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ALFRED SCHMIDT, FRANKFURT A. M.

Schwierigkeiten einer philosophischen Freud-Rezeption*

I
Die Frage nach der Aufnahme psychoanalytischer Einsichten durch h u ­
manwissenschaftliche Disziplinen wie Ethnologie, Soziologie und M y­
thenforschung, auch Literatur- und Kunstgeschichte beantw ortet sich
angesichts der neueren Entwicklung dieser Wissenszweige von selbst.
Freud, der die weitreichenden Möglichkeiten seiner Lehre früh erkann­
te, hat auf kulturwissenschaftlichem Gebiet beträchtlichen Einfluß ge­
übt.1 Anders steht es um die Rezeption der Psychoanalyse in der Philo­
sophie. H ier w aren offenbar die beiderseitigen Schwierigkeiten am
größten. Das bezeugt die sorgfältig dokum entierte Untersuchung von
Carl Eduard Scheidt (1986). Die akademischen Philosophen, zu schwei­
gen von völkisch-autoritären Gegnern Freuds (über deren rabiate S pra­
che der einschlägige Artikel in Hoffmeisters Wörterbuch der philosophi­
schen Begriffe von 1944 informiert), übergingen die wissenschaftstheore­
tisch schwer einzuordnende Psychoanalyse oder erblickten in ihr eine
»implizite Anthropologie naturalistischer Provenienz« (Scheidt, 1986,
S. 33). Die meisten Beschäftigungen mit der als besonders befremdlich
geltenden Trieblehre blieben unergiebig. Soweit die A utoren überhaupt
bereit waren, sich sachlich auf Freuds K onzeption einzulassen, versi­
cherten sie ihr gegenüber die Unableitbarkeit von Geistigem (Scheler)
oder ersetzten die Libido durch den Trieb zur Selbsterhaltung (Bloch).
Scheidt sieht das Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie abhän­
gig davon, wie diese und ihre Stellung zu den Einzelwissenschaften je­
weils verstanden wurden. So waren die Phänom enologie und der N e u ­
kantianismus in ihrer schulmäßigen Form denkbar ungeeignet, die Psy­
choanalyse zu rezipieren, bestand doch ihre Intention darin, von den
Einzelwissenschaften nicht zu lernen, sondern sie zu »fundieren«. D a ­
durch ergab sich ein Abstand von Philosophie und Psychoanalyse, der

* V ortrag im Rahm en der Feier des 65. Geburtstags von Alfred Lorenzer im Frankfurter
Sigm und-Freud-Institut am 10. 5. 1987.
Bei der Redaktion eingegangen am 27. 1. 1988.
1 W ob ei daran zu erinnern ist, daß sich hierzulande dieser Einfluß eigentlich erst nach
dem Z w eiten W eltkrieg durchsetzen konnte. Starke A ffek te standen in D eutschland der
aufklärerischen T en d en z der Psychoanalyse von Anbeginn entgegen. V gl. hierzu den von
Johannes Cremerius herausgegebenen Sammelband D ie R ezep tio n der Psychoanalyse in der
Soziologie, Psychologie u n d Theologie im deutschsprachigen R aum bis 1 9 4 0 (1981).
womöglich noch größer w ar als der zwischen der Philosophie und den
Einzelwissenschaften überhaupt; denn zunächst galt die W issenschaft­
lichkeit des Freudschen U nternehm ens noch als fraglich (vgl. ebd.,
S. 13). Demgegenüber, unterstreicht Scheidt, bot sich die brauchbare Al­
ternative an, der Philosophie
»neue W irklichkeits- und Erfahrungsbereiche zu ö ffn en und die Fortschritte der E in zel­
w issenschaften zu rezipieren und philosophisch zu verarbeiten. D ieser en tg egen gese tzte
W e g m ußte zw ar um den teuren Preis einer perm anenten >Identitätskrise< der P hilosop hie
gegen ü b er den Einzelw issenschaften erkauft w erd en , erbrachte aber inhaltlich eine [ . . .]
Bereicherung des Gesichtskreises. D ie A utoren, die die P hilosop hie in diesem Sinne ver­
standen, konnten aber etw a in der P sychoanalyse einen transformierten und w eiteren tw ik -
kelten Bestandteil der philosophischen Tradition erblicken und ihre Ergebnisse vor diesem
H intergrund fruchtbar verwerten« (ebd.).

Zu erinnern ist hier an die Begründer der Kritischen Theorie, zum al an


H orkheim er, dessen interdisziplinärer Entw urf von »Sozialforschung«
sich mit starr-akadem ischen G renzen zwischen den Arbeitsgebieten
nicht vereinbaren ließ. Für H orkheim er w ar Freud ein G elehrter, der
»entscheidende Seiten der Philosophie Schopenhauers [. . .] fortführte
und ausarbeitete, ohne daß er dabei [. . .] an Schopenhauer dachte«
(H orkheim er, 1985, S. 454). Gleichwohl, betont H orkheim er, hat Freud
gewußt, »daß er in m ancher H insicht eigentlich ein N achfolger Scho­
penhauers ist« (ebd., S. 455). So heißt es in Freuds Studie Eine Schwie­
rigkeit der Psychoanalyse:
»D ie w enigsten M enschen dürften sich klar gem acht haben, einen w ie folgen sch w eren
Schritt die A nnahm e unbewußter seelischer V o rg ä n g e für W issenschaft und Leben b ed eu ­
ten w ürde. Beeilen wir uns aber h in zu zu fü g en , daß nicht die Psychoanalyse diesen Schritt
zuerst gem acht hat. Es sind nahmhafte P hilosophen als V o rg än ger anzuführen, vor allen
der groß e D en k er Schopenhauer hat bereits vor geraum er Z eit den M enschen vorgehalten,
in w elch em Maß ihr T u n und T rachten durch sexuelle Strebungen — im g ew oh n ten Sinne
des W ortes — bestim mt wird« (Freud, 1917, S. 11 f.).

In der Arbeit Jenseits des Lustprinzips bem erkt Freud: W ir können es


»uns nicht verhehlen: daß wir unversehens in den H afen der Philosophie
Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der T o d >das eigentliche R e­
s u lta t und insofern der Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die
V erkörperung des Willens zum Leben« (ders., 1920, S. 53). U nd in
Freuds »Selbstdarstellung« lesen wir:
»D ie w eitgeh en d en Übereinstim m ungen der Psychoanalyse mit der P hilosop hie Schopen­
hauers — er hat nicht nur den Primat der Affektivität und die überragende Bedeutu n g der
Sexualität vertreten, sondern selbst den M echanismus der V erd rän gu n g gekannt — lassen
sich nicht auf m eine Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückführen. Ich habe Schopenhauer
sehr spät im Leben gelesen« (1925, S. 86).
Freud betrachtet den A utor der W elt als W ille und Vorstellung als seinen
wichtigsten V orgänger, weil auch bei ihm der W esenskern des M en­
schen ein Unbewußtes ist: der Wille, der sich unm ittelbarer Beschrei­
bung entzieht, aber doch als Realität angenommen werden muß, die sich
in der erscheinenden W elt darstellt und unabhängig vom erkennenden
Bewußtsein existiert. Schopenhauers »Wille« und Freuds »Unbewußtes«
erweisen sich, w orauf H orkheim er hinweist, deshalb als identisch, weil
man
»die P hilosophie Schopenhauers, etw a seinen Schluß, w ie er auf den W illen als das »Wesen
des Menschern kom m t, auch psychologisch deuten kann und, um gekehrt, [ . . . ] den Begriff
des U n b ew u ß ten [ . . . ] auch im Sinne der Philosophie [ . . . ] ; denn die A ngabe, daß etwas
existiert, das man [ .. .] nicht wahrnehm en kann, ist etwas der bloß positivistischen A u ffas­
sung von Erkenntnis E n tgegengesetztes« (H orkheim er, 1985, S. 456).

Beide A utoren betrachten zudem die unbewußte Realität als in m orali­


scher Hinsicht problematisch. Bei Schopenhauer ist es der egoistische
Wille zum Dasein und Wohlsein, bei Freud das verdrängte Triebm ate­
rial. Schopenhauers »Wille« ist kraß naturalistisch und doch nicht ding­
lich (oder körperlich), Freuds »Trieb«, wie es in der Abhandlung Triebe
und Triebschicksale heißt, »ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und
Somatischem« (Freud, 1915 a, S. 214).
So affirmativ sich die angeführten Äußerungen Freuds über Schopen­
hauer ausnehmen (denen vergleichbare über Nietzsche zu r Seite gestellt
werden könnten), so falsch wäre es zu übersehen, wie sehr der Begrün­
der der Psychoanalyse andererseits dem Geist des Positivismus verhaftet
war. Es erinnert an Comtes Drei-Stadien-Gesetz, wie Freud das V e r­
hältnis der Wissenschaft zu r Religion und zur Philosophie bestimmt.
Sein C redo in der N euen Folge der Vorlesungen lautet, daß es »keine an­
dere Quelle der W eltkenntnis gibt als die intellektuelle Bearbeitung
sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt,
daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination«
(1933, S. 171). Bleibt unter diesem methodischen Gesichtspunkt für
Freud Religion als ärgste W idersacherin wissenschaftlichen Geistes von
vornherein außer Betracht, so billigt er der Philosophie immerhin zu, die
Wissenschaft nicht offen zu bekämpfen; sie entfernt sich jedoch von ihr,
indem sie an der »Illusion« festhält, »ein lückenloses und zusam m enhän­
gendes Weltbild liefern zu können, das doch bei jedem Fortschritt unse­
res Wissens zusamm enbrechen muß« (ebd., S. 173). Die Philosophie,
fügt Freud dem hinzu, »hat wesentliche Züge der animistischen D e n k ­
weise bewahrt, die Ü berschätzung des W ortzaubers, den Glauben, daß
die realen Vorgänge in der W elt die W ege gehen, die unser D enken ih­
nen anweisen will« (ebd., S. 178). In naher Z ukunft wird alle M etaphy­
sik »als >survival< aus der Periode der religiösen W eltanschauung verur­
teilt werden« (Brief vom 30. 1. 1927 an W erner Achelis; Freud, 1960,
S. 389).
Freuds Vorbehalte gegenüber der Philosophie fassen sich darin zusam ­
men, daß sie einerseits den »Erkenntniswert unserer logischen O p eratio­
nen überschätzt«, andererseits zweifelhafte »Erkenntnisquellen wie die
Intuition anerkennt« (Freud, 1933, S. 173). W ohl strebt auch ein die R e­
sultate der W issenschaft verallgemeinerndes D enken, zu dem Freud sich
emphatisch bekennt, nach »Einheitlichkeit der W elterklärung«, aber nur
im Sinn eines unerfüllten, der Z ukunft überlassenen Programm s. Im üb­
rigen ist »wissenschaftliche W eltanschauung«, wie Freud in der Sprache
des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts sagt, »durch negative C h a­
raktere ausgezeichnet, durch die Einschränkung auf das derzeit W ißba-
re und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr frem der Elemente« (ebd.,
S. 171). Zu letzteren rechnet Freud vor allem den zunächst animisti-
schen, dann religiösen W ah n des Menschen von der »Allmacht« seiner
Gedanken. Solcher Selbstüberhebung, heißt es in Totem und Tabu, en t­
zieht der wissenschaftliche Geist den Boden; er ist bescheiden bis zur
Demut. Seinem V ertrauen auf die Objektivität der Erkenntnis w ohnt
das stoische M om ent inne, daß der Mensch sich »resigniert dem T ode
wie allen anderen Naturnotw endigkeiten« (Freud, 1912— 13, S. 109)
unterwirft.
D arin der ihr benachbart bleibenden Religion verwandt, gibt auch die —
zumeist idealistische — Philosophie oft genug narzißtischen T endenzen
nach. »Das W o rt [. . .] läßt uns«, so H orkheim er, »an Rationalisierungen
unbew ußter W ünsche, an die H ypostasierung von W unschträum en und
Ideologien denken, also an die Objekte der Freudschen analytischen
Aufklärung« (1987, S. 396). D aher der geringe Ehrgeiz des N a tu rfo r­
schers Freud, gleichzeitig als Philosoph zu gelten. Gleichwohl hebt
H ork h eim er mit Recht hervor, daß Freuds energische Abwehr philoso­
phischer Illusionen »selbst A usdruck jener besonderen Weise [ist], an die
entscheidenden Probleme des Lebens heranzugehen, die wir als seine
Philosophie bezeichnen können« (ebd., S. 397). V ersteht man unter P hi­
losophie den kom prom ißlosen Willen zu r Erkenntnis, die Fähigkeit zu
geistiger Erfahrung, die Kraft, den Bann herrschender Ideologien zu
brechen, der Alltagsroutine zu widerstehen, dem Wissen neue H o riz o n ­
te zu eröffnen, dann ist dem Begründer der Psychoanalyse der Rang ei­
nes bedeutenden Philosophen zuzusprechen. »In seiner Bemühung«,
schreibt H orkheim er, »die wissenschaftliche Seite der Analyse verständ-
lieh zu m achen, w urde Freud zu einem wirklichen A ufklärer im philoso­
phischen Sinn; mächtigen religiösen und philosophischen Ström ungen
leistete er W iderstand und w ar stolz darauf, hierin unbeugsam zu sein«
(ebd., S. 398 f.). Anders als während der heroischen Frühzeit Freuds, als
es noch um die Wissenschaftlichkeit seines Denkansatzes ging, hält es
H orkheim er heute, nach dem Sieg der Psychoanalyse im öffentlichen
Bewußtsein, für angebracht, ihren philosophischen Aspekt stärker h er­
vorzukehren. W ährend Freud den Zusammenstoß mit den herrschenden
M ächten nicht scheute und sein W erk der »Idee« einer »objektive[n]
W ahrheit« unterordnete, überzeugt davon, »daß das U nglück der M en­
schen letztlich von der Verfälschung jener W ahrheit unter dem Einfluß
von Tabus und anderen Formen psychischen und außerpsychischen
Zwangs herrührt« (ebd., S. 401),2 hat die zeitgenössische, »kulturistisch«
entschärfte Psychoanalyse, fügsame »Hilfsdisziplin der Psychiatrie«,
längst ihren Frieden mit der Gesellschaft gemacht. »Was einmal«, betont
H orkheim er, »als eine W ahrheit gedacht wurde, die dabei helfen w ürde,
die W elt zu verändern, wird zum Kunstgriff, Menschen in der W elt, wie
sie ist, zufriedener und leistungsfähiger zu machen« (ebd., S. 399).
Dieser H intergrund erklärt die Radikalität, mit der H orkheim er die an­
stößige Seite der Psychoanalyse verteidigt, die zugleich ihr philosophi­
sches Motiv bildet:
»Freuds A nsatz war der einer materialistischen P sychologie. W o die viktorianische Id eo lo ­
gie von der Erhabenheit der Liebe sprach und sich gegenüber dem Leiden, das die sexuel­
len Triebw ünsche mit sich bringen, verhärtete, sprach Freud von erogen en Z on en und b e­
diente sich einer physiologischen T erm inologie. Im Eifer, das Physische vom P sych o lo g i­
schen herzuleiten, wird Freuds T en d en z, die höchsten W erte von materiellen Prozessen
abzuleiten, das Psychologische ins Physiologische, ja sogar Physikalische aufzulösen, h eu ­
te beinahe übersehen« (ebd.).

Ih r gegenüber gerät die erstere Verfahrensweise, die von psychogenen


U rsachen körperlicher Symptome ausgeht und einen wichtigen Teil des
Freudschen W erks bildet, weniger leicht in Konflikt mit herrschenden
Ideologien. W ährend Freud noch im Begriff der »Lebensnot« psychische
Konflikte mit materiellen Bedingungen verknüpft, sind heutige Psycho­
analytiker — so H orkheim er — »versucht, bei der >Ich-Schwäche< und
anderen abgeleiteten Komplexen, die viel leichter zugänglich sind, ste­
henzubleiben« (ebd.). H orkheim er widersetzt sich dieser T endenz zur
Verflachung. Für ihn bleibt »Freuds biologischer Materialismus«, der in

2 V gl. zu Freuds erkenntnistheoretischer Klärung des Begriffs wissenschaftlicher W ah r­


heit das Gespräch des Verfassers mit Bernard Görlich: Materialismus u n d Subjektivität.
A spekte ihres Verhältnisses in der gegenw ärtigen Diskussion. In: G örlich et al. (1980).
der revisionistischen Literatur »als eine A rt Aberglaube [.. .] und als u n ­
tauglich, dam it rasch zum Erfolg zu kom m en, verworfen wird«,
das»theoretische K ernstück der Psychoanalyse« (ebd.).

II
A dorno, mit H orkheim er (und Marcuse) einig in der entschiedenen A b­
w ehr von Versuchen, die Freudsche Lehre im Dienst des Bestehenden
akzeptabel zu machen, dürfte bis jetzt der einzige A utor sein, der psy­
choanalytische Einsichten bewußt in philosophische Fragestellungen
aufgenom m en hat. Dabei ist weniger an Adornos (von Cornelius inspi­
rierte) Arbeit Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelen­
lehre (erstmals abgedruckt in A dorno, 1973, S. 79 ff.) von 1927 zu den­
ken als an seine spätere Kritik der U rsprungs- und Im m anenzphiloso­
phie. N och kurz vor seinem T o d erblickte A dorno den »Hauptfehler«
jenes frühen M anuskripts darin, daß es »Freud einseitig auf die E rk en n t­
nistheorie etwa der Schule von M ach und Avenarius bezieht und das von
Anbeginn in Freud vorhandene materialistische M om ent, das bei ihm
durch den fundamentalen Begriff der O rganlust bezeichnet wird, ver­
nachlässigt« (ebd., S. 381 f.).
Freud bedient sich dieses Begriffs, wo immer er bestrebt ist, seine H y p o ­
thesen über U rsprung und W esen der Sexualität zu erhärten. Es geht d a ­
bei, wie er in der Studie Triebe und Triebschicksale dartut, um eine biolo­
gische Betrachtungsweise des Seelenlebens. Sie belehrt darüber, daß der
zwischen Seelischem und Somatischem eigentümlich changierende
»Trieb« als »psychischer R epräsentant der aus dem Körperinnern stam ­
menden, in die Seele gelangenden Reize« auftritt, »als ein Maß der A r­
beitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges
mit dem Körperlichen auferlegt ist« (Freud, 1915 a, S- 214).3 Allgemein,
erklärt Freud, lassen die Sexualtriebe sich folgenderm aßen charakteri­
sieren: »Sie sind zahlreich, entstammen vielfältigen organischen Q uel­
len, betätigen sich zunächst unabhängig voneinander und werden erst
spät zu einer m ehr oder m inder vollkommenen Synthese zusam m enge­
faßt. Das Ziel, das jeder von ihnen anstrebt, ist die Erreichung der O r­
ganlust [. . .]« (ebd., S. 218).4

3 V gl. H ierzu ebd., S. 215: »Unter der Q u elle des Triebes versteht man jenen som atischen
V o rg a n g in einem O rgan oder Körperteil, dessen R eiz im S eelenleben durch den Trieb re­
präsentiert ist. Es ist unbekannt, ob dieser V o rg a n g regelm äßig chem ischer N atu r ist oder
auch der Entbindung anderer z. B. m echanischer Kräfte entsprechen kann.«
4 V g l. zu m Freudschen Term inus »Organlust« ferner den einschlägigen Artikel in Laplan-
che und Pontalis, 1967, S. 363 f.
A dorno nun rekurriert auf den triebnaturalistischen Aspekt der Freud-
schen Lehre in der kritischen Absicht, die Rolle der Empfindung neu zu
bestimmen, die in der traditionellen Hierarchie erkenntnistheoretischer
Begriffe die unterste Stufe einnimmt. »Unausrottbar aus ihr«, heißt es in
A dornos Buch über Husserl, »ist das materialistische Element; sie grenzt
an physischen Schmerz und Organlust; ein Stück N atu r, das nicht auf
Subjektivität sich reduzieren läßt« (1956, S. 166). Die Negative D ialektik
entwickelt diesen G edanken weiter. Erst die idealistische Erkenntnis­
theorie, lautet hier Adornos These, überführt, durch Abstraktion von al­
lem Somatischen, die Empfindung in eine bloße Tatsache des Be­
wußtseins. Insofern ist deren gnoseologisch eingeführter Begriff u n ter­
bestimmt, »dem Verlangen eines autarkischen Zusammenhangs aller
Stufen der Erkenntnis zuliebe verbogen« (Adorno, 1966, S. 191). Eine
unbefangene Phänom enologie hätte zu zeigen, daß die Empfindung
nicht darin aufgeht, dem Bewußtsein anzugehören. »Eine jegliche«, u n ­
terstreicht Adorno, »ist in sich auch Körpergefühl« (ebd., S. 192). Die
Einsicht, daß die Leistungen des erkennenden Subjekts einen somati­
schen Index haben, verändert mit dem Verhältnis von Subjekt und O b ­
jekt zugleich den Rang des Körperlichen: »Am ontischen Pol subjektiver
Erkenntnis tritt es als deren Kern hervor« (ebd.). U nd: »Alles Geistige ist
modifiziert leibhafter Impuls, und solche M odifikation der qualitative
Umschlag in das, was nicht bloß ist. D rang ist, nach Schellings Einsicht,
die V orform von Geist« (ebd., S. 200).5
N äh er noch steht den Betrachtungen Adornos die Schopenhauersche
Lehre von der unmittelbaren Identität von Leib und Wille. In § 18 des
ersten Bandes seines H auptw erks geht Schopenhauer von der vorgestell­
ten zu r an sich seienden W elt über. Dem immer auch als leibliches Indi­
viduum erscheinenden Subjekt der Erkenntnis ist das den Kern der D in ­
ge erschließende W o rt gegeben: der Wille. Dieses, sagt Schopenhauer,
liefert »ihm den Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung, offenbart ihm
die Bedeutung, zeigt ihm das innere Getriebe seines Wesens, seines
Thuns, seiner Bewegungen« (1949, S. 119). Wie nun eröffnet sich dem
Menschen jene große Realität, die Schopenhauer den in der W elt sich ob­
jektivierenden Willen nennt? Auszugehen ist davon, daß dem erkennen­
den Subjekt infolge seiner Vermitteltheit durch einen jeweils individuier-
ten Leib eben dieser auf zwei völlig verschiedene Weisen gegeben ist:

5 V gl. zu A dornos T h ese von der »Materialität« der Em pfindung auch den V ortrag des
Verfassers: Begriff des Materialismus bei Adorno. In: Friedeburg und H aberm as (H g .),
1983, S. 2 0 — 25.
»ein M al als V orstellu n g in verständiger A nschauung, als O bjekt unter O bjekten, und den
G esetzen dieser unterw orfen; sodann aber auch [ . . . ] als jenes Jedem unmittelbar B ekann­
te, w elch es das W o rt W ille bezeichnet. Jeder w ahre A kt seines W illens ist [. . .] unausbleib­
lich auch eine B e w egu n g seines Leibes [. . .]. D er W illensakt und die A k tion des Leibes
[. . .] stehn nicht im Verhältnis der Ursache und W irkung; sondern sind Eines und das S el­
be, nur auf [ . . . ] verschiedene W eisen gegeben: ein Mal g a n z unmittelbar und ein M al in
der A nschauung für den Verstand« (ebd.).

Insofern nun, als jeder unmittelbare A kt des Willens zugleich ein


erscheinender A kt des Leibes ist, kann Schopenhauer behaupten, daß
»jede Einwirkung auf den Leib [.. .] unmittelbar auch Einwirkung auf
den Willen [ist]: sie heißt [. ..] Schmerz, w enn sie dem Willen zuw ider;
W ohlbehagen, Wollust, wenn sie ihm gemäß ist« (ebd., S. 120). Dabei
legt Schopenhauer großen W e rt auf die Feststellung, daß Schm erz und
W ollust keine »Vorstellungen« sind, also nicht — in seiner T erm inolo­
gie — der Sphäre des »Idealen« angehören, sondern der des schlechthin
»Realen«, das heißt des materiell-energetischen W eltkerns. Sie sind »un­
mittelbare Affektionen des Willens, in seiner Erscheinung, dem Leibe«
(ebd.). Für diese Identität von Leib und Wille spricht Schopenhauer z u ­
folge auch die Erfahrung, daß »jeder Affekt [. . .] ganz unm ittelbar den
Leib und dessen inneres Getriebe erschüttert und den G ang seiner vita­
len Funktionen stört« (ebd., S. 121). Was schließlich, sagt Schopenhau­
er, die Erkenntnis meines Willens betrifft, so ist sie, »obwohl eine unm it­
telbare, doch von der meines Leibes nicht zu trennen« (ebd.). Ich erken­
ne meinen Willen »nicht im Ganzen, nicht als Einheit, nicht vollkommen
seinem W esen nach, sondern [. . .] allein in seinen einzelnen Akten, also
in der Zeit, welche die Form der Erscheinung meines Leibes, wie jedes
Objekts ist: daher ist der Leib Bedingung der Erkenntniß meines W il­
lens« (ebd.). Dies sind Sätze, deren sachliche Affinität zu r Psychoanaly­
se sich unschwer nachweisen ließe.

III
Kommen wir abschließend noch einmal auf den Begriff des »biologi­
schen Materialismus« zurück, den H orkheim er — in abgrenzender O r ­
thodoxie — 1948 verwendete, um die Freudsche Lehre zu charakterisie­
ren. Die in jüngster Zeit sich häufenden publizistischen Angriffe auf die
Psychoanalyse belehren darüber, daß jener Begriff auch unabhängig von
den D ebatten der Nachkriegsjahre seinen heuristischen W e rt behalten
hat. Allerdings wird produktive O rthodoxie sich w ährend der nächsten
Jahre darin bewähren müssen, daß die grundlegenden psychoanalyti­
schen Begriffe, die Freud selbst philosophischer Diskussion anem pfoh­
len hat, erkenntniskritisch geklärt und fortentwickelt werden.
W as hat es, beim gegenwärtigen Stand der Forschung, mit Freuds »M a­
terialismus« auf sich? Seine Gegner, seit je darauf bedacht, seine Lehre
moralisch zu diskreditieren, werden nicht zögern, sie als materialistisch
zu bezeichnen. Freud selbst hat sich stets einer Denkweise gerühm t, de­
ren Ziel es sei, »die W unschgebilde der Menschheit endgiltig von der
materiellen Realität auszuschliessen« (1941, S. 29). Das erklärt die U n ­
befangenheit, mit welcher er die Analytiker »unverbesserliche M ateriali­
sten und Mechanisten« nennt — so sehr »sie sich hüten wollen, das See­
lische und Geistige seiner noch unerkannten Eigentümlichkeiten zu be­
rauben« (ebd.). Es ist klar, daß die Frage selbst mit solchen B ekundun­
gen nicht erledigt ist. V ersteht man unter »materiell« die Eigenschaft all
dessen, was außerhalb und unabhängig vom erkennenden Bewußtsein
existiert, so hat auch die Psychoanalyse es mit einem höchst »materiel­
len« O bjekt zu tun: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische«
(Freud, 1900, S. 617), und für dieses »spielt das Biologische wirklich die
Rolle des unterliegenden gewachsenen Felsens« (ders., 1937, S. 99).
W enn Materialismus bedeutet, daß Psychisches (oder Geistiges) aus ei­
nem ihm Transzendenten, »Materiellen« (oder »Körperlichen«) erklärt
wird, dann ist Freud kein Materialist. Seine Lehre vom Unbewußten
läuft hinaus auf eine »innerpsychische« Erklärung psychischer P h än o ­
mene; sie schreibt dem Unbewußten Eigengesetzlichkeit, das heißt eine
der Interpretation unterliegende Symbolsprache zu. »Das Studium der
Triebquellen«, heißt es denn auch in Triebe und Triebschicksale, »gehört
der Psychologie nicht m ehr an, obwohl die H erk u nft aus der som ati­
schen Quelle das schlechthin Entscheidende für den Trieb ist, wird er
uns im Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt«
(Freud, 1915 a, S. 216). Die von Freud durchweg festgehaltene A nnah­
me eines leiblichen Substrats der Triebe nimmt sich angesichts seiner ta t­
sächlichen M ethodik oft wie eine bloße Versicherung aus. Die Frage,
wie sich die beiden Aspekte des Unbewußten: Eigengesetzlichkeit und
physiologische Funktionalität zueinander verhalten, bleibt philosophisch
ungeklärt. Betont man dagegen den oberflächlichen C harakter des be­
wußten Seelenanteils gegenüber dem unbewußten, der seine labyrinthi-
sche Basis bildet, so kann man von einem »innerpsychischen« M aterialis­
mus bei Freud sprechen, der stets auf Biologisches verweist, das sich je­
doch näherer Kenntnis entzieht.
Ein Blick auf die Reflexologie Pawlows kann dazu beitragen, den philo­
sophischen Aspekt der Freudschen Konzeption zu erhellen. Psycholo­
gen, die auch nur eine »Eigenart der psychischen Erscheinungen« be­
haupten, steht Pawlow mit unverhohlenem Argwohn gegenüber; er hört
aus dieser Form ulierung »den gleichen Dualismus und Animismus« h er­
aus, »der noch von einer Menge denkender Menschen, von den G läubi­
gen gar nicht zu reden, unm ittelbar geteilt wird« (Pawlow, 1953,
S. 314). Seinen methodischen Ansatz, der einen materialistischen M onis­
mus impliziert, kennzeichnet Pawlow folgenderm aßen: »H ier w ird die
Psychologie mit der Physiologie zu r Deckung gebracht, das Subjektive
rein physiologisch, rein objektiv interpretiert« (ebd., S. 433). Pawlows
U ntersuchungen der Nahtstelle zwischen Psychologie und Physiologie
führen ihn zu r »Identifizierung des Psychischen mit dem Somatischen,
des Subjektiven mit dem Objektiven« (ebd., S. 440; vgl. auch S. 306).
H ieraus folgt, daß »Verzerrungen der subjektiven Welt« für Pawlow
stets mit »anatomischen und physiologischen Störungen des höheren
Gehirnabschnitts« (ebd., S. 338) verbunden sind. Zu den subjektiven,
von der Psychologie systematisierten Erscheinungen rechnet Pawlow,
darin cartesianischer Tradition verhaftet, nicht nur Bewußtsein und
D enken, sondern auch den Willen und die Affekte (vgl. ebd., S. 172).
Seine These von der Identität von Psychischem und Somatischem
schwächt Pawlow in dem M aße ab, wie er beim Studium der bedingten
Reflexe darauf stößt, »daß die psychologischen Begriffe [. . .] sich von
physiologischen Vorstellungen [. . .] stark unterscheiden müssen, daß die
W iderspiegelung der Nervenprozesse in der subjektiven W elt sehr ei­
genartig ist, sozusagen mehrfach gebrochen, so daß im ganzen die psy­
chologische Auffassung der Nerventätigkeit im höchsten G rade bedingt
und nur annähernd ist« (ebd., S. 171). Darin freilich drückt sich für
Pawlow eher die (ihm ohnehin evidente) Priorität der Physiologie6 aus
als ein Eigenrecht des Psychischen.
Freud dagegen ist bestrebt, dieses Eigenrecht zu w ahren — auch um den
Preis theoretischer U nklarheiten und Lücken. Allerdings ist auch er mit
den neurologischen Grundlagen der Psychologie seiner Zeit zu vertraut,
um sich leichtfertig von ihnen zu verabschieden. So ist er 1895 noch be­
m üht, »psychische V orgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Z u ­
stände aufzeigbarer materieller Teile« (1950, S. 305). Auch noch als
Freud sich 1914 bereits dam it beschäftigt, K ernpunkte seiner Theorie
auszuarbeiten, erinnert er daran, daß die hier form ulierten »psychologi­
schen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer T räg er gestellt

6 W ob ei auch die P hysiologie für P aw lo w kein Letztes ist. Für ihn ist unstreitig, »daß nur
die U ntersuchung des physikalisch chem ischen P rozesses, der im N erven g ew eb e vor sich
geh t, imstande sein wird, eine echte T h eorie aller N ervenersch ein u n gen zu gewähren«
(ebd., S. 183).

30 Psyche 5/88
w erden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, daß es besondere Stoffe
und chemische Prozesse sind, welche die W irkungen der Sexualität aus­
üben. [. . .] Dieser W ahrscheinlichkeit tragen wir Rechnung, indem wir
die besonderen chemischen Stoffe durch besondere psychische Kräfte
substituieren« (1914, S. 144). In den Vorlesungen der Jahre 1915/16 und
1916/17 kom m t Freud auf die Frage des materiellen Substrats der seeli­
schen Mechanismen zurück. »Das Lehrgebäude der Psychoanalyse«,
heißt es hier, »ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgend einmal auf sein
organisches Fundam ent aufgesetzt werden soll; aber wir kennen dieses
noch nicht« (1916— 17, S. 403). Eine H offnung, die später bei Freud
deutlich zurücktritt. W enn er schließlich feststellt, den Analytiker führe
»seine Erfahrung [. ..] in eine andere W elt mit anderen Phänom enen
und Gesetzen« (1926, S. 282), so nicht, weil er inzwischen zum philoso­
phischen Idealismus übergewechselt ist, sondern weil ihn die spezifische
Beschaffenheit seiner Objekte dazu nötigt. Freud wird klar, daß er »die
Kluft zwischen Leiblichem und Seelischem« (ebd.) auf neue Weise be­
wältigen muß. D en Symptomen bestimmter psychischer Krankheitsbil­
der entsprechen entweder keine pathologischen V eränderungen des
»anatomischen O rgans der Seele« (1916— 17, S. 13) oder solche, die u n ­
geeignet sind zu ihrer Erklärung. D aher Freuds schon in seinen frühen
Vorlesungen ausgesprochenes Bestreben, der Psychiatrie eine rein »psy­
chologische Grundlage« zu geben; die Psychoanalyse, sagt er, »hofft,
den gemeinsamen Boden aufzudecken, von dem aus das Zusam m entref­
fen körperlicher mit seelischer Störung verständlich wird« (ebd., S. 14).
D a weder die traditionelle, Psychisches und Bewußtes gleichsetzende
Philosophie noch die experimentellen Schulrichtungen der Psychologie
sich als geeignet erweisen, »über die Beziehung zwischen dem Körperli­
chen und Seelischen etwas Brauchbares zu sagen«, wenn es um die T h e ­
rapie von »Seelenstörungen« (ebd., S. 13) geht, beschreitet Freud eigene
Wege. Unbeschadet der räumlichen M etaphorik, deren Freud sich bei
seiner hypothetischen Gliederung des psychischen Apparats bedient,
sucht er keinen »Anschluß an die reale Hirnanatomie« (1925, S. 58). Die
traditionell-materialistisch auslegbaren Sachverhalte sind Freud geläufig.
Aber er betrachtet sie als unergiebig für seine spezifische Problematik.
So heißt es in der Abhandlung Das Unbewußte von 1915:

»Es ist ein unerschütterliches Resultat der Forschung, daß die seelische T ätigkeit an die
Funktion des Gehirns gebunden ist w ie an kein anderes Organ. Ein Stück w eiter — es ist
nicht bekannt, w ie w eit — führt die Entdeckung von der U ngleich w ertigk eit der G ehirn­
teile und deren Sonderbeziehung zu bestimmten Körperteilen und geistigen Tätigkeiten.
Aber alle V ersuche, v on da aus eine Lokalisation der seelischen V o rg än g e zu erraten, [. . .]
sind gründlich gescheitert. D asselbe Schicksal w ürde einer Lehre bevorstehen, die etwa
den anatom ischen O rt [ . . . ] der bewußten Seelentätigkeit [. .. ] in der H irnrinde erkennen
und die unbewußten V o rg ä n g e in die subkortikalen H irnpartien versetzen w ollte. Es klafft
hier eine Lücke, deren Ausfüllung d erzeit nicht m öglich ist, auch nicht zu den A ufgaben
der P sych ologie gehört. Unsere psychische T o p ik hat vorläufig nichts mit der A natom ie zu
tun; sie bezieht sich auf R egion en des psychischen Apparats, w o im mer sie im Körper g e le ­
gen sein m ögen, und nicht auf anatom ische Örtlichkeiten« (Freud, 1915 b, S. 273).

Freilich hat Freuds Entschluß, mit »rein psychologischen« Begriffen zu


arbeiten, seine Lehre nicht vor dem V orw urf des »Biologismus« zu
schützen vermocht. Berechtigt ist er insofern, als zur psychoanalytischen
Erw eiterung des Seelisch-Bewußten durch die Tiefendimension des U n ­
bewußten die Einführung einer — tragenden — biologischen Realität
gehört. M an stößt auf sie »durch alle psychologische Schichtung hin­
durch« (1937, S. 99). Die Biologie ist für Freud keineswegs bloß eine
vorgegebene Disziplin, sondern ein Arbeitsgebiet. Die Phänom ene der
Psychoanalyse, sagt er, »gehören nicht nur der Psychologie an, sie h a ­
ben auch eine organisch-biologische Seite und dem entsprechend haben
wir [. . .] auch bedeutsame biologische Funde gem acht und neue biologi­
sche Annahm en nicht vermeiden können« (1938, S. 125). Sulloway
nennt die Freudsche Konzeption »eine hochentwickelte Psychobiologie,
deren biologische Quellen noch nicht allgemein anerkannt w orden sind«
(1979, S. 29).7
W enn Freud letztlich doch das Psychische als Teilbereich des Physi­
schen betrachtet, ohne die Relation dieser M omente dogmatisch festzu­
legen, so bew ahrt ihn das vor Anhängern, deren »synthetisches B edürf­
nis«, wie er in einem Brief an Lou Andreas-Salom e feststellt, mystische
Blüten treibt, die dem Geist seiner Lehre fremd sind.
»D ie Einheit dieser W elt«, heißt es hier w eiter, »scheint mir etwas Selbstverständliches,
was der H ervorh eb u n g nicht w ert ist. W as mich interessiert, ist die S cheidung und G lied e­
rung dessen, w as sonst in einen Urbrei zusam m enfließen würde. Auch die Versicherung,
die man am schönsten im >Hannibal< von Grabbe findet: >Aus dieser W elt werden w ir nicht
fallen», scheint mir kein Ersatz für das A u fgeb en der Ichgrenzen, das schm erzhaft gen u g
sein mag. K urz, ich bin offenbar Analytiker und m eine, die Synthese m acht keine S ch w ie­
rigkeiten, w en n man erst die Analyse hat« (Freud, 1960, S. 323).

Ähnlich kritisch beantw ortet Freud ein Schreiben von Groddeck, dem er
ebenfalls vorhält, den — methodischen — Prim at des Psychischen ge­
genüber der materiellen W irklichkeit in die unterschiedslose Einheit ei­
nes weltanschaulichen Panpsychismus aufzulösen.

7 V gl. zur Rolle der Biologie in der Lehre Freuds auch das G espräch des Verfassers mit
Bernard Görlich: M aterialism us u n d Subjektivität. In: Görlich et al., 1980, S. 279— 283.
»Warum«, so fragt er G rod d eck , »stürzen Sie sich von Ihrer schönen Basis aus in die M y ­
stik, heben den Unterschied zw ischen Seelischem und Körperlichem auf, legen sich auf
philosophische T h eorien fest, die nicht an der Reihe sind? Ihre Erfahrungen tragen doch
nicht weiter als bis zur Erkenntnis, daß der psychische Faktor eine ungeahnt große B edeu ­
tung auch für die Entstehung organischer Krankheit hat? Aber macht er diese Erkrankun­
gen allein, ist damit der Unterschied zw ischen Seelischem und Körperlichem irgendwie an­
getastet? Es scheint mir ebenso mutwillig, die N atur durchwegs zu beseelen w ie sie radikal
zu entgeistern. Lassen wir ihr doch ihre großartige Mannigfaltigkeit, die v om U nbelebten
zum organischen Belebten, vom Körperlichlebenden zum Seelischen aufsteigt. G ew iß ist
das U b w die richtige Verm ittlung zw ischen dem Körperlichen und dem S eelischen, viel­
leicht das langentbehrte >missing link«. Aber w eil wir das endlich gesehen haben, sollen wir
darum nichts anderes mehr sehen können?« (ebd., S. 333 f.).

Mit der Einführung des Unbewußten, so können wir Freuds nüchterne


Reflexionen zusammenfassen, verlieren die überkom m enen philosophi­
schen Gegensätze von Subjekt und Objekt, Leib und Seele ihre S tarr­
heit, aber sie verschwinden nicht.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Alfred Schmidt, Parkstr. 5, 6000 Frankfurt a. M. 1)

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