir, sehr behelfsmäßig
und im vollen Bewußtsein von der U ngemäßheit des sich bietenden
Ausdrucks, von einem »komplexen Anspruch«, von einer >>Angewie-
senheit« der einen ganzen Seite ( = Sein überhaupt) auf die ganze andere
Seite ( = Sein von Dasein) sprechen mußten. Die neue Veröffent-
lichung von Heidegger mutet an wie eine Antwort auf die gestellten
Fragen. Heidegger selbst spricht einmal von »angewiesen sein«, grund-
sätzlich aber von einernZuwendungdes Seins«,- und das ebenfalls in
einer Weise, die erkennen läßt, daß ihm auch dieses Wort und Bild
>>Ungemäß« bleibt. Denn Heidegger fährt fort: »Vermutlich ist die Zu-
wendung selber, aber noch verhüllterweise, Jenes, was wir verlegen
genug und unbestimmt "das Sein" nennen.« Zurückdenkend auf die
Überlegungen zum Humanismusbrief, entnehmen wir diesem Satz
die Bestätigung: Es ist immer nur das Sein als solches, welches an-
spricht, und zwar, wenn man so sagen darf, das Sein in seiner ganzen
Breite. Nicht etwa wendet es sich aus der Dimension des Heilen und des
Heiligen zu; nicht etwa ist es das Dasein in seiner Eigentlichkeit, das
angesprochen wird; vielmehr ist das Dasein in seinen beiden Modi des
Existierens der Adressat des Rufes.
Worin aber liegt dann das ))Behelfsmäßige«, das ))Ungemäßecc des
Ausdrucks von der ))Zuwendung<<? Es liegt im 'Ankommen' dieser Zu-
wendung im Sein von Dasein71 • Dieses Ankommen eigens zu denken
gehört zur Zuwendung; und so besteht die Gefahr, daß wir immer

69 Rilke: nJa die Frühlinge brauchten dich wohl« (Erste Elegie); »••• und weil uns
scheinbar alles das Hiesige braucht ... « (Neunte Elegie).
10 Sind die in der Form der Möglichkeit sich ergehenden Sätze (Zur Seinsfrage,
S. z8, Abs. II) in diesem Sinne zu verstehen? .
n Genau also da, wo unsere Untersuchung die Unangemessenheit des Wortes von
der Angewiesenheit erblickt hatte.

200
wieder zurückfallen, irgendwie, in die Vorstellung einer Gegenüber-
Situation, und das heißt, in ein Trennen des Zusammengehörigen.
Heidegger sagt, diese Schwierigkeit verdeutlichend: »Anwesen ("Sein")
ist als Anwesen je und je Anwesen zum Menschenwesen, insofern
Anwesen Geheiß ist, das jeweils das Menschenwesen ruft. Das Men-
schenwesen ist als solches hörend, weil es ins rufende Geheiß, ins An-
wesen gehört« (S. 28). Diese Wortwahl Heideggers, »rufendes Ge-
heiß«, »hörend«, »gehört« legt wieder den Anschein nahe, als sei
alles das, was diese Worte nennen, in einem höchst positiven Sinne zu
verstehen. Aber auch hier muß, um das Nach-Denken sofort von dem
Irrweg zurückzuhalten, die Gegenwendigkeie2 des "Seins selbst" mit-
gedacht werden. Das rufende Geheiß des Seins, dem das gehörende
Rufen antwortet, kann auch aus der Absenz hervorgehen, paradoxer-
weise als nichtendes Nichts, das nur noch tiefer in die Vergessenheit
führt. Denn »Abwendung und Entzug sind ... nicht nichts« (S. 27).
»Insofern das Nichts 'nichtet', bestätigt es sich vielmehr als eine aus-
gezeichnete Präsenz.« »Das Nichts, das als die Absenz der Präsenz
Abbruch tut ('nichtet'), ohne sie jemals zu vernichten« (S. 23).
Ist nun dieses »jedes mal Seihe, das Zusammengehören von Ruf
und Gehör« "das Sein"?« So fragt Heidegger selbst und antwortet:
Wäre es das, »dann müßten wir das vereinzelnde und trennende Wort:
"das Sein" ebenso entschieden fahren lassen wie den Namen: »der
Mensch« (S. 28). Zusammengehören von Ruf und Gehör fixiert zwar
den Ort des Menschen im Seinszusammenhang. Dieses Zusammen von
Ruf und Gehör reduziert aber nicht "das Sein selbst" auf das, was es
zwar »mit«-ausmacht- auf Sein von Dasein also-, aber eben gerade
wegen dieses »mit« nicht voll und allein ausmachen kann. Wäre hier
wirklich volle Identität gemeint, so fiele heraus aus dem "Sein selbst"
das geschickliehe W alten des "Seins". Diesem dem Menschen völlig un-
faßlichen Walten entspricht im Sein des Menschen nichts, -es sei denn,
man wolle das brutale Faktum der Geworfenheit als eine solche Ent-
sprechung ansehen. Das aber würde die ganze Frage wieder auf eine
Ebene zurückzwingen, die erneut in das Gegenüber auswiche.
In Ansehung dieser so sich immer stärker zeigenden Schwierigkeiten

72 Rilke spricht in einem ganz verwandten Sinn von "La sainte loi du con-

traste«; vom "vent de dedain«, der um die Heiligkeit der Kathedralen weht. Er
drückt diese seihe Gegenwendigkeit zwar nicht vom Sein, aber von Gott sprechend,
auf folgende Weise aus: "Die Identität von Furchtbarkeit und Seligkeit zu erweisen,
dieser zwei Gesichter an demselben göttlichen Haupte, ja dieses einen einzigen
Gesichts, das sich nur so oder so darstellt, je nach der Entfernung aus der oder
der Verfassung, in der wir es wahrnehmen ... : dies ist der wesentliche Sinn und
Begriff meiner beiden Bücher« (Elegien u. Sonette). (Br. Sizzo, S. 41).

20I
vollzieht Heidegger neuerdings einen radikalen Schnitt. Er grenzt die
weite Frage nach dem Sein erst einmal ein. Er reduziert den »Kreis«
des Fragens, der sich ihm »inzwischen(( 73 als eine »verborgene Spirale((
darstellt, »die sich verengt((, Und darum verengt er selbst. Er greift
noch einmal auf seine Aussage zurück, nach der zum Sein die Zuwen-
dung gehört, und zwar so, daß jenes in dieser »beruht(( (S. 30). Und so
schließt er radikal: Für das künftige Fragen »löst sich das Sein in die
Zuwendung auf(( 7\ Die Eingrenzung wird deutlich ausgesprochen:
»Diese (die Zuwendung) wird jetzt das Fragwürdige, als welches fort-
an das Sein bedacht wird, das in sein Wesen75 zurück und darin aufge-
gangen ist(( (S. 30).
Aus dieser verengten Spirale, dem Sein als Zuwendung, nimmt Hei-
degger einen neuen Ansatz auf. Unter dieser Hinsicht schreibt er Sein
fortan: Sekr.. Das kaum mehr zu überbietende Unverständnis, mit dem
man Heideggers Bemühungen folgen zu dürfen vermeint, wird in die-
ser Chiffer nichts weiter als eine neue Mystifizierung erblicken wollen.
Aber Heidegger erklärt deutlich das Doppelte, das diese neue Schreib-
weise mit sich selbst ausdrücken soll, bildhaft sozusagen, ohne das
Nachdenken angesichts des jedesmaligen Vorkommen dieses Wortes
noch eigens zu bemühen, um den Gehalt sich zu vergegenwärtigen, den
es an dieser Stelle aussagen soll. Denn »die Rede vom "Sein" jagt das
Vorstellen von einer Verlegenheit in die andere, ohne daß sich die
Quelle dieser Ratlosigkeit zeigen möchte(( (S. 27 f.).
Einmal macht diese Chiffer mit ihren unabgegrenzt verlaufenden
Linien unmittelbar so etwas wie Bezug, Beziehung anschaubar; sie wei-
sen in die Gegenden: Himmel und Erde, Göttliches und Sterbliches. Sie
gehören »aus einer ursprünglichen Einheit in eins« (Vortr. S. 149).
Die »Einfalt(( dieser Vier nennt Heidegger »das Geviert« 76 , dar-
in sind die Sterblichen, in dem sie andenkend in diese vier Gegenden
den ihnen zugewiesenen Wohnort haben. Damit ist auf eine bildhafte
Weise nichts anderes gesagt, als was die Chiffer sagt: Das Sein steht
damit auch anschaulich nicht einfach in der Weise für-sich, daß eine
Gegenüber-Position zu ihm eigens einzunehmen wäre. Auf welchen
Punkt der ins Unendliche zu verlängernden Linien diese Position sich
auch installieren wollte, immer läge dieser Punkt auf einem der vier
Abschnitte, die von der Kreuzung her bestimmt und also zu einem der
73 auf dem langen Weg von »Sein und Zeit« her.
74 und das wohl nicht nur innert dieser Abhandlung?
75 zu verstehen: so wie es west; worin es sein Wesen hat.

76 Heidegger weist in diesem Zusammenhang hin auf den Vortrag »Bauen Wohnen

Denken« in Vortr. S. 145-204.

202
anderen drei Abschnitte in Beziehung gesetzt sind. Der Mensch ist nicht
vom Sein ausgenommen. Eindeutig wird der Schluß aus dieser Veran-
schaulichung gezogen: »... "Sein" ist, das Menschenwesen brauchend,
darauf angewiesen, den Anschein des Für-sich preiszugeben . . .«
(S. 30). Damit wäre die negative Bedeutung dieser Kreuzlinien um-
rissen- und das wäre nichts, als was Heidegger nicht wiederholt schon
anders gesagt hätte. Diese Linien haben aber noch eine höchst positive
Funktion, aus der auch die soeben genannte negative noch ein neues
und sehr besonderes Licht empfängt. Diese positive Funktion ist zu
erläutern im Zurückgehen auf den Grundsatz, von dem diese Chiffer
ihren Sinn erhält.
Das Sein hat sich in die Zuwendung aufgelöst. Mit dem Wort »Zu-
wendung« aber ist das Menschenwesen genannt, und das will heißen:
der Mensch, so wie er aus seinem Sein in Bezug auf "Sein selbst"
west. Dieses Wesen des Menschen nennt Heidegger hier »das Gedächt-
nis des Seins«. Macht man Ernst mit dem Bild der sich kreuzenden
Linien, ja mit dem Punkt der Kreuzung selbst, so muß der mannig-
faltige Bezug, den das »Gedächtnis des Seins« in sich vereinigt (»Ein-
falt der Vier«) notwendig in den Kreuzungspunkt der die Weite ein-
holenden Linien lokalisiert werden (solange man im Bilde bleibt). Auch
wenn es nicht ausdrücklich von Heidegger gesagt wird, muß das »Ge-
dächtnis des Seins« wieder als gen-subj. u. obj. verstanden werden.
»Das Sein selbst« und das Menschenwesen sind Subjekt und Objekt
zumal 77 • Das, was vom "Sein selbst" gesehen, dieses Sein »mit«-aus-
macht, kann eben nur dieses sein, daß der ]\;fensch »andenken« kann 78,
daß er also im Hineinholen aller Bezüge in sich selbst Gedächtnis ist.
Liegt aber dieser das Gedächtnis bezeichnende Punkt in der Chiffer, die
das Sein = Zuwendung abbildet; liegt er sogar im Kreuzungspunkt, den
die beiden Linien, ihn konstituierend, durchschneiden, so ist der
Mensch nicht nur »ins "Sein" einbegriffen, sondern "Sein" ist, das Men-
schenwesen brauchend, darauf angewiesen, den Anschein des Für-sich
preiszugeben«. Mit der so verstandenen Chiffer aber ist dieser An-
schein preisgegeben.
Des öfteren hatte sich der Eindruck von Identität von Sein von
Dasein (Lichtung) zu Sein überhaupt (Wahrheit), der von Iogos und
physis, eingestellt, ohne daß diese selbst schlüssig werden konnte noch
durfte. Jetzt ist Identität fixiert in dem einen Punkt der Durchkreu-
zung als dem gen-subj. u. obj.: »Der Mensch ist das Gedächtnis des
77 und von hier aus fällt das oben genannte neue und sehr besondere Licht auf
die zuerst gekennzeichnete negative Funktion.
78 vgl. auch die »Erläuterungen« zu »Andenken«, S. 75 ff.

203
Seins.« Er kann es aber nur darum sein, aus diesem Punkt der Identität
heraus, weil » )./ dasselbe sind«. doyof.' kennzeichnetdas Sein
in einerneuen und doch alten Hinsiche9 (Einf. S. 10o). In diesem einen
Punkt fallen zusammen: Sein von Dasein und Sein überhaupt, soweit
dieses in jenes- also in den Punkt der Kreuzung- eingeht, der das Auf-
geben des beiderseitigen »Für-sich« abbiidet. In ihm treffen zusammen
das Gebrauchtwerden des Menschenwesens als Gedächtnis, sein
sich-Brauchenlassen und und Die so lange fragwürdig ge-
bliebene Möglichkeit eines Angesprochenwerdens von Sein von Dasein
durch Sein überhaupt, die Frage einer möglichen (und eigentlich un-
möglichen) Differenzierung im Dasein als Adressat des Rufes ist hier-
mit gegenstandslos geworden.
Es hieß einmal in Anlehnung an Parmenides »Sein und Denken
(vociv)sind im gegenstrebigen Sinne einig, d. h. dasselbe als zusammen-
gehörig« (Einf. S. 106). Oder in der Auslegung des Heraklit (Einf.
S. roo) und l.oyof.' sind dasselbe. vocrv und in einem
weitumfassenden Sinne »Gedächtnis« gehören zusammen. Das hier von
Heidegger gebrauchte Wort »Gedächtnis« schließt die griechischen
Wörter ein.
Der Logos geht in den Mythos zurück. Heidegger nacherzählt80 im
Hinblick auf späte Entwürfe Hölderlins zu einer Hymne den Mythos
einer Titanide, die den Namen Mnemosyne, das heißt Gedächtnis,
führt. Das, was dieser Mythos über ihre Herkunft, Tochter der Uranos
und der Gäa, sagt, das nennt eigens noch einmal der ihr verliehene
Name: Mnemosyne, Gedächtnis. Denn »Mythos heißt das sagende
Wort«. Stellte man Mnemosyne in die Mitte des Gevierts, in das die
Chiffer Sein einzulassen ist, also Mnemosyne in den Kreuzungspunkt,
so ersteht ein mythisches Zeichen. Heidegger selbst tut das nicht. Aber
es drängt sich auf; und so mag es vielleicht erlaubt sein, dieses Bild aus-
zuzeichnen: Mnemosyne, die Tochter Himmels und der Erde, Gött-
liches und Sterbliches in sich einkörpernd, weist von diesem Kreu-
zungspunkt in die vier Gegenden, aus denen sie stammt, die sie selbst
erst bilden. So ist sie selbst »Einfalt der Vier«. Dieses Zeichen beden-
kend, weiß sich der Mensch als das Gedächtnis des Seins.
Heidegger folgert notwendig weiter: »Wie das Sein, so müßte auch
das Nichts geschrieben werden« (S. 3 r). Wir wissen weshalb; denn
auch zum Nichts gehört, »nicht als Zugabe nur, das gedenkende Men-
schenwesena,- aber, so wäre hinzuzufügen, das Menschenwesen als in
79 Überhaupt wäre es wichtig, in diesem Zusammenhang dort den Abschnitt "Sein
und Denken« erneut nachzudenken.
BO "Was heißt Denken? «, S. 6ff.

204
der Seinsvergessenheit stehend.Wie das Menschenwesen das Sein nmit«-
ausmacht, als jenes nin das Sein gebrauchte Wesen«, so macht es zu-
gleich das Nichts mit aus. Heideggers Abhandlung nZur Seinsfrage«
stellt unter dem Vorwand der Frage nach dem Wesen des Nihilismus
wieder die eine Frage nach dem Wesen des Seins. Es wird darum der
Schluß gezogen: Der Mensch ist also mit seinem eigenen Sein - aus der
Zugehörigkeit zum Nichts als dem Sein- wesensmäßig beteiligt an der
Phase, die wir bezeichnen als die des sich vollendenden Nihilismus81•
Sie ist der Tiefpunkt der Seinsvergessenheit: in dieser Phase bleibt
Sein nin einer seltsamen Weise aus. Es verbirgt sich. Es hält sich in einer
Verborgenheit, die sich selber verbirgt« (S. 34); und das heißt nmit«:
das Gedächtnis des Seins bleibt aus.
Schreiben wir nun das Nichts wie das Sein und stellen wir die beiden
Chiffern übereinander, so läge auf dem Kreuzungspunkt des Gedächt-
nisses die Vergessenheit. Das ist die Präsenz im Andenken, die sich
in die Absenz entzieht. Zurückgehend in die Gedanken an das Nichts
als das ganz Andere zum Seienden in nWas ist Metaphysik?«, hin-
sehend auf den Menschen als das Gedächtnis des Seins, versteht sich
recht erst eigentlich aus dieser Lokalisierung das Wort vom Menschen
als dem »Platzhalter des Nichts«. Heidegger erläutert es hier noch ein-
mal (S. 38): Der Mensch hält gerade in der Seinsvergessenheit »dem
ganz Anderen zum Seienden den Ort frei, so daß es in dessen Offenheit
dergleichen wie An-wesen (Sein) geben kann«.
Die Seinsvergessenheit ist nicht nur ein absolutes Negativum. Als
>> Verbergung des noch unverborgenen Wesens (verbal) des Sein: birgt

sie ungehobene Schätze und ist das Versprechen eines Fundes, der nur
auf das gemäße Suchen wartet«. Wer anders aber sollte suchen und
finden als der Mensch? Nur darum kann er als der Platzhalter des
Nichts bezeichnet werden. Denn angesprochen, auch und gerade als
dieser, kann er nur darum werden, weil er wesensmäßig das Ge-
dächtnis des Seins ist. Er hält den Platz aus diesem Andenken, auch
wenn dieses Andenken sich in die Absenz verbirgt, in der Vergessen-
heit. Denn diese Vergessenheit ist nicht nur ein menschliches Tun und
Lassen; sie »befällt ... als anscheinend von ihm nicht Getrenntes nicht
nur das Wesen des Seins. Sie gehört zur Sache des Seins selbst, waltet
als Geschick seines Wesens« (S. 35).

81 Heideggers Definition, S. 14: »Der Nihilismus ist vollendet, wenn er alle Be-

stände ergriffen hat und überall auftritt, wenn nichts mehr als Ausnahme sich
behaupten kann, insofern er zum Normalzustand geworden ist.« »Mit der Voll-
endung des Nihilismus beginnt erst die Endphase des Nihilismus.«

153
So tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir
Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herum-
gehen und die (indem wir es doch nicht fassen) das Übergroße
zur Handlung unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre.
Rilke (Br. o6/07, S. 377)

Eingelassen in dieses Geschick des Seins als in ein Übergroßes, aus-


gesetzt dem Anwesen als der Präsenz, die sich in die Absenz entzieht,
Platzhalter des Nichts, und doch als Gedächtnis des Seins der Hirt des
Seins, steht der Mensch im Zeitalter des Nihilismus angesichts einer
»Bewegung zum Immerweniger an Fülle und an Ursprünglichem inner-
halb des Seienden im Ganzen« - und weiß seinen Ort nicht. Erlitten
in einem Fragen, das ohne Antwort bleibt, ist das die Situation des
Malte Laurids Brigge. Der Denker gibt die Antworten aus einem
Wissen um die Geschichte der Metaphysik. Deren letzte Phase ist ge-
kennzeichnet durch Nietzsches Denken aus dem Willen zur Macht.
»Der Wille zur Macht ist der Wille, der sich will« (S. 32). Als dieser
Wille zum Willen will er »alles Anwesende einzig nur in der durch-
gängigen Bestellbarkeit seines Bestandes« (S. 35). Dieser Wille zur
Macht als der sich selbst wollende Wille wird vorgestellt als das
Sein, das, vom Seienden her gesehen, dieses übersteigt. Zum Grund des
Seienden hypostasiert oder als dessen Verursachung angenommen,
wirkt er als überstieg auf das Seiende zurück und bestimmt die Stel-
lung und Haltung des Menschen im Seienden im Ganzen und zu jedem
Seienden im Einzelnen. Das Geschehen, das wir als die Vollendung
des Nihilismus bezeichnen, wird also nach Heidegger »durch ein An-
wachsen des Willens zur Macht nicht nur begleitet sondern bestimmt«
(S. 32) 82 • So kann Heidegger seine Frage: »Worin beruht dann die
Überwindung des Nihilismus?« beantworten: »In der Verwindung
der Metaphysik«.
Es muß jetzt die grundsätzliche Frage gestellt werden: was heißt
»Ver«-windung? Man griffe zu kurz, dieses »Ver« lediglich als eine sti-
listische Abwandlung zu »Über« zu fassen, wie es kurz vorher ge-
braucht und in dem Zusammenhang Verwindung-Überwindung im-
mer wieder gebraucht wird. Verwinden ist nicht nur Synonym von
überwinden. Es bedeutet unter anderem: abwenden, wegwenden, sich
dem Einfluß von etwas entziehen, einem Etwas nicht nachgeben; aber
auch in Etwas hineinwinden83 • Bei Heideggers gegenwendigem Denken
ist es nicht ausgeschlossen, daß dieses »ab« und »weg« zusammenge-
hen kann mit einem vorangehenden »hinein-in«. Dafür spricht deutlich

82 Die Hinführung zu diesem Schluß vgl. insbesondere auf S. 33.


83 Nach dem Grimm'schen Wörterbuch.

206
der Satz: >>Solche Überwindung (die des Nihilismus) aber geschieht im
Raume der Verwindung der Metaphysik« (S. 36). Was geschieht zu-
nächst in diesem ))Raum«? Ein ))Hineingehen-in«. Die Verwindung der
Metaphysik als)) Verwindung der Seinsvergessenheit« (S. 35) ))wendet
sich dem Wesen der Metaphysik zu«; ))sie umrankt es« ... um es zu
))verdeutlichen«. Das aber liegt nicht nur im eindeutigen Richtungssinn
von ))überwinden«, vom Hinter-sich-bringen, etwa des ))ausschließli-
chen metaphysischen Vorstellens«; es meint nicht nur ein ))um-zu«. Ge-
wiß wird, im Sinne von Überwindung auf diese Weise ))das Denken
ins Freie ... geleitet«, weg von dem ausschließenden \Vesen der Meta-
physik, - aber so, daß dieses Wesen als ein >>verwundenes« gleichsam
mitgeführt wird. Eine Bewegung in dem (als Wort gleichbleibend)
Verwinden ist somit erkennbar geworden:
1. ein ))hinein-in« und ein ))weg-von«; dieses hat zum Inhalt ein Er-
kennen des Ausschließenden und dessen Ablehnung. Das meint eine
Verneinung und gleichzeitig eine Befreiung-von.
2. Die so geleistete Überwindung aber schlägt in sich um: aus einer
))Freiheit-von« in eine >>Freiheit-für«. In der Befreiung vom Überwun-
denen wird dieses selbst als das so ))verwundene« Wesen gewisserma-
ßen hineingewunden in die neue Freiheit. Diese ist erst dann wirklich
>>Freiheit«, wenn sie sich auch noch vom Verwunden-haben befreit,-
wodurch allein das »Verwundene« an seinen rechten Platz, einen neuen
Platz, gestellt wird.
Das Resultat84 ist etwas höchst zu Bejahendes. Heidegger gibt es:
»Aber in der Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der anschei-
nend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes
erst eigens zurück« (S. 35).
Die Auseinandersetzung über das, was ))Verwindung« meinen kann,
legt ein ihr notwendig zugehörendes Element der Bewegung frei. Es
muß Verwandlung genannt werden. Nicht ist es Wandel schlechthin,
der sich unbeteiligt vom Menschenwesen vollziehen könnte, sondern
eine Verwandlung, die nur aus dem Wesen <les Menschseins, diesem
))ins Sein gebrauchten Wesen« geleistet werden kann. Das ist niemals
ein freies Belieben oder gar Willkür. Das Wesen des Menschen als Ge-
dächtnis von Vergangenern und Künftigem ist dieses ))Gedächtnis«, das
im Kreuzungspunkt der Chiffer Sein das "Sein selbst" ))mit«-ausmacht.
So verwindet es auch nur aus dem geschickhaften Walten des "Sein
selbst".
84 Diese vielleicht haarspalterisch anmutende Herleitung war notwendig; vielleicht

kann nur auf Grund einer solchen peinlichen Auseinanderfaltung das Verwinden und
sein Resultat begriffen werden.

153
Die Herausschälung des Begriffes der Verwandlung aus dem Hei-
degger'schen Begriff der Verwindung ist hier nicht von ungefähr vor-
genommen. Denn im Wortgebrauch seiner Abhandlung kommt Ver-
wandeln- oder doch Anklängedaran-noch einige Male vor. Und
zwar geschieht das in Zusammenhängen, die mehr oder weniger direkt
in die »Verwindung« zielen. Sie sollen im Folgenden zur Erhärtung der
dargetanen Auffassung von Verwindung noch herausgestellt werden.
Die Überwindung des Nihilismus ist ja die nach Heidegger grundsätz-
lich wichtigste Aufgabe unserer Epoche. »Die Überwindung des Nihi-
lismus« aber geschieht im »Raume der Verwindung der Metaphysik«
und das heißt im Raume »der Seinsvergessenheit«.
Im Nihilismus waltet das Nichts »und das Wesen des Nichts (gehört)
zum Sein ... « (S. 33). Heidegger stellt die Frage: »Verschwindet ... mit
der Überwindung des Nihilismus das Nichts? Vermutlich kommt es
erst dann zu dieser überwindung, wenn statt des Anscheins des nichti-
gen Nichts das einsther ins "Sein" verwandte Wesen des Nichts an-
kommen und bei uns Sterblichen unterkommen kann« (S. 29). Denn
Sein und Nichts, »Eines verwendet sich für das Andere in einer Ver-
wandtschaft, deren Wesensfülle wir noch kaum bedacht haben« (S. 38).
»Spielen« die Wörter »verwandt« (auf gemeinsamen Ursprung zu-
rückgehend): »verwandt« = verwenden, hineinverwenden (mit dem
Anklang an verwinden) wiederum mit ihrer Nähe zum Verwandeln? 85
Verwendet sich das Wesen des Nichts aus dem gemeinsamen Ursprung
zurück ins Sein und für das Sein = Anwesen? Es kann nur geschehen
auf dem Wege der Verwindung, die den »Anschein des nichtigen
Nichts« verwandelt. Auch das ist eine »Handlung« (»Handlung des
Herzens«, Rilke), die nur durch und aus dem andenkenden Menschsein
sich vollziehen kann86 •
Wenn der Kreis des Denkens zu einer »verborgenen Spirale« sich

85 nDie Mehrdeutigkeit der Sage ( = des Sagens) besteht keineswegs in einer


bloßen Anhäufung beliebig auftauchender Bedeutungen. Sie beruht in einem Spiel,
das, je reicher es sich entfaltet, um so strenger in einer verborgenen Regel gehalten
bleibt. Durch diese spielt die Mehrdeutigkeit im Ausgewogenen, dessen Schwingung
wir selten erfahren. Darum bleibt die Sage ins höchste Gesetz gebunden. Das ist
die Freiheit, die in das allspielende Gefüge der nie ruhenden Verwandlung befreit"
(S. 42).
86 Ist die nDestruktion" der Metaphysik in nSein und Zeit" und in nWas ist Meta-
physik?" nicht schon Verwandlung? Ist bei Heideggers Interpretation philosophischer
Texte (nKant und das Problem der Metaphysik") nicht weitgehend Verwandlung
geübt und zwar sehr oft gewalttätige? Dazu fügt sich der Satz: >>Überdies gibt es
auch keine Restauration, die das Überlieferte nur so aufnehmen könnte, wie einer
die vom Baum gefallenen Äpfel aufliest. Jede Restauration ist Interpretation der
Metaphysik" (S. 35 f.).

208
»verengt« hat, dann bedeutet das, daß die Haltepunkte dieses Denkens
nicht mehr auf der ursprünglichen Kreisfläche liegen. In der »Veren-
gung« hat ihr Zueinander eine entscheidende Bewegung erfahren. Die-
ses ist verwandelt in einer Weise, die das, was die Punkte abbilden wol-
len, nicht unverwandelt gelassen haben kann. Und so folgert Heidegger
selbst dann auch aus der »verengten«, der »verborgenen Spirale«: »die
Art und Weise, nach denen wir uns dem Wesen des Nihilismus nähern,
wandeln sich« (S. 30). Wir »nähern« uns ihm aber in der Verwindung
der Metaphysik. Und so muß dieses »Wandeln« als Verwandeln in die
soeben genannten Phasen der Verwindung einmünden, die durch das
Sein des Menschseins geschieht.
Wenn das Sein sich in die Zuwendung auflöst, Zuwendung zwar das
"Sein selbst" ist, nun aber gesehen in der neuen Hinsicht der verengten
Spirale, aus welcher es neu zu bedenken ist, - so hat sich nicht "das
Sein", wohl aber der Weg des Denkens des Seins verwandelt. Auch
diese Wandlung bestreiten wir nur aus einer in unserer eigenen Ex-
istenz geschickhaftvollzogenen Verwandlung.
Jedesmal, so konnten wir feststellen, hat sich diese Verwandlung ab-
gestoßen von einem >>nicht«; sie durchschreitet es. Die verwandelnde
Aneignung aus einem Etwas, das mit dem Zeichen des »nicht« behaftet
ist, will das befreien, was diesem Etwas wesenhaft als seine Wahrheit
zugehört. Ein Überschuß, ein höchst Positives ist das Resultet dieses
Tuns.
Heidegger will Wort und Begriff und die Sache selbst, die Dialektik
genannt wird, vermeiden. Gewiß hat eine Begriffsdialektik hier keinen
Platz. Hier geschieht ein dialektischer Vollzug in der Existenz selbst;
aber er geschieht auf dem Grunde der Gegenwendigkeit des "Seins
selbst". Er kann nur darum geschehen, weil der Punkt der Durchkreu-
zung im Sein wie der Punkt der Durchkreuzung des ebenso geschriebe-
nen Nichts anzeigt, daß das Menschenwesen als Gedächtnis des Seins
das "Sein selbst" und das Nichts »mit«-ausmacht. Das aber ist nicht das
»dialektische Manöver, das ein Beziehungsglied« »im Verhältnis zwi-
schen Menschenwesen und Sein des Seiendeuce »gegen das andere aus-
spielt<c,- wogegen sich Heidegger mit aller Schärfe wendet87•
Diese in der »Seinsfrage« gestellten Fragen gehen ein »Übergroßesec
an - das Übergroße schlechthin. Heidegger selbst bekennt sich in dem
Fragen nach dem Wesen der Metaphysik zu einem Tun der Verwand-
lung. Nur weil Verwandlung ist, erweist sich dieses hier geschehende
Fragen als »eine jener Fragen, die sich selbst ins Herz stoßen müssen,
nicht damit das Denken daran sterbe, sondern verwandelt lebe c< (S. 37).
s1 "Was heißt Denken?« S. 74·

209
Auch sie sind gestellt aus einer Ekstasis: »Ausgesetzt auf den Bergen
des Herzens ... « (Rilke). Wir münden wieder ein in die Worte Rilkes,
die diesem letzten Abschnitt vorangestellt wurden:
»So tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir
Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumge-
hen und die (indem wir es nicht fassen) das Übergroße zur Handlung
unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre.«

2.10
LITERATURVERZEICHNIS

A. Angeführte Schriften von Martin Heidegger:


S. u. Z. = Sein und Zeit. 1. Aufl. I926; 7., unveränd. Aufl. Ttibingen: Nie-
meyer I953·
W. i. M. =Was ist Metaphysik? 5· Aufl. Frankfurt: Klostermann I949·
Platons Lehre = Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den
»Humanismus«. Bern: A. Franke I947·
Humanismusbrief = vgl. Platons Lehre; auch in einem an einigen Stellen er-
weiterten Sonderdruck. Frankfurt: Klostermann I949·
W. d. W. = Vom Wesen der Wahrheit. 2. Aufl. Frankfurt: Klostermann I949·
W. d. G. =Vom Wesen des Grundes. 3· Aufl. Frankfurt: Klostermann I949·
Holzwege = Holzwege. Frankfurt: Klostermann I950.
Erläuterungen = Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 2. Aufl. Frankfurt:
Klostermann I95I.
Kant und das Problem der Metaphysik = Kant und das Problem der Meta-
physik. 2. Aufl. Frankfurt: Klostermann I95I·
Einf. = Einführung in die Metaphysik. Ttibingen: Niemeyer I953·
Erörterung = Georg Trakl. Eine Erörterung seines Gedichtes. In: Merkur.
H. 6I, März I953·
Vortr. = Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske I954·
Was heißt Denken? = Was heißt Denken? Ttibingen: Niemeyer I954·
Zur Seinsfrage = Zur Seinsfrage. Frankfurt: Klostermann I956.

B. Angeführte Schriften von Rainer Maria Rilke:


GW I-VI= Gesammelte Werke, 6 Bde. Leipzig: Insel-Verlag I927.
Ged. = Gedichte I906-I926. Wiesbaden: Insel-Verlag I953·
Br. 1-11 = Briefe 2 Bde: I897-I9I4, I9I4-I926. Wiesbaden: Insel-Verlag I950.
Br. o2/o6, o6/o7, o7/I4, I4/zi, 21/27 = Briefe aus den Jahren I902-I9o6,
I9o6-I907, I907-I9I4, I9I4-I92I, I92I-I926. Leipzig: Insel-
Verlag I93 I ff.
TH = Briefwechsel mit Marie von Thurn und Taxis. 2 Bde. Zürich: Niehans
& Rokitanksy/Wiesbaden: Insel-Verlag I95I.
Br. Lou = Briefwechsel mit Lou Andreas-Salome. Zürich: Max Niehans/
Wiesbaden: Insel-Verlag I 952.
Br. Sizzo =Briefe an Gräfin Sizzo I92I-I926, Wiesbaden: Insel-Verlag I95ö.
ELSE BUDDEBERG

Heidegger und die Dichtung


HÖLDERLIN 1 RILKE

I953· (68 Seiten gr. 8°) Karton. DM 4.50

»••• enthalten eine kritische Untersuchungder HeideggerschenHölder-


lin- und Rilkedeutung. Sie befriedigen sehr hohe Anforderungen an
philosophisch-begriffliches Denken, an einfühlendes Verständnis dich-
terischer Aussage und an Takt in der kritischen Abgrenzung in einer
zugleich anschmiegsamen und klaren Diktion, die ihre in mehrfacher
Hinsicht schwierige Aufgabe aus eingehender Sachkenntnis heraus
meistert.«
>Philosophischer Literaturanzeigerr,
Bd VII (I954), Heft 4·

»Das Anliegen der Arbeit von Else Buddeberg, nämlich darzulegen, aus
welcher Nötigung seines Denkens Heidegger um Dichtung bemüht ist,
verschwindet für uns fast hinter der Überzeugungskraft, mit der hier
dargetan wird, was Interpretation zwar sein kann, aber nicht sein darf,
wofern ein solches Tun diese Bezeichnung überhaupt verdient.«
>Duitse Kroniek( ( Amsterdam), No-
vember I955·

Sonderdruck aus:
Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-
geschichte. Bd XXVI, Heft 3, und Bd XXVII, Heft 3·

J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
ELSE BUDDEBERG

RAINER MARIA RILKE


EINE INNERE BIOGRAPHIE
Als Anhang eine ;Tabula vitaet, die ;Lebent und zueinander
in Beziehung setzt

I955· (XVI, 579 Seiten gr. 8°) Leinen DM 29.50

llBuddeberg hat den weit ausholenden Versuch unternommen, das ge-


samte Leben und vVerk nahtlos aneinanderzufügen und so eine innere
Einheit aufzuzeigen. Der verschlungene Gang von Rilkes Leben wird
genau verfolgt und nicht nur die Ereignisse, sondern auch die weit-
reichenden Verästelungen in den menschlichen und geistigen Bezie-
hungen werden aufgezeigt. In die Schilderungen des Lebensganges ist
das Wachstum der einzelnen Werke genau eingetragen und darüber
hinaus jeweils eine eigenständige Interpretation versucht, die auch
die Ergebnisse der bisherigen Rilkeforschung \Veitgehend berücksich-
tigt. Auf diese Arbeit Buddebergs wird in Zukunft der Literatur-
historiker nicht mehr verzichten können.«
;Hochlandt, 'Jg 48 (z955), Heft I.

ll ... auf dem Gebiet der Rilke-Forschung die bisher umfassendste und
wohl auch bedeutendste Leistung ... Else Buddeberg verarbeitet dabei
auch eigene Forschungen, bringt neue Erkenntnisse und beseitigt man-
chen Irrtum. Das Problem der Kindheit, die zum Teil verhängnisvolle
Bindung an Lou Andreas-Salome, der schwierige Komplex des Malte
Laurids Brigge, die Art der Rilkeschen Transzendenz und die Gestalt
des Engels, der langwierige und bei aller Dialektik kontinuierliche
Werdegang bis zum Spätwerk, das alles wird, um nur Einiges zu nen-
nen, so gründlich und vielfältig entwirrt und interpretiert, daß damit
ein gut Teil der bisherigen Rilke-Literatur als überholt gelten darf.
... Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß eine solche Rilke einzig
gemäße Deutung zugleich in die Problematik unserer Zeit vorstößt.«
Rudolf Ibel über Radio Bremen,
März I955·
22.

»... die früheren Gesamtdarstellungen zweifellos weit übertroffen.


. . . reich an fruchtbaren Einsichten ... Überall wird die unterirdische
Kontinuität des Reifens sichtbar gemacht- in der Tat eine der wich-
tigsten Voraussetzungen für das Verständnis des Spätwerks .... Erst-
malig ist vielNeuesaus dem Nachlaß berücksichtigt.... Formprobleme
werden mit Recht meist zurückgestellt, doch ist über Rilkes Sprache
Wesentliches gesagt. Im Anhang ist eine knappe tabula vitae beige-
geben. Wer sich tiefer mit Rilke einlassen will, wird von nun ab schwer
ohne diese hilfreiche Zusammenschau auskommen.«
Das sind nur ein paar Sätze aus der
eingehenden, I so Zeilen langen kri-
tischen Würdigung von Hermann
Mörchen in der }Frankfurter Allge-
meinen Zeitungr vom I. April I955·

»... hat jetzt seinen Gipfelpunkt in der zur Zeit wohl als Standard-
werk zu wertenden >inneren Biographie Rilkes< von Else Buddeberg
erreicht. An diesem grundlegenden und sehr durchdachten, souverain
über alles >Material< sich erhebenden, ideelieh sehr zielstrebigen Rilke-
Buch kann heute niemand mehr vorbei, dem es ernst ist mit einem
Erfassen der besonderen Seinserfahrung des Dichters. Die äußeren
Lebensdaten werden mitgegeben, doch der Blick ist immer auf das
wachsende und sich wandelnde Werk gerichtet.«
}Bremer Nachrichtenr, 3· Dez. I95.'f·

(Als Ergebnis einer langen, eingehenden Würdigung des Buches:)


»Die Arbeit Buddebergs wird als ein Muster gelten können, die Voll-
gestalt eines Dichters gerade an der Schwelle unserer Zeit sichtbar zu
machen. Bedingt doch dies eine besondere Wachheit für geistige Ge-
samtbezüge neben der Treue zu traditioneller, literarhistorischer For-
schung.«
Ilse Meidinger-Geise in J Welt und
Wortr, I95), Nr IO.

»Die Gefahr sentimentaler Schwärmerei und esoterisch-kultischer Deu-


tung ist durchaus vermieden, denn Else Buddeberg kennt und achtet
die Verantwortung, die jeder hat, der sich auf wissenschaftlicher Ebene
mit Rilke auseinandersetzt.... Die Kraft der Einfühlung und der den-
kerischen Durchdringung des Stoffes halten sich die Waage. Es scheint
mir dies die einzige Art, um Werk und Leben gerecht zu werden, um
beides in Zusammenhang mit unserer Gegenwart zu sehen. Damit
kommt dieser Biographie das Verdienst zu, die erste geschlossene Dar-
stellung von Rilkes Gestalt zu geben, und gleichzeitig das nicht minder
große Verdienst, alle jene zwiespältigen und zwielichtigen Publika-
tionen aus dem Felde zu schlagen, die weder Rilke noch dem Leser
dienen.«
Otto H euschele im Süddeutschen
Rundfunk, 9· '}uni 195S·

»... erscheint wirklich als einer Art >innere Biographie< im Sinne einer
auf Biographie zielenden Stilkritik, wie sie von Emil Staiger als litera-
turwissenschaftliche Entsprechung des hermeneutischen Zirkels allen
Erkennens begriffen und vollendet worden ist.«
1Schweizer Monatshefter, 'Jg 35
(1955ls6), Dez. 195S·

»Buddeberg wird sehr gründlich und aus sachlicher Distanz, die liebende
Verehrung nicht ausschließt, der schwierigen Aufgabe gerecht, die sie
sich stellt. Ihre Biographie wird auf Jahre hinaus durch die wissen-
schaftliche Sauberkeit der Methode maßgebend bleiben.«
1Stuttgarter Zeitungr, 28. Mai 1955.

»Diese neue Gesamtdarstellung des Lebens und Werkes Rilkes, eine


>innere Biographie<, die den Hauptwert auf die Darstellung von Rilkes
kontinuierlicher Entwicklung legt, erfüllt die bei dem augenblicklichen
Stand der Forschung ZU stellenden Ansprüche in nahezu idealer vVeise.
Else Buddeberg, die sich seit Jahren mit Rilke beschäftigt hat und die
auch die umfangreiche Sekundärliteratur über ihn souverän beherrscht,
hat hier eine Leistung vollbracht, die sich über die gesamte bisherige
Literatur· erhebt. Ernsthafte Rilke-Interessenten können ohne dieses
Buch nicht auskommen.«
1Bücherei und Bildungr, 'Jg 8 (1955),
Nr 89, 'Juli.

J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART

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