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Politik und Zeitgeschehen

PZG
7 Johann Dvoåák
r

Gesellschaft, Staat und


Verfassung in der Neuzeit

INHALT Didaktische Gestaltung:


Vorbemerkung 3 Ingrid Autengruber
Zu den Begriffen Gesellschaft, Staat und Verfassung 5
Zum Begriff „Gesellschaft“ 5 Inhaltliche Koordination
Zum Begriff des modernen Staates 6 der Skriptenreihe:
Zum Begriff der Verfassung 12 Peter Autengruber
Reformation, Parlamentarismus, Kapitalismus und Hans-Jürgen Tempelmayr
Revolution 15
Die Kultur des Buches, die Kultur der Arbeit und die
Entwicklung des modernen Staates 15
Die Entwicklung des Staates in der Habsburgermonarchie 17
Gegenreformation, Absolutismus, ökonomische
Rückständigkeit 17
Revolutionen und ihre Folgen in Europa 19
Zur politischen Kultur in der Habsburgermonarchie
im 19. Jahrhundert 21
Das Staatsgrundgesetz 1867 22
Staat, Recht und Rechtswissenschaft in der späten
Habsburgermonarchie (am Beispiel von Hans Kelsen) 24
Beantwortung der Fragen 30
Fernlehrgang 35
Stand: September 2001
Nachdruck: September 2002

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit


des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und
der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.
Wie soll mit diesem Skriptum
gearbeitet werden?

Zeichenerklärung
Frage zum Lernstoff im vorigen Abschnitt. (Vergleichen Sie Ihre
eigene Antwort mit der am Ende des Skriptums angegebenen.)

Anmerkungen: Die rechte bzw. linke Spalte jeder Seite dient zur Eintragung persön-
licher Anmerkungen zum Lernstoff. Diese eigenen Notizen sollen,
gemeinsam mit den bereits vorgegebenen, dem Verständnis und
der Wiederholung dienen.
Schreibweise: Wenn im folgenden Text Begriffe in männlicher Schreibweise ver-
wendet werden, so ist bei Entsprechung auch die weibliche Form
inkludiert. Auf eine durchgehende geschlechtsneutrale Schreib-
weise wird zu Gunsten der Lesbarkeit des Textes verzichtet. Keines-
falls soll damit über diese keineswegs zufällige Unkorrektheit der
deutschen Sprache hinweggetäuscht werden.

Arbeitsanleitung
– Lesen Sie zunächst den Text eines Abschnitts aufmerksam durch.
– Wiederholen Sie den Inhalt des jeweiligen Abschnitts mit Hilfe der gedruckten
und der eigenen Randbemerkungen.
– Beantworten Sie die am Ende des Abschnitts gestellten Fragen (möglichst ohne
nachzusehen).
– Die Antworten auf die jeweiligen Fragen finden Sie am Ende des Skriptums.
– Ist Ihnen die Beantwortung der Fragen noch nicht möglich, ohne im Text nach-
zusehen, arbeiten Sie den Abschnitt noch einmal durch.
– Gehen Sie erst dann zum Studium des nächsten Abschnitts über.
– Überprüfen Sie am Ende des Skriptums, ob Sie die hier angeführten Lernziele
erreicht haben.

Lernziele
Nachdem Sie dieses Skriptum durchgearbeitet haben, sollen Sie wissen,
– was eine Verfassung, eine Konstitution ist;
– was den neuzeitlichen, modernen Staat in Europa ausmacht;
– welche wesentlichen Unterschiede in den Entwicklungen der Staatswesen im
Westen Europas und in den Gebieten der Habsburgermonarchie bestanden
haben und
– welche (noch immer aktuellen) rechtstheoretischen Bemühungen Hans Kelsen
gegen obrigkeitliche Willkür und für die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prin-
zipien gegen Ende der Habsburgermonarchie unternommen hat.

Viel Erfolg beim Lernen!

2
Vorbemerkung Anmerkungen

Beim Konsumieren von Nachrichtensendungen und politischen Reportagen im


Fernsehen oder im Radio, beim Lesen von Zeitungen (aber auch von sozialwissen-
schaftlichen Texten) fällt auf, dass der Staat irgendwie nicht mehr so recht in Mode,
ja geradezu zum Sterben verurteilt zu sein scheint. Losungen wie „Mehr privat,
weniger Staat“, „schlanker Staat“, „Bürgergesellschaft statt staatlicher Bevormun-
dung“ stehen im Vordergrund.

Wichtige politische Zielsetzungen sind: Reduktion der Staatsausgaben, Nulldefizit,


Abbau von Staatsfunktionen, Privatisierung von staatlichem Eigentum, Abbau von
Sozialleistungen des Staates und Eigentätigkeit und Eigenvorsorge der Einzelnen.

Gerade angesichts der vielfältigen und verschwommenen (oft ebenso verheißungs-


voll klingenden wie für unmittelbar Betroffene bedrohlichen) politischen Zielset-
zungen und Ankündigungen in Bezug auf den Staat und seine gegenwärtigen und
künftigen Aufgaben ist es wichtig, sich die Entwicklung des modernen Staates und
seiner Aufgabenstellungen zu vergegenwärtigen.

Wenn wir in Europa und in den USA hundert oder hundertfünfzig Jahre zurückge-
hen, dann stellen wir fest, dass der Staat, dass die verschiedenen Staatsapparate
(Regierungen, Polizei, Militär, Justiz) im Interesse der besitzenden Klassen gehan-
delt haben. Und auch die Staatstheorien und die Aussagen der Herrschenden haben
immer wieder deutlich gemacht, dass der Staat vor allem zur Wahrung der Interes-
sen der Besitzenden existieren sollte.

In dem Maß, in dem der Staat zu seinen Unterdrückungs- und Kontrollfunktionen


auch Aufgaben der Versorgung und Sicherung wichtiger Lebensinteressen einer
großen Zahl von Menschen übernommen hatte, geriet diese Tatsache in Vergessen-
heit. An die Stelle von Analysen und Theorien staatlichen Handelns traten Wünsche
und Hoffnungen in Bezug auf den Staat und seine Aufgaben. Schließlich wurde der
Wohlfahrtsstaat, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstanden ist, als
der normale Staat schlechthin angesehen.

Wenn die Wohlfahrtsaufgaben des Staates zurückgeschraubt und – dem Prinzip


nach – überhaupt aufgegeben werden sollen, dann verschwinden genau jene Be-
standteile der Staatstätigkeit, die nicht nur auf die Unterdrückung der Masse der
Bevölkerung im Interesse einer besitzenden Minderheit abstellen. Auch von daher
ist die Beschäftigung mit der Entwicklung des modernen Staates und mit theoreti-
schen Auseinandersetzungen über den Staat und seine Aufgaben von Interesse.

3
Zu den Begriffen Gesellschaft, Anmerkungen

Staat und Verfassung


Zum Begriff „Gesellschaft“
Als die allgemeine Bezeichnung für die Gesamtheit der Einrichtungen und Be-
ziehungen des menschlichen Zusammenlebens ist das Wort „Gesellschaft“ schon
im 17. und 18. Jahrhundert in England und in Frankreich, aber erst im 19. und
20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum gebräuchlich geworden.

Zwar bezeichnete schon im Altertum der Gelehrte Aristoteles den Menschen als Altertum: Politische
„gesellschaftliches Wesen“, als „zoon politikon“, aber die griechische Bezeich- Rechte für eine
nung kann ebenso gut mit „politisch“, „staatlich“ oder „städtisch“ übersetzt wer- Minderheit
den. In den griechischen Stadtstaaten (deren Wirtschaft auf Sklavenhaltung be-
ruhte) waren Staat, Politik und Gesellschaft nicht ohne weiteres als getrennte,
unterscheidbare Bereiche zu erfahren, sondern eher als eine Einheit.

Allerdings galt selbst für jene griechischen Stadtstaaten, die – wie etwa Athen –
Demokratien waren, dass die Volksherrschaft die Angelegenheit einer Minderheit
von Besitzenden war, von städtischen Vollbürgern, denen es durch Besitz und
Wohlstand möglich war, über Freizeit und Muße zu verfügen; so konnten sie sich
auf öffentlichen Plätzen versammeln, ihre Interessen artikulieren und gemein-
sam diskutieren und beschließen, auf welche Weise ihre Interessen durchgesetzt
werden könnten.

Aus ihrer Mitte wurden jene politischen Funktionäre, jene Inhaber von Staatsämtern
(bis hin zu den militärischen Befehlshabern) gewählt, die in der Folge dafür zu
sorgen hatten, dass der Staat alle den Geschäften und sonstigen Interessen der
Vollbürger förderliche Maßnahmen setzte. Die Sklaven galten nicht als Menschen,
sondern wurden wie Vieh oder Werkzeug eingestuft, und die ärmeren Stadtbe-
wohner galten nicht als vollwertige Bürger und verfügten daher nicht über die
vollen politischen Rechte.

In der Folge wird das Wort „Gesellschaft“ viele Jahrhunderte lang in einer Reihe 16.–18. Jh.: Erweiterter
von europäischen Sprachen im Sinne von „geselligem Beisammensein“ verwendet, Gesellschaftsbegriff
um dann etwa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, im Übergang vom Feudalismus zur
kapitalistischen Produktionsweise, zunehmend in unserem heutigen Sinn ver-
standen zu werden. Sehr schön lässt sich dies im Englischen verfolgen: 1577 wird
„ein Staatswesen als Gesellschaft oder als das gemeinsame Handeln einer Vielzahl
von Freien“ bezeichnet; 1650 ist die Rede von „der Gesellschaft, in der wir leben“.

Im späten 17. Jahrhundert verwendet John Locke den Begriff „Gesellschaft“ sowohl
im Sinne einer Verbindung, die die Menschen (in Form eines Gesellschaftsvertra-
ges) eingehen, als auch im Sinne einer Gesamtheit, die die einzelnen Menschen
ebenso wie die von ihnen geschaffenen Einrichtungen umfasst.

Nahezu ein Jahrhundert nach John Locke schreibt dann Adam Smith in seinem Werk
„Der Wohlstand der Nationen“ (erschienen 1776) von „Gesellschaft“ im Unter-
schied zum „Staat“ und seinen Organen. Er unterscheidet zwischen verschiedenen
sozialen Klassen innerhalb der Gesellschaft. „Gesellschaft“ ist nunmehr ein neut-
raler umfassender Begriff geworden, der die Summe der einzelnen Menschen,
soziale Klassen, aber auch alle möglichen Institutionen beinhaltet.

(In deutschen Übersetzungen von Adam Smith’s „The Wealth of Nations“, so in der
im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienenen, wird man den Begriff „Gesell-
schaft“ oft vergeblich suchen, weil „society“ ebenso gerne wie falsch mit „Land“
oder mit „Volkswirtschaft“ übersetzt wird.)

5
Anmerkungen
Zum Begriff des modernen Staates

Definition Staat Wenn unter „Gesellschaft“ zunächst die Vereinigung freier, vielleicht gar
gleicher Menschen (Eigentümer) vorgestellt wird, so hat „Staat“ von Anfang
an mit Über- und Unterordnung, mit Macht und Herrschaft zu tun: Staat ist
organisierte Gewalt, organisierte Macht.

Obwohl der Begriff „Staat“ sehr alt ist, so hat er sich in den vergangenen Jahrtau-
senden sehr wohl stark gewandelt.

Entstehung des Der moderne bürgerliche Staat entstand und entwickelte sich im Zusam-
Staates menhang mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und
er unterscheidet sich in seiner konstitutionellen, demokratisch-republikani-
schen Ausprägung wesentlich von allen früheren Ausformungen durch die
prinzipielle Möglichkeit der politischen Einflussnahme durch die große
Zahl, durch die Masse der Bevölkerung.

Im Gefolge der neuzeitlichen Revolutionen in den Niederlanden, in England, Nord-


amerika und Frankreich entstanden auch völlig neuartige Vorstellungen von den
Aufgaben, Zielen und Zwecken des Staates und der Regierung, ebenso wie von den
Möglichkeiten der Gestaltung eines Staatswesens durch das Volk. Dabei war
in Bezug auf parlamentarische Vertretungen eine wichtige und immer wiederkeh-
rende Frage, wer denn überhaupt und warum wahlberechtigt sein sollte.

Parlament, Wahlrecht und Eigentum in England


während der Englischen Revolution 1640–1660
Wahlrecht am Beispiel Während der Englischen Revolution 1640–1660 kam es immer wieder zu Debatten
England über Fragen des Wahlrechts. Gegen Ende des Bürgerkrieges zwischen den Anhän-
gern des Königs und der Partei des Parlaments diskutierten im Jahre 1647 Vertreter
der Armee des Parlaments über die zukünftigen Regelungen des Wahlrechts. Dabei
wurde auch die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht erhoben – ausge-
hend von der prinzipiellen und natürlichen Gleichheit aller Menschen.

Allerdings wurde auch die Auffassung vertreten: „Die Menschen kamen überein,
in einem Staate zu leben, um so das Eigentum zu bewahren.“1

Staat beruht auf So wurde denn im Zusammenhang mit der Erweiterung des Wahlrechts auf die
dem Privateigen- möglichen politischen Gefahren für das Eigentum und die Besitzenden ver-
tum der Individuen wiesen. (Das englische Parlament war [und ist] absoluter Souverän; es kann mit
einfacher Mehrheit über alle Angelegenheiten des Staatswesens Beschlüsse fassen;
dagegen gibt es rechtlich keinerlei Beschwerde- oder Einspruchsmöglichkeit. Über
dem englischen Parlament steht keine Verfassung, keine Gerichtsbarkeit!) Es wur-
de die Furcht davor geäußert, dass die Masse der Habenichtse, einmal im Parla-
ment vertreten, die Minderheit der Besitzenden auf dem Wege parlamentarischer
Beschlüsse enteignen und eine Gleichheit an Besitz herstellen könnte:
„Es könnte geschehen, dass die Mehrheit des Volkes durch ein Gesetz (nicht in
Unruhe und Aufruhr) das Eigentum beseitigte; es könnte ein Gesetz beschlossen
werden, das eine Gleichheit an Gütern und Besitz bestimmte.“2

1
Maximilian Petty. Zit. n. A. S. P. Woodhouse (Ed.): Puritanism and Liberty (London: Dent 1974) S. 71
2
Colonel Nathaniel Rich. Zit. n. A. S. P. Woodhouse (Ed.): Puritanism and Liberty (London: Dent
1974) S. 63

6
Diese Furcht der Besitzenden um ihr Eigentum wird alle künftigen Verfassungs- Anmerkungen
und Wahlrechtsdebatten in Europa und Nordamerika bestimmen:
● Das Wahlrecht wurde eingeschränkt und mit Besitzqualifikationen verbunden.
● Die „Heiligkeit“ des Eigentums wurde in der Verfassung verankert. Wenn
„Minderheiten“ geschützt werden sollten, dann die Minderheit der viel Besit-
zenden.
● Das Wahlrecht wurde den mittleren und unteren Klassen stückweise zuge-
standen – bei gleichzeitiger Bindung an die Interessen der herrschenden und
besitzenden Klassen.

Der moderne Staat wurde zum Schutz des Eigentums und zur Abwehr der
wahren Volksherrschaft entwickelt. Die Vielen durften am Staat nur teil-
haben, wenn sie die wenigen Besitzenden dadurch nicht beeinträchtigten.

John Locke [1632–1704]


In seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ beschreibt John Locke, wie „Zwei Abhandlungen
eine „politische Gesellschaft“, ein Staatswesen, zu Stande kommt. über die Regierung“

„Doch wenn man sich den Gesetzen eines Landes unterwirft, friedlich lebt und
seine Privilegien und seinen Schutz genießt, macht das einen Menschen noch lange
nicht zu einem Mitglied dieser Gesellschaft. ... Nichts kann einen Menschen dazu
machen als sein wirklicher Eintritt durch positive Verpflichtung und ausdrück-
liches Versprechen und Vertrag. Und eben das ist meine Meinung über den
Anfang der politischen Gesellschaften und jene Zustimmung, die jemanden zum
Glied eines Staatswesens macht.“3

Die Frage ist, warum sich Menschen zu einer derartigen politischen Gesellschaft,
einem Staatswesen, zusammenschließen:
„Wenn der Mensch im Naturzustand so frei ist, wie gesagt worden ist, wenn er
der absolute Herr seiner eigenen Person und seiner Besitztümer ist, dem Größten
gleich und niemandem untertan, warum soll er auf seine Freiheit verzichten?
Warum soll er seine Selbständigkeit aufgeben und sich der Herrschaft und dem
Zwang einer anderen Gewalt unterwerfen? Die Antwort darauf liegt auf der
Hand: obwohl er nämlich im Naturzustand ein solches Recht hat, so ist doch die
Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend den Übergriffen John Locke
anderer ausgesetzt ist. Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, da alle
Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht genau die Billigkeit
und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in
diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt ihn bereitwillig
einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger
Gefahr ist. Und nicht grundlos trachtet er danach und ist dazu bereit, sich mit
anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden, die bereits vereinigt sind oder doch
die Absicht hegen, sich zu vereinigen, zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens,
ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeich-
nung Eigentum zusammenfasse.“4

3
John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 277 f.
4
Ebd. S. 278

7
Anmerkungen Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet zusammenfassend:
„Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen
zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung
ihres Eigentums.“5

Schutz des Eigentums Bei John Locke ist die politische oder bürgerliche Gesellschaft tatsächlich als
eine Vereinigung der Besitzenden zu ihrem gemeinsamen Schutz vor Über-
griffen auf ihr Eigentum gedacht; das heißt aber auch, dass genau genommen
nur die Besitzenden auch Mitglieder der politischen oder bürgerlichen Gesell-
schaft sind und ihre Rechte und Vorzüge genießen, während die Besitzlosen
außerhalb dieser Gesellschaft stehen und nur ihren Maßnahmen und Regeln
unterworfen sind.

Der nunmehr häufig gebrauchte Begriff „Zivilgesellschaft“, der den nicht-staat-


lichen Bereich bezeichnen soll, geht im Übrigen auf John Locke zurück. Seine „civil
society“, die bürgerliche Gesellschaft, ist jedoch eine Gesellschaft zum Schutz des
Eigentums, und nicht Freizeit- oder Wohltätigkeitsunternehmen für die Masse der
Besitzlosen.

Adam Smith [1723–1790]


Adam Smith hatte 1776 in seinem Hauptwerk „The Wealth of Nations“ („Der
Wohlstand der Nationen“) davon geschrieben, dass der bürgerliche Staat eine ge-
wisse Unterordnung voraussetze und die Notwendigkeit des bürgerlichen Staates
in dem Ausmaß anwüchse, in dem wertvolles Eigentum erworben wird.
„Civil government supposes a certain subordination.
The acquisition of valuable and extensive property ... necessarily requires the
establishment of civil government.“6
Adam Smith
Zugleich beobachtete Adam Smith, wie große Reichtümer geradezu notwendiger-
weise Armut und soziale Ungleichheit steigerten.
Erhaltung der „Wherever there is great property there is great inequality. For one very rich man
Ungleichheit als there must be at least five hundred poor, and the affluence of the few supposes the
Aufgabe des Staates indigence of the many. The affluence of the rich excites the indignation of the
poor, who are often both driven by want, and prompted by envy, to invade his
possessions. It is only under the shelter of the civil magistrate that the owner of
that valuable property [...] can sleep a single night in security.“ 7

Und:
„Civil government, so far it is instituted for the security of property, is in reality
instituted for the defence of the rich against the poor, or of those who have some
property against those who have none at all.“8

Bei Adam Smith, dem Schöpfer der klassischen Nationalökonomie, finden


wir keine beschönigenden Darstellungen und Erklärungen für Reichtum
und Armut und über die Aufgaben des Staates, sondern vielmehr klare
Aussagen darüber, dass die Steigerung des Reichtums der wenigen mit dem
Anwachsen der Armut der großen Zahl unmittelbar zusammenhängt.

5
Ebd.
6
Adam Smith: The Wealth of Nations, Books iv-v, Harmondsworth: Penguin 1999, S. 298
7
Ebd.
8
Ebd. S. 302

8
Thomas Paine [1737–1809] Anmerkungen
und der republikanische Wohlfahrtsstaat
Thomas Paine (geboren in England am 29. Jänner 1737, gestorben in den Vereinigten
Staaten am 8. Juni 1809) entstammte einer Handwerkerfamilie und lernte zuerst
ebenfalls ein Handwerk und wurde später Steuereinnehmer.
Als Bediensteter der Finanzverwaltung unternahm er den Versuch der Gründung
einer Beamtengewerkschaft (dies war wahrscheinlich der erste Versuch, die Inter-
essen staatlicher Bediensteter organisatorisch zusammenzufassen). In einer Petition
an das Parlament, die von Tausenden seiner Kollegen unterschrieben worden war,
trat er für eine neue rechtliche Regelung der Steuereinhebung und für eine Verbes- Thomas Paine
serung des Status der Steuereinnehmer ein. Die Petition hatte zwar keinen Erfolg,
doch es war eine imposante organisatorische und agitatorische Leistung, die Unter-
schriften zu Stande zu bringen.
Thomas Paine wurde zu seinen Lebzeiten vor allem durch zwei Schriften weltweit
berühmt. Nachdem er 1774 aus England in die englischen Kolonien in Nordamerika
emigriert war, verfasste und veröffentlichte er dort im Jahre 1776, während des
amerikanischen Unabhängigkeitskampfes, eine Schrift mit dem Titel „Common „Common Sense“
Sense“ (was etwa mit „Vom gesunden Menschenverstand“ übersetzt werden
kann).
Darin verfocht er die Position, dass die künftigen Vereinigten Staaten als Republik,
unabhängig von der englischen Monarchie, gegründet werden sollten. Wenn schon
gekämpft werden musste, dann sollte das Ziel dieser Kämpfe gleich auch die
Schaffung eines neuen Staatswesens auf demokratisch-republikanischer
Grundlage sein. „Common Sense“ war wohl jene Schrift, die auf die Bevölkerung
der nordamerikanischen Kolonien Englands am mobilisierendsten in ihrem Frei-
heitskampf wirkte.
Paines zweite bedeutende Schrift war „The Rights of Man“. Sie erschien in Eng- „The Rights of Man“
land in den Jahren 1791 und 1792. Die Übersetzung des Titels mit „Menschenrechte“
gibt heutzutage das damals Gemeinte nicht richtig wieder. Wenn Thomas Paine von
den Rechten der Menschen schreibt, dann ist damit tatsächlich die demokratische
Gestaltung der Gesellschaft gemeint und die Befriedigung der materiellen Be-
dürfnisse aller Angehörigen eines Staatswesens (und nicht nur einer Minderheit
der Besitzenden).
Thomas Paines Schriften hatten zu seiner Zeit höhere Auflagen als selbst die Bibel; Bedeutung von Paines
Übersetzungen von „The Rights of Man“ fanden ihre Verbreitung in ganz Europa Schriften
bis nach Dubrovnik und ins Baltikum. Sein Andenken ist insbesondere von den
Arbeiterbewegungen in den englischsprachigen Ländern bewahrt worden, aber
etwa auch von deutschen Radikalen in der 1848er-Revolution (die als politische
Emigranten seine Schriften wieder mit in die Vereinigten Staaten brachten). Wich-
tige Vorschläge Thomas Paines zur staatlichen Wohlfahrtspolitik sind in Österreich
unter der Regierung Kreisky in den 70er-Jahren eingeführt, aber inzwischen schon
wieder beseitigt worden (z. B. finanzielle Zuschüsse für Neuverheiratete ...).
Thomas Paine lebte und schrieb zu einer Zeit, in der die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung von jeglicher Beteiligung an der politischen Gestaltung der Gesell-
schaft ausgeschlossen war. Es war daher notwendig, zugleich die politischen Rechte
des Volkes, der Nation (die Bezeichnungen „the Nation“ und „the People“ wurden
von Paine gleichbedeutend verwendet) zu begründen und die wesentlichen Prin-
zipien des Republikanismus, und zwar eines neuen, demokratischen Republika-
nismus, zu formulieren.

9
Anmerkungen
Eine der wichtigsten Errungenschaften in Thomas Paines politischem Den-
ken war die Einsicht, dass alle staatlichen Vorgänge durch das Geld der
Teilhabe aller Steuerzahler – und nur dadurch – ermöglicht werden und auch die Ärmsten
an Staat und Politik der Armen durch ihre Steuerbeiträge daran Anteil hätten. (Auch wer keine
Lohn- oder Einkommensteuern entrichtet, leistet über die Steuern, mit de-
nen die einzelnen Waren belegt sind, Beiträge): Nicht zuletzt von daher wird
auch die Teilhabe aller an der Politik begründet.

Forderung eines neuen Thomas Paine ging es um die Herstellung, den Ausbau und die Erhaltung zivilisier-
Regierungssystems ter Lebensweisen für alle, um die Schaffung einer Gesellschaft und eines Staatswe-
sens (und dies war durchaus weltweit gedacht), in dem die Bürger in Freiheit
arbeiten und die Früchte ihrer Arbeit genießen könnten, in dem sie die Möglich-
keit der bewussten Gestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse haben
sollten.

Die Mittel dazu würden den Menschen durch Wissen um die Vorgänge in Natur
und Gesellschaft, durch Aufklärung und (Selbst-)Bildung ebenso wie durch die
gleichzeitige Schaffung von politischen Strukturen, die der persönlichen Verfü-
gungsgewalt von Menschen über Menschen ein Ende setzten, in die Hände gegeben.
„... weil es aber nur eine Gattung von Menschen gibt, kann es auch nur ein Element
menschlicher Macht geben, und dies Element ist der Mensch selbst.“9

Thomas Paine war zutiefst davon überzeugt, dass das demokratisch-republikani-


sche System, für das er eintrat, nur existieren und von einem Volk abgesichert
werden könnte, das sowohl politisch gebildet als auch ständig politisch tätig war.

Politische Bildung Bildung war für Paine wesentlich lebendige Erfahrung; eine Verbindung von Be-
durch politische Praxis obachtung und denkender Beurteilung der sinnlichen Wahrnehmungen, die Fähig-
keit, Bücherwissen mit eigener lebensgeschichtlicher Erfahrung zu verknüpfen.
Regieren sollte eine möglichst verbreitete Erfahrung in der Bevölkerung sein (poli-
tische Bildung durch politische Praxis); gleichzeitig sollte das Entstehen einer
eigenen Schicht von Berufspolitikern verhindert werden. Dies verlangte umfang-
reiches Wissen aller Bürger um gesellschaftliche Vorgänge sowie Fähigkeit – und
vor allem – Gelegenheit zu politischem Handeln.

Während das monarchisch-aristokratisch-elitäre System die Bevölkerung


sowohl an der politischen Praxis als auch am Erwerb von Wissen hinderte,
sollten in einer demokratischen Republik alle an der politischen Gestaltung
der Gesellschaft teilhaben können.

„Dasjenige, was Regierung genannt wird, oder vielmehr was wir uns unter
Regierung denken sollten, ist nichts weiter als ein gemeinschaftlicher Mittel-
punkt, in dem alle Teile der Gesellschaft sich vereinigen. Dieses kann durch kein
Mittel erreicht werden, welches alle die verschiedenen Vorteile des gemeinen
Wesens so wirksam beförderte als das repräsentative System.
Es konzentriert die zum Besten der Teile und des Ganzen notwendige Kenntnis.
Es setzt die Regierung in einen Zustand beständiger Reife, ist [...] niemals jung,
niemals alt [...]. Es läßt keine Absonderung zwischen Kenntnis und Macht zu und
ist, wie die Regierung immer sein sollte, über alle Zufälle des einzelnen Men-
schen, und folglich über das, was Monarchie genannt wird, erhaben.“10

9
Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. In der zeitgenössischen Übertragung von Dorothea
Margaretha Forkel. Bearbeitet und eingeleitet von Theo Stemmler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973,
S. 171
10
Ebd. S. 215 f.

10
Die monarchisch-aristokratisch-elitären Prinzipien des Regierens bewirken, dass Wissen ist Macht
die Politik immer wieder zwischen Experten und Laien, zwischen Wissenden und
Unwissenden trennt. Gleichzeitig sollen unkontrollierte, autodidaktische Zugänge
zum Wissen um politische Geschehnisse versperrt werden. An Stelle von Wissen
verschleiern pompöse Fassaden den Blick auf die Wirklichkeit. Demgegenüber
macht das wahrhaft demokratisch-republikanische Regierungssystem das Wis-
sen für alle zu seiner entscheidenden Grundlage.

„Allein das repräsentative System verbreitet eine solche Masse von Einsicht über
das Regierungswesen in der ganzen Nation, daß die Unwissenheit aufgeklärt
und der Betrug unmöglich gemacht wird. [...] Hier ist kein Raum für Mysterien,
kein Ort zu ihrem Entstehen. Diejenigen, welche nicht zur Repräsentation gehö-
ren, verstehen die Art des Geschäftes so gut als die, welche dabei sind. Jeder
Anschein geheimnisvoller Wichtigkeit würde aufgedeckt werden.
Nationen können keine Geheimnisse haben; und die Geheimnisse der Höfe,
gleich den Geheimnissen einzelner Menschen, sind immer ihre Fehler. Bei dem
repräsentativen System muß die Ursache von allem öffentlich dargelegt werden.
Jeder Mensch ist ein Eigentümer bei der Regierung und sieht es als einen not-
wendigen Teil seines Geschäfts an, sie zu verstehen. Sie betrifft seinen Vorteil,
weil sie sein Eigentum angeht. Er untersucht die Kosten und vergleicht sie mit
den Vorteilen; und vorzüglich nimmt er nicht die sklavische Gewohnheit an,
denen zu folgen, die in anderen Ländern „Führer“ genannt werden.“11

Das demokratisch-republikanische System beruht also wesentlich darauf,


dass alle Bürger um die politischen Angelegenheiten Bescheid wissen und an
ihnen Anteil nehmen.

Die Einsicht in die Möglichkeit der Manipulation des Volkes zu seinem eigenen Aufklärungsphilosophie
Nachteil bestärkte ihn jedoch in der Überzeugung, dass nur vollendete Aufklärung, gegen Ideologisierungen
das Wissen um die Vorgänge in Natur und Gesellschaft, Sensibilität gegenüber der
Sprache und gegenüber der ideologisch-theatralischen Sprache jener Politiker, die
das Volk gegen seine ureigensten Interessen zu mobilisieren trachteten, brauchbare
Mittel wären. (Und keineswegs Rückfälle in autoritäre, monarchisch-aristokrati-
sche Verhältnisse, um das „unmündige“ Volk vor sich selbst zu schützen.)

Es ging Thomas Paine um eine wahrhaft republikanische Kultur, eng verbun-


den mit einer Kultur der Arbeit, um eine umfassende republikanische Le-
bensweise, gestützt auf die produktive Arbeit aller Bürger. Das hieß aber
auch, dass alle arbeitenden Menschen zu ihrem Recht kommen und sich am
Produkt ihrer Arbeit erfreuen sollten. „Reichtum für alle“ lautete das Pro-
gramm. Die Verfassung sollte jedem Anteil an der Gestaltung des Staats-
wesens gewähren. Dies nicht als Akt einer „huldvollen“ Obrigkeit, sondern
als Akt des arbeitenden Volkes selber.

Zugleich entwickelte Thomas Paine auch ein umfassendes Programm eines Wohl- Staat als öffentlicher
fahrtsstaates: Begründet wurde dies nicht nur mit dem Hinweis auf das Recht auf Versorger
ein menschenwürdiges Leben für die Armen, sondern vor allem auch mit dem
Hinweis auf ihren hohen Anteil am Steueraufkommen. Von daher wurde das Recht
auf öffentliche Versorgung abgeleitet, für den Fall, dass sie selbst nicht in der Lage
sein sollten, für ihren Unterhalt zu sorgen. Die programmatische Losung Thomas
Paines lautete: „justice, and not charity“/„Gerechtigkeit und nicht Wohl- „Justice, and not
tätigkeit“.12 charity“

11
Ebd. S. 219 f.
12
Thomas Paine: Agrarian Justice [1797]. In: Collected Writings. Edited by Eric Foner. New York: The
Library of America 1995, S. 406

11
Anmerkungen Karl Marx [1818–1883] und Friedrich Engels [1820–1895]
über den Staat
Karl Marx und Friedrich Engels hatten in der „Deutschen Ideologie“ (geschrieben
1845–46) den Staat definiert als „die Form der Organisation, welche sich die Bour-
geoisie sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres
Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben“.13

Und im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 hieß es:


„Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen
Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.“14
Karl Marx

Friedrich Engels wies dann vor allem auf die Unterdrückungsfunktionen des
Staates hin:
„ Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu
halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so
ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die
vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel
erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“15
Friedrich Engels
Karl Marx hat in seinem Werk „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“
herausgearbeitet, dass der Kapitalismus ein gesellschaftliches System ist, das nicht
vornehmlich durch außerökonomische Gewalt aufrechterhalten wird, sondern,
einmal etabliert, sich stetig selbst reproduziert.
„Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiter-
klasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen jener Pro-
duktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation
des ausgebildeten kapitalistischen Organisationsprozesses bricht jeden Wider-
stand, [...] der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herr-
schaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare
Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den
gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den Naturgesetzen der Produk-
tion überlassen bleiben.“16

Zum Begriff der Verfassung

Definition Eine Verfassung, eine Konstitution, ist eine Summe von rechtlichen Vor-
schriften, die das politische Zusammenleben der Menschen in einem Staats-
wesen regeln; eine Verfassung ist die Ordnung des Politischen.

Die Entstehung von Verfassungen im neuzeitlichen Europa ist eng verknüpft mit
gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um absolute Fürsten-
herrschaft (von Gottes Gnaden), um die Rechte von Stände-Parlamenten, um die
Rechte des Volkes; verknüpft auch mit Fragen der neuen reformierten Religion, des
neuen Wirtschaftens, der neuen Lebensweise.

13
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 3. Berlin: Dietz, S. 62
14
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 4. Berlin: Dietz, S. 464
15
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 21. Berlin: Dietz, S. 166 f.
16
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 23. Berlin: Dietz, S. 765

12
Wir sehen wiederum am Beispiel der Auffassungen von Thomas Paine, wie Verfas- Verfassung, Republik
sung, demokratische Republik und allgemeine Wohlfahrt zusammenhängen. In und Wohlfahrt nach
Paine
„Rights of Man“ verteidigt er nicht nur die großen Revolutionen in Amerika und
Frankreich, sondern formuliert vor allem umfassende Vorstellungen von einem
republikanischen Staatswesen, das an den Interessen und Bedürfnissen seiner
Bürger orientiert und vom politischen Willen dieser Bürger getragen sein sollte.

Wenn Staat, Verfassung und Recht nicht als eine Summe von Einrichtungen und
Regeln, losgelöst von den übrigen gesellschaftlichen Bedingungen (und das heißt
allemal: von den materiellen Lebensbedingungen der Menschen) angesehen wer-
den, sondern damit unauflösbar verknüpft werden, dann entstehen auch andere,
ungewohnte, Bilder von Republikanismus, Demokratie und repräsentativen Ver-
sammlungen.
„Wenn man in einem Lande der Welt wird sagen können:
,Meine Armen sind glücklich, es herrscht weder Unwissenheit noch Elend unter
ihnen; meine Gefängnisse sind leer von Gefangenen, meine Straßen von Bettlern;
die Alten fühlen keinen Mangel, die Abgaben sind nicht drückend; die vernünf-
tige Welt ist mein Freund, weil ich der Freund ihres Glücks bin‘: wenn dieses
gesagt werden kann, so mag das Land sich seiner Konstitution und Regierung
rühmen.“17
„Was eine Republik genannt wird, ist keine besondere Regierungsform. Nach dem Definition Republik
Zweck und Wesen, weswegen die Regierung eingesetzt worden, nach den Ge-
genständen, womit sie sich beschäftigen sollte, ist eine Republik im eigentlichen
Verstande Res Publica, die öffentlichen Angelegenheiten, das öffentliche Beste,
oder buchstäblich übersetzt, die öffentliche Sache. ... Jede Regierung, die nicht
nach dem Grundsatz einer Republik verfährt, oder mit anderen Worten, die nicht
die öffentliche Sache zu ihrem ganzen und einzigen Zwecke macht, ist keine gute
Regierung. Republikanische Regierung ist nichts weiter als eine zum öffentli-
chen Besten, sowohl einzeln als zusammen genommen errichtete und geführte
Regierung.“18
„Eine Konstitution ist nicht nur ein Etwas dem Namen, sondern auch der Sache Definition Verfassung
nach. Sie hat keine eingebildete, sondern eine wirkliche Existenz, und wo sie nicht
in sichtlicher Gestalt vorgezeigt werden kann, findet sich auch keine. Eine Konsti-
tution ist ein Etwas, das der Regierung vorherging, und die Regierung ist nur das
Geschöpf der Konstitution. Die Konstitution eines Landes ist nicht das Werk der
Regierung, sondern des Volkes, das eine Regierung einsetzte.“19

Staat (oder Regierung) wird daher folgendermaßen definiert:

„Die Regierung ist nichts weiter als eine Nationalverbindung, und der Definition Staat
Zweck dieser Verbindung ist das Beste aller, sowohl einzeln als insgesamt.“20

Monarchien sowie jede Form der persönlichen Herrschaft waren für Thomas Paine
Formen von Sklaverei im absoluten Widerspruch zu jeglichem menschenwürdigen
Leben und jeglichem Menschenrecht. Daher bekämpfte er auch immer wieder alle
Tendenzen zur schleichenden Wiedereinführung persönlicher Herrschaft im Rah-
men eines nominell republikanischen und repräsentativen politischen Systems.

17
Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. In der zeitgenössischen Übertragung von Dorothea
Margaretha Forkel. Bearbeitet und eingeleitet von Theo Stemmler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973,
S. 318
18
Ebd. S. 212
19
Ebd. S. 85 f.
20
Ebd. S. 237

13
Menschenrechte Auch die Menschenrechte waren für Paine keineswegs bloß papierene Prinzipien,
dazu dienend, die Armen und Entrechteten über ihr Elend hinwegzutäuschen, eine
Fassade, hinter der die alten Formen der Willkürherrschaft sich umso besser prak-
tizieren lassen.
„Die Regierung besteht nicht in einem Kontrast zwischen Gefängnissen und
Palästen, zwischen Armut und Pracht; sie ist nicht eingesetzt, um dem Dürftigen
sein Scherflein zu rauben und das Elend der Elenden zu vermehren.“21

Bei Thomas Paine finden wir übrigens auch einen Gedanken, der uns ähnlich
formuliert bei Hans Kelsen begegnen wird (und im rechtsstaatlichen Prinzip der
österreichischen Bundesverfassung seinen Niederschlag gefunden hat):
„Denn wie in absoluten Regierungen der König das Gesetz ist, sollte in freien
Ländern das Gesetz der König sein und nichts anderes.“22

1. Was fürchteten die Besitzenden während der Englischen Revolu-


tion (1640–1660) im Zusammenhang mit einem möglichen allge-
meinen Wahlrecht?

2. Warum schließen sich die Menschen nach der Meinung von John
Locke zu einem Staatswesen zusammen?

3. Was ist eine der wichtigsten Errungenschaften im politischen Den-


ken von Thomas Paine?

4. Wie umschreibt Karl Marx in seinem Werk „Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie“ den Kapitalismus?

21
Ebd. S. 243
22
Thomas Paine: Common Sense. Übersetzt und herausgegeben von Lothar Meinzer. Stuttgart:
Reclam 1982, S. 52 f.

14
Reformation, Parlamentarismus, Anmerkungen

Kapitalismus und Revolution


Wenn wir die Entwicklungen der politischen Kultur, die relativ späte Entstehung Übergang
von Verfassung und Parlamentarismus auf dem Gebiete der Habsburgermonar- Feudalismus –
chie und des heutigen Österreich verstehen wollen, müssen wir uns die Entstehung Kapitalismus
und Zerstörung moderner Denk-, Lebens- und Wirtschaftsweisen im 16. und 17.
Jahrhundert in Zentraleuropa im Vergleich mit den Entwicklungen im Westen
Europas vor Augen halten.

Im Westen Europas führten Reformation und Revolutionen in den Nieder- Gesetzgebung geht auf
landen (Unabhängigkeit 1581) und England (Petition of Rights, 1628; Habeas- Parlament über
Corpus-Akte, 1679; Bill of Rights, 1689) zur Entstehung von Konstitutionen
und parlamentarischen Systemen. Feudalismus und Leibeigenschaft wurden
überwunden und die kapitalistische Wirtschaftsweise durchgesetzt. Die
Französische Revolution ab 1789 hatte ebensolche Folgen. Dagegen wurden
auf dem Territorium der Habsburgermonarchie, insbesondere in Böhmen
und Mähren, aber auch auf dem Gebiete des heutigen Österreich, alle Errun-
genschaften ökonomischer, politischer und religiöser Art nach 1600 wieder
rückgängig gemacht.

Die Kultur des Buches, die Kultur der Arbeit


und die Entwicklung des modernen Staates
Die protestantische Reformation kann, insbesondere in ihren radikaleren Strömun- Buchdruck und
gen, als ein umfassender Versuch der Verknüpfung von einheitlicher Weltsicht und Verbreitung von Wissen
individueller und sozialer Lebenspraxis begriffen werden. Sie ist nicht vorstellbar
ohne die Technik des Buchdrucks, die massenhafte Herstellung und Verbreitung
von Druckschriften und das eigenständige Lesen dieser Schriften. Indem die
Autorität des Klerus durch die Autorität der Bibel abgelöst werden sollte, auf
rationale und zugleich praxisorientierte Auslegung der Texte insistiert wurde,
entstand ein Prozess des dauernden Infragestellens überkommener Traditionen,
angestammter Autorität.

Es erfolgte nicht nur der Druck und die Verbreitung von Bibelübersetzungen und
religiösen Traktaten, sondern zunehmend auch (im Verlauf des 16. und zu Beginn
des 17. Jahrhunderts) der Vertrieb von Schriften, die wissenschaftlich-technische
Informationen zum Gegenstand hatten. Das Lesen und Diskutieren der biblischen
Texte und religiösen Traktate ebenso wie die Popularisierung von Wissenschaft in
der Landessprache und der Erwerb wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse
und Fertigkeiten im Selbstunterricht bedeuteten in ihrer Gesamtheit, dass Buch-
Lektüre stets auf praktische Umsetzung des erworbenen Wissens abzielte.

Im Westen Europas (in den Niederlanden und in England) ebenso wie in Zentral- Überwindung des
europa (in Böhmen und Mähren) entstanden neue Mittelklassen. Sie setzten sich Feudalismus
aus autonomen Kleinproduzenten zusammen: aus nicht länger leibeigenen, son-
dern selbstständigen freien Bauern, aus Handwerkern, die versuchten, die engen
Beschränkungen der herkömmlichen Zunft-Regulierungen zu überwinden, aus
Künstler-Ingenieuren, die Maschinen und Instrumente für Bergbau und Naviga-
tion herstellten. Sie alle sahen in der Überwindung der mittelalterlichen feudalen
Gesellschaftsordnung enorme Chancen für die Verbesserung der eigenen Lebensla-
ge. Nicht länger sollten ererbte Vorrechte, adelige Abstammung, starre und unver-

15
Anmerkungen änderbare religiöse, politische und wirtschaftliche Ordnungen der Entfaltung from-
mer, fleißiger, intelligenter arbeitender Individuen hinderlich sein. Es galt daher,
die traditionellen Monopole des Glaubens, des Wissens und der wirtschaftlichen
Vorrechte zu zerstören.

Kultur des Buches In diesem Zusammenhang entstand die neuzeitliche Kultur des Buches in Form der
individuellen Lektüre sowie der Diskussion der Inhalte (etwa in den protestanti-
schen Gemeinden, die oft auch Zentren neuer – demokratischer – Verhaltensweisen
waren, nämlich der Einübung in kollektive Diskussionen, Entscheidungsfindun-
gen, Beschlussfassungen).
Lesen zu können (was damals nicht unbedingt mit der Fertigkeit des Schreibens
verbunden sein musste) bedeutete für die einzelnen Menschen die Entdeckung und
Erschließung einer neuen Welt, das Ende der Abhängigkeit von herkömmlichen
Autoritäten, den Gewinn von Eigenständigkeit im Denken, aber auch im wirtschaft-
lichen, religiösen, politischen Handeln.
Kultur der Arbeit Der radikale Protestantismus war zugleich auch mit der Ausformung einer Kultur
der Arbeit verbunden. Dies beförderte auch die Durchsetzung der kapitalistischen
Produktionsweise, über deren künftige Gestalt allerdings noch keineswegs ent-
schieden war. Der frühe Kapitalismus barg für viele Menschen durchaus noch die
Hoffnung auf eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse und nicht nur
der Bereicherung einer Minderheit zu Lasten vieler.
Von daher kamen auch die Erwartungen bezüglich des allgemeinen Nutzens von
Wissenschaft, Technik und Arbeit; die Hoffnung auf die Gemeinsamkeit der Inter-
essen all jener Menschen, die – über alle Grenzen der Territorial-Herrschaften
hinweg – an der Verbesserung des menschlichen Daseins arbeiteten: durch neue
wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Erfindungen ebenso wie durch die poli-
tische Gestaltung der Gesellschaft.
„Ein Volk ist nicht Zugleich mit den ökonomischen und kulturellen Errungenschaften wurden in den
wegen des Fürsten, Ländern der böhmischen Krone um 1600 auch politische Theorien von der
sondern ein Fürst um Bedeutung der Ständeversammlungen und der in ihnen repräsentierten allge-
des Volkes willen
geschaffen“
meinen Volksinteressen entfaltet. Diese politischen Theorien bedeuteten ein Hin-
(Niederlande, 1581) ausgehen über die bloße Absicherung des Status quo durch Erlangung kaiserlicher
Zugeständnisse und Dekrete in Richtung einer radikalen konstitutionellen Reform.
Das Modell dafür hatten die Niederlande in ihrem Freiheitskampf gegen die
Habsburger geliefert und die politische Praxis zusammenfassend in der
Unabhängigkeitserklärung der Generalstände im Jahre 1581 theoretisch begründet.
Die darin proklamierte Vorstellung, dass nicht Fürsten von Gottes Gnaden über
erbuntertänige Völker herrschten und herrschen sollten, sondern die Repräsentan-
ten der Völker (Ständeversammlungen, Parlamente, Volksversammlungen) die
wahren Souveräne seien, bedeutete in Verbindung mit der protestantischen Reli-
gion (und zwar der radikaleren Variante und nicht der lutherischen Fürstenknecht-
schaft) und dem sich entfaltenden frühen Kapitalismus eine Bedrohung der großen
Herrscherhäuser, insbesondere der Habsburger.

16
Die Entwicklung des Staates Anmerkungen

in der Habsburgermonarchie
Gegenreformation, Absolutismus,
ökonomische Rückständigkeit
„Monarchien wie Östreich, aus ganz verschiedenartigen Völkern zusammengesetzt,
finden ihren Einheitspunkt nur darin, daß sie eine Vermögensmasse bilden, die einem
Herrn gehört.
Sie wurzeln ganz und gar in dem Prinzip theokratischer Patrimonialherrschaft, wonach
die weite Erde, mit den Menschen, die sie nährt, das Eigenthum weniger Familien ist, die
mit Völkern und mit Ländern einen privilegirten Großhandel treiben dürfen.“23
Paul Achatius Pfizer [1832]

„So war das Haus Österreich von Anfang an der Repräsentant der Barbarei, der Stabilität
der Reaktion in Europa. Seine Macht beruhte auf der Narrheit des hinter unwegsamen
Bergen verschanzten Patriarchalismus, auf der unnahbaren Brutalität der Barbarei. Ein
Dutzend Nationen, deren Sitten, Charaktere und Institutionen die grellsten Widersprü-
che bildeten, hielten zusammen kraft ihres gemeinsamen Widerwillens gegen die Zivilisa-
tion.
Daher war das Haus Österreich unüberwindlich, solange die Barbarei seiner Untertanen
unangetastet blieb. Daher drohte ihm nur eine Gefahr, das Eindringen der bürgerlichen
Zivilisation.“24
Friedrich Engels

Anfang des 17. Jahrhunderts wurde seitens des römischen Katholizismus und der Gegenreformation
mit ihm eng verbundenen Fürsten (insbesondere der Habsburger) ein wesentlich
verschärfter Kampf gegen alle Andersgläubigen und Anders- (oder Überhaupt-)
Denkenden geführt.

Was verniedlichend als „Gegenreformation“ bezeichnet wird und den Eindruck


erweckt, als wäre es hiebei um eine geistige Erneuerung im innerkatholischen Raum
und um eine argumentative Überzeugungsarbeit (mit einem Gemisch aus Kanzel-
predigten und unterhaltsam-belehrenden Theaterstücken) gegenüber den Nicht-
katholiken gegangen, war in Wirklichkeit ein andauernder Kreuzzug, der der
Ausrottung des so genannten Unglaubens und der so genannten Ketzerei dienen
sollte.
Europa war damals das Schlachtfeld eines gewaltigen Bürgerkrieges (oder viel- Bürgerkriege in Europa
mehr einer Abfolge von insgesamt durchaus zusammenhängenden kleineren und
größeren Bürgerkriegen): zwischen jenen, die für die Freiheit des Glaubens und des
Denkens, die Stärkung parlamentarischer Versammlungen und konstitutioneller
Rechte, gegen Fürstenwillkür, für die Entfaltung neuer Wirtschaftsweisen und die
Überwindung des Feudalismus standen, und jenen, die für ein Fürstentum von
Gottes Gnaden, für die Unterdrückung und Ausrottung aller vom rechten römi-
schen Glauben abweichenden Lehren, gegen Ständeversammlungen, Parlamente,
Konstitutionen sowie für die Errichtung oder Stärkung des fürstlichen Absolutis-
mus eintraten.

23
Paul Achatius Pfizer: Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des Deutschen Liberalismus [1832].
Berlin: B. Behr’s Verlag 1911, S. 361 f.
24
Friedrich Engels: „Der Anfang des Endes in Österreich.“ In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke.
Band 4. Berlin: Dietz 1959, S. 505

17
Anmerkungen Die Konflikte wurden innerhalb der einzelnen Staatswesen und über ganz Europa
hinweg ausgetragen; Sieg oder Niederlage, Stärkung oder Schwächung der einen
oder anderen Partei bestärkte oder deprimierte die entsprechende Partei in anderen
Ländern.
Für die Zeitgenossen war dies ein gewaltiger und lang andauernder Konflikt
zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwi-
schen protestantischer Glaubensvielfalt (die Andersgläubige und – etwa in den
Niederlanden – auch Atheisten tolerierte) und römisch-katholischer Zwangslehre,
zwischen Selbstständigkeit und Kreativität im Denken und sklavischer Unterwür-
figkeit.
Diejenigen, die für ein Zusammenleben in einer zivilisierten Gesellschaft eintraten,
hofften, dass der durch die menschliche Arbeit in der neuen Wirtschaftsordnung
erzeugte Reichtum auch den vielen, die an seiner Erzeugung beteiligt waren, zugute
käme; sie setzten auf eine politische Ordnung, in der im Extremfall das allgemeine
Wahlrecht gelten sollte; sie setzten auf eine demokratische Gestaltung der religiö-
sen und der politischen Angelegenheiten.
In den protestantischen Ländern im Westen Europas (in England und den Nieder-
landen) wurden parlamentarische Institutionen ausgebildet und gestärkt; konstitu-
tionelle Monarchien, ja selbst Republiken entstanden.

Die Politik der Demgegenüber war das entscheidende Ereignis und das bis heute unbewältigte
Habsburger Trauma in der neuzeitlichen Geschichte des zentraleuropäischen Raumes die von
den Habsburgern mit militärischer Gewalt durchgeführte Gegenreformation, die
zwangsweise Rekatholisierung Mitteleuropas im 17. Jahrhundert. Nach dem
Dreißigjährigen Krieg war Mitteleuropa weitgehend jene Wüste, über die Kaiser
Ferdinand lieber herrschen wollte, als über ein Reich voller Ketzer: Analphabetisie-
rung der Bevölkerung, Versklavung der Bauern in Form der „zweiten Leibeigen-
schaft“, künstliche Herstellung einer lang andauernden ökonomischen Rückstän-
digkeit, Herstellung einer absolutistischen Herrschaft extrem militärdespotischer
Art.
Unterdrückung der Die Habsburger haben in Zentraleuropa allen Ansätzen der Entwicklung einer
Errungenschaften der politischen Kultur in Richtung Konstitution, Parlamentarismus und Demokratie
Neuzeit ebenso ein Ende gemacht wie den Entwicklungen einer „Kultur des Buches“ und
einer „Kultur der Arbeit“ sowie auch den Anfängen einer kapitalistischen Wirt-
schaftsweise.

Die Habsburger waren jene europäischen Fürsten, die die längsten und
erbittertsten Kämpfe gegen alle neuzeitlichen Errungenschaften in Europa,
gegen Reformation, Aufklärung und bürgerliche Revolution geführt hatten;
und sie verdankten den Erhalt ihrer Herrschaft immer wieder wesentlich der
Anwendung militärischer Gewalt.
Im Gefolge der Gegenreformation wurde eine andauernde politische „Kul-
tur“ der Untertänigkeit und Unterdrückung und die Neigung erzeugt, jedes
abweichende Denken und Verhalten und jede Art politischer Opposition
völlig zu vernichten. Im Sinne dieser Kreuzzugsmentalität wurde nicht nur
im Innern des Habsburgerreiches jegliche kritische Regung bekämpft, son-
dern auch danach getrachtet, kein ausländisches Gedankengut hereinkom-
men zu lassen.

18
Anmerkungen
Revolutionen und ihre Folgen in Europa
Die politischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts hatten beträchtliche
ökonomische und soziale Umwälzungen mit sich gebracht. Sie waren keineswegs
bloß Auseinandersetzungen innerhalb der jeweils herrschenden Klasse; sie ermög-
lichten es einer großen Zahl (nicht der Mehrheit der Bevölkerung, aber auch nicht
nur einer ganz kleinen Gruppe), ihre materiellen Verhältnisse, ihre Lebenslage zu
verbessern, oder schufen zumindest Perspektiven, Hoffnungen auf Verbesserung
der Lebenslage.

Da mochten nach dem Ende der jeweiligen Revolution wieder Königsgeschlechter


restauriert werden, doch bei diesen politischen Restaurationen wurde ja die Dyna-
mik der durchgesetzten, wahrhaftig e n t f e s s e l t e n kapitalistischen Produk-
tionsweise nicht stillgelegt. Die Zerstörung der angestammten Feudalverhältnisse,
die beschleunigte Durchsetzung und Verbreitung kapitalistischer Wirtschaftsweise
in den Städten und auf dem Lande hatte neue Klassen von Besitzenden geschaffen,
die weder erworbenes Eigentum aufgeben noch auf politische Rechte völlig verzich-
ten wollten.

Die Französische Revolution war ein einschneidendes Ereignis für die kleine Französische Revolution
Minderheit der Herrschenden wie für die große Zahl der Beherrschten gewesen. und ihre Auswirkungen
Wieder einmal (nach dem Befreiungskampf der Niederländer gegen die Habs-
burger im 16. und frühen 17. Jahrhundert, der Englischen Revolution 1640–1660 und
der Amerikanischen Revolution nach 1776) war es gelungen, ein Regime durch
Aktionen von unten, durch Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung zu stürzen.

Die großen europäischen Mächte hatten versucht, das revolutionäre Frankreich zu


vernichten; selbst Kaiser Napoleon galt noch allemal als revolutionärer Schreckens-
mann. 1815 war es zwar der Allianz der feudalen Kontinentalmächte (Habsburger-
monarchie, Preußen, Zarenreich) mit englischer Hilfe gelungen, Napoleon mili-
tärisch zu besiegen, doch es war ein wesentlich verändertes Frankreich, in dem die
Bourbonen wieder eingesetzt wurden. In Frankreich hatten außer dem Bürgertum Bürger fordern Rechte ...
die Bauern zu den zahlenmäßig bedeutsamsten Nutznießern der Revolution ge-
hört; die Bauern waren aus Abhängigen ihrer feudalen Grundherren zu einer
Klasse von Privateigentümern geworden. Die Angehörigen der besitzenden Klas-
sen aber wünschten nicht nur die Möglichkeit der ökonomischen Bereicherung,
sondern – damit verbunden – auch politische (Mitsprache-)Rechte; also konstitu-
tionelle Rechte und parlamentarische Gremien.

Die alten und die restaurierten Herrscher hatten auf dem Wiener Kongress ein
politisches Bündnissystem geschaffen, das in Zukunft jede revolutionäre (aber am
liebsten überhaupt jede politische) Regung im Keim ersticken sollte. Doch die
Herstellung der geplanten Friedhofsruhe in Europa scheiterte in einigen großen
Ländern an den kapitalistischen Entwicklungen und dem damit verbundenen
Anwachsen des Bürgertums und der besitzenden Klassen sowie der arbeitenden
Klassen, des Proletariats.

Die politischen Revolutionen der Neuzeit (und die Erinnerung daran) be-
deuteten im noch immer weitgehend feudalen Europa des ausgehenden 18.
und frühen 19. Jahrhunderts das drohende Ende einer jeden Herrschaft von
Gottes Gnaden, die Einführung von Verfassungen (Konstitutionen), von
Parlamenten und parlamentarischer Kontrolle der Regierungen; die Einfüh-
rung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, das hieß die Unterwerfung
aller – auch der Fürsten – unter das Recht, die Einführung rechtsstaatlicher
Prinzipien.

Dort, wo ein selbstbewusstes Bürgertum oder eben selbstbewusste Klassen von ... und nehmen ihre
Grundbesitzern, Industrieunternehmern und Kaufleuten existierten, überließen sie politischen Interessen
es niemals Militärdiktatoren oder faschistischen Bewegungen, ihre Interessen stell- selbst wahr

19
Anmerkungen vertretend wahrzunehmen, Interessenskonflikte mit den arbeitenden Klassen stell-
vertretend auszutragen, sondern besorgten ihre politischen Geschäfte selber. Das
bedeutet nicht, wie es manchmal behauptet worden ist, dass Kapitalismus und
Demokratie einander gleichsam mit historischer Notwendigkeit wechselseitig ver-
bunden sind, sondern dass ökonomisch bedeutende besitzende Klassen ihre Inter-
essen stets auch selbst politisch wahrnehmen.
Dagegen können fürstlicher Absolutismus und entwickelter Kapitalismus nicht
koexistieren: Herrschaft von Gottes Gnaden und/oder gestützt auf Blut und Ab-
stammung, der selbstherrliche Fürst als Schöpfer und Spender allen Rechts und
aller Rechte – all das verträgt sich nicht mit einer „Ökonomie der Arbeit“, mit der
Vorstellung von einer Welt, in der individuelle Leistung und Vermögen weitere
Bereicherung ermöglichen sollen (ungehindert von traditionellen Feudalschran-
ken), zugleich aber auch keine politischen Verunsicherungen und Beeinträchti-
gungen der bürgerlichen Geschäftstätigkeiten durch obrigkeitliche Willkürakte
möglich sein sollen.
Kampf um Es gab daher im 19. Jahrhundert im Westen (in England und Frankreich) und im
soziale Rechte Süden Europas (in Italien) wiederkehrende Kämpfe um politische Rechte, Refor-
men, Verfassungen, aber damit vermischt (oder davon getrennt) auch bereits um
soziale Rechte.

Die kapitalistische In England, im Rahmen der höchstentwickelten kapitalistischen Gesellschaft, waren


Gesellschaft in England die herrschenden Klassen seit dem 17. Jahrhundert durchaus in der Lage, so-
wohl ihre sozio-ökonomische als auch ihre politische Stellung zu behaupten. Die
Kontrolle der Ökonomie ging Hand in Hand mit der Sicherung und dem Ausbau
der politischen Macht. Das Parlament war stets eine Versammlung der Besitzenden
gewesen, es war aber auch zum absoluten Souverän geworden; spätestens seit der
so genannten Glorreichen Revolution von 1688 mussten die Besitzenden nicht mehr
fürchten, dass es staatliche Eingriffe in die bestehenden Eigentumsverhältnisse
geben könnte (jedenfalls nicht ohne ihre Zustimmung).
In England bedurfte es keiner Leugnung der Existenz des Kapitalismus und einer
dementsprechenden Klassengesellschaft. Die Angehörigen der besitzenden und
herrschenden Klassen waren durchaus stolz darauf, Kapitalisten zu sein; sie hatten
es nicht notwendig, den Kapitalismus zu einer Angelegenheit raffgieriger „Juden“
umzudeuten (wie dies etwa in den ökonomisch relativ unterentwickelten Zonen
Kontinental-Europas geschehen ist); der Kapitalismus war ihre ureigene Angele-
genheit – sie waren seine Träger und Nutznießer. Sie hatten keine rassistische
Konzeption von der Gesellschaft, nach der „parasitäre Fremde“ das arme eigene
Volk aussaugen würden.

Das Spiel des Soweit sie einer ideologischen Legitimation bedurften, wurde der „natürliche“
freien Marktes Gang der Dinge, der Zwang der Verhältnisse, aber auch der ständige Fortschritt,
das ständige und enorme Anwachsen des Reichtums im Kapitalismus hervorgeho-
ben wie auch die Chance, die all jene, die fleißig, tüchtig, ordentlich wären, unter
den Bedingungen der sich stetig weiterentwickelnden kapitalistischen Gesellschaft
hätten; keinesfalls sollten staatliche Eingriffe den „natürlichen Gang der Dinge“
beeinträchtigen.
Es war für die Angehörigen der besitzenden und herrschenden Klassen damals
völlig klar, dass es Gegensätze zwischen Reich und Arm gab, regelrechte Klassen-
kämpfe (dies war keine Erfindung von Karl Marx, er konnte das vielmehr diversen
theoretischen Schriften und Parlamentsreden aus über anderthalb Jahrhunderten
entnehmen), und dass die Wohlhabenden ihre Position nur bewahren könnten,
wenn sie die Masse der Habenichtse systematisch (unter Einsatz der Gesetze und
der anderen staatlichen Gewaltmittel) daran hinderten, ihre Interessen klar zu
sehen und sich politisch zu organisieren.
Da es noch kein allgemeines Wahlrecht gab (und man daher nicht fürchten musste,
eventuell Wählerstimmen zu verlieren), konnte offen ausgesprochen werden, was
von den unteren sozialen Klassen zu halten und wie mit ihnen zu verfahren wäre.

20
Wie immer die Struktur der Klassenauseinandersetzungen in England im Detail Anmerkungen
beschaffen sein mochte, niemand versuchte sie anders, denn als gesellschaftliche
Konflikte mit gesellschaftlichen Ursachen zu erklären.

Anders auf dem europäischen Kontinent: Während des ganzen 19. Jahrhunderts Frankreich als
war Frankreich gleichsam ein Experimentierfeld der Weltrevolution: Die Massaker Experimentierfeld der
an den Arbeitern sowohl im Juni 1848 als auch nach der Niederwerfung der Pariser Weltrevolution
Commune 1871 sollten der beispielhaften Abschreckung der arbeitenden Klassen
dienen. Der Kapitalismus galt bei so manchen als ein Wirtschaftssystem, das,
ähnlich wie die politischen Revolutionen, dem eigentlichen Wesen des französi-
schen Volkes doch irgendwie fremd war und das im Übrigen die aufrührerischen
Massen der Industriearbeiter überhaupt erst hervorgebracht hatte.
In Frankreich waren nach der Restauration von 1815 gewisse katholische und
aristokratische Gruppierungen zutiefst enttäuscht über die Entwicklungen gewe-
sen, und es gab von Deklassierung bedrohte Teile des Bürgertums. Sie alle ver-
abscheuten die moderne Lebensweise, den Kapitalismus mit seinen ständigen Um-
wälzungen (die für so manche mindestens so arg, wenn nicht ärger als die politi-
schen Revolutionen waren), und sie sehnten eine Gesellschaftsordnung herbei, in
der auf Herkunft, Adel, Stammbäume, Blut (und Rasse) geachtet würde, in der
ererbtes Gut sicherer sein sollte als erworbenes, in der jeder auf seinem angestamm-
ten Platz in der sozialen Hierarchie blieb und daher niemand auf einen sozialen
Aufstieg hoffen durfte, aber auch niemand einen sozialen Abstieg zu befürchten
hatte. Ein christlich-aristokratisch orientierter Ständestaat, wie er angeblich einst im
Mittelalter existiert hatte, schwebte ihnen vor.
Die bestehenden sozialen Verhältnisse wurden nicht in Form von Klassen-Analysen
oder von präzisen Beschreibungen sozio-ökonomischer Prozesse dargestellt, son-
dern in Form von Bildern; von Bildern des Verfalls und Niedergangs, der Verunrei-
nigung des Blutes, der Vermischung edler mit minderen Rassen, der Einflüsse von
Geheimbünden und Verschwörungen.
Ähnliche Argumentationstypen lassen sich auch in den ökonomisch unterentwi-
ckelten Zonen Zentraleuropas, in Deutschland und in der Habsburgermonarchie
beobachten; dort wurden sie im späten 19. und im 20. Jahrhundert zu vorherrschen-
den Ideologien; in einem Lande, in dem eine bürgerliche Revolution stattgefunden
hatte, waren sie nicht mehrheitsfähig.

Zur politischen Kultur in der Habsburger-


monarchie im 19. Jahrhundert

In der Habsburgermonarchie waren die Folgerungen aus der Erfahrung der


Französischen Revolution ebenso deutlich wie einfach gewesen: Jeder Ver-
such einer Aufklärung und einer aufgeklärten Reformpolitik von oben (wie
unter Joseph II.) konnte nur zu einer Revolution von unten führen. Daher
waren sowohl die Ideen, die zu einer Aufklärung der großen Zahl der
Bevölkerung (aber auch der „Eliten“) verleiten vermochten, zu bekämpfen
und ihre Ausbreitung zu verhindern, als auch jene ökonomischen Entwick-
lungen tunlichst zu vermeiden, die im Westen zur Entstehung eines starken
Bürgertums (und auch eines stärker werdenden Proletariats) geführt hatten.

Die Politik Joseph II. kann durchaus als der groß angelegte Versuch angesehen Die Reformpolitik
werden, die ungeheuren Zerstörungen und Schäden der habsburgischen Gegenre- Josefs II.
formation zu korrigieren. Es konnte ja nicht verborgen bleiben, dass England und
die Niederlande, in denen der Protestantismus triumphiert hatte, zu den reich
gewordenen und weiterhin enorm prosperierenden Ländern zählten, während die

21
Anmerkungen Länder des gegenreformatorischen Katholizimus sich in einem vergleichsweise
elenden Zustand befanden.
Die Herstellung einer Art von Staatskirchentum römisch-katholischen Glaubens,
verbunden mit umfangreichen Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen, der Aus-
übung einer wenn auch begrenzten Toleranz gegenüber nichtkatholischen Reli-
gionsgemeinschaften und einer zweckrational orientierten elementaren Volkserzie-
hung machte unter Joseph II. den Versuch eines umfangreichen Reformprogramms
mit dem Ziel einer Art von historischer Wende aus: Anschluss finden an die west-
lichen ökonomischen Entwicklungen! Doch die josephinischen Reformprogramme
hatten weder eine breitere (oder überhaupt eine ausreichende) soziale Basis, noch
waren sie wirklich dazu angetan, eine derartige soziale Basis zu schaffen.

Rückgriff auf alte Die Nachfolger Josephs II., Leopold und Franz, wandten sich jedenfalls entschlossen
Herrschaftsmethoden gegen Aufklärung und beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung. Der „gute“
Kaiser Franz forcierte den Rückgriff auf altbewährte Herrschaftsmethoden: mili-
tärische Gewalt, Bündnis von Thron und Altar, das Dumm- und Armhalten der
Massen, die Behinderung kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung und – damit
verbunden – die Bewahrung ökonomischer Rückständigkeit.
Diese Politik war unter dem Gesichtspunkt der Machterhaltung für die Familie
Habsburg recht erfolgreich; sie verhinderte die Ausbildung quantitativ bedeuten-
der besitzender Klassen und durch die relativ geringe Industrialisierung auch das
Anwachsen einer zahlenmäßig ins Gewicht fallenden Lohnarbeiterklasse. Daher
gab es auch nur geringe politische Ansprüche und kaum die Einforderung politi-
scher (auch nur Mitsprache-)Rechte. Eine Verfassung, parlamentarische Gremien,
rechtsstaatliche Prinzipien (denen auch der Kaiser unterworfen gewesen wäre),
davon konnten bestenfalls einige Gebildete aus dem Ausland hören.
Biedermeier Dies war die Zeit, die im Rückblick so gerne als die Epoche des Biedermeier verklärt
wird: als eine Zeit der (etwas ärmlichen) Bescheidenheit, aber auch der Fröhlichkeit,
der Gemütlichkeit und des kleinen Glücks; eine Epoche, in der die Menschen noch
Zeit füreinander hatten, für das Leben in der Familie, in den kleinen überschaubaren
Räumen, den Freundeskreisen. In der Wirklichkeit erzeugte die Mischung aus
mangelndem breiterem Wohlstand und obrigkeitsstaatlicher Überwachung und
Repression jene Kultur des Biedermeier, die geradezu als wienerischer oder über-
haupt österreichischer Volkscharakter verewigt worden ist: eine Kultur des Unwis-
sens, der Enge und der Ängstlichkeit, die als ur-österreichische, u n p o l i -
t i s c h e Gemütlichkeit propagiert wurde (und wird).

Die Revolution Die Revolution von 1848 brachte auch in der Habsburgermonarchie parlamenta-
von 1848 rische Versammlungen und damit verbunden Ansätze zu konstitutionellen Ge-
setzgebungen. In der Habsburgermonarchie gelang es nicht – wie in Frankreich –,
den Monarchen vom Thron zu verjagen, und das Herrscherhaus triumphierte
schließlich mit militärischer Gewalt. Die Schlussfolgerungen des Herrscherhauses
aus den Erfahrungen der 48er-Revolution waren ähnliche wie die aus der Fran-
zösischen Revolution: Abwehr ausländischer, fremder Einflüsse, so wenig ökono-
mische Entwicklung wie möglich, sowie Unterdrückung. Darüber hinaus zeigte es
sich, dass die Unterschiede und Gegensätze sozialer wie nationaler Art gegenein-
ander ausgespielt – und zu Gunsten des habsburgischen Herrscherhauses benutzt –
werden konnten.

Das Staatsgrundgesetz 1867


Verfassungen zur In der Habsburgermonarchie waren Verfassungen und die Schaffung parlamentari-
Sicherung der absoluten scher Einrichtungen keineswegs das Ergebnis bürgerlicher Revolutionen oder Aus-
Herrschaft des Kaisers druck der ökonomischen oder politischen Stärke einer sozialen Klasse wie in
Frankreich, England oder den USA. Zwar wurden von den absolutistischen Regie-
rungen, die als Handlanger der kaiserlichen Interessen auftraten, zwischen 1849

22
und 1867 mehrere Verfassungsexperimente unternommen, aber nur wenn man Anmerkungen
mit Krisen (revolutionäre Strömungen, militärische Niederlagen, Finanzkrisen)
fertig werden musste. Und selbst dann mit möglichst geringer Rücksichtnahme auf
die Bedürfnisse des Volkes und ohne Mitspracherecht seiner Vertreter. Diese „Ver-
fassungen“ dienten ausschließlich der Sicherung des Thrones. Das gilt auch für
jene Verfassung, die 1867 als Konsequenz des Ausgleichs mit Ungarn für die
österreichische Reichshälfte (alle habsburgischen Länder, die nicht zum ungari-
schen Herrschaftsbereich gehörten) in Kraft trat.

Die Verfassungen im österreichischen Kaiserreich waren nicht das Ergebnis


bürgerlicher Revolutionen oder der Stärke einer sozialen Klasse, sondern
wurden vom Monarchen und seiner Regierung zum Schutz ihrer Herrschafts-
interessen erlassen.

Die ungarischen Magnaten wollten schon immer völlige Unabhängigkeit von der Ausgleich mit Ungarn
Wiener Zentralverwaltung, was die Regelung der inneren Angelegenheiten ihrer
Einflusssphäre betraf. Nur bei entsprechenden Zugeständnissen waren sie bereit,
den Habsburger Monarchen als ihren König anzuerkennen. Mitglieder der Wiener
Zentralregierung führten im Auftrag des Kaisers mit den Ungarn jahrelang Ver-
handlungen, um den schwelenden Konflikt beizulegen. Der Erfolg für die magya-
rische Führungsschicht stellte sich aber erst nach der militärischen Niederlage
Österreichs im Krieg gegen Preußen (1866) ein, weil die Stabilisierung der Herr-
schaft des Kaisers im Inneren wesentlich von der Anerkennung seines Herrschafts-
anspruchs durch die Magnaten abhing.
Der so zu Stande gekommene Ausgleich mit Ungarn führte zur Schaffung der
Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Entsprechend ihren Forderungen erhielt
die magyarische Führungsschicht die absolute Kontrolle im Inneren Ungarns: eine
eigene Regierung (mit Finanzhoheit für die Länder der ungarischen Stephans-
krone), eine eigene Verwaltung und ein eigenes Parlament. Als Gegenleistung er-
kannten die Ungarn die Kontrolle des Kaisers über Außenpolitik und Militär sowie
seine Finanzhoheit für diese Bereiche an. Es gab demnach drei Ministerien, die für
beide Reichshälften zuständig waren.
Der Ausgleich mit Ungarn brachte der Habsburgermonarchie eine Art „Reichsver-
fassung“, die einen Kompromiss zwischen den Interessen des Kaiserhauses und
den Interessen der ungarischen Führungsschicht darstellte.
Da alle bisherigen „Verfassungsgesetze“ theoretisch für die Gesamtmonarchie Dezembergesetze 1867
gegolten hatten, wurden nach Abschluss des Ausgleichs mit Ungarn neue Rege-
lungen für die österreichische Reichshälfte, also Cisleithanien, notwendig. Diese
Neuregelung erfolgte durch die „Dezembergesetze“ von 1867.
Durch die „Dezemberverfassung“ erhielt die österreichische Reichshälfte ein aus Direkte Wahl in den
zwei Häusern bestehendes Parlament, wobei nun wenigstens der eine Teil, das Ab- Reichsrat 1867
geordnetenhaus, direkt gewählt wurde (allerdings nach einem Zensuswahlrecht,
das nicht nur Besitzlose, sondern auch einen Teil des Bürgertums ausschloss).
Der „Reichsrat“ hatte keinerlei Kontrollgewalt über die kaiserliche Regierung und Allgemeines Wahlrecht
damit nur wenig Einfluss auf deren Politik. Mit der Einführung des allgemeinen 1907
Wahlrechts 1907 wurde der Einfluss zwar etwas größer, doch nur für kurze Zeit:
fünf Jahre danach berief man den Reichsrat einfach nicht mehr ein.
Von größerer Bedeutung als die Einführung des stark beschränkten Wahlrechts war Staatsgrundgesetz 1867
aber jener Katalog der Grund- und Freiheitsrechte, der durch die „Dezemberver-
fassung“ zugestanden und im „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der
Staatsbürger“ niedergelegt wurde.

23
Anmerkungen
Die wichtigsten Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes:

● „Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich.“ (Artikel 2)


● „Die Freiheit der Person ist gewährleistet.“ (Artikel 8)
● „Das Hausrecht ist unverletzlich.“ (Artikel 9)
● „Wahrung des Briefgeheimnisses.“ (Artikel 10)
● „Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, sich zu versammeln
und Vereine zu bilden.“ (Artikel 12)
● „Jedermann hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bild-
liche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken
frei zu äußern.“ (Artikel 13)
● „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ (Artikel 17)

1918 – Die Republik übernahm das Staatsgrundgesetz nach 1918 in ihre Verfassung, deren
Die Republik übernimmt Bestandteil es auch heute noch ist. Ein Artikel allerdings wurde nach 1918 außer
das Staatsgrundgesetz Kraft gesetzt, der Artikel 20, der folgendermaßen lautete: „Über die Zulässigkeit der
zeitweiligen und der örtlichen Suspension der in den Artikeln 8, 9, 10, 12 und 13
enthaltenen Rechte durch die verantwortliche Regierungsgewalt wird ein besonde-
res Gesetz bestimmen.

Staat, Recht und Rechtswissenschaft


in der späten Habsburgermonarchie
(am Beispiel von Hans Kelsen)
Im Jahre 1913 setzte sich Hans Kelsen in mehreren Aufsätzen mit Fragen der Rechts-
staatlichkeit und der Verfassung auseinander. Dabei machte er auch deutlich, wel-
che Aufgaben einer Rechtswissenschaft zukommen sollten und wie Rechtswissen-
schaft aktuell zur ideologischen Rechtfertigung bestehender Herrschaft diente.
Kelsen schrieb seine Artikel zu einer Zeit, zu der selbst das schwächliche Parlament
als maßlose Instanz des Volkswillens galt. In Kreisen des Hofes und der militäri-
schen Führungsspitze gab es immer wieder Visionen von der Auschaltung des
Parlaments, verbunden mit „entschlossenem militärischem Handeln“ gegen alle
Hans Kelsen
„Elemente“, die als „nicht staatstragend“ eingestuft wurden. Es ging dabei gegen
die vorhandenen demokratischen Ansätze, gegen die Arbeiterbewegung, gegen die
Die politische Situation „frechen Slawen“, die die deutsche Vorherrschaft bedrohten, aber bei Bedarf auch
gegen die Ungarn (wenn deren herrschende Klasse sich allzu keck gegenüber dem
„angestammten“ Herrscherhause verhielt). Der alte Kaiser sollte mit Hilfe des Mi-
litärs handeln und seinen Staat vermittels eines Staatsstreiches, der den monarchi-
schen Absolutismus wiederherstellen sollte, vor den vielfältigen, ihm drohenden
Gefahren retten.
Charakteristisch für diese Stimmung ist ein im Jahre 1913 erschienener Roman mit
dem Titel „Quo vadis, Austria?“, in dem der Autor dem Kaiser empfehlen lässt:
„ Er soll mit eiserner Faust der Hydra den
Kopf zerschmettern und die nicht vergessen, die
seines Wortes harren.
Und soll mit Blut und Feuer Ilions Wiedergeburt
feiern – denn anders geht es nicht.
Und soll auf seine Offiziere bauen und auf
seine alte Armee.“25

25
Wolfgang Sieber: Quo vadis, Austria? Berlin: „Vita“ Deutsches Verlagshaus 1913, S. xii

24
Gleichzeitig waren diverse Rechtsgelehrte eifrig bemüht, die bestehenden rechts- Rechtswissenschaft
staatlichen Normen, die konstitutionellen Regeln, zu Gunsten obrigkeitlicher als Ideologie zur
Legitimation von
Willkür umzuinterpretieren. Herrschaft
In einem Aufsatz mit dem Titel „Politische Weltanschauung und Erziehung“ setzt
Kelsen sich mit Fragen der politischen Bildung auseinander, wobei seine Fest-
stellungen auf fatale Weise aktuell klingen. Für die Zeit um 1900 stellt er fest:
„Man konnte – und man kann auch jetzt noch – sich ohne Widerrede zu den
,Gebildeten‘ zählen, ohne auch nur die primitivsten politischen Kenntnisse zu
besitzen.“26
Und:
„Wird die Unkenntnis politischer Tatsachen ohne weiteres geduldet, weil gar
nicht gefordert, so wird politische Überzeugung und politische Betätigung sei-
tens der Gebildeten oft direkt oder indirekt abgelehnt; nicht zuletzt mit dem
Hinweis darauf, daß es gerade nicht die Gebildetsten sind, die heute im poli-
tischen Leben den Ton angeben. Die Flucht vor der Politik ist ein allgemeines
Schlagwort.“27

So sehr für jede Herrschaft der mögliche Rückgriff auf die offene Gewaltanwendung Legitimation von
von entscheidender Bedeutung ist, so sehr war und ist auch ein jegliches modernes Staatsgewalt
Staatswesen bemüht gewesen, in irgendeiner Weise (zumindest den Anschein von)
Legitimität zu erzeugen; bei der Bevölkerung zumindest Duldung (besser aber:
Anerkennung der Berechtigung) der jeweils bestehenden Herrschaft zu erreichen.
Die Erklärung der Berechtigung von Herrschaft ist in den parlamentarischen Demo-
kratien mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts ein wenig in den Hinter-
grund getreten – in allen früheren und anderen politischen Systemen hingegen
spielt dies eine bedeutende Rolle.
Dabei geht es im modernen, im neuzeitlichen Staat zunehmend um die Rechtsför-
migkeit von Herrschaft, die der Legitimation der Herrschaft dient. Das heißt, dass
auch schon in den absoluten Monarchien der frühen Neuzeit Gesetze und Gerichts-
barkeit, die rechtsförmige Austragung von Konflikten unter sozial Gleichgestellten,
aber zunehmend auch zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Klassen
enorm an Bedeutung gewonnen haben. Damit aber war auch die schließliche
Ausdehnung der Geltung der Gesetze auf alle Angehörigen eines Staatswesens
angelegt, also auch auf die Herrschenden.
Nun bestand in der Habsburgermonarchie einerseits durchaus eine weitgehende
Verrechtlichung (vor allem im Bereiche der privaten Rechtsgeschäfte), andererseits
aber auch stets die Möglichkeit des Monarchen und seiner Regierung, bei der
Besorgung der Staatsgeschäfte Willkür walten zu lassen.

Hans Kelsen war bemüht, auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft rationale Wirkungsbereich der
Argumente zu finden, die der Eindämmung obrigkeitlicher Willkür dienen Gesetze soll sich auf
konnten. Dabei hatte er gegen Juristenmeinungen anzukämpfen, die besag- alle Staatsangehörigen
erstrecken
ten, dass die Exekutive (sprich: der Monarch, die Regierung und der Verwal-
tungsapparat) „auf allen vom Gesetze nicht erfassten Gebieten Rechtssätze
aufstellen“28 könnte.

Gegen alle Bestrebungen, der Exekutive einen Freiraum der rechtsschöpferischen Gesetzgebung als
Tätigkeit zu verschaffen, sei es durch rechtstheoretische Begründungen, sei es ausschließliche Quelle
mittels Blankovollmachten und – inhaltsleeren – Ermächtigungsgesetzen wandte des Staatswillens

26
Hans Kelsen: „Politische Weltanschauung und Erziehung“. In: Annalen für soziale Politik und
Gesetzgebung (1913). S. 1
27
Ebd. S. 2
28
Hans Kelsen: „Zur Lehre vom Gesetz im formellen und materiellen Sinn, mit besonderer Berücksich-
tigung der österreichischen Verfassung.“ In: Juristische Blätter, Nr. 20 (18. Mai 1913). S. 232

25
Anmerkungen sich Kelsen. Dabei war es schon klar, dass er dies keineswegs in direktem Angriff
gegen die Person des Monarchen und die Hofkamarilla tun konnte; er benützte im
Gegenteil sogar das Argument der Erhaltung der staatlichen Einheit, des einheitli-
chen Staatswillens, um auf das Prinzip der Konstitution und der Herrschaft der
Gesetze umso mehr bestehen zu können.

„Daß die Gesetzgebung als die einzige und auschließliche Quelle des Staatswil-
lens betrachtet werden muß, hat seinen Grund in der Notwendigkeit eines
einheitlichen Staatswillens.
Nähme man etwa neben der Gesetzgebung, das ist dem Prozesse, der durch das
Zusammenwirken von Parlament und Monarch entsteht, noch einen zweiten
selbständigen und von dem ersteren unabhängigen Ausgangspunkt des Staats-
willens an, etwa den Monarchen allein, dann wäre die Annahme einer einheitli-
chen Staatsperson mangels eines einheitlichen Staatswillens nicht möglich.“29

Kelsen fährt an dieser Stelle fort:


„Denn, sind beide Willenszentren tatsächlich voneinander unabhängig, ist die
Möglichkeit eines Widerspruches zwischen beiden Willensäußerungen gegeben
und damit jede Konstruktion einer Staatsperson unmöglich. Glaubt man durch
eine Kompetenzabgrenzung zwischen beiden Abhilfe schaffen zu können, so ist
zu bemerken, daß darin eine arge Selbsttäuschung gelegen ist, da diese Abgren-
zung von der einen der beiden Willensquellen ausgehen müßte, womit die Un-
abhängigkeit der anderen unvereinbar wäre.“30

Und er kommt zu dem Schluss:

Keine Rechtsordnung „Für die österreichische Verfassung muß somit an dem Grundsatze festge-
ohne formelles Gesetz halten werden, daß die Rechtsordnung nur in Form des Gesetzes Verände-
rungen erfahren darf, daß zum Erlaß von Rechtsverordnungen eine gesetz-
liche Ermächtigung notwendig ist. Die österreichische Verfassung ist die
vollkommene Realisierung des Prinzips, daß alles materielle Gesetz ein for-
melles Gesetz sein muß, außer wenn in einem formellen Gesetz die Delega-
tion an die Exekutive ausgesprochen ist. Und sofern die Bedeutung solcher
Delegation für die juristische Konstruktion erkannt ist, kann auch die öster-
reichische Verfassung zur Exemplifikation des Dogmas dienen: daß die not-
wendige Form des Rechtssatzes das Gesetz ist.“31

In diesem Zusammenhang können wir übrigens auch sehen, woher die Betonung
des Formellen, des korrekten Verfahrens, der strengen Einhaltung von Spielregeln
(die dann nach 1918 so wichtig für die neue Bundesverfassung werden soll) eigent-
lich kommt: Für die politisch Ohnmächtigen, für die sozial Schwachen ist es un-
geheuer wichtig, dass die Mächtigen sich wenigstens an die formalen Spielregeln
halten (müssen). Wo und wann immer daher eine Verächtlichmachung des „nur“
Formalen, der „inhaltsleeren“ Verfahrensregeln vorkommt, kann angenommen
werden, dass selbst der Schutz, den die Schwachen durch Einhaltung von Verfah-
rensregeln genießen, beseitigt werden soll.

Gegen Opportunismus Hans Kelsen hat sich in einem weiteren Aufsatz – „Rechtsstaat und Staatsrecht“ –
in der Rechtswissen- in der „Österreichischen Rundschau“ mit Tendenzen juristischer Lehrmeinungen
schaft auseinandergesetzt, die auf eine Rückkehr zur absolutistischen Herrschaft bzw.
auf deren Legitimierung abzielten. Dabei wird auch deutlich, was seine Auffassung
von Rechtswissenschaft von der anderer Juristen unterscheidet: die Rechtswissen-

29
Ebd. S. 231
30
Ebd.
31
Ebd. S. 232

26
schaft sollte nicht der ideologischen Rechtfertigung der jeweils gerade vorherr- Anmerkungen
schenden politischen Tendenz dienen. Kelsen verurteilt heftig jene Juristen, die
unter dem Deckmantel der Objektivität hemmungslosem Opportunismus huldigen.
„... niemals hat selbst die schrankenloseste Staatsgewalt darauf verzichtet, sich
das Mäntelchen einer Rechtsterminologie umzuhängen, und es haben sich zu
allen Zeiten Juristen gefunden, die vielleicht ohne Täuschungsabsicht, sicherlich
aber nicht ohne Täuschungserfolg, selbst die schrankenloseste, sich bewußt über
die Rechtsordnung stellende Staatsgewalt mit den Mitteln der Begriffsdehnung
und Begriffsverschiebung als Staatsrecht bezeichnet, und dieser Gewalt mit dem
Namen auch den Schein und Geltungsanspruch des Rechtes zugesprochen ha-
ben.“32

Dem stellt Kelsen als rechtswissenschaftliche Aufgabe auf dem Gebiete der Staats- Die Aufgabe der
rechtslehre gegenüber: Staatsrechtslehre

„Den Staat im ganzen Umfang seiner Tätigkeiten, seiner zahlreichen ver-


schiedenartigen Machtäußerungen als Rechtspersönlichkeit konstruieren,
das ist das Fundament des Staatsrechtes, dessen logische Voraussetzung der
Rechtsstaat ist.“33

„,Rechtsstaat‘ natürlich nicht im Sinne eines auf Strafe und Exekutionsgewalt,


auf den Gerichtsapparat beschränkten Staates, sondern ,Rechtsstaat‘ im Sinne
eines in allen seinen Tätigkeiten, durch die Rechtsordnung determinierten, nach
allen wesentlichen Richtungen juristisch begreifbaren Staates, das ist die Idee des
Rechtsstaates ...“34

Er argumentiert durchaus historisch, indem er darauf verweist:


„Schritt für Schritt ist die Staatsgewalt der Rechtsordnung unterworfen worden.
Erst in vermögensrechtlicher Beziehung: der Staat als Fiskus; dann ist aber die
Forderung erhoben worden, auch die spezifisch herrschaftlichen Beziehungen
des Staates zu den Untertanen unter die Rechtsordnung zu beugen und damit die
Denkmöglichkeit zu schaffen, die herrschaftlichen Funktionen des Staates als
Inhalt von Rechtspflichten und Berechtigungen zu begreifen und den Staat dabei
dennoch als Träger der verpflichtenden und berechtigenden Rechtsordnung
vorzustellen.“35
„Und doch sind Stimmen laut geworden, welche die Rechtsstaatsidee für über-
wunden erklären und ein modernes Staatsrecht für möglich, ja für notwendig
halten, das den Rechtsstaat nicht mehr zu seiner Voraussetzung hat. Sie weisen
auf die Verwaltung des modernen Staates, die in ihrer Vielseitigkeit, die mit ihren
mannigfachen und zahlreichen Zwecken sich einer rechtlichen Reglementierung
[...] ihrer Natur nach entziehe. [...] Die Verwaltung wird als die ,freie‘ Tätigkeit
des Staates zur Erfüllung seiner Zwecke definiert.“36

Kelsen hat diese Neigungen dahingehend charakterisiert:


„Man strebt für einen Teil der Staatsgewalt Absolutismus an, will aber auch für
diesen Teil nicht auf die Terminologie des Rechtes verzichten.“37

Er entlarvt „das Bestreben, die hoheitliche Tätigkeit des Staates, die nicht Rechts-

32
Hans Kelsen: „Rechtsstaat und Staatsrecht.“ In: Österreichische Rundschau, Band XXXVI (Juli–
September 1913). S. 89
33
Ebd. S. 91
34
Ebd.
35
Ebd. S. 90 f.
36
Ebd. S. 91
37
Ebd. S. 93

27
Anmerkungen sprechung und nicht Gesetzgebung ist, in eine rechtsfreie Sphäre zu rücken“,38
als auf einer Vorstellung beruhend, „die in dem Ideenkreise des absoluten Poli-
zeistaates wurzelt [...]: daß die Staatsperson allen übrigen Subjekten übergeord-
net ist, während diese einander gleichgeordnet sind“.39

Doch Kelsen besteht darauf:

Nach dem Rechtsstaatsprinzip ist „das einzig rechtlich relevante Über- oder
Unterordnungsverhältnis das zwischen den Rechtssubjekten und der
Rechtsordnung“.40

Was Hans Kelsen noch vor dem Ersten Weltkrieg diskutiert hat, ist nach dem Krieg
in die Rechtsordnung der neuen Republik eingeflossen.

5. Wodurch zeichnete sich die Politik der österreichischen Habsbur-


ger seit dem 17. Jahrhundert aus?

6. Was zeichnete die kapitalistische Gesellschaft in England aus?

38
Ebd.
39
Ebd.
40
Ebd.

28
Anmerkungen
7. Wodurch waren die Verfassungen in der Habsburgermonarchie
nach 1848 gekennzeichnet?

8. Was sind die wichtigsten Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes?

9. Worum hat sich Hans Kelsen in seinen rechtstheoretischen Arbei-


ten in der späten Habsburgermonarchie besonders bemüht?

29
Anmerkungen
Beantwortung der Fragen
F 1: Die Reichen befürchteten, dass die Masse der Habenichtse, einmal im Parla-
ment vertreten, die Minderheit der Besitzenden auf dem Wege parlamentari-
scher Beschlüsse enteignen und eine Gleichheit an Besitz herstellen könnte.
F 2: „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staats-
wesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist [....] die
Erhaltung ihres Eigentums“ (John Locke).
F 3: Die Einsicht, dass alle staatlichen Vorgänge durch das Geld der Steuerzahler
– und nur dadurch – ermöglicht werden, und dass auch die Ärmsten der
Armen durch ihre Steuerbeiträge daran Anteil haben. Von daher wird die
Teilhabe aller an der Politik begründet.
F 4: Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches System, das nicht vornehmlich
durch außerökonomische Gewalt aufrechterhalten wird, sondern, einmal
etabliert, sich stetig selbst reproduziert.
F 5: Die Habsburger haben in Zentraleuropa allen Ansätzen der Entwicklung
einer politischen Kultur in Richtung Konstitution, Parlamentarismus und
Demokratie sowie auch den Anfängen einer kapitalistischen Wirtschafts-
weise ein Ende gemacht.
Die Folgen waren: Herstellung einer absolutistischen Herrschaft extrem mili-
tärdespotischer Art; Analphabetisierung der Bevölkerung, Versklavung der
Bauern in Form der „zweiten Leibeigenschaft“, künstliche Herstellung einer
lang andauernden ökonomischen Rückständigkeit.
Im Gefolge der Gegenreformation wurde eine andauernde politische „Kul-
tur“ der Untertänigkeit und Unterdrückung und die Neigung erzeugt, jedes
abweichende Denken und Verhalten und jede Art politischer Opposition
völlig zu vernichten. Im Sinne dieser Kreuzzugsmentalität wurde nicht nur
im Innern des Habsburgerreiches jegliche kritische Regung bekämpft, son-
dern auch danach getrachtet, kein ausländisches Gedankengut hereinkom-
men zu lassen.
F 6: In England, im Rahmen der höchstentwickelten kapitalistischen Gesellschaft,
waren die herrschenden Klassen seit dem 17. Jahrhundert durchaus in der
Lage, sowohl ihre sozio-ökonomische als auch zugleich ihre politische Stel-
lung zu behaupten; die Kontrolle der Ökonomie ging Hand in Hand mit der
Sicherung und dem Ausbau der politischen Macht.
Das Parlament war stets eine Versammlung der Besitzenden; es war zum ab-
soluten Souverän geworden; seit 1688 mussten die Besitzenden nicht mehr
fürchten, dass es staatliche Eingriffe in die bestehenden Eigentumsverhältnis-
se geben könnte (jedenfalls nicht ohne ihre Zustimmung).
In England gab es keine Leugnung der Existenz des Kapitalismus und einer
dementsprechenden Klassen-Gesellschaft. Die Angehörigen der besitzenden
und herrschenden Klassen waren stolz darauf, Kapitalisten zu sein. Für sie
war es völlig klar, dass es Klassenkämpfe gab, und dass die Wohlhabenden
ihre Position nur bewahren könnten, wenn sie die Masse der Besitzlosen
systematisch daran hinderten, ihre Interessen klar zu sehen und sich politisch
zu organisieren.
F 7: In der Habsburgermonarchie waren Verfassungen und die Schaffung par-
lamentarischer Einrichtungen keineswegs das Ergebnis bürgerlicher Revo-
lutionen oder Ausdruck der ökonomischen oder politischen Stärke einer
sozialen Klasse wie in Frankreich oder England. Zwar wurden von den
absolutistischen Regierungen zwischen 1849 und 1867 mehrere Verfassungs-
experimente unternommen, aber nur wenn man mit Krisen (revolutionäre
Strömungen, militärische Niederlagen, Finanzkrisen) fertig werden musste.
Diese „Verfassungen“ dienten ausschließlich der Sicherung des Thrones. Das
gilt auch für jene Verfassung, die 1867 als Konsequenz des Ausgleichs mit

30
Ungarn für die österreichische Reichshälfte (alle habsburgischen Länder, die Anmerkungen
nicht zum ungarischen Herrschaftsbereich gehörten) in Kraft trat.
Die Verfassungen im österreichischen Kaiserreich wurden vom Monarchen
und seiner Regierung zum Schutz ihrer Herrschaftsinteressen erlassen.
F 8: „Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich.“ (Artikel 2)
„Die Freiheit der Person ist gewährleistet.“ (Artikel 8)
„Das Hausrecht ist unverletzlich.“ (Artikel 9)
„Wahrung des Briefgeheimnisses“. (Artikel 10)
„Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, sich zu versammeln und
Vereine zu bilden.“ (Artikel 12)
„Jedermann hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche
Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu
äußern.“ (Artikel 13)
„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ (Artikel 17)
Der Artikel 20 allerdings (der nach 1918 außer Kraft gesetzt wurde) lautete:
„Über die Zulässigkeit der zeitweiligen und der örtlichen Suspension der in
den Artikeln 8, 9, 10, 12 und 13 enthaltenen Rechte durch die verantwortliche
Regierungsgewalt wird ein besonderes Gesetz bestimmen“.
F 9: Hans Kelsen war bemüht, auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft rationale
Argumente zu finden, die der Eindämmung obrigkeitlicher Willkür dienen
konnten. Er wandte sich gegen alle Bestrebungen, der Regierung einen Frei-
raum der rechtsschöpferischen Tätigkeit zu verschaffen, sei es durch rechts-
theoretische Begründungen, sei es mittels Blankovollmachten und – inhalts-
leeren – Ermächtigungsgesetzen.
Er entlarvt „das Bestreben, die hoheitliche Tätigkeit des Staates, die nicht
Rechtssprechung und nicht Gesetzgebung ist, in eine rechtsfreie Sphäre zu
rücken“, als auf einer Vorstellung beruhend, „die in dem Ideenkreise des
absoluten Polizeistaates wurzelt [...]: daß die Staatsperson allen übrigen
Subjekten übergeordnet ist, während diese einander gleichgeordnet sind“.
Nach dem Rechtsstaatsprinzip ist „das einzig rechtlich relevante Über- oder
Unterordnungsverhältnis das zwischen den Rechtssubjekten und der Rechts-
ordnung“.

31
BRIEFSCHULE
SOZIALRECHT ARBEITSRECHT

SR-1 Grundbegriffe des Sozialrechts AR-1 Kollektive Rechtsgestaltung im Arbeits-


recht
SR-2 Geschichte der sozialen Sicherung AR-2A Betriebliche Interessenvertretung
SR-3 Sozialversicherung – Beitragsrecht AR-2B Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates
AR-2C Rechtstellung des Betriebsrates
SR-4 Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil
AR-3 Arbeitsvertrag
SR-5 Pensionsversicherung II: Leistungsrecht AR-4 Arbeitszeit
SR-6 Pensionsversicherung III: Pensionshöhe AR-5 Urlaubsrecht und Pflegefreistellung
AR-6 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
SR-7 Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil AR-7 Gleichbehandlung im Arbeitsrecht
SR-8 Krankenversicherung II: Leistungsrecht AR-8A Arbeitnehmerschutz I:
Überbetrieblicher Arbeitnehmerschutz
SR-9 Unfallversicherung AR-8B Arbeitnehmerschutz II:
SR-10 Arbeitslosenversicherung I: Innerbetrieblicher Arbeitnehmerschutz
Allgemeiner Teil AR-9 Beendigung des Arbeitsverhältnisses
AR-10 Arbeitskräfteüberlassung
SR-11 Arbeitslosenversicherung II:
Leistungsrecht AR-11 Betriebsvereinbarung
AR-12 Lohn(Gehalts)exekution
SR-12 Insolvenz-Entgeltsicherung
AR-13 Berufsausbildung
SR-13 Finanzierung des Sozialstaates AR-14 Wichtiges aus dem Angestelltenrecht
SR-14 Pflegesicherung AR-15 Betriebspensionsrecht I: Allgemeiner Teil
AR-16 Betriebspensionsrecht II: Direkte
SR-15 Sozialhilfe Leistungszulage
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laufend aktualisiert. laufend aktualisiert.

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1 Was sind Gewerkschaften? Struktur und GK-3C Vom 1. bis 14. Bundeskongress
Aufbau der österreichischen Gewerkschafts-
bewegung GK-4 ÖGB-Statuten, Geschäftsordnung des ÖGB
GK-2 Geschichte der österreichischen Gewerk- GK-5 Geschichte und Politik des ÖGB seit 1982
schaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 mit Auszügen aus den Beschlüssen des
GK-3A Geschichte der österreichischen Gewerk- letzten ÖGB-Bundeskongresses
schaftsbewegung in der Zweiten Republik,
Teil 1: ÖGB 1945 bis 1955 GK-6 Zum System der Arbeitnehmervertretung
in Österreich: ÖGB, Gewerkschaften,
GK-3B Geschichte der österreichischen Gewerk- Arbeiterkammern, Sozialpartnerschaft
schaftsbewegung in der Zweiten Republik,
Teil 2: ÖGB 1956 bis 1982 GK-7 Die Kammern für Arbeiter und Angestellte

Anmeldungen zur Briefschule des ÖGB


ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit, Kultur
1010 Wien, Hohenstaufengasse 10–12 • Telefonische Auskunft 01 / 534 44 / 444 Dw.
ÖGB-/AK-Fernlehrgang
Der Fernlehrgang ist für alle, die nicht an gewerkschaftlichen Seminaren teilnehmen können,
gedacht. Durch den Fernlehrgang bietet der ÖGB die Möglichkeit, sich gewerkschaftliches
Grundwissen im Selbststudium anzueignen. Teilnehmen können gewerkschaftliche
FunktionärInnen der Arbeitnehmervertretung und interessierte Gewerkschaftsmitglieder. Die
Skripten können auch als Schulungsmaterial für Seminare und Vorträge verwendet werden.

● Wie nehme ich teil?


Es sind keine besonderen Vorkenntnisse nötig, einfach anrufen oder E-Mail senden. Die Ab-
wicklung erfolgt per Post oder E-Mail, Anpassung an individuelles Lerntempo – ständige
Betreuung durch das ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit und Kultur. Die Teilnahme ist für
Gewerkschaftsmitglieder kostenlos. Nach Absolvierung einer Skriptenreihe erhält der/die
KollegIn eine Teilnahmebestätigung.

● Was sind Themen und Grundlagen?


Über 100 von Spezialisten gestaltete Skripten, fachlich fundiert, leicht verständlich, zu folgen-
den Themenbereichen: • Gewerkschaftskunde • Politik und Zeitgeschehen • Sozialrecht •
Arbeitsrecht • Wirtschaft–Recht–Mitbestimmung • Internationale Gewerkschaftsbewegung •
Wirtschaft • Praktische Gewerkschaftsarbeit • Humanisierung–Technologie–Umwelt

Zudem übermitteln wir gerne


einen Folder mit dem jeweils
aktuellen Bestand an Skripten und
stehen für weitere Informationen
zur Verfügung.
● Informationen und Bestellung
der ÖGB-/AK-Skripten
Für die Bestellung ist Kollegin Margarita
Skalla (ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit,
Kultur, 1011 Wien, Hohenstaufengasse 10–12)
zuständig:
Tel. 01/534 44/444 Dw.
Fax: 01/534 44/597 Dw.
E-Mail: margarita.skalla@oegb.or.at
Kollege Michael Vlastos ist für inhaltliche
Fragen zu kontaktieren:
Tel. 01/534 44/441 Dw.
E-Mail: michael.vlastos@oegb.or.at

Auf der ÖGB-Homepage findet sich


ebenfalls eine Übersicht der Skripten:
oegb.or.at/referate/bfk/index.htm
– Bildungsreferat anklicken –
Betriebsräte – Fernlehrgang 2000
Name und Adresse: Anmerkungen

Fragen zu
Politik und Zeitgeschehen 7
Wir ersuchen Sie, die folgenden Fragen zu beantworten:*

1. Was ist eine Verfassung?

2. Was führte zur Entstehung des modernen Staates?

3. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse im politischen Denken von Thomas Paine?

35
Anmerkungen 4. Was bedeuteten die politischen Revolutionen der Neuzeit im Westen (in den
Niederlanden, in England und Frankreich) für die übrigen Gebiete Europas Ende
des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?

5. Wie wirkte sich die Politik der österreichischen Habsburger seit dem 17. Jahr-
hundert aus?

6. Nennen Sie die Kernaussagen der rechtstheoretischen Arbeiten von Hans Kelsen!

* TeilnehmerInnen am Fernlehrgang bitten wir, nach Abschluss der Fragenbeant-


wortung die Seite(n) mit den Fragen abzutrennen und an folgende Adresse zu
senden:
Fernlehrgang des Österreichischen Gewerkschaftsbundes
1010 Wien, Wipplingerstraße 35.

36

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