Soziale Milieus
Stefan Hradil
Soziale Milieus ± eine praxisorientierte Forschungsperspektive
Michael Vester
Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik
Carsten Ascheberg
Milieuforschung und Transnationales Zielgruppenmarketing
Katharina Belwe
Stefan Hradil ûerer Wirkungsfaktoren als ursåchlich fçr all-
tågliche Lebensweisen der Menschen vor-
perspektive
Menschen selbst. So stellte fçr Max Scheler
(1874±1928) ein Milieu ¹das Insgesamt des-
sen dar, was vom Einzelwesen als auf es wirk-
sam erlebt wirdª. 1 Diese Ausweitung im
Sinne einer Soziologisierung und Subjektivie-
APuZ 44 ± 45/2006 3
sen- bzw. Schichtzugehærigkeit geprågt seien. Im Laufe der neunziger Jahre wurden die
In Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik Einschåtzungen wieder realistischer. Die Er-
etc. war dies die Zeit der ¹schichtspezifi- gebnisse zahlreicher empirischer Studien zeig-
schenª Sozialisation, Sprache usw. Milieube- ten, dass soziale Milieus nur teilweise unab-
griffe ¹passtenª nicht gut in die Realitåt und hångig, ein gutes Stçck aber doch abhångig
noch weniger in die damaligen Vorstellungen, von der Berufs-, Einkommens- und Bildungs-
die eine ækonomisierte, standardisierte, mate- hierarchie bestehen und nur dementsprechen-
riell determinierte Industriegesellschaft zu er- de Erklårungen des alltåglichen Verhaltens der
kennen glaubten. So wurde der Milieubegriff Menschen leisten kænnen. Diese realistische-
von der Nachkriegszeit bis in die siebziger ren Einschåtzungen vollzogen sich vor dem
Jahre hinein wenig benutzt. Hintergrund der ækonomischen Stagnation in
Deutschland. Wie immer in Zeiten der Rezes-
Im Laufe der achtziger Jahre kamen dann, sion rçckten wirtschaftliche Umstånde als Prå-
angestoûen von Praktikern aus Schule, Mar- gefaktoren der Mentalitåt in den Vordergrund.
keting und Politik, immer mehr Zweifel an In der ¹Modernisierungspauseª 4 bzw. in der
dieser Vorstellung auf. Mit Wohlstand, Bil- ¹Modernisierung im Zeitlupentempoª 5 erwies
dung und sozialer Sicherheit schienen auch es sich, dass es voreilig war, die berufliche Stel-
die Freiheiten und die Unterschiede der Le- lung, das Einkommen und den Bildungsgrad
bensgestaltung gewachsen zu sein. Das Den- als Prågefaktoren fçr das Alltagsleben der
ken und das Verhalten der Menschen wurden Menschen aufs Abstellgleis zu schieben.
nicht (mehr) so weitgehend als Folge der
Schichtzugehærigkeit ± und damit der Berufs- Was sind soziale Milieus?
stellung, der Einkommensstufe und des Bil-
dungsgrads ± angesehen wie bisher. Damit In der neueren Forschung werden unter
schienen auch die gesellschaftlichen Unter- ¹sozialen Milieusª çblicherweise Gruppen
schiede im Denken und Verhalten nicht Gleichgesinnter verstanden, die jeweils åhnli-
(mehr) vorrangig vertikal gegliedert zu sein. che Werthaltungen, Prinzipien der Lebensge-
Vor dem Hintergrund dieser Eindrçcke kam staltung, Beziehungen zu Mitmenschen und
es zu einem Boom von Milieu-(und Lebens- Mentalitåten aufweisen. 6 Im Kern werden sie
stil)studien. Die Aufmerksamkeit konzen- also durch ¹psychologisch tief sitzendeª psy-
trierte sich hierbei auf Freizeit und Konsum, chische Dispositionen definiert. Diejenigen,
das heiût, auf Muster des Denkens und Ver- die dem gleichen sozialen Milieu angehæren,
haltens, die der Erwerbsarbeit eher fern ste- interpretieren und gestalten ihre Umwelt
hen. Thesen einer ¹Entkoppelungª des Den- folglich in åhnlicher Weise und unterscheiden
kens und Verhaltens von der Schichtzugehæ- sich dadurch von anderen sozialen Milieus.
rigkeit wurden zum Teil so weit getrieben,
dass Bildung, Beruf und Einkommen kaum Kleinere Milieus, zum Beispiel Organisati-
noch Einfluss auf Mentalitåt und Lebensfçh- ons-, Stadtviertel- oder Berufsmilieus (wie
rung der Einzelnen zugesprochen wurde. Die das Journalistenmilieu) weisen darçber hi-
sozialen Milieus und Lebensstilgruppierun- naus håufig einen inneren Zusammenhang auf,
gen ± weniger die Klassen und Schichten, der sich in einem gewissen Wir-Gefçhl und in
denen die Menschen angehærten ± wurden zur verstårkten Binnenkontakten åuûert. 7
Erklårung fçr Konsum, Wahlentscheidungen,
Jugendproteste, Sozialisation von Kindern, 4 Vgl. Stefan Hradil, Die ¹objektiveª und die ¹sub-
4 APuZ 44 ± 45/2006
Gelegentlich wird neben Mentalitåten auch flçsse veråndern. Dagegen kænnen sich Ver-
das typische Umfeld (Beruf, Wohnen, Ein- haltensroutinen (wie etwa Mediennutzung,
kommen etc.) als Definitionsmerkmal sozialer Freizeitbetåtigung, Kleidungsstil) und ent-
Milieus herangezogen. In manchen Milieudefi- sprechende Lebensstile schon dann åndern,
nitionen ist zusåtzlich das Alltagsverhalten der wenn neue Kontakte geknçpft werden, wenn
Menschen eingeschlossen, insoweit es Folge eine Familie gegrçndet wird oder wenn Men-
milieuspezifischer Mentalitåten ist. Es lassen schen ålter werden.
sich also mehr oder minder komplexe Defini-
tionen des Milieubegriffes unterscheiden.
Wieso entstehen soziale Milieus?
Wie sie auch immer definiert sind: Milieu-
Wieso entstehen, bestehen und vergehen so-
begriffe weisen Eigenschaften auf, die sie von
ziale Milieus? Mehrere Theorien versuchen,
Schichtbegriffen klar unterscheiden. Milieu-
diese Frage zu beantworten. Sie enthalten
begriffe betonen erstens die ¹subjektiveª Seite
¹Antwortvermutungenª. Nur durch empiri-
der Gesellschaft. Sie bezeichnen Gruppierun-
sche Ûberprçfung låsst sich entscheiden, in-
gen gleicher Mentalitåten. Schichtbegriffe
wieweit diese zutreffen.
konzentrieren sich dagegen auf die ¹objekti-
venª Faktoren der Berufsstellung, des Ein-
Generell besagen Theorien sozialer Milieus,
kommens und des Bildungsabschlusses.
dass das Denken und Verhalten der Menschen
Zweitens låsst das Milieukonzept die Entste-
weder ausschlieûlich von åuûeren Daseinsbe-
hung von Mentalitåten bewusst offen. Sie
dingungen abhångt noch vællig in das Belieben
kænnen berufliche, religiæse, regionale, le-
der Menschen gestellt ist. Milieutheorien sind
bensweisebedingte, politische, moralische etc.
weder deterministisch noch intentional. So-
Ursachen haben. Das Schichtkonzept geht
ziale Milieus werden vielmehr als Gruppie-
hingegen davon aus, dass mit dem Berufs-,
rungen handlungsfåhiger Menschen gesehen,
Einkommens- und Bildungsstatus bestimmte,
die in der praktischen Auseinandersetzung
schichtspezifische Mentalitåten einhergehen.
mit aktuellen Lebensbedingungen und histori-
Schlieûlich ist drittens das Milieukonzept
schen Hinterlassenschaften bestimmte ge-
synthetisch angelegt. Es bçndelt zahlreiche
meinsame Mentalitåten entwickeln. Freilich
Dimensionen und Aspekte. Dies fçhrt in der
stehen die einzelnen Milieutheorien den bei-
empirischen Forschungspraxis zu erhebli-
den Polen des (unbewussten) Determinismus
chem Aufwand. Das Schichtkonzept verfåhrt
und der (bewussten) Intentionalitåt unter-
analytischer und ist in empirischen Studien
schiedlich nahe. Dies zeigen auch die im Fol-
einfacher umzusetzen.
genden skizzierten Erklårungsansåtze.
Sucht man in der Literatur nach den Unter-
Besonders håufig liegt Milieustudien die
schieden zwischen dem Milieu- und dem Le-
Habitustheorie Pierre Bourdieus 8 zu Grun-
bensstilbegriff, so wird man feststellen, dass
de. Diese besagt im Kern, dass soziale Milieus
sich die einschlågigen Definitionen nicht sel-
durch Anpassungsprozesse an die Lebensbe-
ten çberschneiden und dass sie manchmal
dingungen sozialer Klassen und Klassenfrak-
sogar fast deckungsgleich sind. Dennoch
tionen zustande kommen. Bourdieu geht von
setzt der Milieubegriff andere Schwerpunkte
der ungleichen Verteilung dreier Ressourcen-
als der Lebensstilbegriff. Hebt Ersterer
arten aus: dem ækonomischen Kapital, dem
hauptsåchlich auf die relativ ¹tiefª veranker-
Bildungskapital und dem ¹sozialen Kapitalª
ten und vergleichsweise beståndigen Werthal-
(in Gestalt sozialer Beziehungen). Je nach
tungen und Grundeinstellungen von Men-
Ausmaû ihres Kapitalbesitzes insgesamt ge-
schen ab, bezieht sich der Lebensstilbegriff
hæren die Menschen der Arbeiterklasse, dem
vor allem auf die åuûerlich beobachtbaren
Kleinbçrgertum oder der Bourgeoisie an (ver-
Verhaltensroutinen der Menschen.
tikaler Aspekt). Und je nach Zusammenset-
zung bzw. Zukunftsaussichten ihres Kapital-
Die oben angefçhrte Definition impliziert,
besitzes werden sie den Klassenfraktionen
dass soziale Milieus nicht einfach gewechselt
der Besitz- oder der Bildungsbourgeoisie
werden kænnen. Werthaltungen, Grundein-
stellungen und diesbezçgliche Milieueinbin- 8 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kri-
dungen lassen sich gewæhnlich nur im Falle tik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.
massiver Lebenskrisen und vællig neuer Ein- 1982.
APuZ 44 ± 45/2006 5
sowie dem alten, dem neuen oder dem ¹exe- sierung der eigenen Wertehaltungen und Le-
kutivenª Kleinbçrgertum zugerechnet (hori- bensweisen werden einerseits Selbstzuord-
zontaler Aspekt). nung und Zugehærigkeit zu bestimmten
Gruppierung mæglich gemacht, andererseits
Wenn Menschen innerhalb der jeweiligen Absetzung und Distanz zu anderen Gruppie-
Lebensbedingungen ihrer sozialen Klasse auf- rungen sichergestellt. 9 Identitåtstheorien fin-
wachsen, entstehen nach Bourdieu weitge- den sich in unterschiedlichen Varianten. Von
hend unbewusst klassenspezifische Habitus- einigen Autoren 10 wird die Entstehung von
formen. Hierunter versteht er latente Denk-, sozialen Milieus und Lebensstilgruppierun-
Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, die gen primår aus den Integrationsbemçhungen
einerseits die Mæglichkeiten alltåglichen von Menschen erklårt. Andere 11 sehen die
Handelns begrenzen, andererseits Handlun- Erklårung eher in Konflikten, in der Herstel-
gen hervorbringen. So entstehe der Habitus lung von Differenzen und in Abgrenzungs-
der Arbeiterklasse in einer Lage harter Not- prozessen von sozialen ¹Territorienª.
wendigkeiten, die Nçtzlichkeitsdenken und
eine ¹Kultur des Mangelsª nach sich ziehe. Die Individualisierungstheorie geht davon
Kåufe werden nicht nach åsthetischen Ge- aus, dass Modernisierung einhergeht mit der
sichtspunkten, sondern nach Preis und Halt- Zunahme persænlicher Ressourcen, Freihei-
barkeit vorgenommen. Wåhrend also der Ha- ten und Sicherheiten. Damit verbunden ist
bitus der Arbeiterklasse ein ¹Sich-Einrich- eine Herauslæsung der Einzelnen aus vielfål-
tenª in gegebenen Verhåltnissen nahe lege, sei tigen kulturellen, sozialen und wirtschaftli-
der Habitus des Kleinbçrgertums ± seiner chen Bindungen. Dies bedeutet fçr die Men-
Mittellage entsprechend ± auf sozialen Auf- schen Verluste von Vertrautheit und Sicher-
stieg, auf die ehrgeizige, teils ångstliche, teils heit in Gemeinschaften einerseits, Gewinne
plakative Erfçllung vorgegebener kultureller an individueller Handlungsfåhigkeit und Ent-
Normen ausgerichtet, auch in Fragen der Bil- faltungsmæglichkeit andererseits.
dung und des Geschmacks. Der Habitus des
Kleinbçrgertums bedeute angestrengtes Be- Allerdings hatte sich, Ulrich Beck 12 zufolge,
mçhen, das ¹Richtigeª zu tun. Der Habitus bis zum Beginn der sechziger Jahre in Deutsch-
der Bourgeoisie hingegen ermægliche es, sich land die Modernisierung und Individualisie-
in Kenntnis der ¹richtigenª Standards çber rung erst unvollkommen durchgesetzt. Zwar
diese zu erheben, einen eigenen Stil zu ent- waren traditionale Bindungen, etwa der Dorf-
wickeln, diesen unter Umstånden als gesell- gemeinschaft und der Religion, schwåcher ge-
schaftliche Norm zu propagieren und durch- worden. Aber in der emotionalisierten Kleinfa-
zusetzen. Das Kleinbçrgertum sei wiederum milie verstårkten sich gemeinschaftliche Bin-
darauf angewiesen, dieser neuen ¹Orthodo- dungen noch, vor allem fçr Frauen. Und in die
xieª gerecht zu werden. Die Arbeiterklasse industriegesellschaftlichen Schichten waren
verharre in ihrer Kultur des Mangels. Somit Månner unvermindert eingebunden.
reproduziere sich die Herrschaft der Bour-
geoisie auf kulturelle Weise. Spåtestens seit Beginn der sechziger Jahre
vollzieht sich nach Ansicht Becks eine zweite
Die Konsequenzen dieser Habitusformen Stufe gesellschaftlicher Modernisierung und
zeigen sich Bourdieu zufolge in unterschiedli- Individualisierung. Sie steht vor allem im Zu-
chen alltåglichen Lebensstilen der Menschen. sammenhang mit verschårfter Arbeitsmarkt-
Zu diesen gehæren die jeweils bevorzugten
Wohnungseinrichtungen und Speisen, Sånger 9 Vgl. Karl H. Hærning/Matthias Michailow, Lebens-
und Musikwerke, Maler, Museen und Kom-
stil als Vergesellschaftungsform. Zum Wandel von So-
ponisten. Hierbei stellt Bourdieu eine hohe zialstruktur und sozialer Integration, in: Peter A. Ber-
Ûbereinstimmung von Klassen(fraktions)zu- ger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensstile,
gehærigkeit, Habitusform und praktischen Lebenslåufe. Sonderband 7 der Zeitschrift SOZIALE
Verhaltensweisen fest. WELT, Gættingen 1990, S. 502.
10 Vgl. ebd., S. 501 ±521.
11 Vgl. Helmuth Berking/Sighard Neckel, Die Politik
Identitåtstheorien betonen dagegen, dass
der Lebensstile in einem Berliner Bezirk, in: P. A. Ber-
soziale Milieus durch das Bemçhen zustande ger/St. Hradil (Anm. 9), S. 481 ±500.
kommen, die eigene soziale Identitåt zu ent- 12 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg
wickeln und zu dokumentieren. Mittels Stili- in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.
6 APuZ 44 ± 45/2006
konkurrenz und Mobilitåt, aber auch mit ge- als Menschen im mittleren Alter, die im
steigertem Wohlstand, hæherem Bildungsni- Wohlstand und in der 1968er Zeit ihre wich-
veau auch der Frauen, besserer sozialer Absi- tigsten Prågungen erfahren haben. 14
cherung, Ausweitung der Freizeit etc. Im
Rahmen dieses erneuten Individualisierungs- ¹Horizontalª unterscheiden sich soziale Mi-
schubs læsen sich die Individuen aus ihrer lieus 15 vor allem nach dem Grade ihrer Tradi-
Einbindung in Klassen und Schichten und aus tionsverhaftung bzw. ihrer Modernitåt. Denn
¹Familienbandenª. Dies gilt auch und gerade die einzelnen Milieus sind in unterschiedli-
fçr Frauen. Die Menschen sind nun in der chem Maûe vom Wertewandel erfasst (weg
Lage, aber auch darauf angewiesen, Zuschnitt von ¹altenª Pflicht-, hin zu ¹neuenª Selbstent-
und Verlauf ihres Lebens selbst zu entwi- faltungswerten). So weisen die Angehærigen
ckeln. Allgemeingçltige Vorbilder hierfçr des ¹Traditionsverwurzeltenª, des ¹DDR-
gibt es immer weniger. Gerade deswegen nostalgischenª und des ¹Konservativenª Mi-
schlieûen sie sich an soziale Milieus an, frei- lieus Mentalitåten auf, die dem Bewahren, den
lich im Unterschied zu den lebenslangen tra- Pflichten der Menschen und ihrer Eingebun-
ditionalen Milieus (beispielsweise der Arbei- denheit in Regeln groûes Gewicht geben. Auf
terschaft oder des Katholizismus) freiwillig, der anderen Seite stehen die ¹modernenª Mi-
auf Zeit und auf Widerruf. lieus der ¹Hedonistenª, der ¹Experimentalis-
tenª und ¹modernen Performerª, in denen die
Menschen dem jeweils Neuen nachstreben
Struktur sozialer Milieus in Deutschland und sich als Einzelne relativ losgelæst von Bin-
dungen und Zugehærigkeiten empfinden. In
Die verfçgbaren empirischen Befunde zeigen, diesen Milieus finden sich zwar Gemeinsam-
dass das Gefçge sozialer Milieus in Deutsch- keiten des individuellen Bewusstseins und Ver-
land zu einem guten Teil von der Schicht- haltens, aber kaum das Bewusstsein der Ge-
struktur abhångig ist. Es gibt typische Unter- meinsamkeit mit anderen Milieuzugehærigen.
schicht-, Mittelschicht- und Oberschicht-
Milieus. Welche Werthaltungen und Mentali- In Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen
tåten ein Mensch aufweist, ist also auch eine sozialen Milieus flieûend. Viele Menschen ste-
Frage seiner Einkommenshæhe, seines Bil- hen am Rand eines Milieus, zwischen Milieus
dungsgrades und seiner beruflichen Stellung. bzw. sind zwei oder mehr Milieus zugleich zu-
Hierbei kænnen Milieuunterschiede Schich- zuordnen. Denn soziale Milieus stellen zwar
ten im Alltag trennen. ¹Die Grenze der Dis- relativ kohårente Binnenkulturen einer Ge-
tinktion trennt die oberen von den mittleren sellschaft, aber keine gesellschaftlichen Grup-
Milieus. Die Grenze der Respektabilitåt pen mit allgemein bekannten Namen und
trennt die mittleren von den unteren.ª 13 symbolisch klar verdeutlichten Grenzen dar.
Es handelt sich vielmehr um von Sozialwis-
Aber die Schichtzugehærigkeit gibt keines- senschaftlern ¹kçnstlichª abgegrenzte und be-
wegs zureichend çber die Milieuzugehærig- nannte Gruppierungen. Dies ist notwendig in
keit Auskunft. In der Regel finden sich inner- modernen Gesellschaften, in deren Sozial-
halb der einzelnen Schichten mehrere Milieus struktur kaum noch klar definierte Gruppie-
¹nebeneinanderª. Bestimmte soziale Milieus rungen existieren, wie dies frçher einmal der
erstrecken sich auch ¹senkrechtª çber Adel, das Groûbçrgertum und in Teilen auch
Schichtgrenzen hinweg. die Industriearbeiterschaft waren.
Neben der Schichtzugehærigkeit lenkt u. a. Soziale Milieus veråndern sich im Laufe der
auch die Kohortenzugehærigkeit die Men- Zeit. Sie werden græûer oder kleiner. Neue
schen in bestimmte Milieus: Øltere Men- Milieus bilden sich heraus, alte verschwinden
schen, die in Zeiten des materiellen Mangels oder teilen sich. Allein seit den achtziger Jah-
und autoritårer Ordnung aufgewachsen sind, ren hat sich der Bevælkerungsanteil traditio-
haben sich meist andere Mentalitåten bewahrt
13 Michael Vester u. a., Soziale Milieus im gesell- 14 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft,
kung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag des Autors len Milieus in Deutschland 2006 ist zu finden unter
in dieser Ausgabe. www.sinus-sociovision.de (15. 8. 2006)
APuZ 44 ± 45/2006 7
neller Milieus fast halbiert. 16 Dies geschah mischen bzw. soziodemographischen Ansåtze
wohl seltener, weil Menschen ihre Milieuzu- ein gutes Stçck weit verdrångt. 17
gehærigkeit wechselten. Vielmehr sind die
Menschen in den genannten Milieus håufig Die folgende, durchaus unvollståndige
schon alt. Diese Milieus sterben langsam aus. Aufzåhlung soll verdeutlichen, wie viele all-
tågliche Verhaltensunterschiede und prakti-
sche Problemstellungen allein in den letzten
Wozu dienen Milieustudien? Jahren in Forschungsprojekten in Verbindung
mit der Milieuzugehærigkeit der Menschen
Vieles spricht dafçr, dass sich die Mitglieder gebracht wurden:
moderner Dienstleistungsgesellschaften nicht
mehr so vorrangig wie die Menschen in typi- Soziale Milieus sollten Aufschluss geben çber
schen Industriegesellschaften in Abhångigkeit Unterschiede des Ressourcenverbrauchs und
ihrer Berufs- und Schichtzugehærigkeit defi- des ækologischen Bewusstseins; der Vorstel-
nieren. Vielmehr bestimmen die Angehærigen lungen çber die Kirchen und der Kirchenmit-
postindustrieller Gesellschaften ihren gesell- gliedschaft; in der Altenpflege in der Familie;
schaftlichen Ort nicht zuletzt auch durch ihre des Umgangs mit Geld; des Informationsver-
Milieuzugehærigkeit und ihren Lebensstil. haltens und der Zeitschriftenwahl; der ge-
Oft symbolisieren sie dies mit Kleidung, Mu- werkschaftlichen Arbeit; des Wahlverhaltens;
sikgeschmack etc. und tragen so ihre Zugehæ- der Erwachsenen- und der Weiterbildung; des
rigkeit nach auûen. Studierendenverhaltens; der Bildungschan-
cen; der Elitenrekrutierung; der journalisti-
Die Menschen, die einem bestimmten so- schen Arbeit; usw.
zialen Milieu angehæren, denken und verhal-
ten sich in der Praxis relativ åhnlich; Men- Milieustudien versuchen die Nutzung be-
schen die verschiedenen sozialen Milieus stimmter Medien, den Kauf bestimmter Kon-
angehæren, denken und handeln oft unter- sumgçter, die Neigung zu bestimmten Partei-
schiedlich ± und sie tun dies in weiten Berei- en etc. primår auf Grund der Werthaltungen
chen: Sie kaufen gleichartige bzw. andersarti- und Zielsetzungen von Menschen zu erklå-
ge Konsumgçter, wåhlen åhnliche bzw. ver- ren. Ist die Milieuzugehærigkeit eines Men-
schiedene Parteien, erziehen ihre Kinder schen bekannt, so weiû man viel darçber,
gleich bzw. anders usw. Milieugliederungen welche Sehnsçchte, welche Interpretationen,
dienen daher Marketinganalysten, um Ziel- Motive und Nutzenerwartungen er aufweisen
gruppen zu definieren, Wahlkampfstrategen, wird. Auf diese Weise hofft man voraussagen
um Wåhlerpotenziale zu erschlieûen, Soziali- zu kænnen, warum eine bestimmte Person
sationsforschern, um typische Lernstrategien eine bestimmte Zeitschrift lesen, eher eine be-
zu lokalisieren und zu erklåren. stimmte Partei wåhlen oder auf eine be-
stimmte Art studieren wird. Und umgekehrt
Weil die Zugehærigkeit zu sozialen Milieus will man so aufzeigen, welche Inhalte Zeit-
die jeweilige Selbstdefinition und Alltagspra- schriftenartikel, Werbebotschaften oder Par-
xis der Menschen beeinflusst, wurden Milieu- teiprogramme etc. aufweisen mçssen, um den
studien in den letzten beiden Jahrzehnten in Motiven und Werthaltungen bestimmter
zunehmendem Maûe zur Erklårung von Ver- Menschen zu entsprechen.
haltensunterschieden und so auch zur Læsung
praktischer Probleme eingesetzt. Dies ge- Sozioækonomischen Schichtungsansåtzen
schah im Rahmen der akademischen For- ist eine andere Erklårungsstrategie zu Eigen.
schung (vor allem in der soziologischen Die jeweilige Mediennutzung, Konsument-
Sozialstrukturanalyse, der politischen Sozio- scheidung etc. soll durch die Ressourcen er-
logie, der Jugend- und Sozialisationsfor- klårt werden, die den Einzelnen zur Verfç-
schung), mehr aber noch in Bereich der an- gung stehen, um ihre Ziele zu erreichen und
gewandten Sozialforschung. Vor allem im ihren Werthaltungen zu gençgen.
Marketing haben Milieuansåtze (und Lebens-
stilstudien) die herkæmmlichen sozioækono- Milieustudien sind mittlerweile weit ver-
breitet, vor allem in der angewandten Sozial-
16 Vgl. Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in
Deutschland, Opladen 20018, S. 434; vgl. M. Vester 17 Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den
8 APuZ 44 ± 45/2006
forschung. Angesichts der Tatsache, dass diese Abbildung 1: Sinus-Milieus in Russland
auf praktische Bewåhrung unmittelbarer an-
gewiesen ist als die akademische Forschung,
erstaunt es, dass exakte soziologische Prçfun-
gen zum Ergebnis kamen, dass sich die empi-
risch nachweisbare Erklårungskraft so man-
cher Milieuuntersuchung in Grenzen hålt. So
ermittelte etwa Gunnar Otte, dass nach Kon-
trolle anderer relevanter Variablen die Milieu-
zugehærigkeit fast nichts zur Erklårung kon-
kreter Wahlentscheidungen beitrågt.
APuZ 44 ± 45/2006 9
Abbildung 3: Meta-Milieus in Westeuropa und Michael Vester
Nordamerika
Soziale Milieus
und Gesell-
schaftspolitik
D ie Bundestagswahl 2005 hatte eine Neu-
besinnung auf die gesellschaftspoliti-
schen Orientierungen der Bevælkerung zur
Folge. Das Wahlergebnis war nicht nur ein
Quelle: Sinus Sociovision, The Sinus Milieus International/Meta Mi- Schock fçr die Volksparteien, die von den
lieus, Heidelberg 2006 (Manuskript); Ûbersetzung des Verfassers. 38,5 % des Jahres 2002 auf 35,2 % (CDU/
CSU) bzw. 34,2 (SPD) zurçckfielen. Es war
auch eine Ûberraschung fçr die Meinungsfor-
Fazit schung, die lange einen hohen Sieg der Union
und eine noch græûere
Postindustrielle Gesellschaften zeichnen sich Niederlage der SPD Michael Vester
in Zeiten der Globalisierung und der neuen vorausgesagt hatte. Dr. phil., geb. 1939; Prof. i. R.,
Informationstechnologien einerseits durch Zur Erklårung dieses Universität Hannover, Lehrge-
die Universalisierung von Normen (etwa was Desasters konkurrie- biet Politische Soziologie und
die Stellung von Frauen betrifft), andererseits ren zwei Thesen mit- Politische Sozialstruktur-
durch die Pluralisierung von Denk- und Le- einander. In beiden analyse.
bensweisen aus. Die Mentalitåten der Men- wird davon ausgegan- m.vester@agis.uni-hannover.de
schen gehen weit auseinander. Die Milieufor- gen, dass es in den
schung zeichnet diesen (keineswegs konflikt- Monaten vor der Bundestagswahl extrem
freien) Pluralismus nach und versucht, viele Unentschiedene unter den Wahlberech-
Verhaltensdifferenzierungen hieraus zu erklå- tigten gab. Dies wird zum einen mit der Auf-
ren. Sie legt in diesem Zusammenhang auch læsung langfristiger Parteibindungen (Erosi-
transnationale Sozialstrukturen offen. Dies onsthese), zum anderen mit der Enttåuschung
geschieht in den Sozialwissenschaften noch der durchaus fortbestehenden Parteiklientele
eher selten. Allerdings vollzieht sich die Mi- çber einen Kurswechsel ¹ihrerª Parteien
lieuforschung bislang zum guten Teil im Rah- (Enttåuschungsthese) erklårt.
men der angewandten Sozialwissenschaften.
Von hier aus gelangen genaue Konzept- und
Methodeninformationen bisher eher selten in Horizontale Verschiebung der
die akademischen Sozialwissenschaften. Sozialstruktur
Die erste These erklårt den Wahlausgang mit
dem Schlagwort des ¹individualisierten Wåh-
lers in der Mediendemokratieª, 1 bedingt
durch eine generelle ¹Individualisierungª.
Durch den Ûbergang zur ¹postindustriellen
Dienstleistungs- und Wissensgesellschaftª,
welche græûere individuelle Kompetenzen
fordere, verhielten sich die Wåhlerinnen und
Wåhler eher ¹volatilª (¹flatterhaftª) und wçr-
den diejenigen wåhlen, deren Angebot ihrem
individuellen Vorteil am meisten entgegen-
1 Manfred Gçllner/Hermann Dçlmer/Markus Klein
10 APuZ 44 ± 45/2006
komme. Es handelt sich also um das Modell sein soll. Dies geschieht nicht unabhångig
eines auf der Nachfrageseite in viele Einzelne von der beruflichen Stellung, aber doch rela-
aufgesplitterten, ¹atomistischenª Marktes. tiv autonom, durch viele eigene Instanzen der
Sozialisation und Erfahrung hindurch. So-
In der politischen Sozialstrukturforschung ziale Milieus sind nicht beliebig gewåhlte Le-
wird dies auf breiter empirischer Basis nach- bensstilgemeinschaften, sondern Teil einer so-
haltig in Frage gestellt. Die Gesellschaft wird zialen Gesamtgliederung. Entsprechend wer-
nicht als atomisierter Markt, sondern als Feld den sie, schon bei mile Durkheim, doppelt
verstanden, das dauerhaft in Berufsgruppen definiert: ,objektiv` als Zusammenhang von
bzw. Milieus gegliedert ist, die relativ stabilen Beziehungen (der Verwandtschaft, Gemeinde
gesellschaftspolitischen Pråferenzen folgen. oder Berufsgruppe) und ,subjektiv` durch die
Sozialstruktur und Pråferenzen veråndern Herausbildung eines gemeinsamen ¹Korpus
sich zwar, aber nur langsam und eher in der moralischer Regelnª und deren Verinnerli-
Form einer horizontalen Auffåcherung als chung in einem gemeinsamen ¹Habitusª. 3
der Auflæsung sozialer Groûgruppen.
Im Alltagsleben sind also åuûere Lebens-
Die Analysen der beruflichen Gliederung stellung und innerer Habitus relativ eng ¹ver-
gehen von dem ± auch den PISA-Studien zu- koppelteª Elemente einer ¹Lebensfçhrungª
grunde liegenden ± Modell der vertikalen (Max Weber) oder ¹Lebensweiseª (Raymond
Klassenschichtung von John Goldthorpe aus, Williams), durch welche die Milieus, Schich-
differenzieren dies aber zusåtzlich horizontal. ten oder Klassen sich voneinander abgrenzen
Walter Mçller entdeckte so die horizontale und innerlich zusammenhången. In groûen
Herausbildung modernerer ¹Klassenfraktio- empirischen Studien 4 ist fçr Frankreich wie
nenª mit eigenen gesellschaftspolitischen fçr die Bundesrepublik nachgewiesen wor-
Gruppenidentitåten. So wåhlen die oberen den, dass der Habitustyp immer noch eng auf
und traditionellen Klassenfraktionen (in der das jeweilige Berufsfeld abgestimmt ist, aller-
¹administrativenª Dienstklasse) aus ihrem In- dings auf dynamische und flexible Weise,
teresse an Autoritåtshierarchien eher konser- gleichsam çber ein Gummiband. Die Ver-
vativ und liberal. Die expandierenden Frak- mittlung zwischen beidem erfolgt durch die
tionen der ¹technischen Expertenª und der im Habitus angelegten Schemata des Ge-
¹sozialen Dienstleistungenª wåhlen, auf- schmacks und der Alltagspraxis und durch
grund ihrer Interessen an beruflicher Autono- milieueigene ¹Strategienª, welche die nach-
mie, eher ,rot-grçn`. Mçller kann die statisti- wachsenden Generationen auf bestimmte Bil-
sche Wahrscheinlichkeit dieser Pråferenzen dungs- und Berufswege fçhren und die nicht
angeben. Aber er låsst offen, warum Minder- nur zur ¹Reproduktionª der Klassenstellung,
heiten der Berufskategorien eben doch anders sondern auch zu ¹Umstellungenª taugen.
wåhlen und warum welche der verschiedenen Diese werden notwendig, wenn das ange-
Parteien innerhalb eines Lagers bevorzugt stammte Berufsfeld eines Milieus sich wan-
wird. 2 delt und beispielsweise zur bloûen Erhaltung
der sozialen Stellung hæhere Bildungsanfor-
derungen stellt.
Soziale Milieus
Entgegen den Klagen çber die Trågheit der
Das Berufsfeld ist nur das erste Glied einer Menschen mangelt es diesen keineswegs an
Vermittlungskette, an deren Ende die Partei- der Bereitschaft zu Umstellungen und zur
wahl steht. Um zu einer differenzierteren Ûbernahme von Eigenverantwortung. Aller-
Landkarte der gesellschaftspolitischen Vor- dings wird erwartet, dass Risiken, welche die
stellungen zu gelangen, mçssen wir uns dem Ressourcen und Planungen der Familien çber-
dazwischen liegenden Feld zuwenden: den fordern, durch staatliche Ordnungspolitik
Alltagsmilieus. Hier bilden sich die Vorstel-
lungen heraus, nach denen die Gesellschaft 3 mile Durkheim, Ûber soziale Arbeitsteilung,
im Alltag wie aus politischer Sicht geordnet Frankfurt/M.1988 [1893/1902], S. 44 ± 56; 245 ± 260.
4 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede,
2 Vgl. Walter Mçller, Klassenstruktur und Parteien- Frankfurt/M. 1982 [1979]; Michael Vester/Peter von
system. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahl- Oertzen/Heiko Geiling u. a., Soziale Milieus im ge-
verhalten, in: Kælner Zeitschrift fçr Soziologie und sellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt/M. 20012
Sozialpsychologie, 50 (1998) 1, S. 3±46. [1993].
APuZ 44 ± 45/2006 11
Abbildung 1: Soziale Milieus in Westdeutschland ± teilt in eine privilegierte, eine nichtprivilegierte
2003 ± und die ståndische Stufung der Bildungswege und eine unterprivilegierte Schichtungsstufe.
Horizontal teilt sie sich auf jeder Stufe nach
avant- eigen- hierarchie- ¹Klassenfraktionenª. Rechts sind die Milieus
zugeordnet, die an Einordnung in traditionelle
gardistisch verantwortlich gebunden autoritär
Differenzierungsachse
Respektable Avant- Bildungs- Gehobenes Herr-
Autoritåtshierarchien orientiert sind, links die
Volks-
und Arbeit-
garde-
milieu,
bürgerliches
Milieu, ca. 4%
41/23 bürgerliches
Milieu, ca. 4%
37/31 schafts- Milieus, die auf eigene Arbeitsleistung, Bil-
achse
nehmer- ca. 6%
Gehobenes Gehobenes dungskapital und Autonomie setzen.
milieus 28/15 Dienstleistungs- 27/11
kleinbürgerliches
6/3
Milieu, ca. 4% Milieu, ca. 3%
Trennlinie der Distinktion Diese Raumgliederung (Abbildung 1) hat eine erstaun-
lich verfestigte Form (und åhnelt darin frappierend der
40/15 Modernes
Modernes
Arbeitnehmer- kleinbürgerliches
22/3
milieu,
ca. 11% 15/8 11/6
Arbeitnehmer-
milieu, Gliederung anderer fortgeschrittener Gesellschaften 6).
Hedo-
ca. 12%
Die Gesellschaft teilt sich in hauptsåchlich fçnf Mi-
lieu-Groûgruppen (fett umrandet), die ihren Platz im
nisti- 10/5
Unter- sches
privilegierte
sozialen Raum schon seit Generationen weitergeben 7
Leistungs- 9/9
18/7
Volks- orientiertes
Milieu, 14/6 8/6
und daher als ¹Traditionslinienª gelten kænnen.
milieus Arbeitnehmer-
ca. 9% milieu, Traditionelles
Gleichwohl gibt es gewisse Bewegungen, in kleinem
ca. 18% kleinbürgerliches
Tradi- Arbeitnehmer-
tionelles
Arbeitnehmer-
milieu,
ca. 13%
8/4
Umfang zwischen und in beachtlichem Umfang inner-
2/2
milieu, ca. 6%
0/0
halb diesen Traditionslinien. Diese Bewegungen sind
Trennlinie der Respektabilität vor allem Ausdruck der beruflichen Umstellungen und
Unange- Statusorien-
des vermehrten Bildungserwerbs der jçngeren Genera-
Traditionslose Arbeitnehmermilieus
passte, ca. 2% Resignierte, tierte, ca. 3%
5/0 10/2 3/1
tionen und drången ± åhnlich einer sich håutenden
ca. 6%
Helmut Bremer/Michael Vester (Hrsg.), Soziale Mi- 6 Vgl. M. Vester u. a. (Anm. 4), S. 48 ±54.
lieus und Kirche, Wçrzburg 2002, S. 267 ±409. 7 Vgl. W. Vægele u. a. (Anm. 5).
12 APuZ 44 ± 45/2006
sich auch nach oben ab, als Arbeitnehmer und ¹kleine Angehærigen des Milieus schwer neue Jobs. Viele sind
Leuteª, die es durch eigene Leistung zu etwas gebracht dauerarbeitslos bzw. stårker in prekåren Wirtschafts-
haben. Sie sind daher sensibel gegençber Privilegierun- zweigen aktiv.
gen, welche die Grundsåtze der Leistungsgerechtigkeit
und Statussicherung verletzen, wie dies etwa bei der Ab- Sozialmodell und Bereitschaft
senkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfenivau
(¹Hartz IVª) geschieht. Horizontal sind zwei verfestigte
zum Wandel
Traditionslinien zu unterscheiden. Die kleinbçrgerliche
Das dargestellte Panorama der Milieus zeigt
Traditionslinie (rechts) trågt ståndisch-konservative
eine mehrheitliche Bereitschaft zur Eigenleis-
Zçge. Denn viele Angehærige stammen aus Familien
tung und zur Umstellung çber hohe Bil-
von Kleinbesitzenden, die sich auf Arbeitnehmerberufe
dungsaktivitåt, die aber an bestimmte gesell-
umstellen mussten, aber ihre Sicherheit immer noch von
schaftspolitische Bedingungen gebunden ist.
der Einordnung in Hierarchien erwarten. Die moderne
Durch die Erfahrungen im historischen So-
Traditionslinie (links) setzt dagegen auf Autonomie, er-
zialmodell der Bundesrepublik ist eine tiefe
worben durch eine planvolle Lebensfçhrung, gute fach-
Gewæhnung an diesen ¹Pfadª der Entwick-
liche Arbeit, Ausbildung und Leistung sowie gegenseiti-
lung entstanden. Gæsta Esping-Andersen 8
ge Hilfe. Ein Mensch soll nach seinen Werken beurteilt
unterscheidet drei Alternativen solcher natio-
werden und nicht nach seiner Zugehærigkeit zu be-
nalen Pfade, die sich in den verschiedenen
stimmten Geschlechts-, Alters- oder Volksgruppen.
Staaten aus historischen Konflikten zwischen
Råumlich weiter links findet sich eine ¹erlebnisorien-
den sozialen Gruppen herausgebildet haben.
tierteª Milieufraktion, die sich jugendspezifisch gegen
Sie beruhen auf der institutionellen Regelung
die Pflicht- oder Arbeitsethik der beiden groûen Tradi-
der Chancen sozialer Platzierung (çber das
tionslinien, das heiût ihrer Eltern, abgrenzt, aber gleich-
Bildungs- und Berufssystem), der materiellen
wohl auch arbeitnehmerisch orientiert ist.
Lage (çber Tarifparteien und Sozialsystem)
und der geschlechtlichen Arbeitsteilung (etwa
In der groûen Mitte ist die horizontale Bildungs-, Be- Entlastung der Famlienarbeit durch private
rufs- und Lebensstildynamik besonders ausgeprågt. In oder æffentliche Dienstleistungen). Eine ¹ge-
beiden Traditionslinien sind junge Milieufraktionen rechte Sozialordnungª kann je nach Pfad ver-
der so genannten ¹modernen Arbeitnehmerª rasch ge- schieden aussehen, nåmlich im
wachsen. Sie besetzen die konventionellen Dienst-
leistungen (¹Modernes Kleinbçrgerliches Arbeitneh- ± liberalen Modell (der angelsåchischen Lån-
mermilieuª) und die moderneren Dienstleistungen der) als staatliche Minimalsicherung fçr die
(¹Modernes Arbeitnehmermilieuª) mit mittlerem untersten Schichten und als private Selbstvor-
Qualifikationsniveau. Letztere Gruppe hat eine hohe sorge nach dem reinen Leistungsprinzip fçr
Abiturquote erreicht, die aber mehr fçr Fachschulbe- die mittleren und oberen Schichten;
such als fçr Aufstieg in akademische Berufe genutzt
± sozialdemokratischen Modell (Skandinavi-
wird. Die Volksmilieus sind nicht mehr bildungsfern,
ens) als staatliche Anhebung auch der unteren
sondern zur Hålfte çber die Hauptschule hinausge-
Schichten auf die individuellen Lebenschan-
langt, allerdings auf dem weiteren Weg in die hæhere
cen der modernen Mittelschichten;
Bildung abgebremst worden. Die andere, ¹untereª
Hålfte freilich ist von sozialen Schieflagen bedroht. ± korporativen Modell (des kontinentalen
Westeuropa) als Mischung aus dem modernen
Unterprivilegierte Volksmilieus: In den unterprivile- Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und dem
gierten Volksmilieus (gut 10 %) hat sich seit Genera- ståndischen Prinzip der Statussicherung, der
tionen die Erfahrung sozialer Ohnmacht verfestigt. Sicherung eines Rangplatzes in einer Hierar-
Entsprechend setzen die Angehærigen dieser Grup- chie gestufter Rechte und Pflichten.
pierung weniger auf planmåûige Lebensfçhrung als
auf die flexible Nutzung von Gelegenheiten und die Diese nationalen Pfade ± und ihre Misch-
Anlehnung an Stårkere. Diese Milieus, fçr die lange formen ± sind heute durch innere und globale
ungelernte und unstetige Beschåftigungen typisch Entwicklungen herausgefordert, sie mçssen
waren, hatten in der alten Bundesrepublik wie auch von Seiten der Politik umgebaut werden.
in der DDR erstmals dauerhafte, wenn auch kærper- 8 Vgl. Gæsta Esping-Andersen, Die drei Welten des
lich belastende, Beschåftigungen finden kænnen. Wohlfahrtskapitalismus, in: Stephan Lessenich/Ilona
Heute werden viele dieser Arbeitsplåtze in andere Ostner (Hrsg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus,
Lånder verlagert. Als gering Qualifizierte finden die Frankfurt/M. ± New York, S. 19± 56.
APuZ 44 ± 45/2006 13
Das korporative Modell beruht auf einem stark unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit
komplexen Aushandlungssystem zwischen genieûen, ist erschwert. Dies hat auch dazu ge-
Staat und Interessenorganisationen. Es enthålt fçhrt, dass Deutschland im internationalen
die Gefahr, bçrokratisch und ståndisch zu er- Vergleich zu wenige Akademiker und Hoch-
starren und zu einem Kartell von Besitz- qualifizierte hat.
standswahrern zu degenerieren, wenn es sich
nicht neuen sozialen Herausforderungen und Unterdurchschnittlich ist auch die Færde-
Gruppen æffnet. 9 Durch seine Risikoabsiche- rung der Sozial-, Gesundheits- und Bildungs-
rungen bietet es aber die Chance, die Bereit- dienstleistungen, die in anderen Låndern er-
schaft zum sozialen Wandel zu verstårken. heblich zur Verminderung ± nicht zuletzt der
Seit den Wachstumsjahren der Bundesrepu- weiblichen ± Arbeitslosigkeit und Prekårbe-
blik sind die Milieus horizontalen Struktur- schåftigung beitragen. Schlieûlich trågt die re-
wandel gewohnt. Durch zunehmende Pro- striktive Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik
duktivitåt und Ausbildungsniveaus wurden dazu bei, dass die inlåndische Konsum- und
vor allem in Landwirtschaft und Industrie Staatsnachfrage zu niedrig ist, um zu Wachs-
immer weniger Arbeitskråfte benætigt. Die tum und Abbau der Arbeitslosigkeit beizutra-
Milieus stellten sich aktiv auf anspruchsvollere gen. Die Staatsausgaben werden infolge des-
Arbeitsplåtze bzw. neue Beschåftigungsmæg- sen çbermåûig in die unproduktivste Aufgabe
lichkeiten, besonders in den Dienstleistungen, gelenkt: die Versorgung der Arbeitslosen. So-
um. Die Risiken der Umstellungen wurden ziale Schieflagen bedrohen inzwischen ein
durch staatliche Ordnungspolitik abgefedert, ganzes Spektrum von sozialen Gruppen. 10
um Teilhabe am Wirtschaftswachstum zu si- Durch diese Erfahrungen hat sich in den
chern oder Statusverluste zu vermeiden. meisten Milieus der Eindruck eines sozialpoli-
Seit etwa drei Jahrzehnten haben sich je- tischen Paradigmenwechsels verfestigt, in des-
doch die Risiken und die Regulierungskon- sen Ergebnis die Grundprinzipien der Leis-
zepte geåndert. Durch die zunehmende inter- tungsgerechtigkeit und Statussicherung aufge-
nationale Konkurrenz wurden zunåchst eher geben werden. Vier Fçnftel der Bevælkerung
gering qualifizierte, inzwischen aber auch stehen einem Wechsel insbesondere zum neoli-
immer mehr hæher qualifizierte Arbeitsplåtze beralen Pfad sehr ablehnend gegençber. Em-
in die aufstrebenden Schwellenlånder verla- pærung entsteht, wenn beispielsweise Entlas-
gert. Damit stehen auch die besser qualifizier- sungen von solchen Firmen vorgenommen
ten und ¹leistungsstarkenª mittleren Milieus werden, die hæchste Gewinne einfahren. Ab-
vor neuen Herausforderungen. Auch sie mçs- senkungen sozialer Sicherungen auf Minimal-
sen fçrchten, dass die Risiken ihrer Umstel- standards, etwa das Sozialhilfeniveau des Ar-
lungen nicht mehr hinreichend flankiert wer- beitslosengeldes II (¹Hartz IVª), werden als
den und dass die restriktive staatliche Haus- Verletzungen des zentralen Grundsatzes ange-
haltspolitik die Zunahme ungleicher Chancen sehen, dass die durch eigene Leistung ermæg-
noch verstårkt. lichte Lebensweise auch in der Not fortgesetzt
werden kann.
Dies beginnt mit den von den PISA-Studien
festgestellten çberdurchschnittlichen Bil- Der moralische Schmerzpunkt (und damit
dungsbarrieren. Die Bildungspolitik hat bis- der sozialpolitische Interventionspunkt) ist fçr
her nicht nur versåumt, die ¹Bildungsarmutª, die meisten Milieus nicht erst dann erreicht,
welche die unteren zwanzig Prozent der Be- wenn ein absolutes materielles Minimum un-
vælkerung von qualifizierten Arbeitsplåtzen terschritten wird, wie im englischen Sozialmo-
ausschlieût, zu beheben. Sie hat auch fçr eine dell. Er ist bereits erreicht, wenn die gewohnte
Kanalisierung der Bildungsexpansion gesorgt, respektable Lebensweise und die Vorstellun-
die die groûen mittleren Arbeitnehmermilieus gen einer gerechten sozialen Ordnung in Frage
hauptsåchlich in die mittlere Allgemein- und gestellt werden. 11
Berufsbildung lenkt. Der Zugang zu den aka-
demischen Berufen, die immer noch privile- 10 Vgl. Franz Schultheis/Kristina Schulz, Gesellschaft
gierte Standards der Einkommen, des Anse- mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im
hens und der sozialen Sicherung sowie eine deutschen Alltag, Konstanz 2005.
11 Vgl. Michael Vester, Der Kampf um soziale Ge-
9 Vgl. Reinhard Kreckel, Politische Soziologie sozialer rechtigkeit, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.),
Ungleichheit, Frankfurt/M. ± New York 20042. Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006 (i. E.).
14 APuZ 44 ± 45/2006
Gesellschaftspolitische Lager dellenª. Unsere ± wieder stark vereinfachende
± Abbildung 2 zeigt, dass sie sich schwer-
Welches sind nun die Ordnungsmodelle, an punktmåûig im Raum der Milieus verorten
denen sich die Bevælkerung orientiert? Schon lassen. Allerdings çberschneiden sich, wie er-
die klassische Wahlforschung von Paul La- wartet, Milieugrenzen.
zarsfeld u. a. geht von sozialen ¹Cleavagesª
oder Trennlinien aus, die sich çber die Gene- Abbildung 2: Die gesellschaftpolitischen Lager im
rationen vererben. Ihre Nachfolger 12 haben Raum der Milieus
aber festgestellt, dass diese Trennlinien kein
unmittelbares Abbild der ækonomischen
Trennlinien zwischen oben und unten sind.
In den parteipolitischen Lagern çberschnei-
den sich vielmehr wirtschaftliche, konfessio-
nelle, regionale und sozialmoralische Trennli-
nien. Dass die politischen Lager nicht direkt
aus den ækonomischen Klassenteilungen ab- Radikaldemokratisches Lager Traditionell-Konservatives Lager
geleitet werden kænnen, ist nicht etwa die (ca. 11%) (ca. 14%)
Folge einer ¹Entkoppelungª von sozialer
Lage und politischem Bewusstsein, wie die
¹Erosionstheseª annimmt. Es ist der histori-
sche Normalfall. Dieser beruht auf den Ei-
genheiten des politischen Feldes, das sich
meist in Koalitionen gliedert, die Milieugren-
zen çberschneiden. Die Fçhrungsgruppen Sozialintegratives Lager Gemäßigt-Konservatives Lager
sind eher in anderen, hæheren Milieus, die mit (ca. 13%) (ca. 18%)
APuZ 44 ± 45/2006 15
und des sozialen Flçgels der CDU/CSU sind. Das der Union (35,2 %) zur SPD (34,2 %). Dies
Lager der Sozialintegrativen tritt fçr gleiche Rechte schien die These von den ¹sprunghaften
aller sozialer Gruppen ein, das heiût sowohl fçr die Wechselwåhlernª zu beståtigen, erwies sich
¹materielleª Verteilungsgerechtigkeit fçr Arbeitneh- aber bei nåherer Analyse der Wåhlerwande-
mer und Unterprivilegierte als auch fçr die ¹postmate- rungen als optische Tåuschung. Die Umfra-
riellenª Rechte der Zivilgesellschaft, der Frauen, Aus- geinstititute hatten offenbar die 28 % Unent-
lånder, der Natur usw. Das Lager stçtzt sich auf die schlossenen falsch interpretiert. Sie hielten sie
moderne Reformintelligenz, die nicht nur oben, son- nicht fçr enttåuschte Stammwåhler, sondern
dern auch in den mittleren Milieus der Sozialberufe, fçr ungebundene Wechselwåhler. Die Unent-
der Gewerkschaften und der Kirchen verankert ist. schiedenen haben dann jedoch nicht die
Damit ist es råumlich und moralisch einem anderen CDU symmetrisch gestårkt, sondern çber-
Lager nahe, den Skeptisch Distanzierten, die vor allem wiegend das ,linke` Lager, in dem die politi-
aus den Volksmilieus der Facharbeit kommen und ein sche Enttåuschung noch græûer war.
Modell der Solidaritåt auf Gegenseitigkeit vertreten.
Wer zu Produktivitåt und Sozialstaat beitrågt (und wer Das Wahlergebnis beståtigt die Annahme
unverschuldet in Not ist), soll auch daran teilhaben. ± langfristiger Bindungen an gesellschaftspoliti-
Beide Lager sind in ihren Vorstellungen von Solidaritåt sche Ordnungsmodelle. Der nachhaltige Ver-
von der Politik der Volksparteien stark enttåuscht. trauensverlust der Volksparteien ist bereits
seit den achtziger Jahren an den Wahlergeb-
Ein drittes Paar von komplementåren Lagern ent- nissen und an den Umfragedaten zur ¹politi-
spricht dem ideologischen Gegensatz von ¹Eliteª und schen Verdrossenheitª abzulesen. 14 Schon in
¹Masseª oder ¹ideellª und ¹materiellª. Das Lager der den neunziger Jahren lag die CDU einmal bei
Radikaldemokraten, links oben im sozialen Raum, ver- 35,1 % (1998) und die SPD einmal bei 33,5 %
tritt die postmateriellen Ideale, wåhrend es fçr mate- (1990) und ein anderes Mal bei 36,4 % (1994).
rielle Ungleichheiten eher unsensibel ist. Wirtschaftsli- Die Daten belegen keine Erosion, sondern
berale Akzente sind hier stårker als sozialliberale. Das eine langfristige Verschiebung der Parteiprå-
Lager ist daher Hochburg der ¹Grçnenª und eines ge- ferenzen, und zwar sowohl zwischen den gro-
wissen progressiven Neoliberalismus. Dass es kaum ûen Parteilagern wie innerhalb dieser. Das
Anhånger unterhalb der oberen Milieus hat, liegt of- ,bçrgerliche` Lager ist nachhaltig um etwa
fensichtlich an einer elitistischen Ideologie, die die ei- 10 % auf 45 % geschrumpft, das ¹rot-grçneª
gene hæhere Position mit einer puritanischen Arbeits- um etwa 6 %, auf etwa 51 % gewachsen, aber
ethik rechtfertigt, die den Volksmilieus abgesprochen nicht zugunsten der SPD, sondern der ¹Grç-
wird. Ihm entgegengesetzt ist das Lager der Enttåuscht nenª (auf 8,1 %) und der PDS/Linkspartei
Autoritåren, mit beklemmenden 27 %. Es vereint Ver- (auf 8,7 %). Die Zahl der Nichtwåhler stieg
lierer der ækonomischen Modernisierung, insbesonde- von 10,9 % auf 22,3 % (1980±2005) bei den
re åltere, aber teilweise auch jçngere Milieus mit wenig Bundestagswahlen und von etwa 18 % auf
Bildungskapital und unsicheren Zukunftsperspektiven. mehr als 40 % (2006) bei den Landtagswah-
Sie verarbeiten ihre Ausgrenzung ± anders als die de- len. Zudem verbirgt sich in den 6 % der Split-
mokratische Mitte ± nach autoritårem Muster, mit Res- terparteien ein rechtspopulistisches Potenzial.
sentiments gegen Auslånder, alles Moderne und die
Politiker, die ihre Fçrsorgepflichten vernachlåssigen. Die Abwahl der rot-grçnen Koalition war
Aus Realismus wåhlen sie meist CDU/CSU und SPD. somit die Quittung fçr eine Politik der sozia-
Regionalwahlen zeigen aber, dass ± wie in anderen len Asymmetrie, die vor allem Stammwåhler
Låndern Europas ± rechtspopulistische Parteien bis zu in den Lagern der Arbeitnehmermitte ver-
20 % Proteststimmen gewinnen kænnen. prellte. Dies hatten schon die hohen, bis zu
zweistelligen Niederlagen bei vielen Land-
tagswahlen gezeigt. Die hohen Verluste der
Wandel der Parteienkonstellationen CDU/CSU kænnen ebenfalls durch einen
wirtschaftsliberalen Pfadwechsel, den Angela
Die Wahlniederlage der Volksparteien vom Merkel propagiert hatte, erklårt werden.
September 2005 war nur fçr diejenigen ein
Schock, die auf die Meinungsumfragen ge- Die Bundestagswahl hat eine Parteien-
setzt hatten. Diese hatten der CDU/CSU konstellation geschaffen, die eine andere Dy-
noch im Juli mehr als 40 %, der SPD um
30 % vorausgesagt. Das Wahlergebnis sah 14 Vgl. Oskar Niedermayer, Die Parteien nach der
dann aus wie ein kurzfristiger ¹swingª von Bundestagswahl 2002, Opladen 2003.
16 APuZ 44 ± 45/2006
namik der gesellschaftspolitischen Kråfte er- Haupthindernis ist die ± im internationalen
mæglicht. Die alte Konstellation entsprach Vergleich ± çbertrieben restriktive Haushalts-
noch einem erweiterten Zweiparteiensystem, und Einkommenspolitik, welche die Inlands-
dominiert von der Konfrontation der beiden nachfrage çbermåûig dåmpft. Ein dringend
Groûen, die ± çber die Stårkung der jeweiligen erforderlicher modernisierter Keynesianis-
Opposition auf Lånderebene ± eine Blo- mus wird sich ± wie vor achtzig Jahren in der
ckierung gesellschaftspolitischer Alternativen letzten Weltwirtschaftskrise ± nicht allein
nach sich zog. Die Konfrontation verstårkte deshalb durchsetzen, weil Experten entspre-
den Disziplinierungsdruck nicht nur auf die chende Blaupausen vorlegen. Er kann sich
kleinen Partner, sondern auch auf die inneren nur, wie damals, neu entwickeln, wenn der
Flçgel der Volksparteien. Die kleinen Partner alltagspraktische Druck von unten, die
und die Flçgel sind aber die Repråsentanten Dåmpfung der Nachfrage zu beenden, zu-
der feiner fraktionierten gesellschaftlichen nimmt. Jeder Euro, der zusåtzlich fçr Ler-
Stræmungen, die sich im korporativen Politik- nende, Kranke, Alte, Infrastrukturen und alle
feld, in intermediåren Bewegungen, Institu- anderen vorgeblich kostentreibenden Zwecke
tionen, Verbånden und Teilæffentlichkeiten, ausgegeben wird, kehrt in Wirklichkeit als
organisieren. Sie sind dem Druck sozialer Nachfrage auf den Markt zurçck. Im Dienst-
Strukturverånderungen stårker ausgesetzt und leistungssektor liegen, wie das Beispiel ande-
reagieren auf diese zwar auch meist verspåtet, rer Lånder zeigt, die græûten Potenziale fçr
aber doch reger als die zentrale Politik. eine Erholung der Beschåftigung.
Neue historische Kompromisse, die Mo- Es kann sich dabei als Illusion erweisen,
dernisierung und soziale Balance verbinden, nur auf den Konkurrenzdruck der Linkspar-
sind trotz der Verschiedenheit der Lager tei, die der SPD sicherlich mehr Wåhlerinnen
mæglich. Sie enthalten durchaus einen poten- und Wåhler abspenstig machen kann als bis-
ziellen gemeinsamen Nenner. Dessen Kern her, oder gar auf eine spåtere Linkskoalition
bilden mit 49 % die Solidaritåtsmodelle der zu setzen. Ein Machtkartell der Volksparteien
drei Lager der arbeitnehmerischen Mitte: der mit seiner çberwåltigenden Mehrheit dçrfte
¹Sozialintegrativenª, der ¹Skeptisch-Distan- es sich durchaus leisten kænnen, nach rechts
ziertenª und der ¹gemåûigt Konservativenª. und links immer wieder Stimmen zu verlieren
Solidaritåt und Eigenleistung gehæren fçr und doch weiterzuregieren. Es ist nicht aus-
diese Lager zusammen und kænnen nicht ± zuschlieûen, dass eine konservativ-technokra-
wie in neoliberalen oder protektionistischen tische Koalition fçr einige Zeit eine revidierte
Sozialmodellen ± gegeneinander ausgespielt ¹soziale Marktwirtschaftª institutionell si-
werden. Allerdings teilen sich die Solidari- chern kann. Das Machtzentrum der Koalition
tåtsmodelle horizontal in eine ståndische Un- liegt bei den Repråsentanten der konservati-
tergruppe, die u. a. von den konservativen ven Arbeitnehmermilieus in allen Volkspar-
Gewerkschaftern in der CDU (Arbeitneh- teien. Deren Konzept ist nicht soziale Chan-
merflçgel) und in der SPD (¹Seeheimer cengleichheit, aber doch die Gewåhrleistung
Kreisª) vertreten wird, und eine modernere einer gewissen sozialen Sicherheit fçr die
Untergruppe, die u. a. von der SPD-Linken Mehrheit der Milieus in Gestalt einer hierar-
(¹Demokratische Linke 21ª) repråsentiert chisch gestuften Ordnung, unterschichtet von
wird. einer unterprivilegierten Klasse, wenn diese
die kritische Græûe des ¹submerged fifthª 15
Die Groûe Koalition bietet die Chance, dass nicht çberschreitet. Die Erwartung, die kon-
diese beiden Lager an einem Strang ziehen. servative Abmilderung krasser sozialer Pola-
Diese bietet sie freilich auch ihren Gegnern in risierungen wçrde den sozialen Frieden auf
den konservativen, liberalen und technokrati- Dauer sichern, wird sich nicht erfçllen. Denn
schen Parteiflçgeln. Die Chance eines neuen die modernen Milieus brauchen mehr als eine
historischen Kompromisses bestçnde zudem Rçckkehr in die sichere, aber bevormunden-
in potenziellen vertikalen Aushandlungspro- de Hierarchie der fçnfziger Jahre.
zessen, dass das Traditionell-konservative
Lager nun mit am Koalitionstisch sitzt. Der in
15 Michael Harrington, Das andere Amerika. Die Ar-
einer Groûen Koalition denkbare neue histori-
mut in den Vereinigten Staaten, Mçnchen 1964.
sche Kompromiss kænnte auch auf die çbrigen
Lager ausstrahlen.
APuZ 44 ± 45/2006 17
Carsten Ascheberg Ansprçchen, das Bekenntnis zum Genuss
oder die Lust an der Verweigerung etc. Selbst
nales Zielgrup- und nicht nur dort, wie wir feststellen konn-
ten ± werden nicht mehr, genauer: nicht mehr
in erster Linie, durch schichtbezogene Varia-
18 APuZ 44 ± 45/2006
sche Markt- und Sozialforschung eine Art schiedliche Aspekte der Lebensweise, alltags-
Zeitenwende, sondern erweiterte das soziolo- åsthetische Neigungen usw.).ª 3
gische Verståndnis nachindustrieller Gesell-
schaften und deren spezifische Verånderungs- Modellbedingungen fçr das Marketing:
dynamik çberhaupt. Es hat seither in Wirt-
schaft und Wissenschaft nicht nur hohe Alltagsnåhe, Stabilitåt, Dynamik
Resonanz, sondern auch zahlreiche Nachah-
mer gefunden. Erster Kunde des Modells Gerade seine Fåhigkeit, sowohl die Stabilitåt
çberhaupt war mit BMW ein Unternehmen gesellschaftlicher Strukturen ± Menschen ån-
der Automobilindustrie, die in den Folgejah- dern ihre grundlegenden Wertorientierungen
ren immer zahlreicher auf dessen Leistungsfå- und lebensweltkonstitutiven Zusammenhån-
higkeit setzen sollte. Heute beteiligen sich ge nicht im Jahresrhythmus ± als auch deren
fast alle groûen internationalen Automobil- spezifische Verånderungsdynamik abzubil-
hersteller aus Europa, Asien, Amerika an der den, machte das Ueltzhæffer-Flaigsche Mi-
weltweiten SIGMA-Milieuforschung. Sie lieumodell zu einem der international erfolg-
låsst sich an nahezu allen Punkten der reichsten Ansåtze der soziokulturellen
betrieblichen Wertschæpfungskette erfolg- Marktsegmentierung. Das ursprçngliche Mi-
reich einsetzen, beispielsweise fçr Produkt- lieumodell wurde daher auf der Grundlage
entwicklung, Produkttests und -kliniken, De- umfangreicher qualitativer wie auch quanti-
sign, Marktsegmentierung, Lifecycle-Mana- tativer Erhebungen kontinuierlich weiterent-
gement, Markenfçhrung, Zielgruppen- wickelt. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinte-
Marketing, werbliche Kommunikation etc. 2 resses standen (und stehen) immer die Ver-
ånderungen der Alltagswelt (Arbeitsalltag,
Was sind nun aber Soziale Milieus? ¹So- Freizeit, Urlaub, Konsum etc.) und deren
ziale Milieus beschreibenª ± ich folge hier subjektive Interpretation durch die Men-
Ueltzhæffers Darstellung der theoretischen schen selbst. Es gehærte zur methodischen
Grundlagen seines Modells ± ¹Menschen mit Besonderheit der Milieuforschung von An-
jeweils charakteristischen Einstellungen und fang an, den Menschen durch nicht-direktive
Lebensorientierungen. Sie fassen, ganz allge- narrative Interviews mæglichst frei und un-
mein gesprochen, soziale Gruppen, also Men- beeinflusst die Mæglichkeit zu geben, ihre
schen, zusammen, deren Wertorientierungen, subjektive Wirklichkeit darzustellen. Sie er-
Lebensauffassungen und Lebensweisen åhn- zåhlen selbst, was in ihrem Leben von Be-
lich sind. Die Milieuanalyse zielt dabei auf deutung ist, was sie nur am Rande interes-
den ganzen Menschen, versucht also nicht, siert oder çberhaupt nicht. Sie beschreiben
wie etwa die Klassen- oder Schichtanalyse, die Alltagswelt aus ihrer Perspektive, æffnen
ein einziges oder einige wenige objektive die Tçr zu ihrer Wohnung, um zu zeigen,
Merkmale typisierend zu verdichten. Umge- wie sich ihre subjektive Lebenswelt åsthe-
kehrt isoliert sie auch nicht ein einziges oder tisch abbildet (davon legen wir in allen Lån-
einige wenige subjektive Merkmale des Kon- dern, die wir nach Sozialen Milieus segmen-
sums, Geschmacks oder des Lebensstils, um tieren, umfassende Fotodokumentationen an)
die Sozialwelt als strukturlose Agglomeration ± und liefern damit die Grundlage fçr die
von Individuen und Subkulturen erscheinen Entwicklung lånderspezifischer Statement-
zu lassen. Sie sucht vielmehr alle jene ± sub- Batterien (den so genannten ¹Milieu-Indika-
jektiven wie objektiven ± Merkmale empiri- torenª), mit deren Hilfe man groûe repråsen-
scher Analyse zugånglich zu machen, die die tative Stichproben nach Milieuzugehærigkeit
soziokulturelle Identitåt des Einzelnen kon- segmentieren kann.
stituieren (Wertorientierungen, Lebensziele,
Arbeitseinstellungen, Freizeitmotive, unter- Auf diese Weise identifizierte Ueltzhæffer
beispielsweise bereits Mitte der achtziger
Jahre ein damals neu entstehendes Milieu, das
2 Zur Relevanz der Milieuforschung fçr das Marke-
ting als Beispiele fçr viele: Heribert Meffert, Marke- 3 Jærg Ueltzhæffer, Europa auf dem Weg in die Post-
ting. Grundlagen marktorientierter Unternehmens- moderne. Transnationale soziale Milieus und gesell-
fçhrung, Konzepte ± Instrumente ± Praxisbeispiele, schaftliche Spannungslinien in der Europåischen Uni-
Wiesbaden, 19988, S. 192 ff. und Silke Vogelsang, Der on, in: Wolfgang Merkel/Andreas Busch (Hrsg.),
Einfluss der Kultur auf die Produktgestaltung, Kæln Demokratie in Ost und West, Frankfurt/M. 1999,
1999, S. 198 ff. S. 629 ff.
APuZ 44 ± 45/2006 19
Abbildung 1 ± Die SIGMA Milieus in Deutschland 2006 4
Sozialer Status
Obere
Liberal-Intellektuelles
Milieu Post-
Mittelschicht modernes
7,6% - 5.3 Mio Milieu
6,3%- 4.4 Mio
Aufstiegs-
orientiertes Modernes
Traditionelles Milieu bürgerliches
Mittlere bürgerliches Milieu Modernes
Mittelschicht Milieu 17,7% - 12.3 Mio Arbeitnehmermilieu
12,7% - 8.9 Mio
8,4% - 5.9 Mio
10,7% - 7.5 Mio
Hedonistisches
Untere Traditionelles Milieu
Arbeitermilieu 10,7% - 7.4 Mio
Mittelschicht
4,2% - 2.9 Mio Konsum-
materialistisches Milieu
Unterschicht 11,4% - 8.0 Mio
Wertorientierung
20 APuZ 44 ± 45/2006
wie vor eine wichtige ± finanziell nicht selten gutsitu- mierter Marken, Edel-Konsum ein natçrlicher Be-
ierte ± Zielgruppe im Markt dar. standteil ihrer Alltagswelt. Beruflicher Erfolg steht auf
ihrer Werteskala ganz oben, ist aber kein Selbstzweck,
Wichtig: geordnete finanzielle und familiåre Verhålt- sondern ermæglicht einen aufwåndigen Lebensstil mit
nisse, Sicherheit, angemessener (bçrgerlicher) Lebens- Fernreisen und Nobelsportarten, Luxusartikeln und
standard. Designermæbeln. Aus Marketingsicht gehæren die
Aufstiegsorientierten zu den interessantesten Zielgrup-
Traditionelles Arbeitermilieu pen fçr Premium-Marken. In Deutschland gehæren
çber zehn Millionen Menschen zu diesem konsum-
Industriegesellschaftlich geprågtes Arbeitermilieu, teil- freudigen und vielfach besonders kaufkråftigen Milieu.
weise noch mit starker gewerkschaftlicher Bindung.
Håufig sozial und politisch autoritår eingestellt (Ver- Wichtig: Prestige, Zugehærigkeit zu den ¹Reichen und
teidigung des Erreichten). Schænenª, Luxuskonsum.
APuZ 44 ± 45/2006 21
Jung, flexibel, ambitioniert, konsumfreudig, so zeigen ketingstrategien, sind besonders hohe Anfor-
sich die meisten Angehærigen dieses fçr das Lifestyle- derungen zu stellen. Vor allem mçssen die
Verståndnis im modernen Mainstream so wichtigen Zielgruppen sich çber die Zeit als trenn-
Milieus. Aber Vorsicht! Kaum ein Milieu ist so wenig scharf und stabil erweisen. Eine im Auftrag
markentreu wie das Moderne Arbeitnehmermilieu. der BMW-Marktforschung von SIGMA
durchgefçhrte Panel-Studie erbrachte dafçr
Wichtig: Lebensfreude (Ausgleich zwischen Arbeit, den erforderlichen empirischen Nachweis.
Freizeit und Familie), soziale Kontakte, individuali- Dabei wurden 2000 Personen, die 1999/2000
sierter Konsum. befragt und nach Milieus klassifiziert worden
waren, fçnf Jahre spåter noch einmal ange-
Hedonistisches Milieu schrieben, neu nach Milieuzugehærigkeit
klassifiziert und gleichzeitig ausfçhrlich nach
Jugendkulturelles, ausgesprochen konsum-hedonis- den Verånderungen ihrer Lebensumstånde
tisch eingestelltes Milieu mit unkonventionellen Le- befragt. Erfreulicherweise machten mehr als
bensformen. Eskapismus und Stilprotest als Wege zur vier Fçnftel der angeschriebenen Personen
Identitåt. Nåhrboden neuer Moden und Geschmacks- dabei mit. Wie zu erwarten, hatten sich in
kulturen. vielen Fållen die Lebensumstånde zum Teil
dramatisch veråndert: Menschen lieûen sich
Freiheit, Ungebundenheit und Spontaneitåt (sich von scheiden, kåmpften mittlerweile ungeplant
niemandem etwas vorschreiben lassen) sind zentrale mit wirtschaftlichen Problemen oder hatten
Werte dieses Milieus. Normen, Konventionen und schneller Karriere gemacht als erwartet,
Verhaltenserwartungen der Gesellschaft (Eltern, Leh- waren mittlerweile allein oder hatten in der
rer, Ausbilder, Chefs) werden ± teilweise aggressiv ± Zwischenzeit Haus, Garten und Familie er-
zurçckgewiesen. Die ståndige Suche nach Kommuni- worben. Und dennoch: Bei rund drei Viertel
kation, Abwechslung und Unterhaltung prågt die Frei- der Personen waren die Werteorientierung
zeit- und Konsumansprçche. Man mæchte das Leben und damit die Einordnung in das jeweilige
genieûen, intensiv leben, aus den Zwången des Alltags Soziale Milieu stabil geblieben, die anderen
ausbrechen. wechselten çberwiegend in unmittelbare
Nachbarmilieus.
Wichtig: Coolness, ¹Fun and Actionª, Abwechslung,
starke Reize. Die Zugehærigkeit von Personen zu be-
stimmten Milieus çber die Zeit und damit die
Postmodernes Milieu Stabilitåt der Milieus beweisen nicht nur die
Praxisrelevanz des Modells, sondern sind
Junges, formal zumeist hoch gebildetes Avantgarde- auch die methodische und theoretische Vo-
Milieu mit Schwerpunkt in den Metropolen. Lebens- raussetzung, um dem betrieblichen Marke-
stil-Trendsetter mit radikal subjektivistischer Lebens- ting als Basis fçr långerfristige Produktent-
philosophie: Der Einzelne als ¹Ingenieurª seines per- wicklungen dienen zu kænnen. Auf Compu-
sænlichen Universums. ter-simulierte Zielgruppen, die sich
permanent in Umfang und Interpretation ån-
Sie sind selbstbewusste Lifestyle-Architekten, die sich dern, kann niemand bauen. Die Kontinuitåt
ohne Bauanleitung aus ihrem individuellen ¹ construc- von Modell und Methode ist andererseits
tion kitª einen Lebensstil nach ihrem persænlichen auch die Voraussetzung dafçr, Abweichungen
Maû schneidern. Hier wird die (postmoderne) Frei- und Verånderungen in Einstellungen und/
heit des ¹anything goesª gepflegt (ausgenommen: oder Verhalten schnell und mit græûerer
der ¹Durchschnittsgeschmackª), die traditioneller ge- Sicherheit erkennen zu kænnen. Sieben der
stimmten Menschen manchmal den Angstschweiû auf acht Sozialen Milieus, die Jærg Ueltzhæffer
die Stirn treibt. und Berthold Flaig 1980 entworfen und in ihr
ursprçngliches Milieumodell aufgenommen
Wichtig: Identitåt von Ich und Auûenwelt (z. B. Mar- hatten, sind nach wie vor in unserem deut-
ken, Produkte), Toleranz von Widersprçchen, multiple schen Milieumodell vertreten. Verånderte
Identitåten. Græûenordnungen, Werte, Einstellungs- und
Verhaltensmuster reflektieren die wirtschaft-
An ein Modell, das die Basis bildet fçr lån- lichen, kulturellen und gesellschaftlichen Ent-
gerfristige Produktentwicklungen und Mar- wicklungen der Zeit.
22 APuZ 44 ± 45/2006
Abbildung 2 ± Die globale Milieu-Forschung des SIGMA-Instituts
seit
1996
seit 2004
seit 1990
seit 1994 seit 1995
seit 2000
seit
2005
seit 2006
APuZ 44 ± 45/2006 23
wie sich der amerikanische Postmoderne ent- im Marketing kann uns der Besitz unterschied-
sprechend seiner sozialen Prågung und Um- licher Produkte der U- und IT-Elektronik in
gebung anders darstellen mag als der deut- Europa (die Mårkte Deutschlands, Frank-
sche. Es ist von entscheidender Bedeutung, reichs, Groûbritanniens, Italiens uns Spaniens
die verbindende Wertestruktur zu erkennen zusammen genommen), Japan und den USA
und somit die çber nationale und regionale dienen. Der japanische Markt fçhrt in nahezu
Grenzen hinweg soziokulturell verwandten allen Produktkategorien, gefolgt vom amerika-
Zielgruppen, ohne dabei die fçr spezifische nischen. Verglichen mit diesen beiden Mårkten
Marketingaufgaben notwendigen Informatio- liegen die europåischen Verbraucher beim
nen çber nationale und regionale Besonder- High-Tech-Konsum weit zurçck. Warum dies
heiten auszulassen. so ist und welche Schlussfolgerungen fçr das
Marketing der Branche daraus zu ziehen sind,
Weltweit operierende Hersteller wie bei- zeigt die Milieu-Analyse.
spielsweise die BMW Group, die Toyota
Motor Corporation (TMC) oder der Volks- Untersucht man beispielsweise den Besitz
wagen-Konzern (allesamt Kunden unserer von ¹Breitband-Internetzugangª ± die Unter-
globalen Milieuforschung) benætigen einen schiede zwischen Europa auf der einen und
Zielgruppen-Ansatz, der dies leistet und so- Japan mit den USA auf der anderen Seite sind
wohl die Besonderheiten nationaler und re- in diesem Produktfeld besonders deutlich aus-
gionaler Mårkte wie auch lånder- und regio- geprågt ± im europåischen Markt vor dem Hin-
nençbergreifende Marktstrukturen in Form tergrund der transnationalen europåischen Mi-
transnationaler Zielgruppen-Segmente er- lieusegmente (SIGMA Transnational Consu-
schlieût. Erkennt die Milieuforschung fçr mer CulturesH), so zeigen sich dramatische
bestimmte Gruppen nationaler Mårkte in Unterschiede: weit çberdurchschnittliche Be-
ausreichendem Maûe marktkonstitutive Ge- reitschaft, sich dieser Zukunftstechnologie zu
meinsamkeiten, wie beispielsweise im Fall æffnen, in den modernen Milieus, das ¹grçnem
der wichtigsten europåischen Mårkte, Japans Konsumª ansonsten çberdurchschnittlich auf-
und der USA, so lassen sich in der Tat geschlossene europåische Upper-Liberal-Seg-
transnationale Milieusegmente mit jeweils ment eingeschlossen; weit unterdurchschnittli-
åhnlichen Wertorientierungen und Lebens- ches Interesse in den traditionell orientierten
stilen identifizieren. Innerhalb eines solchen Milieusegmenten. Dieses Beispiel belegt erneut
Segmentes ist die kulturelle Ûbereinstim- nachdrçcklich, dass eine rein Schicht-bezogene
mung (hinsichtlich Wertorientierungen, Analyse zu unzureichenden, wenn nicht fal-
Lebensweise, Konsummustern, politischen schen Einsichten gefçhrt håtte. Die Milieuana-
Grundeinstellungen usw.) nicht selten hæher lyse zeigt sich der Schichtanalyse çberlegen
als zwischen ± hinsichtlich Wertorientierun- (Abbildung 3).
gen und Lebensstil ± weit auseinander lie-
genden Milieus ein- und derselben nationa- Abbildung 3 ± SIGMA Transnational Consumer
len Gesellschaft. So haben wir beispielsweise CulturesH Europe
fçr die groûen Mårkte der Europåischen SIGMA Milieuforschung
Union elf transnationale europåische Milieu- Besitz von High-Tech-Produkten in Europa
segmente identifiziert. 5 18,1%: Breitband Internetzugang - Indexwerte (Gesamtbevölkerung Index = 100)
184
Upper
Middle Class Social Socio-
Climber Critical
Als eines von zahllosen mæglichen Beispielen Traditional
Mainstream
Segment Segment
24 APuZ 44 ± 45/2006
Wir diagnostizieren fçr die Kernmårkte der Die Marktmacht des ¹richtigenª Milieus
EU ein spezifisches Konsummuster, das wir
¹Digital Divideª nennen, eine Art alltagskul- Wer braucht schon einen so kleinen PKW
tureller Spaltung zwischen eher traditionell wie den MINI und ist zusåtzlich in der Lage
orientierten und modernen bzw. postmoder- und bereit, fçr ein solches Fahrzeug ver-
nen Lebenswelten, wie wir sie im japanischen gleichsweise viel Geld auszugeben? Unsere
und amerikanischen Markt so ausgeprågt je- Milieuforschung gab die Antwort: Kommu-
denfalls nicht vorfinden. Der unterschiedliche nikative Zielgruppe sollte das Postmoderne
Zugang zu den globalen Wissenssystemen der Milieu sein, Volumenzielgruppe der ¹Pro-
nachindustriellen Gesellschaft wirkt nicht nur gressive Modern Mainstreamª. Das postmo-
objektiv trennend, sondern ist offensichtlich derne Milieu ist der typische ¹Trendtreiberª,
auch eine Signifikanz der ihr eigentçmlichen anzutreffen hauptsåchlich in urbanen Zen-
soziokulturellen Segmentierung. tren, mit den dazu gehærenden Parkplatzpro-
blemen und dem notwendigen Selbstvertrau-
en, neue Konsumtrends zu setzen. Trendset-
ter alleine machen die Marke mæglicherweise
stark, aber nicht groû genug. Deshalb wurde
Trends rechtzeitig erkennen die Zielgruppe in die gesellschaftliche Mitte
hinein erweitert ± aber immer noch postmo-
Trends entstehen nicht irgendwo und auch dern genug, um sich gegençber konventionel-
nicht einfach ¹in der Bevælkerungª, sondern leren Zielgruppen deutlich abzugrenzen.
benætigen çblicherweise eine bestimmte so-
ziokulturelle Umgebung, entstehen also in Kennt man die Zielgruppe, dann kennt
ganz bestimmten Milieus, aus denen heraus man auch den Lebensstil, die grundsåtzlichen
sie sich dann verbreiten. Zu wissen, von wel- Einstellungen und Wertorientierungen, zu
chem Milieu die Dynamik einer Gesellschaft denen das Angebot passen muss. Diese Er-
ausgeht, macht es dem Marketing erheblich kenntnisse sind allerdings noch keine Pro-
leichter, sich als Hersteller bzw. Absender dukte. Man nutzte die Gelegenheit und lieû
einer Marke in diesem Milieu zu etablieren, çber das Internet die zukçnftigen Nutzer tat-
um von deren Dynamik zu profitieren. Auch kråftig mithelfen, ihre Wunschvorstellung
dabei ist es nicht çberall dasselbe Milieu, das Realitåt werden zu lassen: In einem kontinu-
eine Gesellschaft prågt und/oder vorantreibt. ierlichen Prozess justiert das MINI-Marke-
Dennoch zeigt sich in Bezug auf neue Eliten ting mit Hilfe unserer Milieu-Segmentierung
zurzeit çberall in der Welt die stårkere Kraft ± online im Dialog mit dem Markt ± die Pro-
in jenen Lebenswelten, die man dem ¹Post- dukt- wie auch die kommunikative Positio-
modernen Paradigmaª zuordnet: nierung und die Ausstattung des Produkts
selbst. Am Ende steht ein globaler Erfolg im
± In Europa sind es die Angehærigen des Markt ± was Wunder, dass es schlieûlich nicht
Upper Liberal Segments, des Postmodern nur ¹Liebeª auf Seiten der Kåufer, sondern
Segments und der Progressive Modern Main- auch innerhalb der BMW Group ist!
stream, von denen die wichtigsten Trends
ausgehen.
APuZ 44 ± 45/2006 25
C. Albani ´ G. Blaser ´ M. Geyer ´ hohe Entlohnung, ausreichender Wohnraum,
ausreichende Gesundheitsversorgung, keine
H. Bailer ´ N. Grulke ´ Diskriminierung,) einer Zielregion Wande-
G. Schmutzer ´ E. Bråhler rungsentscheidungen beeinflussen. Aus mikro-
ækonomischer Perspektive wird davon ausge-
Gesundheit
Kosten auûer Acht. Migrationsprozesse sind
regelhaft mit Anpassungs-, Ein- und Umge-
wæhnungsprozessen verknçpft, die einerseits
Chancen fçr persænliche Entwicklungen bie-
ten, zum anderen aber auch zu Verunsicherung
26 APuZ 44 ± 45/2006
zwischen innerdeutscher Migration und psy- Ûbersiedler aus der DDR (n = 512), Aussied-
chischer Gesundheit gibt es bisher aber kaum ler aus Polen (n = 90) und aus Westdeutsch-
empirische Befunde. Vorliegende Untersuchun- land stammende Personen (n = 283). Die Be-
gen zu innerdeutschen Migrationsbewegungen fragten berichteten gehåuft von psychischen
scheinen nur den von Ost- nach Westdeutsch- Problemen in den ersten Monaten nach der
land zugewanderten Personen gewidmet zu Migration. Diese Beschwerden schienen sich
sein, 4 mæglicherweise, weil vergleichsweise we- bei den Ûbersiedlern aus dem Osten nach
niger Personen von West- nach Ostdeutschland rund acht Monaten verringert zu haben, wo-
migrierten: 2,035 Millionen Menschen sind hingegen sie bei den aus Westdeutschland
zwischen 1991 und 2003 von den neuen in die stammenden Personen zunahmen.
alten und 1,19 Millionen von den alten in die
neuen Bundeslånder gezogen. 5 Dabei bleibt al- In einer eigenen Voruntersuchung zeigte
lerdings offen, wie hoch der Anteil von Re-Mi- sich bei West-Ost-Migranten (n = 41) und
granten und Migranten 6 ist. auch bei Ost-West-Migranten (n = 76) im Ver-
gleich mit Nicht-Migranten ein beeintråchtig-
Berth, Færster und Bråhler begleiteten in tes psychisches Befinden: 9 Migranten waren
ihrer Såchsischen Långsschnittstudie in (fast) depressiver gestimmt als Nicht-Migranten,
jåhrlichem Abstand seit 1987 damals 14-jåhri- wobei sich nicht-migrierte Ost- und West-
ge SchçlerInnen aus der DDR (n = 1 407), deutsche nicht wesentlich unterschieden. Bei
wobei seit 1995 die Migration aus den ost- in den Migranten waren die in Westdeutschland
die westdeutschen Bundeslånder mit erhoben aufgewachsenen und nach Ostdeutschland ge-
wurde (n = 271 ± 325). 7 Als Hauptmotiv fçr zogenen Personen stårker belastet als die in
die Migration erwies sich die schwierige Si- Westdeutschland lebenden Ostdeutschen.
tuation auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutsch-
land. Die in die westdeutschen Bundeslånder In einer weiteren Untersuchung (54 West-
migrierten Befragten zeigten sich zuversicht- Ost- und 68 Ost-West-Migranten) berichte-
licher und lebenszufriedener als die nach wie ten Migranten çber gegençber Nicht-Migran-
vor im Osten lebenden, sie waren sozial inte- ten hæheren Stress, eingeschrånkteres kærper-
griert und nur die wenigsten beabsichtigen, liches Wohlbefinden und stårkere kærperliche
nach Ostdeutschland zurçckzukehren. Insge- Symptome. 10 Probandinnen und Probanden,
samt zeigt sich, dass fçr die untersuchten jun- die von West- nach Ostdeutschland çberge-
gen (!) Ost-West-Migranten Migration zu siedelt waren, schåtzten ihre Lebensqualitåt
einem besseren Befinden fçhrte. niedriger als alle anderen Gruppen ein.
Gunkel und Priebe untersuchten drei Wir haben in der vorliegenden Studie 202
Gruppen von kurz nach der Maueræffnung West-Ost- und 200 Ost-West-Migranten be-
nach West-Berlin umgezogenen Personen: 8 zçglich ihrer Migrationserfahrungen und
ihrer psychischen Gesundheit befragt und die
Ergebnisse mit Befunden zur psychischen
Russian-speaking migrants, in: Stress and Health, Gesundheit von altersentsprechenden Nicht-
(2005) 21, S. 295±309.
4 Vgl. B. Hantsche, Mobilitåt als Familienerfahrung ±
Migranten verglichen.
ein Fallbeispiel, in: Zeitschrift fçr Frauenforschung,
(1995) 13, S. 27±40; R. Schwarzer/M. Jerusalem
(Hrsg.), Gesellschaftlicher Umbruch als kritisches Le-
Innerdeutsche Migranten
bensereignis ± Psychosoziale Krisenbewåltigung von
Ûbersiedlern und Ostdeutschen, Weinheim 1994. Die Daten der vorliegenden Erhebung wur-
5 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg), Datenreport den im Sommer 2005 im Auftrag der Univer-
2003. Zahlen und Fakten çber die Bundesrepublik
Deutschland. Bundeszentrale fçr politische Bildung, von Zuwanderern in Berlin, in: Psychotherapie ´ Psy-
Bonn 2004. chosomatik ´ Medizinische Psychologie (1992) 42,
6 Wenn im weiteren Verlauf nur von Migranten ge- S. 414 ±423.
sprochen wird, so sind immer Migrantinnen und Mi- 9 Vgl. N. Grulke/H. Bailer/G. Blaser/C. Albani/G.
APuZ 44 ± 45/2006 27
sitåt Leipzig von dem Institut fçr Markt-, Tabelle 1: Soziodemografische Merkmale
Meinungs- und Sozialforschung USUMA,
West nach Ost Ost nach West
Berlin, erhoben. Die Interviewer ermittelten Migranten Migranten
im Rahmen ihrer Befragungen Teilnehmer Alter Mittelwert (S) 38,41 Prozent 37,97 Prozent
entsprechend eines vorgegebenen Quotenpla- (13,09) (11,87)
nes (fçr Geschlecht, drei Altersgruppen: 18 ± Geschlecht Månner 103 51 104 52
27, 28 ±45 und 46±60 Jahre, drei Zeitråume Frauen 99 49 96 48
der Migration: 1989 ±1994, 1995 ±1999 und Familien- verheiratet 90 44,5 101 50,7
2000± 2005). Als innerdeutsche Binnenmi- stand
getrennt 7 3,5 6 3,0
granten galten Befragte, deren Wohnort zum ledig 73 36,1 68 34,2
Zeitpunkt der Befragung nicht in dem Teil geschieden 26 12,9 23 11,6
des west- bzw. ostdeutschen Bundesgebiets
verwitwet 6 3,0 1 0,5
lag, in dem sie çberwiegend aufgewachsen
Schulab- ohne Abschluss - 2 1,0
waren. Die in die Studie einbezogenen Perso- schluss
Hauptschulabschluss 15 7,4 78 39,2
nen wurden von geschulten Interviewern zu
Hause aufgesucht, dort befragt und bekamen mittlere Reife/Realschule 56 27,7 51 25,5
Erhebungen von 2002, 2003, 2004 und 2005 Erwerbs- Vollzeit beschåftigt ( 35 118 59,0 126 63,6
tåtigkeit Stunden)
vor. Es wurden Instrumente zur Erfassung
Teilzeit beschåftigt (15± 34 15 7,5 21 10,6
von Depressivitåt (Gesundheitsfragebogen Stunden)
fçr Patienten 11), psychischen Beschwerden 12 Teilzeit beschåftigt ( 14 2 1,0 4 2,0
und sozialer Unterstçtzung 13 eingesetzt. Stunden)
Zivildienstleistende/Erzie- 2 1,0 2 1,0
hungsurlaub . . .
Wer migriert? Arbeitslose 19 9,5 19 9,6
Rentner 10 5,0 7 3,5
Angesichts der Quotierung bezçglich Alter
nicht berufståtig 8 4,0 6 3,0
und Geschlecht bei der Erhebung kænnen in
in Berufsausbildung 4 2,0 7 2,8
der vorliegenden Untersuchung keine Aussa-
in Schul-, Hochschulaus- 22 11,0 6 3,0
gen zur Geschlechts- oder Altersverteilung bildung
bei innerdeutschen Migranten insgesamt ge- Haushalts- 5 750 E/Monat 16 9,4 7 3,7
troffen werden. Tabelle 1 gibt einen Ûber- einkom-
750 bis 1 250 E/Monat 11 6,4 35 18,2
blick çber die soziodemografischen Merk- men
(Netto) 1 250 bis 2 000 E/Monat 43 25,1 60 31,2
male der untersuchten Stichprobe.
4 2 000 E/Monat 101 59,1 90 46,9
28 APuZ 44 ± 45/2006
war in beiden Gruppen etwa gleich groû (im Deutliche Unterschiede ergaben sich zwi-
Bundesdurchschnitt 21 %). Dem Bildungs- schen beiden Gruppen bezçglich der Frage:
grad entsprechend fanden sich bei den Ost- ¹Wie gern haben Sie den Wechsel von Ost- nach
West-Migranten 38 % Arbeiter und Fachar- Westdeutschland (beziehungsweise umgekehrt)
beiter, bei den West-Ost-Migranten aber nur auf sich genommen?ª (Abbildung 2). Mehr
20 %. Die Mehrzahl der Befragten waren in Westdeutsche gaben an, ¹sehr ungernª nach
beiden Gruppen Angestellte. 16 % der West- Ostdeutschland umgezogen zu sein, wåhrend
Ost-Migranten, jedoch nur 6 % der Ost- ein erheblich græûerer Anteil von Ost-West-Mi-
West-Migranten waren Freiberufler und Selb- granten den Wechsel eher gern auf sich nahm.
ståndige. Beamte machten einen Anteil von
15 % bei den West-Ost-Migranten und von Abbildung 2: Wie gern haben Sie den Wechsel von
1 % bei den Ost-West-Migranten aus (Bun- Ost- nach Westdeutschland (beziehungsweise umge-
desdurchschnitt 3 %). In beiden Gruppen kehrt) auf sich genommen?
waren die meisten Vollzeit beschåftigt (im
Bundesdurchschnitt 50 %).
APuZ 44 ± 45/2006 29
Erwartungsgemåû beståtigte sich, dass in Abbildung 3 c: Soziale Unterstçtzung bei innerdeut-
beiden Gruppen diejenigen, die auf jeden Fall schen Migranten und Nicht-Migranten
zurçckkehren wollten, eher aus beruflichen
Grçnden migriert waren, unerfçllte Erwar-
tungen berichteten, den Wechsel eher ungern 70
auf sich genommen hatten und mehr psychi- 60
sche Beschwerden und weniger soziale Un- 50
terstçtzung angaben.
40
30
Psychisches Befinden 20
10 Migr. Nicht- Migr. Nicht- Migr. Nicht- Migr. Nicht-
Um die von Migranten angegebene Belastung O-W Migr. O O-W Migr. O W -O Migr. W W -O Migr. W
0
einordnen zu kænnen, wurden Vergleichswer- Frauen Männer Frauen Männer
te altersentsprechender nicht migrierter Ost- -Ost- -West-
und Westdeutscher aus repråsentativen Erhe-
bungen der deutschen Allgemeinbevælkerung (Mittelwert, Standardabweichung. Abb. 3 a ± c: Fçr alle Migran-
herangezogen. 14 Angesichts der zu erwarten- ten n = 96 ± 104, fçr alle Nicht-Migranten aus Westdeutschland
den Geschlechtseffekte wurden die Auswer- n = 463 ± 552, fçr alle Nicht-Migranten aus Ostdeutschland
n = 106 ± 172 (hæhere Werte entsprechen mehr Depressivitåt,
tungen geschlechtsgetrennt durchgefçhrt mehr psychischen Beschwerden, mehr sozialer Unterstçtzung).
(Abbildungen 3 a, b und c). Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 3 a: Depressivitåt bei innerdeutschen Mi- Der Vergleich zwischen beiden Migranten-
granten und Nicht-Migranten gruppen untereinander zeigte, dass Migranten
aus Ostdeutschland, die in Westdeutschland
8 leben, ein hæheres Maû an psychischen Be-
7 schwerden (Depressivitåt und psychische
6 Symptome s. Abbildungen 3 a und 3 b) und
5 weniger soziale Unterstçtzung (Abbildung
4
3 c) angaben als West-Ost-Migranten.
3
Frauen gaben in allen untersuchten Grup-
2
pen mehr Depressivitåt und psychische Be-
1 Migr. Nicht- Migr. Nicht- Migr. Nicht- Migr. Nicht-
O-W Migr. O O-W Migr. O W-O Migr. W W-O Migr. W schwerden an als Månner. Bei den Nicht-Mi-
0 granten schilderten Frauen mehr soziale Un-
Frauen Männer Frauen Männer
-Ost- -West- terstçtzung als Månner, bei den Migranten
hingegen gaben Frauen weniger soziale Un-
terstçtzung als Månner an.
30 APuZ 44 ± 45/2006
Månnliche West-Ost-Migranten unter- Belastung ein spezifisches Resultat einer Mi-
schieden sich von westdeutschen Månnern gration zwischen neuen und alten Bundeslån-
nicht bezçglich psychischer Beschwerden. dern darstellt. Es ist denkbar, dass eine Mi-
Månnliche Ost-West-Migranten beschrieben gration von Nord- nach Sçddeutschland oder
sich aber erheblich belasteter als ostdeutsche umgekehrt zu einer åhnlichen Belastung fçh-
Månner. Bei den Frauen ergab sich fçr ost- ren wçrde, dass innerdeutsche Migration also
und westdeutsche Migranten ein deutlich hæ- per se belastend ist.
heres Maû an psychischen Beschwerden als
bei den jeweiligen nicht-migrierten Frauen Bei den hier untersuchten Westdeutschen
(Abbildung 3 b). im Osten fiel auf, dass in dieser Gruppe ein
besonders hoher Anteil von AbiturientInnen,
Ein åhnliches Bild zeigte sich fçr die wahr- Beamten und Selbståndigen vertreten war.
genommene soziale Unterstçtzung: Sowohl Vor allem die månnlichen West-Ost-Migran-
West-Ost- wie auch Ost-West-Migranten er- ten beschrieben sich als besonders wenig be-
fuhren weniger soziale Unterstçtzung als die lastet. Mæglicherweise stellt Bildung eine
Nicht-Migranten, wobei die Ost-West-Mi- Ressource zur Bewåltigung des Lebensereig-
granten die niedrigsten Werte angaben (Abbil- nisses ¹Migrationª dar.
dung 3 c). Auch månnliche Ost-West-Migran-
ten erleben weniger soziale Unterstçtzung als Wenn innerdeutsche Migration mit psychi-
ostdeutsche Månner, wobei es sich aber ledig- scher Belastung einhergeht, kænnte es nçtzlich
lich um schwache Effekte handelt. Månnliche sein, Migranten gezielter auf mægliche (uner-
West-Ost-Migranten hingegen geben mehr wartete) Belastungen am neuen Lebens- und
soziale Unterstçtzung als westdeutsche månn- Arbeitsort vorzubereiten und in deren Bewål-
liche Nicht-Migranten an (Abbildung 3 c). tigung zu unterstçtzen, zum Beispiel durch
den Aufbau eines sozialen Netzes. Schwarzer
Vor allem fçr die Gruppe der Ost-West- und Jerusalem ermittelten einen Rçckgang von
Migranten zeigte sich in der vorliegenden Depression und Øngstlichkeit bei Ûbersied-
Untersuchung ein hæheres Maû an psychi- lern von Ost- nach Westdeutschland nach dem
scher Belastung, das deutlich çber den von Aufbau von Freundschaften. 15 Auhagen und
ostdeutschen Nicht-Migranten angegebenen Schwarzer berichteten von einem Rçckgang
Werten lag. von Depression und Øngstlichkeit bei Ûber-
siedlern von Ost- nach Westdeutschland,
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in- wenn freundschaftliche Beziehungen entstan-
nerdeutsche Migration einen Belastungsfak- den waren. Nach wie vor bestehen erhebliche
tor darstellt, wobei allerdings die von uns un- Unterschiede zwischen Ost- und West-
tersuchten månnlichen West-Ost-Migranten deutschland: 16 Das Bruttoinlandsprodukt in
von der Migration profitiert zu haben schei- Ostdeutschland liegt 75 % unter dem EU-
nen ± sie schildern sich als weniger belastet Durchschnitt 17, und die Arbeitslosigkeit ist im
als alle anderen Gruppen. Osten deutlich hæher als in Westdeutschland
(Bundesagentur fçr Arbeit, Stand Juli 2005: in
Bezçglich der ermittelten Belastung bei Ostdeutschland 20,2 %, in Westdeutschland
Migranten muss offen bleiben, inwieweit bei 9,4 %). Diese Bedingungen kænnten im
diese Beeintråchtigungen klinisch relevant Kontext der eingangs erwåhnten ¹Push-Pull-
sind. Natçrlich lassen diese Untersuchungen Hypotheseª als ¹Push-Faktorenª verstanden
keine kausalen Rçckschlçsse zu. Anhand der werden und dazu fçhren, dass migrierte Ost-
vorliegenden Querschnittsstudien sind keine deutsche im Westen den ¹Barwert ihrer Migra-
Rçckschlçsse darçber mæglich, ob die Migra-
tion zu psychischen Beeintråchtigungen fçhrt 15 Vgl. R. Schwarzer/M. Jerusalem (Anm. 4).
oder ob diejenigen Probandinnen und Pro- 16 Vgl. A. E. Auhagen/R. Schwarzer, Das unsichtbare
banden, die psychisch beeintråchtigt sind, mi- Netz: Neue Freundschaften, in: R. Schwarzer/M. Je-
grieren (mæglicherweise verbunden mit der rusalem (Hrsg.), Gesellschaftlicher Umbruch als kri-
Hoffnung, dass die Migration diesen Zustand tisches Lebensereignis ± Psychosoziale Krisen-
bewåltigung von Ûbersiedlern und Ostdeutschen,
verbessert). Selbst wenn die Migration als ur-
Weinheim 1994, S. 105 ±121.
såchlich fçr die psychische Belastung ange- 17 Vgl. R. de Weck, Zehn Jahre deutsche Einheit: Der
nommen wird, erlaubt unsere Erhebung Blick von innen, http://www.magazin-deutschland.de
keine Rçckschlçsse darçber, ob diese erhæhte (2000) 4.
APuZ 44 ± 45/2006 31
tionsrenteª positiv erleben und in West- Jutta Allmendinger ´ Rita Nikolai
deutschland bleiben wollen, auch wenn sich
diese Gruppe als psychisch belastet beschreibt.
32 APuZ 44 ± 45/2006
Soziale Herkunft und Bildung ihrer sozialen Herkunft ab. Infolgedessen
ist der durchschnittliche Anteil der Kinder
Zweifellos hat die Bildungsexpansion der aus ¹bildungsnahen Schichtenª, also aus der
sechziger und siebziger Jahre insgesamt zu ¹oberen Dienstklasseª, die ein Gymnasium
einer Steigerung des Bildungsniveaus in allen besuchen, mehr als viermal so hoch wie der
Sozialgruppen gefçhrt. War die Hauptschule Anteil der Kinder aus Facharbeiterfamilien. 5
zu Beginn der fçnfziger Jahre noch die Regel- Auch auf den Hochschulzugang wirkt sich
schule, an der drei Viertel der Schçlerinnen die soziale Herkunft aus. Nur sechs von 100
und Schçler lernten, so belief sich deren An- Arbeiterkindern beginnen ein Hochschulstu-
teil 2003 nur noch auf 30 Prozent. Im glei- dium, wåhrend 49 von 100 Gymnasiasten
chen Zeitraum hat sich der Anteil der Schç- aus einkommensstarken Familien eine Uni-
lerinnen und Schçler an den Realschulen (von versitåt besuchen. Die soziale Zusammenset-
7 auf 23,5 Prozent) verdreifacht und an den zung der Studierenden nach Herkunftsgrup-
Gymnasien (von 15 auf 32,5 Prozent) verdop- pen hat sich deutlich verschoben: Zwischen
pelt. 1 Von 1952 bis 2003 hat sich somit das 1982 und 2003 ist der Anteil der Studieren-
Bildungsniveau insgesamt erhæht; die Chan- den aus der hæchsten Sozialschicht von 17
cenunterschiede haben sich zwar abge- auf 37 Prozent kontinuierlich angestiegen,
schwåcht, kennzeichnen jedoch die Bildungs- wåhrend sich der Anteil der Studierenden
ergebnisse weiterhin. 2 aus der untersten Herkunftsgruppe von 23
auf 12 Prozent verringert hat. 6 Nach wie
Wåhrend die Bildungsexpansion konfessio- vor finden sich Kinder aus Arbeiterfamilien
nelle, regionale und geschlechtsspezifische håufiger in einer nichttertiåren Berufsausbil-
Ungleichheiten abbauen konnte, war sie beim dung. Im Zeitverlauf hat sogar die Tendenz
Abbau der schichtenspezifischen Ungleich- zur nichttertiåren beruflichen Ausbildung
heiten weniger erfolgreich. 3 Zu einer Verrin- zugenommen, so dass sich die Bildungsung-
gerung der Chancenunterschiede zwischen leichheiten deutlich verstårkt haben dçrf-
den sozialen Schichten ist es nur bei den mitt- ten. 7
leren Bildungsabschlçssen gekommen. Die
Úffnung des Bildungssystems fçr berufliche Auch international vergleichende Schçler-
Bildungsmæglichkeiten erfasste vor allem leistungstests wie PISA und IGLU haben auf
Kinder aus Facharbeiterfamilien, wåhrend die den starken Zusammenhang zwischen der so-
hæheren Bildungssysteme weiterhin den Kin- zialen Herkunft und erreichten Kompetenzen
dern aus der Mittel- und Oberschicht vorbe- aufmerksam gemacht. Zwar schnitt in der
halten blieben. 4 zweiten PISA-Studie von 2003 Deutschland
in den Kompetenzbereichen Lesen, Mathema-
Nach wie vor hången die Bildungschancen tik und Naturwissenschaften im internationa-
fçr eine hæhere Ausbildung an Gymnasien len Vergleich durchschnittlich, im ¹Problem-
und Universitåten fçr Jugendliche stark von læsungsbereichª sogar çberdurchschnittlich
ab; das bessere Abschneiden Deutschlands ge-
1 Vgl. Bundesministerium fçr Bildung und Forschung
gençber der ersten PISA-Studie von 2000
sollte jedoch nicht darçber hinwegtåuschen,
(BMBF), 17. Sozialerhebung des Deutschen Studen-
tenwerkes, Berlin 2004; BMBF, Grund- und Struk- dass sich die Verbesserung der Bildungskom-
turdaten 2005, Berlin 2005. petenzen nicht gleichmåûig auf die Schulfor-
2 Vgl. Walter Mçller/Dietmar Haun, Bildungsun- men verteilt. Der Zuwachs an Kompetenzen
gleichheit im sozialen Wandel, in: Kælner Zeitschrift geht vor allem auf die Gymnasien zurçck und
fçr Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (1994) 1, weniger auf die Hauptschulen, die kaum
S. 1± 42; Walter Mçller/Reinhard Pollak, Weshalb gibt
Lernzuwåchse verzeichnen konnten.
es so wenige Arbeiterkinder in Deutschland?, in: Rolf
Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.), Bildung als Pri-
vileg?, Wiesbaden 2004, S. 311± 352. Auch und gerade diese Daten zeigen, dass
3 Vgl. Rainer Geiûler, Die Illusion der Chancen- in kaum einem anderen vergleichbaren Indus-
gleichheit im Bildungssystem ± von PISA zerstært, in: trieland der Bildungserfolg so eng mit der so-
Zeitschrift fçr Sozialisationsforschung und Erzie-
hungssoziologie, 24 (2004) 4, S. 362± 380. Verbesserte
Bildungschancen der Frauen bedeuten jedoch nicht, 5 Vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung, Bil-
dass Bildungserfolge von Frauen sich adåquat in Ar- dung in Deutschland, Bielefeld 2006.
beitsmarkt- und Einkommenserfolge umsetzen. 6 Vgl. BMBF 2004 (Anm. 1), S. 136 ff.
4 Vgl. ebd. 7 Vgl. W. Mçller/R. Pollak (Anm. 2), S. 346.
APuZ 44 ± 45/2006 33
zialen Herkunft verknçpft ist wie in Deutsch- Tabelle: Vergleich der PISA-Ergebnisse 2003 und der
land. 8 Denn erstmals wurde in der PISA-Stu- Bildungsausgaben in Prozent des Bruttoinlandspro-
die von 2003 ein Indikator verwendet, der die dukts (BIP) fçr 2003
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen In-
Mathematische Stårke des Úffentliche
dikatoren der familiåren Herkunft fçr den Bil- Kompetenz Zusammenhangs Bildungsaus-
dungserfolg zusammen abbildet. Der ¹Index (PISA II 2003) zwischen mathe- gaben in
of Economic, Social and Cultural Statusª matischer Prozent des
(ESCS) erfasst die Familienstruktur, die Bil- Kompetenz und BIP 2003
dungsabschlçsse und die Berufståtigkeit der dem ESCS-
Eltern und setzt diese in Beziehung zu den Index (PISA II
2003)
mathematischen Kompetenzen der Jugendli-
chen (Tabelle). Die Stårke des Zusammen- Ungarn 490 27,0 5,5
hangs ist in Deutschland mit 22,8 Prozent im Belgien 529 24,2 5,9
internationalen Vergleich çberdurchschnitt- Deutsch- 503 22,8 4,4
lich hoch. Nur in Ungarn und Belgien ist der land
Zusammenhang zwischen der sozialen Her- Tçrkei 423 22,3 3,6
kunft und Bildung noch stårker ausgeprågt. Slowakei 498 22,2 4,3
Frankreich 511 19,6 5,8
Wie stark auslesend das deutsche Schulsys-
tem weiterhin ist, låsst sich an folgenden Zah- Tschechien 516 19,4 4,3
len ablesen: Etwa 45 Prozent der Schçle- USA 483 19,0 5,4
rinnen und Schçler in den Hauptschulen Nieder- 538 18,6 4,6
kommen aus den unteren sozialen Schichten, lande
welche die PISA-Studie im untersten ESCS- Dånemark 514 17,6 6,7
Quartil verortet. Aus dem obersten ESCS- Portugal 466 17,5 5,8
Quartil besuchen dagegen rund die Hålfte
Luxem- 493 17,1 3,6
der Schçlerinnen und Schçler das Gymna-
burg1
sium. Auch im nationalen Bundeslånderver-
Mexiko 385 17,1 5,6
gleich der Schçlerleistungen ist der familiåre
Hintergrund von Schçlerinnen und Schçlern Neusee- 523 16,8 5,7
der stårkste Erklårungsfaktor fçr Bildungs- land
kompetenzen. Die Chancen fçr Jugendliche, Schweiz 527 16,8 6,0
das Gymnasium zu besuchen, ist in den ost- Polen 490 16,6 5,8
deutschen Bundeslåndern weniger schichten- Ústerreich 506 16,3 5,2
abhångig als in den westdeutschen. Am
Irland 503 16,3 4,1
stårksten ist der Zusammenhang zwischen
Bildungsbeteiligung und sozialer Herkunft in Griechen- 445 15,9 4,0
land
Bayern, Rheinland-Pfalz und in Schleswig-
Holstein. 9 In Bayern haben Kinder aus ein- Schweden 509 15,3 6,5
kommensstarken Familien eine 6,65-mal so Sçdkorea 542 14,2 4,6
groûe Chance, das Gymnasium zu besuchen, Norwegen 495 14,1 6,5
wie Kinder aus Arbeiterhaushalten. Im inter- Spanien 485 14,1 4,2
nationalen wie im Bundeslåndervergleich
Australien 524 13,7 4,3
zeigt sich, dass gerade Jugendliche aus den
unteren sozialen Schichten zu den Bildungs- Italien 466 13,5 4,6
verlierern im deutschen Schulsystem zåhlen. Japan 534 11,6 3,5
Finnland 544 10,8 6,0
Neben der sozialen Herkunft ist der ¹Mi- Kanada 532 10,5 4,6
grationshintergrundª der Jugendlichen mit-
Island 515 6,5 7,5
entscheidend fçr die Bildungskarriere. In den
OECD- 500 16,8 5,2
Durchschnitt
8 Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), Pisa
Anmerkungen: 1 Daten der æffentlichen Bildungsausgaben aus
2003, Mçnster 2005. dem Jahr 2001.
9 Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA
Quelle: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), Pisa 2003, Mçnster
2003. Der zweite Vergleich der Lånder in Deutschland, 2005; OECD, Education at a Glance, Paris 2006.
Mçnster 2005.
34 APuZ 44 ± 45/2006
internationalen Vergleichstests und im natio- Bildungserfolg, sondern auch die spåteren
nalen Bundeslåndervergleich zeigt sich, dass Berufsaussichten der Kinder und ihre soziale
in Deutschland Schçlerinnen und Schçler Integration. Diese ¹Sozialvererbungª der Bil-
nichtdeutscher Herkunft ein geringeres Bil- dungschancen ist in anderen europåischen
dungsniveau erreichen. 10 Leistungsunter- Låndern, allen voran in den skandinavischen
schiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Staaten, markant weniger ausgeprågt. Bil-
Migrationshintergrund kænnen in allen Staa- dungsungleichheiten setzen sich auch bei der
ten festgestellt werden. In Deutschland fållt beruflichen Integration fort. Die zunehmende
jedoch auf, dass Jugendliche aus zugewander- Flexibilisierung der Arbeit wird in Zukunft
ten Familien der ersten Generation schlechter noch mehr hochqualifizierte Arbeitskråfte als
abschneiden als Jugendliche aus Migrantenfa- heute erfordern. Jugendliche aus bildungsfer-
milien, die noch nicht als ansåssig gelten kæn- nen Schichten und mit Migrationshinter-
nen ± obwohl Erstere doch in Deutschland grund drohen sich zu einer neuen Bildungs-
geboren sind und dort ihre Schulzeit ver- unterschicht zusammenzuballen. Die starke
bracht haben. Die schulischen Bildungsmæg- Korrelation zwischen einer geringen Qualifi-
lichkeiten werden somit nicht nur durch die kation und Arbeitslosigkeit zeigt, dass Bil-
soziale Herkunft, sondern auch durch den dungsfærderung auch eine pråventive Be-
Migrationshintergrund massiv begrenzt, schåftigungspolitik ist. Junge arbeitslose Er-
wobei soziale Herkunft und Migrationshin- wachsene rekrutieren sich zu einem groûen
tergrund stark miteinander korrelieren. Die Teil aus Jugendlichen ohne Schulabschluss
starke Kopplung der sozialen Herkunft mit oder mit einfachen Abschlçssen.
Bildungserfolgen in Deutschland verweist
darauf, dass in Deutschland Chancengerech- Die Unterausbildung ist hierbei nicht nur
tigkeit und Kompetenzerwerb ungçnstig inhuman, sondern auch wirtschaftlich hæchst
kombiniert sind. Der internationale Vergleich ineffizient, da Geringqualifizierte çberdurch-
zeigt hierbei, dass andere Lånder besser in schnittlich stark von Arbeitslosigkeit betrof-
der Lage sind, Jugendliche aus unterschiedli- fen sind und durch staatliche Transferzahlun-
chen Sozialgruppen an ein hæheres Kompe- gen unterstçtzt werden mçssen. Der Zusam-
tenzniveau heranzufçhren. Das Leistungspo- menhang von Bildung und Sozialpolitik ist ±
tenzial von Kindern aus den unteren Schich- im Gegensatz etwa zu den angelsåchsischen
ten kann das deutsche Bildungswesen nicht Låndern ± in Deutschland immer noch nicht
wirklich ausschæpfen. In Deutschland werden erkannt worden. 11 Im angelsåchsischen Ver-
Ungleichheiten zum groûen Teil institutionell ståndnis der Sozialpolitik wird Bildung und
erzeugt. Ursachen hierfçr sind die frçhe Se- Soziale Sicherung als ein einheitliches Kon-
lektion im deutschen Schulsystem und das zept verstanden, 12 wåhrend in Deutschland
Unvermægen des dreigliedrigen Schulsys- beide Bereiche nicht unter dem Begriff der
tems, soziale Ungleichheiten auszugleichen. Sozialpolitik zusammen gesehen werden.
Bildungspolitik als pråventive Mit Blick auf die Gesamtstruktur des So-
zialbudgets zeigt sich, dass ein Groûteil des
Sozialpolitik deutschen Sozialbudgets in sozialpolitische
Die deutschen Ergebnisse stimmen bildungs- 11 Vgl. John Baldock/Nick Manning/Sarah Vickerstaff
und gesellschaftspolitisch bedenklich. Der so- (Hrsg.), Social Policy, Oxford 2003. Den Zusammen-
ziale Status prågt hierzulande nicht nur den hang zwischen Bildungs- und Sozialpolitik erfasst das
Konzept der Bildungsarmut. Vgl. Jutta Allmendinger/
10 Vgl. OECD, Where immigrants students suceed ± Stephan Leibfried, Bildungsarmut. Zum Zusammen-
A comparative review of performance and engagement hang von Sozialpolitik und Bildung, in: Michael
in PISA 2003, Paris 2006; 27 Prozent der unter 25-Jåh- Opielka (Hrsg.), Bildungsreform als Sozialreform,
rigen, die das Bildungswesen durchlaufen, sind Ju- Wiesbaden 2005, S. 45 ±60.
gendliche mit Migrationshintergrund. Vgl. Konsor- 12 Das sieht man am besten bei Thomas H. Marshall,
tium Bildungsberichterstattung (Anm. 5), S. 138 ff. Staatsbçrgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bçr-
Rund 19 Prozent der auslåndischen Jugendlichen ver- gerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des
lieûen nach dem Schuljahr 2003/04 das Schulsystem Wohlfahrtsstaates (hrsg. von Elmar Rieger), Frankfurt/
ohne Schulabschluss, bei den deutschen Jugendlichen M. 1992, S. 33±94. Marshall verwendet in diesem Auf-
lag der Anteil bei etwa 7 Prozent, in: http:// satz aus dem Jahr 1949 mehr Seiten auf das Bildungs-
www.destatis.de/basis/d/biwiku/schultab16.php (5. 4. system als auf das System der sozialen Sicherung ins-
2006). gesamt.
APuZ 44 ± 45/2006 35
Sektoren mit einem eher geringen Zukunfts- ringer ausfållt. Es kommt neben einer verbes-
profil flieût, wie etwa in die hohen Ausgaben serten finanziellen Ausstattung also auch auf
fçr die Alterssicherung, deren Ausgabenhæhe institutionelle Strukturreformen an. An um-
nur noch von der Schweiz und Griechenland fassenden Færder- und Betreuungsangeboten
çbertroffen werden. 13 Zukunftsorientierte zur Vermeidung ungleicher Bildungschancen
Leistungen, zu denen neben den Ausgaben fehlt es nach wie vor weitgehend. Das Ziel,
fçr Familien auch die Leistungen fçr Bildung die Bildungschancen von der sozialen Her-
und Forschung gehæren, weisen dagegen eine kunft abzukoppeln, kann nur çber eine inte-
relativ geringe Finanzierung auf. Anders sieht grierte Bildungs- und Sozialpolitik erreicht
es in den USA, Kanada, Australien und Neu- werden. Neben einem durchlåssigeren Schul-
seeland aus, die zwar ein deutlich geringes system, das auch Spåtentwicklern eine Chan-
Sozialbudget aufweisen, jedoch relativ viel in ce fçr den Bildungserwerb bietet, ist eine ver-
die zukunftsorientierten Politikfelder Bil- besserte Infrastruktur im Bildungswesen er-
dung und Forschung investieren. In den an- forderlich, etwa durch den Ausbau der
gelsåchsischen Låndern flieût somit mehr frçhkindlichen Bildung, ein breiteres Netz
Geld in die Bildung als in die Sozialpolitik. an Kinderkrippen und Vollzeit-Kindergårten
Gleichermaûen hoch sind die Sozial- und die und durch den konsequenten Ausbau von
Bildungsausgaben in den skandinavischen Ganztagsschulen. In der aktuellen Diskussion
Låndern. 14 Es verwundert insgesamt nicht, zur Verbesserung der Bildungschancen im
dass diese Låndergruppen mit ihrer zukunfts- deutschen Bildungswesen werden ferner eine
gerichteten Staatståtigkeit bei den PISA-Er- gezielte Sprachfærderung und auch Studien-
gebnissen wesentlich besser abschneiden und gebçhren gefordert. Wie kænnten sich solche
auch der Zusammenhang zwischen sozialer Reformansåtze in der Familien- und Bil-
Herkunft und Bildungskompetenzen weniger dungspolitik auf den festgestellten Zusam-
stark ausgeprågt ist als in Deutschland. Seit menhang zwischen sozialer Herkunft und
Jahren stagnieren die Bildungsausgaben in Bildung auswirken? Dieser Frage soll nun
Deutschland ± und das bei gleichzeitig immer nachgegangen werden.
hæheren Aufwendungen fçr die Sozialpolitik,
deren Zuwåchse vor allem auf hæhere Ausga- Nicht zuletzt aufgrund des schlechten Ab-
ben fçr die Alterssicherung und die Gesund- schneidens deutscher Schçler in internationa-
heitspolitik zurçckzufçhren sind. Festzuhal- len Vergleichen von Schçlerleistungen ± so in
ten bleibt, dass Bildung in Deutschland nach den PISA-Studien ± hat die Ganztagsschule
wie vor einen anderen gesellschaftlichen Stel- eine Renaissance in der Diskussion um mæg-
lenwert hat als in anderen Låndern. Bildung liche institutionelle Reformen erlebt. Da-
wird hierzulande noch viel zu wenig im Sinne durch kænnen zum einen Ziele wie die Ver-
einer pråventiven ± und produktiven, eben in- besserung der Vereinbarkeit von Familie und
vestiven ± Sozialpolitik gesehen. Beruf 15 erreicht werden, zum anderen stellen
bildungspolitische Argumente das deutsche
Modell der Halbtagsschule zunehmend in
Aktuelle Reformansåtze Frage. 16 Nur etwa fçnf Prozent der allge-
meinbildenden Schulen in Deutschland sind
Forderungen nach hæheren Investitionen in
das Bildungswesen stehen schon seit långe- 15 Vgl. Miriam Beblo u. a., Ganztagsschulen und Er-
rem auf der bildungspolitischen Agenda. Eine werbsbeteiligung von Mçttern ± Eine Mikrosimula-
Erhæhung der Bildungsausgaben allein wçrde tionsstudie fçr Deutschland, ZEW Discussion Paper
nicht zwangslåufig zu besseren Schçlerleis- No. 05±93, Mannheim 2005.
tungen fçhren. Wie die Tabelle auf Seite 34 16 Die lange Tradition der Halbtagsschule in
zeigt, erreicht es eine Vielzahl von Låndern Deutschland liegt nach Gottschall und Hagemann
darin begrçndet, dass nach wie vor die Vorstellung be-
mit geringeren æffentlichen Bildungsausga-
stimmend ist, dass der Schule lediglich eine Bildungs-
ben, dass die Bildungsungleichheit zwischen aufgabe zukommt, wåhrend die Erziehung in der Ver-
Kindern verschiedener sozialer Herkunft ge- antwortung der Familie verbleibt. Versteht man im
englischen Sprachraum unter ¹educationª Bildung und
13 Vgl. OECD, Social Expenditure Database, Paris Erziehung, wird im deutschen Sprachgebrauch zwi-
2004. schen beidem strikt getrennt. Vgl. Karin Gottschall/
14 Vgl. Manfred G. Schmidt, Warum Mittelmaû? Karen Hagemann, Die Halbtagsschule in Deutschland:
Deutschlands Bildungsausgaben im Vergleich, in: Po- Ein Sonderfall in Europa?, in: APuZ, (2002) 41, S. 12±
litische Vierteljahresschrift, 43 (2002) 1, S. 3±19. 22.
36 APuZ 44 ± 45/2006
Ganztagsschulen, in anderen Låndern ist es von Ganztagsschulen in die Kulturhoheit der
dagegen selbstverståndlich, dass Schçlerinnen Lånder fållt. Die Kulturhoheit der Bundes-
und Schçler auch nachmittags unterrichtet lånder, parteipolitisch-ideologische Pråferen-
werden. Nach der ersten PISA-Studie (2000) zen und Unterschiede in der Finanzkraft der
schneiden die Lånder mit Ganztagsschulen Lånder haben bislang weniger zu einer Ver-
besser ab als etwa Deutschland mit seinem einheitlichung als zu einer Differenzierung in
Modell der Halbtagsschulen. PISA hat ge- der Qualitåt der Schultypen und in den Ab-
zeigt, dass die Rahmenbedingungen fçr eine schlçssen gefçhrt, so dass im Zuge der Fæde-
individuelle Færderung der Schçlerinnen und ralismusreform eher ein ausufernder Bil-
Schçler verbessert werden mçssen, damit die dungsfæderalismus mit zusåtzlichen Sprei-
Bildungsbarrieren im deutschen Bildungswe- zungen zu befçrchten ist.
sen langfristig verringert und soziale Aus-
grenzungen verhindert werden kænnen. Die Eine weit reichende und auch nachhaltige
Vorteile eines Ganztagsschulmodells liegen Reform im Bildungsbereich erfordert ein Bil-
insoweit auf der Hand: Durch ein Mehr an dungskonzept aus einem Guss, die Ergebnisse
Zeit fçr einen anspruchsvollen Unterricht der Fæderalismusreform weisen jedoch in
und eine gute Betreuung kænnen sowohl leis- eine andere Richtung. Da der Bund im Zuge
tungsschwache Schçler und Hochbegabte in- der Fæderalismusreform die Rahmengesetz-
dividuell gefærdert als auch Migranten durch gebung fçr das Hochschulwesen, die Bil-
Sprachkurse besser integriert werden. In der dungsplanung und das Instrument der Misch-
Debatte um eine stårkere individuelle Færde- finanzierung aufgegeben hat, wird sein Hand-
rung von Kindern und Jugendlichen wird ak- lungsspielraum fçr Initiativen eingeschrånkt
tuell die gezielte Sprachfærderung von Ju- sein. Vor allem die Mehrkosten fçr die Perso-
gendlichen mit Migrationshintergrund im nalaufwendungen, die sich nach Schåtzungen
vorschulischen Bereich diskutiert. Im Vorder- auf rund 30 Prozent belaufen, werden die
grund steht vor allem die frçhe Sprachfærde- Låndern nur schwer schultern kænnen. Nach
rung, um die sprachlichen Defizite von Mi- wie vor ist die Finanzierung ungeklårt, etwa
grantenkindern noch vor Einschulungsbeginn ob der Bund durch eine einmalige Anschubfi-
zu beseitigen und ihnen damit gleichwertige nanzierung den Ausbau der Ganztagsschulen
Startchancen beim Schuleintritt zu ermægli- unterstçtzt oder ob dies fortlaufend und re-
chen. Hier hat Bayern als erstes Bundesland gelmåûig erfolgen soll. Ebenso ist unklar, wie
im April 2006 einen Deutschtest fçr Grund- die historisch gewachsene Vielzahl von freien
schçler eingefçhrt. 17 Trågern in der Freizeitgestaltung und bei den
Erziehungsaufgaben in die Ganztagsschulen
Mit dem Investitionsprogramm des Bun- eingebunden werden kann, um Synergieeffek-
des ¹Zukunft Bildung und Betreuungª, durch te zu erzeugen. Insgesamt kann festgehalten
das den Låndern bis 2007 rund vier Milliar- werden, dass die Diskussion um den Ausbau
den Euro zur Verfçgung gestellt werden, der Ganztagsschulen bislang wohl mehr von
damit sie ein bedarfsgerechtes Angebot an wahlpolitischen Kalkçlen als von einem
Ganztagsschulen schaffen kænnen, sollen be- wirklichen, nachhaltigen Reformwillen ge-
nachteiligte Kinder zusåtzlich gefærdert wer- prågt wird.
den. Die Gefahr ist allerdings groû, dass an-
gesichts der leeren Kassen im Bildungswesen Ein seit Jahren stark diskutiertes Thema ist
der Ausbau der Ganztagsschulen in den Kin- die Einfçhrung von Studiengebçhren an den
derschuhen stecken bleibt, insbesondere da deutschen Hochschulen. Nach dem Urteil
das Bildungswesen und damit die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Janu-
ar 2005, in dem das Verbot von Studienge-
17 Katharina Spieû u. a. konnten anhand von Daten bçhren fçr verfassungswidrig erklårt wurde,
des Sozioækonomischen Panels fçr Westdeutschland kænnen die Bundeslånder nun Studiengebçh-
zeigen, dass der verpflichtende Kindergartenbesuch ren erheben. Ein wesentlicher Streitpunkt bei
von entscheidender Bedeutung fçr den Bildungserfolg der Ausgestaltung dieser Gebçhren besteht
von Kindern mit Migrationshintergrund ist. Kinder darin, wie sie sozialvertråglich gestaltet wer-
von Immigranten besuchen umso håufiger die Real-
den kænnen. Nach wie vor entscheidet die
schule oder das Gymnasium, wenn sie im Kindergarten
waren. Vgl. Katherina Spieû u. a., Children's School soziale Herkunft darçber, wer ein Studium
Placement in Germany: Does Kindergarten Atten- aufnimmt. Laut der 17. Sozialerhebung des
dance Matter?, IZA Discussion Paper No. 722 (2003). Deutschen Studentenwerkes begannen 2003
APuZ 44 ± 45/2006 37
nur 12 Prozent der jungen Erwachsenen aus rungssystems notwendig, das es jedem jungen
einkommensschwachen, bildungsfernen Fa- Erwachsenen erlaubt, unabhångig vom Ein-
milien ein Studium, vier Fçnftel der Studie- kommen der Eltern zu studieren. Instrumente
renden kamen dagegen aus einkommensstar- hierfçr kænnten Bildungskredite sein, um
ken Haushalten. 18 Diese Zahlen zeigen, dass Studierenden aus einkommensschwachen Fa-
das Potenzial der nicht genutzten Begabungs- milien die notwendige Kreditwçrdigkeit zu
reserven bislang nicht annåhernd ausge- verschaffen. Diese mçssen Zugang zu Darle-
schæpft ist. Im internationalen Vergleich ist hen erhalten, die sie nach dem Studienab-
die Abschlussquote im Tertiårsektor nach wie schluss im Laufe ihres Erwerbslebens zurçck-
vor gering. Mit nur 20,6 Prozent liegt die Ab- zahlen kænnen. Unabhångig davon, ob Stu-
solventenrate Deutschlands 2004 deutlich diengebçhren gerecht sind oder nicht, kann
unter dem OECD-Durchschnitt von 34,8 ein sozialvertrågliches Finanzierungssystem
Prozent. Besonders hoch ist der Anteil von etwa in Form von darlehensfinanzierten
jungen Erwachsenen mit akademischen Ab- Hochschulgebçhren gewåhrleisten, dass po-
schlçssen in Australien (46,5 Prozent), Groû- tenzielle Studenten ohne Rçcksicht auf das
britannien (39,3 Prozent), aber auch in den Einkommen der Eltern ein Studium aufneh-
USA (33,6 Prozent) ± und das in all diesen men kænnen. Ohne grundlegende Verånde-
Låndern trotz Studiengebçhren. 19 rungen kænnen jedoch auch Studiengebçhren
die Bildungschancen von Abiturienten aus
Das deutsche Bildungswesen steht vor der einkommensschwachen Familien nicht ver-
Herausforderung, das Qualifikationsniveau bessern.
anzuheben und mehr Hochqualifizierte aus-
bilden zu mçssen. Angesichts des drohenden Die Herausforderungen gehen çber ein
Fachkråftemangels muss die Zahl der Hoch- enges schulisches Bildungsverståndnis hinaus.
schulabsolventen langfristig erhæht werden, Derzeit ist aber noch nicht absehbar, ob die
dabei darf das Bildungspotenzial von Kindern jeweiligen Reformen langfristig greifen und
aus bildungsfernen Schichten aber nicht ver- ob sie zu den gewçnschten verbesserten Bil-
schenkt werden. Die bisherige Gebçhrenfrei- dungschancen fçhren werden. Die aktuelle
heit und das seit rund drei Jahrzehnten exis- Bildungspolitik låsst daran eher zweifeln.
tierende staatlich finanzierte BAfæG konnten Nach wie vor fehlt ein gemeinsames bil-
nicht ausreichend dafçr sorgen, dass junge dungspolitisches Konzept der Bundeslånder ±
Erwachsene aus einkommensschwachen Fa- von einer Kooperation mit dem Bund nicht
milien studierten. zu reden. Eher herrscht in der Bildungspoli-
tik Kleinstaaterei vor, da die Lånder im
Mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit Bildungswesen eigene Wege gehen wollen:
sei auf Folgendes hingewiesen: Das deutsche Bei gleichzeitiger Beibehaltung des dreiglied-
Hochschulsystem ist weitgehend steuerfinan- rigen Schulsystems werden dann verschie-
ziert, das heiût es wird çberwiegend durch dene Konzepte zur Anwendung kommen.
die unteren bis mittleren Einkommensgrup- Unklar ist nach wie vor die Finanzierung der
pen finanziert. Tatsåchlich studieren aber vor Ganztagsschulen, das heiût wie die Færderbe-
allem Kinder aus den oberen sozialen Schich- dingungen an den Hauptschulen verbessert
ten. Beobachter fçrchten nun, dass die Ein- und wie Studiengebçhren sozialvertråglich
fçhrung von Studiengebçhren junge Men- ausgestaltet werden kænnen. Dass der Bil-
schen aus einkommensschwachen Familien dungserfolg hierzulande Lebenslåufe, Berufs-
noch stårker vom Studium abhalten kænnte. chancen und soziale Risikolagen bestimmt,
Im Gegensatz zu den USA oder Australien schreit danach, Bildungs- und Sozialpolitik
hat Deutschland kein weit ausgebautes Sti- nicht getrennt voneinander, sondern als Gan-
pendiensystem. Mit rund 150 Stipendienge- zes zu sehen; es gilt, die politischen Gestal-
bern und zwælf Begabtenfærderungswerken tungschancen endlich zu ergreifen.
werden hierzulande nur etwa zwei Prozent
der Studierenden unterstçtzt. Da sich daran
in kurzer Zeit nichts åndern wird, ist die Ein-
fçhrung eines sozialvertråglichen Finanzie-
38 APuZ 44 ± 45/2006
Herausgegeben von
der Bundeszentrale
fçr politische Bildung
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Portugal und die EU Die Veræffentlichungen
in Aus Politik und Zeitgeschichte
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der Herausgeberin dar; sie dienen
Slowenien in Europa der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Stefan Hradil
3-10 Soziale Milieus ± eine praxisorientierte Forschungsperspektive
Die Mentalitåten der Menschen in modernen Gesellschaften unterscheiden sich
stark. Unter ¹sozialen Milieusª werden Gruppierungen jeweils åhnlicher Menta-
litåten verstanden. Die Erforschung sozialer Milieuunterschiede ist vor allem in
der angewandten Sozialforschung ± insbesondere im Marketing ± weit verbreitet
und låsst mittlerweile auch internationale Vergleiche zu.
Michael Vester
10-17 Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik
Der Vertrauensverlust der Volksparteien beruht, wie detaillierte Untersuchungen
beståtigen, nicht auf dem Zerfall von Bindungen, sondern der Enttåuschung der
Milieus çber eine Politik, die sich von den Vorstellungen der gewohnten Lebens-
weise und dem bisherigen Modell sozialer Gerechtigkeit entfernt.
Carsten Ascheberg
18-25 Milieuforschung und Transnationales Zielgruppenmarketing
Um das Risiko teurer Fehlentscheidungen im Marketing zu minimieren, greifen
global operierende Unternehmen, zum Beispiel nahezu alle internationalen
Automobilhersteller, fçr ihr Zielgruppenmanagement auf die weltweit verfçgba-
ren SIGMA-MilieusH zurçck.