Eine grundlegend neue Zielorientierung von Unterricht wird seit der Expertise zur
Entwicklung von Bildungsstandards (vgl. KlIeme et al. 2003) in der sog. Kompe-
tenzorientierung gesehen. Die meisten Bundesländer haben mittlerweile ihre
Lehrpläne (z.B. Bayern), Kernlehrpläne (z.B. Nordrhein-Westfalen), Kerncurri-
cula (z.B. Niedersachsen, Hessen), Bildungsstandards (z.B. Baden-Württemberg)
so um- bzw. neugeschrieben, dass sog. Kompetenzformulierungen verwendet
werden. Ob damit mehr als eine Veränderung der Rhetorik vorgenommen wurde,
soll im Folgenden geprüft werden.
Aus der Sicht der Allgemeinen Didaktik und gleichfalls der Schultheorie wird ein
klassisches Mittel der Steuerung im Bildungswesen auch weiterhin genutzt: den
Lehrpersonen werden Vorgaben für die Planung von (Fach-)Unterricht gegeben.
Dies war bereits das zentrale Anliegen der Lehrplantheorie, die in Deutschland
insbesondere von WenIger (1930/1951) ausformuliert worden ist. WenIger hielt
174
1.2 Kompetenzorientierte Standards ohne Inhalts- und
Methodenentscheidungen?
Ein konstitutives Merkmal der Bildungsstandards soll ihr weitgehender Verzicht auf
die Vorgabe von Unterrichtsinhalten und Unterrichtsmethoden sein (vgl. KlIeme et
al. 2003, 32). Stattdessen sollen diagnostisch prüfbare Kompetenzen ausgewiesen
werden, für die grundsätzlich unterstellt wird, dass diese über Lehrangebote mit
unterschiedlichen Inhalten und Methoden gleichermaßen erreichbar sind.
Aus der Sicht der Allgemeinen Didaktik und deren großer Planungsmodelle
von Unterricht (vgl. arnolD/Koch-PrIeWe 2010) sind Inhalts- und Methoden-
entscheidungen für jedweden Unterricht konstitutiv und im Sinne von schulz
(vgl. arnolD/lInDner-müller 2011) über eine Interdependenz- bzw. Implikations-
beziehung bzw. im Sinne von KlaFKI über das Konzept des „methodisch imma-
nenten Charakters der Thematik“ (KlaFKI 1976, vgl. arnolD/Koch-PrIeWe 2008)
verbunden. Eine inhaltsfreie oder gar inhaltsentleerte Bestimmung von Unter-
richtszielen ist aus der Sicht der Allgemeinen Didaktik nicht möglich und stellt
einen Rückschritt hinter das erreichte Niveau der Theoriebildung dar. KlaFKI
unterschied ‚Didaktik im weiteren‘ und ‚Didaktik im engeren Sinne‘, wobei er
letztgenannte wie folgt definierte: „Primat der Zielentscheidungen im Verhältnis
sowohl zur Dimension der inhaltlichen als auch der methodischen Entscheidun-
gen“ (KlaFKI 1976, 86).
Bildungsstandards sind per definitionem nicht mit Unterrichtsmethoden asso-
ziiert, was mit der Forderung nach einer ‚neuen Aufgabenkultur‘ allerdings
behauptet wird. Insbesondere lässt sich nicht nachweisen, dass die Allgemeine
Didaktik oder die Lehr-Lernforschung spezifisch defizitär sind und deshalb um ein
„verändertes Verständnis von Lernen und Lehren“ (crIBlez et al. 2009, 127ff)
ergänzt werden müssen (vgl. arnolD/Koch-PrIeWe 2008).
In seinem weithin rezipierten Buch listet helmKe (2009) zehn Merkmale der
Unterrichtsqualität auf. Als einzig neues Konzept kann die sog. Kompetenzorien-
tierung gelten, die wie folgt beschrieben wird: „Kompetenzorientierter Unterricht
ist zunächst einmal ein Unterricht, der bewusst und geplant die Förderung der in
den Bildungsstandards formulierten Kompetenzen zum Gegenstand hat“ (helmKe
2009, 234). Diese Formulierung ist zumindest zirkulär. Problematischer erscheint
jedoch, dass hier keine wissenschaftliche Definition vorgelegt wird, sondern von
Seiten der Wissenschaft die Ausrichtung von Unterricht an den kultusministeriel-
len Vorgaben gefordert wird.
helmKe erläutert die Kompetenzorientierung insbesondere mit dem Verweis
auf die Publikationen von lersch (2007a) und zIener (2008), die im Folgenden
analysiert werden. Der Titel des Beitrags von lersch (2007a) kündigt eine Lösung
des Theorie-Praxis-Problems an: in „dreißig Schritten“ soll „kompetenzfördernder
Unterricht“ sowohl als theoretisches Konzept als auch praktikable Methodik dar-
gestellt werden. Der Text zeigt sich tatsächlich in diesem Format – als Auflistung
von dreißig Kurzstatements. Irritieren kann durchaus, dass der Autor im gleichen
Jahr für dasselbe Anliegen 22 Schritte vorgibt (lersch 2007b).
Erstaunlicherweise nimmt der Autor in seinem 18. Schritt zurück, was der ein-
gangs ausführlich zitierte Kompetenzbegriff von Weinert explizit einschließt:
„Kompetenzen können prinzipiell [...] in sozial anerkannter, aber auch devianter
Form genutzt werden“ (lersch 2007a, 438). Weinert (2001) hingegen hat in seine
Definition explizit das Merkmal „verantwortungsbewusst“ sowie die Dimensio-
nen „Motivation“ und „Volition“ eingeschlossen und damit implizit eine Refor-
mulierung des Bildungsbegriffs unternommen (vgl. arnolD 2007). Aus empiri-
scher Sicht ist diese Konstrukterweiterung allerdings problematisch und wird von
176
vielen psychometrisch ausgerichteten Forschern zurückgenommen (vgl. hartIg
2008), denn der Einbezug von Volition und Motivation ließe kompensatorische
Effekte zu, die unsinnig wären. So könnte geringe bereichsspezifische Fähigkeit
durch hohe Motivation oder gar passendere Einstellungen bei der Lösung von
Aufgaben ausgeglichen werden.
Die postulierte Verknüpfung von Wissen und Können illustriert lersch in einer
kuriosen Graphik, die „lateralen Transfer“ als vermutlich zumindest hohe Korre-
lation, wenn nicht gar als lineare Verknüpfung und somit perfekte Korrelation
darstellt. Dies ist aus psychologischer Sicht kaum nachvollziehbar, denn ‚Können‘
setzt ‚Wissen‘ voraus. Ein wissensfreier oder wissensarmer Könnenserwerb ist
jedenfalls in schulischen Bildungsprozessen nicht vorgesehen. In der fast inhalts-
gleichen Publikation des Beitrags, die immerhin das Hessische Kultusministerium
herausgegeben hat (lersch 2010, 15), findet sich sogar eine additive Verknüpfung
von Wissen und Können (Kompetenz: „Wissen + Können“), was schlichtweg
unsinnig ist.
Zudem wird in der erstgenannten Graphik unterstellt, dass „Kompetenzstufen“
den kumulativen Wissenserwerb abbilden. Genau diese Interpretation der psycho-
metrischen Klassifikation von IRT(Item-Response Theory)-skalierten Fachleistun-
gen wird in den einschlägigen Publikationen der internationalen Schulleistungs-
studien (s. KlIeme et al. 2003, 77; hartIg/KlIeme 2006) ebenso ausgeschlossen wie
in psychometrisch sachkundigen Erläuterungen zu den Bildungsstandards (vgl.
Köller 2008, 170).
lersch behauptet, unterrichtsbezogene „Kompetenzraster“ und „Kompeten-
zerwerbsschemas“ entwickeln zu können (vgl. op. cit., S. 442f). Unterschieden
werden „Wissenselemente“, die eindeutig „Teilkompetenzen“ zugeordnet werden,
was in gleicher Weise für „Übungs-, Anwendungs- und Verwendungs-Situatio-
nen“ postuliert wird. Selbst angesichts der erheblichen Fortschritte der Lehr-Lern-
forschung (vgl. z.B. Klauer/leutner 2007) liegen bislang weder spezifische Situ-
ationsklassifizierungen vor, noch sind diese überschneidungsfrei zuordenbar. An
empirisch verifizierbaren Kompetenzmodellen wird auf der Ebene von Schulfä-
chern (Domänen) nach wie vor gearbeitet; von einer empirisch begründeten Aus-
formulierung von Teilkompetenzen, die sich auf Unterrichtseinheiten oder zumin-
dest auf Lernsequenzen eines Schuljahres beziehen lassen, ist die Forschung noch
sehr weit entfernt (vgl. hartIg/KlIeme/leutner 2008).
In einem Beispiel zum Fremdsprachenunterricht erläutert der Autor sein
„Kompetenzerwerbsschema“ wie folgt. Als „angestrebte Kompetenz“ formuliert
lersch (2007a): „Die Schüler(innen) können die verschiedenen Formen der
Vergangenheit im Englischen situationsangemessen und sprachlich korrekt
anwenden“ (op. cit., S. 444). Bereits diese Formulierung lässt die Frage aufkom-
178
lInDner-müller 2011). Die Bilanzierung zIeners (2008, 29) erinnert somit eher
an eine mit pädagogischen Neuerungen leider nicht selten einhergehende Verkün-
digungshaltung: „Lernziele haben die Tendenz zur systematischen Vereinfachung:
Kompetenzorientierung rät zur systematisch komplexen Sicht“.
Zur Reduzierung der Komplexität der kompetenzorientierten Unterrichtspla-
nung greift zIener – ähnlich empiriefern wie lersch (s. o.) – auf das Konzept der
‚Kompetenzstufen‘ zurück. zIener wendet sich der Aufgabe zu, „aus Bildungs-
zielen [...] Lernwege abzuleiten“, und bezeichnet „diesen Umgang mit den Bil-
dungsstandards“ als „Kompetenzexegese“ (op. cit., 47). Angesichts der sophisti-
zierten Methoden der schulfachlichen Kompetenzmessung (vgl. hartIg/KlIeme/
leutner 2008), die auf bewährten Konzepten der empirischen Ausarbeitung und
statistischen Modellierung von Konstrukten basiert, erscheint der hermeneutische
Begriff der Exegese hier geradezu absurd. Einschränkend notiert zIener (2008,
57) späterhin: „Bei den in diesem Schritt gefundenen Kompetenzstufen kann es
sich nicht um wissenschaftlich validierte Skalierungen handeln“. Welche wissen-
schaftliche Dignität das Gefundene aufweisen soll, wird allerdings nicht mitge-
teilt bzw. vielleicht durchaus zutreffend mit der aus der theologischen Arbeit
stammenden Metapher der verkündigungsbezogenen Textauslegung bezeichnet.
Bliebe man in diesem Bild, würde Bildungsstandards der Status der Bibel zuge-
dacht.
Das Spektrum absurder Metaphorik lässt sich noch um eine aus der bäuerli-
chen Viehwirtschaft stammende Formulierung erweitern, die hIlBert meyer
(2007, 195) notiert hat: „Kompetenzstufenmodelle lassen sich ‚ausmelken‘, um
Ziele unterschiedlicher Komplexität zu formulieren“. helmKe (2009, 235) wiede-
rum greift auf das etwas gröbere Arbeitsfeld des Steinbruchs zurück, wenn er vor-
schlägt, dass für eine bestimmte Klassenstufe formulierte Standards „auf darunter
liegende Klassenstufen ‚heruntergebrochen‘ werden“.
Die Ähnlichkeit zur kritisierten Lernzieloperationalisierung wird allerdings
in beträchtlichem Maße hergestellt, wenn zIener (2008, 49) schreibt, dass „Befä-
higungsziele“ so formuliert werden sollen, „dass die angestrebten Endergebnisse
schrittweise erreicht werden können“. Späterhin gelangt der Autor zu der bemer-
kenswerten Verknüpfung von Zielbegriff und Kompetenzbegriff. Aufgabe der
Unterrichtsplanung ist, „für jede Unterrichtssequenz (hier eine Unterrichtsstunde)
ein konkretes Befähigungs- oder Stundenziel aus dem jeweiligen Bildungsstan-
dard abzuleiten“ (op. cit., 81). In einer nachfolgenden Verdeutlichung wird dann
sogar die Lernzielterminologie explizit eingeführt: „Sachlich meint er (der Begriff
Befähigungsziel, Anm. v. KHA) nichts anderes als das klassische Stundenziel [...].
Man könnte mit leichter Zuspitzung nun vom ‚Lernziel Kompetenzerwerb‘ spre-
chen“ (op. cit, 83).
180
KMK-Bildungsstandards Kerncurriculum Lernzielorientierter Lehrplan
Niedersachsen
Bestandteile grundlegender Zeitgemäße Allgemeinbil- Fächerübergreifende Fähigkeiten:
Bildung dung; Förderung von soziale Fähigkeiten, moralische
sozialen und personalen Urteilsfähigkeit, ästhetische Gestal-
Kompetenzen tungsfähigkeit; Allgemeinbildung:
Bearbeitung von Schlüsselproblemen
Inhaltsbezogener Kompetenz- Inhaltsbezogener Mathematischer Inhaltsbereich:
bereich: Zahlen und Kompetenzbereich: Zahlen Zahlen und Operationen
Operationen und Operationen
Allgemeine mathematische Mathematische Kompetenz: Richtziel: Die Schüler sollen in
Teilkompetenz: in Kontexten in Kontexten rechnen Kontexten rechnen können.
rechnen
Standard: Sachaufgaben Inhaltsbezogener Kompe- Grobziel: Die Schüler sollen
lösen und dabei die tenz(teil)bereich: lösen Sachaufgaben lösen und dabei die
Beziehungen zwischen der Sachaufgaben und beschrei- Beziehungen zwischen der Sache
Sache und den einzelnen ben dabei die Beziehungen und den einzelnen Lösungsschritten
Lösungsschritten beschreiben zwischen der Sache und den beschreiben können.
einzelnen Lösungsschritten
Anforderungsbereiche: Anforderungsbereiche: Stufen kognitiver Prozesse: Erinnern,
Reproduzieren, Zusammen- Reproduzieren, Zusammen- Verstehen, Anwenden, Analysieren,
hänge herstellen, Verallge- hänge herstellen, Verallge- Bewerten, Generieren
meinern und Reflektieren meinern und Reflektieren
Auswahl des Unterrichtsinhalts:
Sachaufgaben
Entscheidung für Unterrichtsthema:
Sachaufgabe als (a) im Leben der
S. faktisch anstehende Aufgabe im
Rahmen der geplanten Klassenfahrt
(Gegenwartsbezug) und (b) als exemp-
larische Aufgabe für künftige Frei-
zeitvorhaben im Rahmen von Reisen
oder Urlauben (Zukunftsbezug)
Feinziele: Die S. sollen die Berech-
nungsmöglichkeiten für die Fahrt-,
Unterbringungs- und Verpflegungs-
kosten für die nächste Klassenfahrt
unter drei unterschiedlichen Ziel-
optionen (x Tage in nahe gelegener
Jugendherberge am See, y Tage auf
150 km entferntem Campingplatz in
den Bergen, z Tage Jugendgästehaus
in Berlin) beschreiben und erläutern,
wie die Vorgabe einer Obergrenze von
180 Euro
Die obige Gegenüberstellung zeigt sehr deutlich, dass der behauptete Unterschied
zwischen kompetenz- und lernzielorientierter Darstellung von Lehrplanvorgaben
bzw. mittelfristigen Unterrichtsplanungen zumindest gering ausfällt. Dies kann
auch nicht anders der Fall sein, wenn die Formulierung von Kompetenzen in „can
do statements“ (Köller 2008, 164) vorgenommen werden soll; genau diese ver-
haltensnahe Operationalisierung zeichnet auch Feinlernziele aus.
Offensichtlich sind fachinhaltsbezogene Entscheidungen durchweg auch in
den kompetenzorientierten Vorgaben zu finden. Dass thematische Entscheidungen
auf der Ebene der Planung einzelner Unterrichtsstunden und z. T. von Unterrichts-
einheiten darin kaum oder gar nicht vorkommen, entspricht durchaus der mittleren
Regelungstiefe der früheren Lehrpläne.
Die fünf letzten Zeilen der Tabelle sollen veranschaulichen, dass die allge-
meindidaktischen Planungsmodelle von schulz und KlaFKI direkt anschlussfähig
sind (vgl. arnolD/Koch-PrIeWe 2010) und damit kuriose Nacherfindungen
überflüssig machen. So findet sich bei lersch (2007a, 444) die Bezeichnung
„Kompetenzerwerbsschema“ für eine – überwiegend nach schulz – gegliederte
Unterrichtsplanung. zIener (2008, 87) verwendet hier die theoretisch kaum einzu-
ordnende Formulierung einer „Kunst der didaktischen Konzentration und Reduk-
tion auf ein didaktisches Zentrum“ und meint damit vermutlich nichts anderes als
Klafkis Didaktische Analyse. Walther/selter/neuBranD (2008, 39) prägen den
Begriff der „substanziellen Aufgaben“ und reformulieren damit die von schulz
und KlaFKI postulierte (und keineswegs einfach zu berücksichtigende) Inter-
182
dependenz von Ziel- und Inhaltsentscheidungen, die zudem interessen- und leis-
tungsbezogen binnendifferenzierte Varianten erbringen soll.
Der besondere Vorzug einer lernzielorientierten Konzeption besteht darin, dass
eine auf allen Stufen der Planung durchgängige Terminologie bereit gestellt wird.
Die Anschlussfähigkeit der z.B. von lersch oder zIener vorgeschlagenen Begriffe
für die Unterrichtsplanung der Lehrkräfte hingegen erweist sich als theoretisch
schwach fundierte und zudem erheblich inkonsistente Zusammenstellung von dis-
paraten oder zum Teil wiedererfundenen Konzepten.
Schaut man in die von renommierten Wissenschaftlern publizierten mathema-
tikdidaktischen Erläuterungen zu den Bildungsstandards Mathematik (vgl. Wal-
ther et al. 2008), so werden Kurzzusammenfassungen der Kompetenzorientie-
rung gegeben und insbesondere Sammlungen von Aufgaben präsentiert, die diesen
neuen Ansatz illustrieren sollen. Dass diese Aufgaben im Rahmen eines lernzielo-
rientierten Unterrichts gleichfalls begründbar sind, lässt sich allerdings durchweg
auch behaupten.
Bemerkenswert erscheinen folgenschwere Einschränkungen, die notiert wer-
den. So wird z.B. von Blum (2006, 20) eingeräumt, dass es für die allgemeinen
mathematischen Kompetenzen „weder möglich noch beabsichtigt“ sei, „diese [...]
scharf voneinander abzugrenzen“, was aus psychometrischer Sicht dem Einge-
ständnis gleichkommt, dass auf die Validierung des zentralen Konstrukts verzich-
tet wird bzw. dessen dimensionale Aufgliederung empirisch nicht zu bestätigen
ist. Walther/selter/neuBranD (2008, 21) weisen darauf hin, dass die drei postu-
lierten ‚Anforderungsbereiche‘ „empirisch noch nicht hinreichend fundiert“ sind;
gleichwohl erlauben sie „erfahrungsbasierte Einschätzungen [...] der zu erbringen-
den kognitiven Leistungen“. Offensichtlich wird den Praktikern eine begriffliche
Klarheit zuerkannt, die der Wissenschaft bislang noch nicht möglich ist, was die
neue ‚empirische Wendung‘ in den Unterrichtswissenschaften in ein seltsames
Licht rückt bzw. vermutlich genau solchen empirieabstinenten Publikationen Vor-
schub leistet, wie sie von lersch und zIener vorgelegt worden sind.
4. Zusammenfassung
184
wissenschaftlich fundierten Evaluationen (z.B. VERA, Überprüfen von Bildungs-
standards des IQB) zumindest eine hinreichende Vertrautheit hergestellt wird.
Die zentralen Fragen der Kompetenzorientierung bleiben hingegen unbearbei-
tet bzw. ungelöst. Nur in aufwändigen Längsschnittuntersuchungen würde sich als
prognostische Validität zeigen lassen, dass nach den neuen Standards beschulte
Kinder den späteren Herausforderungen einer Ausbildung oder eines Studiums
sowie der anschließenden Berufstätigkeit besser gewachsen sein werden als jene
Erwachsene, die nur nach Lehrplänen unterrichtet worden sind und deren Fähig-
keitsentwicklung mit formativen Überprüfungen der Lernzielerreichung doku-
mentiert worden ist. Diese Studien setzten aber voraus, dass alle bereits ministeri-
ell gedruckten und in der Fachliteratur referierten Kompetenzen als empirische
Konstrukte ausgearbeitet worden sind.
Und da dies alles noch Zukunft ist, kann die Gegenwart getrost als Kompetenz-
rhetorik bezeichnet werden. Dieser neue Jargon wird bereits in der hochschuli-
schen Lehrerbildung praktiziert, in der Wissenschaftler die Studierenden unter-
richten. Wenigstens in der Scientific Community könnte man sich darin einig sein,
dass neue Konzepte erst dann übernommen werden, wenn diese hinreichend sub-
stantiiert sind. Aber damit hätte man schon jetzt den Anschluss an den Mainstream
verloren.
Literatur
Kurzbiographie
Karl-Heinz Arnold, Prof. Dr., geb. 1952, Studium der Mathematik, Erziehungswissenschaft
und Psychologie in Freiburg, Berlin und Marburg; Promotion an der Universität Marburg,
Habilitation an der Universität Bremen, Schulpsychologe in Bremerhaven, Referent beim
Senator für Bildung und Wissenschaft in Bremen, Vertreter der Professur für Allgemeine
Didaktik und empirische Unterrichtsforschung an der TU Dresden, Professor für Pädagogi-
sche Psychologie an der TU Berlin, seit 2003 Professor für Schulpädagogik an der Univer-
sität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Didaktik, Lehrerbildungsforschung,
soziale Kompetenz.
Anschrift: Prof. Dr. Karl-Heinz Arnold, Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswis-
senschaft, Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft, Marienburger Platz 22,
D-31141 Hildesheim.