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Vom Umgang Die Vergangenheit


mit Fakten und Fiktionen
in der Erinnerungsliteratur
begehbar machen
Aleida Assmann

Wir kommen der Wahrheit nie näher gehend zu Gast, in manchen wird man
als in erfundenen Geschichten. lebenslang heimisch. Thomas Manns
Louis Begley Ägypten oder der Zauberberg sind solche
Welten, in denen man sich tummeln und
Als Julia Franck ihre Anthologie über die Erfahrungen aus zweiter Hand machen
Erfahrung der innerdeutschen Grenze kann, die weit über den Horizont des
zusammenstellte, bekam sie wiederholt Selbsterlebten hinausgehen. Genau das
zu hören, diese oder jener könne keinen ist das einmalige Angebot der Literatur
Text schreiben, weil ihr oder ihm die Er- (und anderer fiktionaler Genres): die
fahrung fehle. Sie fährt fort: Dehnung des Vorstellungs- und Erlebnis-
„Diese häufig gehörte und gelesene horizonts weit über die Grenzen des
Antwort aus dem Westen hätte ich gern Selbsterfahrenen und Selbsterfahrbaren
mehrfach abgedruckt. […] Es provoziert hinaus.
die Frage danach, wem gehört eine Ge-
schichte? Darf nur ein Mann über die Ge- Fiktion und Erfahrung
schichte eines Mannes schreiben? Bis vor Kurzem spielte es dabei keine
Darf nur ein Jude über Juden schrei- Rolle, ob die Konstruktion dieser Welten
ben? Nur der Ostler über den Osten? Nur auf der Seite der Autoren und Auto-
die Deutschen über ihre Geschichte, ihre rinnen durch Eigenerfahrung verbürgt
Teilung, ihre Grenze? Nur das Opfer über war oder nicht. Daniel Defoe – um hier
Opfer? Nur der Zeitzeuge über seine ein Paradebeispiel anzuführen – war
Zeit? Wer kann, wer darf, wer muss – nie auf der Pazifikinsel, auf der sein Held
und wem erteilt wer ein Verbot?“ (Julia Robinson Crusoe achtundzwanzig Jahre
Franck, GrenzÜberGänge ) Damit liegen ei- verbracht hat. Er hat sein Erfahrungs-
gentlich schon alle Fragen auf dem Tisch. defizit anderweitig ausgleichen können,
nämlich durch ein Interview mit dem
Sprachfähigkeit und Erfindungskraft Seemann Alexander Selkirk, der tatsäch-
Worin aber besteht das außergewöhnli- lich ein ähnliches Schicksal hatte. Defoes
che Kapital der Schriftsteller? Es sind Roman ist eine vollständige Verwand-
zwei Grundkompetenzen, die bei ihnen lung der Ursprungsgeschichte von ei-
überdurchschnittlich ausgeprägt sind: nem Tatsachenbericht in eine Fiktion. Auf
ihre außergewöhnliche Sprachfähigkeit dem anonymen Titelblatt der Erstaus-
und ihre Imaginations- beziehungsweise gabe, auf dem Defoe als Herausgeber
Erfindungskraft (fingere). auftritt, wurde freilich das Gegenteil
Sie erschaffen Welten mithilfe von beteuert:
Worten, die ihre Leser und Leserinnen be- “The editor believes the thing to be a
treten, besichtigen und bewohnen kön- just history of fact; neither is there any
nen. In diesen Welten sind wir vorüber- appearance of fiction in it” (Daniel Defoe,

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Aleida Assmann

Robinson Crusoe [1719], Harmonsworth Zu Spannungen kommt es erst durch


1972). die von außen auferlegte fundamentalis-
So musste man damals gegenüber tische Forderung der Entdifferenzierung:
einer puritanischen und aufgeklärten dass an die Stelle der multiplen Wahrhei-
Leserschaft argumentieren, die Ima- ten eine einzige Wahrheit zu treten habe.
gination und Erfindungskraft verteu- Diese Forderung würde die kulturelle Er-
felten beziehungsweise als kindliches rungenschaft moderner Gesellschaften
oder weibliches Vergnügen abtat. Auf rückgängig machen, indem sie wieder
Deutsch hieß das damals: „Wer Romane das Einheitsregime einer Religion oder
liest, liest Lügen“ (Erich Schön, Ge- Partei einführt.
schichte des Lesens, 35). Von dieser Obwohl wir für das Problem des
Frühgeschichte des Romans sind wir „Primats der einen Wahrheit“ in unserer
meilenweit entfernt. Ich selbst habe eine heutigen Gesellschaft einige Anschauung
Dissertation über den langen Kampf um haben (man denke nur an den Streit
die Legitimation der Fiktion in der frü- zwischen Darwinisten und Kreationisten
hen Neuzeit geschrieben. In diesem oder die Fatwa des Ajatollah Khomeini
Kampf wurde der Literatur ihr Exis- gegen den Schriftsteller Salman Rushdie),
tenzrecht in einer neuen Eigensphäre stellt sich das Problem, mit dem wir es
zugesprochen, die niemand mehr von hier zu tun haben, auf eine ganz andere
außen infrage stellen durfte: weder die Weise.
Priester, noch die Politiker, noch die
Historiker. Die Literatur hatte am Ende Primat der Erfahrung
des achtzehnten Jahrhunderts ihre Auto- Die autonome Hoheits- und Freiheits-
nomie gewonnen. zone der Literatur wird gegenwärtig aus
einer ganz anderen Richtung infrage ge-
Autonomie stellt. Ich möchte dieses Problem als
und Komplexität der Kultur „Primat der Erfahrung“ bezeichnen. Nie-
Diese Autonomie ist eine Errungen- mals galt in der Literatur der Grundsatz,
schaft der Evolution unserer Kultur, die dass der Raum der Erfindung durch die
damit an Komplexität gewonnen hat. eigene Erfahrung begrenzt ist. Der Primat
Wir leben seither nicht mehr nur in ei- der Erfahrung spielte für die Literatur bis-
ner Welt, sondern in mehreren. Niklas lang keine Rolle. Was man selbst nicht er-
Luhmann nannte dies die funktionale lebt hatte, das konnte man sich über In-
Ausdifferenzierung moderner Gesell- formanten (wie Daniel Defoe) oder über
schaften. In der modernen Gesellschaft Bücher und andere Dokumente aneignen.
wird den Bürgerinnen und Bürgern In meinem Studium habe ich gelernt, dass
zugemutet, mit mehreren Wahrheiten Leben und Werk zwei Welten sind, die
zu leben: einer religiösen Wahrheit und nichts miteinander zu tun haben. Uns
einer wissenschaftlichen Wahrheit, ei- wurde eingeprägt, dass das Leben eines
ner historischen und einer literarischen Autors völlig irrelevant sei für die Lek-
Wahrheit. Diese Spannungen und Kon- türe seiner Texte. Wer diese Regel nicht
flikte lassen sich aushalten unter der beachtete, bekam eine schlechte Note;
Bedingung der von Max Weber soge- man hatte sich des „biografischen Trug-
nannten Trennung der Wertsphären. schlusses“ schuldig gemacht.
Wir leben gleichzeitig in mehreren Wel- An diesem Punkt hat sich inzwischen
ten: der Welt der Kirche und der Univer- einiges geändert. In der Erinnerungslite-
sität, der Welt der Zeitungs- und der ratur haben wir es mit einem neuen
Romanlektüre. Genre zu tun, das unter dem Primat der

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Erfahrung steht. Zu Sprachvermögen rung auskommt, dasselbe wie ein un-


und Fantasie als den primären Antriebs- gedeckter Scheck?
kräften der Literatur ist die eigene Erfah- Ich möchte mich diesen komplizierten
rung hinzugetreten. Damit hat sich das Fragen im Folgenden über einige Bei-
Bild erheblich verändert. Eigene Erfah- spiele annähern und dabei versuchen,
rung ist per definitionem unveräußerlich; einige der komplexen Facetten, Variatio-
man kann sie nicht wie eine Information nen und Verwerfungen dieses Problems
übertragen und sich einverleiben. Was in den Blick zu fassen.
man nicht selbst in den Knochen hat, kann
man nicht nachträglich in diese Knochen Literarische Ausarbeitung
injizieren. Unter dem Primat der Erfah- der autobiografischen Erfahrung
rung werden der literarischen Gestaltung Mit der Erfahrung des Holocaust, eines
enge Grenzen gesetzt. An diesem Punkt traumatischen Erlebnisses, für das es
endet die Fähigkeit zur Aneignung; keine Erzählmuster gab, ist die neue Gat-
gleichzeitig verändert sich der Status der tung des Zeugnisses entstanden. Schrei-
Literatur und die ganze Problematik der ben wurde in dieser Situation zunächst
Legitimität der Fiktion. zu einer Form des Widerstands und dann
zu einer ethischen Pflicht, um denen, die
Erfahrung als Rohstoff der Literatur als unschuldige Opfer entrechtet und ver-
Die neue Erinnerungsliteratur ist nach nichtet wurden, nachträglich eine Stimme
1945 entstanden. Sie ist eine Antwort zu geben. Schreiben, Bezeugen und Erin-
auf die Gewaltgeschichte des zwanzigs- nern verbinden sich in dieser Gattung, für
ten Jahrhunderts und motiviert auch die Primo Levi und Ruth Klüger als Bei-
Menschen, die sich nicht vordringlich spiele angeführt werden können. Beide
als Schriftsteller verstehen, zum Schrei- Texte, die ein halbes Jahrhundert ausein-
ben. In diesem Genre sind die Grenzen anderliegen, sind offenkundig literarisch
durchlässig geworden zwischen auto- hoch elaboriert; gleichwohl insistieren sie
biografisch inspirierten Lebenszeugnis- auf ihrer außertextlichen Referenz und ei-
sen und hoch elaborierten literarischen nem Wahrheitsanspruch, der durch eine
Fiktionen. transparente Schreibweise mit dem An-
Historisches – sei es in autobiografi- spruch auf äußerste Genauigkeit unter-
scher, biografischer oder dokumenta- strichen wird. Der Wahrheitsanspruch
rischer Form – spielt eine große Rolle in folgt der Formel, mit der die Kopisten in
der Erinnerungsliteratur. Die Bedeutung den Epochen vor Einführung des Buch-
dieser Gattung besteht dabei darin, die drucks die Richtigkeit ihrer Abschriften
zerstörerische Wucht der großen Ge- bestätigten: „Ich habe nichts hinzugefügt,
schichte in ihrem Niederschlag auf Ein- nichts weggelassen und nichts umge-
zelgeschichten und individuelle Schick- stellt.“ Die Welt des Grauens, die sich in
sale zu vergegenwärtigen und sich dabei diesen Texten öffnet, das univers concen-
vornehmlich auf jene Erfahrungen zu traire, ist kein fiktionales Universum.
konzentrieren, die weder in die histori- Zu dieser Gruppe der autobiografisch
schen Darstellungen noch in das kollek- fundierten Texte gehören viele Romane
tive Gedächtnis der Gesellschaft einge- der deutschen Erinnerungsliteratur. In
gangen sind. Ist damit das unmittelbare diesen Generationenromanen wird die ei-
Gewicht der eigenen Erfahrung zum gene Geschichte, die man in den Knochen
wichtigsten Rohstoff literarischen Schrei- hat, unter unterschiedlichen Blickwin-
bens geworden? Ist deshalb eine literari- keln literarisch elaboriert. Die Autoren
sche Fiktion, die ohne biografische Erfah- und Autorinnen sind dabei festgelegt auf

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Aleida Assmann

ihre eigene Generationenperspektive, sie zum Verhältnis von Fakten und Fiktionen
ist der spezifische Rohstoff und Fundus in seinen Texten geäußert. Dabei nannte
dieser Literatur. Zu ihnen gehört Uwe er vor allem zwei Gründe für die Fiktio-
Timm, der sowohl als 68er als auch als nalisierung seiner Erfahrungen.
1940 geborenes Kriegskind Erinnerungs- Der erste ist die Spärlichkeit seiner Er-
romane aus seiner Generationenperspek- innerungen an frühe Kindheit und Krieg:
tive geschrieben hat. „Wenn ich die Geschichte überzeu-
gend erzählen wollte, musste ich die
Fiktionalisierung der Erfahrung Erinnerungen mit meiner Einbildungs-
Wir müssen hier eine wichtige Unterschei- kraft verdichten und umwandeln“ (Louis
dung vornehmen zwischen literarischer Begley, Zwischen Fakten und Fiktionen.
Ausarbeitung und Fiktionalisierung. Heidelberger Poetikvorlesungen, Frank-
„Fiction“ ist nach der Definition des furt a. M.: Suhrkamp 2008, 13).
Oxford English Dictionary alles, was ge- In diesen beiden Verben steckt das
formt, gerahmt, inszeniert und erfunden ganze Spektrum möglicher Bearbeitun-
ist. Die postmoderne Theorie unterschei- gen: Verdichten beziehungsweise literari-
det nicht zwischen diesen Bedeutungen. sche Ausarbeitung und Umwandeln be-
Für unsere Zwecke ist es allerdings we- ziehungsweise fiktionale Umschreibung.
sentlich, zwischen Fiktion im Sinne der Durch literarische Ausarbeitung lässt sich
Formung und Fiktion im Sinne von Erfin- die Spärlichkeit des Stoffs ausgleichen.
dung zu unterscheiden. Da es keine un- Umwandlung dagegen impliziert die
vermittelte Präsentation der Vergangen- Entscheidung, die Geschichte bewusst
heit gibt, gehören Medien und Darstel- anders zu erzählen, als sie sich zugetra-
lungsformen zur Grundausstattung des gen hat. Ich zitiere Begleys Erklärung zur
Erinnerns. Das heißt jedoch nicht, dass Fiktionalisierung beziehungsweise Um-
jede geformte Erinnerung eo ipso un- wandlung seiner Erinnerungen:
glaubwürdig ist. Es ist keineswegs mü- „Tanja (die Tante) habe ich erfunden,
ßig, in der Erinnerung zwischen Graden weil ich über meine Mutter nicht ohne
der Ausformung und der freien Erfin- Hemmungen hätte schreiben können, so-
dung zu unterscheiden. Genau diese lange sie am Leben war, und weil ich für
Unterscheidung verwischt der postmo- eine Zeit des beispiellosen Grauens und
derne Diskurs, der von Authentizität und des Umsturzes eine Heldin brauchte, die
Faktizität nichts wissen will. Er beruht auf anders war als meine Mutter – eine Hel-
der konstruktivistischen Prämisse, dass din in der Größenordnung von Stendhals
alles, womit Menschen zu tun haben, von Herzogin von Sanseverina oder Paster-
ihnen erfunden und gemacht ist. Die Gat- naks Lara.“
tung der Erinnerungsromane entfernt „Die Romanform“, so fährt er fort,
sich von diesen Prämissen. Literarische „und die Freiheit zur Erfindung, die sie
Ausarbeitung bezieht sich auf Fragen der gewährt, boten mir die psychische Ab-
Darstellung wie Rahmung, Narrativie- schirmung, durch die es überhaupt mög-
rung, stilistische Mittel, Deutungsange- lich wurde, Themen in Angriff zu neh-
bote und so weiter. Fiktionalisierung be- men […], die ich sonst für unzugänglich,
deutet demgegenüber, dass Teile der Er- wenn nicht sogar verboten gehalten
zählung bewusst hinzuerfunden, umge- hätte.“ Begley zählt andererseits die Epi-
stellt oder anderweitig verändert werden. soden aus seinem Roman auf, die auf
Als ein Beispiel nenne ich Louis Begleys Selbsterlebtes zurückgehen. Fiktionali-
Roman Wartime Lies. In seiner Heidelber- sierung ist für Begley eine Form, den
ger Poetikvorlesung hat er sich sehr klar Schrecken seines Traumas zu bannen; nur

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auf diesem Umweg kann er in seine Ge- historisches Trauma ohne autobiografi-
schichte zurückkehren und sie auch für sche Erfahrungsgrundlage ist auch der
andere öffnen. Er spricht mit Blick auf die Gegenstand von Herta Müllers Atem-
erlebte Geschichte von „unzugänglich“ schaukel (2009).
und „verboten“: Die Tabus, die er dabei
respektiert, sind individuelle ebenso wie Historisches Trauma aus zweiter Hand
kollektive Selbstschutzmaßnahmen. In diesem Roman hat sie durchaus bio-
Die Fiktionalisierung der autobiogra- grafische Erfahrungen verarbeitet, wenn
fischen Erinnerung gilt auch für Kurt auch nicht ihre eigenen. (Ein Zitat aus
Vonneguts Roman Slaughterhouse-Five, diesem Roman findet sich auf Seite 82.)
der die Bombardierung Dresdens zum Sie selbst schreibt dazu: „Ich empfinde
Inhalt hat, die er selbst in dieser Stadt er- mich im Schreiben nicht als Zeugin. Ich
lebt hat (Kurt Vonnegut, Slaughterhouse- habe das Schreiben gelernt vom Schwei-
Five, 1969, London: Triad Paladin 1989). gen und Verschweigen“ (Herta Müller,
Auch er hielt die eigenen Erlebnisse für „Wenn wir schweigen, werden wir
sowohl unergiebig als auch für unan- unangenehm – wenn wir reden, wer-
sprechbar. Zunächst zur Spärlichkeit: Er den wir lächerlich“, in: Birgit Lermen,
beschreibt, wie er sich Unterstützung Milan Tvrdík, Hrsg., Literatur, Werte und
bei einem Kriegskameraden sucht, “but Europäische Identität, Prag 2002, 283).
neither of us could remember anything Es ist primär die Erfahrung ihrer eige-
good”. nen Mutter, die in Stalins Arbeitslagern
Als er tiefer eindringt, stellt er fest, dass interniert war und dieses Trauma im en-
es für einen Roman nicht reicht: “Because gen Milieu des familiären Austauschs an
there is nothing intelligent to say about a die Tochter weitergegeben hat. Dieses
massacre.” Damit sind wir beim Aspekt Trauma aus zweiter Hand, wie wir es
der Unzugänglichkeit. Traumata ver- vielleicht nennen können, ist ein Teil der
sperren sich der literarischen Präsenta- Identität der Autorin geworden und hat
tion, weil für sie keine Narrative und an- möglicherweise zu dem starken Bedürf-
dere kulturellen Prototypen bereitstehen. nis geführt, diese unbekannte eigene
Vonnegut konnte seinen Erinnerungs- Geschichte, in die sie atmosphärisch ein-
roman erst fünfundzwanzig Jahre später geschlossen war, noch einmal nachzu-
niederschreiben, nachdem sich das ge- erleben, um sie sich auf bewusste Weise
sellschaftliche und kulturelle Klima in aneignen und damit zugleich verarbei-
den USA durch den Vietnamkrieg und ten zu können. Die Trennung zwischen
die Auflösung des traditionellen Helden- „selbst erlebt“ und „nicht selbst erlebt“
bildes tief greifend verändert hatte. Um ist also keineswegs so einfach, wie es
das Trauma in seinen Erinnerungstext auf den ersten Blick erscheinen mag.
hineinzuholen, musste Vonnegut neue Diese besondere biografische Vorge-
Darstellungsformen erfinden und neue schichte jedenfalls erklärt, warum die
Typen schaffen wie seinen pazifistischen Freundschaft mit Oskar Pastior später
und kindlichen Antihelden Billy Pilgrim. eine solche Bedeutung für Herta Müller
Besonders extravagant war das, was er gewonnen hat: Er war für sie eine Brücke
hinzuerfunden hat: eine Nebenhandlung zu diesen für sie selbst unzugänglichen
im Stil des Science-Fiction-Genres. Auf Ereignissen.
diese Weise hat er seinen Schrecken ge- Für Herta Müllers Schreiben gilt ge-
bannt durch eine Zutat, die zwischen re- nau das Umgekehrte wie für Begley und
gressiver Wunscherfüllung und einem Vonnegut. Ihre literarische Anstrengung
philosophischen Überbau changiert. Ein konzentriert sich nicht darauf, das

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Trauma zu bannen, sondern es im Ge- Barker aus den 1990er-Jahren. Aus eng-
genteil zu beschwören und mit sinn- lischer Perspektive ist der Erste Weltkrieg
lichen Worten in die Gegenwart zu holen. nicht durch den Zweiten überdeckt wor-
Mit ihrer hoch poetischen Schreibweise den, sondern als der Große Krieg auch
und „tröstungsfreien Sprache“ (Jürgen nach achtzig Jahren im Gedächtnis der
Wertheimer) führt sie ihre Leser und Öffentlichkeit und der Familien stehen
Leserinnen sinnlich nah an die peinigen- geblieben. Die Autorin hat die trauma-
den Erfahrungen heran: Hunger und tische Spur dieses Krieges in der Ge-
Durst, Schmutz und ungenügende Klei- schichte ihres Großvaters gefunden und
dung, Erschöpfung und Verlassenheit. wieder aufgenommen, die von einer Ge-
Es gibt in ihrem Text kein Entkommen, neration zur anderen eher weitergeleitet
keinen Überblick, keine narrativen Struk- als weitergereicht wurde. In ihrem deut-
turen, keine Schutzvorrichtungen. Im lich weiblichen Blick auf die militärische
Mittelpunkt steht die mühsame Selbst- Männergesellschaft konzentriert sie sich
sorge von Tag zu Tag unter den herab- auf die destruktiven Nachwirkungen die-
würdigenden und peinigenden Bedin- ses Krieges auf die Soldaten und das Un-
gungen einer schutzlos ausgesetzten vermögen der Ärzte, mit diesen verstö-
Existenzform. renden neuartigen Erscheinungen umzu-
Ein weiteres Beispiel für eine ver- gehen. Dabei mischt sie historische Per-
mittelt autobiografische Erinnerungslite- sonen, die mit ihren eigenen Namen be-
ratur ist die Romantrilogie über den nannt sind, mit einer fiktiven Hauptfigur,
ersten Weltkrieg der Engländerin Pat die sie dazuerfunden hat.

Gründlich wie die Stille

Als ich die Hautundknochenzeit und den Rettungstausch


hinter mir – als ich Ballettki, Bargeld, zu essen, neues
Fleisch auf der Haut und neue Kleider im neuen Koffer vor
mir hatte, kam die unzumutbare Entlassung. Für alle fünf
Jahre Lager kann ich heute fünf Dinge sagen:
1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.
Der Nullpunkt ist das Unsagbare.
Der Rettungstausch ist ein Gast von drüben.
Das Lager-Wir ist ein Singular.
Der Umfang geht ins Tiefe.
Aber für alle fünf Dinge gilt ein und dasselbe:
Sie sind gründlich wie die Stille zwischen ihnen und nicht
vor Zeugen.

aus: Herta Müller: Atemschaukel. Roman. München, Wien: Hanser, 2009, S. 263
„Gründlich wie die Stille“ gehört zu den Kurzkapiteln in Herta Müllers „Atemschaukel“, in denen
die Erinnerung an die Erfahrung von deportierten Rumäniendeutschen in russischen Arbeitslagern
1945 bis 1949 beschrieben werden, wie Herta Müller in ihrem Nachwort zum Roman erläutert.

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Die Vergangenheit begehbar machen

Ihre exakte Zeichnung des Settings und Er nimmt sich auch die Freiheit, das
der Charaktere beruht auf ausgedehn- historische Material nach künstlerischen
ten Recherchen und entspricht dem Stand Prinzipien umzuformen. Sein berühmter
historischer Forschung. Diese Selbstver- Vogelforscher lebt statt mit Graugänsen
pflichtung zu einem hohen Ethos histori- mit Dohlen, er forscht nicht in Mün-
scher Genauigkeit verbindet sich pro- chen, sondern in Dresden, und er schreibt
blemlos mit der freien Erfindung einer sein Hauptwerk nicht über die Natur-
weiteren Person, die zum Träger der Ge- geschichte der Aggression, sondern über
schichte des Großvaters wird und damit Naturformen der Angst. Trotz oder bes-
das Familientrauma in eine Konstellation ser wegen seines freien Umgangs mit his-
mit der großen Geschichte versetzt. torischem Material ermöglichen Beyers
hochgradig reflexive Romane neue Blicke
Historisches Trauma auf die Vergangenheit und unseren Um-
als künstlerisches Material gang mit ihr. Die Autorisierung durch
Im Jahr 2008 erschienen gleich zwei Trauma und Leiden kann für die nach-
Dresdenromane. Einer aus der Feder von wachsenden Generationen nicht mehr
Uwe Tellkamp, der in Der Turm ein gelten, die sich historischer Themen an-
großes Panorama einer geschlossenen nehmen; sie kehren zu bestimmten Ereig-
Gesellschaft innerhalb der geschlossenen nissen der Vergangenheit zurück, weil sie
DDR-Gesellschaft und dazu einen Prota- entweder deren Nachwirkungen weiter
gonisten geschaffen hat, der unverkenn- spüren oder das Bedürfnis haben, diese
bar autobiografische Züge trägt. Geschichte auf eine neue Art und Weise
Der andere Dresdenroman stammt zu erzählen. So oder so bezeugen sie, dass
von Marcel Beyer. Er wurde 1965 in West- die Vergangenheit noch nicht vergangen,
deutschland geboren und lebt seit 1996 sondern noch Teil unserer Gegenwart ist.
in Dresden. Sein Roman Kaltenburg (2008)
erzählt von der Bombardierung Dresdens Erinnerungsroman
aus der Perspektive des 1934 geborenen als exemplarische Geschichte
fiktiven Protagonisten Hermann Funk, Die neue Erinnerungsliteratur stellt eine
der sich 71-jährig aus großem zeitlichen besondere Herausforderung für die Lite-
Abstand an seine Kindheit und Jugend raturwissenschaft dar, weil sich in ihr die
erinnert. Er enthält die Vor- und Nach- klaren Unterscheidungslinien zwischen
geschichte dieses Traumas, das einer- Literatur und Leben sowie zwischen Fak-
seits nach Posen in die frühen 40er-Jahre ten und Fiktionen verwischen. In den klei-
und andererseits nach Dresden und nen privaten Geschichten spiegelt sich die
durch die DDR hindurch bis zum Jahre große Geschichte. Sie sind nicht repräsen-
2005 reicht. Beim Montieren und Model- tativ im Sinne einer metaphorischen Über-
lieren von Fakten und Fiktionen nimmt höhung, sondern exemplarisch im Sinne
sich Beyer alle Freiheiten. Drei Charak- des (metonymischen) Stellvertreters für
tere seines Romans haben einen histo- Hunderte und Tausende anderer kontin-
rischen Hintergrund. Durch die Haupt- genter, nicht erzählter, nicht gehörter,
figur Ludwig Kaltenburg schimmert der nicht aufgezeichneter Geschichten.
Ethologe Konrad Lorenz durch, hinter Im Titel seines Erinnerungsbuchs Am
zwei weiteren Protagonisten sind die Beispiel meines Bruders hat Uwe Timm
Umrisse des Künstlers Joseph Beuys und die exemplarische Bedeutung seiner Fa-
des Tierfilmer Heinz Sielmann zu er- miliengeschichte selbst hervorgehoben.
kennen. Aber nicht nur diese Namen hat Michael Braun hat den Roman deshalb
Beyer verändert. in die Tradition der antiken Exemplar-

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Aleida Assmann

literatur gestellt, „in der die Historie zwischen Imagination und Recherche,
als eine vorbildliche Beispielsammlung zwischen Phantom und Reflexion, zwi-
lehrreicher Erfahrungen galt“. Allerdings schen Erfindung und Authentizität. Die
fügt er sogleich hinzu, dem Autor liege Leser von literarischen Fiktionen haben
„weniger an der Lehre der Geschichte sich seit dem achtzehnten Jahrhundert
als vielmehr an ihrer Leere, an ihren darin geübt, zwischen der vorgestellten
Auslassungen, an Erinnerungslücken Welt des Romans und ihrer realen Um-
und Brüchen“ (Michael Braun, „Wem ge- welt unterscheiden zu können. In Bezug
hört die Geschichte? Tanja Dückers, Uwe auf die Erinnerungsromane sind sie ange-
Timm, Günter Grass und der Streit um halten, historisch Verbürgtes neben frei
die Erinnerung in der deutschen Gegen- Erfundenem gelten zu lassen. In dieser
wartsliteratur“, in: Erhard Schütz, Wolf- Gattung tragen Ausarbeitung und Erfin-
gang Hardtwig, Hrsg., Keiner kommt da- dung dazu bei, das historisch Verbürgte
von. Zeitgeschichte in der Literatur nach zu veranschaulichen und eine Innenper-
1945). Dieser Schritt von den Lehren aus spektive auf die Ereignisse zu ermög-
der Geschichte zu den Leerstellen der lichen. Im Erinnerungsroman gibt es freie
Erinnerung ist höchst signifikant für die Lizenzen zum Erfinden, die sich von den
neue Gattung, über die wir hier sprechen. Darstellungsregeln des historischen Dis-
Lehren aus der Geschichte zu ziehen – das kurses lösen, dabei aber – und das ist
war, wie Koselleck gezeigt hat, schon wichtig – dem Anspruch, neue Zugänge
durch die Beschleunigung des geschicht- zu der historischen Welt zu schaffen,
lichen Wandels in der Moderne nicht nicht im Wege stehen. Im Erinnerungs-
mehr ohne Weiteres möglich. roman wird die Geschichte neu besichtigt
und rekonstruiert mit dem Anspruch,
„Verstummen des inneren Menschen“ noch unbekannte Aspekte der histori-
Walter Benjamin hat zudem darauf hin- schen Wahrheit freizulegen.
gewiesen, dass die Kriegsheimkehrer von
1918 die Ersten waren, die nichts mehr Geschichte der Nachwirkungen
zu erzählen hatten. Dieses Schweigen war In deutlichem Gegensatz zum Bildungs-
eng verknüpft mit der Traumatisierung roman erzählt der Erinnerungsroman
der Soldaten infolge neuer Kriegstech- keine Geschichte des Werdens, sondern
nologie (Walter Benjamin, Gesammelte eine der anhaltenden Nachwirkungen. Er
Schriften, II.2, 442). Der sinnliche Erfah- startet in der Gegenwart und bewegt sich
rungsverlust, der auch die dafür bereit- „im Krebsgang“ rückwärts, um die Ver-
stehenden kulturellen historischen Tra- gangenheit tastend wie mit einer fla-
dierungsformen zerstört hat, ging für ckernden Taschenlampe auszuleuchten.
Benjamin mit einem „Verstummen des Diese richtet sich auf die Leerstellen
inneren Menschen“ einher (Gesammelte und blinden Flecken, auf das, was dethe-
Schriften, III, 231). matisiert, tabuisiert oder ganz einfach
übersehen und vernachlässigt ist. Es geht
Erfundenes neben Verbürgtem somit um das, was nicht den Status einer
Während die Historiker bei der Frage von Erinnerung, Erfahrung, Erzählung hat,
Fakten und Fiktionen auf einem strikten was widersprüchlich, disparat, unantast-
Entweder-oder beharren müssen, arbei- bar geblieben ist und vom gesellschaft-
ten die Autoren von Erinnerungsroma- lichen Bewusstsein ausgeschlossen oder
nen mit einem Sowohl-als-auch. Wie die abgeblendet wird. Wenn es richtig ist,
Erinnerung selbst bewegt sich diese Gat- dass der Erinnerungsroman nicht nur von
tung zwischen Fiktionen und Fakten, direkten Erinnerungen, sondern auch

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Die Vergangenheit begehbar machen

von anhaltenden Nachwirkungen ange- Vergangenheit, die alle zusammen ha-


trieben ist, kann die Frage nicht heißen: ben, kann man herumgehen wie in ei-
Wem gehört die Geschichte? Sie muss nem Museum. Die eigene Vergangenheit
vielmehr heißen: Wer ist von dieser Ge- ist nicht begehbar“ ( Martin Walser, Ein
schichte getroffen, berührt und hat zu ihr springender Brunnen, 9f.)
etwas Wichtiges zu sagen? Die Erinnerungsliteratur macht die ei-
Zur zeitlichen Dynamik der Erinne- gene Vergangenheit begehbar und damit
rung gehört ferner, dass die Vergangen- auch für andere zugänglich. Wir können
heit niemals gänzlich abgeschlossen ist, deshalb dieses Ethos auch auf die Formel
sondern beständig revidiert und neu per- bringen: Wo Schweigen war, soll Litera-
spektiviert werden kann und muss, um tur werden.
sie an die Bedürfnisse und Erfordernisse Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in „Inter-
der immer neuen Gegenwart anzupassen. nationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen
Die Erinnerungsromane tun genau das – Literatur“, Jahrgang 36/1, 2011, Seiten 213–225
sie halten die Erinnerungen an die NS- und ursprünglich als Vortrag auf dem Symposion
„Jahrestage“: Zeitgeschichte in der Literatur,
oder DDR-Zeit im Fluss und machen veranstaltet von der Konrad-Adenauer-Stiftung
sie für neue Generationen anschließbar. in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität
Walser hat einmal geschrieben: „In der Berlin am 10. Dezember 2009 ebendort gehalten.

Die Politische Meinung sondiert im September den

Stand der Ökumene in Deutschland.


Es schreiben unter anderen der Bischof für Ökumene und Auslandsarbeit
der Evangelischen Kirche in Deutschland Martin Schindehütte
und der katholische Bischof Gerhard Ludwig Müller von Regensburg
und Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz.

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