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NUNC COGNOSCO EX PARTE

TRENT UNIVERSITY
LIBRARY
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https://archive.org/details/dermarxismusseinOOOOfets
SAMMLUNG PIPER

Probleme und Ergebnisse der modernen Wissenscha ft


IRTNG FETSCHER

DER MARXISMUS
Seine Geschichte in Dokumenten

BAND i
PHILOSOPHIE IDEOLOGIE

R. PIPER & CO VERLAG


MÜNCHEN
7. — 9. Tausend 1965
Einband und Schutzumschlag: Gerhard M. Hotop
Gesamtherstellung:
R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München
© R. Piper & Co. Verlag München 1962
Printed in Germany
IN HALT

Vorwort. 17

Einleitung. 20

Religionskritik. 41

Vorläufer marxistischer Religionskritik

HEGEL Religion — die erste Weise des Selbst¬


bewußtseins eines Volkes. 44

D. F. STRAUSS Die Menschheit als Vereinigung der


göttlichen und menschlichen Natur. 45

Religiöser Egoismus und soziale


BRUNO BAUER
Gesinnung. 46

Theologie ist Anthropologie

LUDWIG FEUERBACH Motive und Ursachen der Got¬


tesvorstellung und des Auferstehungsglaubens . . 48

MOSES HESS Menschenopfer — das Wesen der


Religion wie des Staates / Die Verwirklichung des
Christentums in der kommunistischen Gesellschaft
der Menschheit . 55

Die marxistische Religionskritik

KARL MARX Kritische Anknüpfung an Feuerbach /


Das Christentum — insbesondere das protestan¬
tische / Die Überwindung der Religion / Die
sozialen Prinzipien des Christentums . . 137433
5
FRIEDRICH ENGELS Das Wesen der Religion und
ihre Entwicklung / Zur Entstehung und Entwick¬
lung des Christentums / Wandlungen des Christen¬
tums in der Sicht des historischen Materialismus /
Vergleich zwischen Urchristentum und sozialisti¬
scher Arbeiterbewegung.

JOSEPH DIETZGEN Die Ablösung der Religion durch


sozialdemokratische Weltanschauung / Die mensch¬
liche Gesellschaft—Erbin des Gottesbegriffs / Gegen
den liberalen Indifferentismus in Religionssachen,
Atheismus der >Gebildeten<, Religion fürs einfache
Volk. 75

KARL KAUTSKY Noch einmal: Urchristentum und


Sozialismus. 78

PAUL LAFARGUE Die Religiosität des modernen


Bourgeois und ihre Ursachen / Die Religion als
Herrschaftsmittel in der Hand der Bourgeoisie /
Ursachen der Irreligiosität des Proletariats.... 80

MAX ADLER Das Verhältnis von Religion und Ethik 85

A. DEBORIN Kritik an Max Adler. 86

HEINRICH CUNOW Der Ursprung der Religion aus


der sozialen Lebensauffassung<. 88

W. I. LENIN Das Wesen der Religion / Inter¬


pretation des sozialdemokratischen Grundsatzes
>Religion ist Privatsache< / Unterordnung der
atheistischen Agitation unter den Klassenkampf /
Gegen jede Form religiöser Weltanschauung. . . 90

NIKOLAI BUCHARIN Zur Entstehung der Religion /


Die russische Gesellschaft im Spiegel der rechtgläu¬
bigen Kirche und ihrer Vorstellungen / Gottesglaube
verhindert Entwicklung der Naturwissenschaft . . 97

ANTONIO GRAMSCI Das Christentum — die größte


Utopie der Menschheit .100

6
Anthropologie 101

Wegbereiter der Marxschen Anthropologie

HEGEL Die Bedeutung der Arbeit für die Ver¬


menschlichung des Menschen (Dialektik von Herr
und Knecht) / Die Vollendung der Vermenschlichung
in der freien Gemeinschaft des Staates.105

LUDWIG FEUERBACH Der Mensch — das univer¬


selle Wesen / Die Vollendung des Menschen in der
Gemeinschaft von Ich und Du.107

MOSES HESS Die praktische Konsequenz des Feuer-


bachschen Humanismus—Anthropologie ist Sozialis¬
mus .110

Die marxistische Anthropologie

MARX Die Arbeit als Wesen des Menschen / Der


Mensch als leiblich-sinnliche Wirklichkeit / Die
entfremdete Arbeit / Entfremdung im Akt der
Produktion selbst / Die Entfremdung vom mensch¬
lichen >Gattungsleben< / Die Entfremdung vomMit-
menschen / Entfremdung bei Bourgeois und Prole¬
tarier / DieAufhebungder Entfremdung / Die unent-
fremdete (menschliche) Produktion in der kommu¬
nistischen Gesellschaft.112

ENGELS Die Entstehung des Menschen / >Der An¬


teil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen< 122

KARL KAUTSKY Das Allgemeinmenschliche ist das


Tierische am Menschen.125

MAX ADLER Der Begriff des vergesellschafteten


Menschen.128

ROSENTAL-JUDIN Sowjetmarxistische Psychologie 153

7
Geschichtsphilosophie . 136

Wegbereiter marxistischer Geschichtsphilosophie

FRANCOIS GUIZOT.139

AUGUSTIN THIERRY.HO

FRANCOIS-AUGUSTE-MARIE MIGNET.142

HEGEL Grundzüge der Geschichtsphilosophie / Das


Wesen der Weltgeschichte / Mittel zur Verwirk¬
lichung des Zweckes der Weltgeschichte (welthisto¬
rische Individuen) / Das Material, in dem sich der
Zweck der Welt realisiert (der Staat). 143

AUGUST VON CIESZKOWSKI Der Übergang von der


Kontemplation zur Praxis.146

MOSES HESS Aufruf zur Philosophie der Tat . . 147

Marxistische Geschichtsphilosophie

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS Die Aufgabe


der Geschichtsphilosophie / Prinzipien der Marx-
schen Geschichtsbetrachtung / Das Verhältnis von
Basis und Überbau / Der ideologische (kulturelle)
Überbau.148

KARL KAUTSKY Verhältnis vonünterbau und Über¬


bau / Die Rolle der Naturwissenschaft in Basis und
Überbau / Einheit von Natur- und menschlicher
Geschichte / Unendlicher Progreß.160

ANTONIO LABRIOLA Die Vermittlung zwischen


Basis und Überbau (Sozialpsychologie) / Der
historische Materialismus — eine Forschungs¬
methode .167

H. M. HYNDMAN UND E. BELFORT BAX Die marxi¬


stische Geschichtsauffassung als Forschungshypo¬
these ; materielle und ideelle Faktoren gleich wichtig 173

8
MAX ADLER Die sozialökonomische Basis — der
Lebensraum der Gesellschaft / Der teleologische
Charakter des Entwicklungsbegriffs.174

OTTO BAUER Die Entwicklung der bourgeoisen


Weltanschauung / Die Oktoberrevolution und ihre
Ideologie.180

JEAN JAURÄS ökonomischer Materialismus / Ver¬


bindung von Materialismus und Idealismus / Das
Ideal des Fortschritts.185

G. W. PLECHANOW Die Bedeutung der geographi¬


schen Gegebenheiten für die Geschichte / Rasse
und Geschichte / Das Verhältnis von Basis und Über¬
bau / Die soziale >Teleologie< als Folge des sozialen
Prozesses / Formel für den historischen Materialis¬
mus / Kritik an Jean Jaures / Die Bedeutung der
internationalen ökonomischen Beziehungen für die
Kulturentwicklung eines Landes / Die Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte .187

W. I. LENIN Der historische Materialismus —


eine Waffe im Klassenkampf.200

NIKOLAI BUCHARIN Die Theorie des Gleichgewichts:


1. zwischen der Gesellschaft und dem Naturmilieu;
2. zwischen den Elementen des Systems selbst; 5.
Zusammenhang zwischen den beiden Relationen /
Überbau — Ideologie — gesellschaftliche Psycho¬
logie / Die aktive Rolle des Überbaus gegenüber
der Basis.205

A. MARTYNOW Kritik an Bucharins Identifikation


der Produktivkräfte mit der Produktionstechnik /
Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen.215

GEORG LUKÄCS Der Zweck seiner Untersuchun¬


gen / Die Suche nach dem Subjekt der Tathandlung
in der klassischen deutschen Philosophie / Das
Proletariat als identisches Subjekt-Objekt der Ge¬
schichte und die Überwindung der Antinomien des
bürgerlichen Bewußtseins.221

KARL KORSCH Das Verhältnis des Marxismus zum


deutschen Idealismus / Aufhebung von Staat und
Philosophie als Ziel der Revolution / Die Realität von
Ideologien / Der präzise marxistische Ideologiebe-
eriff */ Das Zusammenfallen von Bewußtsein und
o

Wirklichkeit / Kritik an Kautskys Entwicklungs-


begriff.236

ANTONIO GRAMSCI Deutscher Idealismus und Mar¬


xismus / Der exakte Ideologiebegriff des Marxis¬
mus / Das Problem des historischen Relativismus in
marxistischer Sicht / Ökonomie und Ideologie / Zur
Kritik an Bucharin.247

WELTANSCHAUUNG (Dialektischer Materialismus) . . 256

Die Klassiker

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS Zur Geschichte


des Materialismus — sein Zusammenhang mit So¬
zialismus und Kommunismus / Der neue (dialek¬
tische) Materialismus (Engels) / Grundthesen des
Engelsschen dialektischen Materialismus: Einheit
der Welt in ihrer Materialität / Raum und Zeit / Be¬
wegung als >Daseinsweise derMaterie< / Leben / Dia¬
lektik— die Lehre von der Bewegung / Umschlagen
von Quantität in Qualität / Negation der Negation 258

JOSEPH DIETZGEN Wissenschaft contra Religion /


Materie und Bewußtsein / Monismus / Der materia¬
listische Monismus — die weltanschauliche Basis der
Demokratie / Die Induktion als Universalmethode /
Weltanschauliche und politische Parteiungen . . . 271

10
Die Herausbildung der Orthodoxie

KARL KAUTSKY Materialistische Weltanschauung /


Auffassung der Dinge in ihrer Bewegung und
ihrem Zusammenhang / Die Einheit der Natur und
der Menschengeist als Naturerscheinung / Kritik
der Hegel-Marxschen dialektischen Entwicklungs¬
theorie und Ersetzung durch die Wechselwirkung
Organismus—Umwelt.277

G. W. PLECHANOW Der moderne Materialismus des


Marxismus als Weltanschauung / Die Bedeutung
Feuerbachs für den Marx-Engelsschen Materialis¬
mus / Die Bedeutung der Dialektik / Formale Logik
und Dialektik.285

W. I. LENIN Dialektische Evolutionstheorie / Kri¬


tik der Philosophie der Revisionisten / Aufruf zur
Rückbesinnung auf Hegel / Elemente der Dia¬
lektik .289

Marxistische Kj'itik am dialektischen Materialismus

MAX ADLER Marxismus als positive Wissenschaft /


Gegen dialektische Ontologie — für dialektische
Methode .295

KARL KORSCH Auseinandersetzung mit der sowje¬


tischen Parteiorthodoxie / Die Eigenart des Lenin¬
schen dialektischen Materialismus.299

HERBERT MARCUSE Funktionswandel der Dialektik


von Marx zum Sowjetmarxismus / Die sowjet¬
marxistische Naturdialektik / Die politisch-histo¬
rischen Wurzeln der Herausbildung des Sowjet¬
marxismus .305

Erkenntnistheorie.313

11
Die Klassiker

MARX UND ENGELS Das Kriterium der Praxis /


Forschungsweise und Darstellungsweise im >Kapi-
tal< / Bewußtsein als Widerspiegelung des Seienden/
Schranken und unendlicher Progreß der Erkennt¬
nis / Übereinstimmung von Denken und Sein /
Kritik der Kantschen Erkenntnistheorie.317

JOSEPH DIETZGEN Die radikale Unbeschränktheit


der menschlichen Intelligenz« / Abbildtheorie . . 325

Neukantianer

KONRAD SCHMIDT Kritik an Engels’ Kant-Wider¬


legung / Kantscher Phänomenalismus und mate¬
rialistische Metaphysik .326

EDUARD BERNSTEIN.329

LUDWIG WOLTMANN Die Rückkehr zu Kant / Zu¬


rückweisung der Engelsschen Kant-Kritik / Ding an
sich, Natura naturans und Geschichtsphilosophie 330

NIKOLAI BERDJAJEW Die Überlegenheit der Kant¬


schen Erkenntnistheorie über den Empirismus /
Die phänomenalistisch-monistische Erkenntnis¬
theorie / Der Sieg des Sozialismus — Voraussetzung
der allgemeinen Annahme dieser Erkenntnis¬
theorie .334

PETER VON STRUVE Erkenntnistheorie der Evolu¬


tion / Erkenntnistheoretische Abschaffung des Re¬
volutionsbegriffs / Kritik der Dialektik.338

MAX ADLER Erkenntniskritische Züge im Werk


von Marx / Die Lehre vom sozialen Apriori« /
Kritik des Leninschen >Realismus< und Materialis¬
mus« .545

12
Orthodoxe

G. W. PLECHANOW Kritik der Kantschen Erkennt¬


nistheorie / Die soziale Wurzel des Neo-Kantianis-
mus / Materialistische Erkenntnistheorie und Dia¬
lektik / Die Beseeltheit der Materie — eine mate¬
rialistische These.551

W. I. LENIN Nochmals Engels’ Widerlegung des


>Ding an sich< / Der naive Realismus des gesunden
Menschenverstandes — Grundlage der marxisti¬
schen Erkenntnistheorie / Relative und absolute
Wahrheit / Das Kriterium der Praxis / Mit Hegel
gegen Kants Erkenntnistheorie / Der dialektische
Charakter des Erkenntnisprozesses.358

Marxistische Kritik an der orthodoxen Erkenntnis¬


theorie des Leninismus

GEORG LUKACS Nochmals: Kritik an Engels’ Kant-


Widerlegung / Die Unzulänglichkeiten der Abbild¬
theorie und die Überwindung des Dualismus von
Denken und Sein.369

ANTONIO GRAMSCI Das Kantsche >Noumenon<


(Ding an sich) / Der volkstümliche Realismus —
kein geeigneter Ausgangspunkt für die marxistische
Kritik des Idealismus.377

Ethik .383

Klassiker

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS Die eigentüm¬


liche >Moral< der Nationalökonomie / Die Ethik des
französischen Materialismus / Die natürliche Güte
des Menschen selbst im unmenschlichen Milieu /
Die Verkehrung der Menschlichkeit in der christ-

13
liehen Moral / Heuchelei und bürgerliche Moral /
Die Aufhebung des Gegensatzes von Askese und
Genuß im Kommunismus / Die historische Be-
Bedingtheit der Moral.587

JOSEPH DIETZGEN Die fortschreitende Entwicklung


der Sittlichkeit / Die allgemeine Moral — Resultat
der Induktion / Das ideale sittliche Ziel der Sozial¬
demokratie .395

Neukantianer

EDUARD BERNSTEIN Kritik der Ethik und ethische


Tendenzen bei Marx / Die Rolle der Idee der Ge¬
rechtigkeit in der Arbeiterbewegung.400

FRANZ STAUDINGER (Sadi Gunter) Historischer Ma¬


terialismus und Ethik / Die wissenschaftliche Ethik
als ideale Ergänzung des historischen Materialismus 404

NIKOLAI BERDJAJEW Apriorische Moral mit histo¬


risch-psychologisch bedingtem Inhalt.412

PETER VON STRUVE Das sozialistische Ideal (Utopie)


als unaufgebbarer autonomer Bestandteil des So¬
zialismus .414

MICHAEL TUGAN-BARANOWSKY Der ethische Selbst -


widerspruch des Kapitalismus — Ursache seines
Untergangs.418

LUDWIG WOLTMANN Ersatz der entwicklungsge¬


schichtlichen Ableitung des Sozialismus durch das
ethische Postulat / Sittliche Erziehung des Prole¬
tariats — Voraussetzung erfolgreicher sozialistischer
Neuordnung.420

MAX ADLER Kritik an Kautskys naturalistischer


Ethik / Die Bedeutung des sittlichen Ideals für die
Gestaltung der Zukunftsgesellschaft / Sittliche

14
Wertungen als wesentliche Richtungsmomente des
historischen Prozesses.425

OTTO BAUER Das sittliche Problem des Streikbruchs


und die materialistische Ethik Kautskys / Die Kant-
sche Ethik als Überwinderin des moralischen Rela¬
tivismus und Skeptizismus.454

Orthodoxe

G. W. PLECHANOW Die Abhängigkeit der morali¬


schen Gefühle von den sozialen Lebensbedingungen
Ö D

der Klassen beziehungsweise der Lebensweise der


Tiere.459

KARL KAUTSKY Der moralische Faktor im Klassen¬


kampf / Das moralische Verhältnis der Klassen in
bürgerlicher und proletarischer Sicht / Die Ent¬
stehung der Moral aus den sozialen Triebem und
den gesellschaftlichen Bedürfnissen / Rückwir¬
kungen des >moralischen Überbaus< auf die Öko¬
nomie / Die Regelung des Verhaltens in der klassen¬
losen Gesellschaft / Sittliches Verhalten im Tier¬
reich / Kritik an Otto Bauers kantischer Moral¬
theorie .442

W. I. LENIN Die kommunistische Kampfmoral /


Die Vollendung der Moral in der kommunistischen
Zukunftsgesellschaft .455

PAUL LAFARGUE Gegen die bürgerliche Arbeits¬


moral — Lob der Faulheit.457

Kritische Marxisten

HERBERT MARCUSE Glück und Moral in einer


freien Gesellschaft.460

Bibliographische Hinweise .468

15
VORWORT

Die Geistes geschieh te des Marxismus ist ein weites Feld.


Man kann es weit nach rückwärts ausdehnen bis in die
antike Philosophie hinein und nach vorwärts bis zur
zeitgenössischen Sowjetideologie. Nach beiden Rich¬
tungen mußte ich Grenzen setzen. Nach rückwärts war
das leichter, denn es ist ja nicht von »Vor-Geschichte«
des Marxismus die Rede. Die ausgewählten Texte sollen
zeigen, wo dieUrsprünge des »Marxschen Denkens« (bei
Hegel, den Linkshegelianern, Feuerbach usw.) liegen.
Nach vorwärts wurden die sowjetischen Autoren aus¬
geklammert, die auf Lenin und Bucharm folgen. Die
Geschichte des Sowjetmarxismus ist bereits zu einer
wissenschaftlichen Spezialdisziplin geworden und der
Umfang der allerjüngsten sowjetischen philosophischen
Arbeiten sowie ihr eigentümlicher Charakter lassen
diesen Schnitt plausibel und notwendig erscheinen.
Wir haben es in unserer Auswahl durchweg mit
Autoren zu tun, die in weitgehender Freiheit denken
und schreiben konnten, die sich zwar einer marxisti¬
schen Partei verbunden hatten, aber doch nicht unter
der Herrschaft einer sie zensierenden marxistischen
Regierung leben mußten. Das erklärt die Vielfalt der
Strömungen und Tendenzen, die gegenseitige Polemik
und die Aufnahme so unterschiedlicher zeitgenössischer
philosophischer Strömungen wie des Positivismus, des
Neukantianismus und des Hegelianismus. Eine große
Anzahl der angeführten Autoren sind heute nur noch
wenigen Kennern bekannt. Sie haben aber seinerzeit in
der Diskussion um den Marxismus eine wesentliche

17
Rolle gespielt und verdienen heute schon darum
Beachtung, weil manche ihrer kritischen Einwände
gelegentlich als neue Argumente wieder auftauchen.
Es fällt vielleicht auf, daß die Anzahl der deutschen
Marxisten ganz erheblich überwiegt. Das ist kein Zufall,
die deutsche Sozialdemokratie war die erste marxistische
Arbeiterpartei der Welt und die Deutschen galten
— seinerzeit mit Recht — als die »Philosophen« unter
den Sozialisten. Von den Franzosen tauchen hier nur
Paul Lafargue und Jean Jaures auf. Italien ist durch
Antonio Labriola und Gramsci vertreten, Rußland durch
Plechanow, von Struve, Berdjajew, Tugan-Baranowsky,
Lenin, Bucharin; England nur durch eine knappe Er¬
klärung von Hyndman und Beifort Bax. Der Beitrag
der Engländer zur Geistesgeschichte des Marxismus ist
ganz wesentlich auf die ökonomische Theorie beschränkt.
Die beiden »Austromarxisten« Max Adler und Otto Bauer
gehören auch in den Zusammenhang der Geistesge¬
schichte des deutschen Marxismus. Das gleiche könnte
man von Georg Lukäcs’ frühen Arbeiten — nament¬
lich seinem Werk Geschichte und Klassenbewußtsein —
sagen.
Auf die Hervorhebung »nationaler Besonderheiten«
habe ich verzichtet; außerdem wurden die Autoren
nicht nach Nationalitäten gruppiert. Im wesentlichen
war das marxistische Denken bis zur Herausbildung
der sowjetischen Parteiorthodoxie international. Die
wichtigsten Werke wurden übersetzt und in allen mar¬
xistischen Parteien diskutiert. Bei der Frage, welche
Autoren überhaupt als »Marxisten« anzusprechen sind,
mußte ich mich mit einem möglichst allgemeinen und
unverbindlichen Kriterium begnügen. Mitgliedschaft zu
einer sich als marxistisch deklarierenden Partei und
Mitarbeit an einer Parteizeitschrift wurde im allge¬
meinen als ausreichendes Merkmal angesehen. In einigen

18
Fällen wurden aber auch parteiunabhängige Denker
(zum Beispiel Herbert Marcuse), die nach Auffassung
des Herausgebers wesentliche Denkanstöße von Marx-
erfahren haben, einbezogen. Dagegen mußten alle die¬
jenigen wegfallen, die nur in der einen oder anderen
Hinsicht Anregungen von Marx aufgegriffen und kritisch
verarbeitet hatten (zum Beispiel Max Weber, Ernst
Troeltsch, Rudolf Stammler usw.). In eine umfassende
Geistesgeschichte des Marxismus würden auch sie hinein¬
gehören ebenso wie Karl Mannhehn und eine Anzahl
von Historikern, aber ihre Arbeit würde sich kaum in
kurzen Auszügen adäquat präsentieren lassen.
Der vorliegende Band Philosophie und Ideologie stellt
einerseits einen in sich geschlossenen Zusammenhang
dar, ist aber doch zugleich auch auf den ergänzenden
zweiten Band Ökonomie und Politik angelegt. Der
Marxismus hat sich ja nie damit begnügt, bloß eine
neue philosophische Richtung zu sein, sondern war
immer zugleich auf die politische Praxis bezogen. Die
Trennung der Aspekte erfolgte nicht nur aus äußeren
Gründen; denn sie ist auch in der Geschichte des Mar¬
xismus selbst begründet, wie ich in der Einleitung nach¬
zuweisen suche. In manchen Fällen war es freilich
nicht ganz leicht, zu entscheiden, ob ein Abschnitt in
den Teil Philosophie oder in den Teil Politik aufzu¬
nehmen war. Wenn man daher den einen oder den
anderen wesentlichen Gesichtspunkt vermißt, so frage
man sich bitte zunächst, ob er nicht vielleicht im folgen¬
den Band seinen systematischen Ort haben sollte. Im
übrigen bin ich dem Leser für Hinweise auf wesentliche
Lücken und dergleichen im voraus zu Dank ver¬
pflichtet.

Tübingen, im Sommer 1962 Iring Fetscher


EINLEITUNG

Was ist das: der Marxismus ? Vielleicht die Lehre von


Karl Marx? Aber Marx hat doch einmal deutlich gesagt
»tout ce que je sais c’est que je ne suis pas marxiste!«
Oder die Theorien, die Engels entwickelt hat, Karl
Kautsky, Eduard Bernstein, Georg Plechanow? Alle
erheben sie ja mehr oder weniger deutlich den An¬
spruch, »marxistisch« zu sein, und doch unterscheiden
sie sich so erheblich, daß man kaum mehr als ein paar
»Leitmotive« finden kann, die ihnen allen gemeinsam
sind. Aber auch in die bestehende Einteilung der
Wissenschaften läßt sich der Marxismus nur schwer
einordnen. Es war die Überzeugung der Linkshege¬
lianer, daß mit Hegels Weltsystem die Philosophie
selbst zu ihrem unüberbietbaren Abschluß gekommen
sei. Marx zog daraus die Folgerung, daß in dem nun¬
mehrigen nachphilosophischen Zeitalter etwas anderes
an deren Stelle zu treten habe. »Die Philosophen haben
die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf
an, sie zu verändern!«
Weltveränderung durch menschliche Tat, so lautet
das neue Programm. Aber diese Tat begreift man zu¬
gleich als »Verwirklichung der Philosophie«. »Die
Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die
Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich
nicht aufheben ohne die Verwirküchung der Philo¬
sophie«. »Verwirklichung der Philosophie«, das bedeutet
aber zugleich ein Hinausgehen über das, was bisher
unter Philosophie verstanden wurde; nun hieß das
Ziel: Befreiung der arbeitenden Menschen in ihrer

20
empirischen Existenz — bisher dagegen galt es als
Aufgabe der Philosophie, den Sinn des Daseins oder
den Sinn hinter der äußeren Sinnlosigkeit des Daseins
zu erkennen, das »Denken mit der Wirklichkeit zu ver¬
söhnen«, wie es Hegel formulierte. Aber an diesen
Gedanken, daß sich das Neue, das an die Stelle der bis¬
herigen Philosophie zu treten habe, in dem selbst¬
bewußten historischen Akt der Revolution und Emanzi¬
pation des Proletariats verwirkliche, wurde in der Folge
nicht festgehalten. Der Gedanke der Überbietung der
bürgerlich-legalen Emanzipation von der Ständegesell¬
schaft durch die proletarisch-soziale Emanzipation von
der Klassengesellschaft, von der Ablösung des dualisti¬
schen Reichs der in Bourgeois und Citoyens gespaltenen
Menschen durch die einige »menschliche Gesellschaft«
und den »gesellschaftlichen Menschen« geriet in Ver¬
gessenheit, trat zumindest in den Hintergrund. Welt¬
anschauliche Reflexion, die sich zum Dogma mehr und
mehr verhärtete, trat auf die eine, taktisches und
praktisches Verhalten auf die andere Seite. Der aus
der geschichtlichen Bewegung herauswachsende, sich
als Reflexivwerden der Bewegung verstehende Gedanke
löste sich von dieser Realität los und wurde zur »Ge¬
schichtsphilosophie« verfestigt.
Das Ausbleiben der seit 1848 immer wieder ver¬
geblich erhofften Revolution verschaffte Marx die Zeit,
um seinen dialektischen Scharfsinn auf die verstehende
Nachkonstruktion der Struktur- und Bewegungsgesetze
der kapitalistischen Gesellschaft zu konzentrieren. Der
gewaltige Torso des Kapitals entstand. Daneben aber,
mehr durch die Notwendigkeit der journalistischen
Tätigkeit als aus reiner Neigung entsprungen, schrieben
Marx und Engels scharfsichtige Kommentare zu den
politischen und sozialen Zeiterscheinungen: den Kolonial¬
kriegen, dem Krimkrieg, dem amerikanischen Biirger-

21
krieg, der europäischen Kabinettspolitik, der britischen
Parlamentsreform, dem Aufstieg des Bismarckschen
Deutschland. In all diesen Analysen ist die »Geschichts¬
theorie« wenig mehr als methodologisch-heuristisches
Prinzip.
Als Ratgeber und leitende Mitglieder der »Inter¬
nationale« sind die beiden fehlbare und zuweilen recht
herrschsüchtige Politiker. Der ursprüngliche, einheit¬
liche Gedanke mochte wohl noch im Hintergrund
schlummern, für alle, die die Frühschriften nicht kann¬
ten und nicht kennen konnten, war der Marxismus eine
Sammlung von Theorien und Kenntnissen über den
Gang der Geschichte der Menschheit, über die Entwick¬
lungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft, über die
Notwendigkeit der proletarischen Revolution. Die Lehre
zerfiel in die Teilstücke Philosophie, Sozialökonomie,
Politik — oder wie sie später die Dogmatiker des Sowjet¬
marxismus bezeichnen sollten: dialektischer und histo¬
rischer, Materialismus, Politökonomie und wissenschaft¬
licher Sozialismus. Zwar wurde die Einheit all dieser
Systembestandteile nie in Frage gestellt, ein Teil baut
auch nach der heute herrschenden Lehre auf dem ande¬
ren auf, aber der unerhörte Gedanke einer Einheit von
selbstbewußter Aktion und sich verwirklichender Philo¬
sophie war verlorengegangen. Wir werden sogleich
sehen, welche Konsequenzen diese Dissoziation auch für
die marxistische Philosophie haben mußte.
Wer die ersten hundert Jahre der Geschichte des
»Marxismus« überblickt, muß freilich diese spätere Dif¬
ferenzierung zugrunde legen. Meine Sammlung charak¬
teristischer Texte wird daher in diesem ersten Bande
philosophische und in einem folgenden sozialökonomische
und politische Auszüge zusammenstellen. Hier soll zu¬
nächst nur auf den engen Zusammenhang hingewiesen
werden, der zwischen all diesen »Systemteilen« not-

22
wendig besteht. Gewiß, man kann die marxistische
Ökonomie auch unabhängig von Marxens Anthropologie
und seiner Geschichtskonzeption interpretieren. Das
Kapital erscheint dann als das bloß hypothetische Modell
einer denkbaren, rein kapitalistischen Gesellschaft. Aber
mit solcher Isolation versperrt man sich zugleich den
Zugang zu dem, worauf es Marx (und den meisten
Marxisten) ankam: den Nachweis der Unzulänglichkeit
dieser Wirtschaftsordnung für den sich verwirklichen¬
den Menschen und die Überzeugung der Fatalität der
Entwicklung auf diesen »reinen« Typus hin und über
ihn hinaus zu einer »höheren Form« des Kapitalismus
(Aktiengesellschaften, Kartellabsprachen usw. bis hin
zur Aufhebung der Konkurrenzgesellschaft selbst) und
endlich zum Sozialismus und Kommunismus.
Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx, die
bekanntlich von einer Kritik der ökonomischen Theorie
begleitet wird, will zugleich die Unmenschlichkeit und
die vorübergehende Unvermeidlichkeit (historische
Rechtfertigung) der kapitalistischen Wirtschaftsform
aufweisen. Wer sie von den voraufliegenden philo¬
sophischen Erwägungen loslöst, muß sie daher not¬
wendig mißverstehen. Aber auch noch der sogenannte
»wissenschaftliche Sozialismus« ist in seiner konkreten
Ausformung von bestimmten philosophischen (aber
auch sozialökonomischen) Thesen und Erkenntnissen
abhängig. Wo die empirische Gesellschaft ohne weiteres
mit der Modellkonstruktion von Marx identifiziert wird
(etwa bei Karl Kautsky), da müssen entsprechende
politische Folgerungen gezogen werden, die der politi¬
schen Wirksamkeit in der ganz anders aussehenden Welt
im Wege stehen.
Wer, wie Eduard Bernstein, die ökonomische Theorie
zu revidieren unternimmt, weil sie bestimmte Fakten,
auf die der empirische Sozialforscher stößt, nicht zu er-

25
klären vermag, der wird auf Grund dieser Revision der
ökonomischen Theorie auch zu einer anderen politischen
Konsequenz getrieben. Rosa Luxemburgs und Lenins
politisch-taktische Konzepte hängen aufs engste mit
ihrer unterschiedlichen »Imperialismustheorie« zusam¬
men, und bei Lenin kann man sogar eine Verbindung
hersteilen zwischen gewissen Unzulänglichkeiten seiner
philosophischen Lehren und der einseitigen Auslegung
der Diktatur »des Proletariats« im Sinne einer terroristi¬
schen Minderheitsherrschaft und der Partei als eines
»selbstbewußten Vortrupps« der Arbeiterklasse, der zu
unumschränkter Bevormundung berechtigt und sogar
verpflichtet ist.
Aber die Zusammenhänge sind nicht etwa nur ein¬
seitig. Genauso wie ökonomische und politische Theorien
von philosophischen abhängig sein können, tritt auch
die umgekehrte Dependenz oft genug in Erscheinung.
Wenn zum Beispiel Tugan-Baranowsky die ökonomische
Kritik der Marxisten am Kapitalismus widerlegt, so ist
er genötigt — falls er »Sozialist«bleiben will —, sie durch
eine ethische zu ersetzen. Ähnliches geschieht auch bei
dem russischen Reformisten Peter von Struve, nur daß
er glaubt, den Revolutionsgedanken auch durch seine
Erkenntnistheorie ad absurdum geführt zu haben; daher
mußte auch er das sittliche Ideal als Richtpunkt für eine
allmähliche Reform bemühen. Eine sinnvolle Lektüre
der vorliegenden Texte schließt daher ein Hin- und
Herblättern zwischen den einzelnen Autoren und den
drei Teilen der Sammlung ein. Dennoch scheint mir die
gesonderte Publikation des ersten Bandes gerechtfertigt
zu sein. Hier werden die Fundamente gelegt und hier
taucht auch — bei einzelnen bedeutenden Marxisten —
der Gedanke jener umwälzenden Praxis und der histo¬
risches Selbstbewußtsein des Sinns dieser Praxis kom¬
binierenden »Überwindung der Philosophie« wieder auf.

24
Am Anfang steht die Religionskritik und die Anthro¬
pologie. Beide bilden eine Einheit, denn für Marx wie
für Feuerbach ist die Theologie nur eine Anthropologie,
die sich selbst noch nicht verstanden hat, die Kritik der
Religion daher umgekehrt ein Nachweis oder ein Hin¬
weis auf das eigentliche Wesen des Menschen, der sein
»Gattungswesen« nicht in ein imaginäres transzendentes
Wesen »entfremdet« hat. Da diese Feuerbach-Marxsche
Anthropologie ihrerseits eine Anzahl wichtiger unmittel¬
barer Vorläufer hat, füge ich ein paar Texte von Hegel,
David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Moses Heß
hinzu.
Bei Engels aber biegt die Entwicklung des religions¬
kritischen Denkens bereits von dem humanistisch¬
anthropologischen Ursprung ab, nimmt darwinistische
und positivistische Bestandteile in sich auf und entfaltet
sich in dieser Form bei den meisten anderen Autoren.
Das Kernstück der Sammlung bilden natürlich die
Texte zur Geschichtsphilosophie. Als Wegbereiter nenne
ich hier die von Georg Plechanow in ihrer Bedeutung
für Marx nachdrücklich herausgestellten französischen
Restaurationshistoriker Guizot, Thierry und Mignet.
Wesentlicher noch scheint mir die Bedeutung Hegels,
der über die Verbindungsglieder Cieszkowski und Heß,
aber auch direkt, namentlich durch seine Rechtsphilo¬
sophie und die Philosophie der Weltgeschichte, auf
Marxens Geschichtskonzeption eingewirkt hat. Nur weil
Marx von Hegels Lehre von der in der Realität im¬
manenten Vernunft, von dem »Trieb« der objektiven
Vernunft zur Verwirklichung durchdrungen war, schien
ihm eine ethische Fundierung der sozialistischen Ziele
überflüssig.
Moralisierende Geschichtsbetrachtung war für Hegel
wie für Marx mit der ohnmächtigen Sollensforderung
des Individuums gegenüber der im Prozeß der Ge-

25
schichte sich realisierenden Vernünftigkeit identisch.
Es war nicht Zynismus, der Gott immer nur bei den
»stärksten Bataillonen« sieht, sondern der aus bürger¬
licher Tradition stammende Glaube an die der objektiven
Vernünftigkeit (der realen Entwicklung) innewohnen¬
de Kraft der Realisation, der auf alles Moralisieren
Verzicht leisten ließ. Erst als dieses Hegelsche Erbe in
Vergessenheit geriet, entstand das von Stammler ge¬
rügte Paradoxon, daß nämlich eine Entwicklung, von
der man nichts anderes zu sagen vermochte, als daß sie
»unvermeidlich«, »naturgesetzlich« usw. verlaufe, auch
bewußt gewollt und mit Fleiß beschleunigt werden
sollte. Erst als die Entwicklung der Gesellschaft zu einer
Evolution im Sinne Darwins und Häckels verflacht war,
konnte das Bedürfnis entstehen, diesen Evolutionismus
durch eine sozialistische Ethik zu ergänzen. Die Neu¬
kantianer unter den Sozialisten sind für diesen Versuch
kaum zu tadeln, weil sie das herauszuarbeiten ver¬
suchten, was dem Marxismus eines Kautsky und anderer
»Orthodoxer« längst wirklich abhanden gekommen war:
die Ausrichtung der Geschichte auf Sinnverwirklichung.
Die Entleerung der ursprünglich mit Elegelscher Ver¬
nunft gesättigten Auffassung war schon ein halbes Jahr¬
hundert alt, als sie in Stalins Identifikation des histori¬
schen Progresses mit der Steigerung der Produktivität
ihren Endpunkt erreichte. Die Geschichte der marxisti¬
schen Geschichtsphilosophie zeigt eine beinahe konti¬
nuierliche Verflachung der Konzeptionen, die erst in
den zwanziger Jahren durch Lukäcs, Korsch, Bloch und
etwas später durch den italienischen Kommunisten
Antonio Gramsci unterbrochen wird. Immerhin gibt es
auch unter den Theoretikern der »zweiten Internatio¬
nale« (1889 bis 1914) eine Anzahl differenzierter Geister,
unter denen ich hier nur Antonio Labriola und Max
Adler nennen möchte.

26
Das vierte, fünfte und sechste Kapitel (Weltanschau¬
ung, Erkenntnistheorie und Ethik) gehören wieder eng
zusammen. Auch wenn schon bei Marx und dann vor
allem bei Engels zahlreiche Stellen — bei Engels sogar
ganze Schriften — weltanschaulichen Problemen ge¬
widmet sind, so haben diese »Fundamentalien« doch
erst spät und insbesondere im russischen Marxismus jene
Bedeutung erlangt, die uns heute geläufig ist. Selbst in
der Zeit, als die Kautskyanische Orthodoxie in Deutsch¬
land das Feld beherrschte, war vom »dialektischen
Materialismus« nur wenig die Rede, und sogar Plecha-
now, der doch die Bedeutung des »Materialismus« durch
seine Studien zum französischen Materialismus des
18. Jahrhunderts nachdrücklich unterstrich, wandte
sein Hauptinteresse dem historischen, nicht dem dia¬
lektischen Materialismus zu. Das Bedürfnis nach Aus¬
arbeitung einer derartig umfassenden Weltanschauung
und die Herausstellung der Marxschen und Engelsschen
Texte hierzu sind charakteristische Symptome der
sozialistischen Bewegung in Ländern, die keinen Spiel¬
raum für die Entfaltung politischer Aktivität gewährten.
In Deutschland trug die Aufhebung des Sozialisten¬
gesetzes (1890) wesentlich dazu bei, das Interesse wieder
mehr auf praktische Fragen hinzulenken; in Rußland,
dessen Sozialisten vorwiegend Intellektuelle waren und
wo von einer freien politischen Tätigkeit keine Rede
sein konnte, wurde das Interesse selbst so praktisch ein¬
gestellter Menschen wie Lenin auf Fragen der Welt¬
anschauungslehre gelenkt. Nach Engels Anti-Diihring
(1878) wurde Lenins Materialismus und Empiriokriti¬
zismus (1908) zu einem weiteren Markstein auf dem
Wege zur Verwandlung des Marxismus in ein um¬
fassendes weltanschaulich-philosophisches System. Der
Aufbau dieses Systems und die Auseinandersetzungen,
die dabei (bis 1950) in der Sowjetunion geführt wurden,

27
fallen außerhalb des Rahmens, den ich mir hier gesteckt
habe. Dagegen schien es mir wichtig, auf die »klassi¬
schen Dogmatiker« — Kautsky, Plechanow, Lenin, drei
kritisch eingestellte Marxisten folgen zu lassen, die aus
verschiedenen Gründen ein derartiges weltanschau¬
liches System verurteilen. Max Adler tut es von einem
kantianisch-szientifischen Standpunkt aus, während
Karl Korsch und Herbert Marcuse, als Hegelianer der
»Linken« den fundamentalen Unterschied von Natur
und Gesellschaftsentwicklung im Auge behaltend, den
Leninschen und sowjetischen dialektischen Materialis¬
mus marxistisch als Epiphänomen der Sowjetgesellschaft
und Begleiterscheinung der spezifischen russischen Form
der »bürgerlichen« Revolution begreifen.
In den Kapiteln Erkenntnistheorie und Ethik bildet
eine Anzahl fast vergessener Neukantianer jeweils das
Mittelstück. Es wird sich empfehlen, die Texte eines und
desselben Autors auch einmal im Zusammenhang zu
lesen, denn erkenntnistheoretische und moralphilo¬
sophische Argumentationen ergänzen sich zuweilen und
ergeben erst gemeinsam ein deutliches Bild des betref¬
fenden Denkers. Beachtenswert ist auch, daß die von
Engels gelieferte »Kant-Widerlegung« nicht nur von
den Neukantianern, sondern auch von einer Anzahl
kritischer Marxisten (Lukäcs und ansatzweise auch
Gramsci) zurückgewiesen wird. Für Georg Lukäcs exi¬
stiert die Kantsche erkenntnistheoretische Problematik
auf dem Gebiet der »eigentlichen« Realität, des ge-
schichthch-geseUschaftlichen Daseins, überhaupt nicht.
Hier, wo wir es mit der von uns Menschen selbst ge¬
schaffenen Wirklichkeit zu tun haben, wo idealiter
Subjekt der Aktion und Objekt der Aktion (in der Selbst¬
emanzipation des Proletariats) zusammenfallen, sind die
Antinomien der Erkenntnistheorie grundsätzlich über¬
wunden, ist die Hegelsche Kant-Kritik durch Aufweis

28
dieses realen Subjekt-Objekts »bewiesen«. Das gleiche
gilt freilich nicht für jene Marxisten, die an der Wichtig¬
keit der Naturdialektik und der umfassenden materiali¬
stischen Weltanschauung festhalten.
Für mich selbst war es überraschend, wie zahlreich
die erreichbaren Äußerungen marxistischer Theoretiker
zur Ethik sind. Bei Marx fand sich die bezeiclmende
Bemerkung über die »Entfremdung«, die sich in der
unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Beurteilung ein
und derselben Handlung durch den Nationalökonomen
und durch den Moralphilosophen offenbart. Der Gegen¬
typus zu dieser Vielfalt von koexistierenden Beurtei¬
lungsmöglichkeiten ist für ihn offenbar die einheitliche
Wertschätzung einer Handlung als vernünftig, sittlich,
richtig, wie sie von einem hegelianischen Blickpunkt aus
erfolgen kann. Gegenüber einer solchen einhelligen
rational-humanistischen, immanenten »Norm« erscheint
die Betrachtungsweise, die eine Tat etwa zugleich als
»ökonomisch richtig« und »moralisch verderblich« be¬
wertet, als Ausdruck der »Entfremdung«. Der von Marx
gegenüber der »bürgerlichen« und »christlichen« Moral
erhobene Vorwurf, sie sei »heuchlerisch«, hängt mit
seiner Überzeugung zusammen, es sei wenigstens dem
Durchschnittsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft
gar nicht möglich, den sittlichen Forderungen, die
er selbst als allgemeinverbindlich deklariert und allen
anderen stellt, gerecht zu werden. Auch hinter diesem
Vorwurf steht deutlich eine eigene sittliche Wertung.
Das gleiche gilt für die namentlich durch Engels und
Dietzgen propagierte These, die moralischen Forderun¬
gen seien zwar durch die sozial-ökonomische Basis be¬
dingt, entwickelten sich jedoch in einer aufsteigenden
Linie. Gegenüber den reinen »Materialisten« unter den
orthodoxen Marxisten betont dann Eduard Bernstein
nachdrücklich die im Werk von Marx selbst versteckt

29
enthaltenen moralischen Wertungen, die Rolle, welche
die »Idee der Gerechtigkeit« bei Marx spielt. Franz
Staudinger und Nikolai Berdjajew unternehmen den
Versuch, den moralischen Apriorismus Kants mit der
marxistischen Ableitung des wechselnden Inhalts der
moralischen Forderungen zu kombinieren. Bei Tugan-
Baranowsky und bei Ludwig Woltmann endlich tritt
die moralische Begründung des Sozialismus offen an die
Stelle der sozialökonomischen Ableitung.
Hätte ich mich nicht allein an die eindeutig »marxi¬
stischen« Autoren gehalten, wäre hier auch Georges
Sorels eigentümliche Position zu verzeichnen gewesen.
Wie Tugan und Woltmann war auch Sorel von der
Berechtigung der Bernsteinschen Kritik an den Marx-
schen Prognosen überzeugt. Weder die Konzentration
des Kapitals noch die Verelendung hatte sich in dem
von Marx erwarteten Maß und Tempo vollzogen. Der
»Zusammenbruch« des Kapitalismus stand in weiter
Ferne. Für Sorel ergab sich daraus jedoch im Gegensatz
zu Bernstein nicht die Rechtfertigung einer reformisti¬
schen Zielsetzung und der Verwandlung der revolutio¬
nären Klassenkampfpartei in eine parlamentarische
Oppositionspartei, sondern die Ersetzung der »wissen¬
schaftlichen« Fundierung der revolutionären Politik
durch die irrationalistisch-mythische. Das offenbar wis¬
senschaftlich nicht mehr »ableitbare« revolutionäre Ziel
sollte in um so strahlenderer Reinheit und Absolutheit
zum sittlichen Postulat erhoben werden. Die Arbeiter¬
bewegung hört auf, Vollzugsorgan des schmutzigen
Prozesses der ökonomischen Entwicklung zu sein, und
wird das Gefäß der moralischen Reinigung und sittlich¬
religiöser Wiedergeburt.
Auf entgegengesetzter Position stand Karl Kautsky
mit seiner naturalistischen Ethik, die mehr Darwin und
der schottischen Schule des 18. Jahrhunderts zu ver-

30
danken scheint als Marx oder gar Hegel. Moralische
Regeln sind ererbte Verhaltensweisen, die sich die
Menschheit im Laufe der Geschichte angeeignet hat;
es handelt sich bei ihnen um bloße Weiterbildungen von
sozialen Instinkten, die als solche auch bereits im Tier¬
reich beobachtet werden können. Max Adler und Otto
Bauer fällt es nicht schwer, die Unzulänglichkeit dieser
naturalistischen Moraltheorie aufzuweisen, aber Kautsky
gelingt es seinerseits, zu zeigen, daß Otto Bauer mit dem
Kantschen kategorischen Imperativ das sittliche Problem
des Streikbruchs kaum besser lösen kann als die Kautsky -
sche Moraltheorie. Daß die Moral bei Lenin ganz und
gar dem Klassenkampf untergeordnet wird und sich in
ein Instrument der Disziplin und Selbstdisziplin ver¬
wandelt, wird niemanden verwundern, der auch nur
ein ungefähres Bild von diesem genialen Strategen und
Taktiker des Parteiaufbaus und der Revolution besitzt.
Als Kontrast — weniger zu den moralischen Thesen bei
Lenin als vor allem zu der späteren Sowjetmoral — füge
ich zwei Texte an, in denen das ursprüngliche Marxsche
Ideal einer »guten«, das heißt mühelos gut handelnden
und friedlich zusammenlebenden Menschheit beschwo¬
ren wird: Paul Lafargues Kritik genau jener bürgerlich¬
asketischen Arbeitsmoral, die heute in der Sowjetunion
als höchste sittliche Errungenschaft gepriesen wird, und
Marcuses Andeutungen über Glück und unterdrük-
kungslose Entfaltung der Menschen in einer unent-
fremdeten Gesellschaft.
Die Entwicklung, deren Phasen sechsmal an unserem
geistigen Auge vorüberzieht, vollzieht sich nicht im luft¬
leeren Raum. Daß sie mit dem Wandel der ökonomi¬
schen und politischen Konzeptionen eng zusammen¬
hängt, habe ich schon erwähnt. Ebenso aber steht sie in
enger Beziehung zum gleichzeitig ablaufenden sozialen,
politischen und kulturellen Geschehen. Die Geistes-

31
geschichte des Marxismus ist selbst ein Teil der all¬
gemeinen Geschichte und insbesondere der Kultur¬
geschichte. Wie man den ursprünglichen revolutionären
und humanistischen Gedanken von Marx selbst nur
»verstehen« kann, indem man ihn einerseits auf die
höchstgespannten Erwartungen und Ansprüche des
deutschen Idealismus und andererseits auf die revolutio¬
näre Begeisterung der vierziger Jahre bezieht, so stehen
auch all die zahlreichen späteren Wendungen und Modi¬
fikationen des „marxistischen Denkens“ in engem Zu¬
sammenhang mit herrschenden philosophischen Strö¬
mungen, politischen Situationen und Zielsetzungen der
Arbeiterparteien. Geistes geschichtlich sind dabei folgen¬
de Daten wichtig: das Erscheinen von Darwins Origin of
Species (1857) und von Marx’ Kritik der politischen Öko¬
nomie im gleichen Jahre, das Vordringen des Positivismus
infolge der Triumphe der Naturwissenschaften und der
Hochschätzung, die ihren Methoden entgegengebracht
wurde; die Rückkehr zu Kant, schon in den sechziger
Jahren (unter anderem durch Liebmanns Schrift Kant
und die Epigonen propagiert), aber erst in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur herrschenden
philosophischen Richtung geworden, und endlich etwa
seit 1905 die Neuentdeckung Hegels, die auf Korsch
und Lukacs nachhaltigen Einfluß gehabt hat. Von all
diesen Einflüssen ist vermutlich derjenige des Naturalis¬
mus und Positivismus am nachhaltigsten gewesen, be¬
stimmt er doch heute noch weithin die Gestalt der
sowjetmarxistischen Philosophie, auch wenn deren
spezialisierte Arbeiten im Niveau mittlerweile weiter
gekommen sind.
Wenn man die Äußerungen marxistischer Darwini¬
sten neben die »bürgerlicher« Autoren aus der gleichen
Zeit stellt, bedarf es häufig schon großer Aufmerksam¬
keit, um die Unterschiede zu bemerken, so groß ist die

52
»Familienähnlichkeit« der Zeitgenossen, so groß der Ab¬
stand von unserer heutigen philosophischen Auffassung.
Daß die jeweils tonangebenden philosophischen und
weltanschaulichen Denkweisen in so starkem Maße in
die Arbeiterbewegung eindringen konnten, war aber die
Folge jener wahren Bildungsleidenschaft, die diese
Klasse in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und wohl
noch darüber hinaus erfüllte.
Ein Bildungshunger, der sich keineswegs nur auf das
verwertbare berufliche Wissen erstreckte, sondern im
Gegenteil in erster Linie auf die Erfassung der gesamten
Wirklichkeit ausging. Mit dem naiven Glauben fast
jedes Halbgebildeten, daß alles wißbar, lernbar, erfahr¬
bar und verstehbar sein müsse, machten sich die Arbeiter
in ihren Bildungsvereinen und in Parteischulungs¬
abenden mit den Erkenntnissen und Theorien der
»bürgerlichen« Wissenschaftler und ihrer eigenen
Ideologen vertraut. Und wie auf naturwissenschaft¬
lichem Gebiet der Vorzug jeweils den neuesten For¬
schungen und den neuesten Theorien oder Hypothesen
zu geben war, so mußten auch die jeweils neuesten
philosophischen Lehren die Präsumtion der Überlegen¬
heit für sich haben. Das galt auch für den mit physio¬
logischen und wissenschaftsmethodologischen Erwägun¬
gen einhergehenden Neukantianismus.
Dieser großen Aufnahmebereitschaft, die die Wir¬
kung Eugen Dührings (dessen Einfluß Engels zu be¬
kämpfen hatte) und später die der Neukantianer erklärt,
stand nun freilich der feste Wille der Parteiführung
entgegen, die vereinte sozialistische Arbeiterschaft auch
weltanschaulich zusammenzuhalten. Diesem Zwecke
dienten in erster Linie der Ausbau des »dialektischen
Materialismus« zur umfassenden Weltanschauungslehre
und die Abwehr aller »unmarxistischen«, vor edlem jeder
»idealistischen« Strömung durch die Verteidiger der

33
»Orthodoxie« (Kautsky, Plechanow, Lenin). »Idealisti¬
schen« Neigungen gegenüber waren diese Gralshüter
der materialistischen Lehre außerordentlich hellhörig.
Selbst die positivistische Suspendierung des Urteils in
bezug auf die Frage nach Idealismus oder Materialismus
wurde bereits als häretisch diffamiert.
Lernbegierige Aufnahmebereitschaft einerseits, welt¬
anschaulicher Abschluß der Partei andererseits, das
waren die Grundtendenzen in der marxistischen Be¬
wegung vor dem Ersten Weltkrieg. Während aber nach
dem Sieg der Oktoberrevolution sich in Rußland nach
anfänglichen Richtungskämpfen bald eine einseitige
orthodoxe Richtung durchsetzte, die sorgfältig alle Züge
bewahrte, die dem Marxismus aus der Zeit seiner Ent¬
faltung zur Weltanschauungslehre anhafteten (das heißt
den aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahr¬
hunderts stammenden Naturalismus und Evolutionis¬
mus), konnte außerhalb Rußlands da und dort eine
Renaissance des marxistischen Denkens entstehen, das
mit dem Neuhegelianismus (Lukäcs, Korsch, Marcuse),
aber auch mit kultursoziologisch weitergedachten An¬
sätzen in der Freudschen Psychoanalyse fruchtbare Ver¬
bindungen einging (Marcuse, Horkheimer, Adorno).
Zugleich streifte bei diesen Denkern (bei Lukäcs frei¬
lich nur in seinem Werk Geschichte und Klassenbewußt¬
sein) die marxistische Philosophie den Provinzialismus
ab, den sie als Integrationsideologie der Arbeiterbewe¬
gung angenommen hatte und annehmen mußte. Sie
verwandelte sich in das Instrument einer subtilen, ander¬
wärts beinahe vergessenen, den Traditionen des frühen
Bürgertums verpflichteten Kulturkritik. Während sich
aber diese unvergleichliche Niveauhebung bei vereinzel¬
ten Denkern vollzog, emanzipierten sich die demokra¬
tische Arbeiterbewegung im Westen und ihre Führer
mehr und mehr vom Marxismus, zu dessen ausschließ-

54
liehen Erben sich die Apologeten der sowjetischen
Zwangsgesellschaft aufwarfen.
Abgesehen von ein paar Versuchen, den Marxismus
in kritisch gereinigter und mit einem humanitären
Liberalismus versetzter Gestalt als Ideologie der sozial¬
demokratischen Opposition gegen Hitler und sein Reich
zu verwenden (Siegfried Marek), kehrten sich die sozial¬
demokratischen Parteien gänzlich von Marx und seinen
Lehren ab. Die Orientierung dieser Parteien wurde
immer pragmatischer, ihr politisches Credo war von der
Hochschätzung der parlamentarischen Demokratie und
der Anerkennung der pluralistischen Gesellschaft (man
denke nur an die Schriften des Labour-Ideologen Harold
Laski) bestimmt, allenfalls beschäftigten sich ein paar
Wirtschaftsexperten mit dem Kapital und den späteren
Arbeiten marxistischer Ökonomen. Durch die Entideolo-
gisierung der sozialistischen Parteien entstand aber so¬
zusagen als Kompensation die Möglichkeit, das Denken
von Marx selbst, unbelastet durch die mit jeder »Indienst¬
stellung« für die Praxis verbundene Vergröberung, zu
analysieren und zu deuten. Die Edition einiger bis dahin
(1932) unbekannter Frühschriften, namentlich des Ent¬
wurfs Nationalökonomie und Philosophie (1844), trug
ganz wesentlich zu einer »Marx-Renaissance« bei, die,
in Deutschland durch die nationalsozialistische Macht¬
ergreifung unterbrochen, nach dem Zweiten Weltkrieg
vor allem das französische Denken tiefgehend beein¬
flußt hat. Henri Lefebvre hat in einem berühmt ge¬
wordenen Aufsatz geschildert, wie ein paar Jahre sogar
die französischen Kommunisten an diesem Aufschwung
Anteil hatten, bis dogmatische Verdammungsurteile der
Moskauer Zentrale diese Ansätze wieder zunichte mach¬
ten.
Wenn in dieser ganzen Entwicklung jedoch die Kon¬
zeptionen von Marx zwischen 1844 und 1848 und die

35
Arbeiten von Korsch, Lukäcs und Marcuse zwischen
1923 und 1932 als Höhepunkt erscheinen, ist das meines
Erachtens darin begründet, daß in beiden Fällen Denker,
die Hegels Philosophieren zu dem ihren gemacht hatten,
einer revolutionären Situation konfrontiert wurden, von
der sie jene »Verwirklichung der Philosophie« erwarten
konnten, die das eigentliche Ziel des Marxismus ist.
Sicher, in beiden Fällen beruhten jene Hoffnungen auf
einer Täuschung, und es gehörte der unbeirrbare Glaube
an die Vernunft der Geschichte und des Menschen dazu,
um trotz aller zutage tretenden Widervernünftigkeiten
an dieser Hoffnung festzuhalten. Ernst Bloch hat sie da¬
her ganz konsequent in den Mittelpunkt seiner eigenen
(Marx, aber auch vielen anderen Denkern verpflichte¬
ten) Philosophie gestellt. Ohne diese Ploffnung müßte
auch die Kulturkritik, die sich mehr und mehr der
Termini des jungen Marx bedient, sinnlos werden.
Was kann uns ein solcher Überblick über die Ge¬
schichte der marxistischen Philosophie lehren? Zunächst
einmal dies: daß sich philosophisches Denken — vor
allem, wenn es so stark wirklichkeitsbezogen sein
möchte wie das marxistische — nicht unabhängig von
der politischen und sozialen Geschichte entwickelt. Das
Anwachsen der Arbeiterbewegung, ihre Stellung als
»kulturelles Proletariat« (im Sinne Toynbees) gegen¬
über der bürgerlichen Kultur, ihr Bildungshunger und
die Absicht der Parteiführung, ihre Anhängerschaft
auch weltanschaulich deutlich von der Umgebung abzu¬
setzen, haben zusammengewirkt, um das Bild der je¬
weils herrschenden Lehren und der »ketzerischen«
Auffassungen zu bestimmen. Bis zur Entstehung der
Leninschen Partei neuen Typs wurde freilich nie, trotz
aller Schärfe und Unsachlichkeit der Auseinander¬
setzungen, wegen weltanschaulicher Fragen ein »Ketzer¬
gericht« veranstaltet. Nur wer, wie Eduard Bernstein,

36
die sozialpolitischen Prognosen des Marxismus in Frage
stellte und damit den verbalen Revolutionarismus der
Parteiorthodoxie unmöglich zu machen drohte, sah sich
einer bis zur Erbitterung gehenden Abneigung gegen¬
über. Doch selbst Bernstein nahm man nie die Möglich¬
keit der Meinungsäußerung in der Parteipresse, ganz
abgesehen davon, daß er sich in den »Sozialistischen
Monatsheften« auch noch ein eigenes Organ schaffen
konnte.
Die Vielgestaltigkeit der Lehren und Theorien, die
in den aus gewählten Texten, die ich Zusammentragen
konnte, zum Ausdruck kommt, macht aber auch deut¬
lich, wie fruchtbar die Marxschen Denkanstöße für
Philosophen verschiedenster Provenienz werden konn¬
ten. Wenn ich wiederholt betont habe, daß die Hegelia¬
ner oder die an Hegel gebildeten Marxisten die übrigen
an Scharfsinn und Konsequenz erheblich übertrafen
(das gilt übrigens auch für Antonio Labriola auf Grund
der in Italien nicht unterbrochenen Hegeltradition), so
schließt das nicht aus, daß auch Neukantianern im
einzelnen interessante und bemerkenswerte Leistungen
gelungen sind.
Wer nur die sowjetmarxistischen Arbeiten kennt, wird
erstaunt feststellen, daß das Niveau der Diskussionen in
einer Zeit, da Marxisten kaum über Lehrstühle und nur
über sehr wenige »Fachorgane« verfügten, oft weit
höher war als in einer Epoche, wo ihnen die wirtschaft¬
lichen Hilfsquellen eines Weltreichs zur Verfügung
stehen. Die relative Freiheit der Diskussion philo¬
sophischer Fragen und die ständige Notwendigkeit der
Auseinandersetzung mit nichtmarxistischen Denkern
haben sicher entscheidend zu diesem zuweilen hohen
Niveau der Arbeiten beigetragen. Bei all dem darf man
jedoch nie vergessen, daß es sich bei unseren Autoren
nur in ganz wenigen Fällen um »Fachphilosophen«

57
handelt, sondern vielmehr um sozialistische Theoretiker
und Politiker, die das Bedürfnis verspürten, ihren poli¬
tischen Entscheidungen ein solides philosophisches
Fundament zu geben oder sich von ihrer unbewußten
Weltorientierung Rechenschaft abzulegen.
In meiner Auswahl habe ich mich auf den Zeitraum
von 1840 bis etwa 1925 beschränkt. Die Entwicklung
und Wandlung der marxistischen Philosophie und
Ideologie in der Sowjetunion wurden ausgespart, weil
sie ganz eigenen Gesetzen und Bedingungen unter¬
liegen und weil das Bild einer im wesentlichen ab¬
geschlossenen Epoche vermittelt werden sollte. Nur bei
einigen wenigen Autoren habe ich von dieser Regel eine
Ausnahme gemacht: ich bringe eine Anzahl von Aus¬
zügen aus Werken des bedeutenden italienischen Marxi¬
sten Antonio Gramsci, der die kommunistische Partei
Italiens mitbegründet hat, aber alles andere als ein
»Apparatschik« war. Eine ihm eigentümliche realistische
Auffassung vom Sozialgeschehen verbindet er mit gros¬
sem, an Croces Hegelianismus geschultem, dialektischen
Geschick, das er unter anderem in der Kritik des posi-
tivistisch-mechanizistischen Marxismus von Bucharin
bewiesen hat.
Das Kapitel über die marxistische Anthropologie
schließe ich mit einem Lexikonartikel von Rosental und
Jüdin (1955) ab, der den Abstand veranschaulichen soll,
der diese sowjetischen Autoren von der ursprünglichen
Marxschen Anthropologie trennt. Im dritten und sech¬
sten Kapitel führe ich ein paar Abschnitte aus Arbeiten
Herbert Marcuses an, die auch schon aus der »Stalinzeit«
stammen. Sie stehen für das, was von den Parteimarxi¬
sten in dieser Zeit längst nicht mehr geschrieben werden
durfte, und sollen verdeutlichen, was eine auf Marx sich
stützende, aber nur der Vernunft verpflichtete Reflexion
gegenüber dem dogmatischen Sowjetmarxismus leisten

58
kann. Im übrigen bringe ich vom dritten Kapitel an
jeweils »Klassikertexte«, Auszüge aus den Schriften der
»Orthodoxen«, neukantianische Lehren — und zum Ab¬
schluß Abschnitte aus den Arbeiten der neuhegeliani¬
schen Marxisten Lukdcs, Korsch, Gramsci, Marcuse. Den
letzteren gegenüber erscheinen dann zumeist Orthodo¬
xie wie »idealistische Abweichung« als die zwei zu¬
sammengehörigen Bestandteile derselben Sache, näm¬
lich der Auflösung der ursprünglichen Einheit des in
Aktion umschlagenden Marxschen Denkens.
RELIGIONSKRITIK

Die Religionskritik steht in dieser Auswahl am Anfang,


weil sie einmal historisch und dann auch systematisch an
diese Stelle gehört. Marx wurde durch Hegel und die
linkshegelianische Deutung des Hegelschen Systems ge¬
prägt, ehe er seine eigenen Wege zu gehen begann. Für
die Linkshegelianer aber war die Ablehnung der thei-
stischen Interpretation der Hegelschen Philosophie der
Nachweis, daß Hegel >im Grunde< bereits ein Atheist ge¬
wesen sei, charakteristisch. Auch wenn Marx im An¬
schluß an Feuerbachs Hegelkritik diese These fallenließ,
ist die Herkunft von einem umgedeuteten, entschieden
immanentistischen Hegelianismus für ihn bestimmend
geblieben.
Hegels spekulativ gedeutetes Christentum konnte nach
zwei Richtungen hin interpretiert werden. Man konnte
entweder in ihm den Versuch erblicken, das Christentum
für das moderne Denken akzeptabel zu machen, seine
Glaubensgewißheiten vor der Vernunft zu rechtfertigen,
oder aber umgekehrt dahinter die Absicht vermuten, den
Eigenwert der religiösen Gewißheit überhaupt zu leug¬
nen und die Aussagen des Glaubens zu unbewußten und
unvollkommenen Antizipationen der eigentlichen selbst¬
bewußten Wahrheit der spekulativen Vernunft zu ma¬
chen. Während die >rechten< Hegelianer den ersten Weg
gingen, schlug die >Linke< den zweiten ein. Sie legte dem¬
entsprechend den Nachdruck auf Hegels These, daß die
Religion die Erkenntnisse des absoluten Wissens (der zur
Weisheit gewordenen Philosophie) nur in unzulänglicher,
anschaulicher Gestalt zum Ausdruck bringe. In Abkehr
von Hegels Esoterik mußten sie dann die allgemeine Er¬
setzung der christlichen Religion durch die Hegelsche
spekulative Philosophie fordern. Für Theologen wie D. F.

41
Strauß waren die Aussagen der Bibel lediglich die my¬
thische Einkleidung einer wesentlich philosophischen
Aussage. Philologische Textkritik konnte sich an ihnen
versuchen, ohne daß die Gefahr bestand, das Wesentliche
dadurch zu zerstören. Aber nicht nur in der Form, auch
inhaltlich ging man so über den christlichen Glauben
hinaus. Wenn Hegel immer wieder von der >Einheit der
göttlichen und menschlichen Natur< in einem aus my¬
stischer Tradition stammenden Sinne emphatisch ge¬
sprochen hatte, so wurde hieraus bei Strauß die Umwand¬
lung der Christologie in die Lehre von der Göttlichkeit
der Menschheit. Die dem einzelnen Menschen fehlenden
Züee, welche das Christentum allein dem Gott-Menschen
Jesus zuschreibt, können nach Strauß vernünftigerweise
nur der Menschheit insgesamt zukommen. Schon hier
tritt der Tendenz nach die Gesellschaft an die Stelle
Gottes.
Neben diese Umdeutung der Christologie und den
Übergang vom Gefühlten, Geglaubten zum von der dia¬
lektischen Vernunft Erfaßten tritt die moralische Ab¬
wertung der Religion. Bruno Bauer betont den Gegen¬
satz von religiösem Egoismus und humaner Gesinnung,
und Karl Marx zeigt sich in seiner Kritik der heuchleri¬
schen christlichen Moral< (vgl. das Kapitel Ethik) noch von
diesem Urteil beeinflußt. Die Theologie, so lautet die ein¬
fache Grundthese Ludwig Feuerbachs, setzt alle Eigen¬
schaften, die der göttlichen Menschheit insgesamt (nicht
freilich dem einzelnen Individuum) zukommen, in ein
imaginäres, jenseitiges Wesen und beraubt sie damit, ver¬
armt sie, >entfremdet< ihr alles, worauf sie mit Recht stolz
sein dürfte. Um der Vollendung der Vermenschlichung
des Menschen willen muß daher die Religion kritisiert
und bekämpft werden.
An diese Feuerbachsche These knüpft Marx an. Er
übernimmt sie unbesehen, fragt aber hinter sie zurück
und glaubt, die Ursachen für die Entstehung von Gottes¬
vorstellungen im Bewußtsein der Menschen gefunden zu
haben. Die Menschen entfremden sich ihr Gattungs-

42
wesen nur dann, projizieren es nur dann in einen imagi¬
nären Gott, wenn sie in ihrer realen Alltagsexistenz ihre
Menschlichkeit nicht entfalten können. Um daher die
Religion zu überwinden, genügt es nicht, sie zu kriti¬
sieren, die himmlischen Hirngespinste< zu entlarven,
man muß die Lebensverhältnisse ändern, in denen not¬
wendig immer wieder religiöse Vorstellungen entstehen.
Die Religion ist >das Opium des Volkes<, das sich in
seinem Schmerz über die Unmöglichkeit menschlicher
Entfaltung in der Klassengesellschaft zu betäuben
wünscht. Nur der hat ein Recht, ihm dieses schmerz¬
stillende Mittel zu nehmen, der ihm auch dazu ver¬
helfen will, die Ursachen des Schmerzes zu beseitigen.
Marx sieht die Religion immer nur unter dem Bilde
des Opiums, des Beruhigungsmittels. Sie ist ihm nicht
mehr, wie für den naiven Aufklärer, einfach ein Er¬
zeugnis herrschsüchtiger und betrügerischer Priester,
sondern ein Produkt der leidenden Menschheit selbst,
die in der imaginären Welt der Religion Trost zu suchen
genötigt ist. Hierin besteht der Schritt von der Ver¬
ständnislosigkeit des Aufklärers zu dem funktional¬
sozialpsychologischen Verstehen des Ideologiekritikers.
Aber viele spätere Marxisten sind wieder auf den Stand¬
punkt des naiven Aufklärers zurückgefallen.
Die Marxsche Religionskritik wird von den späteren
Marxisten weder übertroffen noch weitergebildet. Ihr
Hauptinteresse gilt vielmehr der Deutung der Ent¬
wicklung der Religionen mit Hilfe des historischen
Materialismus, wobei sie starken Gebrauch von den Mit¬
teilungen der Ethnologen über primitive Religionen
machen. Bemerkenswert ist aber, daß neben der Kritik
an der Religion schon Engels und vor allem Josef Dietzgen
auf die Ähnlichkeiten hingewiesen haben, die zwischen
der sich herausbildenden proletarischen Weltanschauung
und einer Religion bestehen. Was sehr viel später zu
einem häufig verwendeten Vorwurf gegen den ideolo¬
gisch gewordenen Marxismus geworden ist, taucht hier
als Selbsterkenntnis der frühen Marxisten auf. Vor allem

45
aber hat sich der kritische Akzent nach Marx — bereits
bei Engels, noch deutlicher bei Kautsky, Cunow, Bucharin
usw. — auf die Hervorhebung der Unwissenschaftlichkeit
der Religion verlagert. Damit lenkt der Marxismus in
den breiten Strom der positivistischen Religionskritik ein,
deren klassische Formulierung der von Marx äußerst
gering geschätzte Comte geliefert hat: Die religiöse Welt¬
interpretation entspricht einem niedrigen Stand der
Entwicklung der geistigen Kräfte der Menschheit, die
metaphysische Deutung, die sich fingierter Entitäten
bedient, geht schon etwas weiter, aber erst die positive
Wissenschaft erfaßt die Wirklichkeit mit adäquaten
Mitteln. Gegenüber dieser verflachten Auffassung, die das
Eigenwesen der Religion noch weit mehr verfehlt als die
Marxsche sozialpsychologische Interpretation, hat Antonio
Gramsci auf einen Zug namentlich des Christentums
verwiesen, den auch Ernst Bloch immer wieder hervor¬
gehoben hat: die Ausrichtung auf eine erhoffte bessere
Welt.

Vorläufer marxistischer Religionskritik

HEGEL

Religion — die erste Weise des Selbstbewußtseins eines


Volkes:

»Die Religion ... ist die erste Weise des Selbstbewußt¬


seins, das geistige Bewußtsein des Geistes des Volkes
selbst, des allgemeinen, des an und für sich seienden
Geistes nach der Bestimmung, die er sich in dem Geiste
eines Volkes gibt, das Bewußtsein dessen, was das Wahre
ist, in seiner lauteren, ungeteiltesten Bestimmung ...
Die Religion, die Vorstellung von Gott macht insofern
die allgemeine Grenze, die Grundlage des Volkes aus.

44
Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition
dessen gibt, was es für das Wahre hält ... Die Religion
ist das Bewußtsein eines Volkes von dem, was es ist, von
dem Wesen des Höchsten. Dies Wissen ist das allve-
D

meine Wesen. So wie ein Volk sich Gott vorstellt, so


stellt es sich auch seine Beziehung zu Gott oder so stellt
es sich selber vor; so ist die Religion auch Begriff des
Volkes von sich. Ein Volk, das die Natur für seinen Gott
hält, kann kein freies Volk sein; erst dann, wenn es
Gott für einen Geist über der Natur hält, wird es selbst
Geist und frei ...« [Philosophie der Weltgeschichte, Hg.
J. Hoffmeister, Hamburg 1955, Bd. 1, S. 125]

D. F. STRAUSS

Die Menschheit als Vereinigung der göttlichen und


menschlichen Natur:

»Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daß als


Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt,
statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht
kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Indivi¬
duum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen
sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die
Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung
stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereini¬
gung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott:
der zur Endlichkeit entäußerte unendliche, und der
seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie
ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren
Vaters: des Geistes und der Natur; sie ist der Wunder-
j täter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der
Geist sich immer vollständiger der Natur, im Menschen
wie außer demselben, bemächtigt, diese ihm gegenüber

45
zum machtlosen Material seiner Tätigkeit herunter¬
gesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang
ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung
immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber
und ihrer Geschichte aufgehoben ist ...« [Das Leben
Jesu-, zit. nach der 3. Aufl., Tübingen 1839, Bd., II.
§ 149, S. 767]

BRUNO BAUER

Religiöser Egoismus und soziale Gesinnung:

»Die Religion ist die fixierte, angeschaute, gemachte,


gewollte und zu seinem Wesen erhobene Passivität des
Menschen, das höchste Leiden, das er sich selbst zufügen
konnte, die Furcht des Menschen und die Armut und
Leerheit des Geistes, die zu seinem Wesen erhoben ist,
das Unglück der Welt, das als ihr Wesen angeschaut,
gewollt und fixiert ist.« [Das entdeckte Christentum, eine
Erinnerung an das 18. Jahrhundert und ein Beitrag zur
Krisis des 19., Zürich - Winterthur 1843, S. 10ff.]
»Der Teufel ist der besondere, eigentliche, rücksichts¬
lose, wirkliche Ausdruck für das negative, menschen¬
mörderische, verleumderische und anklägerische Wesen
des religiösen Bewußtseins.« [a.a O., S. 28]
»Wir wollen nicht mehr die Menschheit an ein chi¬
märisches Jenseits knüpfen, sondern den Menschen zu
sich selbst bringen, die Menschen mit Menschen ver¬
einigen.« [a.a.O., S. 39]
»Die Theologen ... die vielmehr aus Vorliebe für das
Phantom ihres Menschenhasses das wirkliche Sein, die
Vernunft und die Entwicklung der Menschheit leugnen
und unterdrücken möchten.« [a.a.O., S. 58]
»Der Religiöse läßt kein gutes Haar an dieser Welt.
Nichts in ihr gilt ihm als ein Gut, er hebt nichts, gar

46
nichts Wirkliches; er müßte also, wenn man sich dazu
verstehen wollte, den Namen Gott für das Gute und
die Wirklichkeit zu mißbrauchen, der wahre Atheist
sein ...« [a.a.O., S. 59 ff.]
»Der Religiöse muß der Überzeugung leben, daß das
Jüngste Gericht jeden Augenblick beginnen, der Herr
zu jeder Stunde kommen könne; er muß sein Herz also
der Welt, den menschlichen Verhältnissen, der Geschichte
entfremden, er muß sich von den Vergnügungen dieser
Welt, den theoretischen Ergötzungen der Wissenschaft
und Kunst abwenden, die praktischen Siege der
Geschichte verabscheuen und über ihre Triumphe
Strafpredigten halten — er muß alle Zufriedenheit
hassen ...«[a.a.O., S. 60ff.]
»Wer ist Egoist, der Gläubige, der Staat, Geschichte,
Menschheit fahren läßt und auf den Trümmern der
V ernunft und Menschheit sich nur mit seiner miserablen,
interesselosen Seele beschäftigt, oder der Mensch, der
mit Menschen lebt und arbeitet und in Familie, Staat,
Kunst, Wissenschaft seine Leidenschaft für den Fort¬
schritt der Menschheit befriedigt?
Wer ist der Egoist, der Christ, der sich isoliert und an
seiner Isolierung weidet, oder der Mensch, der sich in
den Kampf der Geschichte wirft, sei es auch auf die
Gefahr des Untergangs hin, wenn er nur die Schlacht¬
linie der kämpfenden Menschheit weiter vorgerückt,
seinem Haß gegen die Dummheit und Bosheit Genüge
getan und seiner Begeisterung für Recht und Wahrheit
Luft gemacht hat?« [a.a.O., S. 75]
»Bin ich ein Egoist, wenn ich mein wahres Leben nur
in dem Leben für die allgemeinen Zwecke der Mensch¬
heitsehe? Und sind die Zwecke und Interessen der Mensch¬
heit nicht auch meine? Befriedige ich also nicht not¬
wendig mein Selbstgefühl, wenn ich mein Scherflein
zum Besten der Menschheit beitrage und eine Kugel
verschieße, um der Menschheit in ihrem Kampfe gegen
die Unmenschlichkeit siegen zu helfen? Und nütze ich
nicht der Menschheit, wenn ich mich selbst immer mehr
achten lerne? Der Einzelne kann nicht ohne die Gat¬
tung: sein und die Gattung nicht ohne ihn.« [a.a.O.,
S. 74ff.]
»Selbst der Name >Gott<, der nur erwähnt zu werden
braucht, um wenigstens das Gefühl einer öden Lange¬
weile zu erregen, muß zum Besten der menschlichen
Heiterkeit und des Frohsinns gemieden werden, und der
Name Atheist, das Wort Atheismus kann nur jetzt, nur
in einer Zeit, die mit Gewalt noch einmal recht gottvoll
sein will, von Wert und von Bedeutung sein. Der Name
Atheist darf jetzt noch nicht verschmäht werden, wenn
er auch nur eine negative Bezeichnung ist, da er als
Losungswort der ersten Befreiung der Menschheit un¬
endliche Bedeutung hat.« [a.a.O., S. 111]

Theologie ist Anthropologie

LUDWIG FEUERBACH

»Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist


nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der
Religion. Aber die Religion ist das Bewußtsein des
Unendlichen; sie ist also und kann nichts anderes sein
als das Bewußtsein des Menschen von seinem und zwar
nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen
Wesen...« [Das Wesen des Christentums (1841), Hg.
Schuffenhauer, Berlin 1956, Bd. I, S. 56]
»Aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen
er sich bewußt ist, oder was macht die Gattung, die

48
eigentliche Menschheit im Menschen aus? Die Ver¬
nunft, der Wille, das Herz ... Vernunft, Liebe, Willens¬
kraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte,
sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und
der Zweck seines Daseins. Der Mensch ist, um zu er¬
kennen, um zu lieben, um zu wollen. Aber was ist der
Zweck der Vernunft? Die Vernunft. Der Liebe? Die
Liebe. Des Willens? Die Willensfreiheit. Wir erkennen,
um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu
wollen, d. h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes,
liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen gött¬
lich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die
Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Drei¬
einigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen
ist die Einheit vonVernunft, Liebe,Wille.. .«[a.a.O.,S.37]
»Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. Große
exemplarische Menschen — solche Menschen, die uns
das Wesen des Menschen offenbaren, bestätigen diesen
Satz durch ihr Leben. Sie hatten nur eine herrschende
Leidenschaft: die Verwirklichung des Zwecks, welcher
der wesentliche Gegenstand ihrer Tätigkeit war. Aber
der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesent¬
lich, notwendig bezieht, ist nichts andres als das eigne
aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts ...« [a.a.O.,
S. 39]
»An dem Gegenstände wird daher der Mensch seiner
selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstandes ist das
Selbstbewußtsein des Menschen ... der Gegenstand ist
sein offenbares Wesen, sein wahres, objektives Ich.«[S.40]
»Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein
eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist
daher die Macht seines eignen Wesens. So ist die Macht
des Gegenstands des Gefühls die Macht des Gefühls,
die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht
der Vernunft selbst, die Macht des Gegenstands des

49
Willens die Macht des Willens ... Das Gefühl wird nur
durch das Gefühlvolle, d. h. durch sich selbst, sem
eignes Wesen bestimmt. So auch der Wille, so auch die
Vernunft. Was für eines Gegenstandes wir uns daher
auch nur immer bewußt werden: wir werden stets zu¬
gleich unsres eignen Wesens uns bewußt.« [a.a.0.,S.41]
»Das Gefühl ist deine innigste und doch zugleich eine
von dir unterschiedene, unabhängige Macht, es ist in dir
über dir: es ist dein eigenstes Wesen, das dich aber als
und wie ein anderes Wesen ergreift, kurz, dein Gott —
wie willst du also von diesem Wesen in dir noch ein
anderes gegenständliches Wesen unterscheiden? Wie
über dein Gefühl hinaus?« [a.a.O., S. 49]
»Der Gegenstand des Menschen ist nichts andres als
sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch
denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: soviel Wert
der Mensch hat, soviel und nicht mehr hat sein Gott.
Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des
Menschen. Die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis
des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst du den
Menschen und wiederum aus dem Menschen seinen
Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das
ist sein Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott:
Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst
des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung
der verborgenen Schätze des Menschen, das Einge¬
ständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche
Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.
Wenn aber die Religion, das Bewußtsein Gottes, als
das Selbstbewußtsein des Menschen bezeichnet wird, so
ist dies nicht so zu verstehen, als wäre der religiöse
Mensch sich direkt bewußt, daß sein Bewußtsein von Gott
das Selbstbewußtsein seines Wesens ist, denn der Mangel
dieses Bewußtseins begründet eben das eigentümliche
Wesen der Religion. Um diesen Mißverstand zu be-

50
seitigen, ist es besser zu sagen: die Religion ist das erste
und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen ...
Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er
es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als ein
andres Wesen Gegenstand. Die Religion ist das kind¬
liche PF?sen der Menschheit ... Jeder Fortschritt in der
Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntnis. Aber
jede bestimmte Religion, die ihre altern Schwestern als
Götzendienerinnen bezeichnet, nimmt sich selbst 1—
und zwar notwendig, sonst wäre sie nicht mehr Reli¬
gion — von dem Schicksal, dem allgemeinen Wesen der
Religion aus; sie schiebt nur auf die andern Religionen,
was doch —- wenn anders Schuld — die Schuld der
Religion überhaupt ist ...« [a.a.O., S. 51ff.]
»Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Ver-
halten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu
seinem PVesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als
zu einem andern PVesen. Das göttliche Wesen ist nichts
andres als das menschliche Wesen oder besser: das
PVesen des Menschen abgesondert von den Schranken des
individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen,
vergegenständlicht d. h. angeschaut und verehrt als ein
andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen — alle
Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Be¬
stimmungen des menschlichen Wesens.« [a.a.O., S. 53]

Motive und Ursachen der Gottesvorstellung und des


Auferstehungsglaubens:

»Gott ist der in das Tempus finitum, in das gewisse


selige Ist verwandelte Optativus des menschlichen
Herzens, die rücksichtslose Allmacht des Gefühls, das
sich selbst erhörende Gebet, das sich selbst vernehmende
Gemüt, das Echo unserer Schmerzenslaute. Äußern muß
sich der Schmerz; unwillkürlich greift der Künstler

51
nach der Laute, um in ihren Tönen seinen eignen
Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt seinen Schmerz,
indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegenständ¬
licht; er erleichtert die Lust, die auf seinem Herzen ruht,
indem er sie der Luft mitteilt, seinen Schmerz zu einem
allgemeinen Wesen macht. Aber die Natur erhört nicht
die Klagen des Menschen — sie ist gefühllos gegen seine
Leiden. Der Mensch wendet sich daher weg von der
Natur, weg von den sichtbaren Gegenständen über¬
haupt — er kehrt sich nach innen, um hier, verborgen
und geborgen vor den gefühllosen Mächten, Gehör für
seine Leiden zu finden. Hier spricht er seine drückenden
Geheimnisse aus, hier macht er seinem gepreßten
Herzen Luft. Diese freie Luft des Herzens, dieses aus¬
gesprochene Geheimnis, dieser entäußerte Schmerz ist
Gott. Gott ist eine Träne der Liebe, in tiefster Ver¬
borgenheit vergossen über das menschliche Elend. >Gott
ist ein unaussprechlicher Seufzer, im Grunde der Seelen
gelegem — dieser Ausspruch ist der merkwürdigste,
tiefste, wahrste Ausspruch der christlichen Mystik.«
[Sebastian Franck von Word in Zinkgrefs Apophtegmata
deutscher Nation, a.a.O., S. 200 ff.]
»Der Mensch hat, wenigstens im Zustande des Wohl¬
seins, den Wunsch, nicht zu sterben. Dieser Wunsch ist
ursprünglich eins mit dem Selbsterhaltungstriebe. Was
lebt, will sich behaupten, will leben, folglich nicht
sterben. Dieser erst negative Wunsch wird in der
spätem Reflexion und im Gemüte, unter dem Drucke
des Lebens, besonders des bürgerlichen und politischen
Lebens, zu einem positiven Wunsche, zum Wunsche
eines Lebens und zwar bessern Lebens nach dem Tode.
Aber in diesem Wunsche liegt zugleich der Wunsch der
Gewißheit dieser Hoffnung. Die Vernunft kann diese
Hoffnung nicht erfüllen ... zu solcher Gewißheit gehört
eine unmittelbare, sinnliche Versicherung, eine tatsäch-

52
liehe Bestätigung. Diese kann mir nur dadurch gegeben
werden, daß ein Toter, von dessen Tod wir vorher ver¬
sichert waren, wieder aus dem Grabe aufersteht, und
zwar ein Toter, der kein gleichgültiger, sondern vielmehr
das Vorbild der andern ist ... Die Auferstehung Christi
ist daher das befriedigte Verlangen des Menschen nach
unmittelbarer Gewißheit von seiner persönlichen Fort¬
dauer nach dem Tode — die persönliche Unsterblichkeit
als eine sinnliche, unbezweifelbare Tatsache.« [a. a.O.,
S. 219ff.]

MOSES HESS

Menschenopfer — das Wesen der Religion wie des


Staates:

»Gerade weil Rehgion und Politik auf ein Zukünftiges


hinweisen, werden sie nie zugeben, daß dieses Zukünf¬
tige ein Gegenwärtiges sei, indem sie sich dann selbst
aufheben -würden. Ja, sie müssen, weil ihre Rohe im
Hinweisen auf eine Zukunft besteht, in welcher diese
ihre Rohe zu Ende gespielt ist, die Gegenwart dieser
Zukunft stets hinausschieben. — Um von der Wahrheit
nicht Lügen gestraft oder verläugnet zu werden,
müssen sie selbst die Wahrheit lügen und läugnen. —
Das ist die beste Seite, die man der Rehgion und Politik
abgewinnen kann; doch das ist nicht ihr ganzes Wesen.
Das Wesen der Rehgion und Politik besteht ... darin,
daß sie das wirkliche Leben, das Leben der wirklichen
Individuen, von einem Abstraktum, von dem Allge¬
meinem, welches nirgend wirklich, außer im Indivi¬
duum selber, absorbieren lassen. — Das ist der Begriff
und das zeigt auch die Geschichte dieses edeln Schwester¬
paares. Der Moloch ist der Urtypus desselben. Menschen¬
opfer bilden überah den Grundton des Gottesdienstes
und Staatsdienstes. Der >absolute Geist<, der im
>Staate< seine Wirklichkeit feiert, ist eine Nachbildung
des christlichen Gottes, der seinen erstgeborenen Sohn
kreuzigen läßt, der Wohlgefallen hat am Martertum
und auf einen Märtyrer, >auf diesen Felsen<, seine
Kirche baut. Der christliche Gott ist eine Nachbildung
des jüdischen Moloch-Jehova, dem die Erstgeburt ge¬
opfert wird, um ihn zu >versöhnen<, und den das
Justemilieu-Zeitalter des Judentums mit Geld abge¬
funden hat, indem es die Erstgeburt >auslöste< und
Vieh statt Menschen opferte. Das ursprüngliche
Schlachtopfer war überall der Mensch — und wenn er
auch später sich >auszulösen< oder zu >erlösen< ver¬
suchte, so ist er’s doch immer, so lange die Religion und
Politik bestanden, im figürlichen Sinne geblieben, und
so ist’s noch jetzt. — Religion und Politik sind als
Gegengewicht gegen den rohen Materialismus der In¬
dividuen, die sich, bevor sie zum Selbstbewußtsein
gelangt sind, einander bekämpften, ins Leben getreten
und haben Repräsentanten allgemeiner Interessen ge¬
schaffen, die als unwirkliche Wahrheit der unwahren
Wirklichkeit feindlich entgegengetreten sind. Im Got¬
tesdienst'. warfen sich die Priester, im >Staatsdienst< die
Könige, Aristokraten und sonstige Ehrgeizige und
Egoisten, Narren und Betrüger als die Repräsentanten
>allgemeiner< Interessen auf, lebten vom Schweiße und
Blute ihrer Untergebenen und schrien die Aufopferung
als höchste Tugend aus. Es ist nicht nötig, stets zu
wiederholen, daß die saubere Geschichte aller Religionen
und Staaten eine notwendige war. Solange die Völker
und Individuen nicht zur Sittlichkeit oder Selbst¬
erkenntnis gelangt waren, mußten sie sich’s allerdings
gefallen lassen, von ihresgleichen wie das liebe Vieh
behandelt zu werden; solange sie sich selbst nicht zu
beherrschen verstanden, wurden sie von äußeren

54
Mächten beherrscht. Das ist klar. Aber klar istauch, daß,
wenn Religion und Politik das Produkt eines viehischen
Zustandes, sie selbst oder ihre Repräsentanten eben nur
die andere Seite jenes Materialismus sind, in welchem
die Völker und Individuen befangen. — Die Priester
und Herrscher können nicht dadurch entschuldigt
werden, daß die Völker sie notwendig machten, ebenso¬
wenig wie die Individuen und Völker ihre Sklaverei
etwa durch ihre Priester und Herrscher entschuldigen
können. Sklaverei und Tyrannei, abstrakter Materialis¬
mus und Spiritualismus, bedingen sich gegenseitig ■—
und beklagenswert sind nur die, welche nicht einsehen,
daß aus diesem geschlossenen Kreise der Knechtschaft
nur durch radikalen Bruch mit der Vergangenheit her¬
auszukommen ist. Diesen Bruch haben die Franzosen
und Deutschen zustande gebracht, die erstem, indem
sie die Anarchie in der Politik, die andern, indem sie
dieselbe Anarchie in der Religion hervorriefen ...«
[.Philosophie der Tat, »Einundzwanzig Bogen aus der
Schweiz«, Hg. G. Herwegh, Zürich-Winterthur 1843,
S. 316f.]

Die Verwirklichung des Christentums in der kommuni¬


stischen Gesellschaft der Menschheit:

»51. Welche Religion sollen wir alle bekennen? -—- Die


Religion der Liebe und Menschlichkeit. 52. Wo ist das
Zeugnis dieser Religion? In der Brust aller guten
Menschen. 53. Ist diese allgemeine Menschenreligion
eine unchristliche? — Nein, sie ist vielmehr die Erfül¬
lung der christlichen Religion. 54. Was ist das Ziel des
Christentums? — Die Glückseligkeit aller Menschen
durch Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit. 55. Warum
hat das Christentum sein Ziel noch nicht erreicht? —
Weil es bis jetzt sein Ziel noch nicht klar erkannte,

55
sondern sich das, was es wünschte, glaubte und hoffte,
bildlich vorstellte.
56. Was ist der Glaube des Christentums? — Der
Glaube an das bittere Leiden der menschlichen Gat¬
tung ... 58. Ist der Glaube der Christen Wahrheit? —
Er ist Wahrheit, solange die menschliche Gattung
wirklich leidet und sofern man das Wesentliche der
christlichen Vorstellung faßt. 59. Darf der Christ
hoffen, daß die Leiden der Menschheit einmal aufhören
werden? Ja, diese Hoffnung ist sogar ein Teil seiner
Religion. 60. Unter welchem Bilde stellt er sich die
bessere Zukunft der Menschengattung vor? Unter dem
Bilde der himmlischen Freuden in der Gottseligkeit.
Wir werden aber diesen Himmel auf Erden haben, wenn
wir nicht mehr in der Selbstsucht, im Hasse, sondern in
der Liebe, in der einigen Menschengattung, in der kom¬
munistischen Gesellschaft leben.
61. Sind war böse von Geburt an? — Nein, wir
werden böse durch die schlechte Gesellschaft, in welcher
wir leben. 62. Ist die christliche Gesellschaft eine
schlechte? Ja, diese Welt ist, wie das Christentum selbst
verkündet, schlecht und verwerflich. 63. Wie heißt
das schlechte Wesen der Welt, wogegen das Christentum
stets eiferte? Es heißt Geld. 64. Ist der Fürst dieser Welt,
der Böse oder der Teufel, vor dessen Verführung das
Christentum warnt, wesentlich etwas Anderes als dieser
verfluchte Mammon, den wir unsern Schatz nennen? —
Nein, nichts Anderes ... 65. Ist die Hölle etwas Anderes
als die Erde unter der verfluchten Geldherrschaft? Nein,
sondern diese Erde ist die wahre, wirkliche Hölle.
67. Ist Gott im Himmel etwas Anderes als die Liebe?
Nein, nichts Anderes ... 71. Ist unser Gott, in welchem
wir leben und weben und sein möchten, etwas Anderes
als die menschliche Gattung — oder die in Liebe ver¬
einigte Menschheit? Nein, nichts Anderes. 72. Warum

56
glaubten wir bisher, daß der Teufel in uns, in der Welt,
und daß unser Gott nicht in uns, nicht in der Welt,
sondern irn Himmel sei? — Weil wir selbst nicht in der
Liebe, sondern in der Trennung und Feindschaft
lebten. Die Liebe hatte uns verlassen, und wir waren in
der Auflösung begriffen, darum glaubten wir, unser
Gott sei außer uns und jenseits dieser schlechten Welt,
der Teufel aber sei in uns, in dieser Welt, das Welt¬
wesen selbst. Unser Glaube war ... kehl Irrtum; er war
im wesentlichen Wahrheit. — So wie wir uns aber ver¬
einigen und im Kommunismus leben werden, ist die Hölle
nicht mehr auf Erden und der Himmel nicht mehr jen¬
seits der Erde, und alles, was uns im Christentum
prophetisch und phantastisch in Aussicht gestellt wor¬
den, geht in der wahrhaft menschlichen Gesellschaft
nach den ewigen Gesetzen der Liebe und Vernunft voll¬
ständig in Erfüllung.« [Kommunistisches Bekenntnis in
Fragen und Antworten, 6. »Von der Religion«, »Rhei¬
nische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform«,
Belle-Vue bei Constanz 1846, S. 166 ff.]

Die marxistische Religionskritik

KARL MARX

Kritische Anknüpfung an Feuerbach:

»Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: der Mensch


macht die Religion, die Religion nicht den Menschen.
Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das
Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder
noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.

57
Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der
Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt
des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese
Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Welt¬
bewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Reli¬
gion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklo¬
pädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form,
ihr spiritualistischer Point d’honneur, ihr Enthusias¬
mus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergän¬
zung, ihr allgemeiner Trost und Rechtfertigungsgrund.
Sie ist die phantastische Verwirklichung des mensch¬
lichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine
wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die
Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt,
deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des
wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen
das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der
bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt,
wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das
Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen
Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen
Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen
Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand
aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der
Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals,
dessen Heiligenschein die Religion ist.
Die Kritik hat die imaginären Rlumen an der Kette
zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose,
trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe
und die lebendige Rlume breche. Die Kritik der
Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke,
handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter,
zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich

58
selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die
Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den
Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst
bewegt.
Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das
Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit
des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe
der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht,
nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstent¬
fremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihrer
unheiligen Gestalt zu entlarven. Die Kritik des Him¬
mels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die
Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der
Theologie in die Kritik der Politik.« [Kritik der Hegel-
schen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1844, MEGA,
Erste Abteilung, Bd. I, erster Halbband, S. 607 ff.;
Marx/Engels Die heilige Familie und andere philoso¬
phische Frühschriften, Ostberlin 1953, S. 11 ff.]
»Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen
Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine
religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht
darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage auf¬
zulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich
selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den
Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit
und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grund¬
lage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst so¬
wohl in ihrem Widerspruch verstanden als auch prak¬
tisch revolutioniert werden. Also nachdem z. B. die
irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie
entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und
praktisch vernichtet werden . . .« [Thesen über Feuer-
bach, 4. These, geschr. Brüssel 1845, MEGA, Erste Ab¬
teilung, Bd. II; Marx / Engels Werke, Ostberlin 1958,
Bd. III, S. 6]

59
»Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche
Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem
einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In
seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaft¬
lichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen
Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und
das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein ab¬
strakt-isoliert-menschliches Individuum vorauszusetzen.
2. Das Wesen kann daher nur als >Gattung<, als innere,
stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbin¬
dende Allgemeinheit gefaßt werden.« [a.a.O., 6. These]
»Feuerbach sieht daher nicht, daß das >religiöse
Gemüt< selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß
das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer be¬
stimmten Gesellschaftsform angehört.« [a.a.O., 7. These]

Das Christentum — insbesondere das protestantische:

»... Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren


allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin
besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als
Werten zu verhalten, und in dieser sachlichen Form ihre
Privatarbeiten aufeinander zu beziehen als gleiche
menschliche Arbeit, ist das Christentum mit seinem Kul¬
tus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner
bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deis¬
mus usw., die entsprechende Religionsform ...« [Das
Kapital, Berlin 1957, Bd. I, S. 84ff.]

Die Überwindung der Religion:

»Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann


überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse

60
des praktischen Werktagslebens den Menschen tag¬
täglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zuein¬
ander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesell¬
schaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Pro¬
duktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebel¬
schleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter
Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle
steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der
Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller
Existenzbedingungen, welche selbst wieder das natur¬
wüchsige Produkt einer langen und qualvollen Ent¬
wicklungsgeschichte sind.« [a.a.O., S. 85]
»Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den
irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden
[was Feuerbach getan hat], als umgekehrt aus den
jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre ver¬
himmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die
einzig materialistische und daher wissenschaftliche
Methode. Die Mängel des abstrakt naturwissenschaft¬
lichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß
ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und
ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald
sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.« [a.a.O.,
S. 589, Anmerkung 89]

Die sozialen Prinzipien des Christentums:

»Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt


achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln
und bedürfen keiner ferneren Entwicklung durch
preußische Konsistorialräte.
Die sozialen Prinzipien des Christentums haben
die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche
Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich eben¬
falls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Prole-

61
tariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu
verteidigen.
Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen
die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unter¬
drückten Klasse und haben für die letztere nur den
frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein.
Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die
konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den
Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser
Infamien auf der Erde.
Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären
alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die
Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erb¬
sünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die
der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen
Weisheit verhängt.
Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen
die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die
Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der
Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille
behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl,
seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel
nötiger als sein Brot.
Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duck-
mäuserig, und das Proletariat ist revolutionär.« [Der
Kommunismus des >Rheinischen Beobachtern, Deutsche
Brüsseler Zeitung vom 12.9. 1847; Marx/Engels Werke,
Bd. IV, S. 200]

62
FRIEDRICH ENGELS

Das Wesen der Religion und ihre Entwicklung:

»Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische


Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, der¬
jenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein be¬
herrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen
Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den
Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der
Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der
weitern Entwicklung bei den verschiednen Völkern die
mannigfachsten und buntesten Personifikationen durch¬
machen. Dieser erste Prozeß ist wenigstens für die indo¬
europäischen Völker durch die vergleichende Mytho¬
logie bis auf seinen Ursprung in den indischen Vedas
zurückverfolgt und in seinem Fortgang bei Indern,
Persern, Griechen, Römern, Germanen und, soweit das
Material reicht, auch bei Kelten, Litauern und Slawen
im einzelnen nachgewiesen worden. Aber bald treten
neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte
in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso
fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüber¬
stehen, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendig¬
keit beherrschen... Die Phantasiegestalten, in denen sich
anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur
widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attri¬
bute, werden Repräsentanten gesellschaftlicher Mächte.
Auf einer noch weitern Entwicklungsstufe werden
sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute
der vielen Götter auf einen allmächtigen Gott über¬
tragen, der selbst wieder nur der Reßex des abstrakten
Menschen ist. So entstand der Monotheismus, der ge¬
schichtlich das letzte Produkt der spätem griechischen
Vulgärphilosophie war und im jüdischen ausschließlichen

63
Nationalgott Jahve seine Verkörperung fand. In dieser
allem anpaßbaren Gestalt kann die Religion fort-
bestehen als unmittelbare, d. h. gefühlsmäßige Form
des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden
fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten,
solange die Menschen unter der Herrschaft solcher
Mächte stehn. Wir haben aber mehrfach gesehen, daß
in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Menschen
von den von ihnen selbst produzierten Produktions¬
mitteln wie von einer fremden Macht beherrscht
werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen
Reflexaktion dauert also fort, und mit ihr der religiöse
Reflex selbst ... Es heißt noch immer: der Mensch denkt
und Gott (d. h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen
Produktionsweise) lenkt. Die bloße Erkenntnis, und ginge
sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie,
genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Elerr-
schaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor
allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat
vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Resitzergreifung
und planvolle Handhabung der gesamten Produktions¬
mittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der
Knechtschaft befreit hat ... wenn der Mensch also nicht
mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst ver¬
schwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in
der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet
auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem ein¬
fachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzu¬
spiegeln gibt.« [Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft (1878), Ostberlin 1948, S. 393ff.]

Zur Entstehung und Entwicklung des Christentums:

»Mit einer Religion, die das römische Weltreich sich


unterworfen und den weitaus größten Teil der zivili-

64
sierten Menschheit 1800 Jahre beherrscht hat, wird
man nicht fertig, indem man sie einfach für von Be¬
trügern zusammengestoppelten Unsinn erklärt. Man
wird erst fertig mit ihr, sobald man ihren Ursprung
und ihre Entwicklung aus den historischen Bedingungen
zu erklären versteht, unter denen sie entstanden und
zum Herrschen gekommen ist. Und namentlich beim
Christentum. Es gilt eben die Frage zu lösen, wie es
kam, daß die Volksmassen des römischen Reiches diesen
noch dazu von Sklaven und Unterdrückten gepredigten
Unsinn allen anderen Religionen vorzogen, so daß end¬
lich der ehrgeizige Konstantin in der Annahme dieser
Unsinnsreligion das beste Mittel sah, sich zum Allein¬
herrscher der römischen Welt emporzuschwingen. Zur
Beantwortung dieser Frage hat Bruno Bauer bei weitem
mehr beigetragen als irgendein anderer ...«
Es folgen Hinweise auf >den Juden Philo<, Seneka
usw. und die These, das Christentum sei aus einer Ver¬
bindung von vorderasiatischer >Vulgärreligion< und
monotheistischer (stoischer) >Vulgärphilosophie< hervor¬
gegangen. Danach wendet sich Engels den politisch¬
sozialen Verhältnissen zu:

»Mit den politischen und sozialen Besonderheiten der


Völker hatte das römische Reich auch ihre besondere
Religion dem Untergang geweiht. Alle Religionen des
Altertums waren naturwüchsige Stammes- und später
Nationalreligionen,hervorgesprossen aus und verwachsen
mit den gesellschaftlichen und politischen Zuständen des
jedsmaligen Volkes. Einmal diese ihre Grundlagen zer¬
stört, die überlieferten Gesellschaftsformen, die herge¬
brachte politische Einrichtung und die nationale Unab¬
hängigkeit gebrochen, brach die dazugehörige Religion
selbstredend zusammen. Die Nationalgötter konnten
andere Nationalgötter neben sich dulden, und das war die
allgemeine Regel im Altertum: aber nicht über sich. Die

65
Verpflanzung orientalischer Götterkulte nach Rom scha¬
dete nur der römischen Religion, konnte aber den Verfall
der orientalischen Religionen nicht hemmen. Sobald die
Nationalgötter die Unabhängigkeit und Selbständigkeit
ihrer Nation nicht mehr schirmen können, brechen sie
sich selbst den Hals. So geschah es überall (abgesehen
von den Bauern, besonders im Gebirg). Was in Rom
und Griechenland die vulgärphilosophische Aufklärung,
ich hätte beinahe gesagt der Voltairianismus, das tat in
den Provinzen die römische Unterjochung und die
Ersetzung freiheitsstolzer Männer durch verzweifelte
Untertanen und selbstsüchtige Lumpe.
Das war die materielle und moralische Lage. Die
Gegenwart unerträglich, die Zukunft womöglich noch
drohender. Kein Ausweg. Verzweiflung oder Rettung in
dem allerordinärsten Genuß — bei denen wenigstens,
die sich das erlauben konnten, und das war eine kleine
Minderzahl. Sonst blieb nur noch die schlaffe Ergebung
in das Unvermeidliche.
Aber in allen Klassen mußte es eine Anzahl Leute
geben, die, an der materiellen Erlösung verzweifelnd,
eine geistige Erlösung als Ersatz suchten — einen Trost
im Bewußtsein, der sie vor der gänzlichen Verzweiflung
bewahrte. Diesen Trost konnte die Stoa nicht bieten,
ebensowenig wie die Schule Epikurs, eben weil sie
Philosophien, also nicht für das gemeine Bewußtsein
berechnet sind, und dann zweitens, weil der Lebens¬
wandel ihrer Jünger die Lehren der Schule in Mißkredit
brachte. Der Trost sollte nicht die verlorene Philosophie,
sondern die verlorene Religion ersetzen, er mußte eben
in religiöser Form auftreten, wie damals und noch bis
ins 17. Jahrhundert, alles, was die Massen packen sollte.
Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß von den
nach einem solchen Bewußtseinstrost, nach dieser
Flucht aus der äußern Welt in die innere, sich sehnen-

66
den Leuten die Mehrzahl sich finden mußte — unter
den Sklaven.
In diese allgemeine ökonomische, politische, intellek¬
tuelle und moralische Auflösung trat nun das Christen¬
tum. Zu allen bisherigen Religionen trat es in ent¬
schiedenen Gegensatz.«
Bei den bisherigen Religionen seien die Zeremonien
die Hauptsache gewesen und diese hätten im intoleranten
Orient zu deren Verfall wesentlich beigetraven.

»Indem es an alle Völker ohne Unterschied sich wendet,


ward es selbst die erste mögliche Weltreligion ...
Zweitens schlug das Christentum eine Saite an, die in
zahllosen Herzen widerklingen mußte. Auf alle Klagen
über die Schlechtigkeit der Zeiten und das allgemeine
materielle und moralische Elend antwortete das christ¬
liche Sündenbewußtsein: So ist es, und so kann es nicht
anders sein, an der Verderbtheit der Welt bist du
schuld, ihr alle, deine und euere eigene innere Ver¬
derbtheit! Und wo war der Mann, der nein sagen
konnte? Mea culpa! Die Erkenntnis des eigenen Schuld¬
anteils jedes einzelnen am allgemeinen Unglück war
unabweisbar und wurde nun auch Vorbedingung der
geistigen Erlösung, die das Christentum gleichzeitig
verkündete ...« [Bruno Bauer und das Urchristentum,
»Der Sozialdemokrat« vom 4. und 11.5. 1882; zit. nach
Marx/Engels Über die Religion, Ostberlin 1958, S. 155ff.]

Wandlungen des Christentums in der Sicht des histori¬


schen Materialismus:

»Die Religion ist entstanden zu einer sehr waldursprüng¬


lichen Zeit aus mißverständlichen, waldursprünglichen
Vorstellungen der Menschen über ihre eigne und die sie
umgebende äußere Natur. Jede Ideologie entwickelt
sich aber, sobald sie einmal vorhanden, im Anschluß an

67
den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus;
sie wäre sonst keine Ideologie, d. h. Beschäftigung mit
Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig ent¬
wickelnden, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen
Wesenheiten. Daß die materiellen Lebensbedingungen
der Menschen, in deren Köpfen dieser Gedankenprozeß
vor sich geht, den Verlauf dieses Prozesses schließlich
bestimmen, bleibt diesen Menschen notwendig unbe¬
wußt, denn sonst wäre es mit der ganzen Ideologie am
Ende. Diese ursprünglichen religiösen Vorstellungen
also, die meist für jede verwandte Völkergruppe gemein¬
sam sind, entwickeln sich, nach der Trennung der
Gruppe, bei jedem Volk eigentümlich, je nach den ihm
beschiednen Lebensbedingungen, und dieser Prozeß
ist für eine Reihe von Völker gruppen, namentlich für
die arische (sogenannte indoeuropäische) im einzelnen
nachgewiesen durch die vergleichende Mythologie. Die
so bei jedem Volle herausgearbeiteten Götter waren
Nationalgötter, deren Reich nicht weiter ging als das
von ihnen zu schützende nationale Gebiet, jenseits des¬
sen Grenzen andre Götter unbestritten das große Wort
führten. Sie konnten nur in der Vorstellung fortleben,
solange die Nation bestand; sie fielen mit deren Unter¬
gang. Diesen Untergang der alten Nationalitäten
brachte das römische Weltreich, dessen ökonomische
Entstehungsbedingungen wir hier nicht zu unter¬
suchen haben. Die alten Nationalgötter kamen in Ver¬
fall, selbst die römischen, die eben auch nur auf den
engen Kreis der Stadt Rom zugeschnitten waren; das
Bedürfnis, das Weltreich zu ergänzen durch eine Welt¬
religion, tritt klar hervor in den Versuchen, allen
irgendwie respektablen fremden Göttern neben den
einheimischen in Rom Anerkennung und Altäre zu
schaffen. Aber eine neue Weltreligion macht sich nicht
in dieser Art durch kaiserliche Dekrete. Die neue Welt-

68
religion, das Christentum, war im stillen bereits ent¬
standen aus einer Mischung verallgemeinerter orientali¬
scher, namentlich jüdischer Theologie und vulgarisier¬
ter griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Wie
es ursprünglich aussah, müssen wir erst wieder mühsam
erforschen, da seine uns überlieferte offizielle Gestalt
nur diejenige ist, in der es Staatsreligion wurde. Genug,
die Tatsache, daß es schon nach 250 Jahren Staats¬
religion wurde, beweist, daß es die den Zeitumständen
entsprechende Religion war. Im Mittelalter bildete es sich
genau im Maß, wie der Feudalismus sich entwickelte,
zu der diesem entsprechenden Religion aus, mit ent¬
sprechender feudaler Hierarchie.
Und als das Riirgertum aufkam, entwickelte sich im
Gegensatz zum feudalen Katholizismus die protestan¬
tische Ketzerei zuerst in Südfrankreich bei den Albigen-
sern zur Zeit der höchsten Blüte der dortigen Städte ...
Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei
entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden
Bürgertums; als dies Bürgertum hinreichend erstarkt
war, begann sein bisher vorwiegend lokaler Kampf mit
dem Feudaladel nationale Dimensionen anzunehmen.
Die erste große Aktion fand in Deutschland statt —
die sogenannte Reformation. Das Bürgertum war weder
stark noch entwickelt genug, um die übrigen rebelli¬
schen Stände — die Plebejer der Städte, den niederen
Adel und die Bauern auf dem Lande — unter seiner
Fahne vereinigen zu können. Der Adel wurde zuerst
geschlagen; die Bauern erhoben sich zu einem Aufstand,
der den Gipfelpunkt dieser ganzen revolutionären
Bewegung bildet; die Städte ließen sie im Stich, und so
erlag die Revolution den Heeren der Landesfürsten, die
den ganzen Gewinn einstrichen. Von da an verschwand
Deutschland auf drei Jahrhunderte aus der Reihe der
selbständig in die Geschichte eingreifenden Länder.

69
Aber neben dem deutschen Luther hatte der Franzose
Calvin gestanden; mit echt französischer Schärfe stellte
er den bürgerlichen Charakter der Reformation in den
Vordergrund, republikanisierte und demokratisierte die
Kirche. Während die lutherische Reformation in
Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde
richtete, diente die calvinistische den Republikanern in
Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Hol¬
land von Spanien und vom Deutschen Reiche frei und
lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der
bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging.
Hier bewährte sich der Calvinismus als die echte reli¬
giöse Verkleidung der Interessen des damaligen Bürger¬
tums und kam deshalb auch nicht zu voller Anerken¬
nung, als die Revolution 1689 durch einen Kompromiß
eines Teils des Adels mit den ßürgem vollendet wurde.
Die englische Staatskirche wurde wiederhergestellt,
aber nicht in ihrer früheren Gestalt, als Katholizismus
mit dem König zum Papst, sondern stark calvinisiert.
Die alte Staatskirche hatte den lustigen katholischen
Sonntag gefeiert und den langweiligen calvinistischen
bekämpft, die neue verbürgerte führte diesen ein, und
er verschönt England noch jetzt.«
»In Frankreich wurde die calvinistische Minorität
1685 unterdrückt, katholisiert oder weggejagt; aber
was half’s? Schon damals war der Freigeist Pierre Bayle
mitten in der Arbeit, und 1694 wurde Voltaire ge¬
boren. Die Gewaltmaßregel Ludwigs XIV. erleichterte
nur dem französischen Bürgertum, daß es seine Revolu¬
tion in der der entwickelten Bourgeoisie allein ange¬
messenen irreligiösen, ausschließlich politischen Form
machen konnte. Statt Protestanten saßen Freigeister in
den Nationalversammlungen. Dadurch war das Chri¬
stentum in sein letztes Stadium getreten. Es ist unfähig
geworden, irgendeiner progressiven Klasse fernerhin als

70
ideologische Verkleidung für ihre Strebungen zu dienen;
es wurde mehr und mehr Alleinbesitz der herrschenden
Klassen, und diese wenden es an als bloßes Regierungs¬
mittel, womit die untern Klassen in Schranken gehalten
werden. Wobei dann jede der verschiedenen Klassen
ihre eigne entsprechende Religion benutzt: die grund¬
besitzenden Junker die katholische oder protestantische
Orthodoxie, die liberalen und radikalen Bourgeois den
Rationalismus; und wobei es keinen Unterschied macht,
ob die Herren an ihre respektiven Religionen selbst
glauben oder auch nicht.
Wir sehen also: die Religion, einmal gebildet, enthält
stets einen überlieferten Stoff, wie denn auf allen
ideologischen Gebieten die Tradition eine große konser¬
vative Macht ist. Aber die Veränderungen, die mit
diesem Stoff vorgehn, entspringen aus den Klassen¬
verhältnissen, also aus den ökonomischen Verhältnissen
der Menschen, die diese Veränderungen vornehmen.
Und das ist hier hinreichend.« [Ludwig Feuerbach
und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie
(1886); zit. nach Marx/Engels Ausgewählte Schriften
in 2 Bänden, Berlin 1953, Bd. II, S. 371 ff.]

Vergleich zwischen Urchristentum und sozialistischer


Arbeiterbewegung:

»Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige


Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewe¬
gung. Wie diese war das Christentum im Ursprung eine
Bewegung Unterdrückter: Es trat zuerst auf als Religion
der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Recht¬
losen, der von Rom unterjochten oder zersprengten
Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus,
predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft
und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein

71
jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der
Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der
Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre
Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die
einen als Feinde des Menschengeschlechts, die andern
als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der
gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgun¬
gen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide
siegreich, unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach
seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte
Staatsreligion des römischen Weltreichs, und in kaum
sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung
erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt.« \Zur
Urgeschichte des Christentums, »Die Neue Zeit«, 1894/95,
XIII. Jg., Heft 1 und 2; zit. nach Marx/Engels Über
Religion, Ostberlin 1958, S. 255]
»Ich möchte den alten >Internationalen< sehen, der
z. B. den sogenannten zweiten Brief Pauli an die
Korinther lesen kann, ohne daß wenigstens in einer
Beziehung alte Wunden bei ihm aufbrechen. Der ganze
Brief vom 8. Kapitel an hallt den ewigen, ach so wohl-
bekannten Klageton wider: les cotisations ne rentrent
pas -— die Beiträge wollen nicht einkommen! Wie
viele der eifrigsten Propagandisten der sechziger Jahre
würden dem Verfasser dieses Briefs, wer er auch sei,
verständnisinnig die Hand drücken und flüstern: also
auch dir ging’s so! Auch wir können ein Liedchen davon
singen — auch in unserer Assoziation wimmelte es von
Korinthern —, diese nicht einkommenden Beiträge, die
unfaßbar vor unsren Tantalusblicken umherflattern,
das waren ja gerade die berühmten >Millionen der
Internationaled« [a.a. O., S. 257]
Weiter berichtet Engels, daß es auch in der frühen
Arbeiterbewegung eine große Anzahl falscher Propheten
und Schwindler gegeben habe, die sich — ähnlich jenem

72
Peregrinus (oder Proteus), von dem Lucian von Samosata
berichtete — in die Bewegung einschlichen, um ihren
persönlichen Vorteil von der Verehrung der hoffnungs¬
vollen Massen zu ziehen. Schließlich wird das Christen¬
tum der >Offenbarung Johannes< als ältester Bestandteil
des Neuen Testaments und Dokument für das frühe
Christentum analysiert und wiederum mit dem Sozialis¬
mus der Ersten Internationale verglichen:
»In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermäch¬
tige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer
untereinander ist beiden gemeinsam, den Urchristen
wie den Sozialisten. Beide großen Bewegungen sind
nicht von Führern und Propheten gemacht — obwohl
Propheten genug bei beiden Vorkommen ——, sie sind
Massenbewegungen. Und Massenbewegungen sind im
Anfang notwendig konfus; konfus, weil alles Massen¬
denken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten,
Zusammenhangslosigkeiten bewegt, konfus aber auch
eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch
darin spielen. Diese Konfusion zeigt sich in der Bildung
zahlreicher Sekten, die sich untereinander mit minde¬
stens eben derselben Heftigkeit bekämpfen, wie den
gemeinsamen Feind draußen. So war’s im Urchristen¬
tum, so war’s in den ersten Zeiten der sozialistischen
Bewegung, sosehr das auch die wohlmeinenden Bieder¬
männer betrübte, die Einigkeit predigten, wo keine
Einigkeit möglich war.« [a.a.O., S. 266]
Im letzten Teil seines Aufsatzes geht Engels auf die
>Klassenbasis< des frühen Christentums ein und versucht
nachzuweisen, daß die spätantike Gesellschaft eine reale
Emanzipation dieser Schichten (heruntergekommene
Freie — ähnlich den mean whites in den amerikanischen
Südstaaten, Sklaven, in Schuldknechtschaft verfallene
Kleinbauern usw.) nicht zuließ:
»Wie die Dinge lagen, konnte er nur ein religiöser Aus¬
weg sein. Und da erschloß sich eine andre Welt. Die

75
Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Leibes war
allmählich überall in der römischen Welt anerkannter
Glaubensartikel geworden ... Da kam das Christentum,
machte Emst mit der Belohnung und Bestrafung im
Jenseits, schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war
gefunden, der die Mühseligen und Beladnen aus
diesem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige
Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf eine
jenseitige Belohnung war es möglich, die stoisch-
philonische Weltentsagung und Askese zum ethischen
Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volks -
massen hinreißenden Weltreligion zu erheben.« [a.a.O.,
S. 270]
Endlich betont Engels auch die Intensität der eschato-
logischen Erwartungen der frühen Christen und erinnert
sich, in seiner Jugend alte Leute gekannt zu haben, die
als Anhänger des schwäbischen Theologen Johann
Albrecht Bengel den Weltuntergang für 1836 er¬
warteten :

»Der Glaube dieser kampfesfreudigen ersten Gemeinden


ist ganz andrer Art als der der später siegreichen Kirche:
neben dem Sühneopfer des Lammes sind die nahe
Wiederkunft Christi und das in Kürze anbrechende
Tausendjährige Reich sein wesentlichster Inhalt, und
das, worin er sich allein bewährt, ist tätige Propaganda,
unablässiger Kampf gegen den äußern und innern
Feind, stolzfreudiges Bekennen des revolutionären
Standpunkts vor den heidnischen Richtern, sieges¬
gewisser Märtyrertod.« [a.a.O., S. 277]

74
JOSEPH DIETZGEN

Die Ablösung der Religion durch sozialdemokratische


W eltanschauung:

»Die Tendenzen der Sozialdemokratie enthalten den


Stoff zu einer neuen Religion, welche nicht, wie alle bis¬
herigen, nur mit dem Gemüte oder Herzen, sondern zu¬
gleich auch mit dem Kopf, dem Organ der Wissenschaft,
erfaßt sein will. Von anderen profanen Gegenständen
der Kopfarbeit aber unterscheidet sich die Sozial¬
demokratie dadurch, daß sie in religiöser Form als eine
Angelegenheit des menschlichen Herzens sich offenbart.
Die Religion, ganz im allgemeinen, hat den Zweck, das
bedrängte Menschenherz vom Jammer dieses irdischen
Daseins zu erlösen. Sie hat das bisher nur in idealer,
träumerischer Weise vermocht, durch Anweisung an
einen unsichtbaren Gott, und an ein Reich, das nur von
Toten bewohnt ist. Das Evangelium der Gegenwart
verspricht, unser Jammertal endlich in realer, wirk¬
licher, greifbarer Weise zu erlösen. >Gott<, das ist das
Gute, Schöne, Heilige, soll Mensch werden, aus dem
Himmel auf die Erde kommen, aber nicht wie einst auf
religiöse, wunderbare Art, sondern auf natürlichem,
irdischem Wege. Wir verlangen den Heiland, wir ver¬
langen, daß unser Evangelium, das Wort Gottes, Fleisch
werde. Doch nicht in einem Individuum, nicht in einer
bestimmten Person soll es sich verkörpern, sondern wir
alle wollen, das Volk will — Sohn Gottes sein.« [Die
Religion der Sozialdemokratie, »Volksstaat« 1870 ff.; zit.
nach J. Dietzgen Gesammelte Schriften in 5 Bänden,
Berlin 1930, Bd. I, S. 95]
»Alle (Religionen) miteinander haben das Streben
gemein, das leidende Menschengeschlecht von seinen
irdischen Drangsalen zu erlösen, es zum Guten,

75
Schönen, Rechten, Göttlichen hinaufzuführen. Ja, die
soziale Demokratie ist insofern die wahre Religion, die
alleinseligmachende Kirche, als sie den gemeinschaft¬
lichen Zweck nicht mehr auf phantastischem Wege,
nicht mit Bitten, Wünschen und Seufzen, sondern auf
realem, tatkräftigem Wege, wirklich und wahr, durch
gesellschaftliche Organisation der Hand- und Kopf¬
arbeit erstrebt.« [a.a.O., S. 98]
»Die Sozialdemokratie lebt im Glauben an den Sieg
der Wahrheit, in der Hoffnung auf Erlösung aus mate¬
rieller und geistiger Knechtschaft, in der Liebe für die
Gleichberechtigung der Menschen.« [a.a.O., S. 105]
»Bewußte, planmäßige Organisation der sozialen
Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren
Zeit.« [a.a.O.]

Die menschliche Gesellschaft — Erbin des Gottesbegriffs:

»Wenn die Religion also in dem Glauben an außer- und


überirdische immaterielle Wesen und Kräfte, in dem
Glauben an höhere Götter und Geister besteht, dann ist
die Sozialdemokratie ohne Religion. An ihre Stelle
setzt sie das Bewußtsein von der Unzulänglichkeit des
Einzelnen, der zu seiner Vollkommenheit der Ergänzung
und somit der Unterordnung unter das Allgemeine be¬
darf. Die kultivierte menschliche Gesellschaft ist das
höchste Einzelwesen, woran wir glauben. Auf ihrer
sozialdemokratischen Gestaltung beruht unsere Hoff¬
nung.« [a.a.O., S. 109f.]
»An Stelle der Religion setzt die Sozialdemokratie
Humanität, welche fortan nicht mehr auf einer morali¬
schen Satzung, sondern auf der Erkenntnis ruhen wird,
daß nur in der sozialen brüderlichen Arbeit, in der
ökonomischen Gemeinschaft der Erlöser lebt, der uns
vom leibhaftigen Bösen befreien kann. Die wahre

76
Erbsünde, an der das Menschengeschlecht bisher leidet,
ist die Selbstsucht ... Die bürgerliche Gesellschaft fußt
auf dem selbstsüchtigen Unterschied von Mein und Dein,
fußt auf dem sozialen Krieg, auf der Konkurrenz, auf
der Überlistung und Ausbeutung des einen durch den
anderen. Und zum Schluß die Moral: sie verlangt, und
ihr ganzes Wesen beruht auf diesem Verlangen, daß wir
die Gegensätze der Liebe und Selbstsucht miteinander
versöhnen, daß sich die Gesellschaft auf dieser Ver¬
söhnung konstituiere, daß der Mensch dem Menschen
die Hand reiche, um mit vereinter Kraft und Arbeit die
Natur zur reichlichen Hergabe unsrer Lebensmittel zu
zwingen. Amen ...« [a. a. O., S. 110]

Gegen den liberalen Indifferentismus in Religionssachen,


Atheismus der >Gebildeten<, Religion fürs einfache Volk:

»Jedoch kann es dem Liberalismus ebensowenig mit dem


Unglauben, wie mit dem Glauben ernst sein. Durch
ihre privilegierte soziale Stellung sind die besitzenden
und Gebildeten< zu jener ekelhaften Lauheit, zum
Indifferentismus verurteilt, der weder kalt noch warm
ist. Mit ihrer religiösen Freimaurerei, mit ihrem Protest
wider den Aberglauben — jeder Glaube ist Aber¬
glaube — darf es nicht Ernst sein, weil die religiöse
Zucht des Volkes eine mächtige Stütze ihrer sozialen
Herrschaft ist. Wenn sie selbst auch den Glauben an
Gott längst abgetan, werden sie doch nicht müde, uns
seine Gebote zu predigen: >Gebet dem Kaiser, was des
Kaisers ist<. >Du sollst der Obrigkeit untertan sein, beten
und arbeiten, und dein Kreuz mit aller Demut und
Ergebung weiter tragen.< Während sie tatsächlich die
Leiter zu Macht und Reichtum furchtlos zu erklettern
suchen, machen sie uns und vielleicht auch noch sich
selbst glauben, daß sie an den Herrn glauben, der die

77
Hohen erniedrigen und die Niedrigen erhöhen will. Die
Charakterlosen der Schaukel-Politik sind als religiöse
Heuchler leicht wieder zu erkennen. Die Herren der
großen Industrie, nebst ihren betreßten und betitelten
Lohndienem, als da sind: Professoren, Kreisrichter,
Advokaten usw. schwärmen, wie für die Freiheit der
Gewerbe und Konkurrenz, so auch für Religionsfreiheit.
Der Mensch darf glauben, was er will. Aber wehe dem,
der ... mit der Freiheit von aller Religion Ernst machen
will! Einer freireligiösen Gemeinde darf man schon
angehören ...; aber gar keiner Religion und einer
Schule ohne Konfession? Nein! Da hört alles auf! Da ist
die Welt mit Brettern zugeschlagen! Wenn das Volk an
nichts mehr glaubt, wer wird daun unser Eigentum
heiligen und unserem Vaterlande das Kanonenfutter
hergeben?« [a.a.O., S. 112f.]

KARL KAUTSKY

Noch einmal: Urchristentum und Sozialismus:

»Es spricht aus dieser Schilderung vor allem der kraft¬


volle Optimismus, der Engels bis an sein Lebensende
beseelte. Aber man hat sie auch anders gedeutet, da sie
sich anschließt an Ausführungen, die dartun, daß
unsere Partei augenblicklich beim gesetzlichen Weg am
besten gedeihe. Es hat Leute gegeben, die daraus her¬
auslesen, daß Engels in seinem politischen Testament
seine ganze Lebensarbeit verleugnet und den revolu¬
tionären Standpunkt ... schließlich als verkehrt hinge¬
stellt habe. Diese Leute schlossen, Engels sei zu der
Erkenntnis gekommen, daß der Marxsche Gedanke, die
Gewalt sei die Geburtshelferin jeder neuen Gesellschaft,
sich nicht länger aufrecht erhalten lasse. Bei dem Ver-

78
gleich zwischen Christentum und Sozialdemokratie
legten die Ausleger dieser Art den Nachdruck nicht auf
die Unwiderstehlichkeit und Raschheit des Vordringens,
sondern darauf, daß Konstantin das Christentum frei¬
willig als Staatsreligion anerkannte, daß diese ohne
jede gewaltsame Erschütterung des Staates in durchaus
friedlicher Weise durch ein Entgegenkommen der
Regierung zum Siege gelangte. So meinten sie, müsse
und werde auch die Sozialdemokratie siegen. Und un¬
mittelbar nach Engels’ Tod schien in der Tat diese
Erwartung schon in Erfüllung zu gehen, indem Herr
Waldeck-Rousseau in Frankreich als neuer Konstantin
auftrat und einen Bischof der neuen Christen, Herrn
Millerand, zu seinem Minister machte.« [Karl Kautsky
Der Ursprung des Christentums, 1908; zit. nach der
7. Aufl., Stuttgart 1919, S. 494ff.]
Diese Interpretation lehnt Kautsky energisch ab und
betont:
»Wir haben gesehen, daß das Christentum erst zum
Siege gelangte, als es sich in das gerade Gegenteil seines
ursprünglichen Wesens verwandelt hatte; daß im
Christentum nicht das Proletariat zum Siege gelangte,
sondern der es ausbeutende und beherrschende Klerus;
daß das Christentum nicht siegte, nicht als umstürz-
lerische, sondern als konservative Macht, als neue Stütze
der Unterdrückung und Ausbeutung; daß es die kaiser¬
liche Macht, die Sklaverei, die Besitzlosigkeit der
Massen und die Konzentration des Reichtums in wenigen
Händen nicht nur nicht beseitigte, sondern befestigte.
Die Organisation des Christentums, die Kirche, siegte
dadurch, daß sie ihre ursprünglichen Ziele preisgab und
deren Gegenteil verfocht.« [a. a. O., S. 496]

79
PAUL LAFARGUE

Die Religiosität des modernen Bourgeois undihre Ursachen

»Da die Aufhäufung von Reichtiimern des Bourgeois


hauptsächliche und ihn ganz in Anspruch nehmende
Leidenschaft ist, so mußte die Identifizierung von
Besitztümern der verschiedenartigsten Natur und
Nationalität (im modernen Aktienbesitz) zu einem ein¬
zigen kosmopolitischen Besitztum sich in seinem Geiste
widerspiegeln und seine Gottesauffassung beeinflussen.
Unversehens bringt es das unpersönliche Eigentum
dahin, daß aus den Göttern der Erde ein einziger kosmo¬
politischer Gott wird, der allerdings in verschiedenen
Ländern verschiedene Namen trägt: Jesus, Allah,
Buddha, und der nach verschiedenem Ritus angebetet
wird.
Es ist eine historische Tatsache, daß die Idee eines
einzigen, universellen Gottes ... erst durch die kapitali¬
stische Zivilisation zu einer landläufigen Idee geworden
ist . . .« [Die Ursachen des Gottesglaubens, »Die Neue
Zeit«, XXIV. Jg., I. BIbb., S. 550]
»Sein (des Aktionärs) Eigentumsfragment ist ver¬
loren, untergegangen in einem riesigen Ganzen, das er
sich nicht einmal recht vorstellen kann. Denn, ob er
auch Lokomotiven oder Bahnhöfe und unterirdische
Gänge gesehen hat, so konnte er niemals ein Gesamt¬
bild einer Eisenbahn oder eines Bergwerks sehen. Und
die Staatsschuld, die Bank- oder Versicherungsgesell¬
schaft können nicht gut bildlich dargestellt werden. So
kann das unpersönliche Eigentum, dessen Mitbesitzer er
ist, in seiner Einbildungskraft nur eine vage, ungenaue,
unbestimmte Form annehmen; es ist für ihn viel eher
ein Vernunftwesen, das seine Existenz durch Dividen¬
den kundgibt, als eine fühlbare Realität. Doch sorgt

80
dieses unpersönliche Eigentum, das so unbestimmt ist
wie ein metaphysischer Gedanke, für seine sämtlichen
Bedürfnisse wie der himmlische Vater der Christen,
ohne von ihm eine andere Arbeit zu verlangen als das
Einkassieren der Dividenden. Er empfängt sie in einer
seligen Faulheit des Körpers und des Geistes wie eine
Gnade. Er zerquält sein Hirn ebensowenig, um die
Natur des unpersönlichen Eigentums kennenzulernen,
das ihm Renten und Dividenden gibt, als um zu er¬
fahren, ob sein einziger kosmopolitischer Gott Mann,
Weib oder Tier, intelligent oder geistlos ist, ob er Kraft,
Wildheit, Gerechtigkeit oder Güte usw. besitzt, Eigen¬
schaften, mit denen die menschenähnlichen Götter
begabt waren. Er verschwendet seine Zeit nicht damit,
an ihn Gebete zu richten, weil er sicher ist, daß kein
Fehlen den Zins- und Dividendensatz des unpersön¬
lichen Eigentums verändert, von dem sein eigener
kosmopolitischer Gott der geistige Reflex ist.

Indem das unpersönliche Eigentum den menschen¬


ähnlichen Christengott in ein Vernunft-wesen, in einen
metaphysischen Gedanken verwandelte, raubte es gleich¬
zeitig den religiösen Gefühlen der Bourgeoisie die Inten¬
sität, die zu dem Fieber des Fanatismus der Märtyrer,
der Kreuzfahrer, der Inquisitionsrichter geführt hatte.
Jetzt wurde die Religion zu einer Sache des persönlichen
Geschmacks etwa wie die Küche, wo jeder nach seiner
Fasson die Speisen in Butter oder Öl, mit oder ohne
Knoblauch bereiten läßt...« [a.a. O., S. 551]
Wenn so die Bourgeoisie auch Religion und Christen¬
tum akzeptiert, kann sie doch die katholische Kirche mit
ihrer >wohldisziplinierten Hierarchie^ die sich in alles
einmischt, nicht gebrauchen. Wie sie auf dem Gebiet des
Wirtschaftslebens sich von Zunftzwang und Gilden¬
ordnungen emanzipiert hat, so befreite sie sich in der
Reformation von der kirchlichen Bevormundung:

81
»Jeder für sich und Gott, d. h. für ihn das Geld, für alle.
Die Industrie- und Handelsfreiheit mußte sich not¬
wendigerweise in seiner Betrachtungsweise der Reli¬
gion widerspiegeln, die jeder auf seine Art versteht.
Jeder setzt sich mit seinem Gotte auseinander wie in
kaufmännischen Dingen mit seinem Gewissen. Jeder
interpretiert die Lehren der Kirche und die Worte der
Bibel je nach seinen Interessen und seiner Einsicht ...«
[a. a. O., S. 552]

Die Religion als Herrschaftsmittel in der Hand der


Bourgeoisie:

»Der Lohnarbeiter muß mit seinem Geschick zufrieden


sein. Die soziale Funktion des Ausbeuters der Arbeit
fordert, daß der Bourgeois die christliche Religion pro¬
pagiert, indem er Demut und Unterwerfung unter Gott
predigt, der die einen zu Herren macht und die anderen
zu Dienern, und daß er die Lehren des Christentums
durch die ewigen Prinzipien der Demokratie vervoll¬
ständigt. Er hat das größte Interesse daran, daß die
Lohnarbeiter ihre geistige Spannkraft in Disputa¬
tionen über die Wahrheiten der Religion und in Diskus¬
sionen über Gerechtigkeit, Freiheit, Moral, Vaterland
und anderen derartigen Begriffen erschöpfen, damit
ihnen keine Minute zum Nachdenken über ihre mise¬
rable Lage und deren Verbesserung bleibe. Der be¬
rühmte Radikale und Freihändler Jakob Bright schätzte
diese Verdummungsmethode so hoch, daß er seine
Sonntage dazu hergab, seinen Arbeitern die Bibel vor¬
zulesen und zu kommentieren. Selbstverständlich wird
aber das Gewerbe des biblischen Verdummens — von
den englischen Bourgeois beiderlei Geschlechts —
wie jede Amateurarbeit nur unregelmäßig betrieben.
Die industrielle Bourgeoisie muß ... zur Ausführung

82
dieser Aufgabe gewerbsmäßige Verdummer zur Ver¬
fügung haben. Als solche betrachtet sie die Geistlichen
aller Kulte. Wie jedoch die Medaille auch ihre Kehr¬
seite hat, so birgt auch die Lektüre der Bibel durch die
Lohnarbeiter Gefahren in sich. Rocke feiler wußte sie zu
würdigen. Dieser große >Vertruster< hat, um diesem
Übelstand abzuhelfen, einen Trust zur Herausgabe von
Volksbibeln gegründet, die von den Klagen über die
Ungerechtigkeiten der Reichen und den neidischen
Zornesrufen gegen deren empörendes Glück gereinigt
sind ...« [a.a.O., S. 552f.]

Ursachen der Irreligiosität des Proletariats:

»Während die maschinelle Produktionsweise beim


Bourgeois Religiosität hervorruft, wirkt sie beim Pro¬
letarier gerade umgekehrt.
Wie es beim Kapitalisten nur logisch ist, daß er an
eine Vorsehung glaubt, die auf seine Bedürfnisse acht¬
gibt, und an einen Gott, der ihn unter Tausenden und
aber Tausenden auserwählt, um seine Faulheit und
seine soziale Nichtsnutzigkeit mit Reichtümern zu über¬
häufen, so ist es noch logischer, daß der Proletarier
nichts von einer göttlichen Vorsehung weiß, da er nicht
sieht, daß ein himmlischer Vater ihm sein täglich Brot
gibt, und wenn er von morgens bis abends darum bäte,
da er vielmehr weiß, daß er den Lohn, der ihm das
Nötigste zum Leben verschafft, durch seiner Hände
Arbeit verdienen muß, und daß er, wenn er nicht
arbeiten würde, trotz aller Götter im Himmel und aller
Menschenfreunde auf Erden Hungers sterben müßte.
Der Lohnarbeiter fühlt sich als seine eigene Vorsehung:
in seinem Leben gibt es nicht, wie in dem des Bourgeois,
große Glücksfälle, die ihn mit einem Zauberschlag aus
seiner traurigen Lage reißen könnten. Als Lohnarbeiter

83
geboren, wird er als Lohnarbeiter leben und als Lohn¬
arbeiter sterben. Sein Streben kann in der gegebenen
Gesellschaft nicht höher hinaus wollen als zu einer
Lohnerhöhung und einer ununterbrochenen Fortdauer
des Lohnes durch alle Tage des Jahres und durch alle
Jahre seines Lebens. Für den Proletarier existieren nicht
die Zufälle und die unvorhergesehenen Glückschancen
des Bourgeois, die diesen zu seinen mystischen Ideen
geneigt machen; und die Gottesidee kann im mensch¬
lichen Gehirn erst dann aufkommen, wenn ihr Er¬
scheinen durch mystische Vorstellungen, gleichviel
welchen Ursprungs, vorbereitet ist...« [a.a. O., S. 553 f.]
»Das gigantische Werkzeug aus Stahl und Eisen, das
die Fabrik erfüllt, das sie wie einen Automaten in
Bewegung setzt, das ihn bisweilen verschlingt, ver¬
stümmelt, zerschmettert, ruft dennoch in ihm nicht ein
Gefühl abergläubischen Entsetzens hervor wie der Don¬
ner beim Landmann, sondern läßt ihn ungerührt, uner¬
schrocken; denn er weiß, daß die einzelnen Glieder
dieses metallenen Ungeheuers von seinen Kameraden
fabriziert und montiert worden sind und daß er nur
einen Treibriemen umzulegen braucht, um sie zum
Gehen oder Stehen zu bringen. Trotz ihrer Kraft und
ihrer wunderbaren Produktionsfähigkeit hat die Ma¬
schine nichts Geheimnisvolles für ihn. Der Arbeiter in
einem Elektrizitätswerk, der nur eine Kurbel zu drehen
braucht, um auf viele Kilometer Entfernung die be¬
wegende Kraft der Straßenbahnen ... zu entsenden,
kann wie Gott im ersten Buche Mosis sagen: >Es werde
Lichtd und es wird Licht. Niemals ist so phantastische
Zauberei erträumt worden; dennoch ist für ihn diese
Zauberei etwas ganz Einfaches und Natürliches. Man
würde ihn sehr in Erstaunen setzen, wenn man ihm
sagte, daß ein Gott nach Belieben die Maschinen an-
halten und die Lampen löschen könne. Er würde wohl

84
darauf antworten, daß dieser anarchische Gott ganz ein¬
fach nur ein zerbrochener Maschinenteil oder ein
zerrissener Leitungsdraht sein könne, und daß es für
ihn ein leichtes wäre, diesen Störenfried von Gott zu
suchen und zu finden ...« [a.a.O., S. 555]

MAX ADLER

Das Verhältnis von Religion und Ethik:

»Die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen


Gesetzen ist ... zunächst bloß der Ausgangspunkt des
Endzweckes, oder besser gesagt die Form seiner Wirk¬
samkeit, die sich empirisch aber sofort dahin bestimmt,
die größtmögliche Glückseligkeit für jedes Wesen zu
realisieren, die mit dem moralischen Gesetz zusammen¬
stimmen kann. Hier tritt nun die bekannte Antinomie
von Glück und Sittlichkeit hindernd dazwischen, wo¬
nach wir eine wirkliche harmonische Verbindung beider
schon durch den bloßen Naturlauf als ausgeschlossen
betrachten müssen ... Also wird es nötig, noch eine
andere Weltordnung anzunehmen, in welcher die
Realisierung dieses Endzweckes möglich ist, und dies
um so eher, als nichts gegen die Denkmöglichkeit dieser
Ordnung spricht; diese andere Weltordnung, welche
erst Natur und Sittlichkeit in einer vernünftigen Einheit
zu denken möglich macht, ist es, was die Menschen unter
der Idee der Gottheit seit jeher verehren und woran sich
all ihr Glaube an einen Sinn des Daseins und an einen
Fortschritt zum Besseren emporrankt. Sie ist aber
nichts anderes als die Idee der intelligiblen Welt, für
welche wir auch den weniger mißverständlichen Aus¬
druck der Idee der Gesetzlichkeit des Geisteslebens ein-
setzen können. Und so erweist es sich, daß der Fortschritt

85
nicht ein Begriff der Naturgesetzlichkeit, sondern
lediglich der Geistesgesetzlichkeit ist, daß er also nicht
erklärt und bewiesen, wohl aber geglaubt und ge¬
schaffen werden kann.« [Das Soziologische in Kants
Erkenntniskritik, Wien 1924, S. 408ff.]
»Nur dann, wenn die Welt nicht bloß als ein Mecha¬
nismus angesehen wird, in dessen zweckloser Gesetzlich¬
keit der Mensch mit seinen Zwecken als eine lächerliche
und überflüssige Possenfigur erscheint, die einige Jahr¬
tausende sich über Naturgesetzlichkeit und Sinn des
Lebens mehr oder weniger uneigenartige Gedanken
macht, um dann wieder in das Nichts des toten Welt¬
geschehens zu versinken, sondern erst, wenn die Welt
als Kosmos erfaßt wird, in welchem der Mensch seine
eigenen Vernunftszwecke nicht anders denn als Ausfluß
einer Weltgesetzlichkeit betrachten kann, die auch die
Realisierung dessen verbürgt, was sie ihm als wertvoll
anzuerkennen nötigt, wird mit dieser Vorstellung eines
Endzweckes jener Schritt über die Moralhinaus gemacht,
der erst zu religiösen Begriffen im eigentlichen (philo¬
sophischen) Sinn des Wortes führt.« [a.a.O., S. 504f.]

A. DEBORIN

Kritik an Max Adler:

»Der Revisionismus stellt die theoretische Verfälschung


des Marxismus durch die bürgerliche Ideologie dar. Der
radikale< Max Adler hat von jeher die bürgerliche
Ideologie in der marxistischen Weltanschauung kulti¬
viert. Da nun der Kantianismus unter den modernen
Ideologen der Bourgeoisie die größte Verbreitung ge¬
nießt, ist es nur zu natürlich, daß sich der ideelle Ein¬
fluß der Bourgeoisie auf das Proletariat in Versuchen

86
einer Kombination von Kantschem Idealismus und
Marxismus geltend macht ...
Adler erklärt also den Sozialismus < zur formal¬
gnoseologischen Kategorie des vergesellschafteten sozia¬
len Menschen. Wir übergehen hier die Verwechslung
der Begriffe >sozial< und sozialistische Das transzenden¬
tale Bewußtsein Kants stellt sich nach der Lehre Adlers
dar als identisch mit dem Marxschen Begriff des ver¬
gesellschafteten Menschen. Wie das transzendentale
Bewußtsein ein überindividuelles Bewußtsein sei, so
bedeute auch der >vergesellschaftete Menseln die Über¬
windung des Individualismus und Bejahung des
Sozialismus*. In diesem Sinne sei Kant gewissermaßen
der größte Sozialist gewesen, da er bis zu den letzten
Quellen, bis zum Sozialismus des Bewußtseins, zum
Sozialismus des Geistes vorgedrungen sei. Es kümmert
Adler nicht, daß das transzendentale Bewußtsein Kants
zum Unterschied von dem >vergesellschafteten Men¬
schen von Marx* eine rein formale, übergeschichtliche
und überempirische Kategorie darstellt und seinem
ganzen Wesen nach innerlich widerspruchsvoll ist ...
Das Kantsche überindividuelle Bewußtsein, das über
der Wirklichkeit steht und ihr seine Gesetze diktiert,
verfügt über eine Reihe von a priori-Funktionen, d. h.
von der Erfahrung imabhängiger Funktionen. Mit
diesen a priori-Funktionen stattet nun Max Adler seinen
vergesellschafteten Menschen* aus, der (nach Adler)
denn auch nichts anderes sei als das transzendentale
Subjekt Kants. In voller Übereinstimmung mit Kant
akzeptiert Adler drei Arten des Bewußtseins oder drei
grundlegende Funktionen desselben: die Erkenntnis,
— die Willens (moral) — und die Glaubensfunktion. So
wird die Funktion des Glaubens oder das religiöse
Bewußtsein zu einem Element der menschlichen Natur.
Der Glaube bildet eine notwendige und allgemeingültige

87
Form des Bewußtseins des vergesellschafteten Menschen,
ohne welchen Bewußtsein überhaupt undenkbar ist.
Max Adler war niemals orthodoxer Marxist. Dennoch
hatte er sich bisher nie zu so reaktionären Schlu߬
folgerungen verstiegen, obwohl die Zulässigkeit solcher
Schlußfolgerungen sich aus seiner allgemeinen, ideali¬
stischen Weltanschauung ergab.« [Des Revisionismus
letzte Weisheit, »Unter dem Banner des Marxismus«,
I. Jg., Heft 1, S. 70ff.]

HEINRICH CUNOW

Der Ursprung der Religion aus der sozialen Lebensauf-


fassung<:

»So verfehlt uns heute auf Grund der völkerkundlichen


Forschungsergebnisse die Ansicht, daß die Religion mit
der Verehrung der Naturkräfte begann, auch scheinen
mag, liegt ihr doch in der Marx-Engelsschen Fassung
ein zweifellos richtiger Gedanke zugrunde, nämlich die
Auffassung, daß auf den untersten Stufen seiner Ent¬
wicklung der Mensch, mag er immerhin in Horden¬
gemeinschaften gelebt haben, weit mehr ein Natur¬
wesen als ein Gesellschaftswesen gewesen ist, und er
sich demnach auch zunächst noch weit abhängiger von
der Natur als von den Lebensverhältnissen seiner
Gemeinschaft gefühlt hat. Falsch ist nur, daß ohne
weiteres angenommen wird, die Naturgewalten hätten
ihn zuerst zum Empfinden dieser Abhängigkeit ge¬
bracht und seine Phantasie am stärksten in Anspruch
genommen. Tatsächlich haben nicht die äußeren
Naturerscheinungen, wie Blitz, Donner, Erdbeben,
Sturm, Wolkenbruch usw., sondern seine eigne Natur,
sein eigenes Entstehen, Werden und Vergehen, vor

88
allem der Tod, zuerst in dem Menschen das Gefühl der
Furcht und Abhängigkeit geweckt und seinem einfachen
Denken geheimnisvolle Rätsel aufgegeben. Ferner aber
lebte selbst auf den alleruntersten Entwicklungsstufen
der Mensch nicht nur in der Natur, sondern zugleich in
der Gemeinschaft mit seinesgleichen und dieses Ge¬
meinschaftsleben, d. h. die sich aus ihm ergebenden
gesellschaftlichen Existenzbedingungen gewannen, wie
das Beispiel der heutigen niedrigstehenden Wildvölker
zeigt, schon früh einen rasch steigenden, sich stetig
vergrößernden Einfluß auf seine religiöse Gedanken¬
welt — nicht erst auf jener Stufe, die nach Engels
Ansicht selbst die alten Inder, Perser, Griechen, Römer
noch nicht erklommen hatten.« [Ursprung der Religion
und des Gottesglaubens, Erweiterung der 1911 in der
»Neuen Zeit« erschienenen »Religionsgeschichtlichen
Streifzüge«; zit. nach der 5. Aufl., Berlin 1924, S. 17]
»Der Inselbewohner verlegt sein ... Götterland nach
abgelegenen Inseln... des Bergbewohners Geister hausen
hingegen auf hohen Bergen... So spiegeln sich ganz selbst¬
verständlich in den phantastischen Mythen jedes Volkes
seine natürlichen Anschauungsbilder wider. Aber wer
durch dieses äußere Lokalkolorit zu dem eigentlichen
religiösen Inhalt der Vorstellungen vordringt, der findet
bald, daß diese nicht durch die sogenannten Naturein¬
drücke, sondern durch die soziale Lebensauffassung be¬
dingt sind. Stellen wir z. B. die Frage, wie sich die primi¬
tiven Völker denn nun ihren oder ihre Weltschöpfer vor¬
stellen, welche Eigenschaften sie ihnen beilegen, wie sie
ihr eigenes Verhältnis zu diesen Göttern auffassen, was
diese von ihnen fordern usw., so sehen wir sofort, mit der
schönen Lehre von der Bedingtheit der religiösen An¬
schauungen durch die Naturmächte ist absolut nichts an¬
zufangen ; nur aus den sozialen Lebensverhältnissen las¬
sen sich alle diese Anschauungen erklären.« [a.a.O.,S. 20]

89
W. I. LENIN

Das Wesen der Religion:

»Die Religion ist eine Form des geistigen Jochs, das


überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für
andere, durch ein Leben in Elend und Verlassenheit
niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht
der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Aus¬
beuter läßt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein
besseres Leben im Jenseits aufkommen, wie die Ohn¬
macht des Wilden im Kampf gegen die Naturgewalt den
Götter-, Teufel-, Wunderglauben usw. aufkommen
läßt. Wer sein Leben lang schafft und darbt, den lehrt
die Religion Demut und Geduld im irdischen Leben und
vertröstet ihn auf den himmlischen Lohn. Wer aber
von fremder Hände Arbeit lebt, den lehrt die Religion
Wohltätigkeit hienieden; sie bietet ihm eine wohlfeile
Rechtfertigung für sein Ausbeuterdasein und verkauft
zu billigen Preisen Eintrittskarten zur himmlischen
Seligkeit. Die Religion ist Opium für das Volk. Die
Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven
des Kapitals ihr Menschenantlitz, ihren Anspruch auf ein
auch nur halbwegs menschenwürdiges Dasein ersäufen.«
[Sozialismus und Religion, »Nowaja Schisn«, Nr. 28
vom 5. 12. 1905; zit. nach W. I. Lenin Über die Religion,
Moskau o. J. (1954), S. 6 ff.]

Interpretation des sozialdemokratischen Grundsatzes


(Religion ist Privatsache<:

»Die Religion muß zur Privatsache erklärt werden —


mit diesen Worten pflegt man die Stellung der Soziali¬
sten zur Religion auszudrücken. Die Bedeutung dieser
Worte muß jedoch genau definiert werden, damit sie

90
keine Mißverständnisse hervorrufen. Wir verlangen,
daß die Religion Privatsache sei, soweit es den Staat
angeht; wir können jedoch die Religion keinesfalls als
Privatsache ansehen, soweit es sich um unsere eigne
Partei handelt. Der Staat soll mit der Religion nichts zu
tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen nicht
mit der Staatsgewalt verbunden sein. Jedermann muß
volle Freiheit haben, sich zu einer beliebigen Religion
zu bekennen oder überhaupt jede Religion abzulehnen,
d. h. Atheist zu sein, was gewöhnlich auch jeder Sozialist
ist ...« [a.a.O., S. 7 ff.]
»Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die
Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist eine Ver¬
einigung klassenbewußter, vorgeschrittener Kämpfer
für die Befreiung der Arbeiterklasse. Eine solche Ver¬
einigung kann und darf nicht gleichgültig sein gegen¬
über fehlender Bewußtheit, gegenüber Unwissenheit und
Obskurantismus in Form von religiösem Glauben. Wir
verlangen die völlige Trennung von Kirche und Staat,
um die religiöse Vernebelung mit rein geistigen und nur
geistigen Waffen, mit unserer Presse, mit unserem
Wort bekämpfen zu können. Wir haben aber unsere
Gemeinschaft, die SDAPR, unter anderem eben auch
für den Kampf gegen jede religiöse Verdummung der
Arbeiter gegründet. Der ideologische Kampf ist für uns
keine Privatsache, sondern Sache der ganzen Partei,
Sache des ganzen Proletariats.« [a.a.O., S. 9ff.]

Unterordnung der atheistischen Agitation unter den


Klassenkampf:

»Die Religion ist das Opium des Volkes — dieser Aus¬


spruch von Marx ist der Eckpfeiler der ganzen Welt¬
anschauung des Marxismus in der Religionsfrage. Der
Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und

91
Kirchen, alle und jegliche religiösen Organisationen
stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die dem
Schutz der Ausbeutung und der Umnebelung der
Arbeiterklasse dienen.
Zugleich verurteilte Engels jedoch wiederholt die Ver¬
suche von Leuten, die >linker< oder revolutionärer sein
wollten als die Sozialdemokratie, in das Programm der
Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheismus
im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion einzu¬
fügen ... Eine solche Kriegserklärung sei das beste Mittel,
das Interesse für die Religion zu beleben und das wirk¬
liche Absterben der Religion zu erschweren. Engels hält
den Blanquisten ihr Unvermögen vor, zu begreifen, daß
nur der Klassenkampf der Arbeitermassen, der die
breitesten Schichten des Proletariats allseitig in die be¬
wußte und revolutionäre gesellschaftliche Praxis hin¬
einzieht, imstande ist, die unterdrückten Massen tat¬
sächlich vom Joch der Religion zu befreien, während die
Proklamierung des Krieges gegen die Religion zur poli¬
tischen Aufgabe der Arbeiterpartei eine anarchistische
Phrase ist ...
Engels erhob gegen Dühring, der darauf erpicht war,
ultrarevolutionär zu sein, den Vorwurf, in anderer
Form ebendiese Dummheit Bismarcks [im Kulturkampf
gegen die katholische Kirche] wiederholen zu wollen,
und verlangte von der Arbeiterpartei, sie müsse ver¬
stehen, geduldig an der Organisierung der Aufklärung
des Proletariats zu arbeiten, einem Werk, das zum
Absterben der Religion führe, dürfe sich aber nicht in
das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die
Religion stürzen. Diese Auffassung ist der deutschen
Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen, die
sich z. B. für die Freiheit der Jesuiten, für deren Zu¬
lassung in Deutschland, für die Aufhebung aller polizei¬
lichen Kampfmaßnahmen gegen diese oder jene Religion

92
ausgesprochen hat. Erklärung der Religion zur Privat¬
sache < — in diesem berühmten Punkt des Erfurter
Programms (1891) ist die erwähnte politische Taktik
der Sozialdemokratie verankert ...« [Über das Ver¬
hältnis der Arbeiterpartei zur Religion, »Proletari«, Nr.
45, Mai 1909; zit. nach W. I. Lenin Über die Religion,
Moskau o. J. (1954), S. 21 ff.]
»Die Furcht hat die Götter erzeugt. Die Furcht vor
der blind waltenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr
Walten von den Volksmassen nicht vorausgesehen
werden kann, eine Macht, die bei jedem Schritt im
Leben des Proletariers und des kleinen Eigentümers
ihm den >plötzlichen<, >unerwarteten<, >zufälligen< Ruin,
den Untergang, die Verwandlung in einen Bettler, einen
Pauper, eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen
droht und bringt — das ist jene TVurzel der heutigen
Religion, die der Materialist vor allem und am meisten
beachten muß, wenn er nicht ein Abc-Schütze des
Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift
wird die Religion aus den Massen austreiben, die, nieder¬
gehalten durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von
den blind waltenden, zerstörenden Kräften des Kapita¬
lismus abhängen, solange diese Massen nicht selbst ge¬
lernt haben werden, vereint, organisiert, planmäßig,
bewußt zu kämpfen gegen diese Wurzel der Religion
und gegen die Herrschaft des Kapitals in allen ihren
Formen ... Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda
der Sozialdemokratie unter geordnet sein muß ihrer Haupt¬
aufgabe: der Entfaltung des Klassenkampfes der ausge-
beuteten Massen gegen die Ausbeuter.« [a. a. O., S. 25ff.]
»Die theoretische Propaganda des Atheismus ...
durch eine absolute, unübersteigbare Grenze von dem
Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassen¬
kampfes dieser Schichten trennen, heißt undialektisch
denken, heißt das zu einer absoluten Grenze machen,

95
was eine bewegliche, relative Grenze ist, heißt das
gewaltsam trennen, was in der lebendigen Wirklichkeit
untrennbar verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel.
Gesetzt, das Proletariat eines bestimmten Gebiets und
eines bestimmten Industriezweiges zerfällt in eine fort¬
geschrittene Schicht ziemlich bewußter Sozialdemo¬
kraten, die selbstverständlich Atheisten sind, und in
ziemlich rückständige, noch mit dem Dorf verbundene
Arbeiter, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder
sogar unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen
stehen, der ... einen christlichen Arbeiterverein gründet.
Gesetzt ferner, der wirtschaftliche Kampf habe in
diesem Orte zu einem Streik geführt. Der Marxist ist
verpflichtet, den Erfolg der Streikbewegung in den
Vordergrund zu stellen, einer Scheidung der Arbeiter
in diesem Kampf in Atheisten und Christen entschieden
entgegenzuwirken ... Die atheistische Propaganda kann
unter diesen Umständen sowohl überflüssig als auch
schädlich sein — vom Standpunkt eines wirklichen
Fortschritts des Klassenkampfes, der unter den Ver¬
hältnissen der modernen kapitalistischen Gesellschaft
die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozial¬
demokratie und zum Atheismus führt als die bloße
atheistische Propaganda.« [a. a.O., S. 26 ff.]

Gegen jede Form religiöser Weltanschauung:

»Die Gottsucherei unterscheidet sich von der Gott¬


bildnerei [Als »Gottsucher« bezeichnet die sowjetische
Literatur eine freireligiöse Richtung von Marxisten in
Rußland, der u. a. Berdjajew, Bulgakow und Meresch-
kowski angehörten; der Gruppe religiöser Marxisten,
die »Gottbildner« genannt wurde, gehörte Maxim Gorki
und der spätere sowjetische Erziehungsminister A.W.
Lunatscharski an.] oder von Gottmacher ei oder Gott-

94
Schöpfung usf. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel
sich von einem blauen unterscheidet. Von Gottsucherei
zu sprechen, nicht um sich gegen jegliche Teufel und
Götter, gegen jede geistige Leichenschändung auszu¬
sprechen (jeder Herrgott ist Leichenschändung, mag es
auch der säuberlichste, idealste, nicht gesuchte, sondern
erschaffene Herrgott sein, das ist einerlei), sondern um
einem blauen Teufel den Vorrang vor einem gelben zu
geben, das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt
nicht zu sprechen.« [Brief an Maxim Gorki, November
1913, veröffentlicht 1924; zit. nach Lenin Über die
Religion, S. 47ff.]
»Gerade weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem
Herrgott, selbst jedes Kokettieren mit einem Herrgott
eine unsagbare Abscheulichkeit ist, die von der demokra¬
tischen Bourgeoisie mit besonderer Duldsamkeit (oft
sogar wohlwollend) aufgenommen wird — gerade des¬
halb ist sie die ge fäll r liebste Abscheulichkeit, die wider¬
lichste Seuche. Millionen von Sünden, Gemeinheiten,
Gewalttaten und Verseuchungen physischer Art werden
von der großen Menge viel leichter erkannt und sind
daher viel weniger gefährlich als die raffinierte, ver¬
geistigte, in die prächtigsten >ideologischen< Gewänder
gekleidete Idee von einem lieben Gott. Ein katholischer
Pfaffe, der Mädchen schändet ... ist gerade für die
>Demokratie< weit weniger gefährlich als ein Pfaffe
ohne Priesterrock, ein Pfaffe ohne grobschlächtige
Religion, als ein sich auf bestimmte Ideen stützender
und demokratischer Pfaffe, der die Schöpfung und Er¬
schaffung eines lieben Gottes predigt. Denn jenen
Pfaffen zu entlarven ist leicht — diesen aber kann man
nicht so einfach davon jagen, ihn zu entlarven ist tausend¬
mal schwerer, und kein >brüchiger und wehleidig
wankelmütiger! Spießer wird damit einverstanden sein,
ihn zu >verdamrnen<.« [a.a.O., S. 48 ff.]

95
»Es trifft nicht zu, daß Gott ein Komplex von Ideen
ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren.
Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen
Ursprung der Ideen vertuschen will. Gott ist (historisch
wie im Alltagsleben) vor allem ein Komplex von Ideen,
die von der dumpfen, sowohl durch die äußere Natur als
auch durch die Klassenunterdrückung bewirkte Nieder¬
gedrücktheit des Menschen erzeugt wurden — von
Ideen, die diese Niedergedrücktheit zu einer dauernden
Erscheinung machen, die den Klassenkampf ein¬
schläfern. Es gab in der Geschichte eine Zeit, als trotz
dieses Ursprungs und dieser tatsächlichen Bedeutung
der Gottidee der Kampf der Demokratie und des Prole¬
tariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee
gegen eine andere vor sich ging. Aber auch diese Zeit
ist längst vorbei. Jetzt ist sowohl in Europa als auch in
Rußland jedwede, selbst die verfeinertste, die wohl¬
gemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gott¬
idee eine Rechtfertigung der Reaktion.« [Brief an Gorki,
Dezember 1913, erstmalig veröffentlicht 1924; zit. nach
Lenin Über die Religion, S. 53 ff.]
»Die Gottidee hat die sozialen Gefühle immer einge¬
schläfert und abgestumpft, da sie an die Stelle des
Lebendigen Leichenhaftes setzte und stets die Idee der
Sklaverei (der schlimmsten, der ausweglosen Sklaverei)
war. Nie hat die Gottidee >die Persönlichkeit mit der
Gesellschaft verbunden^ sondern stets die unterdrückten
Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unter¬
drücker gefesselt.
Bürgerlich ist ihre Definition (und unwissenschaft¬
lich, unhistorisch), weil sie mit summarischen, allge¬
meinen, >robinsonhaften< Begriffen schlechthin und
nicht mit bestimmten Klassen einer bestimmten ge¬
schichtlichen Epoche operiert.
Die Gottidee bei einem Wilden ... und die Gottidee

96
bei Struwe und Co sind zweierlei. In beiden Fällen unter¬
stützt die Klassenherrschaft diese Idee (und wird von
dieser Idee unterstützt). Der >volkstümliche< Begriff
vom lieben Gott und vom Göttlichen ist volkstüm¬
lichem Stumpfsinn, Unterwürfigkeit, Unwissenheit, ist
genau dasselbe wie die >volkstümliche< Vorstellung vom
Zaren, vom Waldschrat, vom Prügeln der Ehefrauen.
Wie Sie die volkstümliche Vorstellung^ von Gott eine
>demokratische< nennen können, ist mir absolut unver¬
ständlich.« [a.a.O., S. 54ff.]

NIKOLAI BUCHARIN

Zur Entstehung der Religion:

»Wir wissen bereits, daß das >Wesen< der Religion im


>Glauben< an übernatürliche Kräfte, an wunderbare
Geister besteht (einerlei ob eines einzigen oder mehrerer,
ob grober oder unfaßbarer und ätherischer). Dieser
Begriff >Geist<, >Seele< usw. entstand als Abbild der be¬
sonderen ökonomischen Struktur der Gesellschaft, als der
>Stammesälteste< oder später der Patriarch entstand
(dies beim Patriarchat; dasselbe dem Wesen nach auch
beim Matriarchat), als, mit anderen Worten, die
Arbeitsteilung zur Aussonderung der organisatorischen
Arbeit, der Verwaltungsarbeit usw. führte. Der Stam¬
mesälteste als Hüter der angehäuften Erfahrung in der
Produktion organisiert, verwaltet, befiehlt, entwirft den
Arbeitsplan, bildet das aktive, >schöpferische< Prinzip,
während die Anderen gehorchen, die Befehle voll¬
ziehen, sich dem von oben vorgezeichneten Plan unter¬
werfen, nach fremdem Willen handeln. Dieses Produk¬
tionsverhältnis wurde zum Vorbild für die Betrachtung
alles Seienden und vor allem des Menschen selbst. Der

97
Mensch zerfiel in Körper und Geist. Die >Seele< ist das¬
jenige, was den >ICörper< lenkt. Die Seele steht ebenso
höher als der Geist, wie der Organisator und Verwalter
höher als der einfache Vollstrecker steht ... Nach dem¬
selben Vorbild fing man an, auch die ganze übrige Welt
zu betrachten: man fing an zu glauben, daß hinter
jedem Ding der >Geist< dieses Dinges sitze. Die ganze
Natur erwies sich als beseelt« ... »War eine solche Auf¬
fassung einmal entstanden, so mußte sie auch zur
Religion führen, die mit der Anbetung der Ahnen
(Ahnenkult) begann ...« [Theorie des historischen
Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der
marxistischen Soziologie, Hamburg 1922, S. 192ff.]

Die russische Gesellschaft im Spiegel der rechtgläubigen


Kirche und ihrer Vorstellungen:

»Betrachten wir schließlich die modernen Formen der


christlichen Religion. Die russische rechtgläubige< Kir¬
che war ein genaues Abbild des byzantinisch-moskowi-
tischen Absolutismus. Gott ist der Kaiser, die Mutter
Gottes — die Kaiserin, Nikolaus der Wundertätige und
die anderen beliebten Heiligen sind die Minister.
Darauf kommt ein ganzer Staat von Beamten (Engel,
Erzengel, Cherubim, Seraphim usw.). Unter diesen
himmlischen Höflingen besteht eine Arbeitsteilung.
Der heilige Michael ist der Oberbefehlshaber, die
Mutter Gottes ist die erste Elofdame, Nikolaus ist haupt¬
sächlich der Gott der Bodenfruchtbarkeit, der heilige
Panteleimon ist eine Art Mediziner, der siegbringende
Georg ist der göttliche Krieger usw. Den Vornehmen
gebührt auch größere Ehre — bessere Heiligenschreine,
feinere Gewänder, Opfer usw. Der Klassenkampf nahm
auch in Rußland wiederholt religiöse Formen an
(Spaltung, Sekten der Stundisten, der Geißler, der

98
>Molokaner< usw.) ... Es sei zum Schluß nur erwähnt,
daß die russischen Bezeichnungen der Gottheit auf den
Ursprung dieser netten Gottesideen deutlich hinweisen:
Herrgott — Gospodij ist dasselbe wie Gospodin — Herr;
Gott — Bog hat dieselbe Wurzel wie bogatij, der
Reiche. Herrscher, himmlischer Vater, Richter, Vater
usw. — das sind die Benennungen für den feudal¬
adligen Monarchen, der das Volk als seine Sklaven be¬
zeichnet. Nicht umsonst gefiel dem Absolutismus so
sehr die >rechtgläubige< Kirche.« [a.a.O., S. 199ff.]

Gottesglaube verhindert Entwicklung der Naturwissen¬


schaft :

»Der Glaube an Gott ist also das Abbild der nieder¬


trächtigsten irdischen Beziehungen, das ist der Glaube
an das Sklaventum, das angeblich nicht allein auf der
Erde, sondern im ganzen Weltall existiert. Selbstver¬
ständlich ist in Wirklichkeit nichts von alledem wahr.
Aber ebenso selbstverständlich ist auch, daß diese
Ammenmärchen die Entwicklung der Menschheit
hemmen. Die Menschheit schreitet nur dann vorwärts,
wenn sie für jede Erscheinung eine natürliche Erklärung
sucht. Wenn aber anstelle jeder Erklärung Gott und die
Heiligen, oder Teufel und Geister ins Spiel gezogen
werden, dann kann nichts Geheures dabei entstehen.
Wir wollen ein paar Beispiele anführen: Manche from¬
men Leute glauben, wenn es donnert — so fährt
Prophet Elias in seinem Wagen vorbei. Sobald sie den
Donner rollen hören, entblößen sie deshalb ihr Haupt
und bekreuzigen sich. In Wirklichkeit aber ist die Kraft
der Elektrizität, die den Donner erzeugt, der JVissen-
schaft wohlbekannt; mit Hilfe dieser Kraft bewegt sich
die elektrische Bahn, die als Beförderungsmittel
dient ... Angenommen, wir würden an den Propheten

99
Elias glauben. Dann hätten wir nie und niemals die
elektrischen Bahnen zu sehen gekriegt. Dank der Religion
wären wir in Barbarei steckengeblieben ...« [Programm
der Kommunisten (Bolschewiki), Bern 1918, S. 93]

ANTONIO GRAMSCI

Das Christentum — die größte Utopie der Menschheit:

»In diesem Sinne [im Sinne der Utopie als eines


historisch progressiven Faktors] kann man sagen, daß
die Religion die größte Utopie, d. h. die größte >Meta-
physik< darstellt, die in der Geschichte aufgetaucht
ist. Sie ist der großartigste Versuch, in mytholo¬
gischer Form die wirklichen Gegensätze des histori¬
schen Lebens zu versöhnen: sie behauptet in der Tat,
daß alle Menschen die gleiche >Natur< haben, daß es
einen allgemeinem Menschen gibt, der von Gott ge¬
schaffen, Gottes Sohn ist und daher Bruder seiner Mit¬
menschen, Gleicher unter Gleichen, Freier unter
Freien genannt werden kann und daß sich jeder Mensch
von dieser Tatsache überzeugen könne, indem er sich
selbst in Gott — dem Selbstbewußtsein der Menschheit
-—- erblicke. Aber sie behauptet zugleich, daß all das
nicht dieser Welt angehört, sondern erst in einer
>anderen< verwirklicht sein wird (in einer utopischen
Welt). So kommt es, daß unter jenen Menschen, die
sich weder als gleich noch als Brüder der anderen an-
sehen können, die Ideen der Gleichheit, der Brüderlich¬
keit und der Freiheit umgehen. So kam es, daß bei
jeder radikalen Agitation der Massen in der einen oder
anderen ideologischen Gestalt diese Forderungen er¬
hoben worden sind.« [Historicite de la philosophie de la
Praxis, »CEuvres Choisies«, Paris 1959, S. 102]
ANTHROPOLOGIE

Nach Feuerbach war die Theologie eine Anthropologie,


die sich selbst mißverstanden hat. Der Mensch, oder
das menschliche Gattungswesen, wurde zur >wahren
Gottheit< des Menschen. Worin aber das eigentümliche
>Gattungswesen< des Menschen besteht, das ihn von allen
anderen Tieren unterscheidet, darüber hatte Feuerbach
nur höchst unbefriedigende Äußerungen gemacht.
Immerhin konnte Marx auch bei ihm die Erkenntnis von
der Bezogenheit des >Ichs< auf das >Du<, vom sozialen
Charakter des Menschen, finden. Der Mensch ist das
einzige Wesen, das sich seine Beziehung zum anderen
zum Gegenstand des Bewußtseins gemacht hat, er ist
ein gegenständliches Wesen< und sein einzig angemes¬
sener >Gegenstand< ist die Gattung selbst. Nur, indem
sich der Mensch auf die Menschheit (bewußt) bezieht, ist
er menschlich. Aber dieser Gedanke bedurfte noch,
sollte er konkret werden, der Einbeziehung des Begriffs
der vermenschlichenden Arbeit. Das >Gattungswesen<
des Menschen ist seine Fähigkeit zur vermenschlichenden
Arbeit, deren sinnvoller Vollzug zugleich in der Orien¬
tierung auf den Mitmenschen besteht.
An dieser Stelle knüpft Marx an Hegels Phänomeno¬
logie des Geistes und das berühmte Kapitel über Herr¬
schaft und Knechtschaft an, in dem geschildert wird, wie
durch die Arbeit des Knechtes der daseienden Natur ihre
scheinbare Eigenständigkeit genommen und ihr eine
geistige (menschliche) Form gegeben wird, so daß sie
dem Menschen nicht mehr >fremd< gegenübersteht,
sondern sein eigenes menschliches Wesen widerspiegelt.
>Hegel begreift die Arbeit als das Wesen, als das sich be¬
währende Wesen des Menschen.< Im Unterschied zu
allen anderen Lebewesen muß sich der Mensch erst zu

101
dem machen, was er >ist<. Nur indem er die Natur den
menschlichen Bedürfnissen und Vorstellungen, Be¬
griffen und Plänen anverwandelt, kann er selbst auch
menschlich leben. Das gilt für Marx sowohl im materiel¬
len als auch im ideellen Sinn. Hegel aber habe die Arbeit
allzusehr mit der bloß begrifflichen Erfassung der
Realität identifiziert, so daß am Ende die >wahre< Arbeit
doch nur die des die Welt deutenden Philosophen
gewesen sei, ein Vorwurf, der zumindest in dieser apodik¬
tischen Form Hegel allerdings nicht trifft.
Dagegen hat Marx einen anderen Gedanken Hegels
unterschlagen, der für dessen Konzeption von der ver¬
menschlichenden Wirkung der Arbeit ausschlaggebend
war: die Beziehung von Herrschaft und Knechtschaft. Für
Hegel entsteht die vermenschlichende Arbeit erst da¬
durch, daß in einem Prestigekampf auf Leben und Tod
sich der eine der beiden Streiter unterwirft und nun
vom siegreichen Herrn zur Leistung von Arbeit ge¬
zwungen werden kann. Diese Arbeit ist es dann, die als
>aufgeschobene Begierde< dem Knecht sowohl zur Eman¬
zipation von seiner eigenen sinnlichen Natur (der gegen¬
über er sich durch Askese frei zu machen weiß) als auch
von der äußeren Natur (die er durch seine Arbeit voll¬
ständig umwandelt) verhilft. Die knechtische Situation
ist also für Hegel die ermöglichende Bedingung der
anthropogenen Wirkung der Arbeit.
Diesen Gedanken läßt Marx vollständig weg. So merk¬
würdig es klingen mag, in diesem Punkt ist der große
Sozialist weniger konkret als der spekulative Philosoph!
Auch hören wir bei Marx über die vermenschlichende
Arbeit in einer vor der Entfremdung liegenden Gesell¬
schaft nur sehr wenig. Der Nachdruck seiner anthro¬
pologischen Untersuchungen liegt auf der Analyse der
entfremdeten Arbeit in einer arbeitsteiligen Welt mit
Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Um die Natur vermenschlichen zu können, muß der
arbeitende Mensch selbst über ein Stück materieller
Natur verfügen. Er benötigt Rohstoffe und Arbeits-

102
instrumente (die letztlich auch bearbeitete Natur sind).
Die gesamte Natur kann er zu seinem mnorganischen
Leibe< machen, weil er sich in ihr vergegenständlichen
(oder, was dasselbe ist, sie vermenschlichen) kann. Dieser
ungeheuere Vorteil gegenüber der Tierwelt verwandelt
sich jedoch sofort in einen Nachteil, wenn ihm dieser
mnorganische Leib< entzogen wird. Das aber geschieht
infolge der >entfremdeten Arbeite Wenn die Arbeit nicht
mehr vollzogen wird aus dem Bedürfnis heraus, sich
(und den Mitmenschen) die äußere Natur anzueignen,
wenn das bewußte Motiv der Arbeit nicht mehr das
Bedürfnis der Vergegenständlichung der eigenen Mensch¬
lichkeit im Rohstoff ist, bekommt die Arbeit Zwangs¬
charakter. Das geschieht mit Notwendigkeit in der
arbeitsteiligen Gesellschaft und vollends in einer Gesell¬
schaft, in der die Mehrheit keine eigenen Produktions¬
mittel besitzt. Schon die Arbeitsteilung, die mich zwingt,
zeit meines Lebens ein und derselben spezialisierten
Tätigkeit nachzugehen, schränkt die Entfaltungsmög¬
lichkeiten der Menschlichkeit ein. Der Schuster, der sein
Leben lang Schuhe macht, würde vielleicht ganz gern
auch einmal einen Schrank bauen oder ein Kleid nähen,
aber er hat weder die Erlaubnis noch die Zeit zu solcher
Tätigkeit und muß — mit oder ohne Lust — bei seinem
Leisten bleiben.

Vollends auf die Spitze getrieben wird der Prozeß der


Entfremdung, wenn ein stets wachsender Teil der Be¬
völkerung gezwungen ist, seine Arbeitskraft an die
Produktionsmittelbesitzer (Kapitalisten) zu beinahe be¬
liebiger Verwendung zu verkaufen. Jetzt kommt es für
ihn schon gar nicht mehr darauf an, was produziert
wird, sondern nur, daß ein Lohn gezahlt wird, der die
Voraussetzung für die Fristung der animalischen Existenz
gibt. Die Spitze der Entfremdung ist erreicht, wenn die
Verausgabung der menschlichen Kraft und Fähigkeit
(der Arbeit) nur mehr zum Zwecke der Fristung der
tierischen Existenz erfolgt. Aus der entfremdeten Arbeit
aber resultieren nach Marx alle anderen Entfremdungs-

105
phänomene: die politische Entfremdung, in der der Staat
als eine imaginäre Gemeinschaft der abstrakten Staats¬
bürger über der Gesellschaft der konkreten Menschen
steht, ebenso wie die religiösen Vorstellungen, durch die
entfremdete Menschen ihrer verstümmelten Existenz
eine jenseitige Ergänzung zu geben versuchen. Alle
Änderung muß daher hier bei der Realität der Gesell¬
schaft, bei ihrer Eigentumsverteilung und ihrer Fixierung
der einzelnen an eine ausschließliche Tätigkeit ansetzen.

Der Weg, der zu einer solchen >Überwindung der


Entfremdung< führt, wird erst im politischen Teil dieser
Auswahl beschrieben; an dieser Stelle sollte nur eine
möglichst vollständige Schilderung der unentfremdeten
Arbeit in einer kommunistischen Zukunftsgemeinschaft
stehen. Sie macht deutlich, worauf es Marx ursprünglich
entscheidend ankam: die Überwindung der Diskrepanz
zwischen dem Wesen des Menschen als einem schöpferi¬
schen, naturbeherrschenden, reichen, allseitigen Wesen
und der realen Existenz aller einzelnen Individuen
in der modernen Gesellschaft. Das Zusammenfallen
von menschlicher Gesellschaft und gesellschaftlichem
Menschen bedeutete ursprünglich keineswegs das >Auf-
gehen des Einzelnen im namenlosen Kollektiv!, sondern
im Gegenteil die allseitige Entfaltung der Potenzen
jedes Einzelnen, die ihn auf das Niveau der Gattung
hebt. Das wenig bekannte Zitat aus den Exzerptheften
macht deutlich, daß sich Marx eine Gemeinschaft
brüderlich verbundener und durch ihre wechselseitigen
Produktionen bewußt bereichernder schöpferischer Indi¬
viduen erträumte, nicht das triste Reich reglementierter
und genormter Maximalproduktion.
Gegenüber dieser Marxschen Anthropologie bedeutet
schon die Engelssche hausbackene Schrift Vom Anteil
der Arbeit an der Menschwerdung des Affen und erst
recht der Kautskysche Darwinismus einen unüberseh¬
baren Abfall. Während allein Max Adler wenigstens einer
Seite des Marxschen Begriffs >vom vergesellschafteten
Menschein wieder näherkommt, ist in der späteren

104
Sowjetpsychologie das Bild vom Menschen vollends auf
das eines Spätprodukts der dialektischen Entwicklung der
Materie herabgesunken. Dogmatisch verarbeitete Er¬
gebnisse der Pawlowschen Rellexologie verbinden sich
hier mit der Leninschen Widerspiegelungstheorie zu
einer Lehre, die mit der Marxschen Anthropologie nichts
mehr zu tun hat.

Wegbereiter der Marxschen Anthropologie

HEGEL

Die Bedeutung der Arbeit für die Vermenschlichung des


Menschen (Dialektik von Herr und Knecht):

»Durch die Arbeit kommt (das Bewußtsein) zu sich


selbst. In dem Moment, welches der Begierde im
Bewußtsein des Herrn entspricht, schien dem dienenden
Bewußtsein zwar die Seite der unwesentlichen Be¬
ziehung auf das Ding zugefallen zu sein, indem das
Ding darin seine Selbständigkeit behält [der Herr
genießt den für ihn vermenschlichten, zubereiteten
Gegenstand, der Knecht darf ihn nicht genießend an¬
eignen!]. Die Begierde [des Herrn] hat sich das reine
Negieren des Gegenstandes und dadurch das unver-
mischte Selbstgefühl Vorbehalten. Diese Befriedigung
ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es
fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen.
Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufge¬
haltenes Verschwinden, oder sie bildet [nämlich zugleich
den Gegenstand und den Arbeitenden]. Die negative
[negierende] Beziehung auf den Gegenstand wird zur
Form desselben und zu einem Bleibenden, weil eben

105
dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat.
Diese negative Mitte oder das formierende Tun ist zu¬
gleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des
Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das
Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein
kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen
Seins als seiner selbst.« [Phänomenologie des Geistes, Hg.
Hoffmeister, 3. Aufl. 1927, S. 148ff.]
»Daß der Mensch sich zu dem machen muß, was er
ist, daß er im Schweiße seines Angesichts sein Brot ißt,
hervorbringen muß, was er ist, das gehört zum Wesent¬
lichen, zum Ausgezeichneten des Menschen und hängt
notwendig zusammen mit der Erkenntnis des Guten und
Bösen.« [Religionsphilosophie, »Werke«, Bd.XVII, S. 267]

Die Vollendung der Vermenschlichung in der freien


Gemeinschaft des Staates:

»Das ... Resultat des Kampfes um Anerkennung (zwi¬


schen Herr und Knecht) ist das ... allgemeine Selbst¬
bewußtsein, d. h. — dasjenige freie Selbstbewußtsein,
für welches das ihm gegenständliche andere Selbst¬
bewußtsein nicht mehr ... ein unfreies (wie der Knecht
für den Herrn), sondern ein gleichfalls selbständiges ist.
Auf diesem Standpunkte haben sich also die auf ein¬
ander bezogenen selbstbewußten Subjekte, durch Auf¬
hebung ihrer ungleichen besonderen Einzelheit, zu dem
Bewußtsein ihrer reellen Allgemeinheit —• ihrer Allen
zukommenden Freiheit — und damit zur Anschauung
ihrer bestimmten Identität mit einander erhoben. Der
dem Knecht gegenüberstehende Herr war noch nicht
wahrhaft frei; denn er schaute im Anderen noch nicht
durchaus sich selber an. Erst durch das Freiwerden des
Knechtes wird folglich auch der Herr vollkommen frei.
In dem Zustande dieser allgemeinen Freiheit bin ich,

106
indem ich in mich reflektiert bin, unmittelbar in den
Anderen reflektiert, und umgekehrt beziehe ich mich,
indem ich mich auf den Anderen beziehe, unmittelbar
auf mich selber. Wir haben daher hier die gewaltige
Diremtion des Geistes in verschiedene Selbste, die an-
und-für-sich und für einander vollkommen frei, selb¬
ständig, absolut spröde, widerstandleistend — und doch
zugleich mit einander identisch, somit nicht selbständig,
nicht undurchdringlich, sondern gleichsam zusammen¬
geflossen sind.« [Enzyklopädie, Zusatz zu § 456, »Werke«
Bd.X, S. 290]

LUDWIG FEUERBACH

Der Mensch — das universelle Wesen:

»Der Mensch unterscheidet sich keineswegs nur durch


das Denken von dem Tier. Sein ganzes Wesen ist viel¬
mehr sein Unterschied vom Tiere. Allerdings ist der,
welcher nicht denkt, kein Mensch, aber nicht, weil das
Denken die Ursache, sondern nur weil es eine not¬
wendige Folge und Eigenschaft des menschlichen
Wesens ist.
Wir brauchen daher auch hier nicht über das Gebiet
der Sinnlichkeit hinauszugehen, um den Menschen als
ein über den Tieren stehendes Wesen zu erkennen. Der
Mensch ist kein partikuläres Wesen wie das Tier, sondern
ein universelles, darum kein beschränktes und unfreies,
sondern uneingeschränktes, freies Wesen, dessen Univer¬
salität, Unbeschränktheit, Freiheit sind unzertrennlich.
Und diese Freiheit existiert nicht etwa in einem be¬
sonderen Vermögen, dem Willen, ebensowenig diese
Universalität in einem besonderen Vermögen der Denk¬
kraft, der Vernunft — diese Freiheit, diese Universa¬
lität erstreckt sich über sein ganzes Wesen. Die tieri-

107
sehen Sinne sind wohl schärfer als die menschlichen,
aber nur in Beziehung auf bestimmte, mit den Bedürf¬
nissen des Tieres in notwendigem Zusammenhang
stehende Dinge, und sie sind schärfer eben wegen dieser
Determination, dieser ausschließlichen Beschränkung
auf Bestimmtes. Der Mensch hat nicht den Geruch des
Jagdhundes, eines Raben; aber nur weil sein Geruch
alle Arten von Gerüchen umfassender, darum freier,
gegen besondere Gerüche indifferenter Sinn ist. Wo
sich aber ein Sinn erhebt über die Schranke der Parti-
kularität und seine Gebundenheit an das Bedürfnis, da
erhebt er sich zu selbständiger, zu theoretischer Bedeu¬
tung und Würde: — universeller Sinn ist Verstand,
universelle Sinnlichkeit (ist) Geistigkeit. Selbst die
untersten Sinne, Geruch und Geschmack, erheben sich
im Menschen zu geistigen, zu wissenschaftlichen
Akten. Geruch und Geschmack der Dinge sind Gegen¬
stände der Naturwissenschaft. Ja, selbst der Magen des
Menschen, so verächtlich wir auf ihn herabbiieken, ist
kein tierisches, sondern menschliches, weil universales,
nicht auf bestimmte Arten von Nahrungsmitteln einge¬
schränktes Wesen. Eben darum ist der Mensch frei von
der Wut der Freßbegierde, mit welcher das Tier über
seine Beute herfällt. Laß einem Menschen seinen Kopf,
gib ihm aber den Magen eines Löwen oder Pferdes — er
hört sicherlich auf, ein Mensch zu sein. Ein beschränkter
Magen verträgt sich auch nur mit einem beschränkten,
d. i. tierischen Sinn. Das sittliche und vernünftige Ver¬
hältnis des Menschen zum Magen besteht daher auch
nur darin, denselben nicht als ein viehisches, sondern
menschliches Wesen zu behandeln. Wer mit dem
Magen die Menschheit abschließt, den Magen in die
Klasse der Tiere versetzt, der autorisiert den Menschen
im Essen zur Bestialität.« [ Grundsätze der Philosophie der
Zukunft, § 55, »Werke«, Hg. Jodl, Bd. II, 1845, S. 515 f.]

108
Die Vollendung des Menschen in der Gemeinschaft von
Ich und D u:

»Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des


Menschen weder in sich als moralischem noch in sich
als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur
in Gemeinschaft in der Einheit des Menschen mit dem
Menschen enthalten — eine Einheit, die sich aber nur
auf die Realität des Unterschiedes von Ich und Du
stützt. Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit,
Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der
Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn);
Mensch mit Mensch — die Einheit von Ich und Du ist
Gott ... Die wahre Dialektik ist kein Monolog des ein¬
samen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwi¬
schen Ich und Du. Die Trinität war das höchste Myste¬
rium, der Zentralpunkt der absoluten Philosophie und
Religion. Aber das Geheimnis derselben ist, wie im
Wesen des Christentums historisch und philosophisch
bewiesen wurde, das Geheimnis des gemeinschaftlichen,
gesellschaftlichen Lebens — das Geheimnis der Not¬
wendigkeit des Du für das Ich —, die Wahrheit, daß
kein Wesen, es sei und heiße nun Mensch oder Gott oder
Geist oder Ich, für sich selbst allein ein wahres, ein voll¬
kommenes, ein absolutes Wesen, daß die Wahrheit und
Vollkommenheit nur ist die Verbindung, die Einheit
von wesensgleichen Wesen. Das höchste und letzte
Prinzip der Philosophie ist daher die Einheit des
Menschen mit dem Menschen. Alle wesentlichen Ver¬
hältnisse — die Prinzipien der verschiedenen Wissen¬
schaften — sind nur verschiedene Arten und Weisen
dieser Einheit.« [a.a.O., §§ 59, 60, 62, 65, S. 318f.]

109
MOSES HESS

Die praktische Konsequenz des Feuerbachschen Huma¬


nismus — Anthropologie ist Sozialismus:

»Feuerbach geht von der richtigen Einsicht aus, daß der


sein Wesen entäußernde oder sich entwickelnde Mensch
der Erzeuger aller Kollisionen, Widersprüche und
Gegensätze sei, daß mithin von einer spekulativen Ver¬
mittlung gar keine Rede sein könne, da in Wahrheit
nichts zu vermitteln, keine Identität von Gegensätzen,
sondern überall nur die Identität des Menschen mit sich
selbst herzustellen sei. Gegensätze, Widersprüche exi¬
stieren nur in der Einbildung der spekulativen Mysti¬
ker ... Feuerbach weist nach, daß das objektive Wesen
der vollendetsten Religion, des Christentums, das ent-
äußerte Wesen des Menschen ist, und mit dieser einen
Kritik hat Feuerbach die Grundlage aller theoretischen
Irrtümer oder Widersprüche zerstört — obgleich er es
nicht systematisch durchführt, wie alle Gegensätze und
Widersprüche aus dem sein Wesen entäußernden
Menschen entstehen. Feuerbach ist der deutsche Prou-
dhon. Was dieser durch seine Kritik des Eigentums in
betreff aller praktischen Gegensätze und Kollisionen des
Soziallebens, das hat Feuerbach in betreff aller theore¬
tischen Kollisionen geleistet ... Proudhon wird ... eben¬
sowenig zugeben, daß Feuerbach die theoretische Unter¬
lage zu seiner praktischen Kritik des Eigentums ist, wie
Feuerbach zugeben dürfte, daß Proudhon das Prinzip,
welches dem >Wesen des Christentums< zu Grunde liegt,
aufs praktische Leben angewendet hat. — In der Tat
aber braucht man nur den Feuerbachschen Humanis¬
mus auf das Sozialleben anzuwenden, um zu den
Proudhonschen praktischen Konsequenzen zu gelangen.
Man hat sich nämlich vom Feuerbachschen Standpunkt

110
aus nur ebenso kritisch dem praktischen Gotte, dem
Gelde, wie dem theoretischen gegenüber zu verhalten,
— oder man braucht nur das Wesen der vollendetsten
Politik, das Wesen des Rechtsstaates, ebenso richtig auf¬
zufassen, wie er das Wesen der vollendeten Religion,
des Christentums aufgefaßt hat — um die Krämerwelt
aus ihren Fugen zu heben und mit Proudhon, aber
durch einfachere Schlußfolgerungen als dieser, zu dem
Satze zu gelangen, daß das bestehende Eigentum das
Gegenteil von dem ist, was es zu sein scheint und was es
in Wahrheit sein sollte. Denn es sollte ein mit dem
Menschen innig verwachsenes soziales Besitztum und als
solches, d. h. als das ihm zu seiner sozialen Tätigkeit
dienende Material, ebenso unveräußerlich sein, wie
alles, was der Mensch sonst als Material oder Mittel zu
semer Lebenstätigkeit sein Eigentum nennt, z. B. seinen
Körper, sein Erlerntes usw. Aber das bestehende Eigen¬
tum, das Geldeigentum, ist das entäußerte und daher
auch das veräußerliche, verkäufliche, soziale Besitztum,
und im vollkommenen Staate ist das menschliche TVesen
ebenso praktisch entäußert, wie in der vollkommenen
Religion theoretisch, nämlich absolut, so daß alles Ver¬
mögen des schöpferischen Menschen einem jenseitigen
Wesen vindiziert ist, das nun alle Attribute des >Schöp-
fers< annimmt. Das Geld ist im praktischen Leben des
Menschen ebenso allmächtig und allgegenwärtig, eben¬
so die Quelle alles Heils und Segens, wie Gott es in
ihrem theoretischen Leben ist. Warum ist Feuerbach zu
diesen wichtigen praktischen Konsequenzen seines Prin¬
zips nicht gelangt? — Das Wesen Gottes, sagt Feuer¬
bach, ist das transzendente Wesen des Menschen, und
die wahre Lehre vom göttlichen Wesen ist die Lehre
vom menschlichen Wesen: Theologie ist Anthropo¬
logie — das ist wahr —, aber das ist nicht die ganze
Wahrheit. Das Wesen des Menschen, muß hinzugefügt

111
werden, ist das gesellschaftliche TVesen, das Zusammen¬
wirken der verschiedenen Individuen für einen und
denselben Zweck, für ganz identische Interessen, und
die wahre Lehre vom Menschen, der wahre Humanis¬
mus, ist die Lehre von der menschlichen Vergesell¬
schaftung, d. h. Anthropologie ist Sozialismus.« [ Uber
die sozialistische Bewegung in Deutschland, »Neue Anek-
dota«, Darmstadt 1845, S. 202ff.]

Die marxistische Anthropologie

MARX

Die Arbeit als Wesen des Menschen:

»Hegel erfaßt die Arbeit als


das Wesen, als das sich be¬
währende Wesen des Men¬
schen.« [MEGA I, 5, S. 157]

»Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und


ihrem Endresultate — der Dialektik der Negativität als
dem bewegenden und erzeugenden Prinzip — ist also
einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als
einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Ent-
gegenständlichung, als Entäußerung und als Auf¬
hebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der
Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wah¬
ren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner
eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten
des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die
Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens,

112
d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich da¬
durch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte — was
wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen
möglich ist, nur als Resultat der Geschichte — heraus¬
schafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was
zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung
möglich ist ...« [MEGA I, 5, S. 156]

Anschließend kritisiert Marx, daß Hegel den sinnlich¬


konkreten Menschen letztlich mit dem Selbstbewußtsein
identifiziert habe, daß er die reale Entfremdung mit der
Gegenständlichkeit überhaupt in eins setze und daher
auch die >Aufhebung der Entfremdung< durch eine
Zurücknahme der natürlichen Realität ins Bewußtsein
vollziehen wolle.

Der Mensch als leiblich-sinnliche Wirklichkeit:

»Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohl¬


gerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und
einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen
Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde
Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es
ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte,
deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß.
Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und
es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das
Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es
schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegen¬
stände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem
Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner >reinen
Tätigkeit [wie Hegel meinte, der im Grunde im
Selbstbewußtsein, im Denken allein die menschlich
reine, ganz ihm eigne Tätigkeit erblickt] in ein Schaffen
des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt
bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine

113
Tätigkeit als eine Tätigkeit eines gegenständlichen
natürlichen Wesens.
Wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus
oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus
(Hegels) als dem Materialismus (Feuerbachs und der
Materialisten des 18. .Th.) unterscheidet und zugleich
ihre beide vereinigende Wahrheit ist. Wir sehen zu¬
gleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der
Weltgeschichte zu begreifen.« [MEGA I, 3, S. 160]
»Die Arbeit ist ein Prozeß zwischen Mensch und
Natur, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der
Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und
kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine
Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit ange¬
hörenden Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und
Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in
einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzu¬
eignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur
außer ihm einwirkt und sie verändert, verändert er zu¬
gleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr
schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel
ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es
hier nicht mit der ersten tierartig instinktmäßigen
Form der Arbeit zu tun ... Wir unterstellen die Arbeit
in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich
angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen
des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch
den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen
Baumeister. Was aber den schlechtesten Baumeister vor
der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in
seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am
Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus,
das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des
Arbeiters, also ideell vorhanden war. Nicht daß er nur
eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er ver-
114
wirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er
weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz
bestimmt.« [Das Kapital, Berlin 1947, Bd. I, S. 185ff.]

Die entfremdete Arbeit:

»Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er


produziert, je mehr seine Produktion an Macht und
Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohl¬
feilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Ver¬
wertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der
Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit
produziert nicht nur Maren; sie produziert sich selbst
und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Ver¬
hältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.«
[MEGA I, 3, S. 82ff.]
»Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält
er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den
Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm,
sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit,
um so gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das
Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dies
Produkt, je weniger ist er selbst. Die Entäußerung des
Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht
nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer
äußern Existenz wird, sondern daß sie außer ihm,
unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selb¬
ständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben,
was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und
fremd gegenübertritt...« [a. a. O., S. 83ff.]
»Die Entfremdung des Arbeiters in seinem Gegen¬
stand drückt sich nach nationalökonomischen Gesetzen
so aus, daß, je mehr der Arbeiter produziert, er um so
weniger zu konsumieren hat, daß, je mehr Werte er
schafft, er um so wertloser, um so unwürdiger wird, daß,

115
je geformter sein Produkt, um so mißförmiger der
Arbeiter, daß, je zivilisierter sein Gegenstand, um so
barbarischer der Arbeiter, daß, um so mächtiger die
Arbeit, um so ohnmächtiger der Arbeiter wird, daß, je
geistreicher die Arbeit, um so mehr geistloser und Natur -
knecht der Arbeiter wurde.« [a.a.O., S. 84]
»Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen,
aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie
produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie
produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den
Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber
sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen
Arbeit zurück und macht den andern Teil zur Maschine.
Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn,
Kretinismus für den Arbeiter.« [a.a.O., S. 85]

Entfremdung im Akt der Produktion selbst:

»Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit


fremd ge genübertreten können, wenn er im Akt der
Produktion selbst sich nicht sich selbst entfremdete ? Das
Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der
Produktion ...
Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit?
Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h.
nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in
seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl,
sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und
geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis ab¬
kasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt
sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der
Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht
arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause.
Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern ge¬
zwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befrie-
116
digung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein
Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre
Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein
physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als
eine Pest geflohen wird.« [a.a.O., S. 85f.]
»Es kommt daher zu dem Resultat, daß der Mensch
[der Arbeiter] nur mehr m seinen tierischen Funk¬
tionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch
Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt und in
seinen menschlichen Funktionen [d. h. in der mensch¬
lichen Gattungstätigkeit: Arbeit] nur mehr als Tier,
das Tierische wird das Menschliche und das Mensch¬
liche das Tierische. Essen, Trinken, Zeugen usw. sind
zwar auch echt menschliche Funktionen. In der Ab¬
straktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis
menschlicher Tätigkeit trennt und zu letzten und allei¬
nigen Endzwecken macht, sind sie tierisch.« [a.a.O.,
S. 86]

Die Entfremdung vom menschlichen >Gattungsleben<:

»Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die


Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigne tätige
Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem
Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungs¬
leben zum Mittel des individuellen Lebens.
Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das
individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere
in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in
seiner abstrakten und entfremdeten Form.
Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die
Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein
Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürf¬
nisses der Erhalterng der physischen Existenz. Das pro¬
duktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das

117
Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätig-
keit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gat¬
tungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der
Gattungscharakter des Menschen. Das Leben selbst
erscheint (hier also) nur als Lebensmittel.« [a.a.O.,
S. 87]
»Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen
den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie
ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegen¬
ständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem
Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die
Natur, ihm entzogen wird.« [a.a.O., S. 89]

Die Entfremdung vom Mitmenschen:

»Überhaupt, der Satz, daß dem Menschen sein Gat¬


tungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem
andren, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen
entfremdet ist. Die Entfremdung des Menschen ...
drückt sich aus in dem Verhältnis, in welchem der
Mensch zu den andren Menschen steht.« [a.a.O., S. 89]

Entfremdung bei Bourgeois und Proletarier:

»Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats


stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar.
Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstent¬
fremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung
als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer
menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der
Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht
und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.
Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen,
in der Verworfenheit die Empörung über diese Ver¬
worfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch
118
den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer
Lebenssituation, welche die offenherzige, umfassende
Verneinung dieser Natur, getrieben wird.« [Die Heilige
Familie, MEGA I, 5, S. 500]

Die Aufhebung der Entfremdung:

»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privat-


eigentums, als menschlicher Selbstentfremdung, und
darum als wirkliche Aneignung des menschlichen
Wesens durch und für den Menschen; darum als voll¬
ständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums
der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des
Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h.
menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als
vollendeter Naturalismus-Humanismus, als vollendeter
Humanismus-Naturalismus, er ist die wahrhafte Auf¬
lösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit
der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auf¬
lösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen
Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen
Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und
Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und
weiß sich als diese Lösung.« [Nationalökonomie und
Philosophie, a.a.O., S. 114]
»Die positive Aufhebung des Privateigentums, als die
Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die posi¬
tive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr
des Menschen aus Religion, Familie, Staat usw. in sein
menschliches, d. h. gesellschaftliches Dasein. Die reli¬
giöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet
des Bewußtseins des menschlichen Innern vor, aber die
ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens
—- ihre Aufhebung umfaßt daher beide Seiten. Es ver¬
steht sich, daß die Bewegung bei den verschiedenen

119
Völkern ihren ersten Anfang danach nimmt, ob das
wahre anerkannte Leben des Volks mehr im Bewußt¬
sein oder in der äußern Welt vor sich geht, mehr das
ideelle oder reelle Leben ist ...« [a.a.O., S. 115]
Der unentfremdete Mensch ist das bewußte gesell¬
schaftliche Wesen. Einzelmensch und Gemeinschaft sind
jetzt ganz eins geworden:
»... wie die Gesellschaft selbst den Menschen als
Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.
Die Tätigkeit und der Genuß, wie ihrem Inhalt, sind
auch der Existenzweise nach gesellschaftlich, gesell¬
schaftliche Tätigkeit und gesellschaftlicher Genuß. Das
menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesell¬
schaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da
als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den
andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement
der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als
Grundlage seines eignen menschlichen Daseins. Erst
hier ist ihm sein natürliches Dasein sein menschliches
Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden.
Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit
des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion
der Natur, der durchgeführte Naturalismus des
Menschen und der durchgeführte Humanismus der
Natur.« [a.a.O., S. 116]

Die unentfremdete (menschliche) Produktion in der


kommunistischen Gesellschaft:

»Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von


uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den
andren doppelt bejaht. Ich hätte 1. in meiner Produk¬
tion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit ver¬
gegenständlicht und daher sowohl während der Tätig¬
keit eine individuelle Lebensäußerung genossen als im
120
Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude,
meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich an¬
schaubare und daher über allen Zweifel erhabene Macht
zu wissen. 2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch
meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, so¬
wohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein mensch¬
liches Bedürfnis befriedigt, als das menschliche Wesen
vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines
andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden
Gegenstand verschafft zu haben, 5. für dich der Mittler
zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von
dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und
als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und emp¬
funden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in
deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner indivi¬
duellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebens¬
äußerung geschaffen zu haben, also in meiner indivi¬
duellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen,
mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und ver¬
wirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären eben¬
so viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen¬
leuchtete ...
Meine Arbeit wäre freie Lebensäußerung, daher
Genuß des Lebens. Unter der Voraussetzung des Privat¬
eigentums ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite,
um zu leben, um mir die Mittel des Lebens zu ver¬
schaffen. Meine Arbeit ist nicht Leben ... In der
Arbeit wäre daher die Eigentümlichkeit meiner Indivi¬
dualität, weil mein individuelles Leben bejaht. Die
Arbeit wäre also wahres, tätiges Eigentum ...« [MEGA
I, 3 Exzerpte, S. 546 ff.]

121
ENGELS

Die Entstehung des Menschen :

»... von den ersten Tieren aus entwickelten sich, wesent¬


lich durch weitere Differenzierung, die zahllosen Klas¬
sen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten der
Tiere, zuletzt die Form, in der das Nervensystem zu
seiner vollsten Entwicklung kommt, die der Wirbel¬
tiere, und wieder zuletzt unter diesen das Wirbeltier,
in dem die Natur das Bewußtsein ihrer selbst erlangt —
der Mensch.« [Dialektik der Natur, S. 21]
»In Wahrheit ... ist es die Natur der Materie, zur
Entwicklung denkender Wesen fortzuschreiten, und
dies geschieht daher auch notwendig immer, wo die
Bedingungen (nicht notwendig überall und immer die¬
selben) dazu vorhanden.« [a.a.O., S. 221]

>Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affenc

»Vor mehreren hunderttausend Jahren ... lebte irgend¬


wo in der heißen Erdzone ... ein Geschlecht menschen¬
ähnlicher Affen von besonders hoher Entwicklung.
Darwin hat uns eine annähernde Beschreibung dieser
unsrer Vorfahren gegeben. Sie waren über und über
behaart, hatten Bärte und spitze Ohren und lebten in
Rudeln auf Bäumen. Wohl zunächst durch ihre Lebens¬
weise veranlaßt, die beim Klettern den Händen andre
Geschäfte zuweist als den Füßen, fingen diese Affen an,
auf ebner Erde sich der Beihilfe der Hände beim
Gehen zu entwöhnen und einen mehr und mehr auf¬
rechten Gang anzunehmen. Damit war der entscheidende
Schritt getan für den Übergang vom Affen zum Men¬
schen.« [Dialektik der Natur, S. 179]
»Wenn der aufrechte Gang bei unsern behaarten
122
Vorfahren zuerst Regel und mit der Zeit eine Not¬
wendigkeit werden sollte, so setzt dies voraus, daß den
Händen inzwischen mehr und mehr andre Tätigkeiten
zufielen ... Die Verrichtungen, denen unsre Vorfahren
im Übergang vom Affen zum Menschen im Lauf vieler
Jahrtausende allmählich ihre Hand anpassen lernten,
können ... anfangs nur sehr einfache gewesen sein. Die
niedrigsten W ilden ... stehen immer noch weit höher
als jene Übergangsgeschöpfe. Bis der erste Kiesel durch
Menschenhand zum Messer verarbeitet wurde, darüber
mögen Zeiträume verflossen sein, gegen die die uns
bekannte geschichtliche Zeit unbedeutend erscheint.
Aber der entscheidende Schritt war getan: Die Hand
war frei geworden und konnte sich nun immer neue
Geschicklichkeiten erwerben, und die damit erworbene
größere Biegsamkeit vererbte und vermehrte sich von
Geschlecht zu Geschlecht. So ist die Hand nicht nur das
Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt.« [a.a. O.,
S. 180 ff.]
Mit der Hand zusammen entwickeln sich — nach
Engels — sodann Kehlkopf und Sprache, Gehirn und
Sinnesorgane und endlich die strukturierte Gesellschaft:
»... was finden wir als den bezeichnenden Unterschied
zwischen Affenrudel und Menschengesellschaft? Die
Arbeit ... Die Arbeit fängt an mit der Verfertigung von
Werkzeugen. Und was sind die ältesten Werkzeuge, die
wir vorfinden? ... Werkzeuge der Jagd und des Fisch¬
fangs, erstere zugleich Waffen. Jagd und Fischfang aber
setzen den Übergang von der bloßen Pflanzennahrung
zum Mitgenuß des Fleisches voraus, und hier haben wir
wieder einen wesentlichen Schritt zur Menschwer¬
dung ...« [a.a.0., S. 185ff.]
»Dem Kopf, der Entwicklung und Tätigkeit des
Gehirns, wurde alles Verdienst an der rasch fort¬
schreitenden Zivilisation zugeschrieben; die Menschen

125
gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Denken zu
^erklären statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei aller¬
dings im Kopf iich widerspiegeln, zum Bewußtsein
kommen) — und so entstand mit der Zeit jene ideali¬
stische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang
der antiken Welt die Köpfe beherrscht.« [a.a.O., S. 188]

Mehr und mehr lernen die Menschen planmäßig auf


die Natur einzuwirken. Aber ihre Arbeit zeitigt je und je
auch höchst unerwünschte Nebenwirkungen: die Rodun¬
gen in Griechenland und Kleinasien sollten der Urbar¬
machung dienen und hatten die Verödung zur Folge,
ebenso die Abholzung der Südseite der Alpen durch die
Italiener. Die Natur rächte sich an den unsachgemäß
eingreifenden Menschen. Aber die Fortschritte der Natur-
Wissenschaft lehren die Menschheit solche Fehler mehr
und mehr zu vermeiden. So kommt es zu einer bewußten
Rückkehr zur Natur:

»Seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissen¬


schaft in diesem Jahrhundert werden wir mehr und mehr
in den Stand gesetzt, auch die entfernteren natürlichen
Nachwirkungen wenigstens unsrer gewöhnlichsten Pro¬
duktionshandlungen kennen und damit beherrschen zu
lernen. Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden
sich die Menschen wieder als eins mit der Natur nicht
nur fühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher
wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung
von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie,
Mensch und Natur, Seele und Leib, wie sie seit dem
Verfall des klassischen Altertums in Europa aufge¬
kommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung
erhalten hat.« [a.a.O., S. 191]

124
KARL KAUTSKY

Das Allgemeinmenschliche ist das Tierische am Menschen:

»Wir haben jetzt einen Überblick über die geistige


Beschaffenheit gewonnen, mit der das menschliche Ich
den Prozeß der geschichtlichen Entwicklung beginnt;
über die von seinen tierischen Vorfahren ererbten
Triebe und Bedürfnisse des Menschen. Wer der Mei¬
nung ist, die >ökonomische< Geschichtsauffassung gehe
von der Behauptung aus, daß der Mensch keine anderen
Antriebe seines Handelns kenne als ökonomische, wird
erstaunt gewesen sein, daß wir bei unserer Unter¬
suchung des ursprünglichen Trieblebens des Menschen
von ökonomischen Verhältnissen nur wenig und nur
dort gesprochen haben, wo wir es für notwendig fanden,
auf geschichtliche Erscheinungen einzugehen, um durch
eine Vergleichung mit diesen die aus dem tierischen
Stadium ererbten Triebe klarzulegen und die Keime zu
höheren Gestaltungen erkennen zu lassen, die in ihnen
schlummern.
Nicht bei der Untersuchung des a priori des Men¬
schen, sondern bei der Untersuchung seiner gesellschaft¬
lichen Weiterentwicklung bekommen wir es mit den
ökonomischen Verhältnissen zu tun.
So viel können wir jetzt schon sagen: das Ökono¬
mische ist nicht das allgemeine Menschliche. Es gehört
zu dem historisch Besonderen ...
Man hat der materialistischen Geschichtsauffassung
vorgeworfen, daß sie allgemein Menschliches nichtkenne,
nur historisch Besonderes. Das ist ein Irrtum. Sie hat
bloß das Allgemeinmenschhche vorausgesetzt, sich
nicht damit beschäftigt, weil sie eben nur eine Ge¬
schichtsauffassung ist und als solche allein das historisch
Besondere zu erforschen hat. Da man das aber vielfach

125
mißverstand, fühlte ich mich hier gedrängt, das All¬
gemeinmenschliche, das allem historischen Geschehen
zugrunde liegt, ausführlicher zu behandeln, allerdings
in einer Weise, die denjenigen wenig behagen wird, die
am meisten das Wort von dem Allgemeinmenschlichen
im Munde führen ... Das Allgemeinmenschliche, das
für uns im Grunde weiter nichts ist als das Tierische im
Menschen — alles nicht Tierische in ihm ist historisch
Besonderes ...« [Die materialistische Geschichtsauf¬
fassung, Berlin 1927, Bd. I, S. 591 f.]
»Das in Wirklichkeit Allgemeinmenschliche haben
wir nicht als ein einseitiges Begehren erkannt. Nichts
ist irriger als die Behauptung, die materialistische
Geschichtsauffassung beruhe auf der Annahme, der
Mensch werde nur von egoistischen Motiven geleitet.
Der Leser hat gesehen, wie sehr wir uns dessen bewußt
sind, daß zur Menschennatur nicht nur der Trieb der
Selbsterhaltung gehört, sondern auch geschlechtliche
Liebe, Ethik, die Freude am Schönen, sowie das Ver¬
langen nach Erkenntnis.
Und da der ganze Mensch in den geschichtlichen
Prozeß eingeht mit allen seinen Fähigkeiten, Trieben,
Bedürfnissen, so greifen sie auch alle in die geschicht¬
liche Entwicklung ein, wenn auch nicht alle in gleichem
Maße. Welche gewaltige Rolle hat die Brutpflege in der
Geschichte gespielt! Das Erbrecht ist eines ihrer Ergeb¬
nisse in einer höher entwickelten Gesellschaft. Wie sehr
hat es die Politik der Dynastien bestimmt! Aber nicht
bloß bei diesen, bei allen Klassen, auch den demokra¬
tischsten, bedeuten weitgesteckte politische und soziale
Ziele, >Ideale<, doch im Grunde nichts anderes als
besondere Formen der Brutpflege ...« [a.a.O., S. 392 f.]
Ähnliches sucht Kautsky sodann auch für die anderen,
dem Menschen angeborenen Triebe nachzuweisen. Für
den historischen Einfluß der Liebe nennt er den Trojani-
126
sehen Krieg, für die >Freude am Schönem Ludwigs XIV.
»maßlose Bauwutc, die Entstehung des gemünzten Geldes
und anderes mehr.

»Wir Anhänger der materialistischen Geschichtstheorie


sind keineswegs so einseitig, im Menschen bloß einen
Trieb wirksam zu sehen. Wir erkennen sehr wohl die
unendliche Mannigfaltigkeit des menschlichen Trieb¬
lebens. Aber auch seine große Gegensätzlichkeit ...«
[a.a.O., S. 395]
»Man meint oft, die Gesetze und Konventionen der
Gesellschaften schüfen alle menschliche Qual. Man
solle nur die Menschen ihren Trieben überlassen, die
würden ihnen schon den richtigen Weg weisen. Der
Mensch sei von Natur aus gut, und >der gute Mensch in
seinem dunklen Drange sei sich des rechten Weges
wohl bewußte Aller Anarchismus beruht auf diesem
Glauben.
Aber leider ist der Mensch von Natur aus nicht bloß
gut, d. h. sozial, sondern auch böse, d. h. von starken
Trieben der Selbsterhaltung und Begattung erfüllt, die
ihn leicht in Gegensatz zu manchem seiner Neben¬
menschen in der Gesellschaft bringen, wodurch sie zu
bösen Trieben werden ...
Nicht immer vermag bei einem Konflikt der Triebe
einer die anderen niederzuhalten. In diesem Falle fällt
die höchste Entscheidung einem Faktor zu, der neben
den Trieben und Instinkten frühzeitig auf das Handeln
der Tiere Einfluß gewinnt: die Erkenntnis der Um¬
welt ...« [a.a.O., S. 396]
»Die Triebe und viele der aus ihnen entspringenden
Bedürfnisse und Ziele sind angeboren, aber deshalb
nicht unwandelbar. In letzter Linie aus den Lebens¬
bedingungen des Organismus entsprossen, können sie
sich mit diesem ändern.
Wie sehr sie sich aber auch wandeln mögen, sie

127
können stets nur nächstliegende Ziele und Bedürfnisse
hervorbringen, die sich immer wieder von neuem
wiederholen, die aus dem Alltag hervorgehen.
Das Erkenntnisvermögen des Menschen erreicht da¬
gegen eine Höhe, die ihm einen weiteren Horizont ver¬
schafft, und ihm ermöglicht, über das Nächstliegende
hinwegzusehen. Damit wird es aus einem Diener der
Triebe bis zu einem gewissen, stets wachsenden Maße
ihr Herr. Er hat nun nicht mehr bloß die Mittel zu er¬
forschen, die zur Befriedigung der Instinkte und Triebe
in besonderen Fällen die zweckmäßigsten sind, es ver¬
mag den Menschen Ziele zu setzen, die höher sind, weiter
liegen als die vom bloßen Triebleben gegebenen.
Aber sosehr sich die Ideale den Wolken zu nähern
scheinen, ihre Basis bleibt doch auf der Erde. Sie werden
kraftlos, wenn sie nicht in einem starken Triebleben
wurzeln ...«[a.a.O., S. 599]

MAX ADLER

Der Begriff des vergesellschafteten Menschen:

»Es kommt viel darauf an, daß man diesen Begriff des
vergesellschafteten Menschen in seiner grundsätzlich
neuen Bedeutung festhalte, durch welche erst seit Marx
der Begriff der Gesellschaft und des sozialen Lebens so¬
wohl aus der Unbestimmtheit eines bloß geselligen
Wesens der Menschen wie aus den Spekulationen über
ihren Ursprung endgültig heraus gebracht wurde. Die
Vergesellschaftung führt den Charakter der mensch¬
lichen Gesellschaft ebensosehr aus der Vergeisterung
einer bloßen Idee wie aus der Vergröberung eines
animalischen Triebes, ebensosehr aus der Naivität einer
Vertragschließung wie aus der Brutalität einer Zwangs-

128
Vereinigung zurück auf eine große Tatsächlichkeit: auf
die Gesellschaftlichkeit der menschlichen Kräfte in dem
besonderen Sinne, daß sie nicht bloß erst durch ihr
Nebeneinander und Ineinander in der geschichtlichen
Entfaltung gesellschaftlich werden, sondern von vorn¬
herein schon in der individuellen Betätigung jedes ein¬
zelnen nur Funktionsweisen des Gattungsmäßigen sind.
Deshalb ist der eigentliche gesellschaftliche Standpunkt
auch erst dann erreicht und das menschliche Wesen
erst dann richtig erfaßt, wenn, wie Marx dies einmal
ausdrückt, der wirkliche individuelle Mensch >als indivi¬
dueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner
individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhält¬
nissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der
Mensch seine >forces propres < als gesellschaftliche Kräfte
erkannt und organisiert hat<. Diese Erkenntnis erlaubt
es nun, durch die Erforschung der besonderen Art und
Ursächlichkeit der gesellschaftlichen Kräfte in die
kausale Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens einzu¬
dringen. Und so ist es der Begriff der Vergesellschaftung
bei Marx, dessen exakter Inhalt es nun erst ermöglicht,
den durch das neuzeitliche Denken heraus gebildeten
Gegensatz von Natur und Gesellschaft in einer und der¬
selben wissenschaftlichen Grundauffassung zu ver¬
einen. Natur und Gesellschaft umfassen jetzt die kausale
Gesetzmäßigkeit des Geschehens im ganzen, erstere
bloß das körperliche Geschehen um und an dem
Menschen, letztere das bloß geistige Geschehen in und
durch den Menschen, wobei alles Körperliche, mag es
auch zur Gattung Mensch gehören, als das bloß Naturale,
und alles Geistige, mag es auch nur das Individuelle
betreffen, als das stets Soziale erkannt wird. So wird
erst mit Marx ein sozialwissenschaftlicher Standpunkt
möglich, der logisch gleichberechtigt neben den natur¬
wissenschaftlichen tritt und den Bereich der Wissen-

129
schaft derart auf das Doppelte ihres bisherigen Gebietes
erweitert ...« [Marx als Denker (1908), 5. vermehrte
Aufl. 1925, S. 47 f.]
»Was ist ... der Unterschied zwischen Vergesell¬
schaftung und Geselligkeit? Die Lehre, die davon aus¬
geht, daß der Mensch von Natur aus ein geselliges
Wesen ist, macht offenbar eine psychologische Charak¬
teristik des Menschen, die auf viele Menschen zutreffen
mag, zu einem absoluten Wesenscharakter der mensch¬
lichen Natur selbst. Sie nimmt damit eine spekulative
Voraussetzung zur Grundlage ihrer Anschauungen vom
gesellschaftlichen Leben und verfolgt dabei eine im we¬
sentlichen optimistische Meinung. Eine solche Anschau¬
ung schmeichelt sich leicht ein, denn man hört es gern,
daß die Menschen im Grunde eigentlich gut sind, zu¬
einander streben und die Geselligkeit der Vereinzelung
oder gar Entzweiung vorziehen, so daß letztere Zu¬
stände gleichsam als bloße Entartungen der Natur des
Menschen erscheinen.« [Lehrbuch der materialistischen
Geschichtsauffassung, Berlin 1930, Bd. I, S. 220 f.]
Adler verweist dann auf die gegensätzlichen Auffas¬
sungen von der geselligen und ungeselligen Natur des
Menschen bei Grotius auf der einen und Kant wie Hobbes
auf der anderen Seite und fährt fort:
»Aber wenn wir uns selber fragen, welcher Meinung
der beiden Philosophen wir uns eher anschließen
möchten, der Lehre von dem Lämmerdasein oder von
dem Wolfswesen der Menschen, so wird dem heutigen
Menschen innerhalb der Ausbeutungsverhältnisse der
kapitalistischen Gesellschaft und besonders nach den
Greueln des Weltkrieges recht sch werfallen, noch dem
Optimismus derer zu huldigen, welche unbedingt daran
festhalten: >der Mensch ist gut<. Andererseits werden
diejenigen, die diese Überzeugung haben, sich ... ihren
Glauben an die gute Natur des Menschen nicht rauben
130
lassen und fest darauf vertrauen, daß sie sich schließlich
doch noch durchsetzen wird. Wer von beiden hat nun
recht? Wir sehen sofort, daß wir hier auf das Gebiet der
Weltanschauung gekommen sind, der subjektiven Ein¬
stellung zum Menschen und seinem Wesen.
Je nachdem der eine es optimistisch oder der andere
es pessimistisch auffaßt ... wird er die eine oder die
andere Anschauung von der Natur des Menschen wahr¬
scheinlicher oder nicht finden. Auf dieser Grundlage
kann ... keine wissenschaftliche Erkenntnis aufgebaut
werden ...« [a.a.O., S. 221 f.]
»Dagegen macht nun gerade dies den Charakter des
Begriffs der Vergesellschaftung aus, daß er ein streng
objektiver Begriff ist, der gar nichts mit subjektiven
Auffassungen vom Wesen des Menschen ... zu tun hat.
Für den Begriff der Vergesellschaftung ist es nämlich
ganz gleichgültig, ob der Mensch von Natur aus gesellig
oder ungesellig, ob er mehr gutartig oder mehr bös¬
artig ist, da er jedenfalls dies alles nur in der Vergesell¬
schaftung sein kann. Nicht nur das gesellige Wesen,
sondern auch das ungesellige ist eine Form der Vergesell-
schaftung. Und ebenso ist nicht nur die freundliche und
liebevolle Beziehung der Menschen zueinander, sondern
ebenso auch ihr feindseliges Verhalten nur in der Ge¬
sellschaft möglich. Man kann nur in der Gesellschaft
ungesellig sein, und man kann auch nur gegen einen
anderen gut oder böse sein ...« [a.a. O., S. 222]
»Auch die Einsamkeit und die Menschenscheu ist nur
in der Vergesellschaftung möglich; man kann sich nicht
von der Gesellschaft trennen, man kann sich nur in ihr
vereinzeln. Aber auch der Einsiedler und der Menschen¬
feind bleiben, solange sie noch nicht pathologisch ent¬
artet sind, an die Gesellschaft gebunden, bloß daß sie
von ihr nichts wissen wollen. Eine wirkliche Isolierung
des Menschen beginnt erst dort, wo seine geistige Ver-

131
bundenheit mit anderen Menschen unterbrochen ist,
d. h. im Wahnsinn ...
Der Begriff der Vergesellschaftung drückt also diese
völlig objektive Grundtatsächlichkeit aus, die nichts
weiter enthält als die unaufhebbare Verbundenheit der
Menschen miteinander in ihrem Dasein. Mensch sein
heißt zugleich einer unter vielen Menschen sein. Und
ein anderes menschliches Dasein hat es nie gegeben und
könnte es nur in der phantastischen Vorstellung eines
letzten Menschen geben, der aber selbst noch das Ver¬
mächtnis aller anderen in seinem eigenen Schicksal zu
Grabe trüge. Diese objektive Verbundenheit der
Menschen ist an sich völlig wertfrei, und alle Wertungen
einer freundschaftlichen oder feindschaftlichen Ver¬
bundenheit sowie eines daraus hervorgehenden gut¬
artigen oder bösartigen Charakters der Menschen ent¬
falten sich erst innerhalb dieser Vergesellschaftung. Sie
sind Produkte und Formen derselben, die in ihrem
historischen Prozeß entstehen.
So ergibt sich nun, daß die geistige Natur des Men¬
schen gleichbedeutend ist mit seiner sozialen oder ver¬
gesellschafteten Natur und infolgedessen die geistige
Kausalität mit sozialer Kausalität. Und weiter folgt
daraus, daß, wenn in soziologischer Hinsicht vom
Menschen die Rede ist oder von menschlichem Wollen
und Handeln, damit immer der vergesellschaftete
Mensch gemeint ist, selbst wenn von seinen ganz in¬
dividuellen Mehlungen und Plänen ... ausgegangen
wird. Und ebenso bedeuten die Ausdrücke von einem
Naturgesetz der geschichtlichen Entwicklung oder von
einer Naturnotwendigkeit der ökonomischen Prozesse,
daß es sich dabei überall nicht um Naturgesetze und um
Naturnotwendigkeiten im Sinne der physischen Natur
handelt, sondern um Naturnotwendigkeiten der sozialen
Natur, also eben nicht um Naturprozesse, sondern um

152
/ ergesellschaftungsprozesse. Und alle diese Ausdrücke
besagen dasselbe: daß der Kausalprozeß auf dem Boden
der Vergesellschaftung eben ein geistiger Prozeß ist,
und daß somit überall in den Mittelpunkt der gesell¬
schaftlichen Notwendigkeiten der Mensch tritt, der
denkende, wollende und wertende Mensch, aber aller¬
dings nicht der aus freien Stücken in allen diesen Rich¬
tungen hin gleichsam schöpferisch waltende Mensch,
sondern in allen diesen Richtungen bestimmt durch die
äußeren Verhältnisse, unter denen er lebt und in allen
diesen Richtungen nicht der auf sich selbst gestellte
Einzelmensch, sondern der vergesellschaftete Mensch.«
[a.a.O., S. 225 ff.]

ROSENTAL-JUDIN

Sowjetmarxistische Psychologie:

»Psychologie ist die Wissenschaft vom psychischen


Leben als Reflex der objektiven Realität im mensch¬
lichen Gehirn. Die Formen dieses Reflexes sind ver¬
schieden: Sinnesreize, Sinneswahrnehmungen, Bilder,
Begriffe, Gefühle, Wille, Bewußtsein. Der Prozeß der
Widerspiegelung und seine Resultate drücken sich in
der Tätigkeit und im Verhalten des Menschen aus,
dessen individuelle Eigenschaften ebensosehr von an¬
geborenen Besonderheiten wie von der Einwirkung des
sozialen Milieus und vor allem der Erziehung abhängen
und sich in Bedürfnissen, Neigungen, Temperament,
Charakter, Fähigkeiten usw. ausdrücken.
... Die russischen revolutionären Demokraten des
19. Jahrhunderts und der von ihnen inspirierte be¬
rühmte Naturwissenschaftler Setschenow haben wesent¬
lich zur Entwicklung der Psychologie in der vormarxi¬
stischen Periode beigetragen. In seinem bedeutenden

155
Werk >Die Reflexe des Gehirns < hat Setschenow zum
ersten Male den Gedanken ausgesprochen, daß jede
psychische Aktivität ihrem Wesen nach Reflexcharakter
hat und die komplexen psychischen Akte wie Denken,
Wollen, Fühlen Gehirnreflexe sind. I. Pawlow, dem
Schüler Setschenows, verdanken wir die experimentelle
Ausarbeitung und Rechtfertigung der Theorie der
höheren Nerventätigkeit, die die Grundlage der materi¬
alistischen Psychologie bildet.
Marx und Engels haben in der Mitte des 19. Jahrhun¬
derts als erste die philosophischen Grundlagen einer
materialistischen Psychologie gelegt. Die wissenschaft¬
liche Psychologie, welche sich von den Prinzipien des
dialektischen und historischen Materialismus inspirieren
läßt und auf die Theorie von Pawlow stützt, betrachtet
die psychische Aktivität als die Eigenschaft einer hoch¬
gradig organisierten Materie, nämlich des Gehirns, eine
Eigenschaft, die im Laufe der Wechselwirkung zwi¬
schen lebenden Organismen und ihrer Umwelt aufge¬
taucht ist. Die Eigentümlichkeit des menschlichen
Geisteslebens ist der entscheidende Einfluß, den die
Geschichte der Gesellschaft und vor allem seine prak¬
tische Tätigkeit auf dessen Entwicklung ausübt.
Indem die objektive Welt durch die Sinnesorgane auf
das Gehirn des Menschen einwirkt, veranlaßt sie ihn zu
einer Aktivität, unter deren Einfluß sich die Wirklich¬
keit im Bewußtsein unter verschiedenen psychischen
Aspekten reflektiert. Die Reize, die aufs Gehirn ein¬
wirken, sind Signale der Wirklichkeit, die einen be¬
stimmten biologischen Sinn besitzen, zu der beim
Menschen noch eine soziale Bedeutung hinzukommt.
Im Verlauf der (Entwicklung) gesellschaftlichen Arbeit
ist auf einer bestimmten Stufe die menschliche Sprache
entstanden und hat sich in der Folge weiter entwickelt.
Die menschliche Sprache stellt — nach Pawlow — das
134
zweite Signalsystem dar und ist ein dem Menschen
eigentümliches Mittel, die Wirklichkeit zu signalisieren.
Das Wort ist ein mehrdeutiges Reizmittel, das alle
konkreten und realen Signale ersetzt. Das zweite
Signalsystem führte ein neues Prinzip in die höhere
Nerventätigkeit des Menschen ein; es war die not¬
wendige materielle Bedingung für die Entwicklung des
Denkens und des menschlichen Bewußtseins.
Unlösbar mit dem ersten Signalsystem verbunden,
vermittelt das zweite dem Menschen einen ungeheueren
Vorteil gegenüber den Tieren: die Fähigkeit, Phäno¬
mene zu verallgemeinern und vom Besonderen zu ab¬
strahieren.
Entstanden aus dem gesellschaftlichen Leben und
auftauchend im Zusammenhang mit der Arbeit, ist das
menschliche Bewußtsein, der Reflex seines sozialen
Sems, eine wirksame Macht, die sich unter vielfältigen
Aspekten der menschlichen Tätigkeit manifestiert. In¬
folge der großen revolutionären Veränderungen, die in
der Sowjetunion infolge des Aufbaus der sozialistischen
Gesellschaft entstanden sind, haben zahlreiche Ver¬
änderungen im Geistesleben der Sowjetbürger statt¬
gefunden. Die neuen sozialen Beziehungen, die von der
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreit
sind, waren die Ursache radikaler Veränderungen in der
Einstellung der Menschen gegenüber der Arbeit und
dem kollektiven Eigentum. Die wissenschaftliche
Psychologie studiert die Veränderung, die im Bewußt¬
sein der Menschen stattfindet und die Entstehung
der neuen Geisteshaltung besonders in der aufsteigen¬
den Generation. Sie sucht die Mittel und Methoden, die
zur harmonischen Entfaltung aller Begabungen und
Fälligkeiten jeder Person beitragen.« [Kleines Philoso¬
phisches Wörterbuch, Moskau 1955 (russ.)]
GESCHICHTSPHILOSOPHIE

Losgelöst von jener Verbindung mit dem Gedanken der


>verwirklichenden Aufhebung< der Philosophie, der das
Faszinierende an der Konzeption des jungen Marx ge¬
wesen war, stellt sich das IVIarxsche Geschichtsdenken als
>historischer Materialismus! dar. Freilich nicht gleich in
jenem dogmatischen Sinne, der für die Sowjetmarxisten
verbindlich wurde. Materialistisch an die Erkenntnis des
historischen Wandels herangehen, das bedeutet für Marx
und Engels zunächst nur, daß die realen sozialen Ver¬
hältnisse und die sie prägenden und von ihnen geprägten
Verhaltensweisen der Individuen und Klassen den Gang
der politischen und kulturellen Entwicklung entscheidend
bestimmen. Den Anstoß zur krassen Formulierung dieses
Gedankens gaben die extrem >idealistischen< Vorstel¬
lungen mancher Linkshegelianer, die durch eine bloße
Veränderung des Bewußtseins den Gang der Geschichte
zum Besseren zu lenken gedachten. Ihnen hält Marx den
berühmten Satz entgegen: >Es ist nicht das Bewußtsein
der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.!
Doch man darf diesen Satz nicht von dem anderen
trennen, in dem gesagt wird: >Die Theorie wird zur
revolutionären Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.!
Nichts, was die Menschen zum Handeln in historisch
relevantem Grade veranlaßt, erfolgt ohne Beteiligung
des Bewußtseins, der bewußten Zielsetzung, des begei¬
sternden Ideals. Aber es sind nicht diese Ideale, die die
Richtung der Entwicklung bestimmen und lenken,
sondern die aus den sozialen Situationen und Aufgaben
resultierenden Interessen und Leidenschaften, die sich
beim Menschen nur in die Gestalt von Idealen und
Vv unschvoi'stellungen kleiden. Der äußerst komplizierte

136
Gedanke, dessen Kern uns heute beinahe banal erscheint,
wurde in der Folge — wie alle ursprünglichen Marxschen
Ansätze — erheblich vergröbert und entstellt. Es konnte
sich tür Marx nicht darum handeln, ein Schema der
Interpretation der Geschichte aufzustellen, sondern nur
>einen Leitfaden< anzubieten, mit dessen Hilfe man
verwickelte Zusammenhänge aufklären und begreifen
kann: Warum sah das Resultat der bürgerlichen Fran¬
zösischen Revolution so ganz anders aus als die hoch¬
fliegenden Ziele der Revolutionäre? Weil die Menschen
für solche hohen Ideale zu klein waren, weil jedem
großen sittlichen Aufschwung immer wieder der
Katzenjammer folgt — so oder ähnlich hatte man bisher
geantwortet. Marx erklärt: weil der objektive geschicht¬
liche Sinn dieser Revolution allein in der Durchsetzung-
geeigneter rechtlicher und politischer Bedingungen für
die Entfaltung der kapitalistischen Gesellschaft lag und
nicht in der Errichtung eines idealen republikanischen
Tugendstaates. Die befeuernden Ideale der Frühphase
der revolutionären Bewegung waren unvermeidliche
Selbsttäuschungen, die jenem Augenblick der allgemeinen
Befreiung aller Stände vom Joch des Anden Regime ent¬
sprachen; der nüchterne Alltag des Thermidor und des
Napoleonischen Kaiserreiches war das objektive histori¬
sche Fazit. Mehr von dieser Revolution zu erwarten, war
>Ideologie<. Nach der Entlarvung dieses ideologischen
Charakters der demokratischen Ideale des siegreichen
Bürgertums noch an diesen Idealen festzuhalten, das
bedeutete auf der Seite des herrschenden Bürgertums
verlogene Apologetik, auf der des Kleinbürgertums und
des Proletariats lähmende Illusion. Die Ideen begleiten
nicht einfach nur als abhängige Variable den Gang der
sozialen und politischen Entwicklung, sie helfen oftmals,
ihn vorwärts zu treiben, wie man an diesem Beispiel
deutlich sehen kann; aber sie sind ohnmächtig, der
Entwicklung eine andere Richtung zu geben als die,
welche in den Tendenzen der Gesellschaft selbst objektiv
angelegt ist.

157
Meine Textauswahl beginnt mit drei charakteristischen
Stellen aus den Arbeiten der französischen Historiker, auf
die Marx selbst ausdrücklich hingewiesen hat. Zu ihnen
hätte man noch Auszüge aus den Schriften englischer
Nationalökonomen hinzufügen können, in denen gleich¬
falls die >Klassen< als einheitliche Handlungssubjekte an¬
genommen werden. Das IMuster, nach dem die IVlarxsche
Geschichtstheorie angelegt ist, liefert aber wiederum
Hegel. Sein Glaube an die >Vernunft in der Geschichte<,
seine Lehre von der >List der Vernunft<, die sich der
einzelnen Volksgeister und welthistorischen Individuen
zur Erreichung ihrer (objektiv vernünftigen) Ziele be¬
dient, ist von Marx in modifizierter Gestalt übernommen
worden. Nur daß an die Stelle des wesentlichen Ab¬
schlusses der Geschichte, den man zumindest aus man¬
chen Stellen bei Hegel deutlich herauslesen kann, bei
Marx die Erschließung eines noch ausstehenden künftigen
Endes tritt, daß die kontemplative Haltung einer aktivi-
stischen weicht und die spiritualistischen Begriffe (Welt¬
geist, Volksgeist usw.) durch soziologische (Gesellschaft,
Klassen usw.) ersetzt werden.

Die Themen, um die sich zumeist die Diskussion des


historischen Materialismus dreht, sind das Verhältnis von
Basis und Überbau, die Frage nach dem Charakter der
historischen Kausalität und der im Gang der Geschichte
enthaltenen Zielgerichtetheit, nach der Rolle und
Bedeutung des naturwissenschaftlichen und technischen
Fortschritts und — unter einem mehr historischen
Aspekt — nach dem Verhältnis der Marxschen zur
Hegelschen Geschichtstheorie. Die Nuancen und Diffe¬
renzen sind hier höchst mannigfaltig: starke Annäherung
von Naturgeschichte und Menschengeschichte bei dem
Darwinisten Kautsky, mechanistische und positivistische
Auffassung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung bei
Bucharin, hypothetische Teleologie bei Max Adler, An¬
näherung an Hegel bei Antonio Labriola, Georg Lukäcs,
Karl Korsch und teilweise bei Gramsci. Strikter >Materia-
lismus< bei Bucharin und Lenin, Versuche einer Kom-

158
bination mit idealistischen Elementen bei Jean Jaures.
Bloße Forschungshypothese bei Hyndman, Beifort Bax
und Eduard Bernstein, eine mehr oder weniger ab¬
solut gesetzte Theorie bei den meisten übrigen. Von
einer systematischen Unterteilung des Abschnitts in
>Orthodoxe<, >Revisionisten<, dogmatische und kritische
Marxisten wurde abgesehen, um nicht die individuelle
Ausprägung jedes einzelnen Denkers zu verwischen.
Labriola, Plechanow, Lenin, Martynow gelten im
sowjetmarxistischen Sinne (fast durchweg) als >orthodox<.
Max Adler und Otto Bauer sind als >Austromarxisten<
mit kantianisierenden Neigungen bekannt, Jean Jaures
durch seine Begeisterung für die klassische deutsche
Philosophie und ihren sittlichen Idealismus. Georg Lukäcs
und Karl Korsch gelten als >hegelianisierende Abweichler<,
und Antonio Gramsei ist zwar der ruhmreiche Begründer
der KPL, gilt aber doch der Orthodoxie des Sowjet¬
marxismus gleichfalls als >verdächtig< hegelnah.

Wegbereiter marxistischer Geschichtsphilosophie

FRANCOIS GUIZOT

»Der größte Teil der Schriftsteller, Gelehrten, Histori¬


ker oder Publizisten hat durch das Studium der politi¬
schen Einrichtungen versucht, den Zustand der Gesell¬
schaft, den Grad oder die Art ihrer Zivilisation zu er¬
kennen. Es wäre klüger, erst die Gesellschaft selbst zu
erforschen, um ihre politischen Einrichtungen zu
erkennen und zu verstehen. Institutionen sind Wir¬
kung, ehe sie Ursache werden; die Gesellschaft schafft
sie, ehe sie durch sie verändert wird; und anstatt in dem
System oder den Formen der Regierung zu suchen,

139
welches der Zustand eines Volkes sei, muß man vor
allem den Zustand des Volkes untersuchen, um zu
wissen, welcher Art die Regierung sein müsse, welcher
Art sie sein könne ... Die Gesellschaft, ihre Zusammen¬
setzung, die Lebensweise der einzelnen Menschen ent¬
sprechend ihrer sozialen Lage, die Beziehungen der ver¬
schiedenen Klassen von Individuen, kurz, die Lebens¬
weise der Menschen — das ist ganz gewiß die erste
Frage, die die Aufmerksamkeit des Historikers bean¬
sprucht, der das Leben der Völker erforschen will, und
des Publizisten, der wissen will, wie sie regiert wurden.«
[Essais sur Vhistoire de France (1821), Paris 1860,
S. 73 ff.]
»Um die politischen Einrichtungen zu begreifen, muß
man die verschiedenen in der Gesellschaft bestehenden
Schichten und ihre gegenseitigen Beziehungen unter¬
suchen. Um diese verschiedenen Schichten zu begreifen,
muß man die Natur der Bodenverhältnisse kennen.«
[a.a.O., S. 75ff]

AUGUSTIN THIERRY

»Eine ganz eigenartige Erscheinung ist es, mit welcher


Hartnäckigkeit die Geschichtsschreiber den Volksmassen
niemals Initiative und Ideen zuerkennen. Wenn ein
ganzes Volk aus einem Land in das andere wandert und
sich darin ansiedelt, so beschreiben die Chronisten und
Dichter dieses Ereignis immer so, als ob irgendein Held
den Einfall gehabt hätte, einen neuen Staat zu gründen,
um seinen Namen berühmt zu machen; wenn neue
Gewohnheiten entstehen, so kommt es ganz bestimmt so
heraus, daß irgendein Gesetzgeber sie sich ausgedacht
und ihre Annahme erzwungen hat; wenn ein neuer
Staat entsteht, so hat sicherlich irgendein Fürst ihn
gegründet. Das \'olk und die Bürger aber sind immer
140
nur die Hülle des Gedankens eines einzelnen Men¬
schen ...<< [Dix ans d’dtudes historiques, Den Haag
1835, S. 348]
»Wollen Sie ganz genau erfahren, wer eine gegebene
Einrichtung geschaffen hat, wer ein gegebenes gesell¬
schaftliches Unternehmen ausgedacht hat? Dann stellen
Sie klar, wer diese Einrichtung wirklich brauchte — bei
ihm mußte der erste Gedanke daran entstehen, von
ihm mußte der Wille ausgehen, in dieser Richtung zu
wirken; er mußte der Hauptbeteiligte zur Verwirk¬
lichung desselben sein. Is fecit cui prodest, dieses Axiom
ist in gleicher Weise sowohl in der Geschichte als auch
in der Rechtsprechung anwendbar ...« [a.a.O., S. 348]
»Jeder Grundbesitzer, dessen Vorfahren ehedem bei
dem Einfall des Normannenheeres beteiligt waren, ver¬
ließ seine Bürger, um sich ins Lager des Königs zu be¬
geben (in der engl. Revolution des 17. Jh.) und dort eine
Kommandostelle einzunehmen, die ihm auf Grund
seines Titels zustand. Die Einwohner der Städte und
Häfen strömten scharenweise ins gegnerische Lager.
Man konnte sagen, daß die Sammellosungen für die
zwei Heere auf der einen Seite: Müßiggang und Macht
und auf der anderen Seite: Arbeit und Freiheit waren.
Denn die müßigen Menschen, die Menschen, die im
Leben nur eine Beschäftigung schätzten: genießen
ohne zu arbeiten, sie alle, zu welcher Kaste sie auch
gehörten, stießen zu den Heeren des Königs, um mit
ihnen zusammen die gemeinsamen Interessen zu ver¬
teidigen ; aber die Familien aus der Kaste der früheren
Sieger, die Gewerbe angefangen hatten, vereinigten sich
mit den Heeren der Gemeinden.« [a.a.O., S. 91 ff.]
»Der Krieg wurde auf beiden Seiten im Namen dieser
positiven Interessen geführt. Alles übrige war nur
Schein, diente nur als Vorwand. Die in den Reihen der
Untertanen marschierten, waren meistens Presby-

141
terianer, d. h. sie duldeten auf religiösem Gebiet in
bezug auf sich keine Unterdrückung. Die im entgegen¬
gesetzten Lager kämpften, waren Anhänger der
Bischöfe und des Papstes, denn sogar in den Formen der
Religion suchten sie vor allem die Macht, die sie nutzen,
und Steuern, die sie aus den Menschen herauspressen
könnten.« [a.a.O., S. 92]

FRANCOIS-AUGUSTE-MARIE MIGNET

»Die herrschenden Interessen bestimmen den Gang der


sozialen Bewegung. Diese Bewegung geht durch alle ihr
entgegenstehenden Hindernisse hindurch auf ihr Ziel
zu, sie hört auf, wenn sie ihr Ziel erreicht hat, und wird
durch eine andere abgelöst, die zunächst ganz unmerk¬
lich vor sich geht und sich erst dann bemerkbar macht,
wenn sie mächtiger wird. Das war der Gang der Feudal¬
ordnung. Dieser Ordnung bedurfte die Gesellschaft, bis
sie sich durchgesetzt hatte — das war ihre erste Periode;
dann existierte sie faktisch, hatte aber aufgehört, not¬
wendig zu sein — zweite Periode. Und dies führte dazu,
daß sie aufhörte, Faktum zu sein.« [De la Feodalite,
S. 77 f.]
»Die aristokratischen Klassen hatten (in der Konsti¬
tuante) ... ein Interesse, welches dem der National¬
partei entgegengesetzt war. Auch standen der Adel und
die hohe Geistlichkeit, welche die rechte Seite in der
Versammlung bildeten, im beständigen Widerspruch
zu ihr, ausgenommen an einigen Tagen allgemeiner
Begeisterung. Diese mit der Revolution Unzufriedenen,
welche sie weder durch ihr Opfer verhindern, noch durch
ihren Beitritt aufzuhalten verstanden, kämpften syste¬
matisch gegen jede ihrer Reformen.« [Histoire de la
Revolution Francaise, T. I, S. 194]
142
»Die Verfassung des Jahres 1791 war das Werk des
Mittelstandes, damals des stärksten; denn wie man
weiß, bemächtigt sich die Gewalt, welche herrscht,
stets der Institutionen. Der 10. August war die Er¬
hebung der Menge gegen die Mittelklasse und gegen
den verfassungsmäßigen Thron, wie der 14. Juli der
Aufstand der Mittelklasse gegen die privilegierten
Stände und die absolute Macht der Krone gewesen war. <<
[a.a.O., S. 210, 290]

HEGEL

Grundzüge der Geschichtsphilosophie:

»Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt,


ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die
Vernunft die Wdt beherrsche, daß es also auch in der
Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Diese Über¬
zeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in An¬
sehung der Geschichte als solcher überhaupt; in der
Philosophie ist dies keine Voraussetzung. Durch die
spekulative Erkenntnis in ihr wird es erwiesen, daß die
Vernunft ... die Substanz wie die unendliche Macht,
sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und
geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betäti¬
gung dieses ihres Inhalts ist.« [Vorlesungen über die
Philosophie der Geschichte, »Werke«, Band XI, S. 54f.]
»Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu ge¬
winnen, daß das von der ewigen Weisheit Bezweckte,
wie auf dem Boden der Natur, so auf dem Boden des in
der Welt wirklichen und tätigen Geistes, herausge¬
kommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine
Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz
metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten,
abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in

145
der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen
versöhnt werden sollte.« [a.a.O., S. 42]
Die Weltgeschichte geht >auf dem geistigen Boden <
vor (S. 45), es ist also zunächst die >Natur des Geistes< zu
entwickeln. »Die Natur des Geistes läßt sich durch den
vollkommenen Gegensatz desselben erkennen. Wie die
Substanz der Materie die Schwere ist, so müssen wir
sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die
Freiheit« [S. 44]. »Die Materie hat ihre Substanz außer
ihr; der Geist ist das Bei-sich-selbst-sein. Dies eben ist die
Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich
mich auf ein Anderes, das ich nicht bin; ich kann nicht
sein ohne ein Äußeres; frei bin ich, wenn ich bei mir
selbst bin.« [a.a.O., S. 44]

Das Wesen der Weltgeschichte:

»... von der Weltgeschichte kann gesagt werden, daß sie


die Darstellung des Geistes ist, wie er sich das Wissen
dessen, was er an sich ist, erarbeitet, und wie der Keim
die ganze Natur des Baumes ... in sich trägt, so ent¬
halten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtuali-
ter die ganze Geschichte.« [a.a.O., S. 45] »Die Welt¬
geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Frei¬
heit — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit
zu erkennen haben.« [a.a.O., S. 46] »Es ist also als ...
der Endzweck der Weit, das Bewußtsein des Geistes von
seiner Freiheit, und eben damit die Wirklichkeit seiner
Frei'/iett überhaupt angegeben worden.. .«[a.a.O.,S.46 f.]

Mittel zur Verwirklichung des Zweckes der Welt¬


geschichte (welthistorische Individuen):

Sie vollbringen mit >Interesse und Leidenschaft! die


Aufgaben, die der >Weltgeist< (Gott) auf die >Tages-
ordnung< des historischen Progresses gesetzt hat.

144
»Dies sind die großen Menschen in der Geschichte,
deren eigne partikulare Zwecke das Substantielle ent¬
halten, welches Wille des Weltgeistes ist. Sie sind inso¬
fern Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren
Beruf nicht bloß aus dem ruhigen angeordneten, durch
das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge
geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt
verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein
gediehen ist, aus dem innern Geiste, der noch unter¬
irdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale
pocht und sie sprengt, weil er ein anderer Kern als der
Kern dieser Schale ist...« [a. a. O., S. 60]
»Aber im Gange der Weltgeschichte selbst, als noch
im Fortschreiten begriffenen Gange, ist der reine letzte
Zweck der Geschichte noch nicht der Inhalt des Bedürf¬
nisses und Interesses, und indem dieses bewußtlos dar¬
über ist, ist das Allgemeine dennoch in den besonderen
Zwecken und vollbringt sich durch dieselben.«
[a.a.O., S. 54ff.]
»Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die
Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was
durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden
leidet. Denn es ist eine Erscheinung, von der ein Teil
nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist
meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Indivi¬
duen werden geopfert und preisgegeben. Die Idee be¬
zahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit
nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der
Individuen.« [ a.a.O. S. 65]

Das Material, in dem sich der Zweck der Welt realisiert


(der Staat):

»In der Weltgeschichte ist nur von Völkern die Rede,


welche einen Staat bilden. Denn man muß wissen, daß

145
ein solcher die Realisation der Freiheit, d. i. des abso¬
luten Endzwecks ist, daß er um sein selbst willen ist;
man muß ferner wissen, daß aller Wert, den der Mensch
hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den
Staat hat. Denn seine geistige Wirklichkeit ist, daß ihm
als Wissenden sein Wesen, das Vernünftige gegen¬
ständlich sei, daß es objektives, unmittelbares Dasein für
ihn habe; so nur ist er Bewußtsein, so nur ist er in der
Sitte, dem rechtlichen und sittlichen Staatsleben. Denn
das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjek¬
tiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den
Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestim¬
mungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf
Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte
Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die
Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genüsse
dieser Objektivität lebt. Denn das Gesetz ist die Objek¬
tivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und
nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei, denn
er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und frei.«
[a.a.O., S. 71]

AUGUST VON CIESKOWSKI

Der Übergang von der Kontemplation zur Praxis:

»Die Menschheit ist (nach Hegel) zur Reife gelangt,


wobei ihre eigenen Bestimmungen ganz identisch mit
dem göttlichen Plane der Vorsehung werden, und ...
insofern die weltgeschichtlichen Individuen ... nicht mehr
blinde Werkzeuge, sei es nun des Zufalls oder der Not¬
wendigkeit, sondern bewußte Werkmeister ihrer eignen
Freiheit sein sollen.« [Prolegomena zur Historiosophie,
1858, S. 20]
»Wir kündigen also der Philosophie als solcher eine
146
neue Epoche an, wo sie, wenn auch ihr eigentlichstes
Element und ihren Standpunkt verlassend, nichtsdesto¬
weniger ein Fortschritt des Geistes wird ... so muß sich
die Philosophie ... künftig gefallen lassen, hauptsächlich
angewandt zu werden, und so wie die Poesie der Kunst
in die Prosa des Denkens hinübertrat, so muß die
Philosophie aus der Höhe der Theorie in die Gefilde der
Praxis herabsteigen. Die praktische Philosophie, oder
eigentlicher gesagt, die Philosophie der Praxis — die
konkreteste Einwirkung auf das Lehen und die sozialen
Verhältnisse, die Entwicklung der Wahrheit in der kon¬
kreten Tätigkeit —, dies ist das künftige Los der Philo¬
sophie überhaupt.« [a.a.0., S. 128f.]

MOSES HESS

Aufruf zur Philosophie der Tat:

»Kann die Philosophie nicht mehr zum Dogmatismus


zurückkehren, so muß sie, um Positives zu erringen,
über sich selbst hinaus zur Tat fortschreiten.
Die Philosophie der Tat unterscheidet sich von der
bisherigen Philosophie der Geschichte dadurch, daß sie
nicht mehr bloß Vergangenheit und Gegenwart, sondern
mit diesen beiden Faktoren und aus ihnen heraus die
Zukunft in den Bereich der Spekulation zieht ...« [Die
europäische Triarchie, 1841, S. 24]
»So wenig als wir z. B. einen Baum schaffen können,
weil wir seinen Begriff in uns haben, ebensowenig ist
die Hegelsche Philosophie imstande, eine geschicht¬
liche Tat zu erzeugen. Was Hegel >Philosophie des
objektiven Geistes< nennt, ist nur das begriffene Da¬
seiende oder Dagewesene, nicht das darzustellende
geschichtliche Objekt. Der >objektive Geist< Hegels

147
unterscheidet sich nur formal von seinem subjektivem.
Wesentlich sind beide zusammen, nach Hegels eigenem
Ausdrucke nur die >Schädelstätte des absoluten Geistes<.
Die Philosophie der Tat ist ein lebensfähiger Keim der
Zukunft, wohingegen Hegels >objektiver< Geist pure
Idee ist und bleibt. Napoleon hatte recht, wenn er die
Deutschen >Ideologen< schimpfte. Eine Philosophie der
Geschichte hat, indem sie, wie die Hegelsche, nur das
Vergangene, das Daseiende als vernünftig zu erkennen
sich bemüht, ihre Aufgabe nur halb verstanden. Zur
Erkenntnis der Geschichte gehört wesentlich dieses:
aus der Vergangenheit und Gegenwart, aus einem
Gewesenen -und Daseienden, aus diesen beiden bekann¬
ten Größen eine unbekannte dritte, die Zukunft, das
Werdende zu folgern. So gestellt, ist die Aufgabe der
Geschichtsphilosophie eine würdige, und mit der
Lösung dieser Aufgabe wird die Philosophie der
Geschichte Philosophie der Tat, wie die Geschichte
selber eine durchaus providentielle, sittliche, heilige
wird — nicht aber, weil wir den Geist als Wunder¬
täter, sondern weil wir umgekehrt die Wundertat als
Geistestat erkennen ...« [a.a.O., S. 17f.]

Marxistische Geschichtsphilosophie

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS

Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie:

»Wir treten ... nicht der Welt doktrinär mit einem


neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier
lenie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzi-
148
pien der Weit neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß
ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir
wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir
zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das
Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß,
wenn sie auch nicht will. Die Reform des Bewußtseins
besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein
innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich
selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr
erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem
bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion
der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen
in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.
Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußt¬
seins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung
des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete
es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann
zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache
besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um
sie wirklich zu besitzen. Es vdrd sich zeigen, daß es sich
nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Ver¬
gangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Voll¬
ziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich
endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit
beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit
zustande bringt.« [Marx an Rüge, Kreuznach, Sep¬
tember 1845, »Deutsch-Französische Jahrbücher«, Pa¬
ris 1844; zit. nach Marx/Engels Werke Bd. I, S.
545 ff.]
»Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen
keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem
oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt
sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Ver-
hältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter
unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Be-

149
wegung ...« [Marx/Engels Kommunistisches Manifest
(1848), II Proletarier und Kommunisten]
»Die’ Philosophen haben die Welt nur verschieden
interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«
[Marx XI. Feuerbachthese, Brüssel, Frühjahr 1845]

Prinzipien der Marxschen Geschichtsbetrachtung:

»... Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die


Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von
zwei Seiten aus betrachtet in die Geschichte der Natur
und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden.
Beide Seiten sind indes von der Zeit nicht zu trennen;
solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte
der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.
Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissen¬
schaft, geht uns hier nichts an; auf die Geschichte der
Menschen werden wir indes einzugehen haben, da fast
die ganze Ideologie sich auf eine gänzliche Abstraktion
von ihr reduziert. Die Ideologie selbst ist nur eine der
Seiten dieser Geschichte.« [Die deutsche Ideologie, MEGA,
Erste Abteilung Bd. V, S. 567 f, (Textvarianten)]
Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind
keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche
Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung
abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen,
ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen,
sowohl die Vorgefundenen wie die durch ihre eigene
Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf
rein empirischem Wege konstatierbar.
Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist
natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Indivi¬
duen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also
die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr
dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir

150
können hier natürlich weder auf die physische Be¬
schaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den
Menschen Vorgefundenen Naturbedingungen, die geo¬
logischen, oro-hydrographisclien, klimatischen und
anderen Verhältnisse eingehen. Alle Geschichtsschrei¬
bung muß von diesen natürlichen Grundlagen und
ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die
Aktion der Menschen aus gehen.
Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch
die Religion, durch, was man sonst will, von den Tieren
unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den
Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre
Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre
körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Men¬
schen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie
indirekt ihr materielles Leben selbst.
Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel
produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der
Vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel
selbst ab.
Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der
Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der
physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr
schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Indivi¬
duen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine
bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen
ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zu¬
sammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie
produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was
die Individuen also sind, das hängt ab von den materiel¬
len Bedingungen ihrer Produktion.
Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung
der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr
der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses
Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.

151
Die Tatsache also ist die: Bestimmte Individuen, die
auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese
bestimmten gesellschaftlichen und politischen Ver¬
hältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in
jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesell¬
schaftlichen und politischen Gliederung mit der Produk¬
tion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekula¬
tion aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und
der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß be¬
stimmter Individuen hervor, aber dieser Individuen
nicht, wie sie in der eigenen oder fremden Vorstellung
erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d. h.
wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter
bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unab-
hängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen
tätig sind.
Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen,
sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur
Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über
ihre eigene Beschaffenheit. Es ist einleuchtend, daß in
allen diesen Fällen diese Vorstellungen der — wirkliche
oder illusorische — bewußte Ausdruck ihrer wirklichen
Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres
Verkehrs, ihres gesellschaftlichen und politischen —
Verhaltens sind. Die entgegengesetzte Annahme ist nur
dann möglich, wenn man außer dem Geist der wirk¬
lichen, materiell bedingten Individuen noch einen
aparten Geist voraussetzt. Ist der bewußte Ausdruck der
wirklichen Verhältnisse dieser Individuen illusorisch,
stellen sie in ihren Vorstellungen ihre Wirklichkeit auf
den Kopf, so ist dies wiederum eine Folge ihrer bor¬
nierten Betätigungsweise und ihrer daraus entsprin¬
genden bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des
Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in

152
die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr
der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vor¬
stellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen
erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiel¬
len Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in
der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der
Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt,
gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer
Vorstellungen, Ideen etc. etc., aber die wirklichen,
wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine
bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des
denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen
weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann
nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das
Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.
Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre
Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf
gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr
aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die
Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus
ihrem unmittelbar physischen. [a.a.O., S. 10-15]
»Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß
Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich
selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten
allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes,
sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhält¬
nissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem
Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahr¬
hunderts, unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft
zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürger¬
lichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu
suchen sei. Die Erforschung der letztem, die ich in Paris
begann, setzte ich in Brüssel fort. Das allgemeine
Resultat, das sich mir ergab, und, einmal gewonnen,
meinem Studium zum Leitfaden diente, kann kurz so

155
formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produk¬
tion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, not¬
wendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse
ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Ent¬
wicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte ent¬
sprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhält¬
nisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft,
die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politi¬
scher Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesell¬
schaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Pro¬
duktionsweise des materiellen Lebens bedingt den
sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß über¬
haupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das
ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein,
das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe
ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktiv¬
kräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vor¬
handenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein
juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsver¬
hältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten.
Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen
diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt
dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Ver¬
änderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der
ganze ungeheuere Überbau langsamer oder rascher um.
In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets
unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissen¬
schaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung der
ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristi¬
schen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philo¬
sophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die
Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn aus¬
fechten. So wenig man das, was ein Individuum ist,
nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso¬
wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus
154
ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr
dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen
Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell¬
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhält¬
nissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie
unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die
sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsver¬
hältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen
Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten
Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt
sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen
kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden,
daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiel¬
len Bedingungen der Lösung schon vorhanden oder
wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In
großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und
modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive
Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation be¬
zeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsver¬
hältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesell¬
schaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht
im Sinne von individuellem Antagonismus, sondern ein
aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der
Individuen hervorwachsender Antagonismus, aber die
im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft sich entwik-
kelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die mate¬
riellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonis¬
mus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt da¬
her die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft
ab.« [Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Öko¬
nomie (1859); zit. nach der Neuausgabe, Ost-Berlin 1947,
S. 12 ff]
»Was ist die Gesellschaft, welches immer ihre Form
sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der
Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene

155
Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie
einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktiv¬
kräfte der Menschen,und Sie erhalten eine entsprechende
Form des Verkehrs und der Konsumtion. Setzen Sie be¬
stimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des
Verkehrs und der Konsumtion, und Sie erhalten eine
entsprechende Form sozialer Konstitution, eine ent¬
sprechende Organisation der Familie, der Stände oder
der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende bürger¬
liche Gesellschaft. Setzen Sie eine solche Gesellschaft
und Sie erhalten einen entsprechenden politischen Zu¬
stand, der nur der offizielle Ausdruck dieser Gesellschaft
ist ... Man braucht nicht hinzuzufügen, daß die
Menschen nicht frei über ihre Produktivkräfte — die
Basis ihrer ganzen Geschichte — verfügen; denn jede
Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt
einer früheren Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also
das Resultat der angewandten Energie der Menschen,
doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Um¬
stände, in welche die Menschen sich versetzt finden,
durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die
Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht
schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Genera¬
tion ist.
Dank der einfachen Tatsache, daß jede nachfolgende
Generation von der vorhergehenden Generation er¬
worbene Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Roh¬
material für neue Produktion dienen, entsteht ein Zu¬
sammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht
die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Ge¬
schichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte
der Menschen und infolgedessen ihre sozialen Beziehun¬
gen gewachsen sind. Die notwendige Folge: Die gesell¬
schaftliche Geschichte der Menschen ist stets nur die
Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob die
156
Menschen sich dessen bewußt sind oder nicht. Ihre
niater'iellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Ver¬
hältnisse. Diese materiellen Verhältnisse sind nichts
andres als die notwendigen Formen, in denen ihre
materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert.»
[Marx am 28. 12. 1846 an Annenkow, aus dem Franz,
übersetzt; zit. nach Marx/Engels Ausgewählte Briefe,
Ost-Berlin 1955, S. 42ff.]

Das Verhältnis von Basis und Überbau:

»Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die


ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben
Marx und ich teilweise verschulden müssen. Wir hatten
den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete
Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit
und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung
beteiligten Momente zu ihrem Rechte kommen zu
lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen
Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam,
änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich.
Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine
neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und
ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die
Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht
immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem
der neueren >Marxisten< nicht ersparen, und es ist dann
auch wunderbares Zeug geleistet worden.« [Engels an
J. Bloch, London, den 21. 9. 1890; Marx/Engels Ausge¬
wählte Briefe, Ost-Berlin 1953, S. 504]
»Unter den ökonomischen Verhältnissen, die wir als
bestimmende Basis der Geschichte der Gesellschaft an-
sehen, verstehen wir die Art und Weise, worin die
Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebens¬
unterhalt produzieren und die Produkte untereinander

157
austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht). Also
die gesamte Technik der Produktion und des Transports
ist da einbegriffen. Diese Technik bestimmt nach unserer
Auffassung auch die Art und Weise des Austauschs,
weiterhin der Verteilung der Produkte und damit, nach
der Auflösung der Gentilgesellschaft, auch die Ein¬
teilung in Klassen, damit die Herrschafts- und Knecht¬
schaftsverhältnisse, damit Staat, Politik, Recht etc.
Ferner sind einbegriffen unter den ökonomischen Ver¬
hältnissen die geographische Grundlage, worauf diese
sich abspielen, und die tatsächlich überlieferten Reste
früherer ökonomischer Entwicklungsstufen, die sich
forterhalten haben ... natürlich auch das diese Gesell¬
schaftsform nach außen hin umgebende Milieu ...«
[Engels an Starkenburg am 25. 1. 1895, a. a. O., S. 559]
»Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen,
sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen
abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir
finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten auf¬
weist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve.
Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so
werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode
und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese
Achse der ökonomischen Entwicklung annähernd paral¬
lel läuft.« [a.a.O., S. 561]

Der ideologische (kulturelle) Überbau:

»Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder


Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse,
welche die herrschende materielle Macht der Gesell¬
schaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.
Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion
zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über
die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zu-
158
gleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die
Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen
sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als
der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Ver¬
hältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse
zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer
Herrschaft.« [Marx/Engels Deutsche Ideologie, S. 44]
»Dieselben Menschen, welche die sozialen Verhält¬
nisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise ge¬
stalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die
Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhält¬
nissen.« [Marx Elend der Philosophie; zit. nach Marx/
Engels Werke, Bd. IV, S. 151]
»Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf
den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein
ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich ge¬
stalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und
Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und ge¬
staltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und
aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen.
Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und
Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die
eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangs¬
punkt seines Handelns bildeten. -—- So haben die Tories
in England sich lange eingebildet, daß sie für das
Königtum, die Kirche und die Schönheiten der alt¬
englischen Verfassung schwärmten, bis der Tag der
Gefahr ihnen das Geständnis entriß, daß sie nur für die
Grundrente schwärmten.« [Marx, Der 18. Brumaire des
Louis Bonaparte (1859), Ost-Berlin 1946, S. 38]
»Noch höhere, d. h. noch mehr von der materiellen
ökonomischen Grundlage sich entfernende Ideologien
nehmen die Form der Philosophie und der Religion an.
Hier wird der Zusammenhang der Vorstellungen mit
ihren materiellen Daseinsbedingungen immer ver-

159
wickelter, mehr durch Zwischenglieder verdunkelt.
Aber er existiert. Wie die ganze Renaissancezeit, seit
Mitte des 15. Jahrhunderts, ein wesentliches Produkt
der Städte, also des Bürgertums war, so auch die seitdem
neu erwachte Philosophie; ihr Inhalt war wesentlich
nur der philosophische Ausdruck der der Entwicklung
des Klein- und Mittelbürgertums zur großen Bour¬
geoisie entsprechenden Gedanken.« [Engels Ludwig
Feuerbach, S. 48]
»Wenn wir nun aber sehen, daß die drei Klassen der
modernen Gesellschaft, die Feudalaristokratie, die
Bourgeoisie und das Proletariat, jede ihre besondere
Moral haben, so können wir daraus nur den Schluß
ziehen, daß die Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre
sittlichen Anschauungen in letzter Instanz aus den
praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre
Klassenlage begründet ist, aus den ökonomischen Ver¬
hältnissen, in denen sie produzieren und austauschen.«
[Engels Anti-Dühring, S. 113]

KARL KAUTSKY

Verhältnis von Unterbau und Überbau:

»Also das Wort vom ideologischen Überbau, dem die


Ökonomische Struktur als materieller Unterbau gegen¬
ubergestellt wird, ist nicht buchstäblich zu nehmen.
an darf sich aber auch nicht, wie das öfter ge-

bim^’ ?° die Sache 50 ^stellen, als


e er Unterbau bloß aus materiellen Dingen

dlrÜü t^Tgen’ Rohs,»ffen. Eisenbahnen und


“wiü t uberbaU °ß aus wesenl°sm Gedanken.
• if enJ3ereits darauf hingewiesen, daß in den
>ma enehen Produktivkräften< nicht bloß Stoffe (sowie
160
Kräfte) stecken, die die Natur liefert, sondern auch
geistige Arbeit, die jene materiellen Reichtümer in der
Natur und die Art ihrer Nutzbarmachung entdeckt.
Der ganze gesellschaftliche Reichtum, über den die
Menschheit verfügt, und alle die Produktivkräfte, die
ihr zu Gebote stehen, über das Ausmaß dessen hinaus,
was sie schon im tierischen Zustand beherrschte, ist der
Entwicklung ihres Wissens zuzuschreiben. Und in jedem
gegebenen Moment ist der Reichtum der Gesellschaft
viel mehr bestimmt durch die Höhe ihres Wissens, ihrer
geistigen Qualitäten, als durch die Menge von Dingen,
die zu ihrem Gebrauch vorhanden sind.« [Materiali¬
stische Geschichtsauffassung, Bd. I, S. 815]
»Gilt schon von den materiellen Produktivkräften,
daß sie zum großen Teil geistiger Art sind, so gilt das
erst recht von den Produktionsverhältnissen, welche die
Menschen untereinander, der jeweiligen Eigenart ihrer
Produktivkräfte entsprechend, eingehen. Es gehört zu
den Großtaten der Marxschen Ökonomie, daß sie hinter
den Dingen, welche die gesellschaftlichen, geistigen
Beziehungen der Menschen untereinander vermitteln,
diese Beziehungen selbst erblickt und den Fetisch¬
charakter < der Ware enthüllt.
Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse, die
>reale Basis<, worauf sich ein juristischer und politischer
Überbau und bestimmte gesellschaftliche Bewußtseins¬
formen aufbauen, ist also keineswegs bloß '»materieller<
Art, d. h. aus materiellen Dingen der Außenwelt ge¬
bildet, sondern sehr stark von geistigen Faktoren, Bedürf¬
nissen und Kenntnissen der Menschen bestimmt. Merk¬
würdigerweise nennt man diese geistigen Faktoren
materielle, wenn sie im Bereich der Produktion auf-
treten. Jegliches Interesse, das der Mensch empfindet,
ist geistiger Art. Aber seine ökonomischen Interessen
gelten als >materielle<.« [a. a.O., S. 814]

161
»Die materielle Basis ist also stark geistig durchsetzt.
Andererseits ist wieder der ideologische Überbau heines-
wegs rein geistiger Art. Es handelt sich bei diesem Über¬
bau nicht um geistige Bedürfnisse und Anschauungen,
die der einzelne für sich allein in seinem Kopfe ent¬
wickelt. Solche können nie historische Bedeutung ge¬
winnen. Marx spricht auch ausdrücklich von bestimm¬
ten gesellschaftlichen Bewußtseinsformenc
Damit die Einwirkungen des Unterhaus auf den
Überbau gesellschaftliche Formen bekommen, müssen
sie nicht in den Köpfen der einzelnen verschlossen
bleiben. Solange dies der Fall, werden sie auch dann
nicht zu einem gesellschaftlichen Faktor, wenn die
gemeinsame Wirkung der gleichen Faktoren auf eine
Menge Menschen, die unter den gleichen Bedingungen
leben, in jedem von ihnen dieselbe Art zu fühlen und zu
denken hervorruft. Nur durch gegenseitige Mitteilung
und Verständigung bekommen diese gemeinsamen An¬
schauungen gesellschaftlichen Charakter und damit ge¬
schichtsbildende Kraft. Diese Mitteilung und Ver¬
ständigung wird um so notwendiger, je mehr die Gesell¬
schaft sich nach sozialen Bedingungen und Bildungs¬
möglichkeiten differenziert und damit die Bewußtseins¬
formen der verschiedenen Menschen voneinander ab¬
weichen.« [a. a. O., S. 815]
»Man kann also nicht einfach sagen, daß im Unterbau
bloß materielle Dinge zu finden seien, und im Überbau
bloß Gedanken und Gefühle. Man kommt hier wie dort
ohne materielle Dinge ebensowenig aus, wie ohne
geistiges Tun.
Noch mehr. Man kann auch nicht sagen, daß Unterbau
und Überbau zueinander stets in dem Verhältnis von
Ursache und JVirkung stünden. Sie beeinflussen ein¬
ander in steter TVechselwirkung. Bestimmte juristische,
politische, religiöse Anschauungen werden durch be-

162
stimmte ökonomische Verhältnisse bedingt. Aber ebenso
ist das umgekehrte festzustellen. Juristische und politi¬
sche Verhältnisse wirken auch bestimmend auf das
ökonomische Leben. Und das gilt sogar von der Reli¬
gion ...« [a.a.O., S. 817]
»Was die materialistische Geschichtsauffassung zu
leisten hat, ist die Erklärung der Bildung des Neuen in
der Geschichte. Sie hat in jedem gesellschaftlichen Zu¬
stand die neue Ideologie zu erklären, die in ihm auf¬
kommt.« [a.a.O., S. 817]
»Betrachten wir in einer gegebenen Gesellschaft die
neuen Ideen, die sich in ihr emporringen, so können wir
feststellen, daß ihnen neue technische und ökonomische
Bedingungen vorhergehen. Diese erzeugen nicht sofort
neue Ideen. Die Menschen sind konservativ und suchen
die neue Technik und Ökonomie den alten Ideen an7.11-

passen. Nur soweit diese Faktoren nicht miteinander


vereinbar sind, entsteht ein Stadium der Unsicherheit,
des Suchens und Tastens nach neuen Formen der Ideen
und der von ihnen bestimmten gesellschaftlichen Ein¬
richtungen. Viel später als die neue Ökonomie bilden
sich die ihr entsprechenden neuen Ideen. Dieses
Stadium des Suchens und Tastens und der Verwirk¬
lichung der neuen Ideen dauert so lange, bis ein Gleich¬
gewichtszustand zwischen Ideen und Ökonomie herbei¬
geführt ist, bis jene dieser entsprechen. Dann tritt ein
Ruhezustand ein, der erst wieder unterbrochen wird,
wenn abermals eine neue Technik große wesentliche
Veränderungen nach sich zieht, die mit den bis dahin
erreichten Formen der Ideologie nicht vereinbar sind.
Wenn wir also nur die jeweils neuen Ideen in Betracht
ziehen, so bilden sie stets einen Überbau, der sich auf
einem vorher errichteten neuen ökonomischen Bau er¬
hebt ...« [a. a.O., S. 817f.]
»Es geht jedoch keineswegs an, alle Ideen, die wir in

163
einem gesellschaftlichen Zustand vorfinden, aus den
gleichzeitig gegebenen ökonomischen Verhältnissen
erklären zu wollen.
Man muß bei den Ideen eines Zeitalters unter¬
scheiden zwischen den alten, die es von seinen Vor¬
gängern übernimmt, und den neuen, die es selber her¬
vorbringt. Diese neuen brauchen die alten nicht immer
zu verdrängen. Sie können sich zu ihnen hinzugesellen,
das geistige Leben bereichern ... Viele alte Ideen blei¬
ben erhalten, freilich nur solche, die mit dem neuen
Zustand vereinbar sind ... sonst könnten sie sich nicht
behaupten, würden aufgeben ... d. h. sie hörten auf,
das Verhalten der Menschen praktisch zu bestimmen,
brauchten aber keineswegs formell abgelehnt zu
werden ... Um aber die Ideen zu begreifen, die das
betreffende Zeitalter von der Vorzeit übernommen hat,
muß ich nicht dieses allein untersuchen, sondern auch
die vorhergehende Epoche. Ich muß feststellen, was
von deren Ideen damals neu war, was nicht. Wir
werden wieder finden, daß nur ein Teil neu aufkam;
nur dieser vermag aus den ökonomischen Verhältnissen
dei Zeit erklärt zu werden. Zur Erklärung der anderen
muß ich noch weiter zurückgreifen. So müssen wir, um
die ganze Ideologie unserer Zeit zu begreifen, bis in die
entfernte Vorzeit zurückgehen. Nur dann wird es uns
gelingen, alle ihre ökonomischen Ursprünge bloßzu¬
legen. Aber stets werden wir finden, wenn wir tief genug
graben, daß alle Ideen in ökonomischen Verhältnissen
wurzeln.
Das ist der Sinn des Bildes von Unterbau und Über¬
au Die Beziehungen zwischen den beiden Faktoren
sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick er¬
scheinen.« [a.a.O., S. 818 f.]
Als Beispiel einer solchen komplexen Analyse des Ur¬
sprungs \ on Ideen aus dem >Unterbau< schließt Kautsky
164
ein Kapitel über Christentum und Religion< an. An¬
knüpfend an die oben zitierten Äußerungen des späten
Engels heißt es schließlich:

»Also vergessen wir nicht: Nur in letzter Linie ist der


ganze juristische, politische, ideologische Apparat als
Überbau über einen ökonomischen Unterbau zu be¬
trachten. Für seine einzelne Erscheinung in der Ge¬
schichte gilt das keineswegs. Sie wird, mag sie ökonomi¬
scher, ideologischer oder sonstiger Art sein, in manchen
Beziehungen als Unterbau, in anderen als Überbau
wirken. Nur für die jeweilig neuen Erscheinungen in der
Geschichte gilt unbedingt der Marxsche Satz vom
Unterbau und Überbau.« [a.a.O., S. 837]

Die Rolle der Naturwissenschaft in Basis und Überbau:

»Die Einwirkung der den sozialen Zuständen entstam¬


menden Stimmungen und Denkarten auf Naturwissen¬
schaft und Philosophie muß unbedingt in Betracht ge¬
zogen werden, wenn wir deren Entwicklung verstehen
wollen. Insofern müssen wir transzendente Ideen-
geschichte< treiben, um mit Otto Bauer zu reden. Aber
diese Einwirkung ist keineswegs unerläßlich für die Ent¬
wicklung des Naturerkennens. Sie fälscht es vielmehr.
Je mehr es gelingt, sie auszuschalten, je mehr sich die
Geschichte der Naturwissenschaft bloß als »immanente:,
bloß aus den Tatsachen der Natur geschöpfte, gestaltet,
um so besser.
Eine Einwirkung der Technik und Ökonomie auf die
Naturwissenschaften durch Aufdeckung neuer Tat¬
sachen der Natur bildet im Gegensatz zur Beeinflussung
der Naturanschauung durch soziale Stimmungen und
Denkweisen nicht nur nicht eine Fehlerquelle, sondern
vielmehr in letzter Linie die einzige Triebkraft des
Fortschreitens des Naturerkennens, das dann seinerseits

165
wieder weiteres Fortschreiten von Technik und Ökono¬
mie nach sich zieht. Die beiden Arten der Gestal¬
tung der Naturwissenschaften durch Technik und
Ökonomie sind also voneinander grundverschieden
und müssen scharf auseinandergehalten werden.« [a.a.
O., S. 886]

Einheit von Natur- und menschlicher Geschichte:

»Was uns Marxisten heute in bezug auf die materiali¬


stische Geschichtsauffassung vor allem obliegt, ist die
Erweiterung ihres Gebietes. Marx und Engels mußten
notwendigerweise, dem Stande der Wissenschaft ihrer
Zeit entsprechend, die materialistische Geschichtsauf¬
fassung vor allem als eine Theorie der Geschichte der
Klassengesellschaften und Klassenstaaten ausarbeiten.
Erst in ihren letzten Lebensjahren kamen sie dahin,
nicht nur gelegentlich, wie sie früher getan, sondern in
zusammenhängender Darstellung auch die vor staatliche,
klassenlose Gesellschaft in das Bereich ihrer Geschichts¬
auffassung einzubeziehen. Das Engelssche Büchlein über
>den Ursprung der Familie< ist uns als ein Vermächtnis
hinterblieben, das uns den Weg weist, auf dem wir die
überkommene Geschichtsauffassung unserer Meister zu
erweitern haben. Diesen Weg habe ich hier zu gehen
gesucht. Dabei trachtete ich, das Gebiet der materiali¬
stischen Geschichtsauffassung so weit auszudehnen, daß
es s^h mit dem der Biologie berührte. Ich untersuchte,
ob die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften mit
der der tierischen und pflanzlichen Arten nicht innerlich
zusammenhange, so daß die Geschichte der Menschheit
nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen
bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusam-
men ang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der
belebten Natur.« [a.a.O., Bd. II, S. 650]
166
Unendlicher Progreß:

»Wie der Prozeß des Erkennens ist also auch der der
gesellschaftlichen Weiterentwicklung ein ewiger —
d. h., ein so lang dauernder, als die Menschheit mit
ihren Fähigkeiten und ihre bisherige natürliche Umwelt
fortdauert.
Eine dauernd vollkommene Gesellschaft ist ebenso¬
wenig möglich, wie eine absolute Wahrheit. Und das eine
wie das andere würde nichts anderes bedeuten als
gesellschaftlichen Stillstand und Tod.« [a.a.O., S. 635]

ANTONIO LABRIOLA

Die Vermittlung zwischen Basis und Überbau (Sozial¬


psychologie) :

»Daraus, daß die Geschichte in ihrer Ganzheit erfaßt


werden soll und daß bei ihr, wie es Goethe von allen
Dingen sagt, >Kern und Schale< eine Einheit bilden,
folgen drei Konsequenzen:
Erstens ist es klar, daß auf dem Gebiet des historisch¬
sozialen Determinismus die Verbindung der Ursachen
mit den Wirkungen, des Bedingten mit dem Bedingen¬
den, des Voraufgehenden mit dem Folgenden niemals
offen zutage liegt. Ganz ähnlich, wie diese Zusammen¬
hänge auch in der Individualpsychologie niemals auf
den ersten Blick schon erkannt werden können. Auf
diesem letzteren Gebiet ... war es verhältnismäßig
leicht, jenseits des Streits um den >freien Willem und
den Fatalismus, in jedem Willensakt die Evidenz des
Motivs zu entdecken, denn es gibt ja doch nur dort
Willen, wo eine bewußte Motivation vorliegt. Aber
unterhalb dieser Motive und des Willens liegt die Ent-

167
stehung beider, und um diese Genesis zu rekonstruieren,
müssen wir aus dem Kreis der bloßen Bewußtseinstat¬
sachen heraustreten, um bei der Analyse der einfachen
Bedürfnisse anzulangen, die zum Teil aus den sozialen
Bedingungen herkommen und zum anderen, sich im
dunklen Grund der organischen, ererbten Disposi¬
tionen verlieren. Ganz genauso liegt es beim histori¬
schen Determinismus. Auch hier fängt man die Analyse
mit den religiösen, politischen, ästhetischen, leiden¬
schaftsbedingten Motiven an, aber auch hier muß man
dann erst die Ursachen dieser Mntive in den zugrunde¬
liegenden Fakten aufsuchen. Die Untersuchung dieser
Bedingungen muß aber so genau erfolgen, daß sie nicht
nur deutlich aufweist, welches diese Ursachen sind,
sondern auch, auf welchem Wege (durch welche Ver¬
mittlungen) sie zu dieser bestimmten Form kommen,
die sie dem Bewußtsein als Motive enthüllt, deren Ur¬
sprung oftmals vergessen war.
Hieraus aber folgt offenbar jene zweite Konsequenz
daß es sich nämlich bei unserer Doktrin nicht darum
handelt, alle komplizierten historischen Manifestationen
m Ökonomische Kategorien zurückzu verwandeln, son¬
dern lediglich sie in »letzter Instanz« (Engels) durch die
ihnen zugrundeliegende sozialökonomische Struktur zu
erklären (Marx). Das erfordert zunächst Analyse und
eduktion und sodann Vermittlung und Zusammen-

araus geht, drittens, hervor, daß man, um von der


zugrundehegenden ökonomischen Struktur zu einer
historischen Gesamtgestalt zu kommen, einen Begriffs-
kompiex benützen muß, den man - mangels eines

iTh möchte Sozialpsychologie nennen kann.


, • C damit nicht au;f eine phantastische Wesen-
tat namens Sozialpsyche anspielen, noch auf den
Begnff emes angeblichen Kollektivgeistes, der sich un-
168
abhängig von dem Bewußtsein der Individuen und
ihrer materiellen Beziehungen im Gesellschaftsleben
verwirklichte ... Ich möchte von bescheideneren und
prosaischeren Dingen reden, nämlich von konkreten
und präzisen Bewußtseinszuständen, die uns davon
Kenntnis geben, wie die Plebejer einer bestimmten
Epoche des alten Rom wirklich waren, wie die Hand¬
werker von Florenz zur Zeit der Bewegung der Ciompi,
oder die Bauern, unter denen — nach einem Ausdruck
Taines — die spontane Anarchie von 1789 ausbrach ...
Diese Sozialpsychologie, die niemand auf einen abstrak¬
ten Kanon reduzieren kann, weil sie in den meisten
Fällen rein deskriptiv bleibt, ist für die meisten er¬
zählenden Historiker, Redner und Ideologen aller Art
bis auf den heutigen Tag der einzige Gegenstand ihrer
Forschungen. Auf diese Psychologie, die die spezifische
Bewußtseinsverfassung von Menschen bestimmter sozi¬
aler Lage ist, stützen sich alle Agitatoren, Redner und
Propagandisten. Wir wissen, daß sie die Frucht, das
Derivat, die Wirkung der sozialen Bedingungen ist —
jene bestimmte Klasse in jener bestimmten Situation,
die durch die von ihr ausgeübten Funktionen gekenn¬
zeichnet ist, durch die Abhängigkeit, in der sie gehalten
wird oder durch die Herrschaft, die sie ausübt —; und
sodann diese Klassen, diese Funktionen, diese Unter¬
werfung wie diese Herrschaft, setzen diese oder jene
bestimmte Produktionsweise voraus ... Diese Sozial¬
psychologie ist durch ihr immer umstandsbedingtes
Wesen nicht der abstrakte und allgemeine Ausdruck
des sogenannten Menschengeistes. Sie ist immer ei¬
ne spezifische Bildung auf Grund besonderer Bedin¬
gungen.
Wir halten es für unbestreitbar, daß es nicht die Be¬
wußtseinsformen sind, die die Seinsweise der Menschen
bestimmen, sondern umgekehrt die Seins weise der

169
Menschen ist, die ihre Bewußtseinsformen bestimmt.
Aber diese Bewußtseinsformen bilden, wie sie durch die
Lebensumstände bedingt sind, zugleich selbst einen
Teil der Geschichte. Diese besteht nicht nur aus der
ökonomischen Anatomie, sondern aus dem Ganzen, das
dieses anatomische Skelett bedeckt und umkleidet bis
hin zu den bunten Reflexen der Phantasie. Mit anderen
Worten, es gibt zwar kein historisches Faktum, das nicht
durch seinen Ursprung auf die Bedingungen der zu¬
grundeliegenden ökonomischen Struktur verwiese, aber
es gibt auch kein historisches Faktum, das nicht vor¬
bereitet, begleitet und gefolgt würde von bestimmten
Bewußtseinsformen, mögen diese nun abergläubisch
oder experimentell, naiv oder reflektiert, impulsiv oder
selbstbeherrscht, phantastisch oder vernünftig sein.«
[Essais sur la conception materialiste de l'histoire (1896),
Paris 1928, S. 118ff.]
»Die vorläufige Orientierung am bequemen System
der historischen >Faktoren< [Staat, Recht, Weltan¬
schauung, Ökonomie] kann in bestimmten Fällen auch
uns, die wir ein einziges historisches Interpretations-
prinzip vertreten, nützlich sein, wenn wir nicht bei der
einfachen Feststellung der Theorie stehenbleiben,
sondern sie durch eine persönliche Forschungsarbeit
bereichern wollen. Da wir in diesem Falle an ein
direktes Detailstudium gehen müssen, müssen wir zu¬
erst den Faktenzusammenhängen nachgehen, die ent¬
weder vorherrschend oder unabhängig zu sein scheinen.
Man darf sich nämlich nicht einbilden, daß das so
evidente Einheitsprinzip, zu dem wir gelangt sind, wie
ein Talisman sofort und auf den ersten Blick zur unfehl¬
baren Losung und Deutung des komplizierten und ver¬
zahnten Apparates der Gesellschaft führt. Die zu¬
grundeliegende ökonomische Struktur, die alles andere
bestimmt, ist kein einfacher Mechanismus, aus dem wie
170
automatische oder mechanische Wirkungen die politi¬
schen Institutionen, Gesetze und Sitten, Gedanken,
Gefühle und Ideologien hervorgehen. Der Prozeß der
Abteilung und Vermittlung zwischen dieser Basis und
dem übrigen ist äußerst kompliziert, oftmals subtil und
voller Umwege, manchmal überhaupt nicht entziffer¬
bar ...« [a.a.O., S. 167f.]
»Wenn ... wir uns vornehmen, die vergangenen Er¬
eignisse bis hin zur Gegenwart zu untersuchen und
dabei als >Leitfaden< die verschiedenen Formen der
ökonomischen Basis der Gesellschaft verwenden — bis
hin zu der einfachsten Gegebenheit: den Veränderun¬
gen der Produktionsinstrumente —, dann müssen wir
uns immer der Schwierigkeit des Problems bewußt
bleiben, das wir vor uns haben: es geht hier nicht ein¬
fach darum, die Augen zu öffnen und zu sehen, sondern
handelt sich um eine Denkbemühung, die mit dem viel¬
gestaltigen Schauspiel der unmittelbaren Erfahrung
fertig zu werden versucht, um es in die Elemente eines
genetischen Zusammenhangs zu bringen. Aus diesem
Grunde habe ich gesagt, daß wir bei konkreten Unter¬
suchungen gleichfalls von jenen Faktenzusammen¬
hängen ausgehen müssen, d. h. von der empirischen
Forschung, aus der jener Glauben an die Faktoren sich
dann zu einer Art Halbdoktrin entwickelt hat ...«
[a.a.O., S. 170f.]

Der historische Materialismus — eine Forschungs¬


methode:

»Unsere Doktrin behauptet nicht, die intellektuelle


Schau eines großen Plans oder einer Absicht zu sein,
sondern ist lediglich eine Forschungs- und Erkenntnis¬
methode. Nicht zufällig sprach Marx von seiner Ent¬
deckung als von einem bloßen >Leitfaden<. Aus diesem

171
Grunde ist sie ja auch mit dem Darwinismus vergleich¬
bar, der ebenfalls nur eine Methode ist und keine
moderne Wiederholung der konstruierten und kon¬
struktiven Naturphilosophie & la Schelling ...« [a.a.O.,
S. 149]
»So kann es denn auch Vorkommen und ist in der Tat
schon passiert, daß Personen, die wenig mit den Schwie¬
rigkeiten historischer Forschung vertraut sind, im
historischen Materialismus ein Stimulans zur Ent¬
wicklung einer neuen Ideologie, einer neuen, systema¬
tischen, d. h. schematischen und tendenziösen Geschichts¬
philosophie finden. Und es gibt keine Vorsichtsmaßregel,
die hier ausreicht. Unsere Intelligenz gibt sich selten
mit der rein kritischen Forschung zufrieden und neigt
immer dazu, jede neue Entdeckung in ein Element der
Pedanterie und eine neue Scholastik zu verwandeln.
Mit einem Worte, selbst die materialistische Geschichts¬
auffassung kann in eine dogmatische Thesenlehre ver¬
wandelt werden und dazu dienen, mit neuen Moden
alte Vorurteile, wie das einer demonstrativen und
deduzierbaren Geschichte wieder zu beleben.
Damit das nicht geschieht, und vor allem, damit nicht
auf indirekte oder versteckte Weise eine neue Form
der Teleologie auftaucht, muß man sich von zwei
Dingen fest überzeugen: daß alle bekannten histori¬
schen Bedingungen zufällig sind und daß der Fort¬
schritt bis jetzt immer von zahlreichen Hindernissen
aufgehalten wurde und daher immer nur partiell und
limitiert war.« [a.a.O., S. 158f.]

172
H. M. HYNDAtAN UND E. BELFORT BAX

Die marxistische Geschichtsauffassung als Forschungs-


hypothese; matei'ielle und ideelle Faktoren gleich wichti» •

»Um unsere ganze Argumentation zusammenzufassen:


wir sind bereit, die materialistische Geschichtsauf¬
fassung von Marx als einen der wertvollsten Beiträge zur
Soziologie anzuerkennen, den das 19. Jahrhundert zu¬
tage gefördert hat. Wir weigern uns aber entschieden,
sie als das unfehlbare Aufklärungsmittel der ganzen
menschlichen Geschichte anzunehmen. Wir wissen, daß
in manchen Kreisen die Tendenz besteht, Marx zu be¬
handeln oder vielmehr zu mißhandeln, wie es die
mittelalterlichen Scholastiker mit Aristoteles machten.
Dieser große Philosoph wurde von seinen mittelalter¬
lichen Schülern über alle Maßen in den geistigen
Himmel gehoben, als unfehlbare Autorität, so daß da¬
durch der geistige Fortschritt der Menschheit un¬
zweifelhaft aufgehalten wurde. Als zwei unparteiische
Denker, die gerne Marx’ Meisterwerk vollste Anerken¬
nung zollen möchten, protestieren wir gegen jeden
Versuch, ihn in ähnlicher Weise lächerlich zu machen.
Aus dem Gesagten geht klar hervor, daß unserer An¬
sicht nach sowohl die materiellen wie die psychologi¬
schen Faktoren mit der Gesellschaftsentwicklung un¬
trennbar verbunden sind; daß sie stets miteinander in
Wechselwirkung stehen durch den ganzen geschicht¬
lichen Prozeß hindurch. Wir wissen wohl, daß die
reinen Idealisten einerseits und die einfachen Materia¬
listen andrerseits durch eine gesuchte und erkünstelte
Beweisführung in plausiblen Plädoyers darzutun suchen,
wie ihr eigner >Stein der Weisen< einzig und allein die
Ursache des Fortschritts wäre, und zwar in allen Perio¬
den durch die ganze Geschichte des historischen Daseins

173
der Menschen hindurch. Unzweifelhaft ist das öfters
von beiden Seiten geschehen. Die extremen Materiali¬
sten mögen allerdings mit ihren Auslegungen der Wahr¬
heit näherkommen als die extremen Idealisten. Je ein¬
gehender, je unparteiischer indessen der Gegenstand
betrachtet wird, desto deutlicher erscheint es nach
unserer Überzeugung, daß nur und insofern volles
Gewicht beiden Faktoren gleichmäßig beigelegt wird,
als ein endgültiger haltbarer Begriff der historischen
Kräfte zu erlangen sein wird.« \Die materialistische
Geschichtsauffassung, »Die Neue Zeit«, 1914, XXXII. Jg.,
I. Hbb., S. 789 f.]

MAX ADLER

Die sozialökonomische Basis — der Lebensraum der


Gesellschaft:

»... eines der verbreitetsten Mißverständnisse über den


Marxismus, speziell über seine materialistische Ge¬
schichtsauffassung, (ergibt sich) gleich zu Anfang der
Erörterung desselben ... als eine unzulässige Über¬
tragung metaphysisch-materialistischer Anschauungen
auf die soziologische Theorie des Marxismus ... Es ist
dies nämlich die immer wieder vorgebrachte Meinung,
daß die materialistische Geschichtsauffassung die ideo¬
logischen Erscheinungen als ein Produkt der ökonomi¬
schen Verhältnisse betrachtet. Diese Behauptung erhält
sich so hartnäckig, weil sie vollständig aus dem Geist
des Materialismus gerechtfertigt zu sein scheint. Denn
so wie nach diesem letzteren die Gedanken das Produkt
des Gehirns sind, von diesem abgesondert werden wie
\on der Gallenblase die Galle, so erscheint es nur ebenso
onsequent, daß die ökonomischen Verhältnisse die
Ideen und alle sonstigen geistigen Erscheinungen des
174
geschichtlichen Lebens >erzeugen<. Und damit ist dann
leichtes Spiel gewonnen, eine solche Theorie, welche die
Selbständigkeit des geistigen Lebens auf diese Weise
leugnet, als absurd hinzustellen.
Demgegenüber wollen wir uns erinnern, daß ja
gerade die Verkennung der tätigen Seite der mensch¬
lichen Natur der Punkt war, den Marx und Engels aus¬
drücklich als den Plauptmangel des Materialismus be-
zeichneten, so daß schon daraus zu ersehen ist, daß die
obige, freilich konsequent materialistische Anschauung
nicht die von Marx und Engels war. Und tatsächlich
kann sich das populäre Mißverständnis von der Er¬
zeugung der Ideologie durch die ökonomischen Ver¬
hältnisse nicht einmal auf den Wortlaut bei Marx und
Engels berufen. Es findet sich nirgends eine Stelle, in der
gesagt wird, daß die materiellen Verhältnissse die
geistigen erzeugen oder bewirken, sondern es wird über¬
all nur auf die notwendige Verbundenheit beider hinge¬
wiesen. Wie immer die materiellen Verhältnisse zu ver¬
stehen sind ... sie werden stets nur als die Grundlage
oder Bedingung der übrigen gesellschaftlichen Verhält¬
nisse bezeichnet. Stets finden sich Ausdrücke wie, daß die
ökonomischen Verhältnisse die rechtlichen >bedingen<
oder >bestimmen<, daß sich die ideologischen Verhält¬
nisse mach den ökonomischen richten<, oder daß das
eine «ich mit dem anderen ändertq oder daß bestimm¬
ten ökonomischen Entwicklungen bestimmte ideolo¬
gische Erscheinungen >entsprechen<.
Alle diese Ausdrücke lehnen also ein direktes Kausal¬
verhältnis zwischen den ökonomischen Verhältnissen
und den sogenannten ideologischen Erscheinungen ab.
An dessen Stelle tritt vielmehr die Erkenntnis einer
vermittelten Abhängigkeit, die, wiewohl sie der Eigen¬
gesetzlichkeit des Ideologischen völlig Raum läßt, doch
dieses mit dem ökonomischen in einen einheitlichen

175
durchgängigen Kausalzusammenhang bringt, der, wie
wir sehen werden, ein geistiger Zusammenhang ist.
Schon hier erweist sich daher die hohnvolle Frage, mit
welcher viele gelehrte Gegner glauben, die >Absurdität<
des Marxismus schlagend erwiesen zu haben, wie denn
z. B. Goethes >Faust< oder Mozarts >Zauberflöte< von den
ökonomischen Verhältnissen hervorgebracht sei, nur als
Beleg für die theoretische Unzulänglichkeit dieser
Kritiken selbst.« [Lehrbuch der materialistischen Ge¬
schichtsauffassung, Bd. I, Berlin 1950, S. 151 ff.]
»Sie [die ökonomischen Verhältnisse] stellen also in
ihrer Gesamtheit, wie Marx dies ausdrückte, die Basis,
den Unterbau der Gesellschaft auf einer gegebenen
Stufe der Entwicklung ihrer Produktivkräfte dar, oder,
wie wir sagen möchten, sie bilden den Lebensraum
dieser Gesellschaft. Dieses Wort halte ich für weniger
mißverständlich als den Begriff des Unterbaues, an
dem ... sich sehr irrtümliche Vorstellungen angeknüpft
haben, vor allem das Mißverständnis, daß dieser Unter¬
bau etwas vom Überbau Getrenntes und Verschiedenes
sei. Demgegenüber bezeichnet das Wort Lebensraum
die Tatsache, daß die ökonomischen Verhältnisse eben
nur die Grundverhältnisse einer bestimmten Art des
gesellschaftlichen Lebens sind, innerhalb deren sich alle
anderen Lebensverhältnisse ihnen entsprechend ent¬
wickeln. Und so wird jetzt auch klar verständlich, wie
alle gesellschaftlichen Erscheinungen, selbst die geisti¬
gen Spitzenerscheinungen, durch die ökonomischen Ver¬
hältnisse bedingt sein können. Es ist dies kein direkter
und unmittelbarer Zusammenhang, sondern indem die
Ökonomischen Verhältnisse eben das jeweilige Lebens-
milieu einer Epoche darstellen, entspricht ihnen auch
eine jeweils anders bestimmte Mentalität der Menschen:
es entsprechen also bestimmten ökonomischen Ver¬
hältnissen bestimmte Lebensformen und Lebensinter-
176
essen, aber weiterhin auch bestimmte andere daraus her¬
vorgehende Bedürfnisse, Vorstellungen und Ideen.«
[a.a.O., S. 172f.]

Der teleologische Charakter des Entwicklungsbegriffs:

»In diesem Kampfe [im Klassenkampf] wird schließlich


immer ein Punkt erreicht, wo der Widerspruch zwi¬
schen den bestehenden Produktionsverhältnissen und
den eine andere gesellschaftliche Ordnung bereits er¬
möglichenden Produktionskräften eine solche äußerste
Spannung erlangt hat, daß die Gesellschaft selbst zer¬
stört werden müßte, wenn sie nicht ihre eben herr¬
schende Gestalt ändert. Die Gesellschaft kann aber nur
mit den Menschen zugleich untergehen, und deshalb
endet dieser Widerspruch jedesmal nach mehr oder
weniger blutigen Kämpfen mit der Herstellung jener
neuen Lebens Verhältnisse, welche der Grad der er¬
reichten Entwicklung der Produktionskräfte zu ihrer
gesellschaftlichen Anwendung verlangt. Es wächst und
verstärkt sich die Vergesellschaftung durch den Klassen¬
kampf: der Sieg der unterdrückten Klasse muß jederzeit
zugleich als ein Sieg der Moral, des Rechtes und der
Vernunft erscheinen, da all dies ja nur ideelle Ausdrücke
für die Beseitigung ebenso vieler tatsächlicher Schran¬
ken sind, die sich als ethische, rechtliche und ver¬
nünftige Mängel der bestehenden Organisation der
Gesellschaft darstellen. Der Klassenkampf wird so zum
Vehikel des gesellschaftlichen Fortschrittes und zum
Vollstrecker jenes gewaltigen Kulturwerkes, das bei
Hegel der dialektische Selbstwiderspruch der Vernunft
zu leisten hatte. Hier aber ist es keine mystische Welt¬
vernunft, welche die Geschicke der Menschheit schlie߬
lich zum besten ausgehen läßt; das Vernünftige ist viel¬
mehr nichts anderes als das weitere, umfassendere

177
Soziale, das nicht aus einer jenseitigen Welt, sondern
aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der
Menschen mit schließlich unwiderstehlicher Gewalt
hervorwächst.
Mit dieser Einsicht in den wunderbaren Mechanismus
der Geschichte ist ein entscheidender Punkt nicht nur
in unserer theoretischen, sondern auch in unserer
praktischen Stellungnahme zum sozialen Leben ge¬
setzt. Denn wenn aus dieser Geschichtsauffassung sich
die große Erkenntnis von Marx ergibt, daß die Mensch¬
heit sich immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann,
weil, wie Marx sagt, genauer betrachtet, sich stets
finden wird, >daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo
die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vor¬
handen oder wenigstens im Prozeß des Werdens be¬
griffen sind<, so folgt hieraus umgekehrt, daß sich aus
der Erkenntnis dieser materiellen Bedingungen, aus
der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Natur und
ihres Zusammenwirkens, ebenso auch die Aufgaben
erkennen lassen, welche die Menschheit in dieser be¬
sonderen Situation sich notwendig wird stellen müssen
und die Mittel, die sie zur Lösung dieser Aufgabe zu
ergreifen hat. Das kausale Getriebe der Geschichte wird
so durch seine wissenschaftliche Durchleuchtung direkt
m eine Teleologie übergeführt, ohne doch irgendwie an
der Geschlossenheit seiner kausalen Bestimmtheit Ab¬
ruch zu erleiden. Es tritt nur die wissenschaftliche
Erkenntnis der besonderen gesellschaftlichen Lage nun-
mehr- selbst als eine Ursache in dieses Kausalgetriebe ein,
die auf Abänderung im Sinne der errungenen Erkennt¬
nis hmarbeitet.« [Marxistische Probleme (1913) Stutt¬
gart 1920, S. 44 f.] ’

»Die Aufhellung der ökonomischen Begriffe durch die


Klärung ihre,' Beziehungsinhalte ist aber erst die eine
beite der Verflüssig und gleichsam Verlebendigung
178
der ökonomisch-historischen Kategorien. Es tritt hinzu
der große Gesichtspunkt, der zum Angelpunkt aller
wissenschaftlichen Arbeit im Marxismus geworden ist,
der Begriff der Entwicklung. Wir haben es bereits ge¬
sagt: Nur in einer in den Vorurteilen des Naturalismus
aufgewachsenen Zeit, wie es die unsere ist, kann es
scheinen, als ob der Entwicklungsbegriff aus der äußeren
Erfahrung stammte. Die große Wandlung der Biologie,
die jetzt mit so tiefgehender Gedankenarbeit von den
Bahnen Darwins zu denen Lamarcks übergeht, beginnt
schon mehr und mehr auch auf dem Gebiet der Natur¬
wissenschaften erkennen zu lassen, daß der Entwick¬
lungsbegriff kein durch Mittel der mechanischen Natur¬
erklärung, sondern lediglich ein durch Denkbestim¬
mungen zu erfassender Begriff ist. Ist man erst darauf
aufmerksam geworden, daß die Zeit und damit auch der
ganze historische Ablauf von Veränderungen nicht zum
Wesen des Entwicklungsbegriffs gehört, welcher nur
durch zwei Elemente konstituiert wird: erstens durch
den Gedanken einer aus eigener Gesetzlichkeit vor sich
gehenden Bewegung, zweitens durch die Richtungs¬
bestimmtheit dieser Bewegung auf ein Ziel, so wird man
von dem naturalistischen Mißverständnis bewahrt, Ent¬
wicklung mit Deszendenz oder historischer Veränderung
zu verwechseln. Vielmehr ist es nur dadurch überhaupt
möglich, Veränderungen der Zeit in eine Entwicklung
zu beziehen, daß man den Gedanken einer gesetzmäßigen
Wirksamkeit, die alles nur aus sich selbst herausholt,
jede Form nur ihren eigenen Kräften verdankt, an die
Erscheinungen heranbringt. Erst dieser Denktypus ver¬
wandelt Sukzession in Metamorphose, Aufeinander¬
folgen in Auseinanderwerden ...
Die genetische Auffassung der Natur und Geschichte
ist nur die Übertragung der dialektischen Natur des
Denkprozesses auf die Objekte des Denkens selbst, das

179
heißt die Idee der Entwicklung ist der an einem ge¬
wissen Punkte der geistigen Geschichte auftretende
gedankliche Zwang, aus dem Fortgang im inneren Zu¬
sammenhang des Denkens den Zusammenhang äußerer
Entwicklungsvorgänge zu erfassen.« [a.a.O., S. 45]

OTTO BAUER

Die Entwicklung der bourgeoisen Weltanschauung:

»... Je mächtiger sich der Kapitalismus entwickelt, desto


ausschließlicher beherrscht die mechanistische Natur¬
auffassung das Denken. Sie schließt endlich alle Kom¬
promisse mit den überlieferten Seelen- und Gottesvor¬
stellungen aus. Dem Cartesianismus und dem Spino-
zismus folgt der monistische Materialismus. Nun werden
auch die seelischen Vorgänge mechanistisch aufgefaßt;
sie wurden als Gehirnfunktionen, als Bewegungen von
Gehirnteilchen gedacht. Und Gott verschwindet: wie die
Gesetze des kapitalistischen Wettbewerbs, die die gesell¬
schaftliche Arbeit und den gesellschaftlichen Arbeitser¬
trag verteilen, von niemandem gesetzt sind, so bedürfen
auch die. Naturgesetze keines Gesetzgebers mehr. Die
Materie ist die einzige Substanz; es gibt nichts außer
bewegter Materie. Der Materialismus ist die folge¬
richtige Philosophie des Systems der freien Konkurrenz-
m ihm erschöpft sich alles Wissen in der mechanischen
Naturauffassung, die die Welt nach dem Ebenbilde des
Kapitalismus schafft, und jeden Kompromiß mit den
a teren, aus der Feudalzeit übernommenen Auffassun-
gen lehnt er ab.« [Das Weltbild des Kapitalismus, Fest¬
schrift für K. Kautsky, Jena 1924, S. 431]

»Der Empirismus geht aus dem Individualismus her¬


vor.- daraus, daß der Kapitalismus die Gesellschaft in
180
selbstherrliche Individuen zersetzt. Die Auflösung der
Qualitäten in Quantitäten ist das theoretische Spiegel¬
bild der Geldwirtschaft; die mathematische Methode
geht daraus hervor, daß der Kapitalismus den gesell¬
schaftlichen Zusammenhang zwischen den Individuen
durch den Warenaustausch, durch Kauf und Verkauf,
durch Verwandlung der Güter in Waren vermittelt.
Der theoretische Widerspruch zwischen induktivem
Empirismus und mathematischem Realismus ist das
theoretische Spiegelbild des dem Kapitalismus eigen¬
tümlichen Widerspruchs zwischen der rechtlichen
Selbstherrlichkeit, die er den Individuen verleiht, und
der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Individuen von¬
einander, die, durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung
bewirkt, sich auf dem Markt, im Warenkauf und
Warenverkauf, in der Auflösung aller Güter in Wert¬
quanten durchsetzt.« [a.a.O., S. 455f.]
»Von Bacon zu J. St. Mill, von Locke zu Spencer, von
Hume zu James führt ein gerader Weg. So sind es über¬
all dieselben Merkmale: Individualismus im Praktischen
wird im Bereiche der Theorie zum Empirismus. Wie in
der Ökonomie und in der Politik Britannien das Mutter¬
land des individualistischen Kapitalismus war, hat es auch
die dem individualistischen Kapitalismus entsprechend¬
ste Denkrichtung hervorgebracht.« [a.a.O., S. 457]
»Solange das Bürgertum noch im Kampfe gegen
Feudalismus und Absolutismus stand, kämpfte es um
eine Weltanschauung, die die Ideenwelt der feudalen
Epoche überwinden sollte. Alle Großtaten der Natur¬
forschung von Kopernikus bis Darwin mußten ihm
Waffen gegen die Ideen der Vergangenheit liefern. Das
ist nun anders geworden. Die Bourgeoisie, zur herr¬
schenden Klasse geworden, sucht in der Naturwissen¬
schaft nicht Befriedigung von Weltanschauungsbedürf¬
nissen, sondern Erkenntnisse, die unmittelbar technisch

181
verwertbar sein, ihre Produktionsmethoden vervoll¬
kommnen sollen. So lehrt uns denn der skeptische Positi¬
vismus eines Mach, Poincare, James die Naturwissen¬
schaft in neuem Lichte sehen: unser Wissen ist ein
Werkzeug für den Daseinskampf, nur Mittel für prak¬
tische Zwecke; es kann nicht das Wesen der Dinge er¬
forschen, sondern nur Erfahrungen zu praktischen
Zwecken sammeln und ordnen. Die Hypothesen, aus
denen die Naturwissenschaft ihre experimentell über¬
prüfbaren Naturgesetze deduziert — den Denkern des
älteren Bürgertums waren sie die Befriedigung ihrer
Weltanschauungsinteressen, Bausteine zu einem Welt¬
bild, das sie dem Weltbild der feudalen Epoche kämp¬
fend entgegenstellten; dem Positivismus unserer Zeit
sind sie an sich unwichtig, bloß als Hilfsmittel zur
Ordnung, zur rechnerischen Verknüpfung der Erfah¬
rungstatsachen verwendbar. Die Tat des Kopemikus
war den Alten eine revolutionäre Tat gegen das
Gedankensystem der herrschenden Kirchengewalten;
dem Relativismus unserer Zeit ist es eine bloße Ver¬
tauschung der Koordinatensysteme, das Koordinaten¬
system des Kopemikus dem ptolemäischen nur darum
vorzuziehen, weil es eine bequemere Rechnung er¬
möglicht.« [a.a.O., S. 452 f.]

Die Oktoberrevolution und ihre Ideologie:

Die kommunistische Ideologie der russischen Revolu-


Wai. ,eT ,6ner enthusiastischen, illusionären, uto-
ihre^olS Tn “ die die bür8er,iche Revolution in
hrer plebejisch-diktatorischen Phase immer verfällt

dtsdbVmBed'tCklUn?gang Revolution
IsraetL dl UtU?g’Te T Ideologie des .Reiches
ideal • ■ r englischen, die jakobinische Gleichheits-
ologie m der Französischer, Revolution hatte. Der
182
russische Kommunismus ist nicht der Sozialismus eines
auf der Basis des Hochkapitalismus entwickelten, ge¬
schulten Proletariats, das den realen Kampf um die
durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst bereits
vorgebildete, bereits objektiv möglich gewordene Ver¬
gesellschaftung der Güterproduktion und des Güter¬
austausches zu führen vermag. Der russische Kom¬
munismus war vielmehr die Illusion der plebejischen
Massen eines sich eben aus den Fesseln des Feudalismus
befreienden Landes, die, durch die bürgerliche Revolu¬
tion vorübergehend zur Macht emporgeschleudert, ihre
Ideale vergebens zu verwirklichen suchen, um schlie߬
lich an dem niedrigen Entwicklungsgrad der Produktiv¬
kräfte zu scheitern und zu erfahren, daß ihre Herr¬
schaft nicht ihre kommunistischen Ideale verwirklichen
kann, sondern nur das Mittel der Geschichte war, alle
Überbleibsel des Feudalismus zu zertrümmern und da¬
durch die Voraussetzungen der Entwicklung des Kapita¬
lismus auf neuer, verbreiterter Grundlage zu schaffen.«
[Der neue Kurs in Sowjetrußland, Wien 1921, S. 31]

JEAN jaurLs

Ökonomischer Materialismus:

»Der Name ökonomischer Materialismus wird dadurch


erklärt, daß der Mensch keineswegs eine fertige Idee
der Gerechtigkeit seinem Gehirn entnimmt, sondern
sich darauf beschränkt, in sich, in seiner Hirnsubstanz
die ökonomischen Produktionsverhältnisse zu reflek¬
tieren (reflechir).
Gegenüber der materialistischen Auffassung gibt es
die idealistische in verschiedenen Formen. Ich würde sie
wie folgt zusammenfassen: es ist die Auffassung, der-

183
zufolge die Menschheit von ihrem Ursprung an gleich¬
sam eine dunkle Vorstellung, ein erstes Vorgefühl
ihres Schicksals und ihrer Entwicklung hat.
Vor der Erfahrung der Geschichte, vor der Errich¬
tung dieses oder jenes ökonomischen Systems, trägt die
Menschheit in sich eine vorgängige Idee der Gerechtig¬
keit, des Rechts, und dieses Ideal ist es, welchem sie von
einer Zivilisation zur höheren Zivilisation folgt; und
wenn sie sich bewegt, so geschieht es nicht durch die
automatische und mechanische Umgestaltung der
Produktionsweisen, sondern unter dem mehr oder
weniger klar empfundenen Einfluß dieses Ideals. So daß
die Idee selbst zum Prinzip der Bewegung und der
Handlung wird und daß — weit entfernt, daß die
intellektuellen Auffassungen aus den Ökonomischen
Fakten abgeleitet würden, es vielmehr umgekehrt die
ökonomischen Fakten sind, die nach und nach in der
Wirklichkeit der Geschichte das Ideal der Menschheit
realisieren.« [Zit. nach Charles Rappoport Jean Jaures,
l komme, le penseur, le socialiste. Paris 1915, S. 597]

Verbindung von Materialismus und Idealismus:

»Im zeitgenössischen Bewußtsein sind beide fast voll¬


ständig vereinigt und versöhnt ... Es gibt keinen ein¬
zigen Idealisten, der nicht zugäbe, daß man ein höheres
menschliches Ideal nur durch eine vorgängige Ver¬
änderung des Wirtschaftsorganismus verwirklichen
kann.« [a.a.O., S. 598]

’f gi!*/e talamentale Verbindung von ökonomi-

[aaO..“SmUS Und - f^en,

Sicftlh ff das memchllche Him schafft nicht aus


nicht I ^ Wee deS Rechts' die leer
chtig wäre, das gesamte, selbst das geistige und sitt-
184
liehe Leben der Menschheit ist nur ein Reflex der ökono¬
mischen Phänomene im menschlichen Bewußtsein. Nun
wohl, das gebe ich zu ... aber es gibt doch zugleich auch
das menschliche Hirn selbst und daher die geistige Prä¬
formation der Menschheit. Die Menschheit ist das
Produkt einer langen physiologischen Evolution, und
als der Mensch auf Grund dieser Entwicklung aus der
Tierheit auftauchte, gab es im ersten Hirn der ent¬
stehenden Menschheit Prädispositionen und Tendenzen.«
[a.a.O., S. 404]
Hier nennt Jaures den Sinn fürs Schöne, die Denk¬
fähigkeit, die Sprache, den >Sinn für Einheit<, das heißt
die Eigenschaft des animal metaphysicum und die
Sympathie für den Mitmenschen.
»Beachten Sie bitte, daß ich nicht intellektuelle Fähig¬
keiten und ökonomische Faktoren einfach nebenein¬
anderstelle ... Nein, ich will nicht diese Nebeneinander¬
stellung, aber ich behaupte, daß es unmöglich ist, daß
die festgestellten ökonomischen Phänomene ins mensch¬
liche Hirn eindringen, ohne dort jene ursprünglichen
Triebfedern in Bewegung zu setzen, die ich analysiert
habe (gemeint sind die ästhetischen und moralischen
Grundvorstellungen, die Jaures annimmt). Deshalb
kann ich Marx auch nicht zugeben, daß die religiösen,
politischen und moralischen Vorstellungen lediglich
Reflexe ökonomischer Phänomene sind: im Menschen
findet eine derartig innige wechselseitige Durchdrin¬
gung von Individuum und ökonomischem Milieu statt,
daß es unmöglich ist, das ökonomische Leben und das
moralische auseinanderzureißen. Um das eine dem
anderen unterzuordnen, müßte man das eine zunächst
vom anderen abstrahieren, aber diese Abstraktion ist
unmöglich: ebensowenig wie man den Menschen in
zwei Teile zerlegen kann, um das bewußte Leben vom
organischen zu trennen, kann man die historische

185
Menschheit zweiteilen und ihr ideales (geistiges) Leben
vom ökonomischen trennen. So lautet meine These,
deren partielle Bestätigung ich in der griechischen
Philosophie finde.« [a.a.O., S. 405]

Das Ideal des Fortschritts:

»Es genügt nicht zu sagen, daß eine Produktionsweise


auf eine andere folgt; es genügt nicht zu sagen, auf die
Anthropophagie folgt die Sklaverei, auf die Sklaverei
die Leibeigenschaft, auf diese die Lohnarbeit, und daß
auf die Lohnarbeit endlich das kollektivistische oder
kommunistische Zeitalter folgen wird. Nein, man muß
auch zu der Frage Stellung nehmen, handelt es sich
bloß um eine Entwicklung oder um Fortschritt? Und
wenn es sich um Fortschritt handelt, welches ist dann
die entscheidende, letzte Idee, an der man die ver¬
schiedenen Formen der menschlichen Entwicklung
messen kann? Und endlich, wenn man diese Idee des
Fortschritts als zu metaphysisch vermeiden will, warum
ist dann die Entwicklung in der angegebenen Form
erfolgt ... und nicht auf eine andere Weise? Warum,
auf Grund welcher Triebfeder, ich sage nicht, auf
Grund welches Vorsehungsdekrets, denn ich bleibe
innerhalb der materialistischen und positiven Auf¬
fassung der Geschichte, aber warum hat die mensch¬
liche Entwicklung von Sozialform zu Sozialform die
angegebene Richtung eingeschlagen und nicht eine
andre?« [a.a.O., S. 406]
»Fuhrt aber nicht auchMarx selbst in seine Geschichts¬
auffassung den Begriff, das Ideal des Fortschritts, des
echtes em Er verkündet ja nicht nur die kommuni¬
stische Gesellschaft als eine Konsequenz der kapitali¬
stischen: er zeigt auch noch, daß in ihr endlich der
Klassenantagonismus aufhören wird, der die Mensch-
186
lieit zur Erschöpfung bringt; er zeigt auch, daß dann
zum ersten Male ein volles und freies Leben möglich
sein wird und daß die Arbeiter dann zugleich die nerv¬
liche Differenziertheit der Handwerker und die ruhige
Stärke des Bauern haben werden und eine glücklichere
und edlere Menschheit auf der erneuerten Erde leben
wird. Heißt das aber nicht anerkennen, daß das Wort
Gerechtigkeit selbst in der materialistischen Geschichts¬
auffassung einen Sinn hat? Und ist damit nicht auch von
Euch (andren Marxisten) die von mir vorgeschlagene
Versöhnung anerkannt?« [a. a. O., S. 408]

G. W. PLECHANOW

Die Bedeutung der geographischen Gegebenheiten für


die Geschichte:

»Schon Hegel konstatiert in seiner >Philosophie der


Weltgeschichte< die wichtige Bolle der geographischen
Grundlage der Weltgeschichte<. Da indes für ihn die
letzte Ursache der Entwicklung die Idee war, da er nur
beiläufig und in nebensächlichen Dingen, sozusagen
wider Willen, zur materialistischen Erklärung der
Erscheinungen seine Zuflucht nahm, brachte ihn die
eben angeführte, durchaus richtige Auffassung nicht zu
den Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben ... Die
Beschaffenheit der Natur bestimmt den Charakter so¬
wohl der Naturerzeugnisse, die zur Befriedigung der
menschlichen Bedürfnisse dienen, als auch der vom
Menschen zu gleichem Zwecke erzeugten Produkte.
Dort, wo keine Metalle vorhanden waren, konnten die
Menschen nicht aus eigener Kraft die Grenzen der so¬
genannten Steinzeit überschreiten. Ebenso waren ent¬
sprechende natürliche geographische Verhältnisse not-

187
wendig — d. h. eine geeignete Flora und Fauna —,
damit die Urfischer und Urjäger zur Viehzucht und
zum Ackerbau übergehen konnten. L. H. Morgan
bemerkt: >das Nichtvorhandensein zähmbarer Tiere in
der westlichen Flemisphäre und die spezifische Ver¬
schiedenheit zwischen den Zerealien beider Hemi¬
sphären übten einen mächtigen Einfluß auf die ent¬
sprechende Entwicklung ihrer Bewohner aus< (Die
Urgesellschaft, Stuttgart 1891, S. 20f.) ... Wie dem
aber auch sei, auf jeden Fall steht fest, daß, je mannig¬
faltiger die Natur ist, um so günstiger ist sie auch für die
Entwicklung der Produktivkräfte. >Es ist nicht die ab¬
solute Fruchtbarkeit des Bodens <, sagt Marx (Kapital,
Bd. I, S. 539), »sondern seine Differenzierung, die
Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche
die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der
Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der
Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Ver-
mannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten,
Arbeitsmittel und Arbeitsweisen anspornt. < Fast mit den¬
selben Worten äußert sich Ratzel ... Die natürlichen
geographischen Verhältnisse bedingen die Entwicklung
der Produktivkräfte; die Entwicklung dieser bedingt
ihrerseits che Entwicklung der wirtschaftlichen und dar¬
auf auch der gesellschaftlichen Verhältnisse ...« [Grund¬
probleme des Marxismus, dt. Stuttgart 1910, S. 44ff.;
vgl. auch Zur Frage der Entwicklung der monistischen
Geschichtsauffassung {1895), Beriin 1956, S. 146f.]

Rasse und Geschichte:

»Nach Marx wird die Wirkung der natürlichen Bedin¬


gungen (hier der Rasse) durch die Produktionsverhält¬
nisse vermittelt, die an einem bestimmten Orte auf der
Grundlage bestimmter Produktivkräfte entstehen, deren
188
erste Entwicklungsbedingungen eben die natürlichen
Verhältnisse des Ortes sind. Die moderne Ethnologie
nimmt immer mehr diesen Standpunkt ein und räumt
dementsprechend der Rasse eine immer geringere Rolle
in der Kulturgeschichte ein. >Die Rasse hat<, sagt
Ratzel, >mit dem Kulturbesitz an sich nichts zu tun.< Ist
aber ein bestimmter Kulturzustand erreicht, so wirkt er
zweifelsohne auf die physischen und psychischen Eigen¬
schaften der >Rasse< beeinflussend ein.« [a. a.O., S. 50ff.]

Das Verhältnis von Basis und Überbau:

»Die politischen Verhältnisse wirken zweifellos auf die


wirtschaftliche Entwicklung, aber ebenso zweifellos ist
es auch, daß sie von den ökonomischen Verhältnissen
erst hervorgerufen werden müssen, ehe sie auf diese
letzteren eine Wirkung ausüben können.« [a.a. 0.,S.61]
»Das >Manifest< enthält geradezu überzeugende
Beweise dafür, daß seine Verfasser die Bedeutung der
ideellen >Faktoren< sehr gut verstanden haben. Aber
wiederum beweist dasselbe Manifest, daß der ideelle
>Faktor<, um auf die Entwicklung der Gesellschaft ein¬
wirken zu können, durch diese Entwicklung zuerst
geschaffen werden muß.« [a.a.O.]

Die Rolle des proletarischen Klassenbewußtseins:


»Marx und Engels sagen (im letzten Kapitel des Mani¬
festes <), daß ihre Gesinnungsgenossen bestrebt sind, bei
den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über
den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und
Proletariat herauszuarbeiten. Es ist wohl ohne weiteres
einleuchtend, daß jemand, der dem ideellen Faktor keine
Bedeutung beimißt, auch keinen logischen Grund hat,
danach zu streben, bei irgendwelcher sozialen Gruppe
irgendein Bewußtsein herauszuarbeiten ...« [a.a.O.]

189
Der Einfluß der Produktionstechnik auf die Bewußt-
seinsformen:
»In der Urgesellschaft, die keine Klassenscheidung
kannte, hat die produktive Arbeit des Menschen auf
seine Weltanschauung und seine Ästhetik unmittelbar
eingewirkt. Die Ornamentik entnimmt ihre Motive der
Technik, und der Tanz — in dieser Gesellschaft wohl
die wichtigste Kunstart — beschränkt sich nicht selten
auf eine künstlerische Reproduktion des Arbeitspro¬
zesses ...« [a.a.O., S. 67]

Die Rolle der Psychologie in der Beurteilung von kultu¬


rellen Erzeugnissen der Klassengesellschaften:
»Um aber, sagen wir, ein Menuett zu begreifen, reicht
die Kenntnis der Ökonomie Frankreichs im 18. Jahr¬
hundert nicht mehr aus. Hier haben wir es mit Tänzen
zu tun, die die Psychologie der unproduktiven Klassen
ausdrücken. Durch die Psychologie dieser Art wird ein
großer Teil der Gebräuche und Anstandsformen< der
sogenannten anständigen Gesellschaft erklärt. Daraus
folgt nur, daß der ökonomische Faktor hier dem psycho¬
logischen seine Stelle einräumt. Aber man vergesse
nicht, daß die unproduktiven Klassen selbst ein Produkt
der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft sind.
Also behält dennoch der ökonomische Faktor seine über¬
ragende Bedeutung, auch wenn er seinen Platz an den
psychologischen Faktor abtritt. Er wird dann gerade
darin fühlbar, daß er die Möglichkeit und die Grenzen
des Einflusses der anderen Faktoren bestimmt.« [a.a.O.,

Allgemeine Formel für das Verhältnis von Basis und


Überbau:
»Wollten wir die Meinung von Marx und Engels über
das Verhältnis zwischen der nun berühmt gewordenen
190
>Basis < und dem nicht minder berühmt gewordenen
>Überbau< kurz ausdrücken, so würden wir folgendes
Schema erhalten:
1. Stand der Produktivkräfte;
2. die dadurch bedingten Wirtschaftsverhältnisse;
5. die sozial-politische Ordnung, die auf der ökonomi¬
schen >Basis< entstanden ist;
4. die teils unmittelbar durch die Ökonomie und teils
durch die darauf entstandene sozial-politische Ord¬
nung bestimmte Psychologie des gesellschaftlichen
Menschen;
5. verschiedene Ideologien, die die Eigenschaften dieser
Psychologie widerspiegeln.
Diese Formel ist weit genug, um alle >Formen< der
gesellschaftlichen Entwicklung zu umfassen. Gleich¬
zeitig steht sie dem Eklektizismus fern, der über die
Wechselwirkung verschiedener sozialer Kräfte nicht
hinausgeht und der nicht einmal ahnt, daß die Tat¬
sache der Wechselwirkung dieser Kräfte noch keines¬
wegs die Frage ihrer Entstehung löst. Unsere Formel ist
monistisch und vom Materialismus durchdrungen.«
[a.a.O., S. 77]

Die soziale >Teleologie< als Folge des sozialen Prozesses:

»Wenn eine Klasse ihre Befreiung durch eine soziale


Revolution vollzieht, so handelt sie dabei mehr oder
weniger zielbewußt, und ihre Tätigkeit erscheint als
Ursache dieser Umwälzung. Aber sowohl die Bestre¬
bungen dieser Klasse wie auch die dadurch hervor¬
gerufene Tätigkeit ist selbst eine Folge der wirtschaft¬
lichen Entwicklung, und daher durch die Notwendigkeit
bestimmt.
Die Soziologie wird zur Wissenschaft in dem Maße,
in dem es ihr gelingt, das Entstehen von Zielen bei den

191
Gesellschaftsmenschen (die soziale >Teleologie<) als not¬
wendige Folge des sozialen Prozesses zu erklären, der
seinerseits in letzter Linie durch den Gang der wirt¬
schaftlichen Entwicklung bestimmt wird.« [a.a.O.,
S. 93]

Einheit von Subjekt und Objekt in der historischen


Aktion:
»Wenn ich danach strebe, an einer Bewegung teilzu¬
nehmen, deren Sieg mir historisch notwendig erscheint,
so heißt das nur, daß ich meine Tätigkeit als das Glied
einer Kette von Bedingungen betrachte, deren Gesamtheit
den Sieg dieser Bewegung notwendig sichert. Nicht
mehr und nicht weniger. Für den Dualisten ist das
allerdings unbegreiflich, sehr klar dagegen für den, der
die Theorie der Einheit von Subjekt und Objekt erfaßt,
sowie ferner begriffen hat, wie sich diese Einheit in den
sozialen Erscheinungen äußert ...« [a.a.O.]

Formel für den historischen Materialismus:

»Ein gegebener Grad der Entwicklung der Produktiv¬


kräfte; die gegenseitigen Beziehungen der Menschen
zueinander in dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß,
bestimmt durch diesen Grad; eine Form der Gesell¬
schaft, die diese Beziehungen der Menschen ausdrückt;
ein bestimmter Zustand des Geistes und der Sitten, der
dieser Form der Gesellschaft entspricht; die Religion,
die Philosophie, die Literatur, die Kunst in Überein¬
stimmung mit den Fähigkeiten, den Geschmacks¬
richtungen und Neigungen, die dieser Zustand er-
zeugt ... diese >Formel< ... hat, wie uns scheint, den
unbestreitbaren Vorteil [gegenüber derjenigen H. Tai-
nes], besser den Kausalzusammenhang auszudrücken,
welcher zwischen den verschiedenen >Gliedern der
192
Reihe< besteht.« [Beiträge zur Geschichte des Materia¬
lismus (1896), Berlin 1946, S. 152]
»Jede bestimmte Entwicklungsstufe der Produktiv¬
kräfte führt notwendigerweise zu einer bestimmten
Gruppierung der Menschen im gesellschaftlichen Pro¬
duktionsprozeß, d. h. zu bestimmten Produktionsver¬
hältnissen, d. h. zu einer bestimmten Struktur der ge¬
samten Gesellschaft. Wenn aber die Struktur der
Gesellschaft gegeben ist, so ist es unschwer zu begreifen,
daß sich ihr Charakter in der ganzen Psychologie der
Menschen, in allen ihren Gewohnheiten, Sitten,
Gefühlen, Ansichten, Bestrebungen und Idealen wider-
spiegeln wird. Die Gewohnheiten, Sitten, Ansichten,
Bestrebungen und Ideale müssen sich unbedingt der
Lebensweise der Menschen, ihrer Art, sich Nahrung zu
beschaffen ... anpassen. Die Psychologie der Gesellschaft
ist hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Ökonomie immer
zweckmäßig, entspricht ihr immer, wird immer durch
sie bestimmt ... Ist es für die Gesellschaft in ihrem
Existenzkampf vorteilhaft, ihre Psychologie der Ökono¬
mie, den Lebensbedingungen anzupassen? Sehr vorteil¬
haft sogar, weil Gewohnheiten und Ansichten, die der
Ökonomie nicht entsprechen, die zu den Existenz¬
bedingungen in Widerspruch stehen, die Erhaltung der
Existenz stören würden. Eine zweckmäßige Psychologie
ist der Gesellschaft ebenso nützlich, wie ihren Zwecken
gut entsprechende Organe dem Organismus nützlich
sind.« \Zur Frage der Entwicklung der monistischen
Geschichtsauffassung (1895), Berlin 1956, S. 190]

Kritik an Jean Jaures:

»In jüngster Zeit hat Jean Jaures eine fundamentale


Versöhnung des ökonomischen Materialismus und des
Idealismus in ihrer Anwendung auf die Entwicklung

193
der Geschichte< versucht. Der glänzende Redner kommt
ein wenig spät, da die marxistische Geschichtsauffassung
nichts auf diesem Gebiet zu wersöhnem übrigläßt. Marx
hat den moralischen Gefühlen gegenüber, welche in der
Geschichte eine Rolle spielen, niemals die Augen ge¬
schlossen. Er hat den Ursprung dieser Gefühle erklärt.
Damit Jaures den Sinn dessen besser zu fassen vermag,
was er die >Formel von Marx< (der sich immer über
Menschen mit einer Formel lustig machte) zu nennen
beliebt, wollen wir ihm noch eine Stelle aus dem eben
zitierten Buch (18. Brumaire des Louis Bonaparte) an¬
führen. Es handelt sich um die >demokratisch-soziali-
stische< Partei, welche in Frankreich 1849 entstand.
>Der eigentümliche Charakter der Sozialdemokratie
faßt sich dahin zusammen, daß demokratisch-republika¬
nische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht
um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, aufzuheben,
sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in
Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Maßregeln
zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden
mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutio¬
nären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt
bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der
Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Um¬
änderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.
Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung
machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein
egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt
vielmehr, daß die besonderen Bedingungen seiner Be¬
freiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb
deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der
Klassenkampf vermieden werden kann. Man muß sich
ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Reprä¬
sentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben
schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer indivi-
194
duellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt
sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist,
daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinaus¬
kommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt,
daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen
theoretisch getrieben werden, wohin jenen das mate¬
rielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch
treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politi¬
schen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der
Klasse, die sie vertretene [K. Marx Der 18. Brumaire
des Louis Bonaparte, Berlin 1946, S. 40 ff.]
Die Vortrefflichkeit der dialektischen Methode des
Marxschen Materialismus zeigt sich am deutlichsten
da, wo es sich darum handelt, Probleme >moralischer<
Art zu lösen, vor denen der Materialismus des 18. Jahr¬
hunderts ohnmächtig stehenblieb. Um aber die Lö¬
sungen auch richtig zu begreifen, muß man sich
zunächst von metaphysischen Vorurteilen frei machen.
Jaures sagt umsonst: >Ich will nicht die materiali¬
stische Auffassung auf die eine Seite dieser Scheide¬
wand und die idealistische auf die andere steilem;
er kommt gerade zum System der Scheidewände
zurück, er stellt auf die eine Seite den Geist, auf
die andere die Materie, hier die ökonomische Not¬
wendigkeit, dort die moralischen Gefühle, und hält
ihnen dann eine Predigt, indem er ihnen zu beweisen
versucht, daß sie sich gegenseitig durchdringen sollten.«
[.Beiträge zur Geschichte des Materialismus (1896),
Berlin 1946, S. 162 ff.]

Die Bedeutung der internationalen ökonomischen Be¬


ziehungen für die Kulturentwicklung eines Landes:

»Die Literatur und schönen Künste eines jeden zivili¬


sierten Landes haben einen mehr oder weniger großen

195
Einfluß auf die Literatur und schönen Künste anderer
zivilisierter Länder. Dieser gegenseitige Einfluß ist eine
Wirkung der Ähnlichkeit der sozialen Struktur dieser
Länder. Eine im Kampfe mit ihren Gegnern befind¬
liche Klasse erobert sich in der Literatur eines Landes
eine Stellung. Wenn dieselbe Klasse in einem anderen
Lande sich zu rühren beginnt, bemächtigt sie sich der
von ihrer vorgeschritteneren Schwester geschaffenen
Ideen und Formen. Aber sie modifiziert dieselben und
geht über sie hinaus oder bleibt hinter ihnen zurück, je
nach dem Unterschied, der zwischen ihrer Lage und
der Lage der Klasse besteht, welche ihre Vorbilder schuf.
Wir haben gesehen, daß das geographische Milieu einen
großen Einfluß auf die historische Entwicklung der
Völker hatte. Wir sehen jetzt, daß die internationalen
Beziehungen vielleicht einen noch größeren Einfluß auf
diese Entwicklung haben. Die vereinigte Einwirkung des
geographischen Milieus und der internationalen Bezie¬
hungen erklärt die ungeheueren Unterschiede, die wir,
obwohl die fundamentalen Gesetze der sozialen Evolu¬
tion überall dieselben sind, in den historischen Schick¬
salen der Völker finden.« [a.a. O., S. 168]

Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte:

»Die Ursachen der Französischen Revolution lagen in


den Besonderheiten der gesellschaftlichen Beziehungen,
die vonSainte-Beuve vorausgesetzten geringfügigenUr-
sachen konnten aber nur in den individuellen Besonder¬
heiten der einzelnen Personen wurzeln. Die Endursache
der gesellschaftlichen Beziehungen liegt im Stand der
Produktivkräfte. Dieser hängt von den individuellen
Besonderheiten der einzelnen Personen höchstens in
em Sinne ab, daß die einzelnen Personen mehr oder
minder begabt sind, technische Vervollkommnungen,
196
Entdeckungen und Erfindungen zu machen. Sainte-
Beuve hatte nicht diese Besonderheiten im Auge. Alle
möglichen anderen Besonderheiten gewähren aber den
Einzelpersonen keinen immittelbaren Einfluß auf den
Stand der Produktivkräfte und folglich auch nicht auf
die gesellschaftlichen Beziehungen, durch die sie be¬
dingt werden, d. h. auf die ökonomischen Beziehungen.
Welches auch die Besonderheiten der gegebenen Per¬
sönlichkeit sein mögen, sie kann die gegebenen ökono¬
mischen Beziehungen nicht beseitigen, sobald diese
dem gegebenen Stand der Produktivkräfte entsprechen.
Aber die individuellen Besonderheiten der Persönlich¬
keit machen sie mehr oder weniger tauglich, die gesell¬
schaftlichen Bedürfnisse, die auf Grund der gegebenen
ökonomischen Beziehungen entstehen, zu befriedigen
oder dieser Befriedigung entgegenzuarbeiten. Am Aus¬
gang des 18. Jahrhunderts war das dringendste gesell¬
schaftliche Bedürfnis Frankreichs, die veralteten politi¬
schen Einrichtungen durch andere zu ersetzen, die
seiner neuen ökonomischen Struktur mehr entsprachen.
Die angesehensten und nutzbringendsten Politiker
jener Zeit waren namentlich diejenigen, die mehr als
alle anderen befähigt waren, in der Richtung der
Befriedigung dieser dringenden Bedürfnisse zu wirken.
Angenommen solche Männer waren Mirabeau, Robes-
pierre und Bonaparte. Was wäre geschehen, wenn der
vorzeitige Tod Mirabeau nicht von der politischen Arena
entfernt hätte? Die Partei der konstitutionellen Mon¬
archie hätte ihre bedeutende Macht länger behalten; ihr
Widerstand gegen die Republikaner wäre daher energi¬
scher gewesen. Aber nichts weiter. Kein Mirabeau
konnte damals den Sieg der Republikaner verhindern.
Mirabeaus Kraft beruhte ganz und gar auf der Sym¬
pathie und dem Vertrauen des Volkes zu ihm, das Volle
aber strebte die Republik an, denn der Hof wirkte durch

197
seine hartnäckige Verteidigung des alten Regimes auf
das Volle aufreizend ... Ungefähr dasselbe läßt sich
auch von Robespierre sagen ...« [ Über die Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte, Berlin 1952, S. 37 f.]
»Das was Napoleon im italienischen Feldzug und in
den anderen Feldzügen vollbracht hat, hätten andere
Generale vollbracht (wenn ihn in der Schlacht bei
Arcole eine Kugel niedergestreckt hätte). Sie hätten
wahrscheinlich nicht solche Talente an den Tag gelegt
wie er und hätten nicht so glänzende Siege errungen.
Die französische Republik wäre aber dennoch aus ihren
damaligen Kriegen als Siegerin hervorgegangen, denn
ihre Soldaten waren unvergleichlich besser als alle
anderen europäischen Soldaten. Was den 18. Brumaire
und seinen Einfluß auf das innere Leben Frankreichs
betrifft, so wären dem Wesen nach der allgemeine Gang
und Ausgang der Ereignisse wahrscheinlich dieselben
gewesen wie unter Napoleon. Die Republik siechte,
durch die Niederlage vom 9. Thermidor tödlich ge¬
troffen, langsam dahin. Das Direktorium war nicht
imstande, die Ordnung wiederherzustellen, die die
Bourgeoisie nunmehr sehnlichst herbeiwünschte, nach¬
dem sie sich von der Herrschaft der höheren Stände
befreit hatte. Zur Wiederherstellung der Ordnung be¬
durfte es eines >guten Degens<, wie sich Sieyes aus¬
druckte. Anfangs glaubte man, die Rolle des wohl¬
tätigen Degens würde General Jourdan spielen; als
er bei Novi fiel, nannte man Moreau, Macdonald, Ber-
nadotte. Von Bonaparte begann man erst später zu
re en ... Aber außer ihm gab es damals recht viele
enei gische, talentierte und ehrgeizige Egoisten. Der
atz, en es ihm gelang einzunehmen, wäre sicherlich
nicht unbesetzt geblieben
Einflußreiche Persönlichkeiten können dank der
Besonderheiten ihres Versandes und Charakters das
198
individuelle Gepräge der Geschehnisse und einige ihrer
besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allge¬
meine Richtung nicht ändern, die durch andere Kräfte
bestimmt wird.« [a.a.O., S. 59ff.]
»Die persönliche Kraft Napoleons erscheint uns in
äußerst vergrößerter Gestalt, da wir ihr die ganze gesell¬
schaftliche Kraft zuschreiben, von der sie vorgeschoben
und gestützt wurde. Sie erscheint uns als etwas ganz
Exklusives, denn andere Kräfte, die ihr glichen, sind
nicht aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überge¬
gangen. Und wenn man uns sagt: Was wäre, wenn es
keinen Napoleon gegeben hätte, so gerät unsere Phan¬
tasie in Verwirrung, und es scheint uns, daß ohne ihn
die ganze gesellschaftliche Bewegung, auf der seine
Kraft und sein Einfluß beruhen, überhaupt nicht hätte
zustande kommen können ...« [a.a.O., S. 41]
»Ein großer Mann ist nicht dadurch groß, daß seine
persönlichen Besonderheiten den großen geschicht¬
lichen Geschehnissen ein individuelles Gepräge ver¬
leihen, sondern dadurch, daß er Besonderheiten besitzt,
die ihn am fähigsten machen, den großen gesellschaft¬
lichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter dem
Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen ent¬
standen sind. In seinem bekannten Werk über die
Helden nennt Carlyle die großen Männer Beginner. Das
ist eine sehr gelungene Bezeichnung. Der große Mann
ist eben ein Beginner, er blickt weiter als die anderen
und will stärker als die anderen. Er löst die wissenschaft¬
lichen Aufgaben, die der vorhergegangene Verlauf der
geistigen Entwicklung der Gesellschaft auf die Tages¬
ordnung gesetzt hat; er weist die neuen gesellschaft¬
lichen Bedürfnisse auf, die durch die vorhergegangene
Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen er¬
zeugt worden sind; er ergreift die Initiative zur Befrie¬
digung dieser Bedürfnisse. Er ist ein Held ... in dem

199
Sinne, daß seine Tätigkeit der bewußte und freie Aus¬
druck dieses notwendigen und unbewußten Ganges
(der Dinge) ist. Darin liegt seine ganze Bedeutung,
darin seine ganze Kraft. Das ist aber eine gewaltige
Bedeutung, eine ungeheuere Kraft.« [a.a.O., S. 50f.]

W. I. LENIN

Der historische Materialismus eine Waffe im Klassen-


kampf :

»Marx ... erblickte den ganzen Wert seiner Theorie


dann, daß sie >ihrem Wesen nach kritisch und revolu¬
tionär ist. (Man beobachte, daß Marx hier von der
materialistischen Kritik spricht, die er als allein wissen¬
schaftlich betrachtet, das heißt von einer Kritik, die die
politischen, die juristischen, die sozialen, die Lebens¬
weise betreffenden und andere Tatsachen mit der
Ökonomie, mit dem System der Produktionsverhält¬
nisse, mit den Interessen der Klassen vergleicht, die auf
der Basis aller antagonistischen gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse unvermeidlich entstehen. Daß die russischen
gesellschaftlichen Verhältnisse antagonistisch sind, dar¬
an hat wohl niemand zweifeln können. Aber noch nie¬
mand hat versucht, sie zur Grundlage einer solchen
ntik zu machen.) Und diese zweitgenannte Eigen¬
schaft ist dem Marxismus tatsächlich restlos und unbe¬
dingt eigen, weil diese Theorie es sich direkt zur Auf¬
gabe stellt, alle Formen des Antagonismus und der Aus-

ihm TS /n de1' modernen Gesellschaft aufzudecken,


ihre Evolution zu verfolgen, ihren vorübergehenden
Charakter und die Unvermeidlichkeit ihrer Lwand

Wefselndeem ^ *achz— auf dfese


roletanat dazu zu dienen, daß es möglichst
200
bald und möglichst leicht jedweder Ausbeutung ein
Ende mache. Die unwiderstehliche Anziehungskraft,
die diese Theorie auf die Sozialisten aller Länder aus¬
übt, besteht gerade darin, daß sie strenge und höchste
Wissenschaftlichkeit mit revolutionärem Geist vereint,
und zwar nicht zufällig, nicht nur deshalb, weil der
Begründer der Doktrin persönlich die Eigenschaften
eines Gelehrten und eines Revolutionärs in sich ver¬
einigte, sondern da sie diese in der Theorie selbst
innerlich und unzertrennlich vereint.« [Was sind die
Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozial¬
demokratien (1894); zit. nach Marx/Engels Marxismus,
Moskau 1947, S. 78 ff.]

Das Verständnis von Bewußtsein und gesellschaftlichem


Sein im Geschichtsprozeß:
»Das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche
Bewußtsein sind nicht (wie A. A. Bogdanow erklärt
hatte) identisch, ebensowenig identisch wie Sein über¬
haupt und Bewußtsein überhaupt. Daraus, daß die
Menschen als bewußte Wesen in gesellschaftlichen Ver¬
kehr treten, folgt keineswegs, daß das gesellschaftliche
Bewußtsein mit dem gesellschaftlichen Sein identisch
ist. Während die Menschen miteinander in Verkehr
treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten
Gesellschaftsformationen — und insbesondere in der
kapitalistischen Gesellschaftsformation — dessen nicht
bewußt, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus
bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw.
Zum Beispiel: der Bauer, der Getreide verkauft, tritt
mit den Weltgetreideproduzenten auf dem Weltmarkt
in >Verkehr<, aber er ist sich dessen nicht bewußt... Das
gesellschaftliche Bewußtsein spiegelt das gesellschaftliche
Sein wider — darin besteht die Lehre von Marx. Eine
Widerspiegelung kann eine annähernd genaue Kopie des

201
Widergespiegelten sein, aber es wäre unsinnig, hierbei
von Identität zu sprechen. Das Bewußtsein spiegelt
überhaupt das Sein wider — das ist die allgemeine
These des ganzen Materialismus. Es geht nicht an,
ihren direkten und untrennbaren Zusammenhang mit der
These des historischen Materialismus: das gesellschaft¬
liche Bewußtsein spiegelt das gesellschaftliche Sein
wider, nicht zu sehen.« [Materialismus und Empirio¬
kritizismus (1908), dt. Moskau 1947, S. 347f.]
»... diese Theorie der Identität von gesellschaftlichem
Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein ist ein totaler
Unsinn, ist eine unbedingt reaktionäre Theorie. Wenn
einzelne Leute sie mit dem Marxismus, mit marxisti¬
schem Verhalten vereinbaren, so müssen wir zugeben,
daß diese Leute besser sind als ihre Theorien, wir dürfen
aber nicht haarsträubende theoretische Entstellungen
des Marxismus rechtfertigen.« [a.a. O., S. 349]
»Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist
sich dessen bewußt, daß er die und die Änderung in die
Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer
ist sich bewußt, daß er die und die Produkte gegen
andere austauscht, doch weder Produzent noch fVaren-
besitzer sind sich dessen bewußt, daß sie dadurch das
gesellschaftliche Sein verändern. Die Summe aller dieser
Veränderungen in allen ihren Verästelungen könnten
innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft auch 70
Marxe nicht bewältigen. Was höchstens geleistet
werden konnte, ist, daß die Gesetze dieser Veränderungen
entdeckt wurden, daß in den Haupt- und Grundzügen
die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer ge¬
schichtlichen Entwicklung aufgezeigt wurde — objektiv
nicht in dem Sinne, daß eine Gesellschaft von bewußten
Wesen, von Menschen existieren und sich entwickeln
konnte, unabhängig von der Existenz bewußter Wesen
... sondern in dem Sinne, daß das gesellschaftliche Sein
202
unabhängig ist von dem gesellschaftlichen Bewußtsein
der Menschen. Aus der Tatsache, daß ihr lebt und wirt¬
schaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, diese
austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette
von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem
gesellschaftlichen Bewußtsein unabhängig ist, die von
diesem niemals restlos erfaßt wird. Die höchste Aufgabe
der Menschheit ist, diese objektive Logik der wirtschaft¬
lichen Evolution (Evolution des gesellschaftlichen Seins)
in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um der¬
selben ihr gesellschaftliches Bewußtsein und das der
fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder
so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzu¬
passen.« [a. a. O., S. 550]
»Der Materialismus überhaupt erkennt das objektive
reale Sein (die Materie) als unabhängig von dem
Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der
Menschheit an. Der historische Materialismus aner¬
kennt das gesellschaftliche Sein unabhängig vom gesell¬
schaftlichen Bewußtsein der Menschheit. Das Bewußt¬
sein ist hier wie dort nur das Abbild des Seins ... Man
kann aus dieser, aus einem Guß geformten Philosophie
des Marxismus ... nicht einen einzigen wesentlichen Teil
wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu
entfernen, ohne der bürgerlich-reaktionären Lüge in
die Arme zu geraten.« [a.a.O., S. 350f.]

Die »Ausdehnung des Materialismus auf die Geschichte«:


»Die Entdeckung der materialistischen Geschichtsauf¬
fassung oder richtiger: die folgerichtige Fortführung,
die Ausdehnung des Materialismus auf das Gebiet der
gesellschaftlichen Erscheinungen hat zwei Hauptmängel
der früheren Geschichtstheorien beseitigt. Diese hatten
erstens im besten Falle nur die ideellen Motive des
geschichtlichen Handelns der Menschen zum Gegen-

203
stand der Betrachtung gemacht, ohne nachzuforschen,
wodurch diese Motive hervorgerufen werden, ohne die
objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des
Systems der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erfassen,
ohne die Wurzeln dieser Verhältnisse im Entwicklungs¬
grad der materiellen Produktion zu erblicken; zweitens
hatten die früheren Theorien gerade die Handlungen
der Massen der Bevölkerung außer acht gelassen, wäh¬
rend der historische Materialismus zum erstenmal die
Möglichkeit gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die
gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Massen sowie
die \eränderungen dieser Bedingungen zu erforschen.
Die >Soziologie< und die Geschichtsschreibung vor Marx
hatten im besten Falle eine Anhäufung von fragmen¬
tarisch gesammelten unverarbeiteten Tatsachen und die
Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses
geliefert. Der Marxismus wies den Weg zur allum¬
fassenden, allseitigen Erforschung des Prozesses der
Entstehung, der Entwicklung und des Verfalls der ge¬
sellschaftlich-ökonomischen Formationen, indem er die
Gesamtheit aller widerstreitenden Tendenzen unter¬
suchte, diese auf die exakt bestimmbaren Lebens- und
Produktionsverhältnisse der verschiedenen Klassen der
Gesellschaft zurückführte, den Subjektivismus und die
V illkur bei der Auswahl bzw. Auslegung der einzelnen
>vorherrschenden < Ideen ausschaltete und die Wurzeln
ausnahmslos aller Ideen und aller verschiedenen
endenzen un gegebenen Stand der materiellen Produk¬
tivkräfte aufzeigte. Die Menschen machen ihre Ge-
sclichte selbst; aber wodurch die Motive der Menschen
und namentlich die der Massen der Menschen bestimmt
wo um die Zusammenstöße der widerstreitenden
deen und Bestrebungen verursacht werden, was die
esamtheit aller dieser Zusammenstöße der ganzen
Masse der menschlichen Gesellschaften darstellt, was die
204
objektiven Produktionsbedingungen des materiellen
Lebens shid, die die Basis für alles geschichtliche
I landein der Menschen schaffen, wie das Entwicklungs¬
gesetz dieser Bedingungen lautet — auf all das machte
Marx aufmerksam und wies den Weg zum wissen¬
schaftlichen Studium der Geschichte als eines einheit¬
lichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und
Gegensätzlichkeit gesetzmäßigen Prozesses.« [KarlMarx,
Juli-November 1914; zit. nach Marx/Engels Marxismus,
Moskau 1947, S. 16 f.]

NIKOLAI BUCHARIN

Die Theorie des Gleichgewichts:

1. zwischen der Gesellschaft und dem Naturmilieu:


»Eine ähnliche Erscheinung (wie das Phänomen der
Anpassung in der Biologie) nehmen wir ... auch in der
Gesellschaft wahr. Ob recht oder schlecht, die Gesell¬
schaft existiert in der Natur: mehr oder weniger ist sie
an sie >angepaßt<, befindet sich so oder so im Gleich¬
gewicht mit der Natur. Auch die verschiedenen Teile
der Gesellschaft sind immerhin, soweit die Gesellschaft
lebt, so aneinander angepaßt, daß ihre gleichzeitige
Existenz möglich ist ... Wenn aber dem so ist, was hat
das mit Widersprüchen und Kampf zu tun? Gerade um¬
gekehrt: der Kampf ist ja eine Störung des Gleich¬
gewichts! ... Es handelt sich jedoch darum, daß das¬
jenige Gleichgewicht, das wir in Natur und Gesellschaft
beobachten, nicht ein absolutes, sondern ein bewegliches
Gleichgewicht ist ... Das heißt, daß das Gleichgewicht
eintritt und sofort gestört wird, auf neuer Grundlage
wieder eintritt und wieder gestört wird, und so immer
fort.« [Theorie des Historischen Materialismus, Ham¬
burg 1922, S. 74]

205
»Die Form dieses Prozesses ... ist, erstens, der Gleich¬
gewichtszustand; zweitens, die Störung dieses Gleich¬
gewichts; drittens, die Wiederherstellung des Gleich¬
gewichts auf neuer Grundlage. Und dann beginnt die
Geschichte von neuem: das neue Gleichgewicht wird
zum Ausgangspunkt für die neue Störung, dann folgt
wieder ein anderes Gleichgewicht und so fort, ins Un¬
endliche. Im großen und ganzen haben wir einen
Prozeß der Bewegung vor uns, dessen Grundlage die
Entwicklung der inneren Widersprüche bildet.« [a. a 0
S. 75]

Diese Bewegung bezeichnet Bucharin auch als


>Dialektik< und beruft sich auf den Hegelschen Drei¬
schritt von These-Antithese-Synthese. Endlich bemerkt
er in diesem Zusammenhang:

»Wir halten es für durchaus möglich, die, wie Marx sie


nannte, mystischem Sprache der Hegelschen Dialektik in
die Sprache der modernen Mechanik umzusetzen «
[a.a.O., S. 76]

Das Verhältnis >Milieu<-Gesellschaftssystem kann drei


Formen annehmen:

»Stabiles Gleichgewicht tritt ein, wenn das Wechselver¬


hältnis zwischen Milieu und System sich ausdrückt in
einer unveränderten Lage der Dinge oder in einer
solchen Störung der früheren Lage, die in ihrer früheren
Form wiederhergestellt wird ... Wenn das Verhältnis
zwischen Gesellschaft und Natur unverändert bleibt,
d. h. wenn die Gesellschaft durch Produktion aus der
i'atur genausoviel Energie aussaugt, wie sie veraus¬
gabt dann wird der Widerspruch zwischen der Gesell¬
schaft und der Natur in früherer Form wiederher¬
gestellt : die Gesellschaft verharrt auf einem Fleck, und

[a.a 0 S^f]11 Fal1 deS Stabllen Gleichgewichts.«

206
»Bewegliches Gleich gewacht mit positivem Vor¬
zeichen (Entwicklung des Systems) ... Wenn wir vor¬
aussetzen, daß das Verhältnis zwischen der mensch¬
lichen Gesellschaft und der Natur so geändert wird, daß
die Gesellschaft durch Produktion aus der Natur mehr
Energie aussaugt, als sie ausgibt (der Boden wurde
fruchtbarer, neue Werkzeuge wurden erfunden oder
beides) — dann wird diese Gesellschaft wachsen und
nicht auf einem Fleck verharren. Das neu eintretende
Gleichgewicht wird wirklich ein neues sein. Der Wider¬
spruch zwischen der Natur und der Gesellschaft wird
jedesmal auf neuer, >höherer< Stufe wiederhergestellt
werden ... Hier haben wir einen Fall des beweglichen
Gleichgewichts, sozusagen mit positivem Vorzeichen.«
[a. a. O., S. 78]
»Gesetzt den Fall, das Verhältnis zwischen der Natur
und der GeseUschaft ändert sich in der Richtung, daß
die Gesellschaft gezwungen wird, immer mehr auszu¬
gehen und immer weniger zu erhalten (der Boden wird
erschöpft, die Technik verschlechtert sich usw.) — dann
wird das neue Gleichgewicht auf herabgesetzter Grund¬
lage eintreten, auf Kosten des Unterganges eines Teiles
der Gesellschaft. Hier haben wir eine Bewegung mit
negativem Vorzeichen: die Gesellschaft wird eine unter¬
gehende, eine verfallende sein.
Auf diese drei Fälle lassen sich alle denkbaren Fälle
zurückführen. Der Bewegung liegt, wie wir gesehen
haben, tatsächlich ein Widerspruch zwischen Milieu
und System zugrunde, der beständig reproduziert
wird.« [a.a.O., S. 79]

2. zwischen den Elementen des Systems selbst:


»Aber es gibt auch innere Widersprüche, innerhalb des
Systems selbst. Jedes System besteht aus Bestandteilen
(Elementen), die auf diese oder jene Art miteinander

207
verbunden sind. Die menschliche Gesellschaft — aus
Menschen, der Wald — aus Bäumen und Sträuchern ...
Und hierbei gibt es eine ganze Reihe von Wider¬
sprüchen, Ungereimtheiten, Gegensätzen. Ein absolutes
Gleichgewicht gibt es da nicht. Wenn, streng genom¬
men, kein absolutes Gleichgewicht zwischen dem
Milieu und dem System besteht, so ist ein solches Gleich¬
gewicht auch zwischen den Elementen (Teilen) dieses
Systems selber nicht da.« [a.a.0., S. 79]

Sodann nennt Bucharin einige solcher Widersprüche


innerhalb des >Systems<: Klassenkampf, Widersprüche
zwischen Gruppen, zwischen Arbeitsorganisation und
Verteilung, zwischen den Idealen usw. und erklärt
endlich:

»Dessenungeachtet heben diese Widersprüche an sich


noch die Gesellschaft nicht auf. Sie können sie aufheben
(z. B. wenn im Bürgerkrieg die beiden kämpfenden
Klassen unter gehen), aber sie können sie auch einstweilen
nicht aufheben. Im letzteren Falle muß ein beweg¬
liches Gleichgewicht zwischen den Elementen der
Gesellschaft bestehen.« [a.a.O., S. 80]

5. Zusammenhang zwischen den beiden Relationen:


»... es ist vollkommen klar, daß der innere Bau des
Systems (das innere Gleichgewicht) sich ändern muß, je
nach dem Verhältnis, das zwischen dem System und
dem Milieu besteht. Das Verhältnis zwischen dem
ystem, und dem Milieu ist eirle entscheidende Größe.
Denn die ganze Lage des Systems, die Grundformen
seiner Bewegung (Verfall, Entwicklung, Stagnation)
werden gerade durch dieses Verhältnis bestimmt... Wir
sahen, daß der Charakter des Gleichgewichts zwischen
der Gesellschaft und der Natur die Grundlinie der
gesellschaftlichen Bewegung bestimmt. Kann unter
diesen Umstanden der innere Bau auf die Dauer sich in
208
entgegengesetzter Richtung entwickeln? Natürlich
nicht. Setzen wir voraus, daß wir es mit einer sich ent¬
wickelnden Gesellschaft zu tun haben. Kann unter
diesen Umständen der innere Bau der Gesellschaft
immerzu stagnieren? Natürlich nicht. Falls er aber bei
der Entwicklung sich verschlechtert, d. h. wenn die
innere Ungereimtheit wächst, so heißt es, daß ein
neuer Widerspruch zutage tritt: ein Widerspruch
zwischen dem inneren und dem äußeren Gleichgewicht.
Was dann? Wenn die Gesellschaft auch dann sich ent¬
wickeln wird, dann muß sie eine Umgestaltung er¬
fahren: d. h. ihre innere Struktur muß sich an den
Charakter des äußeren Gleichgewichts anpassen. Folg¬
lich: das innere (strukturelle) Gleichgewicht ist eine
Größe, die vom äußeren Gleichgewicht abhängig ist, ist
eine >Funktion< dieses äußeren Gleichgewichts.« [a.a.O.,
S. 81]
Eine solche Anpassung muß unter Umständen >sprung-
haft<, das heißt auf revolutionärem Wege erfolgen
[a.a.O., S. 84ff.].
In den folgenden Kapiteln füllt Bucharin das vorge¬
zeichnete Schema mit anschaulichem Inhalt. Die
Beziehung von Gesellschaft und Natur wird als durch die
menschliche Arbeit vermittelt nachgewiesen, die Art der
menschlichen >Anpassung< an die Natur als >aktive An-
passung< von der nur passiven der übrigen Lebewesen
unterschieden. So zeigt es sich, daß die Produktivität der
gesellschaftlichen Arbeit ganz genau die ganze >Bilanz<
zwischen Gesellschaft und Natur ausdrückt. Die Produk¬
tivität der gesellschaftlichen Arbeit ist auch der Anzeiger
jenes »WechselVerhältnisses zwischen der Umwelt und
dem System« [a.a.O., S. 124]:

»... den genauen materiellen Anzeiger für das Wechsel¬


verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft bildet das
System der gesellschaftlichen ArbeitsWerkzeuge, d. h. die
Technik dieser Gesellschaft. In dieser Technik drücken

209
sich die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft
und die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit aus.«
[a.a.O., S. 126]
»Die menschliche Gesellschaft arbeitet in und an der
Natur als dem Arbeitsgegenstand. Das unterliegt
keinem Zweifel. Aber jene Elemente, die an sich in der
Natur Vorkommen, sind hier mehr oder weniger be¬
ständig da. Sie können daher die Veränderung nicht
erklären. Verändert wird die gesellschaftliche Technik,
die sich natürlich an das anpaßt, was in der Natur vor¬
handen ist ... Ist aber die Technik die veränder¬
liche Größe, und zwar so, daß diese Veränderung
der Technik eine Änderung im Verhältnis zwischen
Natur und Gesellschaft hervorruft, so ist klar, daß
hier auch der Ausgangspunkt für die Analyse der
gesellschaftlichen Veränderungen liegen muß.« [a a O
S. 153]

Entsprechend behandelt das VI. Kapitel das Gleich¬


gewicht zwischen den Elementen der Gesellschaft im
Detail. Zunächst wird der enge Zusammenhang zwischen
den verschiedensten Phänomenen des zivilisatorischen
Fortschritts unterstrichen (unter Hinweis auf Comte,
Müller-Lyer, Spengler). Sodann wird die Gesellschaft als
ein komplexes System von »Sachen, Menschen und Ideen<
vorgeführt und endlich die »gesellschaftliche Technik als
bestimmender Faktor für das »System der Arbeitsverhält¬
nisse zwischen den Menschern [a.a.O., S. 150]:

»Jedes gegebene System der gesellschaftlichen Technik


bestimmt auch das System der Arbeitsverhältnisse
zwischen den Menschen. In der Tat, kann es denn vor-
'ommen, daß das technische System der Gesellschaft
der Aufbau ihrer Werkzeuge ein ganz anderes ist als
der Aufbau der menschlichen Beziehungen? Kann es
denn z. B. Vorkommen, daß das technische System der
Gesellschaft Maschinentechnik ist, während die Pro-
210
duktions- und Arbeitsverhältnisse Verhältnisse von
Handwerkern darstellen? Es ist klar, daß so etwas nicht
Vorkommen kann. Wenn die Gesellschaft existiert, so
muß ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen ihrer
Technik und ihrer Ökonomie bestehen, d. h. zwischen
der Gesamtheit ihrer Arbeitswerkzeuge und ihrer
Arbeitsorganisation, zwischen ihrem sachlichen Produk¬
tionsapparat und ihrem menschlichen Produktions¬
apparat.« [a.a.O.,S. 150 f.]
»Auf diese Weise bedingte die gesellschaftliche Tech¬
nik ... den Typus des Arbeiters. Aber diese Technik
bedingte auch die Verhältnisse zwischen den arbeiten¬
den Menschen ... Das ist die Arbeitsteilung. Wodurch
wurde diese Arbeitsteilung bedingt? Es ist klar: durch
das Vorhandensein der entsprechenden Arbeitswerk¬
zeuge. « [a.a.O., S. 152]
»So gelangen wir zu dem Schluß, daß die Kombina¬
tion der ArbeitsWerkzeuge, die gesellschaftliche Technik
bestimmend ist für die Kombinationen und Verhältnisse
der Menschen, d. h. für die gesellschaftliche Wirtschaft
(Ökonomie). All das bildet jedoch bloß die eine Seite,
den einen Teil der Produktionsverhältnisse. Nun müssen
wir bei einer anderen, sehr wichtigen und wesent¬
lichen Frage verweilen, nämlich der Frage der gesell¬
schaftlichen Klassen.« [a.a.O., S. 158]

Überbau — Ideologie — gesellschaftliche Psychologie:

»Unter Überbau werden wir jede beliebige Form der


gesellschaftlichen Erscheinungen verstehen, die sich
über der ökonomischen Basis erhebt: dazu gehört z. B.
die gesellschaftliche Psychologie, das sozialpolitische
Regime mit allen seinen materiellen Teilen (z. B.
Kanonen) und der Personenorganisation (Hierarchie der
Beamten) und auch solche Erscheinungen, wie die

211
Sprache oder das Denken. Der Überbau ist also der
allgemeinste Begriff.« [a.a. O., S. 238]
»Unter der gesellschaftlichen Ideologie werden wir
das System der Gedanken, Gefühle oder Verhaltungs¬
maßregeln (Normen) verstehen. Dazu gehören folglich
solche Erscheinungen, wie der Inhalt der Wissenschaft
(aber nicht z. B. das Fernrohr oder die Personenorgani¬
sation innerhalb eines chemischen Laboratoriums) und
der Kunst, die Gesamtheit der Normen, der Sitten oder
der Moral usw.
Unter gesellschaftlicher Psychologie werden wir die
nicht systematisierten oder wenig systematisierten
Gefühle, Gedanken und Stimmungen verstehen, die
die gegebene Gesellschaft, Klasse, Gruppe, Profession
usw. aufweist ...« [a.a.O., S. 238ff.]
»Der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen
Psychologie und der Ideologie besteht ... im Grad der
Systematisierung. Die gesellschaftliche Psychologie
tauchte wiederholt in der bürgerlichen Gesellschaft
unter der sehr geheimnisvollen Hülle des sogenannten
>Volksgeistes < oder Zeitgeistes < auf, den man sich in
Wirklichkeit vorstellte als irgendeine gesellschaftliche,
alleinige Seele im buchstäblichen Sinne des Wortes
Jedoch, in solchen Ausdrücken, wie >Zeitgeist< oder
>Volksgeist< steckt ein gewisser Sinn: diese Ausdrücke
deuten mit Recht auf zwei Tatsachen hin, die man
überall und allerorts beobachten kann: 1. darauf, daß zu
jeder gegebenen Zeit eine gewisse herrschende Strö¬
mung von Gedanken, Gefühlen und Stimmungen, eine
herrschende Psychologie vorhanden ist, die dem ganzen
eben der Gesellschaft ihre Färbung verleiht; 2. daß
diese herrschende Psychologie sich ändert, je nach dem
> lar ter er Epoche!, d. h. in unserer Ausdrucks weise,
je, nach den Bedingungen der gesellschaftlichen Ent¬
wicklung.« [a.a.O., S. 240ff.]
212
»Die gesellschaftliche Psychologie ist ein gewisses
Reservoir für die Ideologie. Man kann sie mit einer
Salzlösung vergleichen, aus der sich nach und nach die
Ideologie auskristallisiert. In der Tat, wir haben schon...
gesehen, daß die Ideologie sich durch eine größere
Systematisiertheit ihrer Elemente, d. h. der Gefühle,
Gedanken, Empfindungen, Gestalten usw. auszeichnet.
YY as wird von der Ideologie systematisiert? Sie systema¬
tisiert das, was wenig oder gar nicht systematisiert ist,
d. h. die gesellschaftliche Psychologie. Die Ideologien
sind das Geronnene der gesellschaftlichen Psycho¬
logie.« [a.a.O., S. 247f.]

Die aktive Rolle des Überbaus gegenüber der Basis:

»Was der Mensch von seiner (ideologischen) Arbeit


denkt, ist etwas anderes als die Rolle, die Bedeutung,
die seine Arbeit für die Gesellschaft hat. Das sind, wie es
jeder leicht einsehen kann, zwei verschiedene Dinge.
Stellen wir uns vor, wie die Sache in Wirklichkeit ge¬
schieht. Wie wir bereits gesehen haben, erwuchs die
Ideologie (sagen wir die Mathematik) unzweifelhaft aus
praktischen Bedürfnissen. Aber dann spezialisierte sie
sich und zerfiel in verschiedene Fächer. Der Fachmann,
der sich mit einem Fach beschäftigt, sieht nicht, daß
seine Wissenschaft ein praktisches Bedürfnis befriedigt.
Er selbst tut nur >seine Arbeit<, und je mehr er seine
Arbeit hebt, um so produktiver ist seine Arbeit, um so
eher geht sie vorwärts. Die praktische Anwendung
findet seine Theorie durch andere Leute, die in anderen
Fächern arbeiten ...« [a.a.O., S. 259]
»Der ganze Unterschied [zwischen der Arbeit >auf
dem Niveau der Basis < und >auf dem Niveau des Über¬
baus] ist der verschiedene Charakter der Funktionen.
Die Produktionsverwaltung spielt eine andere Rolle als

215
die Produktion selbst. Nämlich welche? Sie beseitigt die
Reibungen, hemmt die Gegensätze, systematisiert und
koordiniert die einzelnen Elemente der Arbeit, oder,
wie man sonst sagt, sie schafft eine bestimmte >Ordnung<
der Arbeit. Dasselbe ist auch auf anderen Gebieten der
Fall. Wir sahen z. B., daß die Moral, die Sitten und ähn¬
liche Normen die Handlungen der Menschen koordi¬
nieren und sie in bestimmten Bahnen festhalten, so daß
die Gesellschaft nicht in ihre Bestandteile auseinander¬
fällt. Und die Wissenschaft? ... Dieses Arbeitsgebiet
weist letzten Endes (wenn von den Naturwissenschaften
die Rede ist) dem Produktionsprozeß die Wege, steigert
seinen Effekt und regelt, ordnet seinen Gang. Und die
Philosophie? Wir haben wiederum gesehen, worin
deren wahre Bedeutung liegt. Die Arbeitsteilung zwi¬
schen den Wissenschaften erzeugt verschiedene Wider¬
sprüche zwischen ihnen. Die Philosophie koordiniert sie,
verleiht ihnen Ordnung und Verbundenheit (oder ver¬
sucht es zu tun).« [a.a.O., S. 263]
»Das Verhältnis zwischen ihnen (Basis-Arbeit und
Überbau-Arbeit) besteht darin, daß die ideologische
Arbeit, als abgeleitete Größe, zugleich ein regulierendes
Prinzip darstellt. In bezug auf die Gesamtheit des gesell¬
schaftlichen Lebens liegt der Unterschied im Unter¬
schied der Funktionen.« [a.a.O., S. 264]
»Dadurch wird auch folgende Frage vollkommen klar,
nämlich die Frage des »umgekehrten Einflusses des
Überbaus auf die ökonomische Basis und die Produktiv¬
kräfte der Gesellschaft!. Der Überbau selbst wird er¬
zeugt durch die ökonomischen Verhältnisse und die
Produktivkräfte, die diese Verhältnisse bestimmen. Aber
beeinflussen sie diese ihrerseits? Nach all dem Gesagten
ist klar, daß sie es tun müssen. Sie können eine Ent¬
wicklungskraft sein, sie können — unter bestimmten
Umstanden - zum Hemmschuh der Entwicklung
214
werden. Aber stets wirken sie, umgekehrt, auch auf die
ökonomische Basis sowie auf den Zustand der Produktiv¬
kräfte. Mit anderen Worten: zwischen den verschiede¬
nen Reihen der gesellschaftlichen Erscheinungen findet
ein stetiger Prozeß der Wechselwirkung statt. Ursache
und Wirkung tauschen die Plätze.« [a.a.O., S. 264]

A. MARTYNOW

Kritik an Bucharins Identifikation der Produktivkräfte


mit der Produktionstechnik:

»Bucharin geht von dem Standpunkt aus, der Begriff


der >Produktivkräfte < decke sich vollkommen mit dem¬
jenigen der >Technik<. Auf S. 126 schreibt er: >Den ge¬
nauen materiellen Anzeiger für das Wechselverhältnis
zwischen Natur und Gesellschaft bildet das System der
gesellschaftlichen Arbeitswerkzeuge, d. h. die Technik
dieser Gesellschaft. In dieser Technik drücken sich die
materiellen Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit
aus< ... In seiner Definition des Begriffs der Produktiv¬
kräfte steht Bucharin nicht allein. Viele russische
Marxisten teilten und teilen sie noch heute ...« [A. Mar-
tynow Die Theorie des beweglichen Gleichgewichts
der Gesellschaft und die Wechselbeziehungen zwischen
Gesellschaft und Milieu, Eine Kritik der »Theorie des
historischen Materialismus« Bucharins; in: »Unter dem
Banner des Marxismus«, IV. Jg., Heft 1, S. 103f.]
»Woher all diese Irrungen? Sie entspringen dem
Nichtverstehen des doppelten Charakters des Begriffs
Produktivkräfte, dem fehlenden Verständnis dafür, daß
die Produktivkräfte, vom Marxschen Standpunkt, so¬
wohl materielle Produktivkräfte als auch gesellschaftliche
sind ...« [So fasse zum Beispiel Marx im >KapitaU dessen

215
Zusammensetzung einmal mach der Seite des Werts <
(konstantes plus variables Kapital) und einmal mach
der Seite des Stoffs < (Produktionsmittel und lebendige
Arbeitskraft) auf. Wertzusammensetzung und tech¬
nische Zusammensetzung sei miteinander verbunden
aber nicht identisch.] »In demselben zweifachen Sinne
faßt Marx auch die Produktivkräfte auf. Wenn Marx vor
der Aufgabe steht, eine materialistische Erklärung der
Geschichte zu geben, betrachtet er die Produktivkräfte
von ihrer materiellen, der Natur zugekehrten Seite, und
dann betont er, daß das charakteristischste, das aus¬
schlaggebende Element der Produktivkräfte, die Arbeits¬
werkzeuge,, die Arbeitsmittel sind, die Technik [vgl.
Kapital, Bd. I, S. 389] ... Von diesem materialistischen
Standpunkt aus betrachtet Marx auch den Menschen
den Arbeiter als >Naturgegenstand<, als >Ding<. >Der
Mensch selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft be¬
trachtet, ist ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch
em lebendiges, selbstbewußtes Ding, und die Arbeit
selbst ist dingliche Äußerung jener Kraft [Kapital, Bd.I
S.211]. Von dem gleichen materialistischen Stand¬
punkt ausgehend, stellte Marx auch das Primat der
Produktion in der politischen Ökonomie fest ...«
Es folgt ein Abschnitt aus der Einleitung und
Vorrede zur Kritik der nnliHr,U„ Ai_ •

dialektischen Entwickli
<ung, die Ursache der Entstehung
216
von Widersprüchen zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen klarwerden wollen.
Wenn Marx und Engels die dialektischen Entwick¬
lungsgesetze der Gesellschaft aufdecken und klarstellen
wollen, so betrachten sie die Produktivkräfte von einer
anderen Seite, von derjenigen, die nicht der Natur,
sondern der Gesellschaft zugekehrt ist. In diesem Fall
wird betont, daß auch die Technik selber eine Verding¬
lichung früherer gesellschaftlicher Arbeit ist. In diesem
Falle betont Marx, daß sowohl der Teilarbeiter als auch
der >Gesamtarbeiter< Produktivkräfte sind: Unter allen
Produktionswerkzeugen sei die revolutionäre Klasse
selber die größte Produktivkraft, schrieb Marx. Und
was in diesem Falle von besonderer Wichtigkeit ist —
eine bestimmte Kategorie von Produktionsverhältnissen
wird von Marx ebenfalls in den Begriff Produktiv¬
kräfte auf genommen. Bereits Plechanow hat ... darauf
verwiesen, daß Marx und Engels den Ausdruck Pro¬
duktionsverhältnisse < in zweifachem Sinne gebrauchen:
»Wenn es sich bei ihnen um den grundlegenden Wider¬
spruch handelt, der die gesellschaftliche Entwicklung
vorwärtstreibt, so wird der Ausdruck Produktionsver¬
hältnisse“ von ihnen auch im engeren Sinne der Eigen¬
tumsverhältnisse gebraucht. In anderen Fällen werden
unter den materiellen Existenzbedingungen neuer Pro¬
duktionsverhältnisse (Eigentumsverhältnisse) ... auch
die unmittelbaren Verhältnisse der Produzenten im
Produktionsprozeß verstanden (z. B. die Organisation
der Arbeit in der Fabrik und in der Manufaktur).<
[Plechanow, Gesammelte Werke (russ.), Bd. XI, »Herr
P. Struve als Kritiker der Marxschen Werttheorie«]
Diese letztere Kategorie der Produktionsverhältnisse,
die man als arbeitstechnische Produktionsverhältnisse
(im Unterschied von den AJzgmtunwverhältnissen, den
sozialökonomischen Produktionsverhältnissen) bezeich-

217
nen kann, wird von Marx und Engels ebenfalls in den
Begriff der gesellschaftlichen Produktivkräfte einge¬
schlossen. Im ersten Band des Kapital spricht Marx in
einem Falle von der >aus der Kombination der Arbeiten
entspringenden Produktivkräfte in einem anderen
Falle von Produktivkräften, >die aus der Kooperation
und Teilung der Arbeit< entspringen ... Nunmehr ver¬
stehen wir, in welchem Sinne die Produktivkräfte den
Gegenstand der politischen Ökonomie bilden und in
welchem Sinne sie es nicht sind: im Sinne der Technik
sind sie nicht Gegenstand der Politökonomie, im Sinne
aber der arbeitstechnischen Produktionsverhältnisse der
Menschen sind sie es selbstverständlich. Die Entwick¬
lungsgeschichte der Technik — Handmühlen — Wind¬
mühlen — Dampfmühlen —, das alles gehört zur
Geschichte der Technologie; Handwerk, Kooperation,
Manufaktur, Fabrik — das alles gehört in die politische
Ökonomie, wovon auch die entsprechenden Kapitel des
ersten Bandes des Kapital von Marx zeugen «
[a.a.O., S. 104ff.]

Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Pro¬


duktionsverhältnissen :

»Nunmehr kommen wir zu der Frage, in welchem Sinne


Marx vom Widerspruch von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen spricht. Faßt man diesen
Widerspruch, nach Bucharin, als Widerspruch zwischen
Technik und Ökonomie auf, so wird es Unsinn sein.
er Marx und Engels fassen es ganz anders auf. Bereits
Plechanow schrieb ...: »Insofern die Gesamtheit vervoll¬
kommnter Werkzeuge der Arbeit deren bestimmte
rgamsatwn d; h. ein gewisses Verhältnis zwischen
roduzenten bedingt, ist die Fabrik ein gesellschaftliches
Produktionsverhältnis. Wenn dieses Verhältnis den
218
Eigentumsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft
zu widersprechen beginnt, wenn die Fabrik mit dern
Kapital nicht mehr friedlich auszukommen vermag, so
bedeutet dies, daß ein gewisser Teil der gesellschaft¬
lichen Produktionsverhältnisse ihrem andern Teil nicht
mehr entspricht, und daß der Satz ,die Produktivkräfte
der Gesellschaft widersprechen ihren Eigentumsverhält¬
nissen1 gerade in diesem Sinne aufzufassen ist, der jede
Möglichkeit ausschheßt, sich diese Kräfte und Verhält¬
nisse als irgendwelche selbständige Wesenheiten vor-
zustehen< [a.a.O.]. — In Wirklichkeit ist der dialek¬
tische Zusammenhang zwischen Technik und Produk¬
tionsverhältnissen noch komplizierter ... Einerseits ist
die Fabrik ein System von Maschinen, die von Arbeitern
in Bewegung gesetzt werden — insofern ist sie Technik.
Andererseits ist sie zugleich ein bestimmtes Verhältnis
von Produzenten — insofern ist sie ein arbeitstechnisches
Produktionsverhältnis (Kapital). Somit ist jede Fabrik
eine Einheit von Gegensätzen — Einheit von zwei Arten
von Produktionsverhältnissen, die miteinander in Kon¬
flikt kommen, nämlich der arbeitstechnischen und der
sozialökonomischen. Diese letzteren, in diesem Falle
kapitalistischen Produktionsverhältnisse, wirken in be¬
stimmter Weise auch auf die arbeitstechnischen zurück,
beeinflussen sie. Wenn z. B. das Verhältnis zwischen
dem Ingenieur und den Arbeitern der Fabrik ein arbeits¬
technisches Produktions Verhältnis, d. h. eine bestimmte
Arbeitsteilung darstellt, so verwandelt die Tatsache, daß
der Ingenieur im Betrieb die Interessen des Kapitalisten,
des Fabrikbesitzers vertritt, diese Arbeitsteilung in ein
Verhältnis der Herrschaft einerseits, der Unterordnung
andrerseits.« [a.a.O., S. 108]
»Aus der Argumentation Bucharins folgt, daß
»Technik < in unmittelbaren Konflikt mit der >ökonomie<
oder Natur mit der Gesellschaft gerät. Bei einer solchen

219
Fragestellung/iAh es an der von der Dialektik geforder¬
ten Einheit der Widersprüche. Nach Marx und Engels
aber bedeutet der Widerspruch zwischen Produktiv¬
kräften und Produktionsverhältnissen einen Wider¬
spruch zwischen zwei Arten von Produktionsverhält¬
nissen, d. h. einen inneren Widerspruch in den Produk¬
tionsverhältnissen der Gesellschaft.« [a.a.O., S. 109]
»Die Einheit der Gegensätze kommt in der Marxschen
Formulierung ferner darin zum Ausdruck, daß die
sozialökonomischen Produktionsverhältnisse einer be¬
stimmten Entwicklungsstufe der arbeitstechnischen
Produktionsverhältnisse entsprechen. Doch diese Ein¬
heit verwandelt sich in ihren Gegensatz, wenn die
sozialökonomischen Produktionsverhältnisse aus einer
Entwicklungsform der arbeitstechnischen Produktions¬
verhältnisse zu ihren Fesseln werden.« [a.a.O., S. 110]
»Es wächst die Technik, in engem Zusammenhang
und parallel mit ihr wachsen und entfalten sich die
arbeitstechnischen Produktionsverhältnisse, d. h. es
entwickelt sich der Vergesellschaftungsprozeß der
Arbeit. Diese zunehmende Vergesellschaftung der
Arbeit ist es, die in immer größeren Widerspruch zu
den sozialökonomischen kapitalistischen Produktions¬
verhältnissen gerät, bis endlich die kapitalistische Hülle
geprengt wird. In diesem Bild tritt sowohl die materiali¬
stische Seite des Prozesses — die Entwicklung der
lechnik — als seine Grundlage klar zutage, als auch im
gleichen Maße seine dialektische Seite — die inneren
Widersprüche der Produktionsverhältnisse — als trei¬
bende Kraft. Dieses ganze Bild ist bei Bucharm ver-
cunkelt und entstellt, denn er hat die Marxsche Dia¬
lektik den zweifachen Charakter der Produktivkräfte
mc t egriffen, hat sie einseitig mechanistisch ausge¬
legt. Dieses Nichtverstehen des dialektischen Charak-
ers er Wechselbeziehungen zwischen Produktiv-
220
kräften und Produktionsverhältnissen war es, das ihn
genötigt hat, in Gestalt der mechanistischen Theorie
des labilen Gleichgewichts der Gesellschaft ein Surrogat
der Marxschen geschichtlichen Entwicklungstheorie zu
schaffen.« [a.a.O., S. 110f.]

GEORG LUKÄCS

Zu der vorliegenden Auswahl aus seinem Werk Geschichte


und Klassenbewußtsein sandte Georg Lukäcs am 6.9.1962
aus Budapest folgende Erklärung:
»Geschichte und Klassenbewußtsein ist in den Jahren
1921/22 entstanden, als sein Verfasser an seinem Über¬
gang von Hegel zu Marx arbeitete. Das Werk trägt
deshalb gerade in den entscheidenden philosophischen
Fragen alle Merkmale eines solchen Übergangs an sich.
Das zeigt sich vor allem darin, daß das Grundprinzip
der marxschen Erkenntnistheorie — eine vom Be¬
wußtsein unabhängig existierende objektive Wirklich¬
keit und ihre Widerspiegelung im menschlichen Be¬
wußtsein — zwar immer wieder auftaucht, jedoch
im allgemeinen vom Hegelschen identischen Subjekt-
Objekt überwuchert wird. Dieses Schwanken hat ver¬
schiedenartige, weittragende Konsequenzen; so das
Leugnen einer Dialektik in der Natur etc. Es beeinflußt
aber vor allem das entscheidende Problem des Buches,
das Problem der Verdinglichung, indem in der Haupt¬
linie der Ausführungen, wie bei Hegel, Verdinglichung
(Entäußerung, Entfremdung) mit Gegenständlichkeit
identifiziert wird. Damit wird aus einem gesellschaft¬
lich-geschichtlichen Problem ein ontologisches gemacht
oder, wie dies heute ebenfalls sehr oft geschieht, die
soziale Kategorie in eine anthropologische verwandelt.
In beiden Fällen erwächst daraus ein historischer Fata¬
lismus diesem Phänomen gegenüber.

221
Ich habe im Jahre 1930 die Ökonomisch-philosophi¬
schen Manuskripte des jungen Marx noch vor ihrer
Veröffentlichung studiert und habe dadurch die rich¬
tige Einsicht in diese Problemlage errungen. Seitdem
bemühe ich mich stets, die Leser von Geschichte und
Klassenbewußtsein vor dem prinzipiellen Fehler dieses
Werkes zu warnen. Leider hat auch die Veröffentli¬
chung des Marxschen Jugendwerkes wenig genutzt;
überwiegend wird es hegelisch interpretiert, statt als
fundamentale Kritik dieser Konzeption Hegels zu die¬
nen. Ich selbst habe im letzten Kapitel meines Buches
über den jungen Hegel (Zürich 1948) diesen Tatbe¬
stand zu klären versucht. Ich muß also auch hier die
alte Warnung wiederholen: wer die Hegelsche Auffas¬
sung nicht wie Marx kritisiert und kritisch überwin¬
det, gerät in dieselbe theoretische Sackgasse, in die
seinerzeit Geschichte und Klassenbewußtsein geraten ist.«

Der Zweck seiner Untersuchungen:

»Wenn diese Ausführungen keinen höheren Anspruch


erheben, als eine Interpretation, eine Auslegung der
Lehre von Marx im Sinne von Marx zu sein, so bedeutet
diese Orthodoxie keineswegs die Absicht, nach den
Worten Herrn von Struves, die >ästhetische Integrität
des Marxschen Systems zu bewahren <. Vielmehr ist diese
Zielsetzung von der Anschauung bestimmt, daß in der
Lehre und der Methode von Marx die richtige Methode
der Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte endlich
gefunden worden ist. Diese Methode ist in ihrem inner¬

em WfSon hlSt0risch' Es versteht sich deshalb von


se bst, daß sie ununterbrochen auf sich selbst angewendet
werden muß, und dies bildet einen der wesentlichen
Punkte d^ser Aufsätze. Das schließt aber zugleich eine
sachlich-inhaltliche Stellungnahme zu den aktuellen
222
Problemen der Gegenwart ein, da infolge dieser Auf¬
fassung der marxistischen Methode ihr vornehmstes
Z,iel die Erkenntnis der Gegenwart ist ...« [Geschichte
und Klassenbewußtsein, Berlin 1925, S. 7]

Die Suche nach dem Subjekt der Tathandlung in der


klassischen deutschen Philosophie:

»Das Denken muß versuchen, jenes Subjekt des Den¬


kens aufzufinden, als dessen Produkt das Dasein — ohne
hiatus irrationalis — ohne jenseitiges Ding an sich —
gedacht werden kann ...« [a.a.O., S. 155]
»Ganz allgemein entsteht damit die Tendenz für die
Philosophie: zu einer Konzeption des Subjekts vorzu-
dringen, das als Erzeuger der Totalität der Inhalte ge¬
dacht werden kann. Und wiederum ganz allgemein, rein
programmatisch gesprochen, entsteht hieraus die For¬
derung : ein Niveau der Gegenständlichkeit, des Setzens
der Gegenstände aufzufinden, wo die Zweiheit von
Subjekt und Objekt (die Zweiheit von Denken und Sein
ist nur ein Spezialfall dieser Struktur) aufgehoben ist,
wo Subjekt und Objekt zusammenfallen. Selbstredend
waren die großen Vertreter der klassischen Philosophie
viel zu scharfblickend und kritisch, um die Zweiheit von
Subjekt und Objekt in der Empirie zu übersehen; ja, sie
haben in eben dieser gespaltenen Struktur die Grund¬
struktur der empirischen Gegenständlichkeit erblickt.
Die Forderung, das Programm ging viel mehr darauf
hinaus, jenen Einheitspunkt aufzufinden, um von dort
aus diese Zweiheit von Subjekt und Objekt in
der Empirie, also die Gegenständlichkeitsform der
Empirie verständlich zu machen, abzuleiten, zu Er¬
zeugern. Im Gegensatz zum dogmatischen Hinneh¬
men einer — subjektfremden — bloß gegebenen
Wirklichkeit, entsteht die Forderung: von dem iden-

225
tischen Subjekt-Objekt aus jede Gegebenheit als Produkt
dieses identischen Subjekt-Objekts, jede Zweiheit als
abgeleiteten Spezialfall dieser Ureinheit zu begreifen.«
[a.a.O., S. 135 f.]
»Wie wenig es sich hier — wie überall in der klassi¬
schen Philosophie — um reine Gelehrtenkämpfe han¬
delt, zeigt sich am klarsten, wenn wir ... dieselbe Frage
auf einer gedanklich weniger durchgearbeiteten, sach¬
lich jedoch dem gesellschaftlichen Lebensgrund näher¬
liegenden und darum konkreteren Stufe betrachten.
Plechanow hebt sehr scharf die gedankliche Schranke
des Weltbegreifens, an die der bürgerliche Materialis¬
mus des 18. Jahrhunderts gestoßen wurde, hervor:
einerseits erscheint der Mensch als Produkt des sozialen
Milieus, andererseits wird >das soziale Milieu durch
die ,öffentliche Meinung1 erzeugt, d. h. durch den
Menschern. Die Antinomie, die uns in dem — schein¬
bar — rein erkenntnistheoretischen Problem der
Erzeugung, in der systematischen Frage nach dem
Subjekt der >Tathandlung<, nach dem >Erzeuger< der
einheitlich erfaßten Wirklichkeit entgegentrat, offen¬
bart hier ihre gesellschaftliche Grundlage ...« [a.a.O.,
S. 148 f.]

Ausfühl lieh geht Lukäcs sodann auf die Bedeutung der


Kunst und Kunsttheorie für die klassische Philosophie
(Kant-Schiller-Romantik) ein, da in ihr eine Erkenntnis-
ait gefunden zu sein scheint, >die im Anschaun spontan
(das heißt aktiv) und nicht rezeptiv (kontemplativ) ist<
(a.a.O., S. 155), eine Erkenntnis also, die zugleich ihren
Gegenstand real zu konstituieren scheint.

Die Bedeutung Hegels:


»Die Genesis, die Erzeugung des Erzeugers der Er¬
kenntnis, die Auflösung der Ding-an-sich-Irrationalität,
die Erweckung des begrabenen Menschen konzentriert

224
sich ... nunmehr konkret auf die Frage der dialekti¬
schen Methode. In ihr erhält die Forderung des intuiti¬
ven Verstandes (der methodischen Überwindung des
rationalistischen Erkenntnisprinzips) eine klare, objek¬
tive und wissenschaftliche Gestalt ...« [a.a.O., S. 156]
»Mit dieser Einstellung [Hegels], in der die beiden
Hauptmomente der Ding-an-sich-Irrationalität, die
Konkretheit des Einzelinhalts und die Totalität nun¬
mehr positiv gewendet in ihrer Einheit erscheinen,
ändert sich zugleich die Beziehung von Theorie und
Praxis und mit ihr die von Freiheit und Notwendigkeit.
Das von uns selbst Gemachte der Wirklichkeit verliert
hier sein sonst mehr oder weniger fiktionsartiges
Wesen: wir haben — nach dem ... prophetischen Wort
von Vico — unsere Geschichte selbst gemacht und
wenn wir die ganze Wirklichkeit als Geschichte (also als
unsere Geschichte, denn eine andere gibt es nicht) zu
betrachten imstande sind, so haben wir uns tatsächlich
zu dem Standpunkt erhoben, wo die Wirklichkeit als
unsere >Tathandlung< aufgefaßt werden kann. Das
Dilemma der Materialisten hat seinen Sinn verloren,
denn es enthüllt sich als rationalistische Beschränktheit,
als Dogmatismus des formalen Verstandes, nur in
unseren bewußten Handlungen unsere Taten zu er¬
kennen und die von uns selbst geschaffene Umwelt der
Geschichte, das Produkt des Geschichtsprozesses als uns
fremdgesetzlich beeinflussende Wirklichkeit aufzu¬
fassen. Hier jedoch ... erhebt sich erneut, jetzt aber ganz
konkret die entscheidende Frage dieses Denkens: die
Frage nach dem Subjekt der Tathandlung, der Genesis.
Denn die >Einheit von Subjekt und Objekt<, von Denken
und Sein, die die >Tathandlung< nachzuweisen und auf¬
zuzeigen unternahm, hat tatsächlich ihren Erfüllungs¬
ort und ihr Substrat in der Einheit von Genesis der
Gedankenbestimmungen und Geschichte des Werdens der

225
Wirklichkeit. Diese Einheit kann aber nur dann als be¬
griffene Einheit gelten, wenn in der Geschichte nicht
bloß auf den methodischen Ort der Auflösbarkeit all
dieser Probleme hingewiesen wird, sondern das >Wir<,
das Subjekt der Geschichte, jenes >Wir<, dessen Hand¬
lung die Geschichte wirklich ist, konkret aufgezeigt
werden kann.
An diesem Punkte hat aber die klassische Philosophie
kehrt gemacht und sich ins ausweglose Labyrinth der
Begriffsmythologie verirrt ...« [a.a.O., S. 160f.]
»Hegel, der in jeder Beziehung den Gipfelpunkt dieser
Entwicklung repräsentiert, hat auch dieses Subjekt [der
Tathandlung] in der ernsthaftesten Weise gesucht.
Das >Wir<, das er zu finden vermochte, ist bekanntlich
der Weltgeist, oder besser gesagt sind seine konkreten
Gestalten, die einzelnen Volksgeister ... [Aber] selbst,
wenn alle Voraussetzungen Hegels kritiklos zugegeben
würden, wäre dieses Subjekt [nicht imstande], die ihm
zugewiesene, methodisch-systematische Funktion [auch
vom Standpunkt Hegels] ... zu erfüllen. Denn der
Volksgeist kann auch für Hegel nur eine >natürliche<
Bestimmtheit des Weltgeistes sein, d. h. eine, >welche
erst in dem höheren Momente, nämlich im Bewußtsein
über ihr Wesen, die Beschränkung auszieht und nur in
diesem Erkennen ihre absolute Wahrheit hat, nicht
aber unmittelbar in ihrem Sein.< {Werke, Bd. II, S. 267)
Daraus folgt vor allem, daß der Volksgeist nur scheinbar
das Subjekt der Geschichte, der Täter seiner Taten ist-
es ist vielmehr der Weltgeist, der ... durch es, über es
hinweg, seine Taten vollführt. So wird aber das Tun für
den Tater selbst transzendent, und die scheinbar errun¬
gene Freiheit verwandelt sich unversehens in jene fiktive
reihen der Reflexion über die einen selbst bewegenden
Gesetze, die der geworfene Stein des Spinoza haben
wurde, wenn er ein Bewußtsein hätte.« [a. a. O., S. 161 f.]
226
Hegels Erklärung für diesen Sachverhalt durch die
>List der Vernunft< könne aber >nur dann mehr als eine
Mythologie sein, wenn die wirkliche Vernunfu aufgefun¬
den und aufgezeigt werde.

»Hier ist der Punkt, wo die Philosophie Hegels mit


methodischer Notwendigkeit in die Mythologie ge¬
trieben wird. Denn indem es ihr unmöglich geworden
ist, das identische Subjekt-Objekt in der Geschichte
selbst aufzufinden und aufzuzeigen, ist sie gezwungen,
über die Geschichte hinauszugehen und jenseits der
Geschichte jenes Reich der sich selbst erreichten Ver¬
nunft zu errichten, von dem aus dann die Geschichte
als Stufe, der Weg als >List der Vernunft< begriffen
werden kann. Die Geschichte ist nicht imstande, den
lebendigen Körper der Totalität des Systems zu bilden:
sie wird ein Teil, ein Moment des Gesamtsystems, das im
>absoluten Geist<, in Kunst, Religion und Philosophie
gipfelt ...« [a.a.O., S. 162]
»Die klassische Philosophie hat zwar alle Antinomien
ihres Lebensgrundes auf die letzte, ihr erreichbare
gedankliche Spitze getrieben, sie hat ihnen den höchst¬
möglichen gedanklichen Ausdruck verliehen: sie bleiben
aber auch für dieses Denken unaufgelöste und unlösbare
Antinomien. Die klassische Philosophie befindet sich
also entwicklungsgeschichtlich in der paradoxen Lage,
daß sie darauf ausgeht, die bürgerliche Gesellschaft ge¬
danklich zu überwinden, den in ihr und von ihr ver¬
nichteten Menschen spekulativ zum Leben zu erwecken,
in ihren Resultaten jedoch bloß zur vollständigen gedank¬
lichen Reproduktion, zur apriorischen Deduktion der
bürgerlichen Gesellschaft gelangt ist. Nur die Art dieser
Deduktion, die dialektische Methode weist über die
bürgerliche Gesellschaft hinaus ...« [a.a.O., S. 164]
»Die Fortsetzung jener Wendung ihres Weges, die
wenigstens methodisch über diese Schranken hinaus-

227
zuweisen begann, die dialektische Methode als Methode
der Geschichte ist jener Klasse Vorbehalten geblieben, die
das identische Subjekt-Objekt, das Subjekt der Tathand¬
lung, das >Wir< der Genesis von ihrem Lebensgrund aus
in sich selbst zu entdecken fähig war: dem Proletariats.«
[a. a.O.j

Das Proletariat als identisches Subjekt-Objekt der Ge¬


schichte und die Überwindung der Antinomien des
bürgerlichen Bewußtseins:

»Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der


Empirie und ihre ebenso bloß unmittelbaren rationali¬
stischen Spiegelungen darf sich also zu keinem Ver¬
such, über die Immanenz des (gesellschaftlichen) Seins
hinauszugehen, steigern, wenn dieses falsche Transzen¬
dieren nicht die Unmittelbarkeit der Empirie mit allen
ihren unlösbaren Fragen in einer philosophisch subli¬
mierten Weise noch einmal fixieren und verewigen soll
[wie in der Philosophie des deutschen Idealismus], Das
Hinausgehen über die Empirie kann im Gegenteil nur
so viel bedeuten, daß die Gegenstände der Empirie selbst
als Momente der Totalität, d. h. als Momente der sich
geschichtlich umwälzenden Gesamtgesellschaft, erfaßt und
verstanden werden. Die Kategorie der Vermittlung als
methodischer Hebel zur Überwindung der bloßen Un¬
mittelbarkeit der Empirie ist also nichts von außen
(subjektiv) m die Gegenstände Hineingetragenes, ist
kern Werturteil oder Sollen, das ihrem Sein gegenüber¬
stände, sondern ist das Offenbarwerden ihrer eigent¬
lichen, objektiven Struktur selbst. Diese kann aber
erst infolge des Aufgebens der falschen Einstellung des
urgerhchen Denkens an den Gegenständen zum Vor¬
schein kommen und ins Bewußtsein gehoben werden,
enn die Vermittlung wäre unmöglich, wenn nicht
228
bereits das empirische Dasein der Gegenstände selbst
ein vermitteltes wäre, das nur darum und insofern den
Schein der Unmittelbarkeit erhält, als einerseits das
Bewußtsein der Vermittlung fehlt, andererseits die
Gegenstände (eben deshalb) aus dem Komplex ihrer
wirklichen Bestimmungen gerissen und in eine künst¬
liche Isolation gebracht worden sind.« [a.a.O., S. 178f.]
»Gerade weil sein (des Proletariates) praktisches Ziel
eine grundlegende Umwälzung der Gesamtgesellschaft
ist, faßt es die bürgerliche Gesellschaft, zusammen mit
ihren gedanklichen, künstlerischen usw. Bearbeitungen,
als Ausgangspunkt der Methode auf. Die methodolo¬
gische Funktion der Vermittlungskategorie besteht
darin, daß durch ihre Hilfe jene immanenten Bedeu¬
tungen, die den Gegenständen der bürgerlichen Gesell¬
schaft notwendig zukommen, die aber ihrer unmittel¬
baren Erscheinung in der bürgerlichen Gesellschaft und
dementsprechend ihren Spiegelungen im bürgerlichen
Denken ebenso notwendig fehlen, objektiv wirksam
werden und darum ins Bewußtsein des Proletariats auf¬
gehoben werden können. Das heißt, es ist geradeso¬
wenig ein Zufall wie ein rein theoretisch-wissenschaft¬
liches Problem, daß das Bürgertum theoretisch in der
Unmittelbarkeit steckenbleibt, während das Prole¬
tariat darüber hinausgeht. In dem Unterschied dieser
beiden theoretischen Einstellungen drückt sich vielmehr
die Verschiedenheit des gesellschaftlichen Seins beider
Klassen aus. Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom
Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissen¬
schaftlich höhere; liegt doch in ihr methodisch die Auf¬
lösung jener Probleme, um die die größten Denker der
bürgerlichen Epoche vergeblich gerungen haben, sach¬
lich die adäquate geschichtliche Erkenntnis des Kapita¬
lismus, die für das bürgerliche Denken unerreichbar
bleiben muß.« [a.a.O., S. 179f.]
229
»Für das Proletariat ist es eine Frage von Gedeihen
oder Verderben, sich über das dialektische Wesen
seines Daseins bewußt zu werden, während die Bour¬
geoisie die dialektische Struktur des Geschichtsprozes¬
ses im Alltagsleben mit den abstrakten Reflexions¬
kategorien der Quantifizierung, des unendlichen Pro¬
gresses usw. verdeckt, um dann in den Momenten des
Umschlags unvermittelte Katastrophen zu erleben ...«
[a.a.O., S. 181]
»Vor allem kann sich der Arbeiter über sein gesell¬
schaftliches Sein nur dann bewußt werden, wenn er
über sich selbst als Ware bewußt wird. Sein unmittel¬
bares Sein stellt ihn ... als reines und bloßes Objekt in
den Produktionsprozeß ein. Indem sich diese Unmittel¬
barkeit als Folge von mannigfaltigen Vermittlungen
erweist, indem es klarzuwerden beginnt, was alles
diese Unmittelbarkeit voraussetzt, beginnen die fetischi¬
stischen Formen der Warenstruktur zu zerfallen: der
Arbeiter erkennt sich selbst und seine Beziehungen zum
Kapital in der Ware. Soweit er noch praktisch unfähig
ist, sich über diese Objektsrolle zu erheben, ist sein
Bewußtsein: das Selbstbewußtsein der Ware; oder
anders ausgedrückt: die Selbsterkenntnis, die Selbstent-
hullung der auf Warenproduktion, auf Warenverkehr
fundierten kapitalistischen Gesellschaft.« [a.a.O., S. 185]
»Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber
bereits als Erkenntnis: praktisch. Das heißt diese Er¬
kenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Ver¬
änderung am Objekt ihrer Erkenntnis. Der objektive
Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ihr >Gebrauchs-
wert< (ihre Fähigkeit, ein Mehrprodukt zu liefern), der
wie jeder Gebrauchswert in den quantitativen Tausch-
ategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht, er¬
wacht in diesem Bewußtsein, durch dieses Bewußtsein
ZUr gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Spezialcharakter
230
der Arbeit als Ware, ohne dieses Bewußtsein ein uner¬
kanntes Triebrad der ökonomischen Entwicklung,
objektiviert sich selbst durch dieses Bewußtsein. Indem
aber die spezifische Gegenständlichkeit dieser Waren¬
art, daß sie unter dinglicher Hülle eine Beziehung
zwischen Menschen, unter der quantifizierenden Kruste
ein qualitativer, lebendiger Kern ist, zum Vorschein
kommt, kann der auf die Arbeitskraft als Ware fun¬
dierte Fetischcharakter einer jeden Ware enthüllt
werden: in jeder tritt ihr Kern, die Beziehung zwischen
Menschen als Faktor in die gesellschaftliche Entwick¬
lung ein.« [a.a.O., S. 185]
»Der große Schritt, den der Marxismus als wissen¬
schaftlicher Standpunkt des Proletariats ... über Hegel
hinaus vollzieht, besteht darin, daß er die Reflexions¬
bestimmungen nicht als eine >ewige< Stufe des Erfassens
der Wirklichkeit überhaupt, sondern als die notwendige
Existential- und Denkform der bürgerlichen Gesellschaft,
der Verdinglichung des Seins und des Denkens begreift
und damit in der Geschichte selbst die Dialektik ent¬
deckt ... Der Träger dieses Bewußtseinsprozesses ist
aber ... das Proletariat. Indem sein Bewußtsein als
immanente Folge der geschichtlichen Dialektik er¬
scheint, erscheint es selbst dialektisch. Das heißt, einer¬
seits ist dieses Bewußtsein nichts als das Aussprechen
des geschichtlich Notwendigen. Das Proletariat >hat
keine Ideale zu verwirklichen<. Das Bewußtsein des
Proletariats kann in die Praxis umgesetzt nur das von
der geschichtlichen Dialektik zur Entscheidung Ge¬
drängte ins Leben rufen, niemals aber sich praktisch<
über den Gang der Geschichte hinwegsetzen und bloße
Wünsche oder Erkenntnisse ihr aufzwingen. Denn es
selbst ist ja nichts als der bewußtgewordene Wider¬
spruch der gesellschaftlichen Entwicklung. Anderer¬
seits jedoch ist eine dialektische Notwendigkeit mit

251
einer mechanisch-kausalen keineswegs identisch. Im
Anschluß an die eben angeführte Stelle sagt Marx: die
Arbeiterklasse >hat nur die Elemente der neuen Gesell¬
schaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß
der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft ent¬
wickelt habeno Zu dem bloßen Widerspruch — dem
automatisch-gesetzmäßigen Produkt der kapitalisti¬
schen Entwicklung — muß also etwas Neues hinzu¬
treten-. das zur Tat werdende Bewußtsein des Prole¬
tariats. Indem aber sich dadurch der bloße Widerspruch
zum bewußt-dialektischen Widerspruch erhöht, indem
das Bewußtwerden zum praktischen Über gangspunkt
wird, zeigt sich die bereits öfter erwähnte Wesensart
der proletarischen Dialektik abermals konkreter: da
das Bewußtsein hier nicht das Bewußtsein über einen
ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das
Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt
des Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines
Objekts.« [a.a.O., S. 194f.]
»Erscheint nun — hegelisch gesprochen — das
Werden als die Wahrheit des Seins, der Prozeß als die
Wahrheit der Dinge, so bedeutet dies, daß den Entwick¬
lungstendenzen der Geschichte eine höhere Wirklichkeit
zukommt als den Tatsachen< der bloßen Empirie «
[a.a.O., S. 198]
»Methodisch ist dieser Wirklichkeitsunterschied zwi¬
schen /Tatsache < und Tendenz von Marx an unzähligen
Stellen in den Vordergrund der Betrachtung gehoben
worden Ist doch bereits der methodische Grundgedanke
seines Hauptwerks, die Rückverwandlung der ökonomi¬
schen Gegenstände aus Dingen in prozeßartig sich
wandelnde konkrete Beziehungen zwischen Menschen
auf diesen Gedanken aufgebaut. Daraus folgt aber
weiter, daß die methodische Priorität, die Stelle im
System (als ursprünglich oder abgeleitet) den einzelnen
252
Formen des ökonomischen Aufbaues der Gesellschaft je
nachdem zukommt, wieweit sie von diesem Moment
der Rückverwandelbarkeit entfernt sind. Darauf grün¬
det sich die Priorität des industriellen Kapitals vor
Handelskapital,Geldhandelskapitalusw.« [a. a. O.,S.200]
Allein das Proletariat ist als Klasse imstande, die höhere
Wirklichkeit dieser >Tendenzen< zu erfassen, da deren
>Sinn< die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft ist
und das Funktionieren der Gesetzmäßigkeiten der Waren¬
gesellschaft die Bewußtlosigkeit der Agenten zur Voraus¬
setzung hat.

»Die Durchschnittsprofitrate ist das methodische Muster¬


beispiel solcher Tendenzen. Ihre Beziehung zu den ein¬
zelnen Kapitalisten, deren Handlungen sie als unbe¬
kannte und unerkennbare Macht bestimmt, weist voll¬
ständig die ... Struktur der >List der Vernunft< auf.«
[a.a.O., S. 199]
»... Gegenüber der Überlegenheit an Machtmitteln,
an Wissen, Bildung und Routine usw., die die Bour¬
geoisie zweifellos besitzt und so lange besitzen wird, als
sie herrschende Klasse bleibt, ist die entscheidende
Waffe, die einzig wirksame Überlegenheit des Prole¬
tariats : seine Fähigkeit, die Totalität der Gesellschaft als
konkrete, geschichtliche Totalität zu sehen; die ver¬
dinglichten Formen als Prozesse zwischen Menschen
zu begreifen; den immanenten Sinn der Entwicklung,
der in den Widersprüchen der abstrakten Daseins¬
formen nur negativ zutage tritt, positiv ins Bewußtsein
zu heben und in Praxis umzusetzen.« [a.a.O., S. 215]
»Ist also die Verdinglichung die notwendig unmittel¬
bare Wirklichkeit für einen jeden im Kapitalismus
lebenden Menschen, so kann ihre Überwindung keine
andere Form annehmen als die ununterbrochene,
immer wieder erneute Tendenz, durch konkrete Be¬
ziehung auf die konkret zutage tretenden Wider-

235
Sprüche der Gesamtentwicklung, durch Bewußtwerden
des immanenten Sinnes dieser Widersprüche für die
Gesamtentwicklung die verdinglichte Struktur des
Daseins praktisch zu durchbrechen. Dabei muß fol¬
gendes festgehalten werden: 1. daß dieser Durchbruch
nur als Bewußtwerden der immanenten Widersprüche
des Prozesses selbst möglich ist. Nur wenn das Bewußt¬
sein des Proletariats jenen Schritt zu zeigen imstande
ist, dem die Dialektik der Entwicklung objektiv zu-
drängt, ohne ihn jedoch kraft der eigenen Dynamik
leisten zu können, erwächst das Bewußtsein des Prole¬
tariats zum Bewußtsein des Prozesses selbst, erscheint
das Proletariat als das identische Subjekt-Objekt der
Geschichte, wird seine Praxis ein Verändern der Wirk¬
lichkeit. Vermag das Proletariat diesen Schritt nicht zu
tun, so bleibt der Widerspruch ungelöst und wird auf
erhöhter Potenz, in veränderter Gestalt, mit gesteiger¬
ter Intensität von der dialektischen Mechanik der Ent¬
wicklung reproduziert. Darin besteht die ökonomische
Notwendigkeit des Entwicklungsprozesses. Die Tat des
Proletariats kann also stets nur die konkret-praktische
Durchführung des nächsten Schrittes der Entwicklung
sein. Ob dies nun ein entscheidender« oder ein >episo^
discher« Schritt ist, hängt von den konkreten Umständen
ab ... Damit steht 2. in unaufhebbarem Zusammen¬
hang, daß die Totalitätsbeziehung sich durchaus nicht
darin auszudrücken braucht, daß ihre extensiv-inhalt¬
liche Fülle in die Motive und Objekte des Handelns be-
wußt einbezogen wird. Es kommt auf die Intention auf
Totalität an, darauf, daß das Handeln die - oben beschrie¬
bene - Funktion in der Totalität des Prozesses erfüllt
ier kommt eben praktisch zur Geltung, daß in der
dialektischen Totalität die Einzelmomente die Struktur
des Ganzen an sich tragen. Äußerte sich dies theore¬
tisch darin, daß etwa aus der Warenstruktur die Er-
234
kenntnis der ganzen bürgerlichen Gesellschaft ent¬
wickelt werden konnte, so zeigt sich jetzt derselbe
struktive Tatbestand darin, daß praktisch von der Ent¬
scheidung in einem — scheinbar geringfügigen Anlaß
das Schicksal einer ganzen Entwicklung abhängen kann.
Darum kommt es 3. bei der Beurteilung der Richtig¬
keit oder Falschheit eines Schrittes auf diese funktio¬
nelle Richtigkeit oder Falschheit in bezug auf die
Gesamtentwicklung an. Das proletarische Denken ist
als praktisches Denken stark pragmatisch. >The proof of
the pudding is in the eating< ... Dieser Pudding ist
aber die Konstituierung des Proletariats zur Klasse: das
Praktisch-zur-Wirklichkeit-Werden seines Klassenbe¬
wußtseins. Der Standpunkt, daß das Proletariat das
identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses ist,
d. h. das erste Subjekt im Laufe der Geschichte, das
eines adäquaten gesellschaftlichen Bewußtseins (objek¬
tiv) fähig ist, erscheint damit in konkreter Gestalt. Es
erweist sich nämlich, daß die objektiv gesellschaftliche
Lösung der Widersprüche, in denen sich der Antagonis¬
mus der Entwicklungsmechanik äußert, nur dann
praktisch möglich ist, wenn diese Lösung als neue,
praktisch errungene Bewußtseinsstufe des Proletariats
erscheint. Die funktionelle Richtigkeit oder Falschheit
der Handlung hat also ihr letztes Kriterium in der Ent¬
wicklung des proletarischen Klassenbewußtseins. Das
eminent praktische Wesen dieses Bewußtseins äußert
sich also 4. darin, daß das adäquate, richtige Bewußtsein
ein Verändern seiner Objekte, in erster Reihe seiner
selbst, bedeutet.« [a.a.O., S. 216ff.]

235
KARL KORSCH

Das Verhältnis des Marxismus zum deutschen Idealismus:

»Um also diesen notwendigen und wesentlichen Zu¬


sammenhang zwischen dem deutschen Idealismus und
dem Marxismus richtig und vollständig zu begreifen,
den die bürgerlichen Philosophiehistoriker bis auf die
jüngste Zeit entweder völlig übersehen oder ignoriert
oder doch nur unvollständig und verkehrt aufgefaßt
und dargestellt haben, haben wir nur von der gewöhn¬
lichen, abstrakten und ideologischen Denkweise der
heutigen bürgerlichen Philosophiehistoriker überzu¬
gehen zu einem noch gar nicht spezifisch marxistischen,
sondern zunächst nur einfach (hegelianisch und marxi¬
stisch) dialektischen Standpunkt. Dann ... begreifen
wir, daß das marxistische System, der theoretische Aus¬
druck der revolutionären Bewegung der proletarischen
Klasse, zu den Systemen der deutschen Idealphilo¬
sophie, dem theoretischen Ausdruck der revolutionären
Bewegung der bürgerlichen Klasse, ideengeschichtlich
(ideologisch) in ganz demselben Verhältnis stehen muß,
m dem auf dem Gebiete der gesellschaftlichen und poli¬
tischen Praxis die revolutionäre Klassenbewegung des
Proletariats zur revolutionären bürgerlichen Bewegung
steht. Es ist ein und derselbe geschichtliche Entwick¬
lungsprozeß, in dem einerseits aus der revolutionären
Bewegung des dritten Standes eine >selbständige< prole¬
tarische Massenbewegung hervorgeht, anderseits der
urgerhchen Idealphilosophie die neue materialistische
eorie des Marxismus >selbständig< gegenübertritt.
Alle diese Vorgänge stehen in Wechselwirkung. Die
Entstehung der marxistischen Theorie ist, hege-
lisch-marxistisch gesprochen, nur die >andere Seite<
er Entstehung der realen proletarischen Klassen-
236
bewegung, beide Seiten zusammen erst bilden die

konkrete Totalität des geschichtlichen Prozesses.« [Mar¬

xismus und Philosophie, 1. Aufl. 1923, 2. Aufl. 1931


S. 64f.]

Aufhebung von Staat und Philosophie als Ziel der Revo¬


lution :

»So wie Marx und Engels nicht nur eine bestimmte

historische Staatsform bekämpfen, sondern den Staat

überhaupt historisch-materialistisch mit dem bürger¬


lichen Staat gleichgesetzt und auf dieser Grundlage die

Aufhebung jedes Staates für das politische Endziel des


Kommunismus erklärt haben, so bekämpfen sie auch

nicht nur bestimmte philosophische Systeme, sondern

wollen durch ihren wissenschaftlichen Sozialismus

letzten Endes die Philosophie überhaupt überwinden


und aufheben.« [a.a. O., S. 68]

»Ganz falsch sind alle jene Vorstellungen der bürger¬


lichen und halbsozialistischen Gelehrsamkeit, die davon

ausgehen, daß der Marxismus an die Stelle der bis¬


herigen (bürgerlichen) Philosophie eine neue Philoso¬

phie^ an die Stelle der bisherigen (bürgerlichen)

Geschichtsschreibung eine neue >Geschichtsschreibung<,

an die Stelle der bisherigen (bürgerlichen) Rechts- und


Staatslehre eine neue >Rechts- und Staatslehre^ oder

auch nur an die Stelle jener unfertigen Gebilde, die die

heutige bürgerliche Wissenschaftslehre als die soziolo¬

gische Wissenschaft bezeichnet, eine neue >Soziologie<


setzen wollte. Die marxistische Theorie will das ebenso¬

wenig wie die gesellschaftliche und politische Bewegung

des Marxismus, deren theoretischen Ausdruck sie dar¬

stellt, darauf abzielt, an die Stelle des bisherigen bürger¬

lichen Staatensystems und aller seiner einzelnen Mit¬


glieder neue >Staaten< und ein neues >Staatensystem< zu

237
setzen. Karl Marx setzt sich stattdessen als Ziel die

>Kritik< der bürgerlichen Philosophie ... Geschichts¬

schreibung, sämtlicher bürgerlicher >Geisteswissen-


schaften<, mit einem Wort die >Kritik< der gesamten

bürgerlichen Ideologie — und er unternimmt diese

Kritik ... vom Standpunkt der proletarischen Klasse.«

[Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung,


1922, S. 8]

»Zwar haben sich auch Marx und Engels stets dagegen

gewehrt, daß ihr wissenschaftlicher Sozialismus noch


eine Philosophie sei. Es ist aber ziemlich leicht, zu

zeigen ... daß für die revolutionären Dialektiker M.

und E. der Gegensatz zur Philosophie etwas vollständig


anderes bedeutet hat als für den späteren Vulgär¬

marxismus. Nichts lagM. und E. ferner, als ein Bekennt¬

nis zu jener voraussetzungslosen, über den Klassen

stehenden, rein wissenschaftlichen Forschung, zu der


sich ein Hilferding und die meisten anderen Marxisten
der Zweiten Internationale schließlich bekannt haben

Der wirkliche Gegensatz zwischen dem wissenschaft¬

lichen Sozialismus M.’ens und allen bürgerlichen Philoso¬

phien und Wissenschaften beruht vielmehr allein darauf,


daß dieser wissenschaftliche Sozialismus der theore¬

tische Ausdruck eines revolutionären Prozesses ist, der

mit der völligen Aufhebung dieser bürgerlichen Philo¬

sophien und Wissenschaften, zugleich mit der Auf¬

hebung derjenigen materiellen Verhältnisse, die in

diesen Philosophien und Wissenschaften ihren ideolo¬


gischen Ausdruck gefunden haben, endigen wird.«
LMarxismus und Philosophie, S. 88 f.]

Die Realität von Ideologien:

»Für den modernen dialektischen Materialismus (im

Gegensatz zum Vulgärmarxismus, für den alle Philo-

238
Sophien leere Hirnwebereien sind) ist es wesentlich, daß
er solche geistige Gebilde, wie die Philosophie und jede
andere Ideologie, vor allem einmal als Wirklichkeiten
theoretisch auffaßt und praktisch behandelt. Mit dem
Kampf gegen die Wirklichkeit der Philosophie haben
M. und E. in ihrer ersten Periode ihre gesamte revolu¬
tionäre Tätigkeit begonnen, und wir werden zeigen, daß
sie später zwar ihre Ansicht über das Verhältnis der
philosophischen Ideologie zu anderen Ideologien inner¬
halb der ideologischen Gesamtwirklichkeit radikal ge¬
ändert, dabei aber niemals aufgehört haben, alle Ideo¬
logien und also auch die Philosophie als reale Wirklich¬
keiten und durchaus nicht als leere Hirngespinste zu
' behandeln.« [a.a.O., S. 92]
»... Noch heute faßt wohl die Mehrzahl der marxisti¬
schen Theoretiker die Wirklichkeit aller sogenannten
geistigen Tatsachen in rein negativem, durchaus ab¬
straktem und undialektischem Sinn auf, statt auch auf
diesen Teil der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit
die von M. und E. eingeschärfte, einzig materialistische
und daher wissenschaftliche Methode folgerichtig anzu¬
wenden. Statt neben dem sozialen und politischen
Lebensprozeß auch den geistigen, neben dem gesell¬
schaftlichen Sein und Werden im weitesten Sinn des
Wortes (Ökonomie, Politik, Recht usw.) auch das ge¬
sellschaftliche Bewußtsein in seinen verschiedenen
Erscheinungsformen als wirklichen, wenn auch ideellen
(oder ideologischem) Bestandteil der gesellschaftlichen
Gesamtwirklichkeit zu begreifen, erklärt man in gänz¬
lich abstrakter und im Grunde geradezu metaphysisch¬
dualistischer Weise alles Bewußtsein für einen völlig
unselbständigen oder doch nur relativ selbständigen,
letzten Endes aber unselbständigen Reflex des eigent¬
lichen allein wirklichen, materiellen Entwicklungs¬
prozesses.« [a.a.O., S. 100f.]

239
Der präzise marxistische Ideologiebegriff:

»Terminologisch ist vor allem festzustellen, daß es M.

und E. nie eingefallen ist, das gesellschaftliche Bewußt¬

sein, den geistigen Lebensprozeß, schlechthin als eine


Ideologie zu bezeichnen.

Ideologie heißt nur das verkehrte Bewußtsein, speziell

dasjenige, das eine Teilerscheinung des gesellschaftlichen

Lebens für ein selbständiges Wesen versieht, z. B. jene


juristische und politische Vorstellungen, welche das

Recht und den Staat als selbständige Mächte über der


Gesellschaft betrachten ... Zu den in der Gesellschaft

ebenso wirklich wie Recht und Staat vorhandenen ge¬


sellschaftlichen Bewußtseinsformen gehörten vor allem
der von M. und E. in der Kritik der politischen Ökonomie

kritisierte Warenfetisch oder Wert und die aus ihm

abgeleiteten sonstigen ökonomischen Vorstellungen.


Und es ist nun für die M.E.’sche Auffassung außer¬

ordentlich charakteristisch, daß gerade diese ökono¬


mische Grundideologie der bürgerlichen Gesellschaft

niemals als Ideologie bezeichnet wird. Ideologisch sein


können also nach der M. E.'sehen Terminologie über¬

haupt nur die juristischen, politischen, religiösen,

künstlerischen oder philosophischen Bewußtseinsformen,


und auch diese brauchen es, wie wir sehen werden,

nicht unter allen Umständen zu sein, sondern werden

es nur unter bestimmten ... Voraussetzungen. In dieser

Sonderstellung der ökonomischen Bewußtseinsformen


kommt sehr deutlich die veränderte Auffassung der

Philosophie zum Ausdruck, durch die sich der voll aus¬

gereifte dialektische Materialismus der späteren Zeit


von dem noch nicht voll entwickelten der ersten Phase

unterscheidet. Die theoretische und praktische Kritik


der Philosophie tritt an die zweite, ja wir können sagen

an die dritte, vierte oder vorletzte Stelle in der theore-

240
tischen und praktischen Gesellschaftskritik von M. und
E. ... Die Kritik der politischen Ökonomie rückt ...
theoretisch wie praktisch an die erste Stelle. Aber auch
diese tiefere und radikalere Erscheinungsform der
theoretisch und praktisch revolutionären Gesellschafts¬
kritik M.’ens hört deshalb keineswegs auf, eine Kritik
der ganzen bürgerlichen Gesellschaft und also auch
aller ihrer Bewußtseinsformen zu sein.« [a.a.O.,
S. 103 ff.]

Das Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirklichkeit:

»Der große Grundmangel des Vulgärsozialismus be¬


steht in einem ... Festhalten an jenem naiven Realismus,
mit dem der sogenannte gesunde Menschenverstand,
dieser >ärgste Metaphysiken, und mit ihm auch die
gewöhnliche positive Wissenschaft der bürgerlichen
Gesellschaft, zwischen dem Bewußtsein und seinem
Gegenstand eine scharfe Trennungslinie ziehen. Sie
ahnen nichts davon, daß dieser Gegensatz ... für die
dialektische Auffassung völlig aufgehoben ist. Im
besten Fall glauben sie, daß so etwas bei der idealisti¬
schen Dialektik Hegels Vorkommen könnte, und denken,
daß gerade hierin wohl jene >Mystifikation< bestehen
mag, die die Dialektik nach M. >in Hegels Händen er¬
leidet^ daß aber selbstverständlich in der rationellen
Gestalt diese Dialektik, in der materialistischen Dia¬
lektik M.’ens, radikal ausgetilgt wäre. In Wahrheit
waren ... M. und E. ... von solch (dualistisch) meta¬
physischer Auffassung des Verhältnisses von Bewußtsein
und Wirklichkeit so weit entfernt, daß es ihnen nicht
einmal eingefallen ist, man könnte ihre Worte in dieser
verhängnisvollen Weise mißverstehen, und daß sie des¬
halb in einzelnen Wendungen (die aber durch hundert¬
mal so viele andere leicht zu berichtigen sind!) solchen

241
Mißverständnissen sogar in hohem Grade Vorschub
geleistet haben. Von aller Philosophie abgesehen ist es
aber ganz klar, daß ohne dieses für jede, auch die
marxistisch-materialistische Dialektik charakteristische
Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirklichkeit,
welches bewirkt, daß auch die materiellen Produk¬
tionsverhältnisse der kapitalistischen Epoche das, was
sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewußtseins¬
formen sind, in denen sie sich sowohl im vorwissen¬
schaftlichen als auch im (bürgerlich) wissenschaftlichen
Bewußtsein dieser Epoche widerspiegeln, und ohne
diese Bewußtseinsformen in Wirklichkeit nicht be¬
stehen könnten, eine Kritik der politischen Ökonomie nie
und nimmer zu dem wichtigsten Bestandteil einer Theorie
der sozialen Bevolution hätte werden können. Woraus
dann freilich umgekehrt auch folgt, daß für solche mar¬
xistische Theoretiker, für die der Marxismus nicht mehr
wesentlich eine Theorie der sozialen Revolution war,
ganz konsequent auch jene dialektische Auffassung
über das Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirk¬
lichkeit überflüssig werden und ihnen infolgedessen
schließlich auch theoretisch falsch ... scheinen mußte «
[a.a.O., S. 106ff.]
»Für die nicht abstrakt-naturalistische, sondern viel¬
mehr dialektisch und daher einzig wissenschaftliche
Methode des M.E.'sehen Materialismus steht dagegen
sowohl das vorwissenschaftliche und außerwissen-
schafthche, als auch das wissenschaftliche Bewußtsein
der natürlichen und erst recht der geschichtlich-gesell¬
schaftlichen Welt nicht mehr selbständig gegenüber,
sondern als ein realer, wirklicher, »wenn auch geistig-
ideellem Teil dieser Welt in dieser Welt mitten darin.
lerin liegt die erste spezifische Differenz zwischen der
materialistischen Dialektik von M. E. und der ideali¬
stischen Dialektik Hegels, der zwar einerseits auch
242
schon erklärt hatte, daß das theoretische Bewußtsein
des Individuums über seine Zeit, seine gegenwärtige
Welt nicht >hinausspringen< könne, der aber anderer¬
seits doch noch viel mehr die Welt in die Philosophie,
als die Philosophie in die Welt hineingestellt hatte. Mit
dieser ersten Differenz ... hängt eine zweite aufs engste
zusammen: >Die kommunistischen Arbeiter — sagt
M. ... in der Heiligen Familie — wissen sehr gut, daß
Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit und dergleichen
durchaus keine ideellen Hirngespinste, sondern sehr
praktische, sehr gegenständliche Erzeugnisse ihrer
Selbstentfremdung sind, die also auch auf eine prak¬
tische, gegenständliche Weise aufgehoben werden
müssen, damit nicht nur im Denken, im Bewußtsein,
sondern im (massenhaften) Sein, im Leben der Mensch
zum Menschen werde.< In diesem Satze ist mit voller
materialistischer Klarheit ausgesprochen, daß infolge
des unzerreißbaren Zusammenhanges aller wirklichen
Erscheinungen im ganzen der bürgerlichen Gesellschaft
auch deren Bewußtseinsformen durch das Denken allein
nicht aufgehoben werden können. Diese gesellschaft¬
lichen Bewußtseinsformen können vielmehr auch im
Denken, auch im Bewußtsein nur aufgehoben werden
unter gleichzeitiger -praktisch-gegenständlicher Um¬
wälzung der in diesen Formen bisher begriffenen materi¬
ellen Produktionsverhältnisse selbst...« [a. a. 0.,S.112£.]
»Nicht bloß für die im engeren Sinne ökonomischen
Bewußtseinsformen, sondern für alle gesellschaftlichen
Bewußtseinsformen überhaupt gilt der M.’sche Satz,
daß sie durchaus keine Hirngespinste sind, sondern
>seh.r praktische, sehr gegenständlichem gesellschaftliche
Wirklichkeiten, die also auch >auf eine praktisch¬
gegenständliche Weise aufgehoben werden müssenc
Nur von jenem naiv metaphysischen Standpunkt des
gesunden Menschenverstandes aus, der das Denken

243
dem Sein als etwas Selbständiges entgegenstellt ...
kann die Meinung aufrechterhalten werden, daß zwar
die ökonomischen Bewußtseinsformen ... eine gegen¬
ständliche Bedeutung hätten, da ihnen eine Wirklich¬
keit (die ... der durch sie begriffenen Produktionsver¬
hältnisse) entspräche, alle höheren Vorstellungsweisen
aber bloße gegenstandslose Hirn Webereien wären, die
sich nach der Umwälzung der ökonomischen Struktur
der Gesellschaft und der Aufhebung ihres juristischen
und politischen Überbaus von selbst in das Nichts auf-
lösen würden, was sie im Grunde auch jetzt schon sind.
Auch die ökonomischen Vorstellungen stehen zur
Wirklichkeit der materiellen Produktionsverhältnisse
nur scheinbar im Verhältnis eines Bildes zu dem abge¬
bildeten Gegenstand, in Wirklichkeit aber in dem Ver¬
hältnis, in welchem ein besonderer, eigentümlich be¬
stimmter Teil eines Ganzen zu den anderen Teilen
dieses Ganzen steht ...« [a.a.O., S. 115f.]
Das gleiche gelte für die juristischen und politischen
Vorstellungen und endlich auch für Kunst, Religion und
Philosophie:
»Wenn wir bei diesen Vorstellungen scheinbar keinen
Gegenstand mehr antreffen, den sie, richtig oder ver¬
kehrt, abbilden könnten, so sind wir uns doch anderseits
schon darüber klargeworden, daß auch die ökonomi¬
schen, politischen, juristischen Vorstellungen einen
besonderen, selbständig für sich bestehenden, von allen
Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft isolierten
Gegenstand durchaus nicht besitzen, sondern daß es eine
abstrakte und ideologische bürgerliche Vorstellungs¬
weise ist, wenn wir ihnen solche Gegenstände gegen¬
überstellen. Auch sie drücken nur, in ihrer besonderen
If eise, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft aus. Und
ebenso tut dies die Kunst, die Religion und die Philo¬
sophie. Sie alle zusammen bilden die geistige Struktur
244
der bürgerlichen Gesellschaft, welche der ökonomi¬
schen Struktur dieser Gesellschaft entspricht ...«
[a.a.O., S. 116f.]

Kritik an Kautskys Kntwicklungsbegriff:

»Den zentralen Begriff der materialistischen Ge¬


schichtsauffassung bildet der Begriff der Entwicklung,
der von M. und E. in dreifacher Bedeutung: als Denken
(Dialektik), als JVerden (Entwicklung im engeren
Sinne, in Natur und Gesellschaft) und als Tat (Klassen¬
kampf) aufgefaßt wird. Auch in K.’s [Kautskys]
unaterialistischer Geschichtsauffassung< steht dieser
Begriff der >Entwicklung< im Mittelpunkt; er hat aber
bei ihm eine ganz andere Grundlage und einen ganz
anderen Inhalt.« \Die materialistische Geschichtsauf¬
fassung, eine AuseirwnderSetzung mit Karl Kautsky,
>Grünbergs Archiv«, XIV. Jg., 1929, S. 196]
»So bleibt von der dreifachen Bedeutung des ... Ent¬
wicklungsbegriffs von M. und E. bei K. von vornher¬
ein nur eine einzige übrig: die Entwicklung als objektives
geschichtliches Werden in Natur und Gesellschaft. Aber
auch in diesem letzten Punkt geht die scheinbare Über¬
einstimmung ... vollends in die Brüche, sobald wir die
Frage stellen, in welchem konkreten Verhältnis bei
M. und E. einerseits, bei K. andererseits die beiden ...
Gebiete der natürlichen und gesellschaftlichen Ent¬
wicklung zueinander stehen. Während für M. und E.
die materialistisch dialektische Auffassung der Natur als
kosmische, tellurische und biologische Entwicklungs¬
geschichte nur die maturhistorische Grundlage« ihrer
materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung, und
erst die geschichtliche Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft deren eigentliches Anwendungsgebiet bildet,
wird dieses Verhältnis von K. im wahrsten Sinne des

245
Wortes >auf den Kopf gestellte Für K. bildet umge¬
kehrt ... die gesamte Entwicklung der historischen
Zeit< im Vergleich zur Entwicklung der Menschheit und
gar der gesamten Natur nur >eine abnorme Episode<,
die im Widerspruch steht zu dem überwiegenden Teil
des bisherigen Daseins des Menschengeschlechtes (II,
S. 843). Und auch in dieser >abnormen Episode< bildet
bei K. nicht ... die materielle Produktionsweise die
Basis ... für die Entwicklung der menschlichen Gesell¬
schaft. Vielmehr ist — ... >die Entwicklung der ,mate¬
riellen Produktivkräfte' im Grunde nur ein anderer
Name für die Entwicklung des Wissens von der
Natur< ... In dieser gegenständlichen Auffassung des
Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, Geschichte
und »Naturgeschichte< besteht der wichtigste Gegensatz
zwischen dem naturwissenschaftlichen Materialismus
Kautskys und der materialistischen Geschichtsauffassung
von M. und E. ... Während M. und E. auch die natur¬
wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich unter dem
Gesichtspunkt der daraus zu gewinnenden materiali¬
stischen Einsicht in die geschichtliche Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft betrachten, bildet für K. um¬
gekehrt die gesamte menschliche Geschichte im Grunde
genommen nur eine — Anwendung der in dem weiten
Keich des Kosmos allenthalben waltenden natürlichen
Gesetzlichkeit. Und er zieht aus dieser Auffassung auch
ie Konsequenz, indem er schon rein quantitativ in der
Verteilung seines Stoffes, aber ebenso auch qualitativ in
seiner durchgehenden Gesamtauffassung aller Fragen
das Hauptgewicht nicht auf jene vorübergehende
»Anomalie< legt, die man menschliche Gesellschaft be¬
zeichnet ..., sondern natürlich auf die viel größeren
Zeitramne der dieser »historischen Zeit< vorhergehenden
rgeschichte und Naturgeschichte. Gerade in dieser
natur- und urgeschichtlichen »Erweiterung dermateria-
246
iistischen Geschichtsauffassung sieht K. die eigentliche,
über die von M. und E. gegebenen Ansätze weit hinaus¬
gehende wissenschaftliche Leistung seiner materiali¬
stischen Geschiehtsauffassungc« [a.a.O., S. 199ff.]

ANTONIO GRAMSCI

Deutscher Idealismus und Marxismus:

»Bis zur klassischen deutschen Philosophie wurde die


Philosophie als eine rezeptive, höchstens als eine ord¬
nende Tätigkeit aufgefaI3t, d. h. als Kenntnis eines
objektiv, außerhalb des Menschen funktionierenden
Mechanismus. Die klassische deutsche Philosophie
führte den Begriff des Schöpferischem ein, aber in
einem idealistischen und spekulativen Sinn. Anschei¬
nend hat nur die Philosophie der Praxis [Gramscis
Tarnbezeichnung für Marxismus während seiner Haft¬
zeit] einen Schritt darüber hinaus getan ... indem sie
jede solipsistische Tendenz vermied und das Denken in
dem Maße als es als Weltanschauung, >gesunder
Menschenverstand< usw. in der Menge verbreitet, zu
einer aktiven Verhaltensnorm wird, historisiert. Schöp¬
ferisch ist also in einem relativen Sinne von einem
Denken zu sagen, das die Fühlweise der Mehrheit und
damit die Wirklichkeit selbst, die ohne diese Mehrheit
nicht gedacht werden kann, modifiziert. Schöpferisch
auch in dem Sinne, daß sie lehrt, daß es keine an sich
und für sich seiende Wirklichkeit gibt, sondern nur
eine Wirklichkeit in Beziehung zu den sie modifi¬
zierenden Menschen usw.« [A. Gramsci Oeuvres Choisies,
Paris 1959, S. 45]
))Hegel stellt in der Geschichte des philosophischen
Denkens einen Sonderfall dar, denn seiner Philosophie

247
gelingt es auf die eine oder andere Weise, selbst in der
Form des philosophischen Romans < zu verstehen, was
die PFirklichkeit ist. Das heißt, man hat hier in einem
System und bei einem einzigen Philosophen jenes
Bewußtsein der Gegensätze, das vorher nur aus der
Betrachtung der Gesamtheit der Systeme hervorgehen
konnte, aus der Gesamtheit der miteinander polemi¬
sierenden und wechselseitig ihre Widersprüche auf¬
zeigenden Philosophen. In einem bestimmten Sinne ist
also die Philosophie der Praxis eine Reform und eine
PFeiterentwicklung der Hegelschen Philosophie, sie ist
(oder sucht zu sein) eine von allen einseitigen, phanta¬
stischen ideologischen Elementen befreite Philosophie,
d. h. das volle Bewußtsein der Gegensätze, in dem der
Philosoph — als Individuum oder ganze soziale Gruppe
nicht nur die Gegensätze versteht, sondern sich
selbst als Element des Gegensatzes setzt und dieses
Element auf ein bewußtes Niveau erhebt und damit in
Aktion überführt.« [a.a.O., S. 101 f.]

Der exakte Ideologiebegriff des Marxismus:

»Man muß untersuchen, wie der Verfasser des gemein¬


verständlichen Lehrbuchs [gemeint ist N. Bucharins
Theorie des historischen Materialismus] in der Ideologie
befangen geblieben ist, während doch die Philosophie
der Praxis ein klares Überschreiten der Ideologie dar¬
stellt und historisch sich gerade der Ideologie entgegen¬
stellte. Die Bedeutung, die der Terminus in der Philo¬
sophie der Praxis erhielt, enthält implicite ein negatives
Werturteil und schließt für ihre Verfasser die Suche
des Ursprungs der Ideen in Sinneseindrücken und damit
letzten Endes in der Physiologie aus: für die Philo¬
sophie der Praxis muß gerade diese >Ideologie< historisch
analysiert und als Überbau erkannt werden.
248
Ein Element des Irrtums scheint mir bei der Betrach¬
tung des Wertes der Ideologien daher zu rühren ..daß
man die Bezeichnung Ideologie sowohl für den Überbau
einer bestimmten Basis, wie für die willkürlichen Er¬
güsse bestimmter Individuen wählt. Der negative Sinn
hat sich ausgedehnt und hat die theoretische Analyse
des Ideologiebegriffs denaturiert. Der Entstehungs¬
prozeß dieses Irrtums kann leicht rekonstruiert werden:
1. identifiziert man Ideologie als unterschieden von der
Basis (Struktur) und betont, daß nicht die Ideologien die
Strukturen, sondern umgekehrt diese die Ideologien
wandeln; 2. erklärt man, eine bestimmte Lösung sei
>ideologisch<, d. h. unzulänglich, um die Struktur zu ver¬
ändern, während sie die Struktur verändern zu können
glaubt; man betont, sie sei dumm, nutzlos usw.
Man muß also zwischen historisch organischen Ideo¬
logien, die für eine bestimmte (Basis-)Struktur not¬
wendig sind, und willkürlichen >gewollten< Ideologien
unterscheiden. Als historisch notwendige haben sie
einen gewissen psychologischem Wert, sie organi¬
sieren Menschenmassen, bilden den Boden, auf dem
sich die Menschen bewegen, wo sie ein Bewußtsein
ihrer Lage erwerben, wo sie kämpfen usw. Als will¬
kürliche schaffen sie nichts anderes als individuelle
>Bewegungen<, Polemiken usw. (auch sie sind nicht
vollständig wertlos, weil sie gleich dem Irrtum der
Wahrheit sich entgegenstellen und sie dadurch be¬
jahen).« [a.a.O., S. 74]

Das Problem des historischen Relativismus in marxisti¬


scher Sicht:

»Wenn die Philosophie der Praxis theoretisch feststellt,


daß jede >Wahrheit, die man für ewig hielt, ihre prak¬
tischen Ursprünge hatte und nur einen provisorischem

249
Wert besitzt (Historizität aller Welt- und Lebensauf¬
fassungen), ist es sehr schwer, praktisch verständlich zu
machen, daß eine derartige Interpretation auch für die
Philosophie der Praxis selbst gilt, ohne doch die Über¬
zeugungen zu erschüttern, die für die Handlung not¬
wendig sind.
Das ist übrigens eine Schwierigkeit jeder historisti-
schen Philosophie: ihrer bedienen sich auch die Pole¬
miker zu herabgesetzten Preisen (besonders Katholiken),
um in ein und derselben Person den >Wissenschaftler<
dem >Demagogen<, den >Philosophen< dem >Mann der
Tat< gegenüberzustellen usw., und um daraus zu fol¬
gern, daß der Historismus notwendiger Weise zu morali¬
schem Skeptizismus und Sittenverderbnis führen
müsse ... Aus diesem Grunde ist der Übergang vom
Reich der Freiheit ins Reich der Notwendigkeit zu
analysieren und mit viel Feinheit und Delikatesse zu
erarbeiten ...« [a.a.O., S. 103]

Ökonomie und Ideologie:


o

»Die (als wesentliches Postulat des historischen Materia¬


lismus vorgebrachte) Prätention, jede Fluktuation der
Politik und der Ideologie als einen unmittelbaren Aus¬
druck der Rasisstruktur darzustellen, muß theoretisch
als ein primitiver Infantilismus und praktisch durch den
Hmweis auf die politischen und historischen Arbeiten
von Marx bekämpft werden. Unter diesem Gesichts¬
punkt sind besonders interessant: der 18. Rrumaire des
Louis Ronaparte, Revolution und Konterrevolution in
Deutschland, Rürgerkrieg in Frankreich und andere
kleinere Werke. Eine Analyse dieser Arbeiten erlaubt
es, die historische Methodologie des Marxismus zu präzi¬
sieren und die in ihren Werken verstreuten theoreti¬
schen Äußerungen zu ergänzen, zu erleuchten und zu
250
kommentieren. Man wird dann die große Zahl reeller
Vorsichtsmaßnahmen sehen, die Marx bei seinen kon¬
kreten historischen Forschungen ergreift und die in den
allgemeinen Werken keinen Platz finden konnten. Von
diesen Vorsichtsmaßnahmen könnte man beispielshalber
die folgenden nennen: 1. Die Schwierigkeit, in jeder
Situation statisch (wie in einer photographischen
Momentaufnahme) die Basis zu identifizieren; die
Politik ist in der Tat in jedem Augenblick gegeben ...
Eine Phase der (Entwicklung der) Basis kann erst dann
konkret studiert werden, wenn sie sich vollständig ent¬
wickelt hat und nicht während des Entwicklungs¬
prozesses selbst, oder höchstens nur hypothetisch ...
2. Von da aus folgert man, daß eine bestimmte politi¬
sche Handlung ein Fehler von seiten der Dirigenten
der herrschenden Klasse gewesen sein kann, ein Fehler,
den die historische Entwicklung durch parlamentarische
>Krisen< der Regierung der herrschenden Klasse korri¬
giert und überwindet: der mechanische historische
Materialismus bezieht die Möglichkeit des Irrtums nicht
ein, sondern unterstellt eine direkte Determination
jedes politischen Aktes durch die Basisstruktur, d. h. sie
ist für ihn der Reflex einer reellen und permanenten ...
Modifikation der Basis. [Das Irrtumsprinzip sei kom¬
plex, es könne sich sowohl um individuelle Irrtiimer als
auch um den Versuch von Gruppen und Grüppchen
innerhalb der herrschenden Klasse handeln, die Macht
für sich zu ergreifen ] 3. Man berücksichtigt nicht
genügend, daß zahlreiche politische Akte auf innere
Notwendigkeiten zurückzuführen sind und einen orga¬
nisationstechnischen Charakter haben, d. h. daß sie sich
auf das Kohärenzbedürfnis einer Partei, einer Gruppe
oder einer Gesellschaft beziehen. Das wird z. B. sehr
deutlich in der Geschichte der katholischen Kirche ...«
[a.a.O., S. 104f.]

251
Als Beispiel führt Gramsci die dogmatische Kontroverse
zwischen Rom und Byzanz an, deren inhaltliche Aussage
man niemals auf die Basis zurückführen könnte, die aber
formell aus dem Bedürfnis der Distinktion von der ande¬
ren Gruppe und gleichzeitig dem Zusammenhalt der
eignen erklärlich sei.

Zur Kritik an Bucharin:

»Die Reduktion der Philosophie der Praxis auf eine


Soziologie bildet den Zentralisationspunkt von Ten¬
denzen, die schon Engels (in seinem Brief an J. Bloch
vom 21.9. 1890 und an H. Starkenburg vom 25. 1.1894)
kritisiert hat, und die darin bestehen, eine Weltauf¬
fassung auf eine mechanische Formel zu reduzieren, die
den Eindruck erweckt, man habe die ganze Geschichte
in der Tasche. Sie war die beste Ermutigung für die
bequemen journalistischen Improvisationen der sich
genial Gebärdenden. Die Erfahrung, auf welche sich
die Philosophie der Praxis stützt, kann nicht schemati¬
siert werden; diese Erfahrung ist die Geschichte in
ihrer unendlichen Vielfalt selbst, deren Studium sowohl
zur Entstehung einer Philologie < (in dem von Croce
dem Wort wiedergegebenen umfassenden Sinn) als For¬
schungsmethode zur Feststellung der einzelnen Fakten
als auch zur Entstehung der Philosophie als der allge¬
meinen Methode der Geschichte führen kann. Vielleicht
wollten das diejenigen sagen, die — wie Bucharin am
Ende seiner Einleitung kurz vermerkt — die Möglich¬
keit einer marxistischen Soziologie leugnen und betonen,
daß die Philosophie der Praxis lediglich in konkreten
historischen Arbeiten sich bewähren könne (so, wie sie
formuliert wird, ist die Aussage sicher verkehrt und
wurde auf eine neue und merkwürdige Form des
Nominalismus und philosophischen Skeptizismus hin¬
auslaufen).« [a.a.O., S. 130f.]

252
»Man sucht im >gemeinverständlichen Lehrbuch < ver¬
geblich ein Expose der Dialektik. Die Dialektik wird als
gegeben vorausgesetzt und absurder Weise nicht dar¬
gelegt ...
Die Abwesenheit eines Exposes über Dialektik kann
zwei Ursachen haben: die erste könnte das Faktum sein,
daß man die Philosophie der Praxis in zwei Elemente
aufteilt: in eine Theorie der Geschichte und der Politik
als Soziologie, die man nach der Methode der Natur¬
wissenschaft konstruieren müßte; und eine Philosophie
im eigentlichen Sinn des Wortes, die nichts andres als
der philosophische oder metaphysische oder mechani¬
sche (vulgäre) Materialismus wäre. Selbst nach der
großen Diskussion über den Mechanizismus [in der
Sowjetunion] scheint der Verfasser des Lehrbuchs das
Problem nicht wesentlich anders zu stellen, wie sein
Beitrag auf dem Internationalen Kongreß der Wissen¬
schaftsgeschichte (in London, 1929) beweist. Für ihn
zerfällt die Philosophie der Praxis noch immer in zwei
Teile: die Lehre von Geschichte und Politik und die
Philosophie, die er allerdings dialektischen Materialis¬
mus nennt ... Wenn man die Frage so stellt, versteht
man die Bedeutung und den Sinn der Dialektik nicht
mehr, die damit aus einer Erkenntnistheorie und Zell¬
substanz der Historiographie und Politikwissenschaft auf
das Niveau eines Unterabschnitts der formalen Logik,
auf eine Elementarscholastik herabgebracht wird. Funk¬
tion und Bedeutung können in ihrem wesentlichen Teil
nur verstanden werden, wenn die Philosophie der
Praxis als eine integrale und originale Philosophie ver¬
standen wird, die den Anfang einer neuen Phase der
Geschichte und der weltweiten Entwicklung des
Denkens bildet, insofern sie ebenso über den Idealismus
wie über den traditionellen Materialismus hinausgeht
(und im Hinausgehen deren wertvollste Elemente ab-
253
sorbiert), die Ausdrucksformen der alten Gesellschaften
waren ...« [a.a.O., S. 137ff.]
»Die Wurzel aller Irrtümer des Lehrbuchs und seines
Autors ... ist genau jene Prätention, die Philosophie der
Praxis in zwei Teile aufspalten zu wollen ... Von der
Theorie der Geschichte und der Politik losgelöst, kann
die Philosophie nicht anders als metaphysisch sein,
während die große Eroberung der modernen Philo¬
sophiegeschichte, wie sie durch den Marxismus reprä¬
sentiert wird, gerade in der konkreten Historisierung
der Philosophie und in ihrer Identifikation mit der
Geschichte besteht.« [a.a.O., S. 139f.]
»Die Philosophie des Lehrbuchs (die in ihr implicite
enthaltene) kann man einen positivistischen Aristote-
lismus nennen, eine Anpassung der formalen Logik an
die Methoden der physikalischen und Naturwissen¬
schaften. Das Kausalitätsgesetz, die Erforschung der
Regelmäßigkeiten, der Normalitäten, der Uniformität
werden der historischen Dialektik substituiert. Wie aber
kann man aus dieser Auffassung der Dinge ein Über¬
schreiten, eine Umwälzung der Praxis ableiten? Der
Effekt kann auf mechanische Weise niemals über die
Ursache oder das System der Ursachen hinausgehen,
und man kann daher auch keine anderen Perspektiven
aufstellen, als die platte, vulgäre Entwicklung des
Evolutionismus. Wenn der spekulative Idealismus<
eine Wissenschaft der apriorischen Kategorien und
Synthesen des Geistes ist, d. h. eine Form der anti-
historischen Abstraktion, dann ist die Philosophie, die
implicite im Lehrbuch enthalten ist, ein Idealismus mit
umgekehrtem Vorzeichen, in dem Sinne, daß hier
empirische Begriffe und Klassifikationen die spekulativen
Kategorien ersetzen, die ebenso abstrakt und antihisto-
risch sind wie jene ...« [a.a.O., S. 141]

254
Wie Martynow (S. 135) wirft auch Gramsci Bucharin
vor, daß er die Produktivkräfte mit der Produktions¬
technik identifiziert; noch schärfer als Martynow weist
Gramsci die einseitige Orientierung an der Technik zu¬
rück und betont, daß zum Beispiel Wissenschaften wie
die Geologie und erst recht die Mathematik in ihrem
Fortschritt weithin von den Techniken unabhängig waren.
Die Fehler Bucharins werden mit denjenigen Achille
Lorias verglichen, die schon Croce zurückgewiesen hat.

»Man (Bucharin) hat vergessen, daß beim historischen


Materialismus der Hauptakzent auf den ersten Bestand¬
teil >historisch< gelegt werden muß und nicht auf den
zweiten metaphysischen Ursprungs. Die Philosophie
der Praxis ist der absolute >Historismus<, d. h. das
Denken, das vollkommen diesseitig und irdisch wird, ein
absoluter Humanismus der Geschichte. In dieser Rich¬
tung muß man die neue Weltauffassung weiter ver¬
folgen.« [a.a.O., S. 171]

255
WELTANSCHAUUNG
(Dialektischer Materialismus)

Im sogenannten >Diamat< erblicken die Sowjetmarxisten


heute den Kern und sozusagen das >Allerheiligste< ihrer
Doktrin. Diese Bewertung läßt sich kaum aus Marx,
schon eher aus den Schriften von Engels, begründen. So
gering in vieler Hinsicht die Wertschätzung ist, die Mar¬
xens Frühschriften im Sowjetblock genießen, wo es dar¬
um geht, auch Marx selbst als Stammvater des dialekti¬
schen Materialismus< nachzuweisen, stützt man sich gern
auf die Heilige Familie von 1845. Dort zeigt Marx frei¬
lich nur, wie der Materialismus des 17. und 18. Jahr¬
hunderts in einem direkten historischen Zusammenhang
mit dem französischen Sozialismus und Kommunismus
steht. Bei Marx fanden sich so wenig geeignete Zitate zur
Fundierung des >Diamat<, daß sich Stalin nicht scheute,
eine Beschreibung des Hobbesschen Materialismus durch
Marx als Äußerung von Marx selbst auszugeben und in
den >Katechismus< ("Über dialektischen und historischen
Materialismus, 1958) aufzunehmen. Der eigentliche
>Klassiker< des >Diamat< ist Friedrich Engels. Aus seinem
Anti-Dühring und der Dialektik der Natur haben die
späteren Sowjetmarxisten die Bausteine für ihr System
genommen, das in mancher Hinsicht allerdings auch von
Engels erheblich abweicht.
Gegenüber Engels’ ernsthaftem Versuch einer dialek¬
tischen Interpretation des Materialismus bedeutet der
Kautskysche Naturalismus einen sichtbaren Rückschritt.
Für die alltäglichen weltanschaulichen Bedürfnisse war
offenbar sogar der Anti-Dühring noch zu differenziert.
Das dialektische Denken war dem Durchschnittsbewußt¬
sein so fern geruckt, daß man mit ihm gar nichts anzu-
angen wußte, vollends, wenn man vom Fortschritt der
Naturwissenschaften und ihren (undialektischen) Metho-

256
den fasziniert war. Plechanow weist zwar energisch auf
die Bedeutung der Materialisten des 18. Jahrhunderts und
die Überlegenheit des Marx-Engelsschen dialektischen
Materialismus hin, aber sein Interesse liegt doch so viel
mehr auf historischem Gebiet, daß er für die allgemeine
Lehre des >Diamat< nicht viel hergibt. Erst Lenin trägt
wieder zum Ausbau dieses Systembestandteils bei. Sein
philosophisches Hauptwerk< von 1908 (Materialismus
und Empiriokritizismus) werden wir ausführlich im
nächsten Abschnitt kennenlernen, der den erkenntnis¬
theoretischen Diskussionen gewidmet ist. Hier muß vor
allem auf seine Bemühung hingewiesen werden, das
>Erbe Hegels< für eine wirklich dialektische Deutung der
Resultate der modernen Naturwissenschaften fruchtbar
zu machen, die ja inzwischen hier und da selbst auf eine
dialektische Deutung< hindrängten. Lenin hat bereits
recht früh erkannt, daß eine dialektische Weltanschau-
ungslehre aus der >Überwindung< der mechanistischen
Physik Kapital schlagen könnte, und er ahnte umgekehrt
auch, daß die theoretischen Schwierigkeiten des moder¬
nen physikalischen Weltbildes idealistischen Weltan¬
schauungen gewisse Chancen bieten. Eine Rückbesinnung
auf Hegel sollte den Alaterialisten helfen, in dieser Aus¬
einandersetzung überlegen zu bleiben.

Die Kritik an dieser Weltanschauungslehre wurde in


der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im wesentlichen mit
neukantianischen Argumenten, das heißt auf dem Gebiet
der Erkenntnistheorie, geführt. Im vorliegenden Ab¬
schnitt repräsentiert diese Form der innermarxistischen
Auseinandersetzung lediglich Max Adler; eine ganze An¬
zahl weiterer einschlägiger Texte finden sich im nächsten
Abschnitt (unter Neukantianer).
Den Abschluß bilden zwei Autoren, die sich selbst
nicht am Ausbau des >Diamat< beteiligt haben, sondern
ihn als einen typischen Ausdruck der bürokratisierten
Sowjetgesellschaft begreifen. Diese Art der Kritik, die
dem ursprünglichen Marxismus durchaus vertraut ist,
scheint den heutigen Sowjetmarxisten (in der Anwen-

257
düng auf die Wissenschaft in der Sowjetunion) ziemlich
fernzuliegen; B. M. Kedrow zum Beispiel, ein be¬
kannter sowjetischer Philosoph, konnte, als ihn ein west¬
licher Marxist fragte, ob seine intensive Beschäftigung
mit der Hierarchie der Wissenschaftern nicht eine Folge
seines Lebens in einer hierarchisierten Gesellschaft sei,
den Sinn dieser Fragestellung einfach nicht begreifen.

Die Klassiker

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS

Zur Geschichte des Materialismus — sein Zusammenhang


mit Sozialismus und Kommunismus:

»Wir werden der kritischen Geschichte des französischen


Materialismus seine profane, massenhafte Geschichte in
einer kurzen Skizze gegenüberstellen ... >Genau und
im prosaischen Sinne zu reden<, war die französische
Aufklärung des 18. Jahrhunderts und namentlich der
französische Materialismus nicht nur ein Kampf gegen
die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen
die bestehende Religion und Theologie, sondern eben¬
sosehr ein offener, ein ausgesprochener Kampf gegen
die Metaphysik des 17. Jahrhunderts und gegen alle
Metaphysik, namentlich gegen die des Descartes,
Malebranche, Spinoza und Leibniz. Man stellte die
Philosophie der Metaphysik gegenüber, wie Feuerbach
ei seinem ersten entschiedenen Auftreten wider Hegel
der trunkenen Spekulation die nüchterne Philosophie
gegenüberstellte. Die Metaphysik des 18. Jahrhunderts
welche von der französischen Aufklärung und nament-
258
lieh von dem französischen Materialismus des 18. Jahr¬
hunderts aus dem Felde geschlagen war, erlebte ihre
siegreiche und gehaltvolle Restauration in der deutschen
Philosophie und namentlich in der spekulativen deut¬
schen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Nachdem Hegel
sie auf eine geniale Weise mit aller seitherigen Meta¬
physik und dem deutschen Idealismus vereint und ein
metaphysisches Universalreich gegründet hatte, ent¬
sprach wieder, wie im 18. Jahrhundert dem Angriff auf
die Theologie der Angriff auf die spekulative Meta¬
physik und auf alle Metaphysik. Sie wird für immer dem
nun durch die Arbeit der Spekulation selbst vollendeten
und mit dem Humanismus zusammenfallenden Materia¬
lismus erliegen ...« [Marx/Engels, Die Heilige Familie
(1845), Berlin 1953, S. 253f.]
»Wie aber Feuerbach auf theoretischem Gebiete,
stellte der französische und englische Sozialismus und
Kommunismus auf praktischem Gebiete den mit dem
Humanismus zusammenfallenden Materialismus dar.«
[a. a.O.]
Marx schildert dann die beiden Richtungen des fran¬
zösischen Materialismus, von denen die eine von Des-
cartes, die andere von Locke herkomme. Der cartesia-
nische habe zu großen Erfolgen auf dem Gebiet der
mechanischen Naturwissenschaft geführt. Der Materialis¬
mus des 18. Jahrhunderts wird sodann historisch aus der
praktischen Gestaltung des damaligen französischen
Lebens< erklärt, das >auf die unmittelbare Gegenwart, den
weltlichen Genuß< gerichtet gewesen sei. Pierre Bayles
Rolle als detzter Metaphysiker im Sinne des 18. und
erster Philosoph im Sinne des 19. Jahrhunderts< wird
geschildert, endlich Locke als Begründer eines positiven
antimetaphysischen Systems< eingeführt, das damals den
französischen Philosophen >wie gerufen< kam.
»Der Materialismus ist der eingeborene Sohn Gro߬
britanniens. Schon sein Scholastiker Duns Scotus fragte
259
sich, >ob die Materie nicht denken könne< ... Der Nomi¬
nalismus findet sich als ein Hauptelement bei den eng¬
lischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Aus¬
druck des Materialismus ist.
Der wahre Stammvater des englischen Materialismus
und aller modernen experimentierenden Wissenschaft
ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre
Wissenschaft und die Physik als der vornehmste Teil
der Naturwissenschaft ... Die Wissenschaft ist Erfah¬
rungswissenschaft und besteht darin, eine rationelle
Methode auf das sinnlich Gegebene anzuwenden. Induk¬
tion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimen¬
tieren sind die Plauptbedingungen einer rationellen
Methode. Unter den der Materie eingeborenen Eigen¬
schaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste,
nicht nur als mechanische und mathematische Be¬
wegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist,
Spannkraft, als Qual — um den Ausdruck Jakob
Böhmes zu gebrauchen — der Materie. Die primitiven
Formen der letzteren sind lebendige, individualisie¬
rende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede
produzierende Wesenskräfte.
In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materia¬
lismus noch auf eine naive Weise die Keime seiner all¬
seitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in
poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an ...
In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus ein¬
seitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen
Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume
und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers.
Die physische Bewegung wird der mechanischen oder
mathematischen geopfert ... Der Materialismus wird
menschenfeirullich ...« [a.a.O., S. 257f.]
Hobbes: »Körper, Sein, Substanz ist ein und dieselbe
reelle Idee. Man kann den Gedanken nicht von einer
260
Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller
Veränderungen. Das Wort unendlich ist sinnlos, wenn
es nicht die Fähigkeit unseres Geistes bedeutet, ohne
Ende hinzuzufügen ... Der Mensch ist denselben
Gesetzen unterworfen wie die Natur. Macht und Frei¬
heit sind identisch.« [a.a.O., S. 258f.]
))Locke begründet das Prinzip des Baco und Flobbes
in seinem Versuch über den Ursprung des mensch¬
lichen Verstandes ...« [a.a.O., S. 259]
»Der unmittelbare Schüler und französische Dolmet¬
scher Lockes, Condillac, richtet den Lockeschen Sensua¬
lismus zugleich gegen die Metaphysik des 17. Jahr¬
hunderts ... In seiner Schrift Id es sai sur l'origine des
connaissances hwnaines führte er Lockes Gedanken aus
und bewies, daß nicht nur die Seele, sondern auch die
Sinne, nicht nur die Kunst, Ideen zu machen, sondern
auch die Kunst der sinnlichen Empfindung Sache der
Erfahrung und Gewohnheit sei. Von der Erziehung und
den äußeren Umständen hängt daher die ganze Ent¬
wicklung des Menschen ab ...« [a.a.O., S. 259f.]
))Helvetius (De Vkomme). Die sinnlichen Eigen¬
schaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohl¬
verstandene persönliche Interesse sind die Grundlage
aller AI oral. Die natürliche Gleichheit der mensch¬
lichen Intelligenzen, die Einheit zwischen dem Fort¬
schritt der Vernunft und dem Fortschritt der Industrie,
die natürliche Güte des Menschen, die Allmacht der
Erziehung sind Hauptmomente seines Systems ...«
[a.a.O., S. 260]
»Wie der kartesische Materialismus in die eigentliche
Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andre Rich¬
tung des französischen Materialismus direkt in den
Sozialismus und Kommunismus. Es bedarf keines großen
Scharfsinns, um aus den Lehren des Materialismus von
der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten

261
Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung,
Gewohnheit, Erziehung, dem Einflüsse der äußeren
Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der
Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen
notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus
und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der
Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle
Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also
darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er
das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich ange¬
wöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohl¬
verstandene Interesse das Prinzip aller Moral ist, so
kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des
Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammen¬
fällt. Wenn der Mensch unfrei im materialistischen
Sinne, d. h. frei ist, nicht durch die negative Kraft,
dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive
Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so
muß man nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen,
sondern die antisozialen Geburtsstätten des Ver¬
brechens zerstören und jedem den sozialen Raum für
seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der
Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man
die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von
Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine w'ahre
Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht
semer Natur nicht an der Macht des einzelnen Indivi¬
duums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.
Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich
selbst in den ältesten französischen Materialisten. Es ist
hier nicht der Ort, sie zu beurteilen. Bezeichnend für die
sozialistische Tendenz des Materialismus ist Mandevilles,
eines alteren englischen Schülers von Locke, Apologie
der Laster. Er beweist, daß die Laster in der heutigen
esellschaft unentbehrlich und nützlich sind. Es war
262
dies keine Apologie der heutigen Gesellschaft. Fourier
geht unmittelbar von der Lehre der französischen
Materialisten aus. Die Babouvisten waren rohe, un¬
zivilisierte Materialisten, aber auch der entwickelte
Kommunismus datiert direkt von dem französischen
Materialismus. Dieser wandert nämlich in der Gestalt,
die ihm Helvetius gegeben hat, nach seinem Mutter¬
lande, nach England, zurück, Bentham gründet auf die
Moral des Helvetius sein System des wohlverstandenen
Interesses, wie Owen, von dem System Benthams aus¬
gehend, den englischen Kommunismus begründet.
Nach England verbannt, wird der Franzose Cabet von
den dortigen kommunistischen Ideen angeregt und
kehrt nach Frankreich zurück, um hier der populärste,
wenn auch der flachste Repräsentant des Kommunismus
zu werden. Die wissenschaftlicheren französischen
Kommunisten, Dezamy, Gay etc. entwickeln, wie
Owen, die Lehre des Materialismus als die Lehre des
realen Humanismus und als die logische Basis des Kom¬
munismus.« [a. a. O., S. 260 £f.]

Der neue (dialektische) Materialismus (Engels):

»Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen


deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialis¬
mus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysi¬
schen, ausschließlich mechanischen Materialismus des
18. Jahrhunderts. Gegenüber der naivrevolutionären,
einfachen Verwerfung aller frühem Geschichte sieht
der moderne Materialismus in der Geschichte den Ent¬
wicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungs¬
gesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der
sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie
noch bei Hegel herrschenden Vorstellung von der
Natur als eines sich in engen Kreisläufen bewegenden,

263
sich stets gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Welt¬
körpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten
von organischen Wesen, wie sie Linnö gelehrt hatte,
faßt er die neuern Fortschritte der Naturwissenschaft
zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte
in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Organismen,
von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt
werden, entstehen und vergehn, und die Kreisläufe,
soweit sie überhaupt zulässig bleiben, unendlich große
Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesent¬
lich dialektisch und braucht keine über den andern
Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an
jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt,
über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der
Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzu¬
werden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamt¬
zusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bis¬
herigen Philosophie dann noch selbständig bestehen
bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen_
die formelle Logik und die Dialektik. Alles andere geht
auf in die positive Wissenschaft von Natur und Ge¬
schichte.« [Friedrich Engels Anti-Dühring (1878) Berlin
1955, S. 28 f.]
»Aus der Auflösung der Hegelschen Schule ging aber
noch eine andere Richtung hervor, die einzige, die
wirklich Früchte getragen hat, und diese Richtung
knüpft sich wesentlich an den Namen Marx. Die Tren¬
nung von der Hegelschen Philosophie erfolgte auch hier
urch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt.
as heißt, man entschloß sich, die wirkliche Welt —
Natur und Geschichte aufzufassen, wie sie sich
selbst einem jedem gibt, der ohne vorgefaßte idealistische
Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede
i ealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu
bringen, die sich mit den in ihrem eigenen Zusammen-
264
hang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tat¬
sachen nicht in Einklang bringen ließ. Und weiter heißt
Materialismus überhaupt nichts. Nur daß hier zum
erstenmal mit der materialistischen Weltanschauung
wirklich ernst gemacht, daß sie auf allen in Frage
kommenden Gebieten des Wissens — wenigstens in
den Grundzügen — konsequent durchgeführt wurde.«
[Friedrich Engels Ludwig Feuerbach und der Ausgang
der klassischen deutschen Philosophie (1886 in »Die
Neue Zeit«); Marx/Engels Ausgew. Schriften, Bd. II,
S. 559f.]

Grundthesen des Engelsschen dialektischen Materialis¬


mus :

Einheit der Welt in ihrer Materialität:


»Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sem, ob¬
wohl ihr Sein eine Voraussetzung ihrer Einheit ist, da
sie doch zuerst sein muß, ehe sie eins sein kann. Das
Sein ist ja überhaupt eine offene Frage von der Grenze
an, wo unser Gesichtskreis aufhört. Die wirkliche Ein¬
heit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist
bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen,
sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung
der Philosophie und der Naturwissenschaft.« (Anti-
Dühring, a.a. O., S. 51]
»Fragt man aber weiter, was denn Denken und Be¬
wußtsein sind und woher sie stammen, so findet man,
daß es Produkte des menschlichen Hirns sind und daß
der Mensch selbst ein Naturprodukt ist, das sich in und
mit seiner Umgebung entwickelt hat; wobei es sich dann
von selbst versteht, daß die Erzeugnisse des mensch¬
lichen Hirns, die in letzer Instanz ja auch Naturprodukte
sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht wider¬
sprechen, sondern entsprechen.« [a.a.O., S. 41]
265
Raum und Zeit:
»Denn die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit,
und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn,
wie ein Sein außerhalb des Raums ...« [a.a.O., S. 62]
»Eben weil die Zeit von der Veränderung verschieden,
unabhängig ist, kann man sie durch die Veränderung
messen, denn zum Messen gehört immer ein von dem
zu messenden Verschiednes. Und die Zeit, in der keine
erkennbaren Veränderungen vorgehn, ist weit entfernt
davon, keine Zeit zu sein; sie ist vielmehr die reine,
von keinen fremden Beimischungen affizierte, also die
wahre Zeit, die Zeit als solche ...« [a.a.O., S. 62]

Bewegung als >Daseinsweise der Materie <:


»Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie
und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben,
oder kann es sie geben. Bewegung im Weltraum,
mechanische Bewegung kleinerer Massen auf den ein¬
zelnen Weltkörpern, Molekularschwingungen als Wärme
oder als elektrische oder magnetische Strömung, chemi¬
sche Zersetzung und Verbindung, organisches Leben —
in einer oder der andern dieser Bewegungsformen oder
in mehreren zugleich befindet sich jedes einzelne Stoff¬
atom der Welt in jedem gegebenen Augenblick. Alle
Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in
Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungs¬
form ...« [a.a.O., S. 70]
»Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie
Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher eben¬
so unerschaffbar und unzerstörbar wie die Materie
selbst ...« [a.a.O., S. 70 f.]

Leben:
»Das Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, und
diese Daseinsweise besteht wesentlich in der beständigen
266
Selbsterneuerung der chemischen Bestandsteile dieser
Körper ... Überall, wo wir Leben vorfinden, finden wir
es an einen Eiweißkörper gebunden, und überall, wo
wir einen, nicht in der Auflösung begriffenen Eiwei߬
körper vorfinden, da finden wir ausnahmslos auch
Lebenserscheinungen ...« [a.a.O., S. 97]
»Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers,
besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augen¬
blick er selbst und zugleich ein andrer ist; und dies
nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen her
unterworfen wird, wie dies auch bei den toten Körpern
der Fall sein kann. Im Gegenteil, das Leben, der durch
Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel
ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem
Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den
es nicht sein kann. Und daraus folgt, daß, wenn es der
Chemie jemals gelingen sollte, Eiweiß künstlich herzu¬
stellen, dies Eiweiß Lebenserscheinungen zeigen muß,
mögen sie auch noch so schwach sein ...« [a.a.O., S. 98]

Dialektik — die Lehre von der Bewegung:


»Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes
für sich neben- und nacheinander, betrachten, stoßen
wir allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. Wir
finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam,
teils verschieden, ja einander widersprechend, aber in
diesem Fall auf verschiedene Dinge verteilt sind und also
keinen Widerspruch in sich enthalten. Soweit dieses
Gebiet der Betrachtung ausreicht, soweit kommen wir
auch mit der gewöhnlichen metaphysischen Denkweise
aus. Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer
Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer
wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten.
Da geraten wir sofort in Widersprüche. Die Bewegung
selbst ist ein Widerspruch; sogar schon einfache Orts-

267
bewegung kann sich nur dadurch vollziehen, daß ein
Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem
Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und
demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fort¬
währende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses
Widerspruchs ist eben die Bewegung ... Wenn schon
die einfache mechanische Ortsbewegung einen Wider¬
spruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Be¬
wegungsformen der Materie und ganz besonders das
organische Leben und seine Entwicklung. Wir sahen
oben, daß das Leben gerade darin besteht, daß ein
Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein
andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen
und Vorgängen selbst vorhandener, sich stets setzender
und lösender Widerspruch; und sobald der Wider¬
spruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod
tritt ein ...« [a.a.O., S. 147]

Umschlagen von Quantität in Qualität:


»Wir gaben ... eins der bekanntesten Beispiele _ das
der Veränderung der Aggregatzustände des Wassers, das
unter Normal luitdruck bei 0° C aus dem flüssigen in den
festen, und bei 100° C aus dem flüssigen in den luft-
förmigen Zustand übergeht, wo also an diesen beiden
Wendepunkten die bloße quantitative Veränderung
der Temperatur einen qualitativ veränderten Zustand
des Wassers herbeiführt ...« [a.a.O., S. 154]
„ »Zum Schluß wollen wir noch einen Zeugen für das
Umschlagen von Quantität in Qualität anrufen, näm¬
lich Napoleon. Dieser beschreibt das Gefecht der
schlechtreitenden, aber disziplinierten französischen
Kavallerie mit den Mameluken, der für das Einzel¬
gefecht unbedingt besten, aber undisziplinierten Rei¬
terei ihrer Zeit wie folgt: Zwei Mameluken waren drei
ranzosen unbedingt überlegen; 100 Mameluken
268
standen 100 Franzosen gleich; 300 Franzosen waren
300 Mameluken gewöhnlich überlegen, 1000 Fran¬
zosen warfen jedesmal 1500 Mameluken.« [a.a.O.,
S. 157]

Negation der Negation:


»Nehmen wir ein Gerstenkorn ... findet solch ein
Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor,
fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Ein¬
fluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Ver¬
änderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als
solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm
entstandne Pflanze, die Negation des Korns. Aber was
ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst,
blüht, wird befruchtet und produziert schließlich
wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt
der Halm ab, -wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser
Negation der Negation haben wir wieder das anfäng¬
liche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern in zehn-,
zwanzig-, dreißigfacher Anzahl ... Nehmen wir ... eine
bildsame Zierpflanze, z. B. eine Dahlie oder Orchidee;
behandeln wir den Samen und die aus ihm entstehende
Pflanze nach der Kunst des Gärtners, so erhalten wir als
Ergebnis dieser Negation der Negation nicht nur mehr
Samen, sondern auch qualitativ verbesserten Samen, der
schönere Blumen erzeugt, und jede Wiederholung
dieses Prozesses, jede neue Negation der Negation
steigert diese Vervollkommnung. —- Ähnlich wie beim
Gerstenkorn vollzieht sich dieser Prozeß bei den meisten
Insekten ...« [a.a.O., S. 166]
»Ebenso in der Mathematik. Nehmen wir eine be¬
liebige algebraische Größe, also a. Negieren wir sie, so
haben wir — a (minus a). Negieren wir diese Negation,
indem wir —a mit —a multiplizieren, so haben wir
-J- a2, d. h. die ursprüngliche positive Größe, aber auf

269
einer höheren Stufe, nämlich auf der zweiten Potenz.
Auch hier macht es nichts aus, daß wir dasselbe a2 da¬
durch erlangen können, daß wir das positive a mit sich
selbst multiplizieren und dadurch auch a2 erhalten.
Denn die negierte Negation sitzt so fest in dem a2, daß
es unter allen Umständen zwei Quadratwurzeln hat, a
und —a. Und diese Unmöglichkeit, die negierte Nega¬
tion loszuwerden, bekommt eine sehr handgreifliche
Bedeutung schon bei den quadratischen Gleichungen.«
[a.a.O., S. 167 f.]
»Nicht anders in der Geschichte. Alle Kulturvölker
fangen an mit dem Gemeineigentum am Boden. Bei
allen Völkern, die über eine gewisse ursprüngliche
Stufe hinausgehen, wird dies Gemeineigentum im
Lauf der Entwicklung des Ackerbaus eine Fessel für die
Produktion. Es wird aufgehoben, negiert, nach kürzeren
oder längeren Zwischenstufen in Privateigentum ver¬
wandelt. Aber auf höherer, durch das Privateigentum
am Boden selbst herbeigeführter Entwicklungsstufe
des Ackerbaus wird umgekehrt das Privateigentum
eine Fessel für die Produktion — wie dies heute der
Fall ist sowohl mit dem kleinen wie mit dem großen
Grundbesitz. Die Forderung, es ebenfalls zu negieren,
es wieder in Gemeingut zu verwandeln, tritt mit Not¬
wendigkeit hervor. Aber diese Forderung bedeutet
nicht die Wiederherstellung des altursprünglichen
Gemeineigentums, sondern die Herstellung einer weit
höhern entwickeltem Form von Gemeinbesitz, die, weit
entfernt, der Produktion eine Schranke zu werden, sie
vielmehr erst entfesseln und ihr die volle Ausnutzung
der modernen chemischen Entdeckungen und mecha¬
nischen Erfindungen gestatten wird ...« [a. a. O., S. 169]
»Was ist also die Negation der Negation? Ein äußerst
allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes
und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der
270
Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das, wie wir
gesehn, in der Tier- und Pflanzenwelt, in der Geologie,
in der Mathematik, in der Geschichte, in der Philo¬
sophie zur Geltung kommt ...« [a.a.O., S. 172f.]
»Negieren in der Dialektik heißt nicht einfach nein
sagen, oder ein Ding für nicht bestehend erklären, oder
es in beliebiger Weise zerstören. Schon Spinoza sagt:
omnis determinatio est negatio, jede Begrenzung oder
Bestimmung ist zugleich Negation. Und ferner ist die
Art der Negation hier bestimmt erstens durch die all¬
gemeine und zweitens durch die besondre Natur des
Prozesses. Ich soll nicht nur negieren, sondern auch die
Negation wieder aufheben. Ich muß also die erste
Negation so einrichten, daß die zweite möglich bleibt oder
wird. Wie? Je nach der besondern Natur jedes Falls.
Vermahle ich ein Gerstenkorn, zertrete ich ein Insekt,
so habe ich den ersten Akt vollzogen, aber den zweiten
immöglich gemacht. Jede Art von Dingen hat also ihre
eigentümliche Art, so negiert zu werden, daß eine Ent¬
wicklung dabei herauskommt und ebenso jede Art von
Vorstellungen und Begriffen ... Es ist aber klar, daß bei
einer Negationsnegierung, die in der kindischen
Beschäftigung besteht, a abwechselnd zu behaupten und
wieder auszustreichen, oder von einer Rose abwechselnd
zu behaupten, sie sei eine Rose und sie sei keine Rose,
nichts herauskommt, als die Albernheit dessen, der
solche langweilige Prozeduren vornimmt ...« [a.a.O.,
S. 173f.]

JOSEPH DIETZGEN

Wissenschaft contra Religion:

»Der alte Bund verlangte Geduld und Ergebung in


unsere Leiden; der neue Bund fordert Energie und

271
Tatkraft. An die Stelle der Gnade setzt er die bewußte
Werktätigkeit. Das alte Buch nannte sich Autoritäts¬
glaube^ das neue setzt die Wissenschaft, die revolu¬
tionäre, auf sein Titelblatt.« [Die Religion der Sozial¬
demokratie (»Volksstaat« 1870ff.); zit. nach Joseph Dietz-
gen Gesammelte Schriften, Berlin 1930, Bd. 1, S. 96]
»Im Unterschiede zwischen Glauben und Wissen
steckt der erste Keim revolutionärer Entwicklung. Beide
suchen das Heil unseres Geschlechts, aber in entgegen¬
gesetzter Weise. Der Glaube nur im Glauben, in der
Phantasie. Die Wissenschaft, mit nüchternem Ver¬
stände, in der realen Wirklichkeit.« [a.a.O.]
»Wirklich und leibhaftig wird der Zweck der Religion
erst durch materielle Kultur, durch Kultur der Materie
erreicht. Arbeit nannten wir den Heiland, den Erlöser
des Menschengeschlechts. Wissenschaft und Handwerk,
Kopf- und Handarbeit sind nur zwei verschiedene Ge¬
stalten derselben Wesenheit. Wissenschaft und Hand¬
werk sind wie Gott-Vater und -Sohn, zwei Dinge und
doch nur eine Sache. Ich würde ... diese WTahrheit ein
Kardinal-Dogma der sozialdemokratischen Kirche nen¬
nen, wenn die Sozialdemokratie eine Kirche und ver¬
ständige Erkenntnis Dogmen genannt werden dürf¬
ten ... Die Verbindung von Hirn- und Sinnentätigkeit
unterscheidet die Naturwissenschaft von allen vor¬
zeitigen spekulativen Wissenschaften « Ta a O
S. 104 f. ] ’
»Die geschichtliche Entwicklung der Religion besteht
m ihrer allmählichen Auflösung ... Religion (ist) ein
Substitut der menschlichen Unwissenheit, d. li. sie füllt
die Lücken unseres Wissens aus. Wo diese Lücken groß
smd, hat auch die Religion einen großen Umfang
Die zivilisierten Nationen der Gegenwart überlassen
em leben Gott nur das, was zu erforschen ihnen
bisher nicht gelungen.« [a.a.O., S. 116]
272
Materie und Bewußtsein:

»Es ist die Tatsache nicht zu leugnen, daß der toten


Materie der lebendige Trieb innewohnt, sich zu organi¬
sieren, daß folglich die materielle Welt nicht tot,
sondern lebendig ist. Von ihrem Willen und Zweck
läßt sich vergleichsweise reden. Jedoch erwächst dieser
allgemeinen Intelligenz erst im tierischen Instinkt eine
beschränkte Klarheit, welche einen reinen Ausdruck
wiederum erst in der menschlichen Gehirnfunktion, in
unserem Bewußtsein erlangt. So wenig es gestattet ist,
die Dämmerung, wie viel Licht auch dabei sein mag,
heller Tag zu nennen, so wenig verdient die außer¬
menschliche Zweckmäßigkeit, Wille, Vorstellung oder
Intelligenz der Natur diesen Namen ... Allerdings ist
Vernunft in den natürlichen Dingen. Wie sollte sonst auf
natürlichem Wege, ohne religiösen Beistand, der ver¬
nunftbegabte Mensch zur Welt kommen? Wer die Ver¬
nunft, welche Hebel aller Systematik und Zweck¬
mäßigkeit ist, als Naturprodukt anerkennt, kann die
systematische Zweckmäßigkeit der Natur nicht ver¬
kennen. Aber dennoch ist des Menschen Geist der einzige
Geist. Weder die Vernunft in den Sternenläufen, noch
die in den Kuckucks eiern, noch der Verstand im Bau der
Bienenzelle oder im Kopf der Ameisen und Affen,
sondern erst die höchste Potenz, erst das Bewußtsein, der
Geist oder die Vernunft in der Form menschlicher
Gehirnfunktion verdient den Namen.« [a.a.O., S. 118]

Monismus:

»Währenddem hat die Logik, die Wissenschaft des


Geistes, längst entdeckt, daß es nur eine Gattung,
nämlich: weltliche Dinge gibt, alles andere nur Arten
sind. Bewußtes und Unbewußtes, Pflanzen und Tiere,

275
Gutes und Böses, alle Verschiedenheit, alle Gegensätze
der Welt, sind als mannigfaltige Formen desselben
Wesens zu erkennen, die graduell ineinander über¬
gehen, sich im Kampf ums Dasein beständig befehden,
durch natürliche Zuchtwahl beständig sich erneuern
und vervollkommnen. Aus dem Chaos ist die Welt zum
geistbegabten Menschen fortgeschritten, der nun die
erfreuliche Pflicht und Fähigkeit hat, den weiteren
Fortschritt unserer vergleichsweise noch sehr chaoti¬
schen Welt dadurch zu poussieren, daß er ihre Kräfte
studiert und organisiert.« [a.a.O., S. 119]
»Unser Körper ist mit seinem Geiste derart ver¬
bunden, daß physische Arbeit absolut unmöglich ist,
ohne geistige Zutat. Der simpelste Plandlangerdienst
erfordert die Mitbeteiligung des Verstandes. Anderer¬
seits ist der Glaube an die Metaphysik oder Unkörper¬
lichkeit der geistigen Arbeit eine Gedankenlosigkeit.
Auch die reinste Forschung ist unleugbar eine An¬
strengung des Körpers. Alle menschliche Arbeit ist
geistig und körperlich zumal. Wer von der Wissenschaft
des Geistes etwas versteht, weiß, daß die Gedanken
nicht, nur vom Hirn, also subjektiv von der Materie
ausgehen, sondern immer auch irgendein Material zum
Gegenstand oder Inhalt haben. Hirnmaterial ist das
bub]ekt des Gedankens, sein Objekt das unendliche
Material der Welt.« [a.a.O., S. 129]

Der materialistische Monismus


die weltanschauliche
Basis der Demokratie:

»Die materialistische Weltanschauung ist gant so alt

™ UngIaube-EeWe
“Tt" a“S dem Rohen heraus ™ wissen-
^
schafthcher Pragnanz durchgearbeitet. Dafür aber
ie ade mische Gelehrsamkeit kein Verständnis
274
weil die im Materialismus enthaltenen demokratischen
Konsequenzen ihre werte soziale Stellung gefährden . «
[a. a.O., S. 126]
»Die klare Erkenntnis, wie Gedankenspäne fabriziert
werden, stellt uns theoretisch auf einen Standpunkt, der
von Göttern, Büchern und Menschen unabhängig ist.
Indem diese Wissenschaft den Dualismus zwischen Geist
und Materie auf löst, nimmt sie der bisherigen Zweiteilung
in Herrscher und Beherrschte, in Unterdrücker und Unter¬
drückte die letzte theoretische Stütze.« [a.a.O., S. 128]
»W er das phantastische, das religiöse System der
Weherklärung absetzen will, der muß doch wieder ein
System, diesmal ein rationelles, an die Stelle setzen ...«
[a.a.O., S. 152]
»Die kannibalische Religion des Anfangs hat sich
christlich kultiviert, die Philosophie hat die Kultur fort¬
gesetzt und nach vielen unhaltbaren vergänglichen
Systemen endlich das unvergängliche System des demo¬
kratischen Materialismus gewonnen.« [a.a.O., S. 135]

Die Induktion als Universalmethode:

»So hat auch alles Wissen eine gemeinschaftliche gene¬


relle Form: die induktive Methode nämlich. Daß die
Induktion die einzige, allgemeine Form der Wissen¬
schaft, daß sie anwendbar ist auf alle Probleme, auf alle
Objekte, dieses Bewußtsein gibt der Sozialdemokratie
jene systematische Sicherheit, jene geistige Überlegen¬
heit, welche die Augen unserer Gegner vor Erstaunen
glotzen macht. Wir wissen so vieles nicht, aber wir
kennen die generelle Form alles Wissens, und besitzen
daran einen Prüfstein, womit alle Bären zu finden sind,
welche die Trabanten unserer Machthaber dem Volke
aufbinden. Die Induktion ist in der Naturwissenschaft
eine bekannte Sache; daß aber eine systematische Welt-

275
Weisheit darin enthalten ist, berufen, die gesamte Wind¬
beutelei, die religiöse, die philosophische und politische
auszutreiben, ist eine sozialdemokratische Neuigkeit.«
[a.a.O., S. 158]
»Das induktive läßt sich füglich auch das dialektische
System nennen. Hier findet sich, was die Naturwissen¬
schaft immer mehr bestätigt, daß auch die wesentlichen
Unterschiede nur graduelle Verschiedenheiten sind. Wie
scharf wir auch die Merkmale feststellen, welche das
Organische vom Anorganischen, das Pflanzen- vom
Tierreich unterscheiden, so zeigt Natura doch, daß die
Grenzen verschwinden, daß alle Verschiedenheiten und
Gegensätze ineinanderfließen. Die Ursache wirkt und
die Wirkung verursacht. Die Wahrheit erscheintund die
Erscheinung ist wahr. Wie die Wärme kalt und die Kälte
warm, beides sich nur dem Grade nach unterscheidet,
so relativ ist das Gute bös und das Böse gut. Alles sind
Relationen desselben Stoffes, Formen oder Arten der
physischen Empirie.« [a.a.O., S. 142f.]

Weltanschauliche und politische Parteiungen:

»Wie in der Politik die Parteien mehr und mehr sich in


nur 2 Lager gruppieren, hier Arbeitnehmer und dort
Arbeitgeber, analog der ökonomischen Entwicklung,
welche die Mittelklassen lichtet und auf Zweitrennung
in Besitzer und Habenichtse lossteuert, so teilt sich auch
die Wissenschaft in zwei Generalklassen: in Meta¬
physiker dort und in Physiker oder Materialisten hier.
Die Zwischenglieder und vermittlungssüchtigen Quack¬
salber mit allerlei Namen, Spiritualisten, Sensualisten,
Realisten usw. usw., fallen unterwegs in die Strömung.
Wir steuern der Entschiedenheit, der Klarheit zu.
Idealisten nennen sich die reaktionären Retraitebläser,
und Materialisten sollen alle diejenigen heißen, welche
276
sich angelegen sein lassen, den menschlichen Intellekt
vom metaphysischen Zauber zu erlösen.« [Sozialdemo¬
kratische Philosophie (»\o\ksstaaU, 1876), a.a.O.,S. 195]
»Wenn die Sozialdemokraten sich Materialisten
nennen, so soll mit diesem Namen nur gesagt sein, daß
sie nichts anerkennen, was über den wissenschaftlich
angelegten Menschenverstand hinausgeht. Alle Hexerei
soll aufhören.« [a.a.O., S. 198]

Die Herausbildung der Orthodoxie

KARL KAUTSKY

Materialistische Weltanschauung::

»Der Materialismus ist eine Anschauung von der Welt,


nicht bloß vom Menschen. Marx und Engels haben ihre
Geschichtsauffassung eine materialistische genannt, weil
sie aus ihrem materialistischen Denken, ihrer materiali¬
stischen Weltanschauung hervorging. Sie wurden aber
nicht dadurch zu Materialisten, daß sie die entscheidende
Rolle der Ökonomie in der Geschichte entdeckten.«
[Der Historische Materialismus, Berlin 1927, Bd. I, S. 20]
»Auch der historische Materialismus ist nicht eine
empirische, d. h. durch bloße Beobachtung der Tat¬
sachen gewonnene isolierte Hypothese geblieben, son¬
dern einer großen Weltanschauung organisch einverleibt
worden, mit der er steht und fällt. Marx und Engels
waren philosophisch zu einem materialistischen Stand¬
punkt gekommen, ehe sie ihre Geschichtsauffassung ent¬
wickelten.« [a.a.O., S. 21]
»Die Materie ist von diesem Standpunkt [Engels]
aus die Gesamtheit der Welt, und die Anerkennung der

277
Materie des Materialismus bedeutet nichts anderes als
die Anerkennung, daß die Welt außer uns wirklich
besteht, nicht bloßer Schein, nicht Produkt des denken¬
den Kopfes ist.« [a.a.O., S. 23]

Auffassung der Dinge in ihrer Bewegung und ihrem


Zusammenhang:

»Zu dieser Forderung [Primat der Erfahrung] gesellt


sich bei der materialistischen Methode, die Marx und
Engels anwandten, noch die andere Forderung, die
Dinge außer uns nicht jedes für sich als unbewegliches,
unveränderliches Wesen zu betrachten, sondern sie zu
erforschen in ihren Bewegungen und Veränderungen,
ihrem Werden und Vergehen, in ihrem Gesamt¬
zusammenhang. Öfter werden beide Arten der Betrach¬
tung als gleichwertig angesehen, man vermeint eine
oder die andere anwenden zu können, nach Belieben.
In Wirklichkeit sind beide Arten der Betrachtung für
das Erkennen der Welt notwendig. Es steht jedoch
keineswegs in unserem Belieben, ob wir die eine an¬
wenden wollen oder die andere. Sie bilden vielmehr
zwei aufeinanderfolgende Stadien des Prozesses des
Erkennern der Welt ...« [a.a.O., S. 24]
»Die Methode der Beobachtung der Dinge im Zu¬
sammenhang, im Funktionieren, im Werden und Ver¬
gehen, ist also die unumgängliche Fortsetzung der
Methode, jedes Ding gesondert für sich, isoliert, im
Zustande der Ruhe, zu untersuchen ...« [a.a.O., S. 25]

Die Einheit der INatur und der Menschengeist als Natur¬


erscheinung:

»Wohl bedeutet das Aultreten des Geistes* bei dem


heutigen Stande unserer Erkenntnis einen Sprung in
278
der Natur, ebenso wie das Auftreten des Lebens. Aber
seit Hegel wissen wir, daß die Entwicklung ohne Sprünge
nicht abgeht und daß die Vermehrung einer Quantität
auf einer gewissen Höhe in eine neue Qualität um¬
schlägt oder doch Umschlagen kann. Sicher ist nichts
schwieriger zu erforschen als das Zustandekommen
solcher Sprünge in der Natur.
Aber trotz aller Sprünge hält man fest an der Einheit
aller Erscheinungen in der Natur. Bloß der Sprung zum
Geist soll ein Grund sein, diesen nicht als Naturerschei-
nung zu behandeln! Die letzten Rätsel des Geistes sind
freilich noch nicht gelöst. Jedoch sind bereits viele
geistige Erscheinungen wissenschaftlich erforscht. Alles
aber, was wir über siewissen, verdanken wir der materia¬
listischen, d. h. der naturwissenschaftlichen Methode ...«
[a.a.O., S. 45]
»Der Ein wand gegen den Materialismus, er vermöge
den Geist nicht zu erklären, erweist sich im Grunde
nur als ein Ergebnis jener Überhebung des Menschen
gegenüber seiner Umwelt, von der wir sprachen ...«
[a.a.O., S. 46]
Ȇber den Grad und die Art des Unterschiedes
zwischen menschlichem und tierischem Geist kann man
streiten. Aber niemand wird leugnen können, daß die
einfachsten geistigen Prozesse bei Tieren ebenso Vor¬
kommen wie beim Menschen, Empfinden und Wollen,
aber auch Urteilen ...« [a.a.O., S. 47]

Kritik der Hegel-Marxschen dialektischen Entwicklungs¬


theorie und Ersetzung durch die Wechselwirkung Orga¬
nismus-Umwelt :

»Bei Hegel sind These und Antithese nicht als Organis¬


mus und Umwelt zwei voneinander ganz verschiedne
Dinge, die aufeinander wirken, sondern bei ihm steckt

279
in der These bereits der Widerspruch zu sich selbst,
die Negation.
Diese Negation wächst und führt schließlich zur Auf¬
hebung der These, des Ausgangspunktes des Prozesses.
Aber auch die Negation trägt wieder den Keim ihrer
eignen Verneinung in sich, die schließlich zur Synthese
und erneuten Bejahung der These, aber auf höherer
Stufenleiter führt.
Marx und Engels haben diese Auffassung der Dialek¬
tik von Hegel übernommen, indes ... >vom Kopf auf die
Füße gestellte Denn bei Hegel war sie eine Selbst¬
bewegung des Geistes, der die Welt in Bewegung setzt
und die geschichtliche Entwicklung bewirkt. Marx und
Engels materialisierten sie, verwandelten sie in ein
Bewegungsgesetz ebenso der materiellen Welt wie der des
Denkens ...« [a.a.O., S. 150]

Es folgt Engels Veranschaulichung des >Gesetzes der


Negation der Negation< (vgl. S. 269).

»Bei dieser Darstellung fällt vor allem die Auffassung


der >Negation<, der Verneinung auf. Das Keimen des
Samens sowie die Bildung des Tieres aus dem Ei wird
als eine Negierung des Samens oder des Eies gefaßt.
Und doch bedeutet es nur eine Negation der Hülle des
Samens oder Eies, nicht ihres Inhalts. Dieser ändert sich
durch den Prozeß des Keimens und Wachsens. Das
bildet aber keine besondere Kennzeichen der Entwick¬
lung des Samens oder Eies ...« [a.a.O., S. 151]
»Es ist nicht ganz deutlich, wie Engels hier die
Negation auffaßt. Im Grunde schwebt ihm doch wohl
die eigentliche Negation vor, die Aufhebung, der Unter¬
gang des Individuums. Er spricht vom >Vergehen des
Kornes« durch den Prozeß der Keimung. Aber ebenso¬
gut könnte er vom Vergehen des Kindes sprechen,
wenn daraus ein reifer Mann wird.« [a.a.O.]
280
»Noch bedenklicher als mit der Negation steht es mit
der Negation der Negation. Hier ist von einer wirklichen
Negation des Individuums die Rede. Die Pflanze stirbt
ab, nachdem sie Samen getragen, der Schmetterling,
nachdem er Eier gelegt. Der neu produzierte Samen
oder das neugelegte Ei bilden die Wiederkehr zum
Ausgangspunkt des Prozesses, dem Samen oder Ei,
woraus das Individuum entsprang. Aber das Produ¬
zieren von Samen und Eiern und das Absterben des sie
produzierenden Organismus fallen zeitlich keineswegs
zusammen. Jenes tritt stets früher ein als letzteres. Die
Negation der Negation und die Synthese ... sind also
keineswegs identisch.« [a.a.O., S. 132]
»Der Engelssche Satz kann dahin gedeutet werden,
daß Prozesse, die man als Negation der Negation be¬
trachten darf, gelegentlich Vorkommen. Darüber
werden wir noch handeln. Hier aber untersuchen wir
die Frage, ob die Vorgänge der Bewegung und Ent¬
wicklung in der Welt stets die Form der Hegelschen
Dialektik — These, Antithese, Synthese mit Rückkehr
zum Ausgangspunkte wirklich annehmen. Ich halte
diese Annahme für die organische Welt für richtig,
aber keineswegs in der Weise, wie Engels sie hier
illustriert ..., wo Bewegung und Entwicklung nicht [wie
es nach Kautsky richtig wäre] als Auf einanderwirken
von zwei Faktoren, Individuum und Umwelt, sondern
bloß als Bewegung eines Faktors, des Individuums aus
sich heraus, betrachtet und die Antithese ebenso wie
die These im gleichen Individuum gesucht wird. Hier
wirkt das Hegelsche Iorbdd offenbar noch stark nach,
das die Bewegung ebenfalls bloß aus einem einzigen
Faktor erklärte, dem Geist, der aus sich heraus seine
eigene Negation setzt ...« [a.a.O., S. 132f.]
»Gegen das Hegelsche Schema der Dialektik als not¬
wendige Form der Bewegung und Entwicklung aller
281
Erscheinungen der Welt erheben sich gerade nach er¬
folgter materialistischer >Umstülpung< sehr große Be¬
denken. Es ist aber auch nicht ausgemacht, daß Marx
und Engels dieses Schema als allgemeines notwendiges
Bewegungsgesetz der Welt betrachten ...« [a.a.O.,
S. 154 f.]
»Wenn Marx fortfährt, >die Dialektik steht bei Hegel
auf dem Kopf... man muß sie umstülpen, um den ratio¬
nellen Kern in der engsten Hülle zu entdecken^ so sind
wir damit ... völlig einverstanden. Nur suchen wir
den >rationellen Kerm nicht dort, wo die Engelsschen
Illustrationen ihn zeigen wollen ... Die Hegelsche
Dialektik hat (Marx und Engels) ... nie zu gewaltsamen
Konstruktionen verführt, nie dazu verleitet, an Stelle
des Erforschens das Ersinnen phantastischer Zusammen¬
hänge mit Hilfe der Hegelschen »idealistischen Schrulle<
zu setzen. Diese diente ihnen nur dazu, ihre Aufmerk¬
samkeit auf die Widersprüche und Gegensätze der
Gesellschaft hinzulenken, die auf eine neue »Synthese<
hinwirken, und ihnen deren Erforschung zu erleichtern.
Die Hegelsche Dialektik war ihnen bloß »heuristisches
Prinzips nicht absolute Wahrheit ...« [a.a.O., S. 156]
»Für die materialistische Anwendung [des Hegelschen
dialektischen Schemas] muß man es nicht bloß vom
Kopf auf die Füße stellen, sondern auch den Weg völlig
verändern, den die Füße gehen. Zur Übereinstimmung
des Gedankens mit den Tatsachen gelangen wir nur
dann, wenn wir das dialektische Schema nicht in der
Richtung der Entwicklung, sondern in der Triebkraft
der Entwicklung der Organismen suchen und ads
solche das dialektische Verhalten des einzelnen Organis¬
mus zur Umwelt betrachten. Wenn wir von diesem
Standpunkt aus die Entwicklung des von Engels vor¬
geführten Gerstenkornes ins Auge fassen, stellt sie sich
ganz anders dar als bei Engels. Das Gerstenkorn kommt
282
zur Entwicklung nur dann, wenn es in eine Umwelt
gerät, die ihm Anstöße erteilt, einen Boden, der die
nötige Feuchtigkeit und Wärme und die erforderlichen
aufgelösten Nährstoffe enthält. Aufgabe des keimenden
Samens ist es, sich aller dieser Faktoren zu bemächtigen
und sie zu seinen Gunsten anzuwenden, was bei ihm
natürlich ein unbewußter Vorgang ist. Später wird für
den pflanzlichen Organismus, sobald er aus dem Erd¬
boden herauswächst, auch noch entscheidend das Ver¬
hältnis seines Standorts zur Sonne, zu deren Wärme
und Licht, sowie zur Luft, ihrem Gehalt an Kohlen¬
säure, ihren Bewegungen usw. Dieser ganze Prozeß
vollzieht sich durch immer wieder erneute Gegensätz¬
lichkeit zwischen Umwelt und Individuum ... Nur wenn
die Pflanze in äußere Bedingungen gerät, die zu den
Lebensbedingungen ihres Organismus passen, oder
wenn sie es vermag, sich den äußeren Bedingungen
anzupassen, wird sie die von der Umwelt drohende
Negation überwinden und durch die Negation der
Negation sich selbst behaupten ...« [a. a. O., S. 140]

G. W. PLECHANOW

Der moderne Materialismus des Marxismus als Welt¬


anschauung:

»Der Marxismus ist eine ganze Weltanschauung. Er ist,


kurz ausgedrückt, der moderne Materialismus, der die
zur Zeit erreichte höchste Entwicklungsstufe der Welt¬
anschauung darstellt, deren Grundlagen schon in Alt¬
griechenland von Demokritos und z. T. von dessen Vor¬
läufern, den ionischen Denkern, gelegt wurden. Der
sogenannte Hylozoismus ist nichts anderes als ein naiver
Materialismus. Das größte Verdienst um den Ausbau
des modernen Materialismus haben zweifellos Karl
283
Marx und sein Freund Friedrich Engels. Die historische
und ökonomische Seite dieser Weltanschauung ist in
ihren Grundlagen beider JVerk ... So kommt es, daß
mit dem Worte >Marxismus< im allgemeinen nur die
soeben hervorgehobenen zwei Seiten der modernen
Weltanschauung bezeichnet werden. Das aber nicht
allein vom >großen Publikum<, das den philosophischen
Lehren immer noch kein tieferes Verständnis entgegen-
bringt, sondern auch von Leuten, die sich für treue
Schüler von Marx und Engels halten. Die historische
und ökonomische Seite der Weltanschauung werden
auf solche Weise als etwas vom philosophischen Mate-
rialismus< Unabhängiges, ja fast ihm Entgegengesetztes
betrachtet. Sobald aber diese beiden Seiten aus dem
gesamten Komplex der Anschauungen herausgerissen
werden, die ihnen verwandt sind und ihre Grundlage
bilden, müssen sie notwendigerweise in der Luft
schweben. Bei den Leuten, die diese Operation voll¬
ziehen, entsteht daher das natürliche Bedürfnis, den
>Marxismus< aufs neue zu >begründen<. Das geschieht
dadurch, daß sie ihn — wiederum völlig willkürlich
und in der Regel unter dem Einfluß der philosophi¬
schen Strömungen, die unter den Ideologen der
Bourgeoisie zur Zeit herrschend sind — mit dem einen
oder anderen Philosophen in Zusammenhang bringen
mit Kant, mit Mach, mit Avenarius, mit Ostwald und
in der letzten Zeit auch mit Joseph Dietzgen. Dietzgens
philosophische Anschauungen sind allerdings unab-
nängig von bürgerlichen Einflüssen entstanden und
denen von Marx und Engels in bedeutendem Maße
verwandt. Die Philosophie dieser beiden aber ist weit
konsequenter durchgeführt und reicher ausgebaut. Sie
kann ... durch Dietzgens Lehre nicht ergänzt, höch¬
stens popularisiert werden ...« [Grundprobleme des
Marxismus, Stuttgart 1910, S. 7f.]
284
Die Bedeutung Feuerbachs für den Marx-Engelsschen
Materialismus:

»Der Materialismus von Marx und Engels stellt eine


viel entwickeltere Lehre als der Feuerbachs dar; die
materialistischen Anschauungen unserer Meister haben
sich aber in der Richtung entwickelt, die durch die
innere Logik der Feuerbachschen Philosophie vorge¬
schrieben wurde. Deshalb werden diese Ansichten —
insbesondere nach ihrer philosophischen Seite — für
jeden unklar bleiben, der nicht weiß, welcher erheb¬
liche Teil der Feuerbachschen Philosophie eigentlich in
die Weltanschauung der Gründer des wissenschaft¬
lichen Sozialismus emgegangen ist.« [a.a.O., S. 25]

Die Bedeutung der Dialektik:

»Zu den größten Verdiensten, die sich Marx und Engels


um den Materialismus erworben haben, gehört die Aus¬
arbeitung einer richtigen Methode. Indem Feuerbach
alle seine Kräfte auf den Kampf wider das spekulative
Element in der Philosophie Hegels verwendete, nutzte
er deren dialektische Seite wenig aus ...« [a.a.O., S. 28]
»Die Dialektik wird von vielen mit der Lehre von der
Entwicklung verwechselt. Sie ist in der Tat eine solche,
aber unterscheidet sich sehr wesentlich von der vulgären
>Evolutionstheorien, die ganz auf dem Prinzip aufgebaut
ist, daß weder die Natur noch die Geschichte Sprünge
kennt, und daß alle Änderungen nur allmählich vor
sich gehen. Schon Hegel hat bewiesen, daß diese Vor¬
stellung von der Entwicklung nicht stichhaltig, ja daß
sie lächerlich ist.« [a.a.O., S. 30]
Es folgt ein langes Zitat aus der Hegelschen Logik,
Ed. Lasson, 1932, Bd. I, S. 583.
»Diese dialektische Ansicht Hegels über die Notwendig-

285
keit von Sprüngen im Prozeß der Entwicklung teilten
Marx und Engels. Engels entwickelte sie in seiner
Polemik gegen Dühring, wobei er sie >auf die Füße<,
d. h. auf eine materialistische Grundlage stellte ...
Überhaupt werden die Gesetze des dialektischen Den¬
kens durch die dialektischen Eigenschaften des Sems
bestätigt. Das Sein bedingt auch hier das Denken.«
[a.a.O., S. 51]

Formale Logik und Dialektik:

»Manche Kritiker haben herausgefunden, daß die


Dialektik ... mit der Logik ... im Widerspruch stände.
Der Leser erinnert sich wohl, wie Bernstein durch den
verderblichen Einfluß der Dialektik das erklärt, was er
als die Fehlgriffe von Marx und Engels betrachtet. Die
formelle Logik hält sich an die Formel >ja, ja und nein,
nein<, während die Dialektik diese Formel in ihren
Gegensatz verwandelt, in >ja, nein und nein, ja<. Diese
Formel nun soll den Grundprinzipien des Denkens
widersprechen. Und warum?« [a.a.O., S. 31]
Es folgt eine Aufzählung der drei Grundprinzipien
des Denkensc Grundsatz der Identität (A = A), Grundsatz
des Widerspruchs (A = nicht Non-A) und Grundsatz des
ausgeschlossenen Drittem. Dieser letztere wird nach
Überwegs >System der Logik< wie folgt beschrieben:

»>Auf jede völlig bestimmte und allemal in dem gleichen


Sinne verstandene Frage, die auf die Zugehörigkeit
eines bestimmten Prädikats zu einem bestimmten Sub¬
jekt geht, muß entweder ja oder nein geantwortet
werden.< Kaum läßt sich etwas dagegen erwidern.
Trifft aber dieses Gesetz zu, ist dann nicht damit gesagt,
daß die Formel >ja, nein, und nein, ja< völlig unhaltbar
ist? Es bleibt uns dann nur übrig, uns darüber nach
Bernsteins Beispiel lustig zu machen ... Diese für die
286
Dialektik verhängnisvolle Schlußfolgerung scheint un¬
widerleglich zu sein. Aber ehe wir diese Schlußfolge¬
rung ziehen, wollen wir die Frage selbst noch von einer
anderen Seite betrachten. Die Bewegung der Materie
bildet die Grundlage aller Naturerscheinungen. Was ist
denn aber Bewegung? Sie ist ein augenscheinlicher
Widerspruch. Denn an welchem Orte befindet sich ein
sich bewegender Körper in einem bestimmten Zeit¬
moment? Darauf läßt sich Überwegs Gesetz gemäß, das
heißt nach der Formel von >ja, ja und nein, nein< beim
besten W lllen nicht antworten. Ein sich bewegender
Körper ist in einem und demselben Zeitmoment an einem
Orte und zugleich auch nicht an ihm. (Dies wird auch
von Trendelenburg anerkannt, vgl. seine Logischen
Untersuchungen, Bd. 1, S. 189.) Die Bewegung läßt sich
also nicht nach der Formel >ja, ja und nein, nein< be¬
greifen und dient somit als unanfechtbarer Beweis zu¬
gunsten der >Logik des Widerspruchs<. Wer diese Logik
bekämpft, der muß mit Zenon die Bewegung als
Sinnestäuschung betrachten ... Es erweist sich, daß wir
etwas unerwartet vor die Alternative gestellt sind: ent¬
weder die Grundprinzipien< der formellen Logik anzu¬
erkennen und die Realität der Bewegung zu bestreiten,
oder umgekehrt: die Realität der Bewegung voraus¬
gesetzt, die Gültigkeit dieser Prinzipien zu bestreiten...«
[a. a.O., S. 31 ff.]
»Daraus folgt, daß wir bei Betrachtung einzelner
Gegenstände nach Überwegs Gesetz handeln oder uns
überhaupt nach den Grundprinzipien des Denkens <
richten müssen. Hier herrscht die Formel >ja, ja und
nein, nein<. Aber auch hier ist ihre Herrschaft nicht
ganz unbeschränkt ... Ist ... ein Ding erst im Werden,
so liegt oft Grund genug vor, unschlüssig über die Ant¬
wort zu sein. 'Wer wird bestimmen, wann das Ausgehen
der Haare zur Bildung einer Glatze führt? ... >Alles

287
fließt, ist in steter Veränderung^ sagt der alte griechi¬
sche Denker. Die Verbindungen, die wir Gegenstände
nennen, sind in stetem — mehr oder weniger raschem
_Werden und Vergehen begriffen. Soweit diese Ver¬
bindungen als solche bleiben, müssen wir darüber nach
der Formel >ja, ja und nein, nein< urteilen; hören sie
aber auf, bestimmte Verbindungen zu sein, so können
wir uns von ihnen nur nach der Formel >ja, nein und
nein, ja<, also auf Grund der Logik des Widerspruchs,
eine Vorstellung machen. Wie die Ruhe ein Spezialfall
der Bewegung, so ist auch das Denken nach den Prinzi¬
pien der formellen Logik ein spezieller Fall des dialek¬
tischen Denkens.« [a. a.O., S. 35]
»Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei folgendes
vermerkt: Auch wenn wir vor dem Übergang einer Art
der Bewegung in eine andere stehen — sagen wir von
mechanischer Bewegung in Wärme —, so müssen wir
Überwegs Gesetz gemäß urteilen: diese Bewegungsart
ist entweder Wärme oder mechanische Bewegung oder
usw. Das ist klar. Wenn das aber klar ist, so finden die
Grundgesetze der formellen Logik in gewissen Grenzen
auch in bezug auf die Bewegung Anwendung. Daraus
folgt wiederum, daß die Dialektik die formelle Logik
nicht auf hebt, sondern ihr nur die absolute Gültigkeit
nimmt, die ihr die Metaphysiker verliehen.« [a.a.0.,
S. 37]
»Wie aber, wenn wir es nicht mit einfachen, sondern
mit einem komplizierten Gegenstand zu tun haben, in
dem sich völlig entgegengesetzte Eigenschaften ver¬
einigen? Ist auch in bezug auf solche Gegenstände
immer eine bestimmte Antwort möglich? Nein. Selbst
Überweg — ... — ist der Meinung, daß hier ein
anderes Gesetz Anwendung findet, und zwar der Satz
der Vermittlung (principium coincidentiae oppositorum).
Der weitaus größte Teil der Erscheinungen, mit denen

288
die Naturwissenschaft sowohl als auch die Soziologie zu
tun hat, gehören bekanntlich gerade zu den kompli¬
zierten Erscheinungen. Ein Klümpchen Protoplasma
oder das Leben einer noch so unentwickelten sozialen
Gemeinschaft vereinigt in sich völlig entgegengesetzte
Erscheinungen. Folglich muß man der Dialektik so¬
wohl in den Naturwissenschaften als auch in der
Soziologie einen großen Platz einräumen. Und seitdem
ihr dieser Platz eingeräumt wurde, machten die er¬
wähnten Wissenschaften in der Tat kolossale Fort¬
schritte.« [a. a.O., S. 38 f.]

Als Beispiel für die Bedeutung der Dialektik auf dem


Gebiet der Biologie wird die von Hugo de Vries auf¬
gestellte Mutationstheorie (S. 42) genannt. Die von den
Neu-Lamarckisten ins Feld geführte Lehre von der Be¬
seeltheit der Materie< erscheint Plechanow als durchaus
materialistisch.

W. I. LENIN

Dialektische Evolutionstheorie

»In der Hegelschen Dialektik als der umfassendsten, in¬


haltsreichsten und tiefsten Entwicklungslehre sahen Marx
und Engels die größte Errungenschaft der klassischen
deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des
Prinzips der Entwicklung, der Evolution hielten sie für
einseitig, inhaltsarm, für eine Entstellung und Ver¬
zerrung des wirklichen Verlaufs der (nicht selten in
Sprüngen, Katastrophen und Revolutionen sich voll¬
ziehenden) Entwicklung in Natur und Gesellschaft.
>Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die ...
die bewußte Dialektik in die materialistische Auf¬
fassung der Natur hinübergerettet hatten« (Engels,

289
Anti-Dühring) ... Diese revolutionäre Seite der Hegel-
schen Philosophie wurde von Marx übernommen und
entwickelt. Der dialektische Materialismus >braucht
keine über den anderen Wissenschaften stehende Philo¬
sophie mehre Was von der bisherigen Philosophie noch
bestehen bleibt, ist >die Lehre vom Denken und seinen
Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektiko Die
Dialektik in der Marxschen, ebenso wie in der Plegel-
schen Auffassung schließt jedoch in sich das ein, was
man heute Erkenntnistheorie, Gnoseologie nennt ... In
unserer Zeit ist die Idee der Entwicklung, der Evolu¬
tion nahezu restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein
eingegangen, aber auf anderen Wegen, nicht über die
Philosophie Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr
Marx und Engels, ausgehend von Hegel, gegeben haben,
ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als die
landläufige Evolutionsidee: Eine Entwicklung, die die
bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal
durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe (>Negation
der Negation*), eine Entwicklung, die nicht gradlinig,
sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine
sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolu¬
tionäre Entwicklung; Unterbrechungen der Allmäh-
lichkeitc Umschlagen der Quantität in Qualität; innere
Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch denWiderspruch,
durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte
und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper oder
innerhalb der Grenzen einer gegebenen Erscheinung
oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam
sind; gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzer¬
trennlicher Zusammenhang aller Seiten jeder Erschei-
nung ... ein Zusammenhang, der einen einheitlichen,
gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung ergibt, das
sind einige Züge der Dialektik als der ... inhaltsreiche¬
ren Entwicklungslehre ...« [Karl Marx, Juli-November
290
1914; zit. nach Marx-Engels-Marxismus, Moskau 1947
S. 13f.]
»Marx und Engels verfochten mit aller Entschieden¬
heit den philosophischen Materialismus und legten zu
wiederholten Malen dar, wie grundfalsch jede Ab¬
weichung von dieser Basis ist. Am klarsten und aus¬
führlichsten sind ihre Anschauungen niedergelegt in
Engels’ Werken, Ludwig Feuerbach und Anti-Dühring,
die — gleich dem Kommunistischen Manifest — Hand¬
bücher jedes klassenbewußten Arbeiters sind ... Aber
Marx blieb nicht beim Materialismus des 18. Jahr¬
hunderts stehen, er entwickelte die Philosophie weiter.
Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der klas¬
sischen deutschen Philosophie und besonders des Hegel-
schen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuer¬
bachs geführt hatte ... Marx, der den philosophischen
Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn
zu Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf
die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft aus.«
[Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (März
1913), a.a.O., S. 56]

Kritik der Philosophie der Revisionisten:

»Auf dem Gebiet der Philosophie segelte der Revisionis¬


mus im Fahrwasser der bürgerlichen professoralen
>Wissenschaft<. Die Professoren gingen >zurück zu
Kant< — und der Revisionismus trottete hinter den
Neokantianern her; die Professoren kauten die abge¬
droschenen pfäffischen Banalitäten gegen den philoso¬
phischen Materialismus wieder — und die Revisioni¬
sten murmelten mit nachsichtigem Lächeln ... der
Materialismus sei längst >widerlegt<; die Professoren
behandelten Hegel als >toten Hund<, zuckten über die
Dialektik verächtlich die Achseln, obwohl sie selbst
291
einen Idealismus predigten, aber einen tausendmal
seichteren und vulgäreren als den Hegelschen — und
die Revisionisten folgten ihnen in den Sumpf der
philosophischen "Verflachung der Wissenschaft, indem
sie die >raffinierte< (und revolutionäre) Dialektik durch
die >schlichte< (und ruhige) >Evolution< ersetzten; die
Professoren arbeiteten ihr Staatsgehalt ab, indem sie
ihre idealistischen wie ihre >kritischen< Systeme der
herrschenden mittelalterlichen >Philosophie< (d. h. Theo¬
logie) anpaßten — und die Revisionisten rückten ihnen
an die Seite, bemüht, die Religion nicht dem modernen
Staat, sondern der Partei der fortgeschrittensten Klasse
gegenüber zur >Privatsache< zu machen.« [Marxismus
und Revisionismus (April 1908), a. a.O., S. 186]

Aufruf zur Rückbesinnung auf Hegel:

»Wenn Timirjasew in der ersten Nummer der Zeitschrift


hervorheben mußte, daß mit der Theorie Einsteins ...
schon eine gewaltige Menge von Vertretern der bürger¬
lichen Intelligenz sympathisiert, so betrifft das nicht nur
Einstein, sondern eine ganze Reihe, wo nicht die Mehr¬
zahl aller großen Neuerer in der Naturwissenschaft
seit Ende des 19. Jahrhunderts.
Wollen wir nun zu einer solchen Erscheinung bewußt
Stellung nehmen, so müssen wir begreifen, daß ohne
eine solide philosophische Grundlage keine wie immer
geartete Naturwissenschaften, kein wie immer ge¬
arteter Materialismus den Kampf gegen den Druck der
bürgerlichen Ideen und gegen die Wiederherstellung
der bürgerlichen Weltanschauung zu bestehn imstande
sein weiden. Um diesen Kampf zu bestehen und ihn
mit vollem Erfolg zu Ende zu führen, muß der Natur¬
forscher moderner Materialist, d. h. ... er muß dialek¬
tischer Materialist sein. Um dieses Ziel zu erreichen,
292
müssen die Mitarbeiter der Zeitschrift >Unter dem
Banner des Marxismus< das systematische Studium der
Dialektik Hegels vom materialistischen Standpunkt aus
organisieren, d. h. jener Dialektik, die Marx in seinem
Kapital wie in seinen historischen und politischen Schrif¬
ten praktisch angewandt hat ...« [Über die Bedeutung
des streitbaren Marxismus (März 1922), a.a.O., S. 410]
»Gewiß ist ein solches Studium, eine solche Auslegung
und eine solche Propaganda der Hegelschen Dialektik
eine außerordentlich schwierige Arbeit, und die ersten
Versuche in dieser Richtung werden zweifellos mit
Fehlern behaftet sein. Doch frei von Fehlern bleibt nur,
wer nichts tut. Gestützt auf die Marxsche Anwendung
der materialistisch gefaßten Dialektik Hegels können
und müssen wir diese Dialektik nach allen Seiten hin
ausarbeiten, in der Zeitschrift Auszüge aus den Haupt¬
werken Hegels veröffentlichen, sie materialistisch aus¬
legen, indem wir als Kommentar Musterbeispiele der
Anwendung der Dialektik bei Marx bringen, ebenso
aber auch Musterbeispiele der Dialektik auf dem
Gebiete der ökonomischen, der politischen Verhält¬
nisse ... Die Gruppe der Redakteure und Mitarbeiter
der Zeitschrift >Unter dem Banner des Marxismus< soll
nach meiner Meinung eine Art > Gesellschaft materiali¬
stischer Freunde der Hegelschen Dialektik< sein.«
[a.a.O., S. 410f.]

Elemente der Dialektik:

»Man kann sich diese Elemente wohl auch detaillierter


so vorstellen: 1. die Objektivität der Betrachtung (nicht
Beispiele, nicht Abschweifungen, sondern das Ding an
sich). 2. die ganze Totalität der mannigfaltigen Be¬
ziehungen dieses Dings zu den anderen. 3. die Ent¬
wicklung dieses Dings (resp. der Erscheinung), seine
293
eigene Bewegung, sein eigenes Leben. 4. die innerlich
widersprechenden Tendenzen (und Seiten) in diesem
Dinge. 5. das Ding (die Erscheinung etc.) als Summe
und Einheit der Gegensätze. 6. der Kampf resp. die
Entfaltung dieser Gegensätze, das Widersprechende
der Bestrebungen etc. 7. die Vereinigung von Ana¬
lyse und Synthese — Zerlegung der einzelnen Teile
und die Gesamtheit, die Summierung dieser Teile zu¬
sammen.

Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Ein¬
heit der Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der
Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das erfordert Er¬
läuterungen und Entwicklung.

8. die Beziehungen jedes Dings (Erscheinung etc.) sind


nicht nur mannigfaltig, sondern allgemein, universell.
Jedes Ding (Erscheinung, Prozeß etc.) ist mit jedem
verbunden. 9. nicht nur Einheit der Gegensätze,
sondern Übergänge jeder Bestimmung, jeder Qualität,
jedes Zugs, jeder Seite, jeder Eigenschaft in jedes andere
(in seinen Gegensatz?). 10. unendlicher Prozeß der
Erschließung neuer Seiten, Beziehungen etc. 11. un¬
endlicher Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis des
Dinges, der Erscheinungen, Prozesse usw. durch den
Menschen, von der Erscheinung zum Wesen und vom
weniger tiefen zum tieferen Wesen. 12. von Koexistenz
zur Kausalität und von der einen Form des Zusammen¬
hangs und der wechselseitigen Abhängigkeit zu einer
anderen, tieferen, allgemeineren. 15. die Wiederholung
gewisser Züge, Eigenschaften etc. des niederen Stadi¬
ums im höheren und 14. die scheinbare Rückkehr zum
Alten (Negation der Negation). 15. der Kampf des In¬
halts mit der Form und umgekehrt. Das Abwerfen der
Form, die Umgestaltung des Inhalts. 16. der Übergang
der Quantität in Qualität und vice versa. (15 und 16
294
sind Beispiele von 9.)« [Aus dem philosophischen Nach¬
laß, Tjur Kritik der Hegelschen Wissenschaft der Logik,
Bern 1914, 1932, Berlin 1949, S. 144 ff.]

Marxistische Kritik am dialektischen Materialismus

MAX ADLER

Marxismus als positive Wissenschaft:

»Müssen wir so den sachlichen Zusammenhang des


Marxismus als soziale Theorie mit irgendeiner Welt¬
anschauung ablehnen, so insbesondere den mit dem
philosophischen Materialismus, weil ja gerade infolge
der sehr unpassenden Bezeichnung der Grundlehre des
Marxismus als einer >materialistischen< Geschichtsauf¬
fassung seit jeher die Gefahr einer Verquickung und
Verwirrung seiner klaren theoretischen Gesichtspunkte
mit den dogmatischen und metaphysischen Sätzen des
philosophischen Materialismus nahegelegt war ... Der
Ausdruck >materialistisch< oder >materielle Grundlage<
der Ideologie usw. ist gerade aus dieser Entstehungs¬
geschichte der marxistischen Grundlehre gar nicht
anders zu verstehen wie als eine bewußte Opposition zu
der spekulativen, sublimierenden, von aller Erfahrung
abstrahierenden Philosophie Hegels, dergegenüber auf
den materiellen Boden der Erfahrung in Natur und
Geschichte zurückzukehren war. Der >Materialismus<
der Marxschen Geschiehts- und Gesellschaftstheorie ist
nichts anderes als die polemische und programmatische
Betonung des empirischen Standpunktes ... Heute er¬
scheint uns viel wichtiger, diejenige Komponente in der

295
Bezeichnung der marxistischen Theorie hervorzu-
heben, welche für die Kausalerklärung des Sozial¬
geschehens von entscheidender Bedeutung geworden
ist, nämlich die gesellschaftliche, also sozialpsychische;
und da wäre der Name eines sozialökonomischen Deter¬
minismus vielleicht ein weniger irreführender als der
bloß noch historisch zu verstehende einer materialisti¬
schen Geschichtsauffassung ... Was ist der Materialis¬
mus? Eine Antwort auf die Frage nach dem IVesen der
Welt, nach ihrem Sinn an sich, kurz, eine ontologische
und deshalb von vornherein metaphysische Auffassung.«
[.Marxistische Probleme, Wien 1920, S. 65 ff.]

Gegen dialektische Ontologie —- für dialektische Methode:

»Es sei ... erinnert, wie stets zu beachten ist, was zumeist
übersehen wird, daß mit dem Worte >Dialektik< zwei
ganz verschiedene Begriffe bezeichnet werden, deren
Vermischung der eigentliche Grund für die Unklarheit
ist, in welcher sich zumeist die Diskussion über die
Dialektik bewegt. Einmal bedeutet nämlich Dialektik
bloß eine Art des Denkens, nämlich die Beziehung aller
festumgrenzten Denkinhalte auf dasjenige, wovon es
durch diese Begrenzung unterschieden wird, auf seinen
fW iderspruch<. Das Denken wird angehalten, darauf
zu achten, jeden seiner scheinbar selbständigen und
isolierten Inhalte im Zusammenhang damit zu denken,
was aus diesem Inhalt ausgeschlossen wurde und ihm
dadurch erst seine Bestimmung gab. Auf diese Weise
wird die Starrheit der rein logischen Begriffe über¬
wunden und eine durchgängige Verbindung der Denk-
rnhalte bewirkt, die das Denken in den Stand setzt, sich
selbst als einen beständigen Fluß aller seiner Momente zu
begreifen und dieser Bewegung des Denkens zu folgen.
Die Dialektik in diesem Sinne ist also eine Methode.
296
Weiter bezeichnet das Wort Dialektik aber auch eine
Art des Seins, nämlich die im Weltganzen als schöpferi¬
sche Potenz waltende Gegensätzlichkeit der einzelnen
realen Bestimmtheiten derselben, den Widerstreit der
Dinge als den V ater alles Geschehens. Insofern also mit
der Dialektik eine Wesensbeschaffenheit des Seins selbst
gemeint ist, ist Dialektik eine Metaphysik.
Ganz zu unterscheiden hiervon ist aber diejenige
Bedeutung, in welcher zwar auch eine Gegensätzlich¬
keit des Seins gemeint ist, aber nicht mehr der Welt¬
beschaffenheit, sondern der empirisch zu konstatierenden
Eigenschaften eines bestimmten Erscheinungskomple¬
xes. Die Gegensätzlichkeit, die zum Beispiel das soziale
Leben beherrscht und hauptsächlich gemeint ist, wenn
von einer realen Dialektik im Marxismus die Rede ist,
hat nichts mehr mit der Frage nach der Natur des Seins
zu tun, sondern konstatiert einfach eine vorhandene
Gegensätzlichkeit zwischen dem Selbstinteresse des
Individuums und den sozialen Formen, in die dasselbe
gebannt ist. Die Dialektik in diesem Sinne ist dann ein
Stück positiver Wissenschaft. Sie trägt nur zufällig, aus
bloß historisch zu verstehenden Gründen, den irre¬
führenden Namen der Dialektik und würde besser
Antagonismus genannt werden ...
Es ist nun für das Mißverständnis der Dialektik ent¬
scheidend geworden, daß auch für Marx und Engels
kein Grund vorlag, diese Scheidung zu machen, da sie
ja von ihrem positivistischen Realismus aus zu einem
erkenntnistheoretisch ähnlichen, nur sachlich umge¬
kehrten Identitätsstandpunkt gelangten wie Hegel«
[gemeint ist die Identität von Denken und Sein, a.a.O.,
S. 76 ff.]
»Die Verabsolutierung der Dialektik wird einge¬
leitet durch die Verabsolutierung des Satzes, wonach
das Denken vom Sein bestimmt wird und nicht umgekehrt.

297
Was diesen Satz bei Marx und Engels zu so großer, ihre
ganze theoretische Leistung tragender Bedeutung hat
kommen lassen, wird man vergeblich in seiner meta¬
physischen oder erkenntnistheoretischen Bedeutung
suchen. Dagegen quillt in seiner immanenten, das
heißt innerhalb der empirischen Sphäre verbleibenden
und auf alle Weltanschauungs- oder erkenntniskritische
Fragen verzichtende Anwendung das reichste Leben
aus ihm. In der Art, wie er bei Marx und Engels nicht
als bloße These für eine Weltauffassung, sondern als
Forschungsprinzip zur Untersuchung des sozialen
Lebens auftritt, ist er zum Ausgangspunkt grundlegen¬
der Erkenntnis der sozialen Gesetzlichkeit geworden, so
daß von ihm aus erst eine Sozialwissenschaft möglich
wurde, die auf diesen Namen wirklich Anspruch
machen kann. In der materialistischen Geschichtsauf¬
fassung erfährt er seine systematische sozialtheoretische
Ausführung und bildet durch sie nicht nur die Grund¬
lage des Marxismus, sondern ... immer mehr der
modernen Arbeit auf den verschiedensten Gebieten der
Geistes Wissenschaften.
Sobald aber dieser Satz von der Bestimmung des
Denkens durch das Sein über seine Bedeutung als For¬
schungsmaxime hinaus als eine erkenntnistheoretische
Wahrheit oder gar als wissenschaftliche Erkenntnis von
der Beschaffenheit der Natur selbst und des Verhältnis¬
ses von Denken und Sein in ihr aufgefaßt wird, ver¬
wandelt sich die schöpferische Kraft dieses Gedankens
m eine unkritische Anschauung von heute geradezu
archaischer erkenntniskritischer Naivität. Er stellt dann
einfach eine dogmatisch-metaphysische Behauptung
dar, dei andere derartige Sätze vielleicht mit mehr, viel¬
leicht mit weniger Recht entgegen gestellt werden
können. Jedenfalls aber wird er der Springquell aller
Unklarheiten und endlosen Streitigkeiten, die aus einer
298
solchen Verquickung einer metaphysischen Grundan¬
schauung mit einem rein methodologischen Stand¬
punkt hervorgehen müssen. Freilich ist diese Ver¬
quickung, diese Aquivokation grundverschiedener Be¬
deutungen die einzige und noch dazu scheinbar selbst¬
verständliche Möglichkeit, aus dem wissenschaftlichen
System des Marxismus einen Materialismus zu machen.
Denn da der Satz von der Bestimmung des Denkens
durch das Sein sowohl in seinem methodologischen als
in seinem metaphysischen Sinne dieselbe Wortform hat,
so können nur zu leicht die Folgerungen aus dem
letzteren Sinne auch für Konsequenzen des ersteren
gelten, und damit ist der ganze Jammer fertig: der alte
Jammer aller philosophischen und wissenschaftlichen
Diskussion, die an den Worten ihrer Begriffe mehr
hängt als an diesen selbst.« [a.a.O., S. 82f.]

KARL KORSCH

Auseinandersetzung mit der sowjetischen Parteiorthodoxie.

»Der außerordentlich kriegerische Empfang, der den im


Jahre 1923 erschienenen marxistisch-dialektischen Stu¬
dien von Georg Lukäcs und ebenso auch der damals
erscheinenden 1. Auflage meiner Schrift alsbald nach
ihrem Bekanntwerden in der russischen und m der
gesamten kommunistischen Parteipresse aller Lander
bereitet wurde, erklärt sich zum größten Teil aus der
Tatsache, daß gerade damals, in der Periode, wo nac l
Lenins Tod der schon zu seinen Lebzeiten begonnene
Kampf der Diadochen um das Leninsche Erbe mit ver¬
mehrter Heftigkeit fortgesetzt wurde ... von der da¬
maligen Führung der russischen Kommunistischen
Partei unter der Losung der Propaganda des Lemms-
299
mus< der Kampf um die auch ideologische Bolschewi-
sierung aller der Kommunistischen Internationale ange¬
schlossenen außerrussischen Parteien begonnen wurde.
Zu dieser >bolschewistischem Ideologie gehörte als ein
Haupt- und Kernstück auch eine strikt philosophische
Ideologie, die sich selbst für die Wiederherstellung der
wahren und unverfälschten marxistischen Philosophie
ausgab und auf dieser Grundlage den Kampf gegen alle
anderen innerhalb der modernen Arbeiterbewegungen
auftretenden philosophischen Tendenzen aufzunehmen
versuchte ...« [Marxismus und Philosophie, Der gegen¬
wärtige Stand des Problems »Marxismus und Philo¬
sophie«, Vorwort zur 2. Aufl. 1931, S. 22]
»Will man den philosophischen Streit des Jahres 1924
auf eine kurze Formel bringen, ohne zunächst die
ideologische Form zu durchbrechen, die dieser Streit
damals im Bewußtsein der Beteiligten angenommen
hat, so kann man sagen, es handelte sich um die Aus¬
einandersetzung zwischen der in Rußland damals for¬
mell kanonisierten Leninschen Interpretation des Marx-
Engelsschen Materialismus und den von diesem Kanon
angeblich in der Richtung zum Idealismus, zu der
philosophischen Erkenntniskritik Kants und zur ideali¬
stischen Dialektik Hegels >abweichenden< Anschau¬
ungen von Georg Lukäcs und einer Anzahl anderer, mit
mehr oder weniger Recht als seine >Anhänger< be¬
trachteter Theoretiker aus der ungarischen und der
deutschen Kommunistischen Partei ...« [a.a.O., S. 24]
Korsch belegt das durch Zitate aus polemischen Artikeln
von A. Deborin über Lukäcs und seine Kritik des Marxis¬
mus (in >Arbeiterliteratur< Nr. 10, Wien 1924, S. 615 ff.),
in der auch die >Lukacs-Schüler< Revai und Fogarasi sowie
Korsch genannt werden.

»Zu einem ... Teil richteten sich diese Angriffe [der


Parteiorthodoxie gegen Korsch] gegen die in >Marxismus
300
und Philosophie< wirklich vertretenen Anschauungen,
und besonders gegen die darin mehrfach zum Ausdruck
gebrachte dialektische Absage an jenen rnaiven Realis-
mus<, mit dem >der sogenannte gesunde Menschenver¬
stand, dieser ärgste Metaphysiken und mit ihm auch die
gewöhnliche >positive Wissenschaft der bürgerlichen
Gesellschaft und in ihrer Nachfolge leider auch der
heutige, von allem philosophischen Denken verlassene
Vulgärmarxismus >zwischen dem Bewußtsein und
seinem Gegenstand eine scharfe Trennungslinie zieht
und das Bewußtsein ... >als etwas Gegebenes, von vorn¬
herein dem Sein, der Natur Entgegengesetztes, so hin¬
nimmt. Mit dieser, wie es mir damals schien, für jeden
materialistischen Dialektiker und revolutionären Mar¬
xisten selbstverständlichen, und darum von mir viel
mehr vorausgesetzten als ausführlich begründeten
Kritik der primitiven vordialektischen, und sogar vor-
transzendentalen Auffasswig des V erhältnisses von Be¬
wußtsein und Sein hatte ich, ohne mir dessen bewußt zu
sein, gerade den Hauptpunkt jener eigentümlichen
>philosophischen Weltanschauung< angegriffen, die da¬
mals als das eigentliche Fundament der neuen ortho¬
doxen Lehre des sogenannten >Marxismus-Leninismus<
von Moskau aus über die ganze kommunistische Welt
des Westens ... ausgebreitet werden sollte.« [a.a.O.,
S. 26]

Korsch meint sodann, Lenin habe diese philosophischen


Lehren zeit seines Lebens nie theoretisch, sondern immer
nur praktisch beurteilt. Er habe seine theoretischen Gegner
nicht bekämpft, weil sie irrten, sondern weil er sie für
>schädlich< hielt. Er habe die zeitgenössischen philosophi¬
schen Lehren — den Neukantianismus und Mächismus
mancher Sozialisten — >als parteimäßig falsche Ideologien
praktisch bekämpft und zu zerstören versuche (a.a.O.,
S. 29), nicht aber theoretisch widerlegt.
301
Die Eigenart des Leninschen dialektischen Materialismus:

Während Marx und Engels den Materialismus als


selbstverständlich ansahen und sich bemühten, die Dia¬
lektik in die Gegenwart herüberzuretten:
»hält es Lenin unter den gegebenen, nach seiner Mei¬
nung in diesem Punkt völlig veränderten geschicht¬
lichen Bedingungen, für die von ihm und allen anderen
revolutionären Marxisten und Materialisten zuerst und
vor allem zu erfüllende Aufgabe, zwar nicht auf dem
Gebiet der Politik die Grundforderungen der politischen
Demokratie, wohl aber auf dem Gebiet der Philosophie
jene >Abc-Wahrheiten des philosophischen Materialis¬
mus < gegen ihre modernen Angreifer aus dem bürger¬
lichen Lager und ihre Helfershelfer im eigenen Lager
der Arbeiterklasse zu verteidigen, und sie zugleich in
bewußter Anknüpfung an den revolutionären bürger¬
lichen Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts unter
den Millionen und Abermillionen Bauern und sonstigen
rückständigen Massen in Rußland, Asien und der ganzen
Welt zu verbreiten. Man sieht, es handelt sich für
Lenin ... nicht um die theoretische Frage nach der
Wahrheit oder Unwahrheit der von ihm vertretenen
materialistischen Philosophie, sondern um die prakti¬
sche Frage nach ihrer Nützlichkeit für den revolutio¬
nären Kampf der Arbeiterklasse — bzw. — in den noch
nicht zur vollen kapitalistischen Entwicklung gediehe¬
nen Ländern — der Arbeiterklasse und aller anderen
unterdrückten Volksklassen. Und der philosophische<
Standpunkt Lenins erscheint daher im Grunde nur
noch als eine besondere, eigentümlich verkleidete
Form jenes Standpunktes, der in einer anderen Er¬
scheinungsform bereits in der 1. Auflage von >Marxis-
mus und Philosophie< behandelt worden ist und dessen
Grundmangel mit aller Schärfe gekennzeichnet ist
302
durch den Ausspruch des jungen Marx gegen jene
»praktische politische Partei, die sich einbildet, sie könne
die Philosophie (praktisch) aufheben, ohne sie (theore¬
tisch) zu verwirklichen«. Indem er zu den von der
Philosophie behandelten Fragen nur nach ihren außer¬
halb der Philosophie gegebenen Motiven und Wir¬
kungen und nicht zugleich auch nach ihrem theore¬
tisch-philosophischen Inhalt Stellung nimmt, begeht er
den gleichen Fehler, den damals nach den Marxschen
Worten die »praktische politische Partei in Deutsch-
land< beging, indem sie glaubte, die mit Recht von ihr
geforderte >Negation aller Philosophie« (bei Lenin:
aller idealistischen Philosophie!) dadurch zu voll-
bringen, daß sie >der Philosophie den Rücken kehrt und
abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale
Phrasen über sie hermurmelt« {Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie, Einleitung) ...« [a.a.O., S. 51 f.]

Korsch bezweifelt, daß die von Lenin behauptete Wen¬


dung der geistigen Lage eingetreten sei, die jetzt eine
stärkere Betonung des Materialismus — nicht wie zu Marx’
und Engels’ Zeit der Dialektik — notwendig mache.
Korsch meint, daß die Grundrichtung in der bürger¬
lichen Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaft auch
heute noch ... von einer naturwissenschaftlich gefärbten
materialistischen Anschauung ausgeht« (a. a.O., S. 55).

»Die gegenteilige Auffassung Lenins hat ... ihre mate¬


riellen Wurzeln großenteils in der besonderen ökonomi¬
schen und gesellschaftlichen Lage Rußlands und in den
dadurch für die russische Revolution scheinbar, und für
eine gewisse, engbegrenzte Zeitspanne auch tatsächlich,
gestellten besonderen praktisch-politischen und theore¬
tisch-politischen Aufgaben. Diese gesamte deninisti-
sche Theorie« ist aber kein ausreichender Ausdruck für
die praktischen Bedürfnisse der gegenwärtigen Ent¬
wicklungsstufe des internationalen proletarischen Klas-

505
senkampfes, und die als das ideologische Fundament jener
leninistischen Theorie dienende materialistische Philo¬
sophie Lenins ist aus diesem Grunde auch nicht die dieser
heutigen Entwicklungsstufe entsprechende revolutio¬
näre Philosophie des Proletariats.
Dieser geschichtlichen und praktischen Lage ent¬
spricht auch der theoretische Charakter der Leninschen
materialistischen Philosophie. Im strikten Gegensatz zu
jener ... in ihrem Ziel und in ihrer gegenwärtigen
Tendenz bereits auf die totale Aufhebung der Philo¬
sophie gerichteten materialistisch-dialektischen An¬
schauung,, die Marx und Engels in ihrer ersten revolu¬
tionären Periode begründet haben und in deren Er¬
neuerung auf einer höheren Entwicklungsstufe auch
gegenwärtig die einzige auf dem philosophischen Gebiet
zu erfüllende revolutionäre Aufgabe besteht, will der
Philosoph Lenin, ganz ebenso wie sein philosophischer
Lehrer Plechanow und dessen andere philosophische
Schülerin L. Axelrod-Orthodox, als Marxist allen
Ernstes zugleich Hegelianer bleiben. Er stellt sich den
Übergang von der Hegelschen idealistischen Dialektik
zu dem dialektischen Materialismus ... tatsächlich als
eine bloße Auswechselung der dieser dialektischen
Methode zugrunde liegenden idealistischen Weltan¬
schauung durch eine andere, nicht mehr >idealistische<,
sondern >materialistische< philosophische Weltanschau¬
ung vor, und er scheint nichts davon zu ahnen, daß
durch eine solche >materialistische Umstülpung< der
Hegelschen idealistischen Philosophie im besten Falle
nur eine terminologische I er ander ung herbeigeführt
werden könnte, die darin bestände, das Absolute nicht
mehr >Geist<, sondern >Materie< zu nennen. In Wirklich¬
keit handelt es sich bei diesem Leninschen Materialis¬
mus sogar um etwas noch weit Schlimmeres. Es wird
dadurch nicht nur die letzte, durch Marx und Engels
304
herbeigeführte materialistische Umstülpung der Hegel-
schen idealistischen Dialektik wieder rückgängig ge¬
macht, sondern die gesamte Diskussion zwischen
Materialismus und Idealismus auf eine schon durch die
idealistische deutsche Philosophie überwunden gewesene
frühere geschichtliche Entwicklungsstufe zurückgeworfen
... Die Marx-Engelssche materialistische Umstülpung
der idealistischen Dialektik Hegels bestand nur noch
darin, diese ... von ihrer letzten mystifizierenden Hülle
zu befreien, in der dialektischen >Selbstbewegung der
Idee< die darunter verborgene wirkliche geschichtliche
Bewegung zu entdecken und diese revolutionäre ge¬
schichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrig¬
bleibende >Absolutem zu proklamieren. Dagegen kehrt
nun Lenin zu jenen schon durch Hegel dialektisch über¬
wundenen absoluten Gegensätzen von >Denken< und
>Sein<, >Geist< und >Materie< zurück, über die einst im
17. und 18. Jahrhundert der philosophische und z. T.
noch religiöse Streit zwischen den beiden Richtungen
der Aufklärung geführt wurde ...« [a.a.O., S. 53 ff.]

HERBERT MARCUSE

Funktionswandel der Dialektik von Marx zum Sowjet¬

marxismus :

»Während aber kein einziger der grundlegenden dialek¬


tischen Begriffe revidiert oder zurückgewiesen worden
ist, hat im Sowjetmarxismus die Dialektik selbst einen
tiefgehenden Funktionswandel erlitten: sie wurde aus
einer Form kritischen Denkens zu einer universellen
>Weltanschauung< und einer universellen Methode mit
streng fixierten Regeln und Regelungen gemacht, und
diese Verwandlung zerstört die Dialektik weit grund-
305
licher als jede Revision. Der Wandel entspricht dem¬
jenigen des Marxismus selbst von einer Theorie zu einer
Ideologie; die Dialektik wird mit den magischen Quali¬
täten offiziellen Denkens und offizieller Verlautbarungen
bekleidet. Wie die marxistische Theorie aufgehört hat,
das Organon revolutionären Bewußtseins und revolu¬
tionärer Praxis zu sein und in den Überbau eines fest¬
gefügten Herrschaftssystems eingegangen ist, wurde die
Bewegung des dialektischen Denkens in einem philo¬
sophischen System kodifiziert ... Die Schwierigkeiten
des Sowjetmarxismus bei der Abfassung eines Lehr¬
buchs < der Dialektik und Logik sind nicht nur politi¬
scher Natur, sondern das Wesen der Dialektik selbst
wehrt sich gegen eine solche Kodifikation. Das gilt für
die idealistische wie für die materialistische Dialektik,
denn weder Marx noch Hegel haben die Dialektik als
allgemeines methodologisches Schema entwickelt. Den
ersten Schritt in dieser Richtung tat Engels ... seine
Aufzeichnungen haben das Skelett für die Kodifika¬
tionen des Sowjetmarxismus geliefert.
Marx entwickelte seine Dialektik als ein begriffliches
Werkzeug zum Verständnis einer innerlich antagoni¬
stischen Gesellschaft. Die Auflösung der festen und
stabilen Begriffe von Philosophie, politischer Ökonomie
und Soziologie in ihre widerspruchsvollen Komponen¬
ten sollte die aktuelle Struktur und Bewegung der
Geschichte reflektieren <; die Dialektik sollte in der
Theorie das Wesen der Wirklichkeit wiedergeben. Und,
um ... eine adäquate Geschichtstheorie zu liefern,
mußten die traditionellen Kategorien neu definiert
werden, da sie das Geschehen eher verbargen als offen¬
bar machten. Die dialektische Relation zwischen Denk¬
struktur und Wirklichkeitsstruktur ist jedoch mehr als
eine bloße Widerspiegelung und Entsprechung ...«
[Soviet Marxism, New York 1958, S. 137 f.]

306
Für Hegel ist der Gegensatz von Denken und Gegen¬
stand aufgehoben, und die Vernunft als die gemeinsame
reale Struktur beider erkannt. Die Bewegung der Wirk¬
lichkeit wird als ein Prozeß begriffen, der zu einer immer
klareren und bewußteren Selbsterfassung der begriff¬
lichen Wirklichkeit durch sich selbst führt. >Die Wirk¬
lichkeit hat ... ihren eignen Logos und die Logik ist
Ontologie.< (a.a.O., S. 159).

»Die Einheit der subjektiven und objektiven Wirklich¬


keit ist aber kein Faktum, keine gegebne Bedingung,
sondern eine, die durch den Kampf gegen feindliche,
negierende Bedingungen erst erreicht werden muß.
Sobald dieser Kampf zu einer selbstbewußten Existenz¬
weise wird, nämlich im Menschen, wird der dialektische
Prozeß zum historischen — der zugleich theoretisch
und praktisch ist. Es kommt zum Genuß eines Welt¬
zustands, in dem der Konflikt in durchsichtige Harmonie
von Subjekt und Objekt, Individuum und Allgemeinheit
aufgelöst ist. Das ist die innere Logik der Philosophie
wie der Wirklichkeit. Die dialektische Logik kann daher
auch als eine Logik der Freiheit, oder noch genauer, als
eine Logik der Befreiung bezeichnet werden. Denn der
Prozeß ist der einer entfremdeten Welt, deren Sub¬
stanz < nur durch das Niederwerfen und die Überwindung
der ihrer Verwirklichung im Wege stehenden Hinder¬
nisse >Subjekt< ... werden kann. Dann freilich geht
Hegels Dialektik über den historischen Prozeß hinaus
und verwandelt ihn in einen Teil eines metaphysischen
Systems, in dem die höchste Freiheit lediglich die der
Idee ist.« [a.a.O., S. 140]
»Die Marxsche > Umstülpung< der Hegelschen Dialek¬
tik bleibt der Geschichte anvertraut. Die bewegenden
Faktoren hinter dem historischen Prozeß sind nicht
bloße Konflikte, sondern Widersprüche, da sie den Logos
der Geschichte als der Geschichte der Entfremdung
307
bilden. So spricht, nach Marx, der Logos der kapitali¬
stischen Gesellschaft gegen sich selbst: ihre Ökonomie
funktioniert nur durch periodische Krisen, vermittelt
normal; wachsende Arbeitsproduktivität hält Mangel
und Mühe aufrecht; wachsender Reichtum verewigt
Armut; Fortschritt bedeutet Entmenschlichung ... Die
Rationalität des Systems ist selbstwidersprüchlich: die e.
beherrschenden Gesetze sind die seiner Selbstzerstörungs
Wie in Hegels Auffassung erscheint der Prozeß der
Befreiung nicht als ein äußeres, der Realität aufge¬
stülptes Schema, sondern als die objektive Dynamik,
die die Verwirklichung des freien >Subjekts<, des Prole¬
tariats, ist, das jetzt seine historische Form und Aufgabe
findet. Überdies ist die Marxsche Dialektik als politisch¬
historischer zugleich ein Erkenntnis-Prozeß: das wahre
Bewußtsein (Klassenbewußtsein) des Proletariats ist
ein konstitutiver Faktor in der objektiven Dialektik der
Befreiung.« [a.a.O., S. 141]
»Der Logos der Dialektik ist (im Sowjetmarxismus)
nicht mehr der der Befreiung, weder in Hegels ontolo¬
gischem noch in Marxens historischem Sinn. Das ist
unvermeidlich, sobald die Dialektik nicht mehr auf die
Widersprüche der Klassengesellschaft konzentriert,
sondern über sie hinaus ausgedehnt wird. Indem die
Marxsche Theorie in eine allgemeine wissenschaftliche
Weltanschauung verwandelt wird, verwandelt sich die
Dialektik in eine abstrakte Erkenntnistheorien Ob¬
gleich diese sich auf das Proletariat und die Kommuni¬
stische Partei beziehen soll, ist der Zusammenhang
nicht mehr durchsichtig. Nun kann man zwar vielleicht
die Marxsche Theorie eine >Weltanschauung< (Welt¬
auffassung) nennen, aber dann handelt es sich dabei um
die >vorgeschichtlicbe< Wrelt der Klassengesellschaften
und namentlich die kapitalistische Gesellschaft. Die
Marxsche Theorie analysiert und kritisiert diese Welt in
308
allen ihren Manifestationen, in ihrer materiellen und in¬
tellektuellen Kultur. Es gibt aber keine Marxsche Theo¬
rie, die sinnvoller Weise als >Weltanschauung< der nach¬
kapitalistischen Gesellschaften, mögen diese nun soziali¬
stisch sein oder nicht, bezeichnet werden könnte. Es gibt
keine Marxsche Theorie des Sozialismus, weil die antago¬
nistisch-dialektischen Gesetze, die die vorsozialistische
Geschichte beherrschen, auf die Geschichte der freien
Menschheit nicht anwendbar sind ... Der wesenhaft histo¬
rische Charakter der Marxschen Theorie schließt unhisto¬
rische Verallgemeinerungen aus ...« [a. a. O., S. 141 f.]
»Daher können die Sowjetmarxisten, wenn sie die
Dialektik >als solche< darzustellen suchen, aus den
dialektischen Analysen der >Klassiker< lediglich gewisse
Prinzipien herausdestillieren, sie illustrieren und mit
dem >undialektischen< Denken konfrontieren. Diese
Prinzipien sind die von Stalins dialektischem und
historischem Materialismus<, die ihrerseits nur eine
Paraphrase der Engelsschen Sätze in dessen >Dialektik
der Natur< sind. In der Begriffssprache von Hegels und
Marxens Dialektik sind diese Sätze weder wahr noch
falsch, sondern einfach leere Hülsen.« [a. a. O., S. 143]

Die sowjetmarxistische Naturdialektik:

»Die Betonung der Dialektik der Natur ist ein charak¬


teristisches Merkmal des Sowjetmarxismus im Unter¬
schied zu Marx und sogar zu Lenin. Wenn die Marxsche
Dialektik in ihrer begrifflichen Struktur eine Dia¬
lektik der historischen Realität ist, dann bezieht sie
die Natur insofern ein, als diese selbst ein Teil der
historischen Wirklichkeit ist (im Stoffwechsel zwischen
Mensch und Natur, der Beherrschung und Ausbeutung
der Natur, als Ideologie usw.). Aber genau insoweit die
Natur unter Absehung von diesen historischen Bezie-
309
hungen erforscht wird, wie es in den Naturwissen¬
schaften geschieht, scheint sie außerhalb des Bereichs
der Dialektik zu liegen. Es ist kein Zufall, daß in
Engels’ >Dialektik der Natur< die dialektischen Begriffe
als bloße Analogien erscheinen, die dem Inhalt über¬
gestülpt werden — und im Vergleich mit der exakten
Konkretheit der dialektischen Begriffe in den ökonomi¬
schen und sozio-historischen Schriften leer und abge¬
droschen erscheinen. Und die >Dialektik der Natur<
wird ständig als die autoritativste Quelle für die Ent¬
wicklung der Dialektik im Sowjetmarxismus zitiert.
Das muß natürlich so sein, denn wenn die Dialektik
»überall herrsche (K. S. Bakradse in »Voprosy Filosofin,
1950, S. 220) und die »Wissenschaft von den allgemeinen
Gesetzen der materiellen Welt und des Wissens < ist,
dann müssen die dialektischen Begriffe zuerst und vor
allem in der wissenschaftlichsten aller Wissenschaften
— der Naturwissenschaft — bewährt werden. Die
Folge ist eine verringerte Betonung der Geschichte. Die
sowjetmarxistische Hypostasierung der Dialektik zu
einer allgemeinen wissenschaftlichen Weltanschauung
führt zur Teilung der Marxschen Theorie in dialekti¬
schen und historischen Materialismus, wobei der
letztere als eine >Ausdehnung< und >Anwendung< des
ersteren auf das »Studium von Geschichte und Gesell¬
schaft (Stalin) aufgefaßt wird. Die Einteilung wäre
Marx, für den dialektischer Materialismus ein Synonym
für historischen Materialismus war, sinnlos erschienen
...« [a.a.O., S. 143ff.]

Die politisch-historischen Wurzeln der Herausbildung


des Sowjetmarxismus:

»Im Sowjetmarxismus wird der historische Materialis¬


mus zu einem speziellen Zweig des allgemeinen
310
wissenschaftlichen und philosophischen Systems des
Marxismus, das, zu einer Ideologie kodifiziert und von
den Parteibeamten interpretiert, Politik und Praxis
rechtfertigt.« [a.a.O., S. 145]

So gelinge es dem Sowjetmarxismus, die Geschichte zu


>einer zweiten Natur zu verdinglichen< und unter Be¬
rufung auf deren objektive Gesetzmäßigkeiten das eigne
Handeln und alle Verbrechen zu rechtfertigen. Der offen¬
sichtliche \ oluntarismus und die Berufung auf derartig
fixe >eu>ige< Gesetzmäßigkeiten werden sodann als zwei
komplementäre Seiten der Sowjetideologie und Praxis
erwiesen. Der subjektive (voluntaristische) Faktor wird
auf die Parteielite eingeschränkt, die sich auf den un¬
erschütterlichen, objektiven Charakter der Geschichts¬
gesetze zu ihrer Rechtfertigung beruft. In dem Wandel
der Theorie spiegelt sich der politische Wandel wider:

»Von 1925 an waren die Entscheidungen der Füh¬


rung immer mehr von den proletarischen Klassen¬
interessen losgelöst. Sie setzen nicht mehr das Prole¬
tariat als revolutionäres Subjekt voraus, sondern werden
dem Proletariat und der übrigen Bevölkerung eher auf¬
gezwungen. Der autoritäre Voluntarismus, der die
stalinistische Führung charakterisiert, entspricht der
objektiven Determinante, der Verringerung des revolu¬
tionären Potentials in den kapitalistischen Ländern.
Und da der Wille der Führung von oben auf das Prole¬
tariat einwirkt, nimmt die von der Führung verkündete
und akzeptierte Theorie feste deterministische Formen
an. Die Dialektik wird in ein universelles System ver¬
steinert, in dem der Geschichtsprozeß als >Naturprozeß<
erscheint und objektive Gesetze über und oberhalb der
Individuen nicht nur die kapitalistische, sondern auch
die sozialistische Gesellschaft beherrschen. Das Schick¬
sal der Dialektik offenbart die historische Substanz der
Sowjetgesellschaft: sie ist nicht die Negation des Kapi-

311
talismus, sondern hat in einem entscheidenden Aspekt
an der Funktion des Kapitalismus teil, nämlich in der
industriellen Entwicklung der Produktivkräfte unter
Trennung der mnmittelbaren Produzenten < von der
Kontrolle der Produktion. Die Sowjettheorie drückt
hier aus, was die Ideologie leugnet: daß die bolsche¬
wistische Revolution >noch nicht< zu einer sozialisti¬
schen Revolution geführt hat, daß die >erste Phase<
noch nicht Sozialismus ist ...« [a.a.O., S. 149f.]

312
ERKENNTNISTHEORIE

Der junge Marx war noch so stark von der Hegelschen


Philosophie geprägt, daß ihm die Frage nach der Möglich¬
keit der Erkenntnis der Wirklichkeit gar kein Problem
war. Zudem konzentrierte sich ja sein wissenschaftliches
Interesse ganz und gar auf die geschichtlich-gesellschaft¬
liche Welt, die wir, nach einem von Marx zitierten Wort
Vicos, im Gegensatz zur Natur selbst gemacht haben und
daher auch durchweg verstehen und durchsichtig machen
können. Der die geschichtliche Welt erfassende Mensch
ist selbst Produkt dieser Welt und sie ihrerseits Produkt
bewußt arbeitender und kooperierender Menschen. Was
daher der Erklärung bedarf, ist nicht so sehr die Möglich¬
keit der Erkenntnis dieses Wirklichkeitsbereichs als viel¬
mehr die Tatsache, daß er so lange undurchsichtig er¬
schien und falsch gesehen wurde. Die Theorie von der
sozialen Bedingtheit der historischen Erkenntnis gibt eine
Erklärung dafür an die Hand, warum die Menschen bis¬
her, vom Standpunkt nur partiell revolutionärer Klassen
aus, nicht die Gesamtheit der menschlich-geschichtlichen
Wirklichkeit erfassen konnten und warum aus solch par¬
tieller Sicht eine Verzerrung des Realitätsbildes folgen
mußte. Der Erkenntnisoptimismus von Marx in bezug auf
die menschlich-geschichtliche Welt hängt mit seiner
Überzeugung zusammen, daß das Proletariat dazu be¬
rufen (objektiv historisch genötigt) sei, durch eine ab¬
schließende Revolution die menschliche Gesellschaft zu
schaffen, auf die sich die Entwicklung bisher blind hin¬
bewegte. Weil ihm aufgegeben ist, das Ganze erstmals
revolutionär in den Griff zu bekommen, ist der auf dem
Standpunkt des Proletariats stehende Denker auch im¬
stande, dieses Ganze adäquat zu erfassen und alle Details
darauf zu beziehen. Die mmwälzende Praxisq von der in

313
Marxens Feuerbach-Thesen die Rede ist, kann daher auch
nichts anderes als die revolutionäre Tat sein, durch
die das Proletariat der bisherigen Geschichte Sinn gibt
oder vielmehr ihren bisher verborgenen Sinn an den
Tag bringt.
Erkenntnistheoretische Probleme tauchen erst dann
auf, wenn die Naturerkenntnis als wesentlicher Bestand¬
teil in die Theorie aufgenommen wird und aufhört —
wie bei Marx —, lediglich als Moment der Geschichte
(die es mit der menschlichen Arbeit und der durch sie
bewirkten Naturveränderung sowie mit den sozialen Um¬
wälzungen zu tun hat) zu figurieren.
Die wesentlichen Schritte zur Herausbildung einer
>marxistischen< Erkenntnistheorie werden von Friedrich
Engels, Joseph Dietzgen, G. W. Plechanow und vor allem
W. I. Lenin getan. Diese Theorie erweist sich als ein
relativ naiver >Realismus<, der lediglich in den >Philo-
sophischen Heftern, die Lenin im Schweizer Exil schrieb,
etwas vertieft und >dialektisiert< wird. Die Erkenntnis ist
eine >Widerspiegelung< des außerhalb des menschlichen
Bewußtseins objektiv existierenden Seins. Sie ist zu dieser
Funktion befähigt, weil sie >Eigenschaft der Materie< und
das widergespiegelte Sein gleichfalls materiell ist. Es gibt
keine >Dinge an sich<, die wir prinzipiell nicht erkennen
können, sondern nur Dinge, die wir (zufällig) noch nicht
erkannt haben. Der Progreß der Erkenntnis geht ständig
weiter und stößt nie auf absolute, immer nur auf relative,
zeitbedingte (technische) Schranken. Da allerdings auf
der anderen Seite die Möglichkeiten des Lebens auf
diesem Planeten zeitlich limitiert sind, wie Engels selbst
betont, ist die menschliche Naturerkenntnis höchstens
potentiell unendlich. Sie wird — mit dem Menschen zu¬
sammen aufhören, lange bevor sie ihr Ziel erreicht
hat. Der Unterschied zwischen einem derartigen — mit
Hegel zu reden schlechthin unendlichen Progreß< und
dem Anspruch der Marxschen Geschichts- und Gesell¬
schaftstheorie auf absolute Erkenntnis wird von den heuti¬
gen Sowjetmarxisten nicht gesehen. Diejenigen >west-
314
lichen< Marxisten, die für eine Beschränkung der dialek¬
tischen Methode auf die geschichtlich-menschliche Welt
eintreten, sind sich des wesentlichen Unterschiedes, ja
Gegensatzes, bewußt: die vom Menschen geschaffene
und vollendbar gedachte Welt kann gedeutet und ver¬
standen werden. Da sie von dem gleichen >Subjekt<, das
auch Autor der Vollendung ist, >verstanden< wird, ist
dieses Verständnis unüberbietbar adäquat (>absolut<). Die
»unendliche Natur< aber erlaubt nur immer beschränkte
Einblicke in ihre Kausalstruktur, durch die wir zur Be¬
herrschung einzelner Naturzusammenhänge und ihrer
Indienststellung für menschliche Zwecke befähigt werden.
Ein >Verstehen< der Natur im ganzen ist jedoch niemals
möglich. Jenes >Ins-Innere-der-Natur-Dringen<, das die
D ,
Wesenserkenntnis erlauben würde, konnte zwar dem
romantischen Naturphilosophen möglich erscheinen,
nicht aber dem modernen Naturwissenschaftler, der sich
mit ständig zu korrigierenden Annäherungen und der
Erfassung phänomenaler Strukturzusammenhänge be¬
gnügt.
Die Neukantianer unter den Marxisten, von denen
viele heute fast völlig vergessen sind, hatten sich weniger
gegen eine >offiziell< damals kaum vertretene marxistische
Erkenntnistheorie zu wehren, als dem Marxismus über¬
haupt erst die fehlende erkenntniskritische >Ergänzung<
zu geben. Da ihnen zumeist der prinzipielle Unterschied
von Natur- und Geisteswissenschaften unwichtig schien,
«daubten sie auch nicht an eine Zweiteilung des Erkennt¬
nisproblems. Die in der zeitgenössischen Philosophie ein-
o-etretene »Rückkehr zu Kant< spiegelte sich auch in den
Diskussionen unter marxistischen Denkern wider. Die
höchst oberflächliche Engelssche Kant-Kritik forder e
geradezu zu einer Richtigstellung heraus (Konrad Schmidt
und Ludwig Woltmann, aber — freilich anders akzen¬
tuiert — auch G. Lukäcs); der von Kautsky praktizierte
naive Naturalismus (und Empirismus) konnte mühelos
von der reflektierteren neukantianischen Erkenn tm -
theorie kritisiert werden (Berdjajew und andere). Für
315
Auffassung des dialektischen Materialismus und des histo¬
rischen Materialismus hatten diese neukritizistischen
Tendenzen weitreichende Konsequenzen. Eine — not¬
wendig metaphysisch werdende — systematische Kon¬
struktion der Gesamtwirklichkeit mußten diese Kantianer
a limine ablehnen. Damit fiel der dialektische Materialis¬
mus, aber auch der historische konnte nicht mehr als abso¬
lut gültige Aussage gelten. Er wurde zum >heuristischen
Prinzip< oder bestenfalls zur Erkenntnis einer Gesetz¬
mäßigkeit der phänomenalen Welte Daß — wenigstens
von einzelnen Neukantianern — auch der Revolutions¬
begriff (Peter von Struve) und jedenfalls die revolutionäre
Richtung des Sozialismus kritisiert wurde (vgl. zum Bei¬
spiel Konrad Schmidts und Eduard Bernsteins Revisionis¬
mus), hat wesentlich zu der heftigen Reaktion der Ortho¬
doxem, Plechanow und Lenin, beigetragen.
An dieser leninistischen Orthodoxie übt nun vor allem
Georg Lukacs seinerseits Kritik. Diese Kritik beruht auf
der Marxschen Trennung der geschichtlich-gesellschaft¬
lichen Welt von der vom Menschen isolierten Natur und
der Einsicht, daß die Einheit von >Tat und Bewußtseim
nur im ersten Bereich möglich ist. Insofern der Mensch
selbst ein spätes Produkt der Natur ist, könnte man zwar
die dialektische Struktur seiner Welt auch als >natürlich<
bezeichnen, aber damit würde man den wesentlichen
Unterschied unterschlagen, der zwischen einer auf den
Menschen bezogenen, von ihm veränderten und auf ihn
zurückwirkenden Natur und der vom Menschen isolierten
Natur besteht.

Die primitive Engelssche (aber auch Leninsche) Ab¬


bildtheorie ist völlig ungeeignet, die spezifische Einheit
von Denken und Sein in der selbstbewußten Aktion des
Proletariats zu erfassen. So hat Lukacs den ursprüng¬
lichen Marxschen Denkansatz wiederhergestellt, mußte
aber auf den erbitterten Widerstand der Weltanschau¬
ungs-Funktionäre stoßen, die >Engels und Lenins Erbe<
zu verteidigen entschlossen waren. Daß sich Lukacs
inzwischen wiederholt und nachdrücklich von diesen
316
frühen Äußerungen in Geschichte und Klassenbewußtsein
(1925) distanziert hat, tut der Schärfe seiner Analyse und
ihrer Bedeutung keinen Abbruch.

Die Klassiker

MARX UND ENGELS

Das Kriterium der Praxis:

»Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständ¬


liche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie,
sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der
Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht,
Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über
die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens —
das von der Praxis isoliert ist—-ist eine rein scholastische
Frage.« [Karl Marx Zweite These über Feuerbach; Marx/
Engels Werke, Bd. III, S. 5]

Forschungsweise und Darstellungsweise im »Kapitale

»Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phäno¬
mene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäf¬
tigt ... Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz
ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d. h. der Über¬
gang aus einer Form in die andere, aus einer Ordnung
des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal das
Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folge,
worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt< ...
Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche
Methode nennt, so treffend, und ... so wohlwollend

317
schildert, was hat er anderes geschildert als die dialek¬
tische Methode? Allerdings muß sich die Darstellungs¬
weise formell von der Forschungsweise unterscheiden.
Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen,
seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren
und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem
diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung
entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spie¬
gelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es
aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion zu tun.
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach
von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr
direktes Gegenteil. Für Flegel ist der Denkprozeß, den er
sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Sub¬
jekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur
seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt
das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf um¬
gesetzte und übersetzte Materielle ...« [Karl Marx, Nach¬
wort zur 2. Aufl. des Kapital, am Anfang Zitat aus dem
»Westnik Evropi« (Europ. Bote, Petersburg, Mai 1872);
Das Kapital, Berlin 1955, S. 15 ff.]

Bewußtsein als Widerspiegelung des Seienden:

»Die Dialektik ... die die Dinge und ihre begriff¬


lichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang ...
auffaßt ... Eine exakte Darstellung des Weltganzen,
seiner Entwicklung und der der Menschheit sowie des
Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Men¬
schen, kann also nur auf dialektischem Wege ... zustande
kommen.« [F. Engels Anti-Dühring, Berlin 1953, S. 25f.]
»Hegel war Idealist, d. h. ihm galten die Gedanken
seines Kopfes nicht als die mehr oder weniger abstrakten
Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern
umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung
318
nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwo schon
vor der Welt existierenden >Idee<. Damit war alles auf
den Kopf gestellt.« [a.a.O., S. 27f.]
»Wenn wir den Weltschematismus nicht aus dem
Kopf, sondern vermittels des Kopfs aus der wirklichen
Welt, die Grundsätze des Seins aus dem, was ist, ab¬
leiten, so brauchen wir dazu keine Philosophie, sondern
positive Kenntnisse von der Welt und was in ihr vorgeht;
und was dabei herauskommt, ist ebenfalls keine Philo¬
sophie, sondern positive Wissenschaft.« [a.a.O., S. 42]
»Die Einsicht, daß die Gesamtheit der Naturvorgänge
in einem systematischen Zusammenhang steht, treibt
die Wissenschaft dahin, diesen systematischen Zusam¬
menhang überall im einzelnen wie im ganzen nachzu¬
weisen. Aber eine entsprechende, erschöpfende wissen¬
schaftliche Darstellung dieses Zusammenhanges, die
Abfassung eines exakten Gedankenabbilds des Welt¬
systems, in dem wir leben, bleibt für uns sowohl wie
für alle Zeiten eine Unmöglichkeit ...« [a.a.O., S. 42f.]
»In Wirklichkeit umgekehrt: die Dialektik des Kopfs
nur Widerschein der Bewegungsformen der realen Welt,
der Natur wie der Geschichte ...« [F. Engels Dialektik
der Natur, Berlin 1952, S. 216]
»Die Dialektik, die sogenannte objektive, herrscht
in der ganzen Natur, und die sogenannte subjektive
Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in
der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in
Gegensätzen.« [a.a.O., S. 224]

Schranken und unendlicher Progreß der Erkenntnis:

»Ist das menschliche Denken souverän? Ehe wir ja oder


nein antworten, müssen wir erst untersuchen, was das
menschliche Denken ist. Ist es das Denken eines einzel¬
nen Menschen? Nein. Aber es existiert nur als das Einzel-
319
denken von vielen Milliarden vergangener, gegen¬
wärtiger und zukünftiger Menschen. Wenn ich nun
sage, daß dies in meiner Vorstellung zusammengefaßte
Denken aller dieser Menschen, die zukünftigen ein-
geschlossen, souverän, imstande ist, die bestehende Weit
zu erkennen, sofern die Menschheit nur lange genug
dauert und soweit nicht in den Erkenntnisorganen und
den Erkenntnisgegenständen diesem Erkennen Schran¬
ken gesetzt sind, so sage ich etwas ziemlich Banales ...
Denn das wertvollste Resultat dürfte sein, uns gegen
unsre heutige Erkenntnis äußerst mißtrauisch zu machen,
da wir ja aller Wahrscheinlichkeit nach so ziemlich am
Anfang der Menschheitsgeschichte stehn — und die
Generationen, die uns berichtigen werden, wohl viel
zahlreicher sein dürften als diejenigen, deren Erkennt¬
nis wir ... zu berichtigen im Falle sind ... Dem Denken
jedes dieser Einzelnen können wir nur insofern Sou¬
veränität zuschreiben, als wir keine Macht kennen, die
imstande wäre, ihm im gesunden und wachenden Zu¬
stand irgendeinen Gedanken mit Gewalt aufzunötigen.
Was aber die souveräne Geltung der Erkenntnisse jedes
Einzeldenkens angeht, so wissen -wir alle, daß davon
keine Rede sein kann, und daß nach aller bisherigen
Erfahrung sie ohne Ausnahme stets viel mehr Ver¬
besserungsfähiges als Nichtverbesserungsfähiges oder
Richtiges enthalten. Mit anderen Worten: die Souverä¬
nität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst
unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis,
welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in
einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine
noch die andere kann anders als durch eine unendliche
Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht
werden.« [a.a.O., S. 103f.]
»Souverän und unbeschränkt der Anlage, dem Beruf, der
Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht
320
souverän und beschränkt der Einzelausführung und der
jedesmaligen Wirklichkeit nach.« [a.a.O., S. 104]
»Ebenso sahen wir, wie auch auf dem Gebiete des
Denkens wir den Widersprüchen nicht entgehn können,
und wie z. B. der Widerspruch zwischen dem innerlich
unbegrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen und sei¬
nem wirklichen Dasein in lauter äußerlich beschränkten
und beschränkt erkennenden Menschen sich löst in der für
uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der
Geschlechter, im imendlichen Progreß.« [a.a.O., S. 147 f.]
»Systematik nach Hegel unmöglich. Daß die Welt ein
einheitliches System, d. h. ein zusammenhängendes
Ganzes vorstellt, ist klar, aber die Erkenntnis dieses
Systems setzt die Erkenntnis der ganzen Natur und Ge¬
schichte voraus, die die Menschen nie erreichen. Wer also
Systeme macht, muß die zahllosen Lücken durch eigne
Erfindung ausfüllen, d. h. irrationell phantasieren, ideo-
logisieren. Rationelle Phantasie — alias Kombination.«
[Vorarbeiten aus demhandschr. Nachlaß, a. a. O., S. 419 f.]

Übereinstimmung von Denken und Sein:

»Die Tatsache, daß unser subjektives Denken und die


objektive Welt denselben Gesetzen unterworfen sind und
daher auch beide in ihren Resultaten sich schließlich
nicht widersprechen können, sondern übereinstimmen
müssen, beherrscht absolut unser gesamtes theoretisches
Denken. Sie ist eine unbewußte und unbedingte Vor¬
aussetzung. Der Materialismus des 18. Jahrhunderts in¬
folge seines wesentlich metaphysischen Charakters hat
diese Voraussetzung nur ihrem Inhalt nach untersucht.
Er beschränkte sich auf den Nachweis, daß der Inhalt
alles Denkens und Wissens aus der sinnlichen Erfahrung
stammen müsse, und stellte den Satz wieder her: nihil
est in intellectu, quod non fuerit in sensu. Erst die
321
moderne idealistische, aber gleichzeitig dialektische
Philosophie und namentlich Hegel untersuchte sie auch
der Form nach ... trotz der idealistisch auf den Kopf
gestellten Form ihres Resultats, der Einheit von Denken
und Sein, ist unleugbar, daß diese Philosophie die Ana¬
logie der Denkprozesse mit den Natur- und Geschichts¬
prozessen und umgekehrt, und die Gültigkeit gleicher
Gesetze für alle diese Prozesse an einer Menge von
Fällen und auf den verschiedensten Gebieten nach¬
gewiesen hat. Andrerseits hat die moderne Naturwissen¬
schaft den Satz vom erfahrungsmäßigen Ursprung alles
Denkinhalts in einer Weise erweitert, die seine alte
metaphysische Begrenzung und Formulierung über den
Haufen wirft. Indem sie die Vererbung erworbener
Eigenschaften anerkennt, erweitert sie das Subjekt der
Erfahrung vom Individuum auf die Gattung; es ist
nicht mehr notwendig das einzelne Individuum, das
erfahren haben muß, seine Einzelerfahrung kann bis
auf einen gewissen Grad ersetzt werden durch die
Resultate der Erfahrungen einer Reihe seiner Vorfahren.
Wenn z. B. bei uns die mathematischen Axiome jedem
Kinde von acht Jahren als selbstverständlich, keines Be¬
weises bedürftig erscheinen, so ist das lediglich Resultat
>gehäufter Vererbungc Einem Buschmann oder Austral¬
neger würden sie schwerlich durch Beweis beizubringen
sein.« [.Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 283f.]
»Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und
Sein hat aber noch eine andre Seite [neben der Frage
Materie oder Geist als primäre Seinswirklichkeit, die
Engels zuvor beantwortet hat]: Wie verhalten sich
unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser
V eit selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche
IVeit zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellun¬
gen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges
Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen? Diese Frage
322
heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der
Identität von Denken und Sein und wird von der weitaus
größten Zahl der Philosophen bejaht.« [Ludwig Feuer¬
bach und der Ausgang der klassischen deutschen Philo¬
sophie; Marx/Engels Ausgew. Schriften, Berlin 1955,
Bd. II, S. 544]

Kritik der Kantschen Erkenntnistheorie:

»Daneben [neben der genannten weitaus größten Zahl


der Philosophen<] gibt es aber noch eine Reihe andrer
Philosophen, die die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt
oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten.
Zu ihnen gehören unter den neueren Hume und Kant,
und sie haben eine sehr bedeutende Rolle in der philo¬
sophischen Entwicklung gespielt. Das Entscheidende zur
Widerlegung dieser Ansicht ist bereits von Hegel gesagt,
soweit sie vom idealistischen Standpunkt möglich war;
was Feuerbach Materialistisches hinzufügt, ist mehr
geistreich als tief. Die schlagendste Widerlegung dieser
wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis,
nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die
Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs be¬
weisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus
seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern
Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kant¬
schen unfaßbaren >Ding an sich< zu Ende. Die im pflanz¬
lichen und tierischen Körper erzeugten chemischen
Stoffe blieben solche >Dinge an sich<, bis die organische
Chemie sie einen nach dem andern darzustellen anfing;
damit wurde das >Ding an sich< ein Ding für uns, wie
z. B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht
mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen
lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und ein¬
facher herstellen. Das kopernikanische Sonnensystem
323
war dreihundert Jahre lang eine Hypothese, auf die
hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten
war, aber doch immer eine Hypothese; als aber Lever-
rier aus den durch dies System gegebenen Daten nicht
nur die Notwendigkeit der Existenz eines unbekannten
Planeten, sondern auch den Ort berechnete, wo dieser
Planet am Himmel stehen müsse, und als Galle dann
diesen Planeten wirklich fand, da war das kopernika-
nische System bewiesen. Wenn dennoch die Neubelebung
der Kants eben Auffassungen in Deutschland durch die
Neukantianer und der Humeschen in England ... durch
die Agnostiker versucht wird, so ist das der längst er¬
folgten theoretischen und praktischen Widerlegung
gegenüber wissenschaftlich ein Rückschritt und praktisch
nur eine verschämte Weise, den Materialismus hinter¬
rücks zu akzeptieren und vor der Welt zu verleugnen.«
[a.a.O., S. 345 f.]
»Aber dann kommt der neukantianische Agnostiker
und sagt: Ja, wir können möglicherweise die Eigen¬
schaften des Dings richtig wahrnehmen, aber nicht
durch irgendwelchen Sinnes- oder Denkprozeß das Ding
selbst erfassen. Dies Ding an sich ist jenseits unsrer
Kenntnis. Hierauf hat schon Hegel vor langer Zeit ge¬
antwortet: Wenn ihr alle Eigenschaften eines Dings
kennt, so kennt ihr auch das Ding selbst; es bleibt dann
nichts als die Tatsache, daß besagtes Ding außer uns
existiert, und sobald eure Sinne euch diese Tatsache bei¬
gebracht haben, habt ihr den letzten Rest dieses Dings,
Kants berühmtes unerkennbares Ding an sich, erfaßt.
Heute können wir dem nur noch zufügen, daß zu Zeit
Kants unsre Kenntnis der natürlichen Dinge fragmen¬
tarisch genug war, um hinter jedem noch ein besondres
geheimnisvolles Ding an sich vermuten zu lassen. Aber
seitdem sind diese unfaßbaren Dinge eines nach dem
andern durch den Riesenfortschritt der Wissenschaft ge-
324
faßt, analysiert und, was mehr ist, reproduziert worden.
Und was wir machen können, das können wir sicher
nicht als unerkennbar bezeichnen.« [Die Entwicklung
des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, a. a. O ,
S. 91]

JOSEPH DIETZGEN

Die radikale Unbeschränktheit der menschlichen Intelli-


genz<:

»Die Pastoren und Professoren stimmen überein, dem


menschlichen Intellekt die absolute Erkenntnisfähigkeit,
die Möglichkeit einer unbedingten Klarheit abzuspre¬
chen und ihm den Charakter des beschränkten Unter¬
tanenverstandes durchaus erhalten zu wollen ... Sie
wollen von der Geheimniskrämerei nicht ablassen; und
wenn nicht im Himmel und in den hl. Sakramenten,
dann muß doch in der Natur ein Mysterium, ein Un¬
begreifliches vorhanden, müssen im >Wesen der Dinge<
und in den detzten Gründen < absolute Schranken oder
>Grenzen unseres Naturerkennens< gesetzt sein. Gegen¬
über solchen unverbesserlichen Mystikern liegt es der
Sozialdemokratie ob, für die radikale Unbeschränktheit
der menschlichen Intelligenz einzutreten.« [Das Un¬
begreifliche, ein Hauptstück aus der sozialdemokratischen
Philosophie, »Vorwärts«, 1877; zit. nach Sämtliche
Schriften, Berlin 1950, Bd. I, S. 199]
)>Kant hat ihnen vorgesagt, und sie plappern heute noch
nach: nur die Naturerscheinungen können wir begreifen;
aber was eigentlich dahinter sitzt, >das Ding an sich<
oder das Mysterium, ist unbegreiflich.« [a.a.O., S. 201]
»Es ist ... eine sozialdemokratische Aufgabe, der ver¬
kehrten Welt klar zu machen, daß wohl mein, dein und
sein Intellekt ein armseliges Instrument ist, im Verhält-

325
nis zum unermeßlichen Problem der Wissenschaft, so
also, daß jede Person ihre Aufgabe begrenzen muß; daß
aber andererseits das Erkenntnisvermögen der mensch¬
lichen Gattung so absolut einsichtsvoll und unbegrenzt,
so unermeßlich ist wie die Aufgabe, welche ihm die
Natur zur Lösung vorlegt. Die Armseligkeitstheorie, die
Lehre vom begrenzten Menschenverstand ist der letzte
Rest des religiösen Humbugs ...« \Die Grenzen der Er¬
kenntnis, »Vorwärts«, 1877, a. a.O., S. 206]

Abbildtheorie:

»Gedankendinge sind Bilder, wirkliche Bilder, Bilder


der Wirklichkeit. Auch alle Glieder eines eingebildeten
Drachen sind doch der Natur abgesehene Formen.
Solche Einbildungen unterscheiden sich von erkannten
Wahrheiten nur durch ihre phantastische Zusammen-
stoppelung. Die Natur und das Menschenleben nach der
gegebenen Ordnung zu verknüpfen — darin besteht die
Aufgabe der Erkenntnis. Das Wissen, Denken, Begreifen,
Erklären kann nichts und soll nichts als die Vorgänge
der Erfahrung durch Einteilung oder Klassifikation be¬
schreiben, d. h. abbilden ...« [Das Akquisit der Philo¬
sophie (1887), a.a.O., Bd. II, S. 555]

Neukantianer

KONRAD SCHMIDT

Kritik an Engels’ Kant-Widerlegung:

»Diese (Engelssche) Berufung auf den Erfolg der Natur¬


wissenschaften mag gegenüber dem Humeschen Skepti-
326
zismus, welcher die Kategorien der Substanz und Kau¬
salität als bloße Denkgewohnheiten betrachtet, deren
Gültigkeit nicht zwingend nachgewiesen werden könne,
in gewisser Hinsicht recht haben ... Aber ganz unver¬
ständlich ist es, was die Triumphe der Naturwissenschaft
gegen Kant beweisen sollen, der die objektive Gültigkeit
dieser Begriffe innerhalb der Erscheinungswelt aufs aller¬
schärfste hervorhebt. Eine solche Widerlegung der
Kantischen Philosophie läuft auf ein Spiel mit Begriffen
hinaus. Natürlich kann man die wissenschaftlich noch
unerkannten Phänomene als >Dinge an sich< bezeichnen,
als Dinge, die durch die fortschreitende Entwicklung
der Technik >Dinge für uns< werden, indem sie sukzes¬
sive die Dunkelheiten ihres >An sich< vor unseren Augen
abstreifen. Aber was ist damit gewonnen als ein neuer
Name für den wissenschaftlichen, Unbekanntes in Be¬
kanntes umwandelnden, von Kant doch wahrlich nicht
geleugneten Denkprozeß? Wird denn in diesem Prozeß
der Ring der Erscheinungen, in welchen nach Kant unser
Wissen notwendig eingeschränkt ist, gesprengt? Sind
denn jene >Dinge an sich<, denen durch die Natur¬
erkenntnis >ein Ende gemacht wird<, selbst etwas anderes
als räumlich-zeitlich bestimmte Erscheinungen materiel¬
ler Art, und hat Kant deren Erkennbarkeit jemals be¬
stritten? Es ist klar, diese >Dinge an sich< haben mit dem
Kantischen Begriff nichts als den Namen, d. h. gar
nichts gemeinsam ... Den Idealismus ... gegen welchen
Engels’ Instanzen im Grunde gerichtet sind, hat Kant
in seiner berühmten >Widerlegung des Idealismus< mit
aller Entschiedenheit, und zwar, ohne sich damit einer
Inkonsequenz schuldig zu machen, selbst bekämpft ...«
[Einige Bemerkungen Über Plechanows letzten Artikel in
der »Neuen Zeit«-, »Die Neue Zeit«, XVII. Jg-, I- Hbb.,
S. 327 f.]

327
Kantscher Phänomenalismus und materialistische Meta¬
physik:

»Nun ist das Problem, mit dem die Kantische Philo¬


sophie sich beschäftigt, die Erfahrung selbst, deren all¬
gemeine Bedingungen, soweit dieselben überhaupt der
Untersuchung zugänglich sind, Kant in seiner Zergliede¬
rung des menschlichen Bewußtseins nachzuweisen
sucht. Wenn also bei dem phänomenalistischen Stand¬
punkt Kants alle Erfahrung sich freilich in einen Ablauf
von Erscheinungen auflöst, so doch in einen gesetzmäßig
geregelten und in seiner Gesetzmäßigkeit dem wissen¬
schaftlich denkenden Geiste durchaus erkennbaren Ab¬
lauf. Soweit stimmt seine Auffassung mit der Auffassung
wenigstens derjenigen Materialisten überein, die es sich
klar gemacht, daß die Gegenstände, die uns, d. h. unserm
Bewußtsein gegeben sind, unmittelbar gar nichts anderes
als Gegenstände unseres Bewußtseins, d. h. Phänomene
sein können. Der Unterschied setzt erst bei der weiteren
Frage ein, welches das Wesen sei, das diesen Erscheinun¬
gen korrespondiere? Die Materialisten müssen behaup¬
ten, daß dieses Wesen im letzten Grunde mit den Er¬
scheinungen wesensgleich sei. Die allgemeinsten Be¬
stimmungen, die unsere Sinne, oder vielmehr der den
Sinneneindruck verarbeitende Verstand als die Grund¬
lage der uns gegebenen Erscheinungen anzusehen ge-
nötigt ist: vor allem Raum und Zeit und die in ihnen
bewegte Materie gelten den Materialisten als eine von
der Beschaffenheit des menschlichen Bewußtseins ganz
unabhängige, an und für sich seiende Realität. Materia¬
lismus ist also Identitätsphilosophie, weil er, auch da, wo
er auf den begrifflichen Unterschied des im Bewußtsein
Gegebenen und des an sich Seienden reflektiert und so
die Grenzen des naiven Realismus überschreitet, das
>an sich Seiende^ das >Ding an sich< durch Analyse der
328
Erscheinungen bestimmen zu können meint; weil er
prinzipiell das letzte, erreichbare Resultat der Natur¬
wissenschaft als adäquaten oder annähernden Ausdruck
des >an sich Seiendem, des letzten Realen, betrachtet...«
[a.a.O., S. 525]
»Soweit also unter Materialismus nichts anderes ver¬
standen wird als das Streben, überall die kausalen Ver¬
knüpfungen der Naturerscheinungen und die Bedingt¬
heit der seelischen durch körperliche Erscheinungen
nachzuweisen, steht ein solcher >Materialismus< durch¬
aus in keinem Gegensatz zur theoretischen Philosophie
Kants, sondern proklamiert ein Ziel, das auf dem Boden
dieser Philosophie durchaus verständlich, ja notwendig
erscheint. Der Gegensatz kommt erst heraus, wenn
dieser sich so nennende >Materialismus < zum konsequen¬
ten, d. h. metaphysischen oder vielmehr metaphäno-
menalistischen Materialismus wird, wenn er die Ele¬
mente der Erscheinung als >Ding an sich< erklärt ...«
[a.a.O., S. 326]

EDUARD BERNSTEIN

»Auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie Laie, bean¬


spruche ich nicht, mehr wie die Gedanken eines Laien
zur Frage beisteuern zu können. Dagegen schulde ich
einem Artikel Konrad Schmidts in der wissenschaft¬
lichen Beilage des >Vorwärts< über Kant unmittelbare An¬
regung. Bis zu einem gewissen Grade gilt das )Zuriick zu
Kann meines Erachtens auch für die Theorie des Sozia¬
lismus.« [Das realistische und das ideologische Moment im
Sozialismus, »Die Neue Zeit«, XVI. Jg., II. Hbb., S. 226]
»Kant, der transzendentale Idealist, war faktisch ein
viel strengerer Realist wie viele Bekenner des sogenann¬
ten naturwissenschaftlichen Materialismus. Er ver¬
langte für die Welt der sinnlichen Erfahrungen ihr
529
volles Recht und hat den Begriff des jenseits unseres
Erkenntnisvermögens liegenden >Dinges an sich< nicht
aufgebracht — ... —, sondern ihn vielmehr begrenzt,
und die von ihm gezogene Grenze ist auch heute noch
im Prinzip unangegriffen. Denn alle bisher gegen ge¬
richteten Kritiken treffen nur Nebenpunkte oder mi߬
verständliche Auslegungen der Theorie. Auch haben die
großen Fortschritte, welche Chemie und Physik seit
Kants Zeiten gemacht haben, das Problem der Materie nur
verschoben, aber seine Lösung selbst jenseits des Gebiets
der praktischen Erfahrung gelassen. Die Physiker und
Chemiker wissen heute mehr vom Atom, aber sie behaup¬
ten nicht, daß das, was sie zur Zeit Atom nennen, auch
wirklich a-tomon = unteilbar sei...« [a. a. O., S. 227]

LUDWIG WOLTMANN

Die Rückkehr zu Kant:

»Ich glaube gezeigt zu haben ..., daß die Erkenntnis¬


theorie auch für Marx eine durchaus primäre Frage
ist ... Man kann aber noch weiter gehen und sagen, daß
der dialektische Materialismus für Marx die erkenntnis¬
theoretische Grundlage für den historischen und sozialen
Materialismus bildet. Denn er beschäftigt sich ganz all¬
gemein mit der Beziehung von Denken und Sein und
sucht über diese Beziehung eine bestimmte logische
Ansicht zu begründen; und wir haben gesehen, daß die
methodologischen Grundlagen in Marx1 Hauptwerk, im
‘Kapital*., durchaus im Geiste der kritischen Erkenntnis¬
theorie gehalten sind. Will der Marxismus eine Welt¬
anschauung sein, muß er sich auch mit Kant ausein¬
andersetzen. Engels’ Stellungnahme beruht leider auf
einer mißverständlichen und mangelhaften Kenntnis
530
der Kantischen Philosophie. Man hält Kant im Grunde
für einen Pfaffen und die Neu-Kantianer für Bourgeois.
Damit ist für viele Marxisten das Problem abvefertiot.
Kant ist sowohl in seiner Stellung zur Naturwissenschaft
wie zur sozialen Kritik ein viel modernerer Geist als
Hegel ... Die Rückkehr zu Kant soll, wie erwähnt,
keineswegs eine Preisgabe des Marxismus bedeuten, noch
den einseitigen Standpunkt des Neu-Kantianismus
empfehlen, der sich scheut, besonders aus Kants philo¬
sophischer Morallehre die notwendigen sozialen und
wirtschaftlichen Konsequenzen zu ziehen. Sie soll eine
kritische Selbstbesinnung auf die eigene Methode ver¬
anlassen, um mit geläutertem Bewußtsein von neuem
an die Probleme des dialektischen und historischen
Materialismus heranzutreten. Eine tiefere Einsicht in
das Wesen und die Geschichte des Marxismus hat mir
überdies die Überzeugung aufgedrungen, daß Marx und
Kant in Fragen der wissenschaftlichen Methode ein¬
ander viel näher stehen als Marx und Hegel, und daß
eine Annäherung der beiden Gedankensysteme viel
leichter und folgerichtiger sich vollzieht, als man auf
den ersten Eindruck anzunehmen pflegt. Überhaupt
bedeutet Marx’ kritische Stellungnahme zur Hegelschen
Philosophie im Grunde eine Rückkehr zur Kantischen
Lehre, ohne daß er sich dieses prinzipiellen Zusammen¬
hangs selbst klar bewußt geworden wäre ...« [Der
historische Materialismus, Darstellung und Kritik, Düs¬
seldorf 1900, S. 295 f.]

Zurückweisung der Engelsschen Kant-Kritik:

»In diesen (oben zitierten) Sätzen glaubt Engels, Kants


kritische Lehre vom >Ding an sich< widerlegt zu haben.
Kenner der kritischen Philosophie werden sich eines
Lächelns nicht erwehren können. Denn 1. ist festzu-
531
stellen, daß Engels gar keine richtige Vorstellung von
Kants Lehre hat, daß 2. seine angebliche Widerlegung
des Kan tischen >Ding an sich< ein Gedankengang ist,
der sich bei Kant selbst schon findet und daß schließlich
Engels über das >Ding an sich< in letzter Instanz selbst
nichts zu sagen weiß ...« [a.a.O., S. 506]
»... Engels Beweisführung (ist) dem Kantischen
Gedankengang keineswegs fremd; denn Kant rechnet
die Technik, soweit sie sich auf physikalisch-ökonomische
Zwecke bezieht, zur Naturwissenschaft, und die tech¬
nischen Werke des Experimentes und der Industrie fallen
deshalb selbst unter den Begriff der Erscheinung. Erst
die moralische Zwecktätigkeit, welcher die industrielle
und experimentelle Technik unterzuordnen ist, er¬
schließt uns die Idee des Ding an sich; und es ist die
Aufgabe der Entwicklungslehre, die Analogien der
Freiheit in der Entwicklung der Natur nachzu weisen, um
so die Grundlage für die Wirkungen der Freiheit in der Ge¬
schichte der Menschheit zu finden.« [a. a. O., S. 317]

Ding an sich, Natura naturans und Geschichtsphilosophie:

»Außer der mechanisch-mathematischen Ordnung der


Welt gibt es noch eine andere, in welcher alle Dinge als
Selbstzwecke und Selbstursachen zu begreifen sind. Diese
von der mechanischen Ordnung nach Ursache und Wir¬
kung verschiedene Ordnung nach Mittel und Zweck mag
man übersinnlich oder übernatürlich nennen, insofern
unter Sinnlichkeit und Natur der Gegenstand der Physik
gemeint ist; denn erst die teleologischen Begriffe der
Ethik eröffnen uns ein Verständnis für die universelle
Natur. Wir nennen diese Ordnung das Reich der Frei¬
heit in teleologischer Analogie mit unserer eigenen
moralischen Freiheit. Die kosmologische Freiheit ist das
Ding an sich, insofern das Ding in seiner Individuation,
552
in seiner Unabhängigkeit von anderen Dingen und in
seiner selbstgenugsamen Existenz und Eigenbewegung
gedacht wird. Weiter können wir über das Wesen der
kosmologischen Freiheit nichts aussagen, als daß sie die
Spontaneität und, die Individuation der Dinge in der
Natur bedeutet. Das Ding an sich in seiner Universalität
ist uns unerforschlich, weil es die Totalität aller Bedin¬
gungen einschließt und also eine absolute Wahrheit
letzter Instanz ausmacht. Wir erfahren nur seine indi¬
viduelle Offenbarung in unserem Bewußtsein und inso¬
fern das geschichtliche und soziale Zusammenleben eine
Ordnung der Geister erzeugt, die eine Ordnung der Frei¬
heit ist. Nur aus diesem Bewußtsein heraus können wir
die Entwicklungsstufen der Freiheit rückwärts schauend
deuten und ahnungsvoll die große, allgegenwärtige Ein¬
heit der Natur herausfühlen ...« [a. a.O., S. 517 f.]
»Die materielle Welt ist, um mit Spinoza ... zu reden,
die >geschaffene Natur«, die Welt der Dinge an sich die
»schaffende Natur«. Die schaffende Natur offenbart sich
nur in der Entwicklung der Natur [hier zieht Woltmann
wie Engels, Kautsky und viele andere Marxisten Darwin
in sein Weltbild hinein], deren eine uns bewußte
höchste Stufe das moralische Tun des Menschen ist, und
deren Umfang wir nur so weit erkennen, als unser
eigenes moralisches und das ihm untergeordnete tech¬
nische Tun sich selbst entwickelt haben. Nicht das tech¬
nisch-ökonomische Tun als solches deutet uns das Ding
an sich, sondern die in unserem Bewußtsein sich voll-
ziehenden freien Akte des Wollens, welche das technisch-
industrielle Handeln beherrschen, erschließen uns ein
analoges Verständnis der Spontaneität in der Natur.
Aber weder durch das moralische Tun noch viel weniger
durch das technische Tun wird das Ding an sich m seiner
Totalität begriffen. Es bleibt für die Wissenschaft uner¬
forschlich ...« [a.a.O., S. 320]
333
Diese Auffassung, so fährt Woltmann fort, sei dem
Marxismus durchaus nicht fremd, nur drücke er sie in
der These aus, >daß es in der Natur dialektisch zugehec
Die Dialektik aber sei ja das »historische Erzeugnis der
Rantischen Kritik< und so nehme diese Verwandtschaft
nicht wunder:

»Alle Dialektik ist teleologisch. Für Fichte, Schelling


und Hegel ist die Natur eine Entwicklung der Freiheit
auf ihren verschiedenen Stufen. Auch Marx und Engels
erkennen die Geschichte als eine Entwicklung der Frei¬
heit an. Wenn man aber den Prozeß der Geschichte in
den allgemeinen Verlauf des Naturgeschehens einordnet,
muß jene idealistische Auffassung der Natur im Prinzip
bestehenbleiben, wenn wir auch die Absurditäten der
Hegelschen Naturphilosophie von vornherein ablehnen.
Für uns ist die Freiheit eine regulative Idee der Natur¬
forschung. Hegel macht aber aus ihr einen konstitutiven
Begriff der Naturerfahrung, weshalb man leicht ver¬
stehen kann, wie Hegel sich darüber wundert, >so oft
gelesen zu haben, man wisse nicht, was das Ding an sich
sei; und es sei nichts leichter als dies zu wissene Engels,
der die Hegelsche Dialektik umkehrte, hat sich das
Problem des Dinges an sich ebenso leicht gemacht ...«
[a.a.O., S. 320 f.]

NIKOLAI BERDJAJEW

Die Überlegenheit der Kantschen Erkenntnistheorie über


den Empirismus:

»Einige Empiriker und Positivisten schreckt noch bis


jetzt der Gedanke an Erkenntnisformen a priori, sie
wittern hier Metaphysik, obgleich man nur durch Ent¬
wicklung der Grundlagen der Kantschen Erkenntnis-

334
thenru: den Skeptizismus prinzipiell überwinden und der
wissenschaftlichen Welterkenntnis feste Grundlagen
/'eben kann. Die allgemoingiltigen Normen des Denkens
(die vorn Standpunkt, des Empirismus unerklärlich sind),
die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis stürzen
zusammen, wenn man den empirischen Ursprung der
Kategorie der Kausalität anerkennt, und die größte Er¬
rungenschaft des wissenschaftlichen Korschens des 19,
Jahrhunderts, die Gesetzmäßigkeit aller Welterschei
nungen, verliert festen Roden. Der konsequente
Empirismus führt unvermeidlich zum Skeptizismus,
wie das Beispiel J. S. Mills beweist.« [F, A. Lange
und die kritisi he PhihisophLe in ihren Beziehungen zum
Sozialismus, »Die Neue Zeit«, VIII. Jg., II. JIbb-,
S. 164J

Die phonorrienalistisch monistische Erkenntnistheorie:

»folgend/; Schlüsse halten wir für die letzten Resultate


einer monistischen Erkenntnistheorie: keinen anderen
als rein phänornenalistischen Sinn können wir in den
Begriff der Realität legen; die Realität des Seins wird
/lurch die sich auf das Subjekt beziehenden Erscheinun¬
gen erschöpft; alle Versuche, aus den Grenzen der unse¬
rem Bewußtsein in der Erfahrung gegebenen einen Welt
herauszugehen, führen nur zur Schaffung von Eiktio-
nen, die zu zerstören jede progressive Erkenntnistheorie
berufen ist. Und steht auf diese Weise erst einmal der
Monismus fest, gibt es auch keine Gründe mehr, die
Welt dualistisch in eine erkennbare und eine unerkenn¬
bare, in eine Welt der Erscheinungen und eine außer¬
halb der Erfahrung liegende Welt der >Dinge an sich«
zu teilen, die Zuflucht der Kantschen »intelligiblen
Welt«, die Grenzen der Erkenntnis, fallen und das »Un¬
erkennbare« erv/eist sich als rein fiktiver Begriff. Es

555
stellt sich heraus, daß der Widerspruch in unserer Er¬
kenntnis gar nicht existiert. Die Idee der Identität des
Denkens und Seins, die von dem naiven, nicht kriti¬
schen Denken als Dogma anerkannt wird, wurde von
der kritischen Philosophie zwar in dem Ausgangspunkt
der Entwicklung zerstört, aber im Endpunkt ihrer Ent¬
wicklung kommt sie zu derselben Identität des Seins
und Denkens, der Identität des Begriffs der Realität und
Erkennbarkeit, behauptet das aber nicht mehr naiv,
sondern streng kritisch ...« [a.a.O., S. 167f.]
Berdjajew schildert sodann die drei typischen Formen
von Erkenntnistheorie, die bisher aufgetaucht seien:
Erstens den maiven Realismus<, dem schon Locke
>schwere Schläge versetzt< habe und den Kant >endgiltig
begrub<; zweitens den >Idealismus<, für den der Übergang
vom erkennenden Subjekt zum Objekt ein unlösbares
Problem sei (Berkeley) und den Kant >und nach ihm fast
die ganze kritische Philosophie ebenso wie den naiven Rea¬
lismus verneinen Endlich drittens die Kantsche Position:

»Für Kant ist die Erkenntnis das Produkt sowohl des


Subjekts als auch des Objekts: das Erstere gibt die Form,
das Zweite den Inhalt; alle erkennbaren Dinge ... sind
nur Erscheinungen für uns, d. h. nicht für das in¬
dividuelle Bewußtsein, sondern für das allgemeine
transzendentale Bewußtsein, das die Erkenntnis auch
objektiv, allgemeingiltig macht. Das war der tiefste
Gedanke in der Geschichte der erkenntnistheoretischen
Ideen, aber seine zwiespältige Psychologie führte Kant
dann zum Begriff der >Dinge an siehe Es existieren
unerkennbare >Dinge an sich<; irgendein unbekann¬
tes Etwas gibt es, das auf mich wirkt und von mir als
Erscheinung erkannt wird. Auf diese Weise wird die
Welt dualistisch zergliedert, und das wird zur Quelle
der Zwiespältigkeit und des Widerspruchs ...« [a. a. O.,
S. 168f.]

336
Von dieser Kantschen Erkenntnistheorie muß daher
viertens eine abgehoben werden, die Berdjajew selber —
im Anschluß an Avenarius und andere — vertritt:

»Die Erkenntnis ist das Produkt sowohl des Subjekts


als auch des Objekts. Die Begriffe Subjekt und Ob¬
jekt, Erkennendes und Erkennbares sind ebenso korre¬
lativ und untrennbar voneinander wie die Begriffe
Vater und Sohn, Onkel und Neffe. Es gibt kein Objekt
ohne Subjekt und kein Subjekt ohne Objekt. Für die
Erkenntnistheorie existiert das Subjekt nur in seinem
Verhältnis zum Objekt, d. h. inwiefern es erkennt,
das Objekt wieder nur in seinem Verhältnis zum Sub¬
jekt, d. h. inwiefern es erkannt wird. Die Korrela-
tivität dieser beiden Begriffe ist in so hohem Maße lo¬
gisch klar, daß sehr viele Philosophen sie anerken¬
nen; nur sehr wenige aber ziehen hieraus die gehöri¬
gen Schlüsse. Vergleichen wir diesen Gesichtspunkt
mit den oben angeführten. Er unterscheidet sich von
dem naiven Realismus, weil er ein auf das Subjekt sich
nicht beziehendes Objekt nicht anerkennt, unterscheidet
sich vom Idealismus, weil er dem Subjekt keinerlei Vor¬
recht vor dem Objekt einräumt — für ihn sind sie
gleichwertige Begriffe: das Objekt ist ein ebenso un¬
mittelbar Gegebenes wie das Subjekt, so daß die für den
Idealisten unlösbare Aufgabe, vom Subjekt zum Objekt,
vom Denken zum Sein überzugehen, im Ausgangspunkt
beseitigt ist; schließlich unterscheidet er sich vom
Kantianismus, weil er keinerlei erkenntnistheoretischen
Dualismus zuläßt: der Begriff der >Dinge an sich< ist für
ihn_Unsinn. Wir erkennen die Dinge so wie sie sind,
aber nur weil sie sind, was sie uns scheinen. Das ist der
konsequente und bis zu Ende geführte Phänomenalismus
und gleichzeitig der endgiltige Triumph des Realismus,
aber nicht des naiven, sondern des kritischen Realismus.«
[a.a.O., S. 169]
537
Der Sieg des Sozialismus — Voraussetzung der allgemei¬
nen Annahme dieser Erkenntnistheorie:

»Eine Anpassung des Menschen an die Vorteile des pro¬


gressiven Denkens wird erst in jener Harmonisation des
Lebens möglich sein, die der Sieg des Proletariats mit
sich führen wird. Dann werden die sozialen Ursachen
verschwinden, welche die philosophischen Phantome
und Fiktionen hervorrufen ...« [a.a.O., S. 173]

PETER VON STRUVE

Erkenntnistheorie der Evolution:

»Die meisten Marxisten scheinen im Ernste daran zu


glauben, daß die Phrase von dem Umschlag der bloßen
quantitativen Veränderung in eine neue Qualität eine
reale Erklärung des Vorganges der sozialen Revolution
gibt. Leider ist sie nichts anderes als eine Umschreibung
des Vorganges durch logische Kategorien. Eine erkennt¬
nis-theoretische Überlegung wird den wahren Sinn
dieser Umschreibung, welcher unkritische Geister eine
mystisch-dialektische Erklärungskraft vindizieren, fest¬
stellen.
Zwei qualitativ verschiedene Wahrnehmungen wer¬
den nicht ohne weiteres von uns als verschiedene Ge¬
staltungen desselben Dinges< erkannt. Es sind immer
gewisse Bedingungen notwendig, um uns in diesem
Falle die Dieselbigkeit des Dinges annehmbar zu ma¬
chen. Erkenntnistheoretisches Problem ist also nicht die
Qualitätsveränderung, welche unmittelbar gegeben ist,
sondern die Deutung derselben als Veränderung des¬
selben >Dinges<. Wir fragen natürlich nicht, wie ist es
sachlich möglich, daß ein Ding seine Qualitäten ver-

338
ändert, sondern wie und in welchem Sinne ist es möglich
zu behaupten, daß es eben dasselbe sei, was vorher diese
und jetzt eine andere Qualität hat.< (Wilhelm Schuppe
Erkenntnistheoretische Logik, Bonn 1878, S. 445.) Hier¬
aus ergeben sich weiter für den uns interessierenden
Fall nicht unwichtige Folgerungen. Qualitätsverände¬
rungen desselben >Dinges< (und unter den Begriff des
»Dinges< fällt auch die Gesellschaft) sind nur unter be¬
stimmten Bedingungen denkbar. Es sind dies nämlich
dieselben Bedingungen, welche uns veranlassen, die
Identität des »Dinges< trotz der qualitativen Änderungen
der unmittelbaren Wahrnehmung anzunehmen. Die
kardinalste dieser Bedingungen ist die erwiesene oder
vorausgesetzte Stetigkeit der Veränderung. Dieses Ge¬
setz der Konthiuität aller Veränderung, welches die
hegelisch angehauchten Marxisten — nach dem Vor¬
gänge Hegels — als sinnlose Tautologie ausgeben, hat
kein Geringerer als ... Kant aufgestellt. Alle Verände¬
rung ist ... nur durch eine kontinuierliche Handlung
der Kausalität möglich ... Es ist kein Unterschied des
Realen in der Erscheinung, so wie kein Unterschied in
der Größe der Zeiten, der kleinste, und so wächst der
neue Zustand der Realität von dem ersten an, darin
diese nicht war, durch alle unendlichen Grade derselben,
deren Unterschiede voneinander insgesamt kleiner sind
als der zwischen 0 und a. (Kritik der reinen Vernunft,
2. Aufl., Ausg. Kehrbach, S. 194f.) Diese Ausführungen
enthalten eine erkenntnistheoretische Deutung des Evolu¬
tionismus. Die Stetigkeit jeder auch der durchgreifend¬
sten Veränderung ist ein notwendiges erkenntnistheore¬
tisches und psychologisches Postulat ihrer Begreiflichkeit.
Das Evolutionsgesetz nimmt eine Stellung analog dem
Kausalgesetz ein: es ist eine allgemeingiltige Form,
unter welcher wir die durchgreifende Veränderung der
Dinge uns vorstellen müssen, um sie zu begreifen. Über

339
den Inhalt und die Kausalität der Veränderung sagt das
Evolutionsprinzip nichts aus: es gibt nur ihre Form an,
und diese Form ist — Stetigkeit. Der alte Satz natura
non facit saltus ist dementsprechend dahin abzuändern,
daß man sagt: intellectus non patitur saltus.« [Die
marxistische Theorie der sozialen Entwicklung, Ein kriti¬
scher Versuch, »Archiv für soziale Gesetzgebung und
Statistik«, 14. Bd., 1899, S. 679ff.]

Erkenntnistheoretische Abschaffung des Revolutions¬


begriffs :

»Für unsere Streitfrage bedeuten die obigen Ausführun¬


gen die erkenntnistheoretische Abschaffung des Begriffs
der Revolution als eines selbständigen theoretischen
Begriffs, der angeblich eine besondere Art der sozialen
Umgestaltung auszudrücken vermag. Der Begriff der
Revolution wird dadurch in dasselbe Gebiet, wo sich die
Willensfreiheit (im Sinne ursachlosen Tuns), die Sub-
stanzialität der Seele etc. seit Kant befinden, verwiesen:
es sind dies praktisch höchst wichtige, theoretisch aber
ungiltige Begriffe ... Es ist ... erkenntnistheoretisch von
vornherein klar, daß es völlig verfehlt ist, wenn man
bei genetischer Erklärung des Sozialismus ihn in einen
unüberbrückbaren Gegensatz zum Kapitalismus versetzt
-— dadurch wird der theoretische Nachweis seiner Not¬
wendigkeit — auf realistischem Wege -— einfach "un¬
möglich gemacht. Hier arbeitet die neuere orthodoxe
marxistische Dialektik mit für den gegebenen Erkennt¬
niszweck absolut unverwendbaren Begriffen. Daß der
Sozialismus nicht identisch ist mit dem Kapitalismus,
ist aus diesen Begriffen ohne weiteres zu ersehen. Bei
der Begründung des Sozialismus als einer historisch not¬
wendigen Gestaltung der Gesellschaft gilt es aber — da
der Kapitalismus das in der Wirklichkeit Gegebene, der

540
Sozialismus das zu Erschließende ist — nicht, das beide
Gestaltungen Trennende, sondern umgekehrt, das sie
notwendig — d. h. in durchgängiger Kausalität und in
stetigen Übergängen — Verbindende auszufinden. Für
die theoretische, d. h. entwicklungsgeschichtliche Be¬
trachtung ist der in der marxistischen Literatur äußerst
beliebte Hinweis auf die völlige Wesensverschiedenheit
des Sozialismus und des Kapitalismus und auf die Un¬
möglichkeit, den Sozialismus im Rahmen der kapitali¬
stischen Gesellschaft und mit den Mitteln derselben zu
verwirklichen — eine Instanz gegen die historische Not¬
wendigkeit und selbst gegen die Möglichkeit des Sozialis¬
mus. Um das heiß ersehnte Unmögliche schließlich doch
als notwendig zu erweisen, wird das soziale Wunder zu
Hilfe gerufen — die soziale Revolution, die den Um¬
schlag der Quantität in Qualität durch ihr innewohnende
schöpferische Kraft zustande bringt...« [a. a.O., S. 685 f.]

Kritik der Dialektik:

»Es ist hier nicht der Ort, die >Dialektik< eingehend dar¬
zulegen und zu kritisieren. Gegenüber aber der fort¬
gesetzten Verherrlichung derselben ... ist es mehr als
angebracht, auf das schärfste zu betonen, daß es keines¬
wegs richtig ist, die >Dialektik< mit dem Evolutions¬
prinzip zu identifizieren. Die >Dialektik< ist eine auf
einem bestimmten metaphysischen Prinzip — nämlich
auf der Identität von Denken und Sein — aufgebaute
logische Methode. Die >Dialektik< macht somit die Logik
zur Ontologie. Wenn aber in dem, was wir Wirklichkeit
nennen, alles flüssig ist, so kommt andrerseits das logische
Denken nur mit Hilfe der Konstanz und Bestimmtheit
der Urteile und Begriffe zustande. >Die Bedingung der
Möglichkeit vollkommener Urteile ist durchgängige
Konstanz, vollkommene Bestimmtheit, allgemeine Über-
341
einstimmung und unzweideutige sprachliche Bezeich¬
nung der Vorstellungen, welche als Prädikate bezie¬
hungsweise als Subjekte in das Urteil eingehen. Eine
Vorstellung, welche diese Forderungen erfüllt, nennen
wir Begriff im logischen Sinn des Wortes.< (Christoph
Sigwart, Logik, Bd. I, Freiburg 1889, S. 515.) Ist die
Wirklichkeit >dialektische, so ist das logische und somit
das wissenschaftliche Denken — seinem Wesen nach —-
undialektisch. Der beliebten Art aber die Starrheit des
Denkens gegenüber der >Dialektik<, d. h. der Flüssigkeit
des Realen, als eine unvermeidliche Schwäche des
menschlichen Geistes anzuführen, kann mit ebensoviel
Recht die Auffassung entgegengestellt werden, daß es
lediglich dem starren Denken mit seinen konstanten
Vorstellungen und Begriffen gelingt, die matürliche
Anarchie< der dialektischen< Wirklichkeit, d. h. der
Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen praktisch und
theoretisch zu überwinden. In der Starrheit des >Den-
kens< liegt aber nicht sowohl seine Stärke als die Bedin¬
gung seiner Möglichkeit eingeschlossen: ohne dieselbe
kann es eben selbst nicht gedacht werden. Es ist ein
ontologisches Vorurteil, die absolute Veränderlichkeit
der Welt, welche übrigens ihrerseits nur mit Hilfe des
Begriffs der absolut beharrlichen Substanz und einer
ebenso absolut beharrlichen Kraft gedacht werden kann,
in der angeblichen Flüssigkeit der Begriffe wiederfinden
zu wollen. Das Veränderliche sowohl wie das Unver¬
änderliche der Welt wird durch konstante Begriffe der
menschlichen Erkenntnis einverleibt ...« [a. a.O.,
S. 687 f.]

542
MAX ADLER

Erkenntniskritische Züge im Werk von Marx:

»Die Fragen der Erkenntnistheorie erscheinen ... bei


Marx als logische Fragen der Methode seiner wissen¬
schaftlichen Arbeit. In der Beantwortung, die sie bei
ihm finden, sind sie aber die erkenntnistheoretische
>verite en marchec Die Gedankenzusammenhänge, von
denen die methodologische Begründung seiner Arbeiten
ausgeht und die leider nur zu selten sich hie und da
ausdrücklich entwickelt vorfinden, sind die sich selbst
besinnenden Wahrheiten, zu denen die Kantsche Unter¬
suchung die Begründung gibt. Und eigentlich kann es
auch nicht anders sein, wenn wirklich dem Marxschen
Denken für die Begründung der Geisteswissenschaften
eine ähnliche methodologische Bedeutung zukommt wie
dem Newtons für die Naturwissenschaft. Um dieses Ver¬
hältnis der methodologischen Arbeit von Marx zu der
kritischen Kants mit einer der Terminologie des letzte¬
ren entnommenen Bezeichnung deutlicher zu machen,
möchte ich sagen: Marx liefert in seinen methodischen
Voraussetzungen, auf welche er seine sozialtheoretische
Arbeit fundierte, also in der objektiv-logischen Analyse
und Formulierung der Grundbegriffe seines Systems
deren >metaphysische Erörterung<, welche also mit
einer transzendentalen Erörterung< im Sinne Kants
nicht nur in keinem Widerspruch steht, sondern gerade¬
zu ihre unentbehrliche Vorbereitung ist. Bekanntlich
versteht Kant unter der metaphysischen Erörterung<
die deutliche, wenn auch nicht ausführliche Vorstellung
dessen, was einen Begriff als a priori gegeben darstellt,
während die transzendentale Erörterung< auf die Auf-
zeigung eines Prinzips gerichtet ist, aus dem die Mög¬
lichkeit einer in einem solchen Begriff gegebenen syn-
345
thetischen Erkenntnis a priori eingesehen wird. Und
das Apriori, von dem hier die Rede ist, ist nicht das
Schreckgespenst der Spekulation ... es bedeutet nichts
anderes als die Bezeichnung derjenigen in der erworbe¬
nen Erfahrung enthaltenen und nur durch diese erst
zum Bewußtsein kommenden Elemente derselben,
welche die Voraussetzung ihrer Allgemeingültigkeit dar¬
stellen. Die apriorischen Bestandteile unseres Denkens
unterscheiden sich also nicht nach ihrem Erwerb, nach
ihrer historischen Entstehung, sondern nur nach ihrer
Erkenntnisbedeutung für die Erfahrung.
Dieser Begriff der >metaphysischen Erörterung< rückt
nun die methodologische Arbeit von Marx erst in jenes
helle Licht, in welchem ihr Bezug zur erkenntnis¬
theoretischen Problemstellung deutlich erkennbar wird.
Und er darf auch auf sie angewendet werden, denn sie
geht überall darauf aus, das besondere Apriori der sie
beschäftigenden Sozialtheorie zu gewinnen. Die Marxsche
Analyse der ökonomischen Erscheinungen ist so vor
allem dahin gerichtet, die Denkmittel zu gewinnen,
durch welche überhaupt dieser unendliche Komplex des
Geschehens in seiner formalen Gesetzlichkeit bewältigt
werden kann. Darum sah Marx auch den Schwerpunkt
seiner kritischen Arbeit in der Analyse der Wertform,
die >der Menschengeist seit mehr als 2000 Jahren ver¬
geblich zu ergründen sucht< {Das Kapital, Berlin 1947,
Bd. I, S. 5). Das ist der großartige neue Standpunkt des
Kapital in der theoretischen Nationalökonomie, wo¬
durch es eine >Kritik< der politischen Ökonomie geworden
ist, das Wort >Kritik< im Kantschen Sinne genommen.
Nicht tumultuarisches Darauflosinduzieren an der chao¬
tischen Masse des Sozialgeschehens ... liefert hier die
Grundlage einer wissenschaftlichen Behandlung sozialer
Phänomene, die als solche, bei aller Richtigkeit im
einzelnen, doch im ganzen zufällig und unvollständig
544
sein muß. Sondern der Standpunkt selbst wird allererst
in einer mühseligen, scharf unterscheidenden, abstrak¬
ten Analyse der ökonomischen Zellenform< der bürger¬
lichen Gesellschaft, der Ware, gefunden, eine Analyse,
bei der es sich in der Tat um Spitzfindigkeiten handelt,
wie sie mit der stumpfen Gabel von Induktion und
Deduktion nie aufgegriffen werden könnten, sondern
nur dem haarscharfen Messer der Kritik zugänglich sind.
Es ist also zwar nicht eine bewußt erkenntniskritische,
aber doch in ihrer Richtung liegende Problemfassung,
von der auch Marx bei seiner Arbeit im Kapital aus¬
gegangen ist ...« [Marx als Denker, Berlin 1908; zit.
nach der 5. Aufl. Berlin 1925, Anhang: »Das Verhältnis
von Marx zur Erkenntniskritik« (1904), S. 144ff.]
»... Wie sehr der Standpunkt Marx’ bereits dem er¬
kenntniskritischen genähert war, das beweist gerade
diese Polemik gegen Hegel in einer anderen Bemerkung,
die, wenn wir ihren Sinn auf uns einsprechen lassen,
uns direkt bis an die Pforten der Transzendentalphilo¬
sophie führt. Daß die Welt schließlich als das Resultat
von Kategorien des Bewußtseins erscheint, nennt nämlich
Marx eine Tautologie, was zunächst ausgesprochen
gegen die Hegelsche Philosophie gemeint ist und wieder
die eigene Ansicht scharf von ihr abgrenzen soll ... Da¬
gegen ist der transzendentale Standpunkt wirklich iden¬
tisch mit jenem philosophischen Bewußtseim, dem nach
der Bestimmung von Marx >das begreifende Denken, der
wirkliche Mensch und die begriffene Welt als solche
erst die Wirklichkeit ist<. Er gerade greift den Gesichts¬
punkt auf, den Marx so entscheidend gegen Hegel fest¬
hält, daß die Welt als der Inbegriff des Konkreten tauto-
logisch als ein Produkt des Denkens herauskommen
muß, wenn schon die konkrete Totalität des einzelnen
nur als Gedankentotalität erfaßbar ist. An die Stelle der
metaphysischen Identität von Denken und Sein tritt so
545
die kritisch verstandene Tautologie beider für das Be¬
wußtsein, aber damit zugleich die Auslösung der weiter¬
treibenden Kraft des erkenntniskritischen Denkens.
Denn bei einer metaphysischen Unterscheidung des
Denkens vom Sein ist es weiter keine Frage, wieso beide
übereinstimmen, indem diese Wirkung von der einen
oder der anderen Seite her erregt oder auch durch ein
sie beide bestimmendes Prinzip hergestellt wird. Nun
aber entsteht die kritische Frage, wie diese Tautologie
für das Bewußtsein möglich ist, d. h., wie es überhaupt
zugeht, daß die konkrete Totalität im Gedankenkonkre¬
tum erschöpfend bezeichnet ist, wie also die außerhalb
des Kopfes selbständig verharrende Welt dennoch im
Kopfe stets so vollständig erfaßt wird, daß wir überhaupt
nach jener äußeren Selbständigkeit gar kein Verlangen
mehr tragen, weil sie uns von dem Ding gar nichts mehr
bieten könnte, was wir nicht schon in Gedanken von
ihm hätten. So führt also auch hier die in den leider so
knappen Bemerkungen Marx’ doch so inhaltsreich skiz¬
zierte methodologische Auffassung der wissenschaftlichen
Arbeit, und zwar gerade vermittels des von ihm so pole¬
misch gegen die idealistische Spekulation zugespitzten
Begriffs der Tautologie des Logischen und Realen,
wieder an dieselbe Schwelle, zu der wir schon von den
verschiedensten Seiten geführt wurden, über welche der
Schritt nur in die Transzendentalphilosophie führt, vor¬
ausgesetzt, daß man nicht willens ist —- stehenzu-
bleiben ... Hier kam es nicht darauf an, welche Meinung
Marx selbst über seinen philosophischen Standpunkt
hatte, sondern welche Stelle sein Denken im Zusammen¬
hang der philosophischen Arbeit überhaupt, soweit die¬
selbe sich auf das Problem der Erkenntnistheorie be¬
zieht, einnimmt ...« [a.a.O., S. 152ff.]
»Diese erkenntniskritische Verwandtschaft des Marx-
schen Denkens mit dem von Kant hat seither auch Otto

346
Bauer in seinem Gedenkartikel zum 25. Todestag von
Marx, Geschichte eines Buches aufgezeigt. (>Neue Zeit<,
1908, I. Hbb.) Hier weist er auf den oben im Text be¬
sonders hervorgehobenen Umstand hin, daß für Marx
seine Begriffe nur Werkzeuge seien, das Konkrete zu
bewältigen, so daß er also den >aller idealistischen Philo¬
sophie gemeinsamen Gedanken der Bestimmung unse¬
res Wesens durch die Gesetzlichkeit unseres Bewußt¬
seins übernimmt< (S. 51). Und er rühmt es den Ortho¬
doxem im Unterschied zu den Revisionisten< nach, daß
sie die >Erkenntniskritik, die den Marxismus überwinden
sollte, in ihm selbst entdeckt habem (S. 32).« [a. a. O.,
Anm. S. 155]

Die Lehre vom sozialen Aprioric

»So wenig wie wir irgendeinen Gegenstand der Er¬


fahrung ohne die transzendentalen Erkenntnisbedin¬
gungen von Raum, Zeit und kategorischem Denken
empirisch aufnehmen können, so wenig ist der andere,
das Ich und Du möglich ohne die transzendentale Be-
zogenheit unseres Erkenntnisprozesses innerhalb seiner
Ichform auf eine Vielheit mit ihm geistig verbundener
Erkenntnissubjekte. Diese Vielheit ist dem individuellen
Erkenntnisprozeß immanent. So wie menschliches
Bewußtsein nur existiert als Raum- und Zeitsetzendes
und die Mannigfaltigkeiten der Empfindung in ihnen
in den Kategorien eines Ich verbindend, so existiert es
zugleich auch nur als in diesem Ich sich auf unbestimmt
viele andere Iche beziehend. Raum, Zeit, Kategorie,
Ich, Du und Viele sind ein einziger untrennbarer
Bewußtseinsinhalt. Der Mensch vereinigt sich nicht mit
seinesgleichen: er hat vielmehr von Anfang an sich selbst
nur zusammen mit seinesgleichen. Sowie Subjekt und
Objekt voneinander nicht geschieden werden können und

347
nur in wechselweiser Beziehung aufeinander bestehen,
so das Ich und die anderen. Sie bilden die Daseinsweisen,
in welchen überhaupt Bewußtsein da ist: es existiert
nicht anders, als indem ein Ich sich in Beziehung
zu anderen ebenso gearteten, also mit ihm verbundenen
Ichen weiß.
Diese transzendental-soziale Bezogenheit des indivi¬
duellen Erkenntnisprozesses auf eine unbestimmte Viel¬
heit gleichartiger Erkenntnis Subjekte begründet und er¬
klärt es, warum das Grundproblem der theoretischen
Erkenntniskritik, die Frage nach der Möglichkeit der
gültigen Erfahrung gleichbedeutend ist mit der Frage
nach der Möglichkeit, nach der Allgemeingültigkeit des
Urteils. Schon durch diese Qualität der Allgemein¬
gültigkeit, die aber nicht so zu verstehen ist, als ob es
bei ihr auf eine faktische Zustimmung einer beliebigen
Menge ankäme, sondern die als ein Anspruch der Rich¬
tigkeit des Urteils auf allgemeine Zustimmung besteht,
selbst wenn es sich um Robinson auf seiner Insel handelt,
diese Allgemeingültigkeit also hebt bereits das Erkennt¬
nissubjekt aus seiner Vereinzelung in jeder seiner Er¬
kenntnisfunktionen heraus und gliedert es in ein Reich
geistiger Verbundenheit mit anderen ein, für welches
der Begriff der Menschheit nur die höchste Form ihrer
Bewußtheit geworden ist. Der Mensch baut in seiner
unmittelbaren Erfahrung nicht nur die Natur erst auf,
deren Gesetze er im langen Werdeprozeß des Erkennens
sich hintennach zum Bewußtsein bringt, sondern er
schafft zugleich auch seine Gesellschaft, die er im nicht
minder langwierigen Gestaltungsprozeß seines Wollens
bis zur Menschheit, ja bis zur Gottheit erweitert. Der
Mensch wird sozial nicht erst unter Menschen, sondern
er ist bereits sozial in jedem seiner Gedanken, von dem
er annimmt, daß ihn der Nebenmensch verstehen, und,
wenn er ihn für richtig hält, auch anerkennen wird

348
müssen. Und so erweist sich, was bis jetzt noch fast ganz
unbeachtet geblieben ist, daß die Kantsche Erkenntnis¬
kritik nicht erst in ihrem praktischen Felde, sondern
schon auf dem theoretischen Gebiet einen sozialen Stoff
behandelt, daß sie wirklich das ist, als was wir sie schon
öfters bezeichnet haben, eine kritische Philosophie des
sozialen Bewußtseins.« [Das Soziologische in Kants Er¬
kenntniskritik, Wien 1924, S. 460ff.]

Kritik des Leninschen >Realismus< und >Materialismus<:

»... der Satz: >Alles Gegebene ist Bewußtseinsinhalt


(bedeutet) durchaus nicht ..., daß alles Gegebene sub¬
jektiv, ichhaft ist. Hier hilft uns eine neue, wichtige
Unterscheidung in den Bewußtseinsformen selbst. Denn
nun ergibt sich, daß das Bewußtsein ichhafte und nicht
ichhafte Formen zeigt. Ichhaft ist bloß die Beziehung
aller seiner Inhalte auf einen Erlebnismittelpunkt; da¬
gegen ist die Raum-, Zeit-, Begriffs- und Qualitäts¬
bestimmtheit der Erlebnisinhalte sowie ihre Bezogen-
heit auf Fremdsubjekte zwar bewußtseinsmäßig, aber
nicht ichhaft. Alles Bewußtsein enthält also etwas nicht
lebhaftes, was aber doch nichts anderes ist als die Art,
in welcher Bewußtsein da ist. Diese Beschaffenheit des
Bewußtseins, die also notwendig das Ich überschreitet,
außer das Ich, aber nicht außer das Bewußtsein fällt,
ist es, was der Materialismus und Realismus als Objek¬
tivität außerhalb des Bewußtseins mißversteht.« [Lehr¬
buch der Materialistischen Geschichtsauffassung, Sozio¬
logie des Marxismus, Bd. I, Berlin 1930, S. 139]
»Aber ... ihm [Lenin] gelingt es nicht, diesen materia¬
listischen Standpunkt konsequent durchzuhalten, wenn
er nicht in die groteske Theorie des französischen Mate¬
rialismus verfallen will, Empfindung und Geist über¬
haupt wie eine Drüsensekretion zu betrachten. Dies

349
lehnt natürlich Lenin ab, indem er ausdrücklich betont
(womit freilich der strenge Materialismus schon ver¬
abschiedet ist), daß Empfindung nicht auf Bewegung
reduziert werden kann; aber dafür geht er von der An¬
schauung aus, >daß die ganze Materie eine Eigenschaft
besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt
ist, die Eigenschaft der Abbildung. Welch letzteres
Wort nur ein anderer Ausdruck für Empfindung selbst
ist. < Lenin behauptet also, daß die ganze Materie als
empfindungsfähig angenommen werden muß, und so
sagt er ... ausdrücklich, der Materialismus bestehe darin,
daß man zwar nicht die Empfindung aus der Bewegung
ableiten könne, aber >daß die Empfindung als eine der
Eigenschaften der sich bewegenden Materie anerkannt
wird<. Wir haben schon hervorgehoben, daß dies eine
Erschleichung ist, welche durch das Wort >Eigenschaft<
verdeckt werden soll. Es wird der Materie, die nach der
Voraussetzung des Materialismus nur eine Eigenschaft
haben darf, die der Bewegtheit, nun noch eine zweite
beigelegt, nämlich der Empfindungsfähigkeit, d. h. aber
nichts anderes als der Beseeltheit. Damit ist freilich das
Problem der Entstehung des Geistes aus der Materie
gelöst, nur nicht materialistisch. Der Geist braucht gar
nicht aus der Materie zu entstehen, weil er von Anfang
an in ihr steckt. Eine solche Auffassung nennt man
Panpsychismus, sie ist eine durchaus mögliche meta¬
physische Anschauung, hat auch ihre historischen
großen Anwendungen in dem primitiven Animismus
und in der Mystik aller Zeiten, ist vielleicht sogar auch
vom Standpunkt der modernen naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung wieder zulässig — jedenfalls aber kein
Materialismus mehr. Und jedenfalls darf der Materia¬
list^ der von einer solchen allgemeinen Eigenschaft der
Materie, empfindungsfähig zu sein, ausgeht, nicht mehr
sein materialistisches Dogma wiederholen, daß die Welt
350
sich bewegende Materie ist. Er muß vielmehr sagen, die
Welt ist sich bewegende und empfindende Materie, und
hat dann gleich in seinem ersten Grundsatz den Dualis¬
mus seiner Anschauung klar vor Augen.«[a. a. O., S. 143 f. ]

Orthodoxe

G. W. PLECHANOW

Kritik der Kantschen Erkenntnistheorie:

»Was ist ein Phänomen? Es ist ein Zustand unseres


Bewußtseins, der durch die Wirkung des Dinges an sich
auf uns hervorgerufen wird, so erklärt Kant. Aus dieser
Definition folgt, daß ein Phänomen voraussehen nichts
Anderes bedeutet, als die Wirkung voraussehen, welche
das Ding an sich auf uns ausübt. Können wir bestimmte
Phänomene voraussehen? Gewiß. Unsere Wissenschaft
und unsere Technologie sind Bürge dafür. Das bedeutet
also, daß wir die Wirkung voraussehen, welche das in
Betracht kommende Ding auf uns ausübt. Aber wenn
wir die Wirkung des Dinges voraussehen, so kennen
wir wenigstens gewisse seiner Eigenschaften. Und so¬
bald wir gewisse seiner Eigenschaften kennen, haben
wir nicht das Recht, das Ding als unerkennbar zu be¬
zeichnen. Diese >Vernünftelei< Kants fällt, zerschmet¬
tert von der Logik seiner eigenen Lehre. Das wollte
Engels durch sein Beispiel von dem Pudding (>the proof of
the pudding is in the eating<) sagen.« [Konrad Schmidt
gegen Karl Marx und Friedrich Engels, »Die Neue
Zeit«, XVII. Jg., I. Hbb., S. 134f.]
»Die Dinge an sich wirken auf unsere Sinne und
rufen in uns diese oder jene Empfindung hervor. Kant

351
sagt das. Die Dinge an sich sind also die Ursache unserer
Empfindung. Aber derselbe Kant behauptet, daß die
Kategorie der Kausalität, wie alle anderen Kategorien,
auf die Dinge an sich nicht anwendbar ist. Der Wider¬
spruch dieser Behauptung ist sinnfällig.
Der gleiche Widerspruch zeigt sich bezüglich der Zeit.
Die Wirkung, welche die Dinge an sich auf uns aus¬
üben, kann nur in der Zeit stattfinden; aber anderer¬
seits ist die Zeit nur eine subjektive Form unserer An¬
schauung ... Das Angeführte genügt für den Nachweis,
daß Kants Lehre sich so lange selbst widerspricht, als
wir annehmen, und zwar in Übereinstimmung mit dem,
was der Philosoph in den >Prolegomena< sagt, daß die
Dinge an sich die Ursache unserer Empfindung sind ...«
[a.a.O., S. 136]

Dieser Widerspruch bei Kant kann — wie Plechanow


weiter ausführt — entweder im Fichteschen Sinne durch
Auflösung des Begriffs des Dinges an sich gelöst werden.
Dann entstehe ein vollständiger subjektiver Idealismus,
in dem die Welt mit dem Bewußtsein identifiziert wird.
Oder aber man kann den realistischen Ansatz (>Einwir-
kung des Dinges an sich auf das menschliche Empfin-
dungsvermögen<) festhalten und den erkenntnistheore¬
tischen >Agnostizismus< Kants aufgeben. Dann entstehe
der Marx-Engelssche Standpunkt des Materialismus. Der
kantianisierende Marxist Konrad Schmidt sei unschlüssig
zwischen beiden Positionen:

»Wie dem auch sei, Genosse Konrad Schmidt lehnt es


ab, sich auf den Boden der Fichteschen Philosophie zu
retten. Darum fordere ich ihn auf, mir zu sagen, wie
die Widersprüche der Kantschen Lehre gelöst werden
können, jene Widersprüche, welche sich weiter oben
zeigten? Auf diese Widersprüche stützen sich Marx und
Engels bei ihrer Widerlegung der Kantschen Philo¬
sophie ...« [a.a.O., S. 140]

352
In einer Fortsetzung dieses Artikels beruft sich Plecha-
now gegen eine Anti-Kritik Schmidts darauf, daß schon
F. H. Jacobi in seinem Gespräch Idealismus und Realis¬
mus diesen Kantschen Widerspruch aufgedeckt habe
(1787); 1792 habe G. E. Schulze in seinem Buch Aene-
sidemus nachgewiesen, daß Kant und sein Schüler Rein¬
hai d micht verstanden haben, die logischen Konsequen¬
zen ihrer eigenen Lehre zu ziehen< fMaterialismus oder
Kantianismus, a.a.O., S. 591). Während Schmidt erklärt
hatte, der Materialismus setze das >Wesen< mit der Er¬
scheinung als >wesensgleich<, hält ihm Plechanow ein
Zitat von Holbach entgegen, in dem es heißt: >Wir ken¬
nen die Materie nur durch Eindrücke, Vorstellungen und
Ideen, die sie in uns hervorruft. Hiernach urteilen wir,
gut oder schlecht, je nach der Beschaffenheit unserer
Organe< (a.a.O., S. 627). Und endlich bestimmt er den
Unterschied zwischen dem Kantianismus und der materiali¬
stischen Erkenntnistheorie wie folgt:

»Auch der Kantianismus ist in dem Sinne metaphäno-


menalistisch, als nach Kant die Dinge an sich auf uns
wirken. Eine wirklich rein phänomenalistische Philo¬
sophie ist der Fichteanismus, aber Fichtes Philosophie
ist von Kant bekämpft worden. Es ist sicher, daß der
Materialismus eine metaphänomenalistische Lehre ist,
weil er nicht an der Existenz der Dinge an sich und
ihrer Wirkung auf uns zweifelt. Aber da er gleichzeitig
erklärt, daß wir von den Dingen an sich nur die Wir¬
kungen kennen, die in uns durch ihre Aktion hervor¬
gerufen werden, hat er nicht nötig, die Elemente der
Erscheinungen als Dinge an sich zu erklären. In dieser
Beziehung widerspricht er also dem Kantianismus nicht,
obwohl er metaphänomenalistisch bleibt. Der Unter¬
schied zwischen ihm und dem Kantianismus beginnt
erst weiterhin. Nachdem Kant behauptet hat, daß die
Dinge an sich Ursachen der Phänomene sind, ver¬
sichert er uns, daß die Kategorie der Kausalität für die

355
Dinge an sich keine Geltung besitze. Der Materialismus,
der die Dinge an sich als die Ursache der Phänomene
erachtet, widerspricht sich nicht. Und das ist alles. Wenn
wir, gestützt auf diesen Unterschied, behaupten wollten,
daß der Materialismus eine metaphysische Lehre ist, so
müßten wir vorher annehmen, daß das Wesen der
>kritischen< Philosophie in dem Widerspruch mit sich
selbst besteht.« [a.a. O., S. 628]
»Nach Kant ist die Natur >das Dasein der Dinge, sofern
es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist<. Diese all¬
gemeinen Gesetze ... sind die Gesetze unseres Ver¬
standes. >Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori)
nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor<,
erklärt Kant. Diese Gesetze haben also keinen objektiven
Wert oder, mit anderen Worten, sie besitzen nur Gel¬
tung für die Phänomene und nicht für die Dinge an
sich. Da diese Phänomene nur in uns existieren, so ist
es augenscheinlich, daß Kants Theorie der Erfahrung
in letzter Instanz durchaus subjektiv ist und sich in
nichts von der Fichtes unterscheidet. Wir haben bereits
gesehen, in welches Labyrinth von Absurditäten sich
derjenige unvermeidlich verliert, der diese Theorie ernst
nimmt und ihre letzten Konsequenzen zieht. Betrachten
wir näher die materialistische Theorie der Erfahrung.
Nach dieser Theorie ist die Natur vor allem ein In¬
begriff von Erscheinungen. Aber da die Dinge an sich
die Bedingungen der Erscheinungen sind, oder mit
anderen Worten, da die Erscheinung durch die Aktion
des Objekts auf das Subjekt hervorgerufen wird, so sind
wir gezwungen, anzuerkennen, daß die Gesetze der
Natur nicht bloß einen subjektiven, sondern auch einen
objektiven Wert besitzen, oder m. a. W., daß der Zu¬
sammenhang der Ideen im Subjekt dem Zusammenhang
der Dinge außer ihm korrespondiert. Konrad Schmidt
wird ohne Zweifel behaupten, daß das eine >Identitäts-

354
philosophie< ist, und daß sie >die Elemente der Er¬
scheinungen als Dinge an sich« erklärt. Allein er würde
sich damit im Irrtum befinden. Um ihn vor diesem Irr¬
tum zu bewahren, bitte ich ihn, sich der geometrischen
Zeichnung zu erinnern, mit deren Hilfe Spencer den
Lesern das Verständnis seines transformierten Realis¬
mus« zu erleichtern versucht. Stellen wir uns einen
Zylinder und einen Kubus vor. Der Zylinder ist das
Subjekt, der Kubus ist das Objekt, und das von dem
Kubus auf den Zylinder geworfene Schattenbild gleicht
in nichts dem Kubus: die geraden Linien des Kubus er¬
scheinen im Schattenbild gekrümmt, die ebenen Flächen
werden durch gebogene Flächen dargestellt. Trotzdem
wird jeder Veränderung am Kubus eine entsprechende
Veränderung des Schattens folgen. Nichts hindert uns
an der Annahme, daß bezüglich des Vorgangs der Vor¬
stellung etwas Analoges erfolgt: die >Wirkungen<, welche
im Subjekt durch die Aktion des Objekts hervorgerufen
werden, sind vollständig verschieden vom Objekt (wie
auch vom Subjekt), aber nichtsdestoweniger entspricht
jeder b er ander ung des Objekts eine Veränderung seiner
Wirkung auf das Subjekt. Das ist durchaus nicht jene
grobe und vulgäre Identitätsphilosophie, die wir nach
Konrad Schmidt behaupten. Aber es ist doch eine von
der Natur ausgehende Theorie der Erfahrung, die uns
erlaubt, die Inkonsequenzen des Kantianismus und die
Absurditäten des subjektiven Idealismus zu vermei¬
den ...« [a. a. O., S. 629f.]
»Spencers Theorie der Erkenntnis [ist zwar nicht mit
der des Materialismus identisch], in den Grenzen, inner¬
halb deren ich mich ihrer bediente, um den mate¬
rialistischen Standpunkt zu verteidigen und zu erklären,
ist [sie aber] nur die Fortentwicklung der Ideen der
französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhun¬
derts ...« [a. a. O.]
355
Die soziale Wurzel des Neo-Kantianismus:

»Die Abneigung der Bourgeoisie gegen den Materialis¬


mus und ihre Vorliebe für die Kantsche Lehre sind nicht
erstaunlich. Die Bourgeoisie hofft in Kants Philosophie
das > Opium* zu finden, durch das sie das Proletariat ein¬
schläfern möchte, das immer begehrlicher< und unlenk¬
samer wird. Oer Neo-Kantianismus ist für die herrschende
Klasse gerade deswegen in Mode gekommen, weil er ihr
eine geistige Waffe im Kampfe ums Dasein gibt. Es ist eine
bekannte Tatsache, daß die unterdrückte Klasse oft die
unterdrückende nachahmt. Aber wann tritt diese Nach¬
ahmung ein? Wenn die unterdrückte Klasse noch nicht
revoltiert oder schon nicht mehr revoltiert. Diese Nach¬
ahmung ist bezeichnend für den Mangel an revolutio¬
närem Gefühl auf seiten der unterdrückten Klasse. Des¬
halb ist auch das Zurückgehen auf Kant, das sich manche
Genossen angelegen sein ließen, ein schlimmes Zeichen.
Es ist ein Ausdruck des opportunistischen Geistes, der
leider in unseren Reihen große Fortschritte macht.
Der Umstand verdient die Aufmerksamkeit aller,
denen unsere Sache am Herzen liegt, daß Genosse Bern¬
stein für den Neo-Kantianismus eine Schwäche gerade
in dem Augenblick empfunden hat, wo er, um das zu
bekämpfen, was er die revolutionäre Phrase zu benennen
geruht, damit anfing, die opportunistische Phraseologie
in ausgiebigem Maße zu gebrauchen und zu mi߬
brauchen ...« [Konrad Schmidt gegen Karl Marx und
Friedrich Engels, »Die Neue Zeit«, a.a. O., S. 145]

Materialistische Erkenntnistheorie und Dialektik:

»Zugrunde unserer Dialektik liegt die materialistische


Auffassung der Natur. Sie stützt sich auf sie und würde
fallen, wenn diese fällt. Und umgekehrt: Ohne die Dia-

356
lektik ist eine materialistische Erkenntnistheorie unvoll¬
ständig, ja sogar unmöglich.
Bei Hegel fällt die Dialektik mit der Metaphysik zu¬
sammen. Bei uns stützt sie sich auf die Lehre von der
Natur.
Für Hegel ist die absolute Idee der Demiurg des Wirk¬
lichen ... für uns ist die absolute Idee nichts
anderes als eine Abstraktion der Bewegung, durch die
der Zustand der Materie und alle ihre Verbindungen
hervorgerufen werden.
Nach Hegel bewegt sich das Denken durch das Her¬
vortreten der Widersprüche, die in den Begriffen ent¬
halten sind, und durch die Lösung dieser Widersprüche.
Nach unserer materialistischen Lehre stellen die Gegen¬
sätze, die in den Begriffen enthalten sind, nur eine Wider¬
spiegelung, eine Übertragung in die Sprache des Denkens
der Gegensätze dar, die in den Erscheinungen infolge
ihrer allgemeinen widerspruchsvollen Grundlage vor¬
handen sind, d. h. infolge der Bewegung.
Nach Hegel wird der Gang der Dinge durch den Gang
der Ideen bestimmt. Unserer Ansicht nach bestimmt
umgekehrt der Gang der Dinge den Gang der Ideen,
der Gang des Lebens den Gang des Gedankens ...« [Die
Grundprobleme des Marxismus, russ. 1908, deutsch
Stuttgart 1910, S. 38]

Die Beseeltheit der Materie — eine materialistische


These:

»Es sei noch hinzugefügt, daß sich in der modernen


Naturwissenschaft, hauptsächlich unter den Neu-
Lamarckisten, die Lehre von der Beseeltheit der Materie
verbreitet, d. h. die Lehre, daß die Materie überhaupt
und die organische Materie im besonderen stets einen
gewissen Grad der Empfindlichkeit besitzt. Diese Lehre

357
ist von manchen ... als der direkte Gegensatz zum
Materialismus aufgefaßt worden. In Wirklichkeit, wenn
man sie nur richtig versteht, ist sie dagegen die Über¬
tragung der materialistischen Lehre Feuerbachs von der
Einheit von Sein und Denken, von Subjekt und Objekt in
die Sprache der modernen Naturwissenschaft (man ver¬
gesse übrigens nicht, daß viele französische Materialisten
des 18. Jahrhunderts geneigt waren, die Lehre von der
Beseeltheit der Materie< anzuerkennen. Von Spinoza
wollen wir schon gar nicht reden). Man darf wohl mit
Sicherheit behaupten, daß Marx und Engels, die diese
Ansicht Feuerbachs geteilt haben, die erwähnte Rich¬
tung in der Naturwissenschaft mit dem größten Inter¬
esse verfolgt hätten, die allerdings vorläufig noch un¬
genügend entwickelt ist ...« [a.a.O., S. 42f.]

W. I. LENIN

»Marx und Engels, aus Feuerbach emporgewachsen und


im Kampfe mit den Pfuschern gereift, richteten natürlich
die größte Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Philo¬
sophie des Materialismus nach oben, das heißt nicht auf
die materialistische Erkenntnistheorie, sondern auf die
materialistische Geschichtsauffassung ...« [W. I. Lenin
Materialismus und Empiriokritizismus, Moskau 1947,
S. 355]

Nochmals Engels’ Widerlegung des Ding an sich:

»Engels spricht es direkt und klar aus, daß er sich gegen


Hume und Kant zugleich wendet. Bei Hume ist aber
von irgendwelchen >unerkennbaren Dingen an sich< gar
nicht die Rede. Was ist diesen beiden Philosophen denn
gemeinsam? Daß sie prinzipiell die Erscheinung ab¬
grenzen von dem, was erscheint, die Empfindung von

358
dem, was empfunden wird, das >Ding für uns< von dem
>Ding an sich<; wobei Hume von dem >Ding an sich<
nichts wissen will, den Gedanken daran für philo¬
sophisch unzulässig, für >Metaphysik< ... hält; Kant hin¬
gegen nimmt ein >Ding an sich< an, erklärt es aber für
>nicht-erkennbar<, für prinzipiell verschieden von der
Erscheinung, prinzipiell einer anderen Sphäre ange¬
hörend, der Sphäre des >Jenseits<, die der Erkenntnis
unzugänglich ist, aber dem Glauben offenbart wird.
Was ist das Wesentliche an dem Ein wand von Engels?
Gestern wußten wir noch nicht, daß im Kohlenteer
Alizarin existiert, heute haben wir es erfahren. Es fragt
sich, hat das Alizarin auch gestern im Kohlenteer
existiert?
Natürlich war es da. Jeder Zweifel daran wäre ein
Hohn auf die moderne Naturwissenschaft.
Wenn dem aber so ist, so lassen sich daraus drei
wichtige erkenntnistheoretische Folgerungen ableiten:
1. Die Dinge existieren unabhängig von unserem
Bewußtsein, unabhängig von unsrer Empfindung, außer
uns; denn es ist unbestreitbar, daß Alizarin auch gestern
im Kohlenteer existierte, und es ist ebenso unbestreitbar,
daß wir gestern von dieser Existenz nichts wußten und
keine Empfindung vom Alizarin hatten.
2. Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich
gibt es entschieden keinen prinzipiellen Unterschied und
kann es einen solchen nicht geben. Einen Unterschied
gibt es nur zwischen schon Erkanntem und noch nicht
jErkanntem. Die philosophischen Spitzfindigkeiten über
besondere Grenzen zwischen dem einen und dem
andern, darüber, daß das Ding an sich >jenseits< der
Erscheinungen liege (Kant), oder daß man sich von der
Frage nach der Welt, die in diesem oder jenem Teil
noch nicht erkannt ist, aber doch außer uns existiert
durch eine philosophische Scheidewand abgrenzen muß
359
(Hume) —- das alles ist barer Unsinn, eine Schrulle,
eine Ausflucht, ein Hirngespinst.
5. In der Erkenntnistheorie muß man, ebenso wie auf
allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch
denken, d. h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges
und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf
welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie
unvollkommenes, nicht exaktes Wissen zu vollkomme¬
nerem und exakterem Wissen wird.
Hat man sich einmal auf den Standpunkt gestellt,
daß sich die menschliche Erkenntnis aus dem Nicht¬
wissen entwickelt, so wird man merken, daß Millionen
Beispiele, die ebenso einfach sind wie die Entdeckung
des Alizarins im Kohlenteer, Millionen Beobachtungen,
nicht nur aus der Geschichte der Wissenschaft und Tech¬
nik, sondern auch aus jedermanns täglichem Leben, dem
Menschen die Verwandlung der >Dinge an sich< in
>Dinge für uns< zeigen ... Der einzige unausweisliche
Schluß ... den alle Menschen in der lebendigen mensch¬
lichen Praxis daraus ziehen, und den der Materialismus
seiner Erkenntnistheorie bewußt zugrunde legt — be¬
steht darin, daß außerhalb und unabhängig von uns Ge¬
genstände, Dinge, Körper existieren, daß unsere Empfin¬
dungen Abbilder der Außenwelt sind ...« [Materialismus
und Empiriokritizismus (1908), Moskau 1947, S. 98 f.]

Der naive Realismus des gesunden Menschenverstandes


— Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie:

»Der >naive Realismus< eines jeden gesunden Menschen,


der nicht im Irrenhause oder bei den philosophischen
Idealisten in der Lehre war, besteht in der Annahme,
daß die Dinge, die Umgebung, die Welt unabhängig von
unsrer Empfindung, von unserem Bewußtsein, von
unserem Ich und dem Menschen überhaupt existieren.

360
Dieselbe Erfahrung ... die in uns die feste Überzeugung
bewirkt hat, daß unabhängig von uns andere Menschen
und nicht bloße Komplexe meiner Empfindungen des
Hohen, Niedrigen, Gelben, Harten usw. existieren, die¬
selbe Erfahrung bewirkt bei uns die Überzeugung, daß
Dinge, Welt und Umgebung unabhängig von uns
existieren. Unsere Empfindungen, unser Bewußtsein
sind nur das Abbild der Außenwelt, und es ist selbst¬
verständlich, daß ein Abbild nicht ohne das Abgebildete
existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von
dem Abbildenden existiert. Die >naivei Überzeugung der
Menschheit wird vom Materialismus bewußt zur Grund¬
lage seiner Erkenntnistheorie gemacht ...« [a.a.O.,
S. 61 f.]
»Die Materie ist das Primäre; Gedanke, Bewußtsein,
Empfindung sind das Produkt einer sehr hohen Ent¬
wicklung. Dies besagt die materialistische Erkenntnis¬
theorie, auf deren Boden die Naturwissenschaft instinktiv
steht ...« [a.a.O., S. 68]

Relative und absolute Wahrheit:

»Das menschliche Denken ist ... seiner Natur nach


fähig, uns die absolute Wahrheit, die eine Summe von
relativen Wahrheiten ist, zu geben, und gibt sie uns
auch. Jede Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft
fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körn¬
chen hinzu; aber die Grenzen der Wahrheit jedes wissen¬
schaftlichen Satzes sind relativ und werden durch die
weitere Entwicklung des Wissens entweder weiter oder
enger gezogen ... Aus allen Erklärungen von Engels und
Dietzgen ersieht man klar, daß es für den dialektischen
Materialismus keine unüberbrückbare Kluft zwischen
relativer und absoluter Wahrheit gibt ... Vom Stand¬
punkt des modernen Materialismus, d. h. des Marxismus
361
aus, sind die Grenzen der Annäherung unserer Kennt¬
nisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich
bedingt, die Existenz dieser Wahrheit selbst aber ist un¬
bedingt, unbedingt ist, daß wir uns ihr nähern. Ge¬
schichtlich bedingt sind die Konturen des Bildes, aber
unbedingt ist, daß dieses Bild ein objektiv existierendes
Modell wiedergibt. Geschichtlich bedingt ist, zu welcher
Zeit und unter welchen Umständen wir in unserer Er¬
kenntnis des Wesens der Dinge bis zu der Entdeckung
des Alizarins im Kohlenteer oder bis zur Entdeckung der
Elektronen im Atom gelangt sind, aber unbedingt ist,
daß jede solche Entdeckung ein Vorwärtsschreiten der
»unbedingt objektiven Erkenntnis< ist. Kurzum, ge¬
schichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber unbedingt ist,
daß jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied
z. B. zur religiösen Ideologie) die objektive Wahrheit, die
absolute Natur entspricht. Ihr werdet sagen: diese Unter¬
scheidung ist unbestimmt. Ich antworte darauf: sie ist
gerade >unbestimmt< genug, um die Verwandlung der
Wissenschaft in ein Dogma im schlechten Sinne dieses
Wortes ... zu verhindern, sie ist aber zugleich >bestimmt<
genug, um sich auf das Entschiedenste und Unwider¬
ruflichste vom Fideismus und Agnostizismus, vom philo¬
sophischen Idealismus und der Sophistik der Nachfolger
Humes und Kants abzugrenzen. Hier ist die Trennungs¬
linie, die ihr nicht bemerkt habt, und weil ihr sie nicht
bemerkt habt, seid ihr in den Sumpf der reaktionären
Philosophie hinabgeglitten. Dies ist die Trennungslinie
zwischen dem dialektischen Materialismus und Relativis¬
mus ...« [a.a.O., S. 134ff.]

Das Kriterium der Praxis:

»In seinem letzten Werk Erkenntnis und Irrtum (2. Aufl.,


S. 115) sagt Mach: >Eine Erkenntnis ist stets ein uns

362
biologisch förderndes psychisches Erlebnis. < >Nur der Er-
folg vermag beide (Erkenntnis und Irrtum) zu scheiden.<
(S. 116.) Der Begriff ist >eine physikalische Arbeits-
hypothese< (S. 143). Unsere russischen Machisten, die
Marxisten sein möchten, nehmen solche Phrasen von
Mach mit erstaunlicher Naivität hin als Beweis dafür,
daß er sich dem Marxismus nähere ... Bei Mach stehen
solche Sätze neben seiner idealistischen Erkenntnis¬
theorie, aber sie bedeuten keine Entscheidung für diese
oder jene erkenntnistheoretische Linie. Die Erkenntnis
kann nur dann biologisch fördernd, fördernd für das
menschliche Handeln, für die Erhaltung des Lebens,
für die Erhaltung der Gattung sein, wenn sie eine objek¬
tive, vom Menschen unabhängige Wahrheit wider¬
spiegelt. Für einen Materialisten beweist der >Erfolg< der
menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vor¬
stellungen mit der objektiven Natur der von uns wahr¬
genommenen Dinge. Für den Solipsisten ist >Erfolg<
alles, wessen ich in der Praxis bedarf, die man getrennt
von der Erkenntnistheorie betrachten kann. Schließen
wir das Kriterium der Praxis in die Grundlage der Er¬
kenntnistheorie ein, so kommen wir unvermeidlich zum
Materialismus, sagt der Marxist ...« [a.a.O., S. 139f.]
»Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis muß
der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkennt¬
nistheorie sein. Und dieser Gesichtspunkt führt unver¬
meidlich zum Materialismus, da er von vornherein die
zahllosen Schrullen der Professorenscholastik beiseite
wirft. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß
das Kriterium der Praxis dem Wesen nach niemals
irgendeine menschliche Vorstellung völlig bestätigen
oder widerlegen kann. Auch dieses Kriterium ist un¬
bestimmt genug, um die Verwandlung der mensch¬
lichen Kenntnisse in ein >Absolutum< zu verhindern,
zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle
363
Spielarten des Idealismus und Agnostizismus einen un¬
erbittlichen Kampf zu führen. Wenn das, was unsere
Praxis bestätigt, die einzige, letzte, objektive Wahrheit
ist, so ergibt sich daraus, daß der einzige Weg zu dieser
Wahrheit der Weg der auf dem materialistischen Stand¬
punkt stehenden Wissenschaft ist. Bogdanow z. B. läßt
Marx’ Theorie des Geldumlaufs als objektive Wahrheit
nur >für unsere Zeit< gelten und nennt es Dogmatis¬
mus^ wenn man dieser Theorie eine mbergeschichtlich-
objektive< Wahrheit zuerkennt. Das ist wieder eine
Konfusion. Daß diese Theorie der Praxis entspricht,
kann durch keine künftigen Umstände geändert werden,
und zwar aus demselben Grunde, aus welchem die
Wahrheit, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist,
ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis, d. h. der
Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder (!)
in den letzten Jahrzehnten die objektive Wahrheit der
ganzen sozial-ökonomischen Theorie von Marx über¬
haupt und nicht nur eines ihrer Teile ... beweist, so
ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an
die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier vom Dog¬
matismen der Marxisten gesprochen wird ...« [a.a.O.,
S. 143]

Mit Hegel gegen Kants Erkenntnistheorie:

»Objektivismus: die Kategorien des Denkens sind nicht


Hilfsmittel des Menschen, sondern der Ausdruck der
Gesetzmäßigkeit sowohl der Natur als des Menschen.
Vgl. ferner die Gegenüberstellung >des subjektiven
Denkens < und >des objektiven Begriffs der Sache selbst<,
wir können nicht >über die Natur der Dinge hinaus <
{Hegels Logik, Werke 1833, Bd. III, S. 16) und die
Bemerkung gegen die britische Philosophie< (S. 17).
Sie stellt sich das Verhältnis der >drei Terminorum<
364
(wir, das Denken, die Dinge) so vor, daß wir >in der
Mitte< zwischen den Dingen und dem Denken stehen,
daß diese Mitte uns >abschließt<, >statt uns zusammen¬
zuschließen«. Darauf muß, sagt Hegel, mit der ein¬
fachen Bemerkung< geantwortet werden, daß eben
diese Sachen, die jenseits unserer Gedanken auf dem
anderen Extrem stehen sollen, selbst Gedankendinge...
und >das sogenannte Ding-an-sich nur ein Gedanken¬
ding der leeren Abstraktion< sind (S. 17).
Das Wesen des Beweises ist meines Erachtens: 1. bei
Kant trennt (schließt ab) die Erkenntnis Natur und
Mensch; in Wirklichkeit schließt sie sie zusammen;
2. bei Kant ist die >leere Abstraktion< des Ding-an-sich
anstelle des lebendigen Ganges, der Bewegung unseres
immer mehr in die Tiefe gehenden Wissens von den
Dingen. Das Ding-an-sich bei Kant ist eine leere Ab¬
straktion, Hegel aber verlangt Abstraktionen, welche
der Sache entsprechen: >der objektive Begriff der Dinge
die Sache selbst ausmacht< welche —- materialistisch
gesprochen — der wirklichen Vertiefung unserer Er¬
kenntnis der Welt entsprechen ...« [Aus dem philo¬
sophischen Nachlaß, Exzerpte und Randglossen, Berlin
1949, S. 7 f.]
»Ding-an-sich — >eine sehr einfache Abstraktion«. Die
Aussage, daß wir nicht wissen, was die Dinge an sich
sind, scheint eine Wbisheit zu sein. Das Ding-an-sich
ist eine Abstraktion von jeder Bestimmung ... (von
jeder Beziehung zu einem anderen), d. h. ein Nichts.
Folglich ist das Ding-an-sich michts als wahrheitslose,
leere Abstraktion< (Hegel, a.a.0., S. 127). Das ist sehr
tief: das Ding-an-sich und seine Verwandlung in ein
Ding für andere (vgl. Engels). Das Ding-an-sich ist
überhaupt eine leere, leblose Abstraktion. Im Leben, in
der Bewegung pflegt alles und jedes sowohl >an sich< als
auch >für andere« in Beziehung zu einem anderen zu
365
sein, indem es sich von einem Zustande in den anderen
verwandelt. Sehr gut: wenn wir fragen, was die Dinge
an sich sind, >so ist in die Frage gedankenloserweise die
Unmöglichkeit der Beantwortung gelegt< ... (Hegel,
a.a.O., S. 127) ...« [a.a.O., S. 25]

Der dialektische Charakter des Erkenntnisprozesses:

»>Die Natur, diese unmittelbare Totalität, entfaltet sich


in die logische Idee und den Geist. < (Hegel, Enzyklopä¬
die, Werke, Bd. VI, S. 353.) Die Logik ist die Lehre von
der Erkenntnis. Sie ist Erkenntnistheorie. Die Erkenntnis
ist die Widerspiegelung der Natur durch den Menschen.
Aber das ist keine einfache, keine unmittelbare, keine
totale Widerspiegelung, sondern der Prozeß einer Reihe
von Abstraktionen, der Formulierungen, der Bildung
von Begriffen, Gesetzen etc., welche Begriffe, Gesetze
etc. ... auch bedingt, annähernd die universelle Gesetz¬
mäßigkeit der sich ewig bewegenden und entwickelnden
Natur umfassen. Hier gibt es wirklich objektiv drei
Glieder: 1. die Natur; 2. die menschliche Erkenntnis =
das Gehirn des Menschen (als höchstes Produkt der¬
selben Natur) und 3. die Form der Widerspiegelung der
Natur in der menschlichen Erkenntnis, und diese Form
sind auch die Begriffe, die Gesetze, die Kategorien etc.
Der Mensch kann die Natur nicht als ganze, nicht voll¬
ständig, kann nicht ihre mnmittelbare Totalitär er¬
fassen = widerspiegeln == abbilden, er kann dem nur
ewig näherkommen, indem er Abstraktionen, Begriffe,
Gesetze, ein wissenschaftliches Weltbild usw. usw.
schafft ...« [a.a.O., S. 101]
»Die Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annähe-
rung des Denkens an das Objekt. Die PLiderSpiegelung
der Natur im menschlichen Denken ist nicht >tot<, nicht
>abstrakt<, nicht ohne Bewegung, nicht ohne Wider-

366
sprüche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der
Entstehung und Aufhebung von Widersprüchen aufzu¬
fassen.« [a.a.O., S. 115]
»Ist die Vorstellung der Realität näher als das Denken?
Sowohl ja als nein. Die Vorstellung kann die Bewegung
nicht in ihrer Ganzheit erfassen, zum Beispiel erfaßt sie
die Bewegung mit einer Schnelligkeit von 500000 km
in der Sekunde nicht, aber das Denken erfaßt sie und
soll sie erfassen. Das der Vorstellung entnommene
Denken widerspiegelt ebenfalls die Realität.« [a.a.O.,
S. 152]
»Die Bedeutung des Allgemeinen ist widersprechend:
es ist tot, es ist unrein, unvollständig etc. etc., aber es
ist auch nur eine Stufe zur Erkenntnis des Konkreten;
denn wir erkennen das Konkrete nie vollständig. Die
unendliche Summe der allgemeinen Begriffe, Gesetze
etc. ergibt das Konkrete in seiner Vollständigkeit. Die
Bewegung der Erkenntnis zum Objekt kann stets nur
dialektisch vor sich gehen: zurückgehen, um sicherer zu
treffen — reculer pour mieux sauter (savoir?) ...«
[a.a.O., S. 216]
»Die Dialektik ist eine lebendige, vielseitige (bei ewig
zunehmender Zahl von Seiten) Erkenntnis mit einer
Unzahl von Schattierungen jedes Herangehens, jeder
Annäherung an die Wirklichkeit (mit einem philo¬
sophischen System, das sich aus jeder Schattierung zu
einem Ganzen auswächst) — das ist der unermeßlich
reiche Inhalt, verglichen mit dem >metaphysischen<
Materialismus, dessen Haupt übel in der Unfähigkeit
besteht, die Dialektik auf die Bildtheorie, auf den
Prozeß der Erkenntnis anzuwenden. Der philosophische
Idealismus ist nur Unsinn vom Standpunkt des groben,
einfachen, metaphysischen Materialismus aus. Um¬
gekehrt ist vom Standpunkt des dialektischen Materialis¬
mus aus der philosophische Idealismus eine einseitige,
367
übertriebene, überschwengliche (Dietzgen) Entwick¬
lung (Aufblähung, Anschwellung) eines der Züge, einer
der Seiten, einer der Grenzen der Erkenntnis zu einem
Absolutum, losgelöst von der Materie, von der Natur,
vergöttlicht. Idealismus ist Pfaffentum. Stimmt. Doch
ist der philosophische Idealismus (nichtiger gesagt< und
>außerdem<) ein Weg zum Pfaffentum über eine der
Schattierungen der unendlich komplizierten (dialek¬
tischen) Erkenntnis des Menschen.
Die Erkenntnis des Menschen ist nicht (resp. be¬
schreibt nicht) eine gerade Linie, sondern eine Kurve,
die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unend¬
lich nähert. Jedes Bruchstück, jeder Splitter, jedes
Stückchen dieser Kurve kann verwandelt werden (ein¬
seitig verwandelt werden) in eine selbständige, ganze,
gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den
Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffentum
führt (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschen¬
den Klassen verankert wird). Gradlinigkeit und Ein¬
seitigkeit, Hölzernheit und Verknöcherung, Subjektivis¬
mus und subjektive Blindheit, voilä die erkenntnis¬
theoretischen Wurzeln des Idealismus. Und das Pfaffen¬
tum (— philosophischer Idealismus) besitzt natürlich
erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden,
es ist unstreitig eine taube Blüte, die wächst am lebendi¬
gen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, macht¬
vollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten mensch¬
lichen Erkenntnis.« [a.a.O., S. 288f.]
»Das Herangehen des Verstandes (des Menschen) an
das einzelne Ding, die Anfertigung eines Abdruckes
(— Begriffes) von ihm, ist kein einfacher, unmittelbarer,
spiegelartig toter, sondern ein komplizierter, zwiespälti¬
ger, zickzackartiger Akt, der die Möglichkeit in sich
schließt, daß die Phantasie dem Leben entschwebt; da¬
mit nicht genug: die Möglichkeit der Verwarndlung ...

368
des abstrakten Begriffs, der Idee in eine Phantasie (in
letzter Instanz — Gott). Denn auch in der einfachsten
Verallgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen
Idee (>der Tisch< überhaupt) steckt ein gewisses Stück-
lem Phantasie (vice versa: es ist unsinnig, die Rolle der
Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leug¬
nen: siehe Pissarew über den nützlichen Traum als
Ansporn zur Arbeit und über die leere Träumerei).«_
[a.a.O., S. 299]

Marxistische Kritik an der orthodoxen Erkenntnistheorie


des Leninismus

GEORG LUKÄCS

Nochmals: Kritik an Engels’ Kant-Widerlegung:

»Es sei hier gestattet, mit einigen Worten ... auf die
Bemerkungen Friedrich Engels' über das Problem des
Dinges an sich einzugehen, weil diese ... die Auffassung
dieses Begriffs in weiten Kreisen der Marxisten beein¬
flußt haben und das Vorbeigehen an ihrer Richtigstel¬
lung deshalb leicht Mißverständnisse bestehen lassen
könnte ... [Es folgt das Engels-Zitat von S. 323 f.] Vor
allem gilt es hier, eine bei dem Hegelkenner Engels fast
unbegreifliche terminologische Ungenauigkeit richtig¬
zustellen. Für Hegel sind >an sic/u und für uns< durch¬
aus nicht Gegensätze, sondern im Gegenteil: notwendige
Korrelate. Daß etwas bloß >an sich< gegeben sei, be¬
deutet für Hegel, daß es bloß >für uns< gegeben ist. Der
Gegensatz des für uns< oder >an sich< ist vielmehr das
für sich<, jene Art des Gesetztseins, wo das Gedachtsein

369
des Gegenstandes zugleich das Bewußtsein des Gegen¬
standes über sich selber bedeutet. Dann ist es aber ein
völliges Verkennen der Erkenntnistheorie Kants, anzu¬
nehmen, als ob das Ding-an-sich-Problem eine Schranke
der Möglichkeit der konkreten Erweiterung unserer
Erkenntnisse bedeuten würde. Im Gegenteil, Kant, der
ja methodisch von der damals höchst entwickelten Natur¬
wissenschaft, von der Astronomie Newtons ausging und
seine Erkenntnistheorie gerade auf diese und auf ihre
Entwicklungsmöglichkeiten Zuschnitt, nimmt damit not¬
wendigerweise die schrankenlose Erweiterharkeit dieser
Methode an. Seine >Kritik< bezieht sich bloß darauf, daß
selbst eine vollendete Erkenntnis sämtlicher Phänomene
— eben bloß eine Erkenntnis der Phänomene (im
Gegensatz zu den Dingen an sich) wäre; daß selbst die
vollendete Erkenntnis der Phänomene die struktiven
Schranken dieser Erkenntnis — also nach unserer
Formulierung die Antinomien der Totalität und der
Inhalte — niemals überwinden könnte. Die Frage des
Agnostizismus, der Beziehung zu Hume (und dem
besonders gemeinten aber nicht genannten Berkeley)
hat Kant selbst in dem Abschnitt über die >Widerlegung
des Idealismus< hinreichend klar erledigt. Das tief¬
gehendste Mißverständnis von Engels liegt jedoch darin,
daß er das Verhalten der Industrie und des Experiments
für Praxis — in dialektisch-philosophischem Sinne hält.
Gerade das Experiment ist die am reinsten kontempla¬
tive Verhaltensweise. Der Experimentator schafft ein
künstliches, abstraktes Milieu, um das ungestörte Sich-
auswirken der zu beobachtenden Gesetze ungehindert,
alle hemmend irrationalen Elemente sowohl von der
Seite des Subjekts wie von der des Objekts ausschaltend,
beobachten zu können. Er ist bestrebt, das materielle
Substrat seiner Beobachtung — soweit wie nur möglich
— auf das rein vernunftgemäß Erzeugte, auf die >intel-

370
ligible Materie< der Mathematik zu reduzieren. Und
wenn Engels bei der Industrie davon spricht, daß das so
»Erzeugte< »unseren Zwecken! dienstbar wird, so scheint
er die grundlegende Struktur der kapitalistischen Gesell¬
schaft, die er selbst schon in seinem genialen Jugend¬
aufsatz unübertrefflich klar formuliert hat, für einen
Augenblick vergessen zu haben. Daß es sich nämlich in
der kapitalistischen Gesellschaft um >ein Naturgesetz!
handelt, >das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten
beruht!. Die Industrie — insofern sie >Zwecke< setzt —
ist im entscheidenden, im dialektisch-geschichtlichen
Sinne nur Objekt, nicht Subjekt der gesellschaftlichen
Naturgesetze. Marx hat wiederholt und nachdrücklich
den Kapitalisten ... als bloße Charaktermaske bezeich¬
net ... Daß also die »Industrie!, d. h. der Kapitalist
als Träger des ökonomischen, technischen usw.
Fortschritts, nicht handelt, sondern gehandelt wird,
daß seine »Tätigkeit! sich in der richtigen Beob¬
achtung und Kalkulation der objektiven Auswirkung
der gesellschaftlichen Naturgesetze erschöpft, ist im
Sinne des — sonst auch von Engels in dieser Rich¬
tung ausgelegten — Marxismus eine Selbstverständ¬
lichkeit ...« [Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin
1923, S. 145ff.]

Die Unzulänglichkeiten der Abbildtheorie und die Über¬


windung des Dualismus von Denken und Sein:

»Wenn es aber keine Dinge [sondern lediglich Kom¬


plexe von Prozessen!, wie Lukacs mit Engels betont
hatte] gibt, was wird im Denken >abgebildet!? Es kann
hier unmöglich selbst andeutungsweise die Geschichte
der Abbildtheorie gegeben werden, obwohl erst sie die
ganze Tragweite dieses Problems zu offenbaren im¬
stande wäre. Denn in der Lehre vom >Abbild*, objektiviert

371
sich theoretisch die —für das verdinglichte Bewußtsein
_unüberwindliche Dualität von Denken und Sein, von
Bewußtsein und Wirklichkeit.
Und von diesem Standpunkt aus kommt es aufs gleiche
hinaus, ob die Dinge als Abbilder der Begriffe oder die
Begriffe als Abbilder der Dinge gefaßt werden, denn in
beiden Fällen erhält diese Dualität eine unüberwindliche
Fixierung. Kants großzügiger und sehr folgerichtiger
Versuch, diese Dualität logisch zu überwinden, die
Theorie von der synthetischen Funktion des Bewußt¬
seins überhaupt im Erschaffen der theoretischen Sphäre,
konnte keine philosophische Lösung der Frage bringen,
weil die Dualität bloß aus der Logik entfernt, aber in
der Form der Dualität von Erscheinung und Ding an
sich als — unlösbares — philosophisches Problem ver¬
ewigt wurde ...« [a.a.O., S. 218f.]

Um den Abgrund zwischen dem Denken (und den


reinen Denkerzeugnissen) auf der einen Seite und der
>Wirklichkeit< auf der anderen zu überbrücken, sei das
Denken — unter diesen Voraussetzungen — genötigt,
eine Metaphysik oder Geschichtsphilosophie zu entwerfen.
>Statt der Lösung entstehe so aber nur eine Verdoppelung
oder Verdreifachung des Problems.< (S. 220) Ein typi¬
scher Lösungsversuch dieser Art sei die Platonische Ideen¬
lehre, die Lukäcs auch noch in der vulgär-materialistischen
Erkenntnistheorie (wenn auch >mit umgekehrtem Vor¬
zeichen^ wiederfindet:

»... Die Einsicht, daß eine Übereinstimmung, ein


Verhältnis der > Abbildlichkeit < zwischen prinzipiell
heterogenen Gegenstandsformen eine prinzipielle Un¬
möglichkeit ist, ist gerade das treibende Motiv jeder der
Ideenlehre ähnlich gearteten Auffassung. Sie unter¬
nimmt den Versuch, an den Gegenständen des Denkens
und an dem Denken selbst dieselbe letzte Wesenheit als
Kern nachzuweisen. So charakterisiert Hegel von diesem

372
Standpunkt sehr richtig das philosophische Grundmotiv
der Erinnerungslehre: es sei darin die Grundbeziehung
des Menschen mythisch dargestellt, >die Wahrheit liege
in ihm und es handle sich nur darum, daß sie zum
Bewußtsein gebracht werde <. Wie ist aber diese Identität
der letzten Substanz im Denken und Sein nachweisbar
— nachdem diese durch die Art, wie Denken und Sein
für das anschauende, kontemplative Verhalten erschei¬
nen müssen, bereits als einander prinzipiell heterogen
gefaßt worden sind? Hier muß eben die Metaphysik ein-
setzen, um durch offen oder versteckt mythologische
Vermittlungen Denken und Sein, deren Getrenntheit
nicht nur den Ausgangspunkt des >reinen< Denkens
bildet, sondern deren Getrenntheit — gewollt oder un¬
gewollt — stets festgehalten wird, irgendwie wieder zu
vereinigen. Und diese Lage ändert sich nicht im gering¬
sten, wenn die Mythologie umgedreht wird und das
Denken aus dem empirisch materiellen Sein erklärt
werden soll. Rickert nannte einmal den Materialismus
einen Platonismus mit verkehrtem Vorzeichen. Mit
Recht. Denn solange Denken und Sein ihr altes, starres
Gegenüberstehen bewahren, solange sie in ihrer eigenen
Struktur und der Struktur ihrer Beziehungen zuein¬
ander unverändert bleiben, ist die Auffassung, daß das
Denken ein Produkt des Gehirns und darum mit den
Gegenständen der Empirie übereinstimmend ist, eine
ebensolche IMythologie wie die von IViederermnerung
und Ideenwelt. Eine Mythologie, denn sie ist ebenso¬
wenig imstande, die spezifischen Probleme, die hier auf¬
tauchen, aus diesem Prinzip heraus zu erklären ... Es
ist aber ... ebensowenig möglich, diesen Unterschied
durch einen unendlichen Progreß aus der Welt zu
schaffen. Es entsteht dabei entweder eine Scheinlösung
oder die Abbildlichkeit taucht in veränderter Form
wieder auf.
373
Gerade der Punkt, worin sich für das historische
Denken die Übereinstimmung von Denken und Sein
enthüllt, daß sie nämlich beide — unmittelbar, aber
bloß unmittelbar — die dinghafte starre Struktur haben,
zwingt dem undialektischen Denken diese unlösbare Frage¬
stellung auf. Aus dem starren Gegenüberstehen von
Denken und (empirischem) Sein folgt einerseits, daß
sie unmöglich in einem Verhältnis der Abbildlichkeit
zueinander steben können, andererseits aber, daß das
Kriterium des richtigen Denkens nur auf dem Weg der
Abbildlichkeit gesucht werden kann. Solange der
Mensch sich anschauend-kontemplativ verhält, kann
seine Beziehung sowohl zu seinem eigenen Denken wie
zu den ihn umgebenden Gegenständen der Empirie nur
eine unmittelbare Beziehung sein. Er nimmt beide in
ihrer — von der historischen Wirklichkeit produzierten
Fertigkeit — hin. Da er die Welt nur erkennen, nicht
verändern will, ist er gezwungen, sowohl die empirisch¬
materielle Starrheit des Seins wie die logische Starrheit
der Begriffe als unabwendbar hinzunehmen, und seine
mythologischen Fragestellungen richten sich nicht dar¬
auf, aus welchem konkreten Boden die Starrheit die¬
ser beiden Grundgegebenheiten entstanden ist, welche
realen Momente in ihnen selbst stecken, die in der
Richtung einer Überwindung dieser Starrheit am
Werke sind, sondern bloß darauf, wie das unveränderte
Wesen dieser Gegebenheiten als Unverändertes doch
zusammengebracht und als solches erklärt werden
könnte.
Die Lösung, die Marx in seinen Feuerbachthesen an¬
gibt, ist die Verwandlung der Philosophie ins Praktische.
Dieses Praktische hat aber ... seine objektiv strukturelle
Voraussetzung und Kehrseite in der Auffassung der
Wirklichkeit als eines >Komplexes von Prozessen <, in der
Auffassung, daß die Entwicklungstendenzen der Ge-

574
schichte den starren, dinghaften Faktizitäten der Em¬
pirie gegenüber eine aus ihr selbst entsteigende, also
keineswegs jenseitige, aber doch eine höhere, die wahre
Wirklichkeit repräsentieren. Das bedeutet nun für
die Abbildtheorie, daß sich das Denken, das Bewußt¬
sein zwar an der Wirklichkeit zu orientieren hat,
daß das Kriterium der Wahrheit in dem Auftreffen
auf die Wirklichkeit besteht. Jedoch diese Wirklich¬
keit ist mit dem empirisch-faktischen Sein keineswegs
identisch. Diese Wahrheit ist nicht, sie wird ...« [a. a. O.,
S. 220ff.]
»Andererseits ist das Werden zugleich die Vermittlung
zwischen Vergangenheit und Zukunft ... zwischen kon¬
kreter, d. h. historischer Vergangenheit und konkreter,
d. h. ebenfalls historischer Zukunft. Das konkrete Hier
und Jetzt, in dem es sich zum Prozeß auflöst, ist kein
durchlaufender, unfaßbarer Augenblick mehr, die ent-
huschende Unmittelbarkeit (vgl. darüber die Phäno¬
menologie Hegels, besonders Werke, Bd. II, S. 75ff., wo
dieses Problem noch am tiefsten behandelt wird, sowie
Ernst Blocks Lehre vom >Dunkel des gelebten Augen¬
blicks < und seine Theorie des >noch nicht bewußten
Wissens <), sondern das Moment der tiefsten und weit¬
verzweigten Vermittlung, das Moment der Entscheidung,
das Moment der Geburt des Neuen. Solange der Mensch
sein Interesse — kontemplativ — auf Vergangenheit
oder Zukunft richtet, erstarren beide zu einem fremden
Sein, und zwischen Subjekt und Objekt ist der unüber-
schreitbare schädliche Raum< der Gegenwart gelagert.
Erst wenn der Mensch die Gegenwart als Werden zu
erfassen fähig ist, indem er in ihr die Tendenzen er¬
kennt, aus deren dialektischem Gegensatz er die Zukunft
zu schaffen fähig ist, wird die Gegenwart... als Werden
zu seiner Gegenwart. Nur wer die Zukunft herbeizu¬
führen berufen und gewillt ist, kann die konkrete Wahr-
575
heit der Gegenwart sehen ... Wenn aber die herbeizu¬
führende ... Zukunft, das Neue in den sich (mit unserer
bewußten Hilfe) realisierenden Tendenzen die Wahr¬
heit des Werdens ist, erscheint die Frage von der Ab¬
bildlichkeit des Denkens als vollständig sinnlos. Das
Kriterium der Richtigkeit des Denkens ist zwar die
Wirklichkeit. Diese ist aber nicht, sondern wird — nicht
ohne Zutun des Denkens.
Hier erfüllt sich also das Programm der klassischen
Philosophie: das Prinzip der Genesis ist in der Tat die
Überwindung des Dogmatismus (besonders in seiner
größten geschichtlichen Gestalt, in der platonischen
Abbildlehre). Aber nur das konkrete (geschichtliche)
Werden vermag die Funktion einer solchen Genesis zu
leisten. Und in diesem Werden ist das Bewußtsein (das
praktisch gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats)
ein notwendiger, unentbehrlicher, konstitutiver Be¬
standteil. Denken und Sein sind also nicht in dem Sinne
identisch, daß sie einander >entsprechen<, einander Ab¬
bildern, daß sie miteinander >parallellaufen< oder >zu-
sammenfallen< (alle diese Ausdrücke sind nur versteckte
Formen einer starren Dualität), sondern ihre Identität
besteht darin, daß sie Momente eines und desselben real¬
geschichtlichen dialektischen Prozesses sind. Das, was
das Bewußtsein des Proletariats >abbildet<, ist also das
aus dem dialektischen Widerspruch der kapitalistischen
Entwicklung entspringende Positive und Neue. Mithin
etwas, was keineswegs vom Proletariat erfunden oder
aus dem Nichts >geschaffen< wird, vielmehr die not¬
wendige Folge des Entwicklungsprozesses in seiner
Totalität ist; das aber erst in das Bewußtsein des Prole¬
tariats gehoben, vom Proletariat praktisch gemacht aus
einer abstrakten Möglichkeit zu einer konkreten Wirk¬
lichkeit wird. Diese Verwandlung ist aber keine bloß
formelle, denn das Wirklichkeitwerden einer Möglich-

576
keit, das Aktuellwerden einer Tendenz bedeutet eben
die gegenständliche Umwandlung der Gesellschaft, die
Veränderung der Funktionen ihrer Momente und damit
die sowohl struktive wie inhaltliche Veränderung sämt¬
licher einzelner Gegenstände.
Es darf aber niemals vergessen werden: nur das
praktisch gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats
besitzt diese verwandelnde Funktion ...« [a.a.O.,
S. 223 f.]

ANTONIO GRAMSCI

Das Kantsche >Noumenon< (Ding an sich):

»Die Frage nach der >objektiven Realität der Außenwelt<,


soweit sie an den Begriff des >Ding an sich< und des
Kantischen >Noumenom geknüpft ist. Schwierig auszu¬
schließen, daß das >Ding an sich< eine Abteilung aus der
objektiven Realität der Außenwelt und des sogenann¬
ten gräko-christlichen Realismus (Aristoteles-Thomas)
ist. Das kann man auch an dem Faktum erkennen, daß
eine bestimmte Tendenz des Vulgärmaterialismus und
Positivismus Anlaß für die Stiftung der neukantiani¬
schen und neo-kritischen Schule wurde ... In der hei¬
ligen Familie« heißt es, daß sich die gesamte Wirklich¬
keit in den Phänomenen erschöpft, und so ist es sicher
auch. Aber der Beweis ist nicht leicht. Was sind die
Phänomene? Etwas Objektives, das an sich und durch
sich existiert, oder Qualitäten, die der Mensch auf Grund
seiner praktischen (der Erzeugung seines wirtschaft¬
lichen Lebens) und wissenschaftlichen Interessen d. .
auf Grund der Notwendigkeit, in der Welt eine Ordnung
zu finden und die Gegenstände zu klassifizieren, unter¬
scheidet? Letztere Notwendigkeit ist ihrerseits an un-
377
mittelbare und künftige praktische Interessen gebunden.
Wenn man feststellt, daß das, was wir an den Dingen
erkennen, nichts anderes ist als wir selbst, unsere Bedürf¬
nisse und Interessen, d. h., daß unsere Erkenntnisse
Überbauten (oder Undefinierte Philosophien) sind, ist es
schwierig, den Gedanken an etwas Reales jenseits dieser
Erkenntnisse zurückzu weisen. Nicht zwar im Sinne
eines metaphysischen Noumenon, eines >unbekannten
Gottes<, oder eines /Unerkennbarem, aber doch im kon¬
kreten Sinne einer >relativen Unwissenheit über die
Wirklichkeit, im Sinne eines Unbekannten, daß jedoch
eines Tages, wenn die physischen und intellektuellen
Mittel der Menschen vollkommener sein werden, d.h.,
wenn sich die sozialen und technischen Bedingun¬
gen der Menschheit verbessert haben, erkannt wer¬
den kann. Es handelt sich also um eine historische Vor¬
schau, die in dem einfachen Gedankenschritt besteht,
den vergangenen Prozeß der Entwicklung des Den¬
kens in die Zukunft zu verlängern. Auf alle Fälle
muß man Kant studieren und seine Begriffe erneut
präzise überprüfen ...« [CEuvres Choisies, Paris 1959,
S. 64f.]

Der volkstümliche Realismus — kein geeigneter Aus¬


gangspunkt für die marxistische Kritik des Idealismus:

»Die ganze Polemik gegen die subjektivistische Wirk¬


lichkeitsauffassung mit der schrecklichem Frage nach
der objektiven Realität der Außenwelt< ist schlecht ge¬
stellt und führt zu großenteils nichtigen und müßigen
Fragen. Stellt man sich auf den Standpunkt des ge¬
meinverständlichen Lehrbuchs < [Bucharin], entspricht
das Ganze mehr einer krankhaften und pedantischen
intellektuellen Sucht als einer logischen Notwendigkeit.
Das volkstümliche Publikum glaubt nicht einmal, daß

578
man ernsthaft ein derartiges Problem, ob die Außenwelt
objektiv existiert, stellen könne. Es genügt, das Problem
m dieser Form zu stellen, um einen Heiterkeitssturm
Gargantuaischen Ausmaßes zu erzeugen, der einfach
unbezähmbar ist. Die Leute >glauben<, daß die Außen¬
welt objektiv wirklich ist, und genau hier liegt das
Problem: welches ist der Ursprung dieses >Glaubens<
und welchen kritischen Wert hat er >objektiv<? Dieser
Glaube ist in der Tat religiösen Ursprungs, auch wenn
diejenigen, die ihn teilen, in religiösen Fragen indifferent
sein sollten. Da alle Religionen lehren, daß Gott das
Universum vor der Schöpfung der Menschen geschaffen
hat und daß infolgedessen der Mensch die Welt fix und
fertig, katalogisiert und definiert vorfand, ist dieser
Glauben zu einem unerschütterbaren Faktum des »ge¬
sunden Alltagsverstandes < geworden und lebt mit glei¬
cher Kraft weiter, selbst nachdem das religiöse Gefühl
nachgelassen hat. Deshalb hat es eher eine reaktionäre
Bedeutung, wenn man sich zum Zwecke der Widerlegung
des Idealismus von seiner komischen Seite aus auf diesen
>gesunden Alltagsverstand< stützt. Implicite bedeutet das
nämlich eine Rückbeziehung auf das religiöse Gefühl,
und in der Tat bedienen sich die katholischen Redner
und Schriftsteller des gleichen Mittels, um den gleichen
durchschlagenden Heiterkeitserfolg zu erzielen ...«
[a. a. O., S. 145 f.]
»In Wahrheit ist das Problem meines Erachtens das
Folgende: Wie kann man es erklären, daß eine solche
Auffassung, die gewiß auch für einen Philosophen der
Praxis [einen Marxisten] nicht einfach wertlos ist, bei
ihrer öffentlichen Darstellung nur Gelächter und Heiter¬
keit erzeugt? Es ist dies, glaube ich, ein typischer Fall
für den Abstand, der Wissenschaft und Leben, be¬
stimmte führende intellektuelle Gruppen und die gro¬
ßen Volksmassen voneinander trennt; ein typischer Fall

379
auch dafür, daß die philosophische Fachsprache zu einem
Jargon geworden ist, der die gleiche Wirkung wie der
des Harlekin hervorruft. Wenn aber der >gesunde All¬
tagsverstand < sich vor Lachen schüttelt, sollte der Philo¬
soph der Praxis nach einer Erklärung suchen, einmal
dafür, daß eine solche Auffassung entstehen und sich
unter Intellektuellen verbreiten konnte, und dann auch,
warum sie den >gesunden Alltagsverstand< zum Lachen
bringt. Es steht fest, daß die subjektivistische Auffassung
der neuzeitlichen Philosophie in ihrer entwickeltsten
Gestalt eigentümlich ist, da ja aus ihr und als Hinaus¬
gehen über sie der historische Materialismus entstanden
ist, der in der Lehre von den Überbauten das, was die
traditionelle Philosophie in spekulativer Form aus¬
drückte, in eine realistische und historistische Sprache
übersetzte. Die Demonstration dieser These, die hier
kaum nur formuliert wurde, hätte die größte kulturelle
Tragweite, da sie eine ganze Reihe von nichtigen und
überflüssigen Diskussionen beenden und eine organische
Entwicklung der Philosophie der Praxis ermöglichen
würde. Diese würde dann endlich zur führenden Re¬
präsentantin der hohen Kultur werden. Es ist außer¬
ordentlich erstaunlich, daß bisher noch nie in befriedi¬
gender Weise die Verbindung zwischen der idealistischen
These von der Wirklichkeit der Welt als eines Erzeug¬
nisses des menschlichen Geistes einerseits und der Behaup¬
tung der Historizität und Hinfälligkeit aller Ideologien
durch die Philosophie der Praxis auf der andern Seite
festgestellt und entwickelt worden ist.
Diese Frage ist —- wie man versteht —- eng mit der
nach dem Wert derjenigen Wissenschaften verbunden,
die man gewöhnlich exakte oder physikalische nennt.
Diese haben nach und nach eine führende Stellung
innerhalb der Philosophie der Praxis eingenommen, die
beinahe fetischistisch genannt werden muß, und durch

580
die sie zur einzigen Philosophie, zur einzig wahren Welt¬
erkenntnis gemacht werden.
Was aber soll man unter subjektivistischer Wirklich¬
keitsauffassung verstehen? Ist es möglich, sich bei
irgendeiner der tausend subjektivistischen Theorien
aufzuhalten ... die manchmal bis zum Solipsismus
gehen? Es ist klar, daß die Philosophie der Praxis auch
hier nur mit der Hegelschen idealistischen Auffassung
in Beziehung gesetzt werden kann.
Sie bildet die entwickeltste und genialste Form der
idealistischen Auffassung, und von den späteren Theorien
brauchen nur partielle Aspekte und nützliche Gesichts¬
punkte berücksichtigt zu werden ...« [a.a.O., S. 146]
»Der Vorwurf, den man dem Verfasser des gemein¬
verständlichen Lehrbuchs< machen muß, ist, daß er die
subjektivistische Auffassung so dar gestellt hat, wie sie
in der Kritik des >gesunden Alltagsverstands < erscheint,
und den Begriff der objektiven Wirklichkeit in seiner
trivialsten und unkritischsten Form aufgenommen hat,
ohne auch nur zu ahnen, daß man gegen den letzteren
den Vorwurf des Mystizismus erheben kann, was auch
in der Tat geschehen ist. Das Ärgerliche ist, daß es bei
der Analyse dieser Auffassung im ganzen doch nicht
sehr leicht ist, einen derart mechanisch konzipierten
Standpunkt der äußeren Objektivität zu rechtfertigen.
Wer kann sich denn auf diese Weise auf den Standpunkt
des >Kosmos an sich< stellen? Man kann sehr wohl be¬
haupten, daß es sich hierbei um ein Besiduum der Vor¬
stellung vom unbekannten Gott handelt... Der Objek¬
tivitätsbegriff des metaphysischen Materialismus scheint
eine Objektivität angeben zu wollen, die sogar außerhalb
des Menschen existiert; wenn man aber behauptet, daß
eine Wirklichkeit existieren würde, auch wenn der
Mensch nicht existierte, dann formuliert man entweder
eine Metapher, oder man fällt in eine Form des Mystizis-

381
mus. Wir erkennen die Realität nur durch ihre Bezie¬
hung zum Menschen, und da der Mensch historisches
Werden ist, sind beide, das Bewußtsein und die Wirk¬
lichkeit, ebenfalls ein Werden und die Objektivität eben¬
so usw. Die Engelssche Formel: >Die Materialität der
Welt ... ist bewiesen ... durch eine lange und lang¬
wierige Entwicklung der Philosophie und der Natur¬
wissenschaft (Anti-Dühring, S. 51), müßte analysiert
und präzisiert werden. Ist hier unter Naturwissenschaft
die praktische oder die theoretische Tätigkeit der Natur¬
forscher zu verstehen? Oder die Synthese dieser beiden
Tätigkeiten? Man könnte sagen, daß die experimentelle
Tätigkeit des Naturwissenschaftlers der Typus des ein¬
heitsstiftenden Wirklichkeitsprozesses ist, denn sie ist
das erste Modell der dialektischen Vermittlung zwischen
Mensch und Natur, die historische Elementar zelle, durch
die der Mensch, indem er sich durch die Technik mit
der Natur in Beziehung setzt, diese erkennt und be¬
herrscht. Es besteht kein Zweifel, daß die Aufnahme
der experimentellen Methode die Grenzscheide zweier
Epochen bildet und den Auflösungsprozeß von Theologie
und Metaphysik in Gang setzt, mit ihm aber jene Ent¬
wicklung des modernen Denkens, an deren Ende die
Philosophie der Praxis steht. Das wissenschaftliche
Experiment ist die erste Zelle der neuen Produktions¬
weise, der neuen Vereinigung von Mensch und Natur.
Der experimentierende Wissenschaftler ist zugleich
Arbeiter und nicht nur reiner Denker und sein Denken
wird kontinuierlich durch die Praxis kontrolliert und
umgekehrt, bis sich die perfekte Einheit von Theorie
und Praxis verwirklicht ...« [a.a.O., S. 149ff. 1
ETHIK

Wieder steht am Anfang die Hegel-Marxsche Deutung


des historischen Geschehens als eine Einheit von Sein und
Sollen, von Faktizität und Normativität. Der Wirklichkeit
ist die Tendenz auf Realisierung des Vernünftigen im¬
manent. Mit der verstehenden Deutung der Entwicklung
muß ihre Bejahung einhergehen, weil die Deutung auf
objektiv Vernünftiges stößt und die Aufgabe, zu der die
Erkenntnis hinführt, in der Vollendung dieses Vernünf¬
tigen und Menschlichen besteht. Die Abkehr von aller
moralisierenden Tendenz kann richtig nur auf dem
Hintergrund dieser Überzeugung von der >Verniinftig-
keit des Wirklichem und der >Wirklichkeit des Vernünfti¬
gem verstanden werden. Wenn die historischen >Tenden-
zem gegenüber den oberflächlichen Phänomenen das
>Eigentliche< sind und wenn dieses Eigentliche verniinf-
tig, gut, human ist, dann besteht die sittliche Aufgabe in
der Beförderung dieser Tendenzen, nicht in der aus sub¬
jektiver moralischer Kritik resultierenden Opposition.
Aber wie auf allen Gebieten des Denkens konnte auch
hier die Einheit des Marxschen Grundansatzes nicht fest¬
gehalten werden. Seinsanalyse und Sollensforderung
fielen wieder auseinander. Die Geschichtstheorie wurde
zur positivistischen Kausalanalyse vereinfacht, und die
moralische Forderung, die bodenlos geworden war, mußte
anderwärts (zum Beispiel im kategorischen Imperativ
Kants) ihr Fundament suchen, wenn der Appell der
marxistischen Sozialisten an die Aktivität des Proletariats
nicht opportunistisch verflachen sollte.
Bevor wir diese Entwicklung an Dokumenten ver¬
folgen können, machen einige Auszüge aus frühen Marx¬
schen Schriften deutlich, wie wenig er daran dachte, auf
moralische Wertungen zu verzichten. Was anders als eine

383
sittliche Verurteilung jener >Arbeitsteilung< zwischen ver¬
schiedenen normativen Disziplinen bedeutet der Marx-
sche Hinweis auf die entgegengesetzten Bewertungen der
Ökonomie und der Moral? Wenn der Ökonom und der
Moralist ein und dieselbe Handlung ganz entgegengesetzt
>bewerten<, dann ist eben die Wertung des Ökonomen von
vornh erein fragwürdig und die des Moralisten unrealistisch
für Menschen, die in einer Welt leben müssen, die von
den Gesetzen der Ökonomie beherrscht wird. In der Kritik
an der christlichen Moral der Entsagung und der Unter¬
drückung der natürlichen Triebe wird dann Marxens
eigene moralische Stellungnahme deutlich.

Die natürliche Güte des Menschen steht für ihn von


vornherein fest. Historische Moralen aber erscheinen als
zeit- und klassenbedingte Forderungen des Kollektivs an
den einzelnen — Forderungen, die um eines geregelten
Zusammenlebens willen notwendig sind, aber doch nur
sehr unvollkommen den Ansprüchen der Gerechtigkeit
entsprechen, die Marx und auch Engels insgeheim immer
im Auge haben. Hier nun finden wir wieder einen erheb¬
lichen Unterschied zwischen Marx und Engels, wenn¬
gleich die zitierten Texte nicht ausreichen, um ihn über¬
zeugend zu begründen. Für Marx bedeuten alle morali¬
schen Forderungen, die an den einzelnen von außen ge¬
richtet werden und die er selbst zu übernehmen mehr
oder weniger gezwungen ist, Einschränkungen seiner
Freiheit, Fesseln, die in einer vollendeten klassen- und
herrschaftslosen Gesellschaft offenbar verschwinden sol¬
len. Wenn die Menschen nämlich von Natur aus >gut<
sind und alle feindseligen Regungen ihrer Herzen nur
aus der schlechten Verfassung ihrer sozialen Beziehungen
herrühren, dann muß ja in der vollständig vernünftig
organisierten klassenlosen Gesellschaft diese reine und
ursprüngliche Natur sich wieder entfalten können und
eine moralische Normierung des Verhaltens daher über¬
flüssig werden. Engels andererseits spricht davon, daß die
Geschichte einen Fortschritt zu immer höheren und all¬
gemeineren Moralen zeige und daß — so muß man seinen

384
Gedanken ergänzen — die Moral des siegreichen Prole¬
tariats die universellste und höchste Menschheitsmoral
sem werde. M re in der Engelsschen Geschichtsphilosophie
starker die evolutionäre und technizistische Seite berück¬
sichtigt wird als die revolutionäre (»sprunghafte«), dia¬
lektische, so auch hier in der Auffassung von der Ent¬
wicklung der Moralen. Lenin, der davon spricht, daß die
Menschen im Kommunismus gelernt haben werden, »die
elementaren, seit alters her bekannten und seit Jahr¬
tausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des
Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne
Zwang ... einzuhaltem, scheint eher an eine zur Gewohn¬
heit gewordene allgemeine Moralität als an den (von
Marx erwarteten) Durchbruch der natürlichen Güte des
Menschen zu denken. Wenn der heutige Sowrjetmarxis-
mus mit höchstem Nachdruck die »moralische Erziehung
der Massen« vorantreiben will, hat er sich noch weiter
vom Marxschen Ausgangspunkt entfernt.

In meiner Textauswahl folgt auf die »Klassiker«


wiederum eine Anzahl Neukantianer, die auf verschiede¬
nen Wegen eine Kombination von historischem Materia¬
lismus und apriorischer Kantscher Ethik versuchen. Der
am häufigsten dabei auftauchende Gedanke ist, daß die
»Form« der Moral in der Kantschen Ethik in überzeitlicher
Allgemeingültigkeit gefunden worden sei, während die
wechselnden Inhalte der moralischen Forderungen, die
Kant ja durchaus gesehen habe, vom historischen Materia¬
lismus auf ihre sozialen Wurzeln untersucht würden. So
könne man zugleich auch dem sonst unvermeidlichen
Relativismus entgehen. Denn wenn alle Moral zeit- und
klassenbedingt sei, müsse man sich ja fragen, welchen
Verpflichtungsgrund dann noch moralische Forderungen
hätten. Der kategorische Imperativ zeige aber deutlich
den Charakter einer unbedingten Verpflichtung, unab¬
hängig vom wechselnden, historisch bedingten Inhalt.
In einer etwas komisch anmutenden Polemik zwischen
Otto Bauer und Karl Kautsky geht es darum, ob ein sozial¬
demokratischer Arbeiter, dessen Familie in Not ist,

385
zum Streikbrecher werden darf und ob man sein mora¬
lisches Dilemma besser mit der naturalistischen Ethik
Kautskys oder mit der neukantianischen Bauers lösen
kann.
Für fast alle neukantianischen Marxisten tritt im übri¬
gen die ethische Begründung des Sozialismus an die Stelle
der geschichtsphilosophischen. Nachdem die Geschichts¬
philosophie zu einer rein >naturwissenschaftlich< gedach¬
ten Evolutionslehre geworden war, mußte ja in der Tat
die Frage gestellt werden, warum sich das Proletariat für
diese Entwicklung und ihre Beschleunigung einsetzen
sollte. Die Evolution als solche stellt ja nicht unter allen
Umständen ein Bonum dar. Wer sich nicht mit einer
naturalistischen Moral im Stile Kautskys oder einer pro-
diiktionsmaterialistischen Bewertung (wie der spätere
Stalin) zufriedengeben wollte, der mußte nach einer Er¬
gänzung der marxistischen Evolutionslehre in einer spezi¬
fischen Ethik suchen. Material gedeutet, bot die Formel
des kategorischen Imperativs, derzufolge niemals ein
Mensch mur als Mitteh, sondern immer zugleich als
Zweck< behandelt werden soll, einen guten Ansatzpunkt.
In ihrem Namen wurde das >System der Lohnarbeit
verurteilt. Denker, die obendrein an der vulgär-mar¬
xistischen >Zusammenbruchstheorie< des Kapitalismus
zweifelten, gingen dazu über, die entwicklungsgeschicht¬
liche >Ableitung< des Sozialismus durch eine ethische
zu ersetzen (Bernstein, Struve, Woltmann, Tugan-
Baranowsky).
Gegenüber den oft scharfsinnigen Gedanken der Neu¬
kantianer nimmt sich die >Orthodoxie< von Kautsky und
Lenin recht dürftig aus. An Kautskys Gedanken zur
sozialistischen Ethik ist einmal der starke Naturalismus
(Zurückführung der Moral auf soziale Triebe) und zum
anderen die Vorwegnahme der Stalinschen Formel von
der >Rückwirkung des Überbaus auf die Basis< bemerkens¬
wert. Lenins Originalität besteht vor allem in der skru¬
pellosen Reduktion der (proletarischen) Moral auf
die taktisch-strategischen Interessen des Klassenkamp-

386
fes. >Gut ist, was dem Sieg der Arbeiterklasse nützt<.
Warum und wodurch der Sieg der Arbeiterklasse selbst
>sittlich gerechtfertigt ist, das wird gar nicht mehr
erörtert.
Von diesen >Orthodoxen< hebt sich schon Paul Lafar-
gues Lob der Faulheit ab, das entschlossen das neuzeit¬
lich-bürgerliche Moralprinzip des Fleißes diskreditiert.
Kein Wunder, daß seine Schrift in der heutigen Sowjet¬
union, in der ein beispielloser Triumph der frühkapitali¬
stischen Moral und Prüderie herrscht, kaum bekannt ist.
Den eigentlichen Kontrapunkt gegen die orthodoxe Ver¬
fälschung der Marxschen Gedanken zur Ethik bildet aber
die Äußerung von Herbert Marcuse über Glück und
Moral in einer freien künftigen Gesellschaft. Hier
werden die Marxschen Ideen wieder lebendig und
— noch eindringlicher in anderen Arbeiten des Ver¬
fassers — mit den Einsichten der Freudschen Psycho¬
logie kombiniert. Der Glaube an den von Natur aus
guten Menschen wird durch die Annahme der Möglich¬
keit einer radikalen Änderung seiner Triebstruktur in
einer nichtkompetiven Gesellschaft präzisiert.

Klassiker

KARL MARX UND FRIEDRICH ENGELS

Die eigentümliche >Moral< der Nationalökonomie:

»Diese Wissenschaft der wunderbaren Industrie ist zu¬


gleich die Wissenschaft der Askese, und ihr wahres
Ideal ist der asketische aber wuchernde Geizhals und der
asketische aber produzierende Sklave. Ihr moralisches
Ideal ist der Arbeiter, der in die Sparkasse einen Teil
387
seines Salärs bringt, und sie hat für diesen ihren Lieb¬
lingseinfall sogar eine knechtische Kunst vor gefunden.
Man hat das sentimental auf das Theater gebracht. Sie
ist daher — trotz ihres weltlichen und wollüstigen Aus¬
sehens — eine wirklich moralische Wissenschaft, die
allermoralischste Wissenschaft. Die Selbstentsagung, die
Entsagung des Lebens und aller menschlichen Bedürf¬
nisse, ist ihr Hauptlehrsatz. Je weniger du ißt, Bücher
kaufst, in das Theater gehst, auf den Ball, zum Wirts¬
haus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst,
dichtest usw., um so mehr sparst du, um so größer wird
dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, dein
Kapital ... Alle Leidenschaften und alle Tätigkeit muß
also untergehn in der Habsucht. Der Arbeiter darf
nur so viel haben, daß er leben will, und darf nur
leben wollen, um zu haben ...« [Ökonomisch-philoso¬
phische Manuskripte (1844), MEGA, Erste Abteilung,
Bd. III, S. 129 f.]
»Wenn ich den Nationalökonomen frage: gehorche
ich den ökonomischen Gesetzen, wenn ich aus der Preis-
gebung, Feilbietung meines Körpers an fremde Wollust
Geld ziehe (die Fabrikarbeiter in Frankreich nennen die
Prostitution ihrer Frauen und Töchter die x-te Arbeits¬
stunde, was wörtlich wahr ist), oder handle ich nicht
nationalökonomisch, wenn ich meinen Freund an die
Marokkaner verkaufe ..., so antwortet mir der National¬
ökonom: Meinen Gesetzen handelst du nicht zuwider,
aber sieh dich um, was Frau Base Moral und Base
Religion sagt; meine nationalökonomische Moral und
Religion hat nichts dagegen einzuwenden, aber — aber
wem soll ich nun mehr glauben, der Nationalökonomie
oder der Moral? Die Moral der Nationalökonomie ist der
Erwerb, die Arbeit und die Sparsamkeit, die Nüchtern¬
heit — aber die Nationalökonomie verspricht mir, meine
Bedürfnisse zu befriedigen. — Die Nationalökonomie

388
der Moral ist der Reichtum an gutem Gewissen, an
Tugend etc., aber wie kann ich tugendhaft sein, wenn
ich nicht bin, wie ein gutes Gewissen haben, wenn ich
nichts weiß? — Es ist dies im Wesen der Entfremdung
gegründet, daß jede Sphäre einen andren und entgegen¬
gesetzten Maßstab an mich legt, einen andren die Moral,
einen andren die Nationalökonomie, weil jede eine be¬
stimmte Entfremdung des Menschen ist und jede einen
besonderen Kreis der entfremdeten Wesenstätigkeit
fixiert, jede sich entfremdet zu der andren Entfremdung
verhält ...« [a.a.O., S. 151 f.]

Die Ethik des französischen Materialismus:

»In Helvetius ... empfängt der Materialismus den eigent¬


lich französischen Charakter. Er faßt ihn sogleich in
bezug auf das gesellschaftliche Leben (Helvetius, De
VHomme). Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbst¬
liebe, der Genuß und das wohlverstandene persönliche
Interesse sind die Grundlage aller Moral. Die natürliche
Gleichheit der menschlichen Intelligenzen, die Ein¬
heit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem
Fortschritt der Industrie, die natürliche Güte des Men¬
schen, sind Hauptmomente seines Systems ...« [Die
Heilige Familie (1845), MEGA, Erste Abteilung, Bd. III,

S. 506] 3 „ . .
». . Wenn das wohlverstandene Interesse das Prinzip
aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privat¬
interesse des Menschen mit dem menschlichen Interesse
zusammenfällt. Wenn der Mensch unfrei im materiali¬
stischen Sinne, d. h. frei ist, nicht durch negative
Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die
positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu
machen, so muß mau nicht das Verbrechen am Ernad-
nen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstatten
589
des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen
Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben.
Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird,
muß man die Umstände menschlich bilden ... Diese
und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich selbst in
den ältesten französischen Materialisten ...« [a.a.O.,
S. 507 f.]

Die natürliche Güte des Menschen selbst im unmensch¬


lichen Milieu:

»Das Gute und das Böse in Mariens Auffassung sind


nicht die moralischen Abstraktionen des Guten und des
Bösen. Sie ist gut, denn sie hat niemand Leid zugefügt,
sie war immer menschlich gegen die unmenschliche Um¬
gebung. Sie ist gut, denn Sonne und Blumen offenbaren
ihre eigne sonnige und blumige Natur. Sie ist gut, denn
sie ist noch jung, hoffend und lebensmutig. Ihre Lage ist
nicht gut, weil sie ihr einen unnatürlichen Zwang
antut, weil sie nicht die Äußerung ihrer mensch¬
lichen Triebe, nicht die Verwirklichung ihrer mensch¬
lichen Wünsche, weil sie qualvoll und freudlos ist.
An ihrer eignen Individualität, an ihrem natürlichen
Wesen, mißt sie ihre Lebenssituation, nicht am Ideal
des Guten.
In der Natur, wo die Ketten des bürgerlichen Lebens
abfallen, wo sie frei ihre eigene Natur äußern kann,
sprudelt Fleur de Marie daher eine Lebenslust aus, einen
Reichtum der Empfindung, eine menschliche Freude
an der Schönheit der Natur, die beweisen, wie die
bürgerliche Situation nur ihre Oberfläche gestreift hat,
ein bloßes Mißgeschick ist, und wie sie selbst weder gut
noch böse, sondern menschlich ist ...« [»Fleur de Marie«,
Gestalt aus dem Roman von Eugene Sues Les Mysteres
de Paris; a.a.O., S. 347]

590
Die Verkehrung der Menschlichkeit in der christlichen
Moral:

Madame George und ein alter Pfarrer unterweisen Marie


in den Prinzipien der christlichen Moral und brechen ihr
naives, unschuldiges und natürliches Selbstbewußtsein.
Der Erfolg läßt auch nicht lang auf sich warten:

»Fleur de Marie findet es (jetzt) schon unrecht, eine


neue glückliche Lebenssituation einfach als das, was sie
wirklich ist, als ein neues Glück empfunden, d. h. sich
natürlich und nicht übernatürlich zu ihr verhalten zu
haben. Sie klagt sich schon an, in dem Menschen, der
sie gerettet hat, das, was er wirklich war, ihren Retter,
gesehen und nicht an seine Stelle einen imaginären
Retter, Gott, untergeschoben zu haben. Schon ist sie
ergriffen von der religiösen Heuchelei, welche dem andern
Menschen nimmt, was er um mich verdient hat, um es
Gott zu geben, welche überhaupt alles Menschliche am
Menschen als ihm fremd und alles Unmenschliche an
ihm als sein eigentliches Eigentum betrachtet ...«
[a. a.O., S. 350]
Am Ende ihrer religiösen Lehrzeit erkennt Marie, daß
sie nicht nur unglücklich, sondern schuldig war, fühlt
sie sich zur Verzweiflung verpflichtet und sucht allein
den >Ruhm der Reue<. Noch einmal unterstreicht Marx,
wie durch diese Wandlung die gute menschliche Natur
pervertiert worden sei:
»Marie ist zur Leibeigenen des Sündenbewußtseins
geworden. Während sie in der unglücklichsten Lebens¬
situation sich zu einer liebenswürdigen, menschlichen
Individualität zu bilden wußte, und innerhalb der
äußern Erniedrigung sich ihres menschlichen Wesens,
als ihres wahren Wesens bewußt war, wird ihr nun der
Schmutz der jetzigen Gesellschaft, der sie äußerlich be¬
rührt hat, zu ihrem innersten Wesen und die stete hypo-
391
chondrische Selbstquälerei mit diesem Schmutz zur
Pflicht, zu der von Gott selbst vorgezeichneten Lebens¬
aufgabe, zum Selbstzweck ihres Daseins ... Nachdem
der Mensch seine Verirrungen als unendliche Verbrechen
gegen Gott eingesehen hat, kann er sich nur der Er¬
lösung und Gnade versichern, wenn er sich ganz Gott
hingibt, ganz der Welt und der Beschäftigung mit der
Welt abstirbt. Nachdem Fleur de Marie eingesehen hat,
daß die Befreiung aus ihrer unmenschlichen Lebenslage
ein göttliches Wunder ist, muß sie selbst zur Heiligen
werden, um solchen Mirakels würdig zu sein. Ihre
menschliche Liebe muß sich in religiöse Liebe, das
Streben nach Glück in das Streben nach ewiger Glück¬
seligkeit, die weltliche Befriedigung in die heilige Hoff¬
nung, die Gemeinschaft mit den Menschen in die
Gemeinschaft mit Gott verwandeln ...« [a. a. O., S. 352]

Heuchelei und bürgerliche Moral:

»Die große Industrie ... vernichtete möglichst die Ideo¬


logie, Religion, Moral etc., und wo sie dies nicht konnte,
machte sie sie zur handgreiflichen Lüge ...« [Die
Deutsche Ideologie (1846), MEGA, Erste Abteilung,
Bd. V, S. 49]
»Der liederliche Bourgeois umgeht die Ehe und be¬
geht heimlich Ehebruch; der Kaufmann umgeht die
Institution des Eigentums, indem er andre durch Speku¬
lation, Bankrott etc. um ihr Eigentum bringt — der
junge Bourgeois macht sich von seiner eignen Familie
unabhängig, wenn er kann, löst für sich die Familie
praktisch auf; aber die Ehe, das Eigentum, die Familie
bleiben, theoretisch, unangetastet, weil sie praktisch die
Grundlagen sind, auf denen die Bourgeoisie ihre Herr¬
schaft errichtet hat, weil sie in ihrer Bourgeoisform die
Bedingungen sind, die den Bourgeois zum Bourgeois

392
machen> &erade wie das stets umgangene Gesetz den
religiösen Juden zum religiösen Juden macht. Dieses
Verhältnis des Bourgeois zu seinen Existenzbedingungen
erhält eine seiner allgemeinen Formen in der bürger¬
lichen Moral ...« [a.a.O., S. 162]

Die Aufhebung des Gegensatzes von Askese und Genuß


im Kommunismus:

»Und nun gar den Kommunisten dies in den Mund zu


legen, bei denen die Grundlage dieses ganzen Gegen¬
satzes von Arbeit und Genuß wegfällt ...« [a.a.O.,
S. 198]
»Die Philosophie des Genusses war nie etwas anderes
als die geistreiche Sprache gewisser zum Genuß privi¬
legierter gesellschaftlicher Kreise. Abgesehen davon, daß
die Weise und der Inhalt ihres Genießens stets durch
die ganze Gestalt der übrigen Gesellschaft bedingt war
und an allen ihren Widersprüchen litt, wurde diese
Philosophie zur reinen Phrase, sobald sie einen allgemei¬
nen Charakter in Anspruch nahm und sich als die
Lebensanschauung der Gesellschaft im ganzen prokla¬
mierte ...« [a.a.O., S. 396]
»Der Zusammenhang des Genießens der Individuen
jeder Zeit mit den Klassenverhältnissen und den sie er¬
zeugenden Produktions- und Verkehrsbedingungen, in
denen sie leben, die Borniertheit des bisherigen, außer
dem wirklichen Lebensinhalt der Individuen und zu
ihm in Gegensatz stehenden Genießens, der Zusammen¬
hang jeder Philosophie des Genießens mit dem ihr vor¬
liegenden wirklichen Genießen und die Heuchelei einer
solchen Philosophie, die sich an alle Individuen ohne
Unterschied richtet, konnte natürlich erst aufgedeckt
werden, als die Produktions- und Verkehrsbedingungen
der bisherigen Welt kritisiert werden konnten, d. h.,

393
als der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat
kommunistische und sozialistische Anschauungen er¬
zeugt hatte. Damit war aller Moral, sei sie Moral der
Askese oder des Genusses, der Stab gebrochen ...«
[a.a.O., S. 397]

Die historische Bedingtheit der Moral:

»Mit Gilbart ... von natürlicher Gerechtigkeit hier zu


reden, ist Unsinn. Die Gerechtigkeit der Transaktionen,
die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht
darauf, daß diese Transaktionen aus den Produktions¬
verhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen.
Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen
Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten,
als Äußerungen ihres gemeinsamen Willens und als
der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwing¬
bare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen
diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn
nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produk¬
tionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht,
sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der
kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht; ebenso
der Betrug auf die Qualität der Ware ...« [Das Kapital,
Bd. III, 1947, S. 372]
»Kurz und gut. Es geht der Feuerbachschen Moral¬
theorie wie allen ihren Vorgängerinnen. Sie ist auf alle
Zeiten, alle Völker, alle Zustände zugeschnitten, und eben
deswegen ist sie nie und nirgends anwendbar und bleibt
der wirklichen Welt gegenüber ebenso ohnmächtig wie
Kants kategorischer Imperativ. In Wirklichkeit hat jede
Klasse, sogar jede Berufsart ihre eigne Moral und bricht
auch diese, wo sie es ungestraft tun kann, und die Liebe,
die alles einen soll, kommt zu Tag in Kriegen, Streitig¬
keiten, Prozessen, häuslichem Krakeel, Ehescheidung

394
und möglichster Ausbeutung der einen durch die
andern ...« [Engels, Ludwig Feuerbach und der Aus¬
gang der klassischen deutschen Philosophie (1886), Aus-
gewählte Werke, Bd. II, S. 358]

JOSEPH DIETZGEN

Die fortschreitende Entwicklung der Sittlichkeit:

»Die Tiere, Affen oder Karnickel, besitzen keine Scham,


keine Moral, keine Treue und keinen Glauben. Wenig¬
stens ist der sittliche Grad dort gleich Null. Die Kaffern
haben wenig davon, unsere Bourgeois etwas mehr, aber
was wahrhaft Recht ist, sollen sie von den Sozialisten
erst lernen. Mit anderen Worten: die Sittlichkeit ist ein
Erfolg der geschichtlichen Entwicklung, ein Kultur¬
produkt. Sie beruht auf dem sozialen Triebe des Men¬
schengeschlechtes, auf der materiellen Notwendigkeit des
gesellschaftlichen Lebens. Weil die Tendenz der Sozial¬
demokratie vornehmlich auf ein soziales, auf ein gesell¬
schaftliches Leben in höherem Grade gerichtet ist, dar¬
um kann sie nicht anders, als ganz wahrhaftig eine
moralische Tendenz sein.
Seit man sich in Rotten, Horden, Stämme und Völker
gruppierte, bedurfte es der Ordnung und ihrer Kodifi¬
kation. Was da nun recht und billig ist, hängt von Um¬
ständen ab. Das Maßgebendste dabei sind die zeitlichen
Produktionsverhältnisse. Die veränderliche Art, wie
man Deckung für die physischen Bedürfnisse schafft, die
veränderte Nationalökonomie ändert die Stipulationen
der Moral, der Sitte, des Rechtes. Jäger haben ein jäger-
mäßiges, Hirten ein hirtenmäßiges Recht; Ritter eine
ritterliche, und der Bourgeois seine Bourgeoismoral. So¬
weit sich die Nationalökonomie auf Privatökonomie
395
gründet, gilt das alte Sprüchlein: >Sei fromm und ver¬
schwiegen, was nicht dein ist, laß liegen< ... Die
kapitalistische Wirtschaft wirkt zersetzend auf die Moral
und das Vermögen [der Kleinbürger], Wie in der Türkei
kauft man in höheren Ständen sich der Frauen, soviel
man Geld hat. Vielweiberei und Mätressenwirtschaft
werden Sitte, sind ein sittliches Faktum. Und in der Tat
und in der Wahrheit ist die >freie Liebe < nicht min¬
der sittlich wie die christliche Beschränkung auf nur
ein einziges Ehegespons. Was uns an der Vielweiberei
empört, ist nicht so sehr die reiche Mannigfaltigkeit
der Liebe, als die Käuflichkeit des Weibes, die Degra¬
dation des Menschen, die schandbare Herrschaft des
Mammons.
In der Weltgeschichte, liebe Mitbürger, geht es mit
der Moral, wie in der Natur mit dem Stoff, die Formen
ändern sich, aber das Wesen bleibt ...« [Die Religion
der Sozialdemokratie (1870—1875), »Der Volksstaat«;
J. Dietzgen Sämtliche Schriften, Berlin 1930, Bd. I,
S. 144 ff.]

Die allgemeine Moral — Resultat der Induktion:

»Gemäß unserem materialistischen System fragen wir


bei solchen Untersuchungen zunächst nach dem Mate¬
rial, hier nach moralischem Material. Dabei halten wir
uns am unbestreitbaren Sprachgebrauch ... Es gibt ...
bei der Moral verschiedene Sorten. Die Feinde schlach¬
ten, braten und verspeisen, heißt dort moralisch, und
hier: sie lieben und ihnen Gutes tun. Sei ein schlauer
Spitzbube, gebietet das spartanische Gesetz, und: heilige
das Eigentum, zahle ehrlich deine Schulden, befiehlt
der Bourgeois. Wie sollen wir nun unter solchen Wider¬
sprüchen die Kastanien der Wahrheit aus dem Feuer

396
holen? Einfach, indem wir aus dem Verschiedenen das
Allgemeine, indem wir extrahieren, was unter allen Um¬
ständen moralisch, sittlich oder recht ist. Es kann das
nichts Spezielles, es muß das Generelle, das Abstrakte
des gesamten moralischen Materials sein. Mittels eines
solchen induktiven Verfahrens findet sich, daß die sitt¬
liche Weltordnung im allgemeinen aus den Rücksichten
besteht, verschieden je nach Zeit und Umständen,
welche das gesellschaftliche Bedürfnis der Menschen er¬
heischt. Ferner findet sich die unleugbare Tatsache, daß
dieses Bedürfnis mit der Kultur sich entwickelt, daß der
soziale Trieb des Menschen wächst, daß die menschliche
Assoziation breiter und inniger, daß die Moral morali¬
scher wird. Schon die christliche Moral spricht aus, daß
die beschränkte Brüderlichkeit der Horden, Stämme,
Völker und Nationen sich in eine internationale Brüder¬
schaft verwandeln soll. Aber der überspannte religiöse
Geist, seine Schelmerei und Narrheit, vermochte das
Ideal nicht zu realisieren. Erst der ökonomische Materia¬
lismus, erst die von der Sozialdemokratie erstrebte kom¬
munistische Organisation der leiblichen Arbeit wird die
Menschen wahrhaft assoziieren. Aus der politischen Ab¬
schaffung der Klassenherrschaft, aus der Verwandlung
der egoistischen Kapitalien in genossenschaftliche Ar¬
beitsinstrumente kann erst innige Nächstenliebe, die
wahre Moral und Gerechtigkeit resultieren.« [a.a.O.,
S. 147]

Das ideale sittliche Ziel der Sozialdemokratie:

»Die religiöse Wahrheit ist eine ideale Phantasterei. Sie


hat die Nächstenliebe auf Gottesglauben und sittliche
Freiheit gründen wollen. Und was haben wir davon?
Den sozialen Krieg. Wir wollen umgekehrt den ewigen
397
Frieden bezwecken mittels einer brüderlichen Gestaltung
der politischen Ökonomie. Wie in der Familie, wo der
Mann den Kohl baut, die Frau ihn kocht und die Kinder
das Reisig herbeiholen, wie da die häusliche Liebe ge¬
gründet ist auf die häusliche Wirtschaft, die geistige auf
die materielle Eintracht, so wird sich auch bei uns die
wahre Nächstenliebe erst einstellen, nachdem die Er¬
werbsverhältnisse sozialistisch gestaltet sind. Gewiß hat
die Natur schon dem Menschen die Nächstenliebe ins
Herz gepflanzt. Aber dies Herz ist ein durchaus unzu¬
verlässiger Kompaß, und Wille und Erkenntnis, über¬
haupt der ganze ideale Apparat ist ohne materielle
Basis ein sehr niedriger Wegweiser. Es müßte sonst
besser stehen mit der Nächstenliebe unserer herrschen¬
den Klassen ... Die faktischen Verhältnisse liegen so:
wer nicht Knecht sein will, muß Herrschaft üben. Unter
solchen Umständen ist nicht daran zu denken, daß
jemand der idealen Sittlichkeit seine Realität opfert.
Wir sind nicht sentimental genug, dergleichen zu er¬
warten. Obgleich wir mit sittlichem Pathos gegen die
Bourgeoisklasse ankämpfen, lassen wir uns doch an¬
gelegen sein, unser Klassenbewußtsein zu stimulieren.
Wir predigen den ewigen Frieden und provozieren den
sozialen Krieg. Wir wollen alle Herrschaft abschaffen,
indem wir die eigne Herrschaft gründen ...« [a.a.O.,
S. 149]
»Die Bourgeois sind Phantasten in der Theorie, aber
in der Praxis ganz nüchterne verständige Moralisten,
ohne überspannte Gutmütigkeit. Ihre tatsächliche Sitt¬
lichkeit ist den Verhältnissen angepaßt. Darin wollen
wir ihrem Beispiel folgen, nicht aber der Verschroben¬
heit ihrer Köpfe. Hier ist die Sittlichkeit eine Idee, die
sie glauben, durch Beschaffung aus idealen Regionen
empfangen zu haben. Nach ihrer Meinung soll die
lasterhafte Welt sich nach dieser Idee ummodeln. Wir

398
verstehen das besser. Uns ist der reale Weltprozeß mit
seiner Menschengeschichte das lebendige Material, aus
dem wir die abstrakte Idee der Moral, die ideale Sittlich¬
keit bewußtermaßen produziert haben. Nun bestrebt sich
die Sozialdemokratie, das Ideal der Nächstenliebe mittels
einer sozialeren Gestaltung der politischen Ökonomie zu
verwirklichen ...« [a.a.O., S. 150]
»Das Prinzip der Moral ist das Prinzip der Gesell¬
schaft, und das Prinzip der Gesellschaft ist das Prinzip
des Fortschritts. Die Sozialdemokratie ist nichts und will
nichts als gesellschaftlichen und genossenschaftlichen
Fortschritt, das ist die wahre moralische Vervollkomm¬
nung ...« [a.a.O., S. 152]
»Wie ... Stiel und Klinge der generelle Inhalt des
Messers, so ist die Unterordnung der besonderen Gelüste
und persönlichen Interessen unter das allgemeine, kom¬
munale, nationale und schließlich internationale Heil
genereller Inhalt der Moral. Du sollst deine momentanen
Begierden dem allgemeinen Leben, die persönlichen
Bedürfnisse dem Heile der Sozietät unterordnen — das
ist moralisch, vernünftig und notwendig. Worin zeit¬
weise nun das Heil der Gesellschaft besteht, wird durch
Gesetz bestimmt. Mit der faktischen Welt stimmt die
sozialdemokratische Moraltheorie überein, sie anerkennt
im politischen Staat den berechtigten Wächter und
Hüter der Sittlichkeit, aber fühlt sich auch berufen, dem
Staat auf die Finger zu sehen, daß er nicht aus einer
vergänglichen und veränderlichen Institution einen
ewigen und heiligen Popanz mache, daß er nicht statt
dem sittlichen Fortschritt eine unsittliche Reaktion,
statt kommunistischer Moral egoistische Laster trei¬
be. Indem die Sozialdemokratie alle Privatinteressen
dem Allgemeinen, der sozialistischen Organisation unter¬
ordnet, bekundet sie wahre, echte Moral ...« [a.a.O.,
S. 153]
399
Neukantianer

EDUARD BERNSTEIN

Kritik der Ethik und ethische Tendenzen bei Marx:

»... Auch in den späteren Schriften von Marx und


Engels wird jede direkte Anrufung moralischer Motive
geradezu vermieden. Professor Sombart hat daraufhin
als das unterscheidende Merkmal des marxistischen
Sozialismus dessen >antiethische Tendenz< bezeichnet —
ein unseres Erachtens nicht sehr glücklich gewählter
Ausdruck ..der aber in der Bedeutung, wie Sombart
ihn gebraucht, d. h. als Bezeichnung für den Gegensatz
gegen die Ableitung des Sozialismus aus ethischen Prin¬
zipien, sachlich durchaus zutrifft. In der Marxschen
Theorie wird nirgends auf die Ethik zurückgegriffen.
Im Gegenteil. Wiederholt wird die Ethik geflissent¬
lich nur zu dem Zweck herangezogen, um ihre Unzu¬
länglichkeit nachzuweisen. Im Kapital wird der Kauf
und Verkauf der Ware Arbeitskraft, wo der Arbeiter
>seine Haut zu Markte trägt«, als ein Akt bezeichnet, bei
dem >Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham«
herrschen (Bd. I, S. 184), und vom Umstand, daß dabei
die Arbeitskraft mehr produzieren kann, als ihre Er¬
haltung den Käufer kostet, gesagt, dies sei >ein besonde¬
res Glück für den Käufer, aber durchaus kein -Ä Unrecht
gegen den Verkäufer« ... Engels erklärt im Vorwort zur
deutschen Ausgabe des Elends der Philosophie die Ab¬
leitung der kommunistischen Forderungen aus der Tat¬
sache, daß der Arbeiter im Lohne nicht den Gegenwert
der von ihm geleisteten Arbeit erhalte, für ökonomisch
formell falsch, weil sie >einfach eine Anwendung der
Moral auf die Ökonomie« sei ...

400
Mit dieser abweisenden Haltung der Theorie steht
nun die Praxis des Marxismus in anscheinend unver¬
söhnlichem Widerspruch. Niemand wird bestreiten
können, daß das Kapital überreich an Wendungen ist,
denen ein moralisches Urteil zugrunde liegt. Schon
die Bezeichnung des Lohnverhältnisses als eines Aus-
beutungsverhältnisses unterstellt ein solches, da der
Begriff der Ausbeutung, wo es sich um Charakterisierung
der Beziehungen von Mensch zu Mensch handelt, stets
den Makel unberechtigter Aneignung, der Übervortei¬
lung, einschließt. In anerkannten Popularisierungen
aber wird der Mehrwert kurzerhand als Prellerei, Dieb¬
stahl oder auch Raub gebrandmarkt.
Der kapitalistische Unternehmer erscheint ... als der
Aneigner von Mehrwert, der ihm nicht gebührt, der
Arbeiter ... als um einen Teil des ihm Zukommenden
gekürzt. Gelegentlich wird dann wohl hinzugefügt, daß
der Erstere nicht persönlich für diese Aneignung zu
tadeln ist, sondern nur tue, wozu er nach Lage der
Verhältnisse, die er nicht geschaffen, berechtigt sei; aber
gerade in dieser Entschuldigung liegt der Gedanke ein¬
geschlossen, daß die Aneignung von Mehrwert im
Grunde ein Unrecht ist. Die ökonomische Objektivität
der Mehrwertslehre besteht denn auch nur für die
abstrakte Untersuchung. Sobald es zu ihrer Anwendung
kommt, stellt sie sich vielmehr sofort als ein ethisches
Problem dar, wie denn die Masse sie auch immer wieder
moralisch auffaßt. Letzteres gilt übrigens von der gan¬
zen Arbeitswerttheorie. So wird die an ihr von den
Bekennern der Nützlichkeits-(Grenznutzen-)Werttheo-
geübte Kritik von vielen ihrer sozialistischen Ver¬
teidiger völlig moralisch behandelt, d. h. mit einem
sonst unmotivierten Aufwand von sittlicher Entrüstung
zurückgewiesen. Sie sehen in ihr nur den Versuch, die
moralische Fragwürdigkeit des Mehrwerts zu verdun-

401
kein. Umgekehrt wird die Arbeitswerttheorie von vielen
Verteidigern der bestehenden Gesellschaftsordnung
lediglich wegen der Kompromittierung des Mehrwerts
bekämpft ...« [Das realistische und das ideologische
Moment im Sozialismus, »Die Neue Zeit«, XVI. Jg.,
II. Hbb., S. 390 f.]

Die Rolle der Idee der Gerechtigkeit in der Arbeiter¬


bewegung:

»In der Tatsache der Mehrarbeit liegt an sich noch kein


Anreiz, eine Änderung der Produktionsweise zu erstre¬
ben. Anders mit dem Mehrwert. Erfährt der Arbeiter,
daß er im Lohne unter keinen Umständen den FTert
seiner Arbeitsleistung erhält, so wird damit direkt sein
natürliches Gerechtigkeitsgefühl heraus gefordert, denn
im Wertbegriff liegt ein moralisches Element eingeschlos-
sen, eine Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellung. Hier
hegt die nächste Erklärung für die Auflehnung der
Gemüter gegen die Mehrwertsaneignung. Diese Auf¬
lehnung kann sicherlich zugleich der Ausdruck oder das
Produkt der Überlebtheit des Systems der Lohnarbeit
sein, aber sie braucht es nicht zu sein. Daß das System
überlebt sei, war vor 60 Jahren eine bloße Annahme
oder, wenn man will, Vorwegnahme, und doch war
unter den englischen Arbeitern das Verlangen nach
seiner Beseitigung sehr stark. Im sittlichen Bewußtsein
der Massen liegt je nachdem mehr oder weniger wie ein
Symptom wirtschaftlicher Entwicklung. Die sittlichen
Begriffe sind dauernder als diese Entwicklung und bis
zu einem gewissen Grade — eben weil sie konservativ
sind — auch unabhängig von ihr. Stärker als Marx und
Engels dies zugeben, gilt dies u. a. vom Begriff des
Gerechten. (Gegen den Satz von Marx, daß die heutige
Verteilung der Produkte >die einzig gerechte Verteilung

402
auf Grundlage der heutigen Produktionsweise< sei, be¬
merkt Ph. Lotmar in seiner höchst lehrreichen Abhand¬
lung über die Gerechtigkeit, daß Marx da mit >gerecht<
nur >rechtmäßig< oder >rechtlich entsprechend< meine.
Vom Standpunkt der aristotelischen Auffassung der
Gerechtigkeit als verhältnismäßiger Gleichheit, den
Lotmar akzeptiert, könne die Verteilung trotzdem un¬
gerecht sein ...)
Die Gerechtigkeit ist denn auch heute noch ein sehr
starkes Motiv in der sozialistischen Bewegung, wie ja
überhaupt keine andauernde Massenaktion ohne mora¬
lische Antriebe stattfindet ...« [a.a.O., S. 592f.]
»Der marxistische Sozialismus unterscheidet "'"sich
nicht dadurch von anderen sozialistischen Theorien, daß
er völlig frei wäre von jeder Ideologie. Das ist keiner
auf die Zukunft gerichteten Lehre gegeben. Ohne
Ideologie hört überhaupt jede weitblickende Reform¬
tätigkeit auf. Der Marxismus hat das Fundament der
sozialistischen Theorie der Ableitung aus vorgefaßten
Ideen und damit der willkürlichen Konstruktion ent¬
zogen und es auf den soliden Boden einer realistischen
Geschichtsbetrachtung gestellt, die in ihren Hauptzügen
unwiderlegt geblieben ist. Daß ihre Begründer in allen
Einzelheiten die einzig zulässigen Konsequenzen aus ihr
gezogen, daß die von ihnen gezogenen Folgerungen für
alle Zeiten unbeschränkte Geltung haben würden,
haben sie nie behauptet. Es war nur natürlich, daß sie
u. a. in ihrem Kampfe gegen die damals übliche ma߬
lose Überschätzung der moralischen Anschauungen zur
Unterschätzung derselben gedrängt wurden. Tatsäch¬
lich ist die Moral eine zwar nicht unter allen Umständen,
aber doch häufig, zwar nicht unbegrenzt, aber doch in
weiter Sphäre schöpferischer Wirkung fähige Potenz,
und es läßt sich an zahlreichen Beispielen beweisen,
daß schon die Moral der entwickelten bürgerlichen
405
Gesellschaft durchaus nicht identisch ist mit der Moral
des Bourgeois, wie er im Buche steht. Wer nicht von
einem jähen Sprung in die kommunistische Gesellschaft
träumt, wird daher, wie die Durchsetzung wirtschaft¬
licher Reformen, so auch die Weiterbildung der Moral¬
und Rechtsanschauungen nicht als eine Sache betrach¬
ten, die lediglich der Zukunft anheimfällt ...« [a.a.O.,
S. 395]

FRANZ STAUDINGER (SADI GUNTER)

Historischer Materialismus und Ethik:

»>Wir haben nicht im Sinne, eine Absicht zu entdecken


oder eine Wertschätzung zu formulieren; nur die tat¬
sächliche Notwendigkeit werden wir klarmachen« [An¬
tonio Labriola Socialisme et Philosophie, Paris 1899,
S. 121 f.] Mit dieser Formulierung ist, soviel wir sehen
können, das Problem des historischen Materialismus so
scharf abgegrenzt, wie es überhaupt möglich ist. Die
>Materie<, die zu untersuchen ist, ist weder ein meta¬
physischer Begriff noch ein chemisches, physikalisches
oder biologisches Theorem. Es ist ein Produkt mensch¬
lichen Wollens und Tuns, aber es ist nicht das Produkt
individuellen Wollens und Tuns, sondern desjenigen
Wollens und Tuns, das gesellschaftliche Beziehungen
schafft. Und auch nicht in diesem Wollen selbst, nicht
in dem Komplex der menschlichen Absichten und Wert¬
urteile besteht der Gegenstand der Untersuchung,
sondern in den objektiven kausalen Zusammenhängen
dieses Tuns, sofern sie sich in den wirtschaftlichen Ord¬
nungen ausdrücken, sofern sie ihrerseits dem bewußten
Wollen als Ausgangspunkt und Grundlage dienen und
es in seiner Eigenart bestimmen. Das ist ... die Grund¬
lage des historischen Materialismus. Und darum hat

404
i Labriola recht, wenn er, solange er untersucht, von Ab-
s sichten und Wertschätzungen absehen will. Aber dann
j müßte sogar der Gedanke, daß Entwicklung zur > Ver-

i
4 vollkommnungi führt, den man auch bei Labriola öf-
ters findet, wegbleiben. Denn dieser Gedanke schließt
eine FFertschälzung ein und hat mit der Untersuchung
U der Entwicklungstatsachen als solcher nichts zu tun.
1 Ebenso aber ist die Frage davon zu trennen, ob und wie
i weit der bewußte Wille auf künftige Entwicklung Ein-
1 fluß üben kann. Denn auch er enthält Würdigungen
i von richtig und unrichtig, gut und schlecht. Ist nun
i auch sicherlich das Material zu solchen Würdigungen
) durch die Tatsachen an die Hand gegeben, so sind sie
) doch selbst in ihrem Charakter als Würdigungen nicht
i daraus abzuleiten; denn in dem historischen Materialis¬
mus liegt zugestandenermaßen keine Würdigung.
Hier beginnt der Punkt, an dem wir uns mit Labriola
auseinandersetzen müssen, denn hier arbeitet er zwei
verschiedene Gedanken vorschnell ineinander. Aber
nicht allein bloß Labriola, sondern die meisten Soziali¬
sten, Marx und Engels nicht ausgeschlossen ... Die Ver¬
mengung, die wir im Auge haben, ist eben derart, wie
es eine Vermengung der Biologie mit der Chemie sein
würde, ohne daß beide zuvor nach den ihnen eigenen
Methoden gesondert untersucht wären ... Die Biologie
fragt, unter welchen kausalen Bedingungen der Orga¬
nismus entsteht; der Chemie ist das ganz gleichgiltig,
sie fragt, aus welchen Zusammensetzungen er besteht...
Erst dann, wenn beide Wissenschaften zunächst nach
ihren eigenen Methoden gearbeitet haben, kann die
komplexe Frage mit Erfolg in Angriff genommen
werden, wie die chemischen Verbindungen sich beim
Entstehen zusammenfinden und modifizieren. Dann
erst können die beiden Wissenschaften einander för¬
dern ...
405
Genau dasselbe Verhältnis, wie es zwischen Biologie
bzw. Physiologie und Chemie besteht, findet auch
zwischen Geschichte und Ethik statt. Die Geschichte stellt
nach der Methode des historischen Materialismus das
Werden der Gesellschaft dar, ohne nach dem Willen,
den Werturteilen der Menschen, die Geschichte machen,
zu fragen. Die millionenfachen Zusammenstöße und
Verflechtungen menschlichen Willens, die im Ergebnis,
im Tun zu Tage treten, sind ihr gleichgiltig. Sie fragt
nur nach dem objektiven Zusammenhang der Ergeb¬
nisse selbst. Der Ethik dagegen liegen zunächst diese
Ergebnisse und ihr historisch kausaler Zusammenhang
seitab. Sie untersucht die Gesetze des Willens und des
Zusammenhangs zwischen Ziel und Wille und berück¬
sichtigt das Ergebnis, das Tun nur insofern, als es eben
Ziel bzw. Folge des Willens ist. Nach dieser inneren
Gesetzlichkeit des Willens schaffen wir ... ohne Unter¬
laß unbewußt, seit wir Bewußtsein haben. Das klingt
widersprechend, ist es aber doch nicht in höherem Grade,
als daß der Mensch bewußt nach den Gesetzen der
Optik sieht, ohne sich dieser Gesetze selbst bewußt zu
sein ... Aber bekanntlich ist es eine noch unvollkommene
Stufe, wenn wir empirisch etwas tun und uns der
Gesetzlichkeit dieses Tuns wissenschaftlich nicht bewußt
sind; die Sicherheit in der Handhabung dieser Gesetze
beginnt erst, wenn wir ihrer Herr werden. Gerade auf
der Tatsache, daß der historische Materialismus die
unbewußt waltenden Gesetze des ökonomischen Wer¬
dens dar gelegt hat, beruht ja seine Hoffnung, die
Gestaltung der Gesellschaft in Zukunft rationell beein¬
flussen, an Stelle des Reichs der Notwendigkeit ein Reich
der Freiheit setzen zu können. Vielleicht wird hier je¬
mand ein wen den: nicht auf dieser Erkenntnis, sondern
auf den Tatsachen der heutigen ökonomischen Entwick¬
lung beruhe diese Hoffnung; aber wenn die heutige

406
ökonomische Entwicklung jene Erkenntnis nicht produ¬
ziert hätte oder sie nicht zum Gemeingut zu machen
vermöchte, so würde das Menschengeschlecht trotz allem
blindlings weitertaumeln zu neuen Entwicklungen,
ohne sie selber mit vernünftigem Willen beherrschen
zu können.
Wenn nun der historische Materialismus uns die Ent¬
wicklung der Gesellschaft wissenschaftlich begreifen
lehrt, so liegt ihm damit doch die Erkenntnis in die
Chemie des Willens ... noch nicht offen vor. Diese
Chemie wendet er nach wie vor in alter Weise empirisch
an bei seinen Würdigungen und Zielbestimmungen; und
wesentlich mit daher, wie wir glauben, konnte in neue¬
rer Zeit eine eklektische Sturzwelle, in der alle mög¬
lichen alten und neuen Ideen bunt durcheinander¬
wirbeln, dem Außenstehenden den Anschein einer Zer¬
setzungskrise erwecken. Aus der Gesetzlichkeit des
Werdens läßt sich die Theorie der Würdigung nicht ent¬
nehmen; aus der bloßen Empirie, den Bedürfnissen nach
Änderungen des Gegebenen springen sie nur unbewußt
hervor. Das wissenschaftliche Bewußtsein ihrer inneren
Gesetzlichkeit muß daher notwendigerweise erworben
werden ...« [Antonio Labriola und die Ethik, »Die
Neue Zeit«, XVIII. Jg., II. Hbb., S. 558ff.]
»Freilich Wissenschaft muß die Chemie des Willens
sein, sich als solche erweisen, ehe sie berechtigt ist, Ein¬
fluß zu üben ... Und so ist durchaus verständlich, wenn
der historische Materialist angesichts der weitaus meisten
Leistungen der philosophischen Ethik mißtrauisch ist...
Wenn darum Labriola mit Schärfe wiederholt gegen
die absolute Philosophie ... auftritt, so hat er völlig
recht. Wenn er aber glaubt, daß von der Philosophie nur
die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen, die for¬
male Logik und Dialektik übrigbleibt (nach Engels’
Anti-Dühring), so ist eine Wissenschaft vergessen oder
407
verkannt: eben jene Chemie des Willens, die Ethik. Hier¬
gegen sträubt er sich mit den heutigen Sozialisten. Es
wird bemerkt, daß in der Entwicklung jeder Zeit, jede
Klasse inhaltlich eine eigene Ethik besitzt, und man
schließt vorschnell daraus, die Ethik sei ihrem inneren
Bestände nach nichts als die Summe sittlicher An¬
schauungen und Gebote, die das Tun der Individuen
unter jeweiligen Verhältnissen zu bestimmen suchen.
Und nun glaubt man, eine vorgebliche wissenschaftliche
Ethik wolle entweder das Gemeinsame all dieser sitt¬
lichen Formen zusammenstellen, oder wahrscheinlicher
eine über den Wolken schwebende Ethik gründen ...«
[a.a.O., S. 560]

Die wissenschaftliche Ethik als ideale Ergänzung des


historischen Materialismus:

»So ist auch die Ethik, wenn sie wissenschaftlich und


nicht Gerede über Lust und Unlust und dergleichen
sein soll, formal ... Alle solche Urteile, wie sie der
Sozialismus sowohl den historischen Taten als den Taten
und Absichten unserer Zeit tausendfach zuteil werden
läßt, können zwar in ihrer bestimmten Eigenart nur
auf einer bestimmten Entwicklungsstufe gefällt werden,
ihr Geltungswert aber ist nicht aus dem Gesetz der Ent¬
wicklung, sondern aus dem Gesetz des bewußten Willens
selbst abzuleiten, ebenso wie der Lehrsatz des Pytha¬
goras nicht aus der genauesten Einsicht darin, daß er
gerade auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ent¬
deckt werden mußte, sondern aus der der Geometrie
immanenten Gesetzlichkeit zu beweisen ist. Gehen wir
weiter und stellen wir den Satz auf, daß auf jeder ge¬
gebenen Entwicklungsstufe sämtliche Handlungen, die
einander widersprechen, unvernünftig sind, sofern man
einsehen muß, daß sie untereinander nicht stimmen

408
und daß sie unrichtig sind, sofern sie bloß tatsächlich
nicht stimmen, so haben wir negativ ein Gesetz aus¬
gesprochen, das positiv ausgedrückt dahin geht, daß nur
der auf systematische Übereinstimmung menschlicher
Handlungen überhaupt gerichtete Wille vernünftig, nur
eine solche Übereinstimmung menschlicher Handlun¬
gen objektiv richtig sei. Daraus ergibt sich, daß nur eine
solche allgemeine Ordnung menschlicher Handlungen,
welche ein vernünftiges Handehr der einzelnen ermög¬
licht, vollkommen, eine Ordnung, die dies nicht tut,
unvollkommen sei. Und daraus ergibt sich ferner, daß
nur ein Wille, der auf eine solche Ordnung (einen
solchen Monismus des Handelns) hinstrebt, wirklich
allgemein vernünftig sein kann, daß aber ein Wille, der
unter Nichtachtung solchen Zieles seine Separatgelüste
durchsetzen will, unvernünftig im eigentlichen Sinne
handelt. Letzteren Willen nennen wir böse, ersteren
gut. Die Beziehung auf eine Ordnung des Lebens macht
erst den Willen sittlich oder unsittlich. Und so war es
unbewußt auch bisher. Aber bisher bestimmte die be¬
stehende Ordnung das Urteil. Daher war jede Neu¬
entwicklung blind, das Resultat von vernunftlosen
Kämpfen. Anders nach der wissenschaftlichen Ethik.
Was aber gut oder böse ist im inhaltlichen Sinne, läßt
sich nach ihr nicht ein für allemal bestimmen ... In
diesem Sinne sagt Joseph Dietzgen ... >Die Moral ist der
summarische Inbegriff der verschiedensten einander
widersprechenden sittlichen Gesetze, welche den ge¬
meinschaftlichen Zweck haben, die Handlungen des
Menschen gegen sich und andere derart zu regeln, daß
bei der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem Einen
das Andere, neben dem Individuum auch die Gattung
bedacht sei.< Dieser Satz ist vollständig richtig; und er
ist — man wolle nicht erschrecken — der kategorische
Imperativ Kants, in etwas anderen Worten ausgedrückt,

409
j ener formale Imperativ, den F. Engels in seinem Feuer¬
bach so nichtachtend seitab wirft ... Kants Imperativ
lautet bekanntlich: >Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte< (Kritik der praktischen
Vernunft § 7). (Wenn wir Kant hier anführen, der nach
Sokrates-Plato den ersten wesentlichen Fortschritt in
wissenschaftlicher Erfassung der Ethik gemacht hat ...
so geschieht dies nicht etwa, um ihn zu glorifizieren,
sondern weil wir ... allerdings der Ansicht sind, daß
_ ebenso wie der Weg vom Liberalismus nicht bloß
historisch, sondern auch logisch zum Sozialismus führt
— der fVeg von der konsequenten liberalen Ethik Kants
zur heute angebahnten wissenschaftlichen sozialistischen
Ethik führt. Nicht darum handelt es sich, ob Kant schon
irgendwie sozialistische Ideen gehabt hat, sondern ob
seine Ethik der Ausgangspunkt zu einer sozialistischen
Ethik tatsächlich sein kann ...) In dem Wort Maxime
liegt der Gedanke der Tendenz zur Gesetzlichkeit ebenso
stark aus gedrückt wie in Dietzgens Worten >welche den
Zweck haben< ... Die Moral ist nichts, was als solches
existiert, sondern ein Gesetz, das gilt, eine Beurteilungs¬
art menschlichen Wollens und Handelns.« [a.a. 0.,
S. 586ff.]
»Aus solcher Gesetzlichkeit des Willens aber folgt ...
daß nur die Selbsttätigkeit des Menschen solche Ordnung
schaffen kann, daß sie nicht von selber entsteht ... Dazu
gehört aber, daß der Mensch frei wollen könne. Und
dies enthält zweierlei, erstlich, daß die Erkenntnis der
obengenannten Bedingungen vernünftiger Ordnung
überhaupt vorhanden ist, zweitens die äußere Möglich¬
keit für die Volksmassen, solche Erkenntnis zu erwerben
und in Anwendung zu bringen. Marx sagt einmal, das
Geheimnis des Wertausdrucks könne erst entdeckt
werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit

410
die Festigkeit eines Volks Vorurteils besitze. Ganz ebenso
konnte auch die Bedingung allgemein menschlicher
Freiheit erst dann entdeckt werden, als wenigstens die
Forderung äußerer Freiheit aus den gesellschaftlichen
Lebensbedingungen hervorleuchtete. Das war gerade zu
Kants Zeit der Fall. Wohl ist sie bei Kant noch meta¬
physisch verschleiert ... aber ausgesprochen war sie
bereits in voller Konsequenz des damals herrschenden
Glaubens, daß die bürgerliche Verfassung jedermanns
Freiheit gewährleiste. Und wie der Sozialismus in ver¬
schiedener Hinsicht auf diesem damaligen Glauben
fußen und ilm gegen die heutigen Anhänger des libera¬
len Systems ins Feld führen muß, so findet er auch bei
Kant den methodischen Anknüpfungspunkt zur wissen¬
schaftlichen Begründung einer ganzen Reihe ihm eigen¬
tümlicher und notwendiger Gedanken.
Der Sozialismus erstrebt an Stelle der Kapitalherr¬
schaft, die trotz aller scheinbaren Freiheit den Nicht¬
besitzenden zum Arbeitsmittel der Besitzenden macht,
damit dessen Kapital sich verwerte, einen Zustand, in
dem Arbeitsgemeinschaft herrscht, d. h. in dem jeder
als freier Mensch zugleich den anderen dienen und von
diesen nach gemeinschaftlicher Regel gefördert wird.
Kants Satz, daß ein Mensch dem anderen niemals bloß
Mittel, sondern stets zugleich Selbstzweck sein müsse,
sagt ganz dasselbe, freiüch ohne die materielle Be¬
stimmtheit, die heute möglich ist.
Und dieser Satz folgt logisch aus der Gesetzlichkeit
vernünftiger Ordnung. Denn eine solche läßt sich nicht
hersteilen, so lange ein vernünftiges Wesen das andre
als bloßes Mittel zu seinen Zwecken benützen kann.
Daß heute erst die historische Möglichkeit gegeben ist,
diese Bedingung zu erkennen und erfolgreich nach
ihrer Verwirklichung zu streben, ist richtig. Ihrer
Geltung nach aber begründet sich diese Forderung nicht

411
aus der Entwicklung, sondern nur aus der Forderung
des Zusammenhanges der Ziele freier Menschen. Die Ent¬
wicklung als solche bietet keine Forderungen und keine
Maßstäbe ihrer Beurteilung dar ...« [a.a.O. H, S. 589]

NIKOLAI BERDJAJEW

Apriorische Moral mit historisch-psychologisch bedingtem


Inhalt:

»Die wissenschaftliche Ethik kann die Moral nur als


Anpassung des Individuellen an das Typische auffassen;
sie sieht die Quelle der Moral nicht in der Spekulation
des Menschen auf einen größeren oder kleineren Vor¬
teil, ein größeres oder kleineres Vergnügen, sondern in
einer außerhalb des Menschen liegenden Lebensord¬
nung, die ihn mächtig nach dieser oder jener Seite
drängt. Die materialistische Geschichtsauffassung gibt
eine prächtige Erklärung des Altruismus und alles Ideel¬
len im menschlichen Leben, ein Problem, mit dessen
Lösung sich der berühmte Aufklärer des 18. Jahr¬
hunderts, Helvetius, trotz aller Anstrengungen vergeb¬
lich abgemüht hatte. Uns will es scheinen, daß es nicht
nur falsch ist, den persönlichen Egoismus als Grund¬
stein der Moral zu setzen, sondern daß dasselbe auch
für den Klassenegoismus gilt. Vor allen Dingen ist
>Klassenegoismus< ein figürlicher Ausdruck; das Wort
Egoismus verliert hier seinen spezifischen Sinn, aber
auch dieser figürliche Ausdruck eignet sich nur für die
ersten Stadien der Entwicklung des Klassenbewußtseins.
Auf den höheren Stufen der Entwicklung beginnt die
Klasse sich als Trägerin der Idee des allgemein mensch¬
lichen Fortschritts zu fühlen und ihr Kampf erlangt
Weltbedeutung ... In einer Klassengesellschaft trägt die
Moral immer Klassencharakter; die Moral der progres-

412
siven Klasse, der Klasse der Zukunft aber, ist immer das
Produkt der Anpassung an die Forderungen des welt¬
historischen Fortschritts. Eine solche Klasse bildet in der
gegenwärtigen Gesellschaft das Proletariat; seine durch
besondere Bedingungen seines gesellschaftlichen Lebens
geschaffene Moral ist fortschrittlich und allgemein
menschlich. Die Psychologie der Arbeiterklasse ist 50

geartet, daß ihre moralische Tätigkeit sich mit den all-


gemeingiltigen ethischen Normen deckt. Wir erkennen
den Apriorismus des Sittengesetzes, der dasselbe für alle
bindend und ethisch allgemeingiltig macht, an; es
wurzelt im allgemeinen transzendentalen Bewußtsein,
aber der Inhalt der Moral, das individuelle sittliche
Bewußtsein wird durch das soziale Dasein des Menschen
bedingt und ist beständigen Veränderungen unter¬
worfen. Die Moral steht ethisch über den Klassen,
psychologisch aber erweist sie sich immer als Klassen¬
moral ...« [F. A. Lange und die kritische Philosophie,
»Die Neue Zeit«, XVIII. Jg., II. Hbb., S. 200f.]
»Einen besonderen Reiz verleiht dem Marxismus die
harmonische Verbindung des Objektiven mit dem Sub¬
jektiven. Als wissenschaftliche Weltanschauung ist der
Marxismus streng objektiv; als Weltanschauung des
Proletariats ... ist er subjektiv. Nur der philosophische
Kritizismus kann sowohl dem Subjektiven wie dem
Objektiven unserer Weltanschauung den richtigen
Platz anweisen. Dieser Subjektivismus ist ein rein
psychologischer und wird durch das gesellschaftliche
Milieu ausgebildet, in dem der Mensch sich bewegt ...
Dieser psychologische Subjektivismus muß als unver¬
meidliche Tatsache anerkannt werden; hier wurzelt der
Klassencharakter des Marxismus. In welcher Beziehung
steht er nun aber zum wissenschaftlichen, logischen
Objektivismus? In der Logik, die nur mit den Kategorien
der Erkenntnis zu tun hat und die Psychologie völlig
413
ignoriert, ist das subjektiv, was falsch ist, wahr kann also
nur das Objektive sein. Der wissenschaftliche, logische
Objektivismus kann prinzipiell nur auf dem Boden der
jeden Subjektivismus (außer dem psychologischen) aus¬
schließenden kritischen Philosophie begründet werden.
Objektiv wahr nennt die Erkenntnistheorie das All-
gemeingiltige, das, was nicht anzunehmen logisch un¬
zulässig ist. Die Frage ist also so zu stellen: Unter
welchen Bedingungen widerspricht der unvermeidliche
menschliche Subjektivismus nicht den Forderungen des
wissenschaftlichen Objektivismus? Mit Marx sind wir
geneigt zu glauben, daß die Psychologie (der Subjekti¬
vismus) jeder fortschrittlichen gesellschaftlichen Klasse
den günstigen Boden für ein (im wissenschaftlichen
Sinne) objektives Verhalten zu den Erscheinungen vor¬
bereitet. Eine solche Klasse ist, wie wir schon wiederholt
bemerkten, in der kapitalistischen Gesellschaft das
Proletariat. Nur das Proletariat hat kein Interesse an
der Fälschung der Wahrheit, kann ihr kühn ins Auge
blicken, weil es nichts zu fürchten hat. Für das Proleta¬
riat arbeitet die Notwendigkeit des sozialen Prozesses,
bei ihm deckt sich das individuell-psychologische mit dem
transzendentalen logischen und ethischen Bewußtsein, und
darum bringt es in seinem Denken die Wahrheit und in
seiner Tätigkeit das sittliche Gute ...«[a. a. 0., S. 203 f.]

PETER VON STRUVE

Das sozialistische Ideal (Utopie) als unaufgebbarer auto¬


nomer Bestandteil des Sozialismus:

»Jeder Sozialist geht von dem Sozialismus als dem


moralisch-politischen Ideal aus; er ist ihm die regula¬
tive Idee, an welcher die einzelnen Tatsachen und

- 414
Handlungen ethisch-politisch gemessen und bewertet
werden. Und nicht anders ist es auch mit einer Klasse,
die, in einer Partei organisiert, als ethisch-politisches
Subjekt nach außen und innen hin einheitlich auftritt.
Die sozialdemokratische Bewegung muß von einem End¬
ziel ideal beherrscht werden oder — sie wird sich auf-
lösen. Der Glaube an das Endziel ist die Religion der
Sozialdemokratie und diese Religion ist keine >Privat-
sache<, sondern die wichtigste öffentliche Angelegenheit
h^r Partei ... Einzelne Sozialisten können an dem
Klassenkampf verzweifeln und bürgerlich-sozialistisch,
regierungs-sozialistisch, kirchen-sozialistisch und was
noch mehr werden, die als Partei organisierte Klasse
oder die als Klasse sich fühlende Partei kann dies nie
tun, ohne der Auflösung zu verfallen. Der Klassenkampf
ist ihr Dasein, über welches man nicht diskutiert. So¬
weit also >Marxismus< den auf das sozialistische Endziel
gerichteten Klassenkampf bedeutet, ist er, ob richtig
oder unrichtig, gar nicht aufzugeben ...« [Die Marxsche
Theorie der sozialen Entwicklung, »Archiv für soziale
Gesetzgebung und Statistik«, 1899, Bd. XIV, S. 698f.]
»Man kann den entwicklungsgeschichtlichen Utopis¬
mus nicht einfach amputieren, auch wenn man über
schärfere geistige Instrumente als Bernstein verfügt.
Er ist dafür zu tief in das sozialdemokratische Bewußt¬
sein eingedrungen. Dies entspricht auch vollkommen
seiner großartigen geschichtlichen Funktion. Es ist ein
rationalistischer Aberglaube, daß nur inhaltlich richtige
oder wahre Ideen fördernd auf das persönliche oder
gesellschaftliche Leben einwirken können. Wissen¬
schaftlich falsche Gedanken können durch ihre psycho¬
logisch bedingte Wirkung auf das gesellschaftliche
Leben einen mächtigen und wohltätigen Einfluß aus¬
üben. Sie können sich in politisch richtigen Handlungen
auslösen ...
415
Die sozialdemokratische Religion kann aber ihren
Inhalt wechseln, insofern sie sozialdemokratisch bleibt.
Und sie wird es. Sie wird mit der Zeit den entwicklungs¬
geschichtlichen Utopismus abstreifen: eine Reihe von
Vorstellungen, die jetzt religiös sind, werden vernichtet
oder durch andere, welche keinen religiösen Charakter
tragen, ersetzt werden. Es wird scheinbar ein Rück¬
schritt stattfinden: an Stelle vernichteter klarer Vor¬
stellungen werden unklare allgemeine Postulate oder
praktische und ich möchte fast sagen, kleinliche Pro¬
grammpunkte treten. Aber so geht die Umwandlung
religiöser oder religionsähnlicher Ideologien immer vor
sich ...« [a.a.O., S. 700f.]
»Bernstein ... hat den entwicklungsgeschichtlichen
Utopismus ganz aufgegeben ... Sein Buch ist ein be¬
deutsames Symptom der Umbildung der sozialdemokra¬
tischen Ideologie, und zugleich — denn Bernstein ist
neben Engels und Kautsky der Mitbegründer der mar¬
xistischen Orthodoxie -— eine moralisch imponierende
Haltung. Aber es braucht Zeit zu wirken ...« [a.a.O.,
S. 701]
»Der wissenschaftliche Sozialismus ist keine Rein¬
kultur der Wissenschaft: als soziales Ideal ist er not¬
wendig eine Verbindung von Wissenschaft und Utopie.
Das Utopische an ihm stammt daher, daß die soziale
Zukunft nicht einfach erschlossen, sondern erstrebt und
erkämpft werden muß. Sie nimmt teil an der Unsicher¬
heit, welche für unser psychologisches Bewußtsein alle
zukünftigen menschlichen Handlungen auszeichnet ...
Je mehr sie aber prädeterminiert ist, je mehr sie in ihrer
geschichtlichen Notwendigkeit auch inhaltlich von uns
erkannt ist, je kleiner also im sozialen Ideal das Feld
des Unsicheren, der Utopie ist, desto besser begründet
ist unser Ideal, desto sicherer sind wir auch des ewig
Unsicheren — unserer Utopie. Hierin liegt die Berechti-

416
gung und die Bedeutung der wissenschaftlichen und
speziell der entwicklungsgeschichtlichen Begründung
des Sozialismus. Dieselbe muß danach streben, soweit
es an ihr liegt, das soziale Zukunftsbild ausschließlich
mit der Farbe der geschichtlichen Notwendigkeit auszu¬
malen ... Sie hat darauf zu sehen, daß ihre Kreise durch
das Hineinspielen der Utopie nicht gestört werden.
Andererseits hat auch die Utopie ihr Recht. Sie ist der
in die Wissenschaft nicht aufgegangene autonome Rest
des sozialen Ideals. Man hilft auch der Utopie zu ihrem
Recht, wenn man eine reinliche Scheidung zwischen ihr
und der Wissenschaft verlangt. Die Utopie soll der
Wissenschaft nicht widersprechen, sonst aber kann und
soll sie autonom sein. Die marxistische Krise als ideolo¬
gische Erscheinung läßt sich zum guten Teil auf die
Verkennung dieser Wahrheit als auf ihren Grund zu¬
rückführen. Man wollte allzu wissenschaftlich sein und
hat vielfach sowohl die Wissenschaft dem Sozialismus
tendenziös untergeordnet, als auch die Würde und den
Wert des Sozialismus von der nach vielen Richtungen
noch zweifelhaften oder ausstehenden wissenschaft¬
lichen Begründung abhängig gemacht. Man vergaß, daß
Sozialismus ein soziales Ideal ist und als solches immer
ein göttliches Recht auf ein gut Stück Utopie besitzt.
Eine Reaktion gegen die orthodoxe Pseudowissenschaft,
welche in sich den ganzen Sozialismus absorbieren will,
konnte nicht ausbleiben. Jedem, der sich als Sozialist
fühlt, ist das Utopische und Revolutionäre an ihm eben¬
so teuer oder noch teurer als das Realistische. Unwahr
ist nur der Utopismus, der sich als Wissenschaft gibt.
Daß Marx und Engels Utopisten und Revolutionäre
waren, macht ihre menschliche und zum guten Teil
auch ihre geschichtliche Größe aus. Aber insofern sie
sich die titanische Aufgabe stellten, das zu vollständiger
Deckung und Einheit zu bringen, was immer und immer
417
eine Einheit zu werden strebt und dazu nie gelangen
kann: das Sein und das Seinsollen, scheiterten sie und
mußten scheitern als Männer der Wissenschaft ...«
[a.a.O., S. 703f.]

MICHAEL TUGAN-BARANOWSKY

Der ethische Selbstwiderspruch des Kapitalismus — Ur¬


sache seines Untergangs:

»Die gesamte Zusammenbruchstheorie ist unbedingt zu


verwerfen. Die kapitalistische Wirtschaft schließt in
sich keine Momente, welche sie auf einer gewissen Stufe
etwa unmöglich machen könnten. Engels meinte in den
vierziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts, daß die
Grenzen der kapitalistischen Entwicklung, wegen
Mangels an neuen Märkten, beinahe erreicht seien und
daß die kapitalistische Produktion sich künftig in lang¬
samerem Tempo ausdehnen müsse. Das war offen¬
kundig eine höchst unglückliche Prophezeiung. Die
kapitalistische Produktion hat seitdem eine ungeheuere
Ausdehnung erfahren — und das hat zu keinen neuen
Schwierigkeiten im Verwertungsprozeß des Kapitals
geführt ... Damit will ich nicht behaupten, daß der
Kapitalismus auf eine unbeschränkte Lebensdauer rech¬
nen kann. Die sozialistische Wirtschaftsordnung scheint
mir vielmehr ein legitimer Erbe der kapitalistischen zu
sein. Die Voraussetzung einer ökonomischen Zwangslage,
die den Kapitalismus sprengen und dem neuen Wirt¬
schaftssystem Platz machen wird, halte ich selbstver¬
ständlich für ausgeschlossen. Aber ich anerkenne das
Vorhandensein im kapitalistischen Wirtschaftssystem
eines unlösbaren inneren Widerspruchs, an dem es mit
eherner (obschon nicht ökonomischer) Notwendigkeit

418
zugrunde gehen muß. Dieser Widerspruch besteht dar¬
in, daß die kapitalistische Wirtschaft aus dem arbeiten¬
den Menschen ein bloßes wirtschaftliches Mittel macht
und zugleich zur Verbreitung der Rechtsauffassung
führt, welche in aller menschlichen Person den höchsten
Zweck an sich erblickt. Das ist also der Widerspruch des
fundamentalen ökonomischen Prinzips des Kapitalismus
mit der fundamentalen ethischen Norm, welche lautet
>Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen
existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel
zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen,
sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als
auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen
jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. < (Kant
Grundlegung der Metaphysik der Sitten.) Die vorher¬
gehenden Ausführungen haben gezeigt, daß der Kapita¬
lismus, semem innersten Wesen nach, gegen diese
höchste ethische Norm verstößt ... Die ökonomische
Entwicklung verbreitet in immer weiteren Bevölkerungs¬
kreisen das Bewußtsein dieser Sachlage und schafft die
Mittel zu ihrer Beseitigung. Das neue soziale Ideal wird
zu einer immer größeren gesellschaftlichen Macht ...
Ein soziales Ideal kann nur dann siegen, wenn es zu¬
gleich den Interessen mächtiger sozialer Gruppen und
dem allgemeinen moralischen Bewußtsein entspricht.
Dann aber muß es siegen. Nun besitzt das sozialistische
Ideal diese beiden Eigenschaften. Es entspricht den
Interessen der Arbeiterklasse — der großen Mehrzahl
der Bevölkerung — und ist zugleich als die fundamen¬
tale Forderung des Naturrechts zu betrachten. >Das an¬
geborene Recht ist nur ein einziges<, hat der größte
Denker der Neuzeit gesagt, und Freiheit (Unabhängig¬
keit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie
mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen
Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ur-

419
sprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit
zustehende Recht< (Kant, a.a.O.). Der Kapitalismus
vereitelt dieses ursprüngliche Menschenrecht; darum
muß er einer besseren und gerechteren Gesellschafts¬
ordnung Platz machen. Die Menschheit aber wird den
Sozialismus nie als ein Geschenk blinder, elementarer
ökonomischer Kräfte erhalten, sondern muß die neue
Gesellschaftsordnung zielbewußt erarbeiten und er¬
kämpfen.« [Theoretische Grundlagen des Marxismus,
Leipzig 1905, S. 236 ff.]

LUDWIG WOLTMANN

Ersatz der entwicklungsgeschichtlichen Ableitung des


Sozialismus durch das ethische Postulat:

»Nachdem früher schon liberale Ökonomen und die un¬


abhängigen Sozialisten auf die Irrtümer dieser Theorie
hingewiesen hatten, ist sie neuerdings von E. Bernstein
einer erschütternden Kritik unterzogen worden, indem
er nachwies, daß die Akkumulation des Kapitals, die
Konzentrierung der Betriebe, die Proletarisierung der
Massen, also die ökonomischen Voraussetzungen des
Untergangs der kapitalistischen Produktionsweise, nicht
in dem Maße und mit der Schnelligkeit eingetroffen
sind, wie Marx es voraussetzte. Die kapitalistische
Gesellschaft beginnt sich zu konsolidieren, die Produk¬
tion zu regeln, die Auswüchse der Konkurrenz auszu¬
schalten, den Weltmarkt zu übersehen — alles natür¬
lich in ihrem Interesse. Die Produktions- und Eigen¬
tumsverhältnisse passen sich schrittweise den Produk¬
tivkräften an, und man weiß nicht, wie weit es der
Kapitalismus in der Entwicklung seines organisatori¬
schen Talents bringen wird, so daß hiernach die histo-

420
rische Tendenz des kapitalistischen Zusammenbruchs
überhaupt in Zweifel gezogen werden müßte.« [Der
historische Materialismus, 1900, S. 422]
»War es auf der einen Seite die Überschätzung der
technischen Revolution, so hat andererseits der Schema¬
tismus der Hegelschen Dialektik seinen Teil zu den
Formulierungen der Zusammenbruchstheorie beigetra¬
gen und Marx zu einer nebulösen Ideologie verleitet ...
an der harten Erfahrung werden schließlich die letzten
Reste der Hegelschen Dialektik zerschellen ... Was die
Zukunft des Sozialismus betrifft, so wird er von den
Marxisten als eine ökonomische Notwendigkeit hin¬
gestellt derart, daß er den Kapitalismus nach denselben
unabwendbaren Gesetzen der ökonomischen Entwick¬
lung ablösen müsse, wie dieser den Feudalismus, wäh¬
rend die Idealisten in ihm eine ethische und kulturelle
Notwendigkeit sehen. Man meint, daß eine Entwick¬
lungsphase der kapitalistischen Produktionsweise ein-
treten werde, wo aus technisch-ökonomischen Ur¬
sachen die sozialistische Gesellschaft den Menschen sich
unweigerlich aufzwingen müsse, nachdem die Einsicht
in die Unsinnigkeit des Kapitalismus sich ebenso not¬
wendig eingestellt habe. >Sie kommt von selbst. < (Bebel)
Es handelt sich in diesen gegensätzlichen Ansichten
in letzter Instanz um das theoretische und praktische
Verhältnis der Ethik zur Ökonomie. Engels schreibt dar¬
über: >Die obige — sozialistische — Nutzanwendung
der Ricardoschen Theorie, daß den Arbeitern, als den
alleinigen wirklichen Produzenten, das gesamte gesell¬
schaftliche Produkt gehört, führt direkt in den Kom¬
munismus. Sie ist aber, wie Marx ... andentet, ökono¬
misch formell falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung
der Moral auf die Ökonomie. Nach den Gesetzen der
bürgerlichen Ökonomie gehört der größte Teil des
Produkts nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben.
421
Sagen wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so
geht das die Ökonomie zunächst gar nichts an. Wir
sagen bloß, daß diese ökonomische Tatsache unserem
sittlichen Gefühl widerspricht. Marx hat daher nie seine
kommunistischen Forderungen hierauf begründet, sondern
auf den notwendigen, sich vor unseren Augen täglich
mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der
kapitalistischen Produktionsweise; er sagt nur, daß der
Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine ein¬
fache Tatsache ist. Was aber ökonomisch formell falsch,
kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt
das sittliche Bewußtsein der Masse eine ökonomische
Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder die Fron¬
arbeit, für unrecht, so ist das ein Beweis, daß die Tat¬
sache selbst sich schon überlebt hat, daß andere ökono¬
mische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene un¬
erträglich und unhaltbar geworden sind.< (Vorwort zu
Das Elend der Philosophie von K. Marx, Berlin 1947,
S. 15.) In diesen Sätzen wird trotz der Anerkennung des
relativen Wertes des sittlichen Gefühls die Notwendig¬
keit des Sozialismus als eine technisch-ökonomische auf¬
gefaßt. Engels spielt hier mit dialektischen Begriffs¬
gegensätzen. Einmal wird das sittliche Bewußtsein als
ökonomisch formell falsch <, dann aber wieder als welt¬
geschichtlich richtig< anerkannt. In den wissenschaft¬
lichen Abstraktionen mag man zwischen Ethik und
Ökonomie begrifflich trennen und ihre Gegensätze dia¬
lektisch tanzen lassen, aber die Praxis des gesellschaft¬
lichen Lebensprozesses schert sich den Teufel um das
dialektische Begriffsspiel von ökonomischer Unrichtig¬
keit und weltgeschichtlicher Richtigkeit. Ist aber das
sittliche Gefühl der Ungerechtigkeit von weltgeschicht¬
licher Bedeutung, so muß es auch für den Sozialismus
eine ethische Notwendigkeit sein. Der Sozialismus hat
aber selbst einen doppelten Charakter, und daher rührt

422
die zweideutige Auffassung von der Notwendigkeit des¬
selben. In ökonomischer Hinsicht bedeutet er die Ver¬
gesellschaftung der Produktionsmittel, in ethischer Hin¬
sicht eine soziale Ordnung, wo gleiches Recht und
gleiche Pflicht aller herrscht, unabhängig von Rasse,
Klasse und Geschlecht ...« [a.a.O., S. 423ff.]
»Es ist indes unrichtig, daß eine ökonomische Tat¬
sache schon überlebt sein muß, bevor sie das sittliche
Bewußtsein der Masse für unrecht erklärt. Der Kapita¬
lismus steht noch fest gegründet da, und doch erklärt ihn
das sittliche Bewußtsein von Millionen für ungerecht und
unmoralisch, und ist dieses sittliche Bewußtsein der
Quell der Empörung und des Kampfes gegen diese
ökonomische Tatsache.
Überdies enthüllt sich der angebliche ökonomische
Mechanismus der Geschichte als eine Ideologie der
schlimmsten Sorte. Der Kapitalismus sorgt dafür, daß
die sozialistischen Bäume nicht in den Himmel wach¬
sen ... Wird aber durch technische Ursachen nie und
nimmer die AI ehrwert-Ausbeutung aus dem gesellschaft¬
lichen Arbeitsprozeß aus geschaltet, so ist der Sozialismus
in erster Linie eine ethische Notwendigkeit. Das morali¬
sche Bewußtsein führt aber insofern notwendig zu
einem ökonomischen Sozialismus, als die Ökonomie
durch die technische Beschaffenheit der Produktions¬
mittel und durch die gesellschaftliche Form des Arbeits¬
prozesses auf diese Weise allein dem moralischen Be¬
wußtsein gerecht werden kann. An sich kann das
moralische Bewußtsein auch mit dem Privateigentum
an Produktionsmitteln vereinbar sein; denn die Art der
ökonomischen Erfüllung des moralischen Gesetzes hangt
von der historischen Stufe der individuellen oder gesell¬
schaftlichen Beschaffenheit des Arbeitsprozesses ab. Diese
Begründung der ökonomischen Notwendigkeit des
Sozialismus ist freilich eine andere als die aus dei ver-
423
meintlichen kapitalistischen Entwicklung gefolgerte
Notwendigkeit. Gibt man auch die von Marx erwarteten
spezifischen ökonomischen Voraussetzungen auf, so gibt
man damit keineswegs den Sozialismus prinzipiell auf.
Man muß nur andere Wege einschlagen, um zum Ziel
zu gelangen ...« [a.a.O., S. 426ff.]

Sittliche Erziehung des Proletariats — Voraussetzung


erfolgreicher sozialistischer Neuordnung:

»Die ökonomischen Produktivkräfte sind an sich ebenso¬


sehr ein Mittel der Knechtschaft wie der Freiheit; die
Entwicklung der wirtschaftlichen Technik führt daher
immer nur zu einem >Formwechsel der Knechtschaft^
zu einer historischen Ablösung, aber nie und nimmer
zu einer prinzipiellen Abschaffung der Klassenherrschaft.
Denn letztere ist eine Frage der Ethik und nicht der
Technik. Ein technisch-ökonomischer Fortschritt ist
noch lange kein sozial-ökonomischer Fortschritt. Er wird
nur dann zu einem Mittel des sozialen Fortschritts, wenn
zugleich die Menschen fortschreiten und geistig heraus¬
wachsen ... Es gibt in Marx’ Lehre von der sozialen
Revolution Gedankengänge, welche fordern, daß die
Menschen mit Glauben und Bewußtsein und durch Ent¬
wicklung ethischer Kräfte eine menschenwürdige ge¬
rechtere Ordnung der Gesellschaft erstreben, und daß
der ökonomischen Entwicklung zugleich eine geistige
und moralische Erziehung parallel laufen müsse, um die
Befreiung der Arbeiterklasse und der ganzen Gesellschaft
herbeizuführen. In der dritten These über Feuerbach
weist Marx darauf hin, daß die materialistische Lehre,
daß die Menschen Produkte der Umstände und der Er¬
ziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer
Umstände und geänderter Erziehung sind, vergesse, daß
die Umstände eben von den Menschen verändert werden

424
und daß die Erzieher selbst erzogen werden müssen. Das
Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der
menschlichen Tätigkeit könne nur als umwälzende
Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.
Diese umwälzende Praxis kann infolge der ökonomi¬
schen Lage der gesellschaftlichen Verhältnisse nur darin
bestehen, daß die Arbeiterklasse durch Gewerkschaften
und Genossenschaften in den Produktions- und Kon¬
sumtionsprozeß der Waren als machtbegabter solidari¬
scher Faktor direkt eingreift und ihre geistige und
politische Emanzipation durch die revolutionäre Selbst¬
hilfe wirtschaftlicher Organisationen herbeiführt ...
Nur der Klassenkampf auf der Grundlage einer wirt¬
schaftlich umwälzenden Praxis kann das neue Geschlecht
heranzüchten, von dem Marx hoffte, daß es die Gesell¬
schaft wieder zu einer Gemeinschaft von Menschen für
ihre höchsten Zwecke machen werde.« [a.a.O., S. 428f.]

MAX ADLER

Kritik an Kautskys naturalistischer Ethik:

»... Ich bin der Meinung, daß es auch Kautsky nicht


gelungen ist, auf seinem Wege dem Wesen des Ethi¬
schen näherzukommen und daß es ihm nicht gelingen
konnte, da von seinem Standpunkt, der jener der theo¬
retischen Erkenntnis ist, sich die ganze Eigenart des
Ethischen gar nicht erfassen läßt. Das theoretische Er¬
kennen hat es immer nur mit einem Sein oder Ge¬
schehen der Dinge zu tun. Das Problem der Ethik aber
ist ... die Unterscheidung von Gut und Böse ... Es ist
nun ein Irrtum zu meinen, daß wir damit auch noch
bei einem Sein oder Geschehen bleiben. Man meint mit ei¬
ner solchen Ansicht etwa, daß wir mit der Untersuchung
dieser Unterscheidung von Gut und Böse doch nichts an-
425
deres tun als feststellen, was tatsächlich auf diese Wei¬
se unterschieden wird, also was gut und böse ist, und wa¬
rum es so unterschieden wird, also wieso dies geschieht.
Allein die ethische Frage ist zunächst gar nicht, was
als gut und böse unterschieden und warum gerade dieses
für gut und jenes für böse gehalten wird, sondern worin
das Wesen dieser Unterscheidung selbst liegt, auf was
immer sie gerichtet sein mag, und wieso wir dazu ge¬
langen, mit dieser Unterscheidung den Anspruch auf
ihre Allgemeingültigkeit zu verbinden, obzwar doch die
Geschichte zeigt, daß die ethischen Gebote inhaltlich
fortwährend wechseln. Mit Recht hat Kautsky das
Phänomen der Verpflichtung als ein spezifisches Pro¬
blem der Ethik wiederholt hervorgehoben. Bei dieser
Fragestellung zeigt sich sofort, daß das Eigentümliche
des ethischen Urteils gerade darin besteht, daß es nicht
bloß eine Aussage von Sein und Geschehen der Dinge,
sondern daß es darüber hinaus immer eine Forderung
aufstellt. Im ethischen Urteil wird nicht ausgesagt: dies
ist gut, dies ist böse, sondern die als gut oder böse er¬
klärte Beschaffenheit wird gleichzeitig als verwirklicht
respektive als beseitigt verlangt. Gut nennen wir also
nicht nur etwas, was ist, sondern eigentlich wollen wir
damit sagen, daß es so ist, wie es sein soll.« [Marxistische
Probleme (1915), 4. Aufl. 1920, S. 108f.]
Adler schildert sodann, wie Kautsky versucht, sowohl
über die rein utilitaristische Moral der Aufklärer des
18. Jahrhunderts wie auch über die >englisch-schottische
Gefühlsmorah hinauszugehen, indem er nach den
>Ursachen des moralischen Sinnes< und des sittlichen
Ideals forscht. In dieser einseitigen Suche nach den
Ursachen erblickt Adler den Grundfehler der Kautsky-
schen Ethik:

»Es ist dies, was ich eine falsche Weichenstellung des


Denkens nennen möchte, mit Notwendigkeit erzeugt

426
durch die bloß theoretische Orientierung des Verfassers,
wenn statt aller dieser Fragen, die wir erfahren wollen,
was zum Problem gehört, gar nicht mehr gefragt wird,
was der moralische Sinn und das sittliche Ideal eigent¬
lich sind, sondern ... wie sie sich — hier und dort, dann
und je — entwickeln. Es wird nicht mehr gefragt,
was sie sind, sondern wie sie entstanden sind. Auf die¬
se Weise wird also beides für die Untersuchung gerade¬
zu vorausgesetzt und ohne weiteres von ihnen der
Ausgang genommen, als ob sie an sich überhaupt
etwas ganz Eindeutiges, Unmißverständliches wären,
nach dessen Verursachung man einfach bloß zu fragen
brauche.
Allein die Kausalerklärung des moralischen Sinnes
und des sittlichen Ideals befindet sich in der mißlichen
Lage, daß sie zunächst ihren Gegenstand gar nicht
zweifellos aufzeigen kann. Verzichtet sie von vornherein,
das Wesen ihrer Phänomene zu untersuchen, wer be¬
hütet sie dann vor dem verderblichen Anfang am un¬
richtigen Orte? Wer zeigt mir den richtigen (echten)
moralischen Sinn? Am Ende mühe ich mich an einer
Erscheinung ab, ihr das Rätsel des ethischen Problems
abzufragen, die gar nicht moralischen Charakters
ist ...« [a.a.O., S. 113]
»Die Kausalerklärung ethischer Phänomene kann
mir ... nur ihre historisch bestimmte Erscheinungsweise
erklären; sie vermag mir das Auftreten derselben an
bestimmten Stellen des historischen Flusses der Dinge,
ihre Abänderung, ihr Werden und Vergehen verständ¬
lich zu machen. Den Bestand des Ethischen selbst aber,
woran ich es als ethische Wertung erkenne, selbst in
den entlegensten Zeiten und fremdartigsten Verhält¬
nissen, ist gerade für die Kausalerklärung eine letzte
Beschaffenheit, die sie selbst nicht weiter auflösen
kann.« [a.a.O., S. 114]
427
»Es handelt sich (bei ICautsky) um die Ursachenklä¬
rung der zwei ethischen Grundphänomene: der Ver¬
pflichtung, respektive des moralischen Sinnes und des
sittlichen Ideals, wohl zu beachten um eine Ursach-
erklärung, die nicht etwa bloß das historische Auftreten
oder Wechseln dieser Phänomene, sondern ihr Wesen
selbst darlegen soll. Zur Erklärung des ersteren greift
Kautsky auf den sozialen Trieb, zur Erklärung des letz¬
teren auf den sozialen Kampf, den Klassenkampf, zurück.
Beide meint er als ausreichende Erklärungsprinzipien
des Ethischen darstellen zu können ...« [a. a. O., S. 114f.]

Adler weist sodann nach, daß die Ableitung des sitt¬


lichen Verhaltens der Menschen aus dem sozialen Trieb
der höheren Säugetiere sowohl sachlich wie methodisch
fragwürdig ist. Einmal, weil wir über die Psyche der
Tiere nur nach einer problematischen Analogie mit der
menschlichen Seele Aussagen machen können und zum
anderen, weil das Eigentümliche des Sittlichen gerade
nicht aus dem Natürlichen und Triebhaften abgeleitet
werden kann.

»Der soziale Trieb als unbewußtes Resultat der natür¬


lichen Züchtung begründet also sicher die Ethik nicht,
da, wie immer auch die ethische Gesinnung dem Inhalt
nach mit ihm Zusammentreffen mag, diese selbst doch
erst die bewußte Wertung an dem sozialen Trieb vor¬
nimmt, die eben das Problem der Ethik ausmacht. Es
müßte also gezeigt werden, wie die natürliche Züchtung
des sozialen Triebes in einem bewußten Prozeß damit
zugleich auch den ethischen Tatbestand entwickelt.
Auch diese Art Züchtung ist denkbar; es könnte eine
Tierspezies durch die ihr eigentümliche Art psychischer
Kraft jene Lebensbedingungen sofort bewußt festhalten,
die ihrer Erhaltung günstig sind, und darunter auch
auf den geselligen Zusammenschluß gekommen sein.
Jene Tierindividuen, die das am besten vermögen, die

428
also in der ihnen zukommenden Art psychischen Lebens
am schärfsten den Nutzen der Gesellschaft zu erkennen
vermögen, würden auch die meisten Chancen des Über¬
lebens und Vererbens haben. Und so würde sich ein
sozialer Trieb entwickeln, der durch Übung, Gewöh¬
nung und Vererbung erst zuletzt unbewußt, aber in die
Form einer Disposition, einer Gesinnung übergegangen
ist — eben unserer ethischen Gesinnung ... Allein wenn
wir näher Zusehen, so ist auch jetzt für das Ethische
nichts gewonnen. Denn diese Ableitung des sozialen
Triebes als eines bewußt akquirierten und tradierten
Phänomens setzt die Unterscheidung des Nützlichen und
Schädlichen voraus, in welch primitiver Form man dies
immer erst zugeben will. Und also läuft diese Begrün¬
dung der Ethik gerade auf jenes Prinzip des Nutzens
hinaus, von dem Kautsky mit Recht gezeigt hat, daß es
zur Lösung des ethischen Problems, speziell der Ver¬
pflichtung, ganz ungenügend ist. Der soziale Trieb ist
als bewußtes Phänomen nichts anderes als eine unmittel¬
bare Beziehung auf das eigene Wohl, bei welcher längst
schon durch Einübung und Vererbung alle vermitteln¬
den Erfahrungen weggefallen sind. Wenn er nun in uns
als ein Drang wirkt, im Interesse der Allgemeinheit zu
handeln, weil ungezählte Generationen dabei gut ge¬
fahren sind, wie folgt aus dem noch so großen Drange,
etwas zu tun, die Pflicht dazu?« [a. a.O., S. 122 f.]
»Wieso wird aus dem sozialen Triebe Pflicht... Kaut¬
sky fühlt ... selbst, daß aus dem sozialen Trieb ... noch
keineswegs das Bewußtsein der Pflicht ... hervorgehe.
Wie kommt er nun zu diesem Bewußtsein? Die Antwort
könnte durch ihre Einfachheit überzeugen, wenn sie
auch ebenso überzeugend wie einfach wäre: Wenn
nämlich die sozialen Triebe starker geworden sind als
alle anderen, dann treten sie, sobald sie mit diesen in
Konflikt geraten, ihnen übermächtig als Gebot gegen-

429
über. Das ist zunächst eine ganz willkürliche Behaup¬
tung. Denn worauf gründet sich diese Umwandlung des
Triebes in ein Gebot? ... Wie unmöglich es ist, die
Pflicht als herangezüchtete dauernde Übermacht des
sozialen Triebes zu erklären, ergibt sich schon daraus,
daß dieser Gedanke, zu Ende gedacht, den Begriff der
Pflicht ganz aufhebt. Denn die dauernde Übermacht des
sozialen Triebes bedeutet doch seinen dauernden Sieg,
also daß sich der soziale Trieb, wo er übermächtig ge¬
worden ist, jedem Konflikt gegenüber durchsetzt. Ich
muß einfach so handeln, weil es der Trieb verlangt,
darin liegt seine Übermacht. Was hat es dann für einen
Sinn, von einer Handlung, die ich ausführen muß, zu
sagen, daß ich sie ausführen soll? Man braucht nicht zu
gebieten, was man ohnehin tun muß.« [a. a.O., S. 125f.]
»Die sozialen Triebe sind an und für sich weder
Tugend noch Untugend; sie sind eine Tatsache, aber
noch kein Wert. Ich habe ... schon darauf hingewiesen,
wie das Soziale an sich ethisch noch ganz indifferent ist.
An und für sich spricht nichts gegen den Gedanken,
eine Vereinzelung — so unmöglich sie ist — ebenso
wertvoll oder noch wertvoller zu finden als unsere
Sozialisierung. Man kann den sozialen Zusammenhang,
dieses Aneinanderkleben der Menschen, als eine Not¬
wendigkeit eingesehen haben, und doch zugleich als
große Last, als eine Schranke ... unserer Natur empfin¬
den. Von da aus ist dann keine Möglichkeit, soziale
Triebe als Tugenden zu preisen. Und wie will man
einer solchen Ansicht entgegentreten, wenn nicht einzig
und allein derart, daß man zeigt, wie das Soziale not¬
wendig aus einer Beziehung unseres Erkennens auf sich
selbst hervor geht als Bewußtsein überhaupt, und wie das
Ethische nur seine praktische Form darstellt, nämlich
die notwendige Form alles unseres Wollens, sobald wir es
aus der bloß empirischen Vereinzelung befreien und

430
beziehen auf ein TViollen überhaupt. Aber das ist freilich
e in Schritt, den die materialistische Ethik ebensowenig
machen kann wie die empiristisch-relativistische. Denn
dazu gehört nicht bloß praktische Vernunft, sondern
auch Kritik der praktischen Vernunft, welch beides jene
Richtungen nun einmal nicht annehmen wollen.«
[a.a.O., S. 128]

Die Bedeutung des sittlichen Ideals für die Gestaltung


der Zukunftsgesellschaft:

»Kautsky meint, >der neue gesellschaftliche Zustand ...


hängt nicht von der Gestaltung des sittlichen Ideals ab,
sondern von den gegebenen materiellen Bedingungen
der Technik, dem natürlichen Milieu, der Art der Nach¬
barn und Vorfahren der bestehenden Gesellschaft usw.<
Dieser Satz ist vollkommen richtig und kann doch eine
Quelle ärgster Mißverständnisse über das Wesen des sitt¬
lichen Ideals werden. Der neue gesellschaftliche Zu¬
stand hängt natürlich in erster Linie von den realen
Bedingungen seiner Möglichkeit ab, aber in diesen wird
er gestaltet nur durch das sittliche Ideal, das in jenen
Menschen lebt, die ihn verwirklichen wollen. Die öko¬
nomische Entwicklung erzeugt aus sich heraus nicht
auch den neuen gesellschaftlichen Zustand, sondern nur
die Bedingungen desselben ... Die ökonomische Ent¬
wicklung führt ... zu einem Ziele, das eine bestimmte
Klasse nicht will, nicht wollen kann, bei Strafe ihres
Untergangs. Und dieser Wille ist zugleich der Ursprung
der sittlichen Verurteilung der alten und der Entwer-
fung einer neuen Gesellschaftsordnung. Das heißt, die
neue Ordnung wird als die bessere zuerst gewertet und
darum verwirklicht. Aber natürlich kann sie nur aus
der vorhandenen Beschaffenheit der Dinge abgeleitet
werden, also aus den gegebenen materiellen Verhält -

431
nissen. Trotzdem gestalten nicht diese die neue Ord¬
nung, sondern aus ihnen gestaltet sie das wählende sitt¬
liche Bewußtsein der aufstrebenden Klasse. Auf derselben
materiellen Grundlage wären ja sonst sehr verschiedene
gesellschaftliche Ordnungen möglich; und wäre nicht
das sittliche Ideal, warum sollte das Proletariat nicht am
Ende mit einem System des Industriefeudalismus zu¬
frieden sein, wenn — was ja nicht ausgeschlossen ist —
es in ihm besseren Lohn als jetzt, eine reinliche Woh¬
nung, eine kürzere Arbeitszeit und ausreichende Ver¬
sicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter -und Invalidi¬
tät fände?
Die materiellen Bedingungen schaffen also nicht das
sittliche Ideal, sondern sie geben ihm nur den geschicht¬
lichen Inhalt, sie entscheiden über die Art seiner Reali¬
sierung. Und so liegt hierin die Bedeutung des sittlichen
Ideals, welches als unentbehrliche Komponente des histo¬
rischen Geschehens gerade durch die materialistische
Geschichtsauffassung erst in seiner Wirklichkeit ver¬
ständlich gemacht wurde, so daß diese, weit entfernt,
das sittliche Ideal, wie K. meint, als richtunggebenden
Faktor der sozialen Entwicklung wollig depossediert< zu
haben, es vielmehr in dieser Eigenschaft erst heraus¬
stellt. Um aber diesen richtunggebenden Charakter des
sittlichen Ideals seiner Möglichkeit nach zu begreifen,
muß man es eben in seiner Wesenheit erkannt haben
als die zur Idee, d. h. zum Motiv gewordene Gesetz¬
mäßigkeit des Wollens überhaupt.« [a.a.O., S. 135ff.]

Sittliche Wertungen als wesentliche Richtungsmomente


des historischen Prozesses:

»Nach dem Neukritizismus wird der Sozialismus siegen,


weil er im Recht ist, nach dem Marxismus muß ein
neues Recht entstehen, weil der Sozialismus siegt; d. h.,

432
der Entwicklungsprozeß des Sozialismus ist zugleich der
Hervorgang neuer Rechtsanschauungen und ethischer
Empfindungen in den Gemütern der Menschen. Es ist
für den Marxismus selbstverständlich, daß die geschicht¬
liche Bewegung ... nur durch die Menschen selbst bewirkt
werden kann, und daß darum ihre ethischen Wertungen
nicht nur an dem geschichtlichen Prozeß mitbeteiligt
sind, sondern ihn ganz wesentlich erst zustande kommen
lassen. Denn nur in den zu bestimmten Massenwillen
zusammengeronnenen zahllosen Einzelwertungen von
dem, was diese vielen Einzelnen als das Rechte, als das
Vernünftige, als das für sie darum zu Erringende an-
sehen, entfaltet sich ja erst das grandiose Schauspiel der
Klassenkämpfe in der marxistischen Geschichtsauffas¬
sung. Aber diese ethischen Wertungen kommen in ihr
gerade nicht als solche in Betracht, sondern als immanent
wirkende Kausalfaktoren. Denn nicht auf die Beurteilung
des Geschehens ist hier der Blick eingestellt, sondern auf
dessen Erklärung. Trotzdem aber fällt diese ethische
Beurteilung nicht aus dem Kausalprozeß heraus, nur
daß sie hier in anderer Form erscheinen muß. Gerade
die klassische formale Beschaffenheit ... diese ... in
jedem menschlichen Bewußtsein gleichmäßig wirkende
ethische Beurteilung ist es, die für die Kausalbetrachtung
als durchgängige Richtungsbestimmtheit des sozialen
Geschehens in Betracht kommt, so daß also der geschicht¬
lichen Kausalität die ethische Wertung immanent ist.
Dies ist der Punkt, der noch vielfach auch im Lager der
Marxisten übersehen wird ...« [a.a.O., S. 145f.]
»Wenn ... Cohen einmal sagt, daß die politische Idee
des Sozialismus fest in jener Fassung des kategorischen
Imperativs begründet liegt, welche in einem jeden die
Menschheit zu achten und keinen bloß als Mittel,
sondern immer zugleich auch als Zweck anzusehen ver¬
langt, so ist dies eine tiefe und wahre Bemerkung, sofern

433
wir den Sozialismus ethisch würdigen wollen. Insoweit
aber der Sozialismus als geschichtliche Bewegung auf¬
zufassen ist — und nur dies ist das Problem des IMaixis-
mus —, so erscheint uns die im kategorischen Imperativ
ausgedrückte soziale Idee nicht mehr als Wertung, son¬
dern als immanent wirkende Kraft, die sich durch die
Jahrtausende in den verschiedenen Formen des Klassen-
kampfes durchzuringen strebt. Wenn der Sozialismus
vom Standpunkt der Ethik im kategorischen Imperativ
begründet erscheint, so ist er deshalb kausal noch nicht
auf Ethik gegründet. Es ist wie eine andere, nur sicherer
zu konstatierende prästabilierte Harmonie, welche ge¬
rade die kausalgenetische Untersuchung des sozialen
Lebens immer deutlicher erkennen läßt, daß der ge¬
schichtliche Prozeß kausalnotwendig zu den Zielen
führen muß, welche die Ethik als begründet ansieht,
weil eben der wichtigste geschichtliche Kausalfaktor der
richtungsbestimmte menschliche Wille ist. Es ist daher
innerhalb der wissenschaftlichen Betrachtung des sozia¬
len Geschehens, die der Marxismus anstrebt, gar nicht
nötig, die sich vollziehenden Prozesse auch noch ethisch
zu begründen, da die ethische Wertung bereits in den
dynamischen Kausalfaktoren enthalten ist, so daß alle
historischen Prozesse sich nach ihrer evolutiven Seite
unbedingt als Ethik en marche, als immanent ethische
Entwicklung heraussteilen müssen.« [a.a.O., S. 145f.]

OTTO BAUER

Das sittliche Problem des Streikbruchs und die materiali¬


stische Ethik Kautskys:

Auf die Frage eines imaginären Arbeiters X., der vor der
Entscheidung steht, ob er durch Streikbruch für seine

434
}lungernde Familie und die kranken Kinder Nahrung
besorgen oder der streikenden Klasse die Treue halten
soll, antwortet Bauer zunächst mit den Argumenten der
Kautskyschen materialistischen Ethik:

»... Die Ethik des Proletariats ... verurteilt den


Streikbruch. Dem Proletariat aber gehört die Zukunft.
Es wird, das ist das nicht zu bezweifelnde Ergebnis
wissenschaftlicher Forschung, die herrschende Ordnung
der Gesellschaft unvermeidlich bekämpfen, besiegen,
durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzen. Diese
gewaltige Umwälzung ist kausal notwendig, unvermeid¬
lich. Die Wissenschaft aber hat es immer nur mit dem
Erkennen des Notwendigen zu tun. Sie kann wohl dazu
kommen, ein Sollen vorzuschreiben, aber dies darf stets
nur als eine Konsequenz der Einsicht in das Notwendige
auftreten. Die Wissenschaft lehrt, daß der Arbeiter¬
klasse die Zukunft gehört ... Daraus folgt, daß du, der
du Arbeiter bist, mit der Arbeiterklasse kämpfen sollst,
ihr nicht in den Rücken fallen darfst. Nein, sagte er,
das scheint mir ein voreiliger Schluß zu sein. Wenn ihr
feststellt, daß der Sozialismus notwendig sein wird, so
ist das für mich, den Arbeiter, eine sehr erfreuliche Er¬
kenntnis ... Aber heute suche ich deinen Rat in einem
Falle, wo mein Sonderinteresse mit dem Klasseninteresse
nicht zusammenfällt. Da sagt mir auch eure Lehre von
der ursächlichen Notwendigkeit des Sozialismus nichts.
Ist denn das, was sein wird, auch das, was sein soll? Und
wenn ich weiß, der Sozialismus werde sein, muß ich
deshalb schon darum kämpfen, daß er werde? Folgt aus
der Erkenntnis, daß das Proletariat seines Sieges gewiß
sein darf, wirklich, daß für mich heute das Gebot prole¬
tarischer Ethik gelten soll und nicht jene Maxime, die
aus meinen individuellen Verhältnissen fließt? Warum
soll mir das Gesetz sein, wozu mich meine Zugehörigkeit
zur Arbeiterklasse treibt, und nicht das, was aus der

435
Tatsache fließt, daß ich ein Mensch bin, der essen, der
sein Weib nicht hungern, sein Kind nicht frieren lassen
will? ... Mir aber wurde es klar, daß es doch etwas ande¬
res ist, die sittlichen Erscheinungen zum Gegenstand
der Wissenschaft zu machen, zu forschen, wie inhaltlich
bestimmte sittliche Erscheinungen unter gewissen natür¬
lichen und sozialen Bedingungen notwendig entstehen
müssen, und auf eine sittliche Frage des Lebens zu ant¬
worten ...
Für Hegel ist alles, was ist, nicht nur notwendig,
sondern auch vernünftig. Für ihn ist die Entwicklung
der Natur und der Gesellschaft die Eigenbewegung des
Geistes, in der, wenn auch in einem unendlichen Prozeß,
das Seiende zum Sein-Sollenden wird. Aber soviel wir
auch Flegel verdanken, und so reichen Gewinn wir auch
heute noch aus seiner Lehre ziehen können, gerade in
diesem Punkte sind wir seine Schüler nicht mehr ...
Wer Hegels Panlogismus verwirft, der ist nicht mehr
berechtigt, die Frage nach dem Sollen in der Frage nach
dem JVerden auf gehen zu lassen ...« [Marxismus und
Ethik, »Die Neue Zeit«, XXIV. Jg., II. Hbb., S. 487f.]
»Was hat die Einsicht in die kausale Notwendigkeit
proletarischer Ethik meinem Freunde X geholfen, der
beinahe zum Streikbrecher geworden wäre? Es mag sein,
daß das Gebot der proletarischen Ethik ihm den rechten
Weg gewiesen hätte; wenn ich ihm das aber beweisen
will, so genügt es nicht, zu zeigen, daß dieses Gebot
proletarisch ist, es gilt vielmehr zu beweisen, daß das
proletarische Gebot das richtige ist. Ist das aber möglich?
Wenn es doch keine moralischen Gebote gibt, die immer
und überall gelten, sondern jede Klasse neue moralische
Vorstellungen erzeugt, ja selbst die Ethik jeder Klasse im
Laufe ihrer Geschichte sich verändert, wie könnte dann
von einem Imperativ ausgesagt werden, daß er der
rechte, d. h. doch wohl der allgemein gültige ist? Dieses

436
Pf oblem löst die Ethik Kants, indem sie das Kriterium,
das den ethischen Imperativ von der bloßen Maxime
sondert, zwar nicht in der Materie, wohl aber in der
formalen Gesetzlichkeit des inhaltlich wie immer be¬
stimmten Imperativs, in seiner Fähigkeit zu allgemeiner
Gesetzgebung entdeckt ...« [a.a.O., S. 489]

Die Kantsche Ethik als Überwinderin des moralischen


Relativismus und Skeptizismus:

»... Auch wenn Kant nicht mehr die Erfahrung vom


Seienden, sondern das Sein-Sollende ins Auge faßt, geht
er denselben Weg. Es handelt sich ihm nicht darum,
ein Sittengesetz zu erfinden, sondern die Gesetzlichkeit
des sittlichen Wollens zu entdecken. Auch am Sittlichen
scheidet er Materie und Form. Auch hier ist die Materie
einfach empirisch gegeben. Es gibt keinen einzigen in¬
haltlich bestimmten Satz der Ethik, der überall und
immer gelten würde ... Die Materie der Imperative
gehört zum Forschungsgebiet des Historikers, hier ist die
materialistische Geschichtsauffassung Leitfaden der
Forschung. Kant aber wendet sich auch hier wieder der
formalen Gesetzlichkeit des Sittlichen zu. Seine Aufgabe
ist eine ganz andere als die des Historikers und er kann,
da er sich auf einem anderen Gebiet bewegt, mit
der materialistischen Geschichtsauffassung in keinem
Punkte Zusammenstößen. Für Kant gilt es, die formale
Gesetzlichkeit alles Sollens, welches immer seine Materie
sein mag, zu entdecken ...« [a.a.O., S. 492]
»Die Kritik des reinen Willens hat ... kein solches
Objekt wie Newtons >Principia mathematica<, sondern
ihr ist nicht mehr gegeben als eine Unzahl einzelner
Gebote, die einander widersprechen, einander den
Charakter des Sittlichen absprechen. Da denkt sich nun
Kant einen systematischen Zusammenhang der ethi-

437
sehen Erkenntnisse gegeben, d. h. >eine solche Verfas¬
sung derselben, in welcher die Idee des Ganzen den
Teilen in der Methode vorausgeht<, und fragt nun, wie
ein solches System von Imperativen möglich ist. So ge¬
langt er zu seinem praktischen Grundgesetz: >Handle
so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne<.
Dieses Gesetz macht jeden konkreten Imperativ erst
möglich. So wird die Fähigkeit der Maxime, Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung zu sein, zum Kriterium,
das ermöglicht, den konkreten ethischen Imperativ von
der bloßen individuellen Maxime zu sondern, die sich
dem gedachten System von Geboten nicht einzuordnen
vermag ...« [a.a.O., S. 493]
»... Wenn wir sittlich urteilen wollen, so brauchen
wir dazu Kants Formulierung des praktischen Grund¬
gesetzes durchaus nicht zu kennen. Aber wenn der
ethische Skeptizismus an uns herantritt, der aus der
Erkenntnis, daß die Materie des sittlichen TVollem
wandelbar ist, daß kein inhaltlich bestimmtes Gebot
überall und immer gilt, keine bestimmte Ethik die ab¬
solute ist, voreilig schließt, es gehe also überhaupt nicht
an ... die Gebote der einen als Imperative gelten zu
lassen, die der anderen als bloße Maximen zu enthüllen:
dann zeigt uns Kants Kritik, worin sich der konkrete
ethische Imperativ von der bloßen Maxime unter¬
scheidet: in der Fälligkeit zur allgemeinen Gesetz¬
gebung.« [a.a.O., S. 494]
»Wozu dient also ... die Lehre Kants? Ist sie ... nicht
praktisch gänzlich nutzlos? Doch nicht ganz. Sie ist der
letzte Stützpunkt, auf den wir uns zurückziehen, sooft
der ethische Skeptizismus jene naive sittliche Wertung
der von der Wissenschaft aufgedeckten Klassenmaximen
verhindert. Das ist nun heute kein seltener Fall. Die
Bourgeoisie,^die nicht mehr hoffen darf, ihre Maxime

438
als Imperativ erweisen zu können, verbreitet ... den
ethischen Relativismus, jene Gesinnung, die eine Maxime
schon gerechtfertigt zu haben glaubt, wenn sie sie als
Resultat historischer Entwicklung begreift. Die materia¬
listische Geschichtsauffassung würde leicht dazu kom¬
men, die Geschäfte der Feinde der Arbeiterklasse zu
besorgen, wie sie der Darwinismus heute schon vielfach
besorgt, wollte sie sich des Rechts begeben, die Aufgabe,
alle Maximen wissenschaftlich zu begreifen, streng von
der Frage zu scheiden, welche der widerstreitenden
Maximen uns erfüllen soll. Wer, vom ethischen Skepti¬
zismus beirrt, nun meint, es gebe für ihn keine Norm
der Wahl, weil er ja das Wollen aller Klassen in seiner
Notwendigkeit begreife, den lehren wir, sich der for¬
malen Gesetzlichkeit semes Wollens weder zu erinnern,
dem geben wir das Kriterium, das ihn befähigt, das
Wollen der Arbeiterklasse von dem der Bourgeoisie dem
Werte nach zu unterscheiden und so in das Lager der
kämpfenden Arbeiterklasse führt ...« [a.a.O., S. 498]

>Orthodoxe<

G. W. PLECHANOW

Die Abhängigkeit der moralischen Gefühle von den


sozialen Lebensbedingungen der Klassen beziehungs¬
weise der Lebensweise der Tiere:

»Der dialektische Materialismus betrachtet die Phäno¬


mene in ihrer Entwicklung. Nun ist es aber vom evolu-
tionistischen Standpunkt aus eine ebenso große Absur¬
dität zu sagen, daß die Menschen in bewußter Weise ihre
Ideen und ihre moralischen Gefühle ihren ökonomischen
439
Bedingungen anpassen, wie zu behaupten, daß die Tiere
und Pflanzen bewußt ihre Organe ihren Existenz¬
bedingungen anpassen. In beiden Fällen haben wir
einen unbewußten Prozeß, dem man eine materialistische
Erklärung geben muß.
Der Mann, dem es gelungen ist, die genannte Erklä¬
rung für den Ursprung der Arten zu finden, sagt über
den >moralischen Sinn< folgendes:
>... In derselben Weise, wie verschiedene Tiere
Schönheitssinn haben, obgleich sie gänzlich abweichende
Gegenstände bewundern, so können sie auch sehr wohl
einen Sinn für Recht und Unrecht haben, obgleich sie
dadurch zu gänzlich verschiedenen Handlungsweisen
veranlaßt werden. Wenn, um einen ganz extremen Fall
anzunehmen, Menschen z. B. unter genau denselben
Bedingungen wie Honigbienen auferzogen würden, so
kann schwerlich bezweifelt werden, daß unsere unver¬
heirateten Mitmenschen weiblichen Geschlechts es für
ihre heilige Pflicht halten würden, ebenso wie die
Arbeitsbienen ihre Brüder zu töten, und Mütter würden
suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und
niemand würde auch nur daran denken, Einspruch zu
erheben. Nichtsdestoweniger würden in unserem Falle
die Bienen oder irgendein anderes in Gesellschaft leben¬
des Tier ein Gefühl für Recht und Unrecht oder ein
Gewissen erhalten. Denn jedes Individuum würde ein
inneres Empfinden von dem Besitz gewisser Instinkte
haben, die stärker und ausdauernder, sowie anderer, die
weniger stark und andauernd sind, so daß oft ein Kampf
darüber entstände, welchem Impuls das Individuum
gehorchen soll; und Befriedigung oder Unbefriedigung,
ja selbst Schmerz würde empfunden werden, sooft ver¬
gangene Eindrücke während ihres unaufhörlichen
Durchzugs durch das Gehirn miteinander verglichen
würden. In diesem Falle würde ein innerlicher An-

440
kläger dem Tier sagen, daß es besser getan hätte, lieber
dem einen als dem anderen Impuls gefolgt zu sein. Der
eine Weg hätte eingeschlagen werden sollen, der an¬
dere nicht; >der eine wäre der rechte gewesen, der
andere der Unrechte <.
Diese Zeilen zogen ihrem Verfasser mehr als eine
Rüge seitens der respektablem Leute zu. Ein gewisser
Sidgwick schrieb in der Academy of London, daß >eine
höher entwickelte Biene< danach streben würde, eine
mildere Lösung der Bevölkerungsfrage zu finden. Wir
wollen das von der Biene annehmen; aber daß die eng¬
lische Bourgeoisie, und nicht allein die englische, keine
>mildere< gefunden hat, dafür kann der Beweis in ge¬
wissen ökonomischen, von den respektablem Leuten
sehr respektierten Büchern gefunden werden. Im Juni
1848 und im Mai 1871 waren die französischen Bour¬
geois durchaus nicht so milde wie >eine höher entwickelte
Bienen Die Bourgeois töteten >ihre Brüder< Arbeiter
(und ließen sie töten) mit einer unerhörten Grausam¬
keit, und was hier noch bemerkenswerter für uns ist,
mit durchaus ruhigem Gewissen. Sie sagten sich ohne
Zweifel, daß sie gerade diesen >Weg< und >keinen ande¬
ren < >einschlagen< müßten. Weshalb? Weil die Moral
der Bourgeois ihnen durch ihre soziale Stellung, durch
ihren Kampf mit den Proletariern auferlegt ist, so gut
wie die >Handlungsweise < der Tiere ihnen durch die
Bedingungen ihrer Existenz diktiert wird.
Dieselben französischen Bourgeois betrachten die
antike Sklaverei als unmoralisch und verurteilen wahr¬
scheinlich die Abschlachtung der aufständischen Sklaven,
welche im alten Rom stattfand, als zivilisierter Men¬
schen und selbst intelligenter Bienen unwürdig. Ein
Bourgeois comme il faut kann gut >moralisch und dem
Gemeinwohl ergeben sein<; er wird in seiner Auffassung
der Moral und des Gemeinwohls nicht die Schranken

441
überschreiten, die ihm unabhängig von seinem Willen
und Bewußtsein durch die materiellen Bedingungen
seiner Existenz gezogen sind. Und darin unterscheidet
sich der Bourgeois nicht von den Mitgliedern anderer
Klassen. Indem er in seinen Ideen und Gefühlen die
materiellen Bedingungen seiner Existenz reflektiert,
erleidet er nur das gemeine Schicksal der Sterblichen <.«
[.Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Holbach/
Helvetius/Marx (1896), Berlin 1946, S. 160ff.]

KARL KAUTSKY

Der moralische Faktor im Klassenkampf:

»Diese Herren haben keine Ahnung davon, daß das


Klassenbewußtsein das Bewußtsein der Solidarität aller
Proletarier ist, daß Klassenbewußtsein verbreiten nichts
anderes heißt, als das Bewußtsein der Pflichten ver¬
breiten, die der Einzelne gegen die Gesamtheit seiner
Klasse hat. Haben die Herren Danders und Förster noch
nie von den unsäglichen Opfern gehört, die die klassen¬
bewußten Proletarier nicht für nein selbstische und in¬
dividuelle Interessen <, sondern für die Sache ihrer
Klasse, nicht bloß des eigenen Landes, sondern aller
Kulturländer bringen? Allerdings haben die klassen¬
bewußten Proletarier es verschmäht, mit ihrer Ethik
hausieren zu gehen, sie haben aber gehungert, gedarbt,
ihre Nachtruhe und Sonntagsruhe geopfert, ihre letzten
Ersparnisse, ihre Freiheit und oft auch die Gesundheit
hingegeben — nicht für sich, sondern für die Gesamt¬
heit der Enterbten, vor allem für jene unter ihnen, die
sich nicht selbst helfen können.
Proletarischer Klassenkampf und proletarisches Klas¬
senbewußtsein sind aber ethische Faktoren ersten Ranges,
nicht bloß dadurch, daß sie die volle Hingabe des Einzel-

442
nen an die Sache der Gesamtheit seiner Klasse und ein
ungemein starkes Pflichtgefühl ihr gegenüber ent¬
wickeln.
Das Proletariat, als unterste Schicht der Gesellschaft,
kann sich nicht befreien, ohne aller Unterdrückung,
aller Ausbeutung ein Ende zu machen. So wird das
klassenbewußte Proletariat dort, wo es eine Macht ge¬
worden, der Anwalt aller Unterdrückten, soweit ihre
Interessen nicht mit denen der sozialen Entwicklung
kollidieren, unterdrückter Klassen, unterdrückter Natio¬
nen, eines unterdrückten Geschlechtes. Aus ihrer histo¬
rischen Rolle erwachsen ihm Pflichten, die außerhalb
seiner direkten Klasseninteressen liegen. Aber auch da¬
mit ist noch nicht der Kreis der sozialen Pflichten er¬
schöpft, die das klassenbewußte kämpfende Proletariat
auf sich nimmt.
Es kann sich nicht befreien auf der Grundlage des
Lohnsystems. Es bedarf der Aufhebung der bestehenden
Eigentums- und Produktionsordnung, es muß sich ein
hohes soziales Ziel setzen und es ist heute die einzige
Klasse, die sich ein solches setzt. Es ist die einzige revo¬
lutionäre Klasse ... die ... ein soziales Ideal anstrebt —
in diesem Sinne die einzige Klasse, in der Idealismus zu
finden ist.
So erwächst aus dem Klassenkampf des Proletariats
die höchste ethische Kraft, die Hingabe an ein hohes
Ideal, und der revolutionäre Klassenkampf des Proleta¬
riats wird der Boden, auf dem sich die kampffähigen und
kampflustigen Idealisten aller Klassen der modernen Ge¬
sellschaft zusammenfinden — so viele es ihrer noch gibt.
Je revolutionärer, idealistischer der proletarische
Klassenkampf, je mehr er das Endziel betont, desto
größer seine ethische Kraft, seine Kraft der moralischen
: Regenerierung des Proletariats. Die praktische Klein¬
arbeit des Proletariats selbst wird dadurch geadelt, die

443
sonst nur zu leicht die Tendenz erzeugt, den Proletarier
auf das moralische Niveau des heutigen Kleinbürgers
herabzuziehen.« [Klassenkampf und Ethik, »Die Neue
Zeit«, XIX. Jg., I. Hbb., S. 240]

Das moralische Verhältnis der Klassen in bürgerlicher


und proletarischer Sicht:

»Man verwechsele nicht die Klasse mit dem Individuum.


Wo Proletarier und Kapitalist als Individuen in all¬
gemein menschliche Beziehungen zueinander geraten,
bestehen natürlich für sie auch die daraus entspringen¬
den sittlichen Verpflichtungen. Wenn ein Fabrikant ins
Wasser fällt, wird ein vorübergehender Arbeiter nicht
erst fragen, welcher Klasse der Verunglückte angehört,
sondern ihm ohne weiteres nach Kräften helfen. Aber in
diesem Falle stehen sich die beiden nicht alsKapitalist und
Arbeiter gegenüber. Das hat nichts mit den sittlichen
Pflichten zu tun, welche die Arbeiterklasse gegenüber der
Kapitalistenklasse im Klassenkampf angeblich [nach einer
These von F. W. Förster] hat. Ob man solche anerkennt,
das hängt vom Standpunkt des Untersuchenden ab.
Vom bürgerlichen Standpunkt aus ist das Kapital¬
verhältnis ein notwendiges, unentbehrliches für die
Gesellschaft. Die Unterjochung und Ausbeutung des
Arbeiters ist von diesem Standpunkt aus nicht bloß im
Interesse der Kapitalistenklasse, sondern in dem der
Gesamtheit gelegen. Sich der Unterdrückung und Aus¬
beutung zu fügen, ist daher nicht bloß ein Machtgebot
der Kapitalistenklasse, sondern auch eine sittliche Pflicht
für die Arbeiterklasse. Unterwürfigkeit und Bedürfnis¬
losigkeit gelten da als ihre größten Tugenden.
Ganz anders erscheint die Sache vom proletarisch¬
sozialistischen Standpunkt. Von ihm aus wird das Kapital¬
verhältnis ein überflüssiges, ja, für die Gesellschaft

+44
schädliches. Sich der Ausbeutung und Unterdrückung
durch das Kapital zu widersetzen, auf die Vernichtung
des Kapitalverhältnisses hinzuarbeiten, wird nicht nur
durch das Sonderinteresse des Proletariats, sondern
durch das Gesamtinteresse der Gesellschaft geboten.
Sich gegen die Kapitalistenklasse zu empören, sie nieder¬
zuwerfen, wo die Möglichkeit gegeben, wird von diesem
Standpunkt aus eine sittliche Verpflichtung des Prole¬
tariats. Unterwürfigkeit und Bedürfnislosigkeit des
Arbeiters werden nun zu einem sittlichen Makel, sie
erscheinen als feiger Knechtssinn und Mangel an Kultur.
Nur wenn Dr. Förster sich auf den bürgerlichen
Standpunkt stellt, kann er zur Ivonstruierung sittlicher
Pflichten der Arbeiterklasse gegenüber der Kapitalisten¬
klasse kommen.« [a.a.O., S. 470]
»Wo versucht wird, an Stelle des Klassenkampfes den
persönlichen Kampf zwischen Arbeiter und Kapitalist
zu setzen, werden wir stets die ethischen Pflichten gegen
die Person des Letzteren betonen. Ebenso müßten wir
dies in dem Moment tun, in dem der Klassenkampf
zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse sein Ziel er¬
reicht, wo das siegreiche Proletariat dieser Klasse ein
Ende macht, indem es das Privateigentum an den gesell¬
schaftlichen Produktionsmitteln aufhebt. Damit wird
allerdings die Arbeiterklasse sittliche Verpflichtungen
gegenüber jenen Elementen übernehmen, die ihr bis
dahin als Kapitalistenklasse gegenüberstanden.« [a.a.O.,
S. 471]

Die Entstehung der Moral aus den sozialen Trieben< und


den gesellschaftlichen Bedürfnissen:

»Die sittlichen Normen konnten auch nur deshalb zu


i Gewohnheiten werden, weil sie tiefen, immer wieder
sich erneuernden gesellschaftlichen Bedürfnissen ent-

445
sprachen. Endlich aber kann eine bloße Gewohnheit
nicht die Kraft des Pflichtgefühls erklären, das sich oft
mächtiger erweist als alle Gebote der Selbsterhaltung.
Das Gewohnheitsmäßige in der Moral bewirkt bloß, daß
gewisse Normen ohne weiteres als sittliche anerkannt
werden, es erzeugt aber nicht die sozialen Triebe, die
die Durchführung der als sittliche Normen anerkannten
Forderungen erzwingen ...« [Ethik und materialistische
Geschichtsauffassung (1906), Stuttgart 1910, S. 122]
»Aber nicht nur sind die sozialen Triebe etwas durch¬
aus nicht Konventionelles, sondern etwas tief in der
Menschennatur, der Natur des Menschen als sozialen
Tieres Begründetes; auch die sittlichen Satzungen sind
nichts Willkürliches, sondern entspringen den gesell¬
schaftlichen Bedürfnissen.
Es ist allerdings nicht in jedem Falle möglich, den
Zusammenhang zwischen bestimmten sittlichen An¬
schauungen und den gesellschaftlichen Verhältnissen,
denen sie entsprangen, festzustellen. Das Individuum
übernimmt die sittlichen Normen von seiner gesell¬
schaftlichen Umgebung ohne jedes Bewußtsein ihrer
gesellschaftlichen Ursachen. Die sittliche Norm wird
ihm zur Gewohnheit und erscheint ihm dann als ein
Ausfluß seines eigenen geistigen Wesens, von vorn¬
herein gegeben, ohne jede praktische Wurzel. Nur die
wissenschaftliche Forschung vermochte nach und nach
für eine Reihe von Fällen die Beziehung zwischen be¬
stimmten Gesellschaftsformen und bestimmten sitt¬
lichen Satzungen aufzuhellen, und vieles liegt da noch
dunkel ...« (a.a.O., S. 125]
»Indessen ist der Zusammenhang zwischen den Sat¬
zungen der Moral und den gesellschaftlichen Bedürf¬
nissen bereits an so zahlreichen Beispielen erwiesen, daß
man ihn als allgemeine Regel annehmen kann. Besteht
aber dieser Zusammenhang, dann muß eine Änderung

446
dei Gesellschaft auch eine Änderung mancher morali¬
scher Satzungen nach sich ziehen. Deren Wechsel ist
also nicht nur nichts Wunderbares, wunderbar wäre es
vielmehr, wenn mit der Veränderung der Ursache nicht
auch die Wirkung sich änderte. Diese Änderungen sind
notwendig, gerade deswegen notwendig, weil jede Ge¬
sellschaftsform zu ihrem Bestand bestimmter, ihr an¬
gepaßter moralischer Satzungen bedarf ...« [a.a.O.,
; S. 124]

Rückwirkungen des >moralischen Überbaus< auf die


Ökonomie:

»Die sittlichen Normen ändern sich mit der Gesellschaft,


jedoch nicht ununterbrochen, nicht in der gleichen
Weise und dem gleichen Maße wie die gesellschaftlichen
Bedürfnisse. Sie werden als Normen ohne weiteres des¬
halb anerkannt und empfunden, weil sie Gewohnheiten
geworden shid. Sind sie aber einmal als solche fest¬
gewurzelt, dann können sie lange eine selbständige
Existenz führen, während der technische Fortschritt und
damit die Entwicklung der Produktionsweise, die Um¬
wandlung der gesellschaftlichen Bedürfnisse, fort¬
schreitet.« [a.a.O., S. 127f.]
»Kein Zweifel, es besteht eine Wechselwirkung zwi¬
schen der Ökonomie und ihrem geistigen Überbau —
Moral, Religion, Recht, Kunst usw. ... Wie die anderen
ideologischen Faktoren ist auch die Moral imstande, die
ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung zu
fördern. Gerade darin liegt ja ihre gesellschaftliche
Bedeutung. Da bestimmte gesellschaftliche Satzungen
bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprin¬
gen, werden sie das gesellschaftliche Zusammenwirken
um so mehr erleichtern, je besser sie der besonderen
Eigenart der Gesellschaft angepaßt sind, die sie schafft.

447
Die Moral wirkt also auf das gesellschaftliche Leben
fördernd zurück. Aber das gilt nur so lange, als sie von
diesem abhängig bleibt, als sie den gesellschaftlichen
Bedürfnissen entspricht, die sie erzeugen ...« [a.a.O.,
S. 128 f.]
»Sobald die moralischen Satzungen sich verselbständi¬
gen, hören sie auf, ein Element des gesellschaftlichen
Fortschritts zu sein. Sie verknöchern, werden ein kon¬
servatives Element, ein Hindernis des Fortschritts. So
kann in der menschlichen Gesellschaft, was in der tieri¬
schen unmöglich, die Moral aus einem unentbehrlichen,
zusammenhaltenden Bindeglied zu einem Mittel uner¬
träglicher Einschnürung des gesellschaftlichen Lebens
werden.« [a.a.O., S. 129f.]

Die Regelung des Verhaltens in der klassenlosen Gesell¬


schaft :

»Von ... Zwangsmitteln kann die klassenlose Gesell¬


schaft absehen. Wohl reichen auch in ihr die sozialen
Triebe nicht immer aus, von jedem Individuum die
Befolgung der moralischen Satzungen zu erreichen; die
Stärke der sozialen Triebe in den verschiedenen Indivi¬
duen ist ja sehr verschieden, und ebenso die der anderen
Triebe der Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Nicht
immer behalten da die ersteren die Oberhand; aber als
Mittel des Zwanges, der Strafe, der Abschreckung für
andere genügt in solchen Fällen für die klassenlose
Gesellschaft die öffentliche Meinung, die Meinung der
Gesellschaft. Diese schafft nicht das Sittengesetz in uns,
das Pflichtgefühl. Das Gewissen ist auch dann in -uns
wirksam, wenn niemand uns beobachtet und die Macht
der öffentlichen Meinung ganz ausgeschaltet bleibt; es
kann uns unter Umständen in einer Gesellschaft, die
von Klassengegensätzen und einander widersprechenden

448
sittlichen Normen erfüllt ist, zwingen, der öffentlichen
' Meinung der Mehrheit zu trotzen.
Aber die öffentliche Meinung wirkt in eurer klassen¬
losen Gesellschaft als ein ausreichendes Mittel der Poli¬
zei, der öffentlichen Befolgung der sittlichen Normen...«
[a.a.O., S. 150f.]

Sittliches Verhalten im Tierreich:

»Selbst wenn das Handeln der Affen ein vollständig


triebmäßiges wäre, was keineswegs der Fall, bewiese
das noch lange nicht, daß die Affen kein Pflichtgefühl
haben ... Ich will hier nur auf jenen bekannten Fall
verweisen, den Brehm selbst erlebte. Er begegnete ein¬
mal in Abessinien einer Herde Mantelpaviane, die von
den Hunden sofort angegriffen wurden. Die meisten
Affen gewannen sofort schützende Höhen, aber ein halb¬
jähriges Junges vermochte nicht rasch genug zu folgen
und wurde von den Hunden umringt. >Wir schmeichel¬
ten uns schon, diesen Affen erbeuten zukönnen<, schreibt
Brehm, >aber es kam anders. Stolz und würdevoll, ohne
sich im geringsten zu beeilen und ohne auf uns zu
achten, erschien vom anderen Ufer herüber eines der
stärksten Männchen, ging furchtlos den Hunden ent¬
gegen, blitzte ihnen stechende Blicke zu, die sie voll¬
kommen in Achtung hielten, stieg langsam auf den
Felsblock zu dem Jungen, schmeichelte diesem und trat
mit ihm den Rückweg an, dicht an den Hunden vorüber,
die so verblüfft waren, daß sie ihn mit seinem Schützling
ruhig ziehen ließen< ... Sicher wird jeder, der frei ist
von jenem Menschenhochmut, der alle Gemeinschaft
der Menschen mit der Tierwelt leugnet, zugeben, daß
das Benehmen des gedachten Pavians eine Pflichterfül¬
lung darstellt, die sittlich auf gleicher Höhe steht wie
etwa die Tat eines Horatius Codes oder andere Groß-

449
taten antiker Bürgertugend. Mehr als das eigne Leben
einsetzen zur Rettung eines anderen vermochte bisher
auch die sublimste Menschenethik nicht, und ich fürchte,
sie wird in der Praxis nie über diesen Pavian hinaus¬
kommen können ...« \Der Ursprung der Moral, »Die
Neue Zeit«, XXV. Jg., I. Hbb., S. 217f.]

Kritik an Otto Bauers kantischer Moraltheorie:

»Bauer glaubt ... daß, was meine Ethik nicht zustande


bringe, das vermöge die Kantsche Ethik. Er wähnt, wenn
er dem armen Teufel [das heißt dem notleidenden
Arbeiter, der vor der Versuchung des Streikbruchs steht]
statt einiger Zitate aus meiner Ethik einige aus der
»Kritik der praktischen Vernunft« vorgelesen hätte, dann
wäre dem unschlüssigen Arbeitslosen die Antwort zuteil
geworden, nach der er so leidenschaftlich verlangte, und
er hätte gewußt, was zu tun ...
Das Kantsche »Grundgesetz der reinen praktischen
Vernunft< lautet: »Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.< Nehmen wir nun an,
dieser Satz mache so tiefen Eindruck auf den Arbeits¬
losen, daß er sich sofort entschließt, ihm entsprechend
zu handeln. Ist damit auch schon entschieden, wie er
handeln soll? Kann es das »Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung< sein, Weib und Kind verhungern zu
lassen? Handeln jene russischen Soldaten unsittlich,
die sich bei einem Volksaufstand von ihren Kameraden
trennen und auf das Militär schießen? Handelt ein
Fabrikant unsittlich, der bei einem Streik aus dem
Fabrikantenring austritt und im Gegensatz zu diesem
seinen Arbeitern ihre Forderungen gewährt? Oder ein
Arzt, der es bei einem Ärztestreik nicht über sich brin¬
gen kann, erkrankten Arbeitern seine Hilfe zu versagen?

450

\
Der Kantsche kategorische Imperativ, der eine un¬
bedingte, allgemeine Regel unseres Handelns sein soll,
erweist sich, bei Licht betrachtet, in einer ganzen Reihe
von Fallen innerhalb der heutigen Gesellschaft als un¬
durchführbar und unmöglich, weil er nicht ... einen
bloß formalen Charakter hat, sondern weil er eine be¬
stimmte Gesellschaftsordnung voraussetzt, eine solche,
in der eine allgemeine Gesetzgebung möglich ist und
diese durch den bloßen guten Willen der einzelnen
Individuen durchgeführt werden kann. Kants Grund¬
gesetz der reinen, praktischen Vernunft« hat nur dann
einen Sinn, wenn in der Gesellschaft, in der wir leben,
eine allgemeine Gesetzgebung^ d. h. ein widerspruchs¬
loses System von Forderungen an den einzelnen möglich
und der Wille des einzelnen frei ist, es bloß vom Wollen
des Individuums abhängt, diese Forderungen durchzu¬
führen oder nicht. Kant führte die Gegensätze in der
Gesellschaft bloß auf den Gegensatz innerhalb des ein¬
zelnen Menschen zurück, auf den Gegensatz zwischen
seiner Geselligkeit und seiner Ungeselligkeit ... Kant
hatte keine Ahnung davon, daß die gesellschaftlichen
Gegensätze aus Faktoren entspringen, die unabhängig
von dem Wollen und dem Bewußtsein des einzelnen
entstehen und wirken, daß die Gegensätze der Gesell¬
schaft nicht bloß Gegensätze einzelner Individuen sind,
sondern auch Gegensätze von Klassen, daß sie nicht nur
Kollisionen zwischen Eigeninteresse und Gesamtinter¬
esse, sondern auch stete Kollisionen der Pflichten gegen¬
über den verschiedenen Gemeinschaften hervorrufen,
denen das Individuum angehört.« \_Leben, Wissenschaft
und Ethik, »Die Neue Zeit«, XXVI. Jg., II. Hbb.,
S. 517 f.]
»Wir ziehen unser ethisches Grundgesetz aus der
Beobachtung der Wirklichkeit ... Kant dagegen und
ebenso alle Kantianer ... suchen ein ethisches Grund-

451
gesetz, dessen zwingende Gewalt daher rühren soll, daß
es außer aller Erfahrung, über aller Erfahrung steht,
das ewige Geltung beanspruchen ... soll ... Dieses
Sittengesetz wird rein aus der Luft geholt, aus der Zer¬
gliederung der reinen praktischen Vernunft, die vor
jeder Erfahrung da ist, und gerade in dieser Reinheit ...
sehen Kant und seine Anhänger die Gewähr für seine
Ewigkeit und seine zwingende Kraft.
Also selbst wenn wir annehmen, daß der Inhalt des
ethischen Grundgesetzes hier wie dort derselbe ist,
unterscheiden sich schon durch diesen Gegensatz der
Methoden unsere und die Kantsche Ethik wie Feuer und
Wasser. Aber ihre Unvereinbarkeit zeigt sich weiter
noch dann, wenn man in dem Grundgesetz mehr sucht
als einen bloßen Gemeinplatz und den Begriff der
Gesellschaft zergliedert, der jeder der beiden Auffassun¬
gen tatsächlich, wenn auch bei Kant bloß unbewußt und
inkonsequent, zugrunde liegt.
Kant kennt eigentlich nur Individuum und Mensch¬
heit ... hat keine Idee davon, daß die Gesellschaft mehr
ist als ein Haufen zusammenlebender Individuen, daß
sie ein Organismus ist, dessen Zellen, die Individuen,
nicht bloß eine gegenseitige Wechselwirkung aufeinan¬
der ausüben, sondern die durch die Arbeitsteilung unter¬
einander auch auf bestimmte Formen des Zusammen¬
wirkens angewiesen sind, die nicht von ihrem guten oder
bösen Willen abhängen, sondern von der Art der Pro¬
duktivkräfte ...« [a.a.O., S. 519]
»Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelt,
desto mehr werden die Pflichten des einzelnen gegen
die Gesamtheit verdunkelt und kompliziert durch die
Pflichten des einzelnen gegen einzelne Organe der
Gesamtheit, desto mehr gesellt sich zu der Möglichkeit
von Kollisionen zwischen Einzelinteresse und Gesamt¬
interesse auch die von Kollisionen zwischen den Interes-

452
sen der einzelnen Organisationen, die die gesellschaft¬
lichen Organe bilden. Kollisionen der letzteren Art sind
es dann, die Gewissensfragen erzeugen, welche für den
einzelnen die quälendsten werden und auf die er so oft
keine Antwort weiß, auf die ihm aber am allerwenigsten
der Kantsche kategorische Imperativ eine Antwort gibt,
da Kant die in den ökonomischen Verhältnissen not¬
wendig bedingten sozialen Gegensätze aller Art bei
seiner Ethik völlig außer acht ließ und nach seiner
Methode auch außer acht lassen mußte ...« [a.a.O.,
S. 520]
Anschließend kritisiert Kautsky Kants berühmtes Bei¬
spiel für die Anwendung des kategorischen Imperativs
(Pflicht, ein mir anvertrautes >Depositum< eines ohne
Testament und Aufzeichnung Verstorbenen an dessen
Hinterbliebene zurückzugeben). Kautsky meint, daß in
diesem Falle nicht das Kriterium des kategorischen
Imperativs, sondern ein festes Gefühl für >soziale Tugend<
und ein entsprechender sozialer Instinkt< die Rückgabe
des Depositums bewirke. Kant hatte behauptet, die
Absicht, besagtes Depositum nicht zurückzugeben, würde
— in Gedanken zum allgemeinen Gesetz gemacht —■
bewirken, >daß es gar kein Depositum gäbec Kautsky
entgegnet: >In der Regel handelt jeder, der ein Deposi¬
tum bei einem anderen niederlegt, so, als wenn jene
Maxime allgemeines Gesetz wäre<. Er läßt sich nämlich
sicherheitshalber eine Quittung über den Betrag geben
und bewahrt diese unter seinen Papieren auf.

»Ganz anders ... steht es mit dem Falle, den Bauer


vorführt. Wohl meint dieser, daß es sich auch hier um
den Gegensatz von persönlichem und allgemeinem
Interesse handele, aber er ist dabei in einem merk¬
würdigen Irrtum befangen. Was seinen Fall zu einem
so schwierigen macht, das ist der Umstand, daß jeg¬
liches persönliches Interesse dabei ausgeschlossen ist.
Sein Freund X verzweifelt, weil er vor der scheußlichen

455
Alternative steht, entweder die Pflichten gegen Weib und
Kind oder die gegen die Kameraden verletzen zu müssen.
Bauer rechnet die ersteren Pflichten merkwürdiger¬
weise zu Ausflüssen des Egoismus, des Eigeninteresses,
was nutzt uns aber die Kantsche allgemeine Gesetz-
gebung< bei einem derartigen Konflikt der sittlichen
Pflichten?
Freilich auch meine Ethik liefert keine Schablone,
einen derartigen Konflikt ohne weiteres ... aufzulösen,
aber wer marxistisch geschult ist, wird am ehesten den
Weg finden, ihn zu überwinden. Hätte Genosse B. sei¬
nen verzweifelten Freund zu mir geschickt ... so hätte
ich als Marxist, dem nichts absolut, alles relativ er¬
scheint, statt nach einer absoluten Formel der Verpflich¬
tung auszuschauen, vor allem versucht, herauszufinden,
wie der Fall eigentlich liegt, welchen besonderen Zu¬
sammenhängen er entspringt.
Da Freund X ein so stark entwickeltes Klassengefühl
hat, ist wohl anzunehmen, daß er einer gewerkschaft¬
lichen Organisation angehört. Woher dann seine Not¬
lage? Sie kann durch außerordentliche Unglücksfälle
verursacht sein. Aber in solcher Situation, wenn er nur
den Ausweg hat zwischen dem Streikbruch und dem
Ruin seiner Familie, hat er das Recht, seinerseits an die
Solidarität zu appellieren; den gesellschaftlichen Pflich¬
ten entsprechen gesellschaftliche Rechte. Besser als
Streikbrecher zu werden ist es jedenfalls, von der
Organisation der bessergestellten Kollegen eine Unter¬
stützung zu verlangen, die über die Not hinweghilft.
Sollten aber die Kollegen des X etwa alle in der
gleichen Notlage sein wie X, sollte der Streik alle ihre
Kräfte erschöpft haben, ihre Frauen und Kinder selbst
hungern — ja dann entsteht die Frage, ob die Fort¬
setzung des Streiks noch einen Zweck hat, ob X nicht
trachten soll, dessen Aufhebung herbeizuführen. Diese

454
Frage ist aber wiederum nicht zu lösen durch einen
kategorischen, rein formalen Imperativ, sondern durch
ein Abwägen der Bedeutung des Kampfobjektes und der
Opfer des Kampfes. Niemand wird fordern, daß die
Arbeiter ihre Familien zugrunde gehen lassen sollen,
etwa bloß um einen groben Werkmeister loszuwerden
oder eine Frühstückspause um 10 Minuten auszudehnen.
Aber sicher gibt es auch Fälle, in denen das Kampfobjekt
so groß ist, daß es gilt, alles zu wagen, nicht bloß das
eigene Leben, sondern auch das von Weib und Kind,
z. B. bei einem politischen Streik, wo es sich darum han¬
delt, ein Mordsystem zu stürzen, das das ganze Land
verwüstet und dessen Bewohner hinmetzelt. Aber in
einem solchen Falle wird die nötige Begeisterung und
Entschlossenheit sicher nie durch irgendeine Analyse
der reinen praktischen Vernunft gewonnen werden,
sondern nur durch den Kampf selbst und durch die Er¬
kenntnis der Wichtigkeit seiner Ziele, der Unerläßlich -
keit seiner Mittel. Da kann die ethische Klarheit und
Entschiedenheit nur aus der Wissenschaft und vor allem
dem Leben stammen, nie aus dem Bereich einer Ethik,
die außer und über der Wissenschaft [gemeint ist die
marxistische Geschichtstheorie] und dem Leben stehen
soll.« [a.a.O., S. 521 f.]

w. I. LENIN

Die kommunistische Kampfmoral:

»Die gesamte Erziehung, Bildung und Schulung der


heutigen Jugend muß eine Erziehung zur kommunisti¬
schen Moral sein.
Aber gibt es denn eine kommunistische Moral? Gibt
es eine kommunistische Sittlichkeit? Natürlich gibt es
die. Oft wird die Sache so hingestellt, als ob wir keine

455
eigene Moral hätten, und sehr oft beschuldigt uns die
Bourgeoisie, daß wir Kommunisten jede Moral ver¬
neinen. Das ist die Methode, die Begriffe zu verwirren,
den Arbeitern und Bauern Sand in die Augen zu streuen.
In welchem Sinne verneinen wir die Moral, verneinen
wir die Sittlichkeit?
In dem Sinne, in dem die Bourgeoisie sie predigte,
die diese Sittlichkeit aus den Geboten Gottes ableitete.
Hier sagen wir natürlich, daß wir nicht an Gott glauben
und sehr wohl wissen, daß die Geistlichkeit, die Guts¬
besitzer und die Bourgeoisie im Namen Gottes sprachen,
um ihre Ausbeuterinteressen durchzusetzen. Oder sie
leiteten diese Moral nicht aus Geboten der Sittlichkeit,
aus Geboten Gottes, sondern aus idealistischen oder halb¬
idealistischen Phrasen ab, die stets ebenfalls auf etwas
hinausliefen, das den Geboten Gottes sehr ähnlich sah.
Jede solche Sittlichkeit, die aus einem übersinnlichen,
klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab. Wir
sagen, daß das Betrug ist, daß das Schwindel ist, eine
Verkleisterung der Hirne der Arbeiter und Bauern im
Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten.
Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen
des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist.
Unsere Sittlichkeit ist abgeleitet aus den Interessen des
proletarischen Klassenkampfes ...« [Rede auf dem drit¬
ten allrussischen Kongreß des Komsomol, 2. 10. 1920;
zit. nach Aus gewählte Werke, Bd. II, S. 788 f.]
»Wir sagen: sittlich ist, was der Zerstörung der alten
Ausbeutergesellschaft dient und dem Zusammenschluß
aller Werktätigen um das Proletariat, das die neue kom¬
munistische Gesellschaft errichtet.
Die kommunistische Sittlichkeit ist jene Sittlichkeit,
die diesem Kampf dient, die die Werktätigen zusam¬
menschließt — gegen jede Ausbeutung, gegen jedes
Kleineigentum, denn das Kleineigentum gibt in die

456
Hände des einzelnen, was durch die Arbeit der ganzen
Gesellschaft geschaffen wurde ...« [a.a.O., S. 790]
»Die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit ist
der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kom¬
munismus. Darin besteht denn auch die Grundlage der
kommunistischen Erziehung, Bildung und Schulung...«
[a.a. O., S. 792]

Die Vollendung der Moral in der kommunistischen


Zukunftsgesellschaft:

»Erst in der kommunistischen Gesellschaft, wenn der


Widerstand der Kapitalisten schon endgültig gebrochen
ist, wenn die Kapitalisten verschwunden sind, wenn es
keine Klassen ... mehr gibt — erst dann >hört der Staat
auf zu bestehen< und >kann von Freiheit die Rede seine
Erst dann ist eine tatsächlich vollkommene Demokratie,
tatsächlich ohne jede Ausnahme, möglich und wird ver¬
wirklicht werden. Und erst dann beginnt die Demo¬
kratie abzusterben, infolge des einfachen Umstands, daß
die von der kapitalistischen Sklaverei ... befreiten
Menschen sich nach und nach gewöhnen werden, die
elementaren, von alters her bekannten und seit Jahr¬
tausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des
Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne
Zwang, ohne Unterordnung, ohne den besonderen
Zwangsapparat, der sich Staat nennt, einzuhalten ...«
[Staat und Revolution (1917), Berlin 1957, S. 95]

PAUL LAFARGUE

Gegen die bürgerliche Arbeitsmoral — Lob der Faulheit:

»Wollt Ihr Euer Dogma von der Arbeit, auf das Ihr Euch
so viel zugute tut, verhöhnt, verdammt sehen? So

457
schlagt die Geschichte der Alten, die Schriften ihrer
Philosophen und ihrer Gesetzgeber nach: >Ich vermag
nicht zu sagen<, schreibt der Vater der Geschichte, Hero-
dot, >ob die Griechen die Verachtung, mit der sie auf
die Arbeit blicken, von den Ägyptern haben, weil ich
dieselbe Verachtung bei den Thrakiem, bei den Skythen,
bei den Persern, bei den Lydern verbreitet finde; mit
einem Worte bei den meisten Barbaren (Nichtgriechen).
Diejenigen, welche die Handwerke lernen, und selbst
deren Kinder als die letzten Bürger betrachtet wer¬
den ...; alle Griechen werden in diesen Grundsätzen
erzogen, besonders die Lakedämonier .. .< ... Die Römer
kannten nur zwei edle und freie Berufe: Landbau und
Waffendienst; alle Bürger lebten von Rechts wegen auf
Kosten des Staatsschatzes, ohne daß sie gezwungen wer¬
den konnten, für ihren Unterhalt durch eine der sordi-
dae artes (schmutzigen Künste, so nannten sie die Hand¬
werke) aufzukommen, die von Rechts wegen den
Sklaven zukamen ...
Die alten Philosophen stritten über den Ursprung der
Ideen, aber sie waren einig, wenn es galt, die Arbeit zu
perhorreszieren. >DieNatur<, schreibt Plato, >... hat weder
Schuhmacher noch Schmiede geschaffen; solche Be¬
schäftigungen entwürdigen die Leute, die sie ausüben:
niedere Lohnarbeiter, Elende ohne Namen, die durch
ihren Stand bereits von den politischen Rechten aus¬
geschlossen sind< ...
Proletarier, die man durch das Dogma von der Arbeit
verdummt hat, hört Ihr die Sprache dieser Philosophen,
die man Euch mit eifersüchtiger Sorge verbirgt? Ein
Bürger, der seine Arbeit für Geld hergibt, erniedrigt
sich zum Rang eines Sklaven; er begeht ein Verbrechen,
das jahrelanges Gefängnis verdient!!
Die christliche Heuchelei und der kapitalistische Uti¬
litarismus ... hatten diese Philosophen des Altertums

458
noch nicht verdorben; da sie für freie Männer lehrten,
so sprachen sie unbefangen ihre Gedanken aus. Plato
und Aristoteles, diese Riesendenker, denen unsere Mode¬
philosophen, und wenn sie sich auf die Fußspitzen stel¬
len, noch nicht bis an die Knöchel reichen, wollten, daß
die Bürger ihrer Idealrepubliken der größten Muße ge¬
nössen, denn, setzte Xenophon hinzu, >die Arbeit nimmt
die ganze Zeit in Anspruch und bei ihr hat man keine
Zeit für die Republik und seine Freundec Nach Plutarch
hatte Lykurg, >der weiseste aller Menschern, deshalb den
großen Anspruch auf die Bewunderung der Nachwelt,
weil er den Bürgern der Republik Muße zusprach, in¬
dem er ihnen die Ausübung irgendeines Handwerks
untersagte.
Aber, werden die Treitschke, die Windthor st, die
Wagner der christlichen und der kapitalistischen Moral
antworten, diese Denker ... predigten die Sklaverei!
Ganz richtig, aber konnte es unter den wirtschaftlichen
und politischen Verhältnissen ihrer Epoche anders
sein? ...
Aber predigen nicht die Moralisten und Ökonomen
des Kapitalismus die moderne Sklaverei, das Lohn¬
system? Und was sind das für Leute, denen der kapitali¬
stische Sklave Muße verschafft? Die Rothschild, die
Bleichröder, die Stumm — unnütze und schädliche
Schmarotzer, Sklaven ihrer Laster und Bedienten. Das
>Vorurteil der Sklaverei beherrsche den Geist von
Aristoteles<... hat man gesagt, und doch träumte Aristo¬
teles : >Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß oder auch vor¬
ausahnend das ihm zukommende Werk verrichten
könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst
bewegten, oder die Dreifüße des Hephästos aus eigenem
Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Weber¬
schiffe von selber webten, so bedürfte es weder für den
Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herren der

459
Sklaven<. Der Traum des Aristoteles ist heute Wirklich¬
keit geworden. Unsere Maschinen verrichten feurigen
Atems, mit stählernen, unermüdlichen Gliedern, mit
wunderbarer, unerschöpflicher Zeugungskraft, gelehrig
und von selbst ihre heilige Arbeit, und doch bleibt der
Geist der großen Philosophen des Kapitalismus nach wie
vor beherrscht vom Vorurteil des Lohnsystems, der
schlimmsten aller Sklavereien. Sie begreifen noch nicht,
daß die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der
Gott, der den Menschen von den sordidae artes und der
Lohnarbeit loskaufen, der Gott, der ihnen Muße und
Freiheit bringen wird.« [Das Recht auf Faulheit, deutsch
von E. Bernstein, Berlin 1891, S. 29 ff.]

Kritische Marxisten

HERBERT MARCUSE

Glück und Moral in einer freien Gesellschaft:

»Die Bestimmung des Glücks als Zustand der allseitigen


Befriedigung der Bedürfnisse des Individuums ist ab¬
strakt und unrichtig, sofern sie Bedürfnisse in ihrer vor¬
handenen Gestalt als letzte Gegebenheit hinnimmt. Die
Bedürfnisse stehen als solche weder jenseits von gut und
böse noch von wahr und falsch. Als geschichtliche Sach¬
verhalte sind sie der Frage nach ihrem >Recht< unter¬
worfen: sind sie solcher Art, daß ihre Befriedigung die
subjektiven und objektiven Möglichkeiten der Indivi¬
duen erfüllen kann? Bei vielen gerade für den herr¬
schenden Zustand der Menschheit charakteristischen
Formen von Bedürfnissen müßte diese Frage im Hin-

460
blick auf den schon erreichten Stand der gesellschaft¬
lichen Entwicklung verneint werden: er ermöglicht ein
wahreres Glück als das, was sich die Menschen heute
selbst verschaffen. Die Lust an der Demütigung anderer
wie an der Selbstdemütigung unter einen stärkeren
Willen, die Lust an den mannigfachsten Surrogaten der
Sexualität, am sinnlosen Opfer, an der Heroizität des
Krieges ist deshalb eine falsche Lust, weil die in ihr sich
erfüllenden Triebe und Bedürfnisse die Menschen un¬
freier, blinder und armseliger machen, als sie sein
müssen. Sie sind Triebe und Bedürfnisse der Individuen,
wie sie in der antagonistischen Gesellschaft heraus¬
gebildet wurden. Sofern sie nicht mit einer neuen Form
der Gesellschaft überhaupt verschwinden sollten, wären
Weisen ihrer Befriedigung denkbar, in denen sich wirk¬
lich die äußersten Möglichkeiten der Menschen glück¬
haft entfalten. Diese Befreiung der Möglichkeiten ist
Sache der gesellschaftlichen Praxis: bei ihr liegt es, was
die Menschen mit ihren ausgebildeten sinnlichen und
seelischen Organen und mit dem durch ihre Arbeit ge¬
schaffenen Reichtum anfangen können, um das höchste
Maß an Glück zu erreichen. So gefaßt, kann das Glück
überhaupt nicht mehr etwas bloß Subjektives sein: es
fällt in den Bereich des gemeinschaftlichen Denkens und
Handelns der Menschen.
Wo die entfalteten Produktivkräfte nur in gefesselter
Form von der Gesellschaft verwertet werden, sind nicht
erst die Befriedigungen, sondern schon die Bedürfnisse
verfälscht ...« [Zur Kritik des Hedonismus, »Zeitschrift
für Sozialforschung«, VII. Jg., 1958, Doppelh. 1/2,
S. 79 f.]
»In der kritischen Theorie hat der Begriff des Glücks
mit dem bürgerlichen Konformismus und Relativismus
nichts mehr zu tun: er ist ein Teil der allgemeinen,
objektiven Wahrheit, die für alle Individuen gilt, sofern

461
ihrer aller Interesse darin aufgehoben ist. Erst gegen¬
über der geschichtlichen Möglichkeit der allgemeinen
Freiheit wird es sinnvoll, auch das faktische, wirklich
empfundene Glück in den bisherigen Daseinsverhältnis-
sen als unwahr zu bezeichnen. Es ist das Interesse des
Individuums, welches sich in seinen Bedürfnissen aus¬
drückt, und ihre Befriedigung entspricht diesem Inter¬
esse. Daß es überhaupt in der von blinden Gesetzen
beherrschten Gesellschaft Glück gibt, ist ein Segen: so
kann sich noch das Individuum in ihr geborgen fühlen
und vor der letzten Verzweiflung bewahrt sein. Die
rigoristische Moral versündigt sich gegen die karge
Gestalt, in der Humanität noch übriggeblieben ist; ihr
gegenüber ist jeder Hedonismus im Recht. Erst heute,
auf der letzten Stufe der Entwicklung des Bestehenden,
wenn die objektiven Kräfte, die zu einer höheren Ord¬
nung der Menschheit drängen, reif geworden sind, und
erst im Zusammenhang der mit solcher Veränderung
verbundenen geschichtlichen Theorie und Praxis darf
mit dem Ganzen des Bestehenden auch das Glück in ihm
Gegenstand der Kritik werden. Es zeigt sich, daß die
Individuen, welche zur Einordnung in den antagonisti¬
schen Arbeitsprozeß erzogen worden sind, nicht Richter
über ihr Glück sein können. Sie sind an der Erkenntnis
ihres wahren Interesses verhindert. So kann es geschehen,
daß sie ihren Zustand als glücklich bezeichnen und sich
ohne äußeren Zwang zu dem System bekennen, das sie
unterdrückt. Die Ergebnisse moderner Volksabstimmun¬
gen beweisen, daß die von der möglichen Wahrheit ge¬
trennten Menschen dazu gebracht werden können,
gegen sich selbst zu stimmen ...
Angesichts der Möglichkeit einer glücklicheren realen
Verfassung der Menschheit ist das Interesse des Indivi¬
duums keine letzte Gegebenheit mehr: es gibt wahres
und falsches Interesse auch im Hinblick auf das Indivi-

462
duum. Sein faktisches, unmittelbares Interesse ist nicht
schon sein wahres Interesse. Nicht als ob das wahre
Interesse dasjenige wäre, das auf Grund des geringeren
Risikos und der größeren Genußchance die Opferung
eures unmittelbaren Interesses verlangte. Solche Be¬
rechnung des Glücks hält sich in dem allgemeinen
Rahmen des falschen Interesses und kann bestenfalls
die Wahl des besseren falschen Glücks erleichtern. Im
wahren Interesse des Individuums kann es nicht sein,
seine eigene Verkümmerung und die der anderen zu
wollen. Nicht einmal im wahren Interesse derjenigen,
deren Macht nur auf Kosten solcher Verkümmerung
aufrechterhalten werden kann. Auf der erreichten Stufe
der Entwicklung kann die Macht nicht mehr die von
ihr beherrschte Welt genießen: in dem Augenblick, wo
sie aufhörte zu arbeiten, immer wieder den blutigen
und aufreibenden Prozeß ihrer bloßen Reproduktion zu
erneuern, wäre sie verloren. Auch für sie gibt es noch
etwas zu gewinnen.
Daß das wahre Interesse des Individuums das Inter¬
esse der Freiheit ist, daß wirkliche individuelle Freiheit
mit wirklicher allgemeiner Freiheit einhergehen kann,
ja erst zusammen mit ihr überhaupt möglich ist, und
daß das Glück schließlich in der Freiheit besteht, dies
alles sind keine Aussagen der philosophischen Anthropo¬
logie über die Natur des Menschen, sondern Beschrei¬
bungen einer geschichtlichen Situation, welche sich die
Menschheit in der Auseinandersetzung mit der Natur
selbst erkämpft hat. Die Individuen, um deren Glück
es bei der Ausnützung dieser Situation geht, sind in der
Schule des Kapitalismus zu Menschen geworden: der
hohen Intensivierung und Differenzierung ihrer Fähig¬
keiten und ihrer Welt entspricht die gesellschaftliche
Fesselung dieser Entfaltung. Sofern die Unfreiheit schon
in den Bedürfnissen steckt und nicht erst in ihrer Befrie-

463
digung, sind sie zunächst zu befreien. Das ist kein Akt
der Erziehung, der moralischen Erneuerung des Men¬
schen, sondern ein ökonomischer und politischer Vor¬
gang. Die Verfügung der Allgemeinheit über die Pro¬
duktionsmittel, die Umstellung des Produktionsprozesses
auf die Bedürfnisse der Gesamtheit, die Verkürzung des
Arbeitstages, die aktive Teilnahme der Individuen an
der Verwaltung des Ganzen gehören zu seinen Inhalten.
Mit der Erschließung aller vorhandenen subjektiven und
objektiven Möglichkeiten der Entfaltung werden die
Bedürfnisse andere geworden sein: jene, welche in dem
gesellschaftlichen Zwang zur Verdrängung, in der Un¬
gerechtigkeit, dem Schmutz und dem Elend gründen,
müßten verschwinden. Aber nichts schließt aus, daß es
auch dann noch Kranke, Verrückte und Verbrecher
geben könnte. Das Reich der Notwendigkeit bleibt be¬
stehen, die Auseinandersetzung mit der Natur und unter
den Menschen selbst geht weiter. So wird auch die
Reproduktion des Ganzen weiterhin mit Entbehrungen
des einzelnen verbunden sein; das besondere Interesse
wird nicht unmittelbar mit dem wahren Interesse zu¬
sammenfallen. Die Differenz von besonderem und
wahrem Interesse ist jedoch etwas anderes als die Diffe¬
renz zwischen dem besonderen Interesse und dem Inter¬
esse einer verselbständigten, die Individuen unterdrük-
kenden Allgemeinheit. In seiner Beziehung zur All¬
gemeinheit wird sich das Individuum wirklich zur
Wahrheit verhalten: in ihren Forderungen und Be¬
schlüssen wird sein Interesse aufbewahrt sein und
schließlich doch seinem Glück zugute kommen. Wenn
das wahre Interesse fernerhin durch ein allgemeines
Gesetz vertreten werden muß, welches bestimmte Be¬
dürfnisse und Befriedigungen verbietet, so wird hinter
solchem Gesetz nicht mehr das partikulare Interesse von
Gruppen stehen, die ihre Macht durch die Usurpation

464

1
der Allgemeinheit gegen diese selbst aufrechterhalten,
sondern der vernünftige Entscheid freier Individuen.
Die mündig gewordenen Menschen werden sich mit
ihren Bedürfnissen selbst auseinanderzusetzen haben.
Ihre Verantwortung wird unendlich viel größer sein,
weil sie die falsche Lust der masochistischen Geborgen¬
heit in dem starken Schutz einer heteronomen Macht
nicht mehr haben werden. Die innere, wirkliche (nicht
erst im Jenseits hergestellte) Verbindung von Pflicht und
Glück, an der die idealistische Ethik verzweifelt hatte,
ist nur in der Freiheit möglich. So hat sie Kant inten¬
diert ...
Wenn die mündigen Individuen bestimmte Bedürf¬
nisse und eine bestimmte Lust als schlecht verwerfen
werden, so geschieht dies aus der autonomen Erkenntnis
ihres wahren Interesses heraus: der Erhaltung der all¬
gemeinen Freiheit. So geschieht es aber im Interesse
ihres Glücks selbst, das nur in der allgemeinen Freiheit
als die Erfüllung aller entfalteten Möglichkeiten da sein
kann. Es war das alte Desiderat des Hedonismus, das
Glück mit der Wahrheit zusammenzudenken. Das Pro¬
blem war unlösbar: solange eine anarchische, unfreie
Gesellschaft über die Wahrheit entschied, konnte sie
entweder nur in dem besonderen Interesse des ver¬
einzelten Individuums oder in den Notwendigkeiten der
verselbständigten Allgemeinheit liegen. Im ersten Fall
ging ihre Form verloren (die Allgemeinheit); im zweiten
ihr Inhalt (die Besonderheit). Die Wahrheit, zu der sich
das befreite Individuum im Glück verhält, ist sowohl
die allgemeine wie die besondere. Das Subjekt ist in
seinem Interesse nicht mehr gegen die anderen ver¬
einzelt, sein Leben kann über den Zufall des Augen¬
blicks hinaus glücklich sein, weil seine Daseinsverhält-
nisse nicht mehr durch einen Arbeitsprozeß bestimmt
werden, der Reichtum nur durch Erhaltung des Elends

465
und der Entbehrung schafft, sondern durch die vernünf¬
tige Selbstverwaltung des Ganzen, an der das Subjekt
aktiv tätig ist. Das Individuum kann sich zu den anderen
als zu seinesgleichen und zur Welt als seiner Welt ver¬
halten: sie wird ihm nicht mehr entfremdet sein. Das
gegenseitige Verstehen wird nicht mehr vom Unglück
durchherrscht sein, da die Einsicht und die Leidenschaft
nicht mehr mit der verdinglichten Gestalt der mensch¬
lichen Beziehungen in Konflikt geraten werden ...«
[a.a.O., S. 80ff.]
»Die Freiheit der Erkenntnis ist ein Teil der wirk¬
lichen Freiheit, die nur mit der gemeinsamen Entschei¬
dung und Befolgung des als wahr Erkannten Zusammen¬
gehen kann. Die wesentliche Rolle der Wahrheit für
das Glück der Individuen läßt nun auch die Bestimmung
des Glücks als Lust und Genuß ungenügend erscheinen.
Wenn die Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr mit der
Erkenntnis von Schuld, Elend und Ungerechtigkeit ver¬
bunden ist, braucht sie nicht mehr außerhalb des Glücks
zu fallen, welches den unmittelbaren, sinnlichen Be¬
ziehungen überlassen bleibt. Einer wirklich schuldlosen
Erkenntnis können auch die persönlichen Verhältnisse
der Menschen für das Glück offen werden: vielleicht
sind sie dann in der Tat jene freie Gemeinschaft im
Leben, von der die idealistische Moral die höchste Ent¬
faltung der Individualität erwartet hatte. Die Erkennt¬
nis wird die Lust nicht mehr stören; vielleicht kann sie
sogar selbst zur Lust werden, wie es die antike Idee des
Nous als letzte Bestimmung der Erkenntnis zu sehen
gewagt hatte. In dem Schreckbild des entfesselten
Genußmenschen, der sich nur seinen sinnlichen Bedürf¬
nissen hingeben würde, steckt noch die Trennung der
geistigen Produktivkräfte von den materiellen und des
Arbeitsprozesses vom Konsumtionsprozeß. Die Über¬
windung dieser Trennung gehört zu den Voraussetzun-

466
\
gen der Freiheit: daß die Entfaltung der materiellen
Bedürfnisse mit der Entfaltung der seelischen und
geistigen Bedürfnisse zusammengehe ... Der Hedonis¬
mus kommt in der kritischen Theorie und Praxis zur
Aufhebung; herrscht die Freiheit auch in den seelischen
und geistigen Lebensbereichen, in der Kultur, steht
diese nicht mehr unter dem Zwang der Verinnerlichung,
dann wird es sinnlos, das Glück auf die sinnliche Lust
zu beschränken.
Die Wirklichkeit des Glücks ist die Wirklichkeit der
Freiheit, als der Selbstbestimmung der befreiten Mensch¬
heit in ihrem gemeinsamen Kampf mit der Natur ...«
[a.a.O., S. 86]
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

Die in Teil I der Bibliographie genannten Werke führen


in die Geschichte des Marxismus, vor allem in die marxi¬
stische Philosophie ein. Teil II (A) enthält die wichtigsten
Publikationen der in diesem Band zitierten Antoren und
Literatur über sie (B). Auf die spezifisch ökonomischen
und politischen Arbeiten wird im zweiten Band ausführ¬
lich verwiesen ; er enthält außerdem biographische Anga¬
ben über die zitierten Autoren.

Karl Vorländer: Kant und Marx, ein Beitrag zur Philo¬


sophie des Sozialismus. Tübingen 1926 (ausführliche Dar¬
stellung der marxistischen Kantianer)
G. D. H. Cole: A History of Socialist Thought. 5 Bde,
London 1955—1960
Georg Lichtheim: Marxism, an Historical and Critical
Study. London 1961
Predrag Vranicki: Historija Marksizma. Zagreb 1961
(serbisch)
»Revisionism, Essays on the History of Marxist Ideas«,
herausgegeben von Leopold Labedz, London 1962 (ent¬
hält Essays über Bernstein, Plechanow, Rosa Luxemburg,
Trotzky, Bucharin, Bogdanow, Deborin, Lukacs, Bloch
usw.)
»Marxismusstudien«. Tübingen 1953 (erste Folge), 1957
(zweite Folge), 1960 (dritte Folge), 1962 (vierte Folge)
[enthält u. a. Thier: Etappen der Marxinterpretation
(erste Folge); Fetscher: Der Marxismus im Spiegel der
französischen Philosophie (zweite Folge); Von der Philo¬
sophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung

469
(zweite Folge); Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel
(dritte Folge)]
Iring Fetscher: Von Marx zur Sowjetideolugie. Frankfurt
1956, 1965 (9. Auf).)

II

MAX ADLER

Kausalität und Teleologie im Streite um die JVissen-


schaft. In: »Marx-Studien«, Wien 1904, Bd. I
Marx als Denker. Berlin 1908, 1920 (2. Aufl.), 1925
(5. verm. Aufl.)
Marxistische Probleme. Stuttgart 1915, 1920 (4. Aufl.)
Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Marxis¬
mus. Stuttgart 1914
Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik. Ein Bei¬
trag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus
und Kritizismus. Wien 1924
Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Er¬
ziehung. Berlin 1924
Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung.
1950, Bd. I; 1952, Bd. II

BRUNO BAUER

A Das entdeckte Christentum, eine Erinnerung an das


18. Jahrhundert und ein Beitrag zur Krisis des 19.
Zürich—Winterthur 1845, Jena 1927 (Neudruck)
Die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den
Atheisten und Antichristen. Leipzig 1841 (Neudruck in
K. Löwith: Die Hegelsche Linke. Stuttgart 1962)
Hegels Lehre von der Religion und Kunst von dem
Standpunkte des Glaubens aus beurteilt. Leipzig 1842
Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes.
Bremen 1840
Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker
Leipzig 1841

470
B E. Barnikol: Bruno Bauers Kampf gegen Religion und
Christen — und die Spaltung der vormärzlichen preu¬
ßischen Opposition. In: »Zeitschrift für Kirchenge¬
schichte«, 1928, Heft 1, S. 1 ff.

OTTO BAUER

Marxismus und Ethik. »Die Neue Zeit«, 1905/06


XXIV. Jg., Bd. II, S. 485—499
Das H eltbild des Kapitalismus. In: »Der lebendige
Marxismus«, Festschrift zum 70. Geburtstag von
K. Kautsky (1924).

ERNEST BELFORT BAX

Hyndman und Bax, die materialistische Geschichtsauf¬


»Die Neue Zeit«, 1913/14, XXXII. Jg., Bd. I,
fassung.
S. 788—790

NIKOLAI ALEXANDROWITSCH BERDJAJEW

Friedrich Albert Lange und die kritische Philosophie


in ihren Beziehungen zum Sozialismus. »Die Neue
Zeit«, 1899/1900, XVIII. Jg., Bd. II, S. 132—140,
164—174
Subjektivismus und Individualismus in der Gesellschafts-
philosophie. Kritische Untersuchung über N. K.
Michailowski mit einem Vorwort von Peter v. Struve.
Petersburg 1900 (russ.)
Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Darmstadt—
Genf 1953

EDUARD BERNSTEIN

A Die JVoraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben


der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899, 1908, 1920
(verb. u. erg. Ausg.)
Gesam¬
Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus.
melte Abhandlungen. Berlin—Bern 1901 (enthält

471
die meisten Aufsätze aus der »Neuen Zeit«, 1896—98,
über Probleme des Sozialismus und nach 1899 zur
Verteidigung der erstgenannten Schrift)
Der Revisionismus in der Sozialdemokratie. Amster¬
dam 1909
Sozialismus einst und jetzt. Streitfragen des Sozialis¬
mus in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart—-
Berlin 1922

B Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische


Programm. Eine Antikritik. Stuttgart 1899 (vgl. auch
zahlreiche Polemiken in der »Neuen Zeit« 1899ff.)
Peter Gay: Das Dilemma des demokratischen Sozia¬
lismus. 1952 (engl.), Nürnberg 1954
Christian Gneuss: Um den Einklang von Theorie und
Praxis. Eduard Bernstein und der Revisionismus. In:
»Marxismusstudien«, 1957 (zweite Folge), S. 198 bis
226
The Precursor: Eduard Bernstein. In: »Revisionism,
Essays in the History of Marxist Ideas«, London 1962,
S. 51—41

NIKOLAI BUCHARIN

A Programm der Kommunisten (Bolschewiki). Bern 1918.


Das ABC des Kommunismus. 1919
Theorie des historischen Materialismus. Gemeinver¬
ständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie.
Hamburg 1922
Die Attacke (Atakaj. Sammlung theoretischer Auf¬
sätze. Moskau 1924 (russ.)

B Bibliographie: N. I. Bucharm. Bibliographische Mit¬


teilungen des Osteuropa-Institutes der Freien Univer¬
sität Berlin. 1959
Sidney Heitman: Between Lenin and Stalin: Nikolai
Bukharin. In: »Revisionism, Essays in the History of
Marxist Ideas«, London 1962, S. 77—90

472
AUGUST GRAF VON CIESZKOWSKI

A Prolegomena zur Historiosophie. 1858, 1908 (2. Aull.)


Gott und Palingenesis. 1842
Ojcze Nasz (Vaterunser). 1899, 1905, 1929
De la Pairie et de VAristocratie Moderne. 1844

B A. Zoltowski: August Graf von Cieszkowskis Philo¬


sophie der Tat, die Grundzüge der Delire und der Auf¬
bau des Systems (Münchener Diss.). Posen 1904
W. Kühne: Die Polen und die Philosophie Hegels. In:
D. Tschizewskij: Hegel bei den Slawen. 1954, S. 7 bis
144; Darmstadt 1961 (2. verm. Aufl.)
W. Kühne: August Graf von Cieszkowski, ein Schüler
Hegels und des deutschen Idealismus. 1958

HEINRICH CUNOW

Die soziale Herfassung des Inka-Reiches. 1896


Ein Kritiker der materialistischen Geschichtstheorie
(Paul Barth). »Die Neue Zeit«, 1898/99, XVII. Jg.,
Bd. II, S. 584—595
Erkenntnistheoretische Marxkritik. »Die Neue Zeit«,
1900/01, XIX. Jg., Bd. II, S. 420—429, 457—465
Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staats-
thcorie. 2 Bde, Berlin 1920/21
Ursprung der Religion und des Gottesglaubens. Berlin
1924

ABRAM MOISEEWITSCH DEBORIN

A Zu Mandevilles Ethik und Kants »Sozialismus«. »Die


Neue Zeit«, 1905/06, XXIV. Jg., Bd. II, S. 45—50
Revolution und Kultur. »Die Neue Zeit«, 1906/07,
XXV. Jg., Bd. I, S. 802—810
Die Philosophie des Individuums und die bürgerliche
Gesellschaft. »Die Neue Zeit«, 1907/08, XXVI. Jg.,
S. 220—225
Des Revisionismus letzte IVeisheit. In: »Unter dem
Banner des Marxismus«, 1925, I. Jg., S. 64—89

475
Lenin als revolutionärer Dialektiker. In: »Unter dem
Banner des Marxismus«, 1925, I. Jg., S. 201—230
Materialistische Dialektik und Naturwissenschaft. In:
»Unter dem Banner des Marxismus«, 1926, I. Jg.,
S. 429—458
Benedictus Spinoza. In: »Unter dem Banner des Mar¬
xismus«, 1928, II. Jg., S. 1—7
Ein neuer Feldzug gegen den Marxismus (Kritik an
Hendrik de Mans Psychologie des Sozialismus). In:
»Unter dem Banner des Marxismus«, 1928, II. Jg.,
S. 44—67
Die Weltanschauung Spinozas. In: Thalheimer und
Deborin: Spinozas Stellung in der Vorgeschichte des
dialektischen Materialismus. Wien — Berlin 1928

B Bibliographie: A. M. Deborin. Bibliographische Mit¬


teilungen des Osteuropa-Institutes an der Freien
Universität Berlin. 1959, Heft 2
Rene Ahlberg: Dialektische Philosophie und Gesell¬
schaft in der Sowjetunion. Berlin 1960
Rene Ahlberg: The forgotten Philosopher: Abram
Deborin. In: »Revisionism, Essays in the History of
Marxist Ideas«, herausgegeben von L. Labedz.
London 1962

JOSEPH DIETZGEN

A Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. 1869


Die Religion der Sozialdemokratie. In: »Volksstaat«,
1870—75
Sozialdemokratische Philosophie. In:»Volksstaat«, 1876
Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkennt¬
nistheorie. 1886
Das Akquisit der Philosophie. 1887
(Sämtliche obengenannten Schriften sind enthalten in:
J. Dietzgen: Gesammelte Schriften. Berlin 1930)

B Henriette Roland-Holst: J. Dietzgens Philosophie, ge¬


meinverständlich erläutert in ihrer Bedeutung für das
Proletariat. München 1910, 1922

474
Adolf Hepner: J. Dietzgens philosophische Lehren.
Stuttgart 1916
Max Apel: Einführung in die Gedankenwelt J. Dietzgens.
Berlin 1951

FRIEDRICH ENGELS

(siehe auch unter Marx)

A Herrn Eugen Diihj'ings Umwälzung der Wissenschaft


(Anti-Dühring). 1878, Ostberlin 1948 (Neuausgabe)
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft. 1882
Der Ursprung der Familie des Privateigentums und
des Staats. 1884
Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
deutschen Philosophie. »Die Neue Zeit«, 1886 (Buch¬
ausgabe 1888), IV. Jg., S. 145—157, 193—209
Dialektik der Natur. Moskau —Leningrad 1953, Ost¬
berlin 1951

B Max Adler: Engels als Denker. Berlin 1925


Gustav Meyer: Friedrich Engels. Eine Biographie.
2 Bde, den Haag 1954 (außerdem ein Ergänzungs¬
band mit Jugendarbeiten Engels)
Keinhart Seeger: Friedrich Engels. Die religiöse Ent¬
wicklung des Spätpietisten und Frühsozialisten. Halle
1955
Karl Kupisch: Fom Pietismus zum Kommunismus.
Historische Gestalten, Szenen, Probleme. Berlin 1955
Hermann Bollnow: Engels’ Auffassung von Revolu¬
tion und Entwicklung in seinen »Grundsätzen des
Kommunismus«. In: »Marxismusstudien«, Tübingen
1953 (erste Folge)

LUDWIG FEUERBACH

A Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. 1839


Forläufige Thesen zur Reform der Philosophie. 1842

475
Das Wesen des Christentums. 1841, Berlin 1956 (Neu¬
auflage; herausgegeben von W. Schuffenhauer)
Grundsätze der Philosophie der Zukunft. 1845
Vorlesungen über das Wesen der Religion. 1848
(Sämtliche genannten Schriften sind enthalten in:
Ludwig Feuerbach: Sämtliche Werke. 10 Bde, her¬
ausgegeben von W. Bolin und F. Jodl, 1903—1911,
neue Aufl. Stuttgart 1959)

B Friedrich Jodl: Ludwig Feuerbach. Stuttgart 1921


Karl Barth: Ludwig Feuerbach. (Fragment einer 1926
zu Münster gehaltenen Vorlesung.) In : »Die Theologie
und die Kirche«, Gesammelte Vorträge, 2. Bd., Zol¬
likon- Zürich o. J.
H. Arvon: Ludwig Feuerbach Ou la Transformation
du Sacre. Paris 1957
Gerd Dicke: Der Identitätsgedanke bei Feuerbach und
Marx. Köln — Opladen 1960
Klaus Bockmühl: Leiblichkeit und Gesellschaft. Stu¬
dien zur Religionskritik und Anthropologie im Früh¬
werk von Ludwig Feuerbach und Karl Marx. Göt¬
tingen 1961

ANTONIO GRAMSCI

A II Materialismo storico e la Filosofia di Benedetto


Croce. Torino 1948
Gli Intelletuali e l' Organizzazione della Cultura.
Torino 1949
Note sul Machiavelli, sulla Politica et sullo Stato
moderno. Torino 1949
Letteratura e Vita nazionale. Torino 1950
Oeuvres Choisies. Traduction et notes par G. Moget et
A. Monjo. Paris 1959
Briefe aus dem Kerker (Lettere dal Carcere). Berlin
1956

B N. Matteucci: Antonio Gramsci e la Filosofia della


Prassi. Milano 1951 (Bibliographie)

476
M. M. Cottier: Le Neomarxisme d’Antonio Gramsci.
In: »Nova et Vetera«, 1955
Palmiro Togliatti: Antonio Gramsci, ein Leben für
die italienische Arbeiterklasse. Berlin 1954 (die »offi¬
zielle« kommunistische Biographie)

FRANCOIS GUIZOT

Histoire de la Civilisation en Europc. 1828


Histoire de la Civilisation en France. 1851
Histoire de la Revolution d' Angleterre. 1826/27

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

A Die Phänomenologie des Geistes. 1807


Grundlinien der Philosophie des Rechts. 1821
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte.
Sämtliche Werke, Bd. IX, 1857
(Sämtliche — Marx bekannten — Werke sind jetzt
wieder greifbar in der von H. Glöckner betreuten, im
Faksimileverfahren hergestellten Jubiläumsausgabe.
Stuttgart 1959 f.)

B Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. 2 Bde, 1920.


Herbert Marcuse: Reason and Revolution. Hegel and
the Rise of Social Theory. London 1941, 1955 (2. erg.
Auf].), deutsch Neuwied 1962
Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Zürich 1941,
Stuttgart 1950
Eric Weil: Hegel et l'Etat. Paris 1950
Jean Hyppolite: Etudes sur Marx et Hegel. Paris 1955
Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolu¬
tion. Köln — Opladen 1957 (Bibliographie)
Alexandre Kojeve: Hegel, eine Vergegenwärtigung
seines Denkens (herausgegeben von I. Fetscher). Stutt¬
gart 1958

MOSES HESS

A Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem


Jünger Spinozas. 1857

477
Die europäische Triarchie. 1841
Philosophie der Tat. In: »Einundzwanzig Bogen aus
der Schweiz« (herausgegeben von G. Herwegh),
Zürich—Winterthur 1843
Über die sozialistische Bewegung in Deutschland. In:
»Neue Anekdota«, Darmstadt 1845
Kommunistisches Bekenntnis in Fragen und Antworten.
In: »Rheinische Jahrbücher zur Gesellschaftlichen
Reform«, Bellevue bei Constanz 1846, Bd. II
Roter Katechismus für das deutsche Folk. 1848/49
(Sämtliche genannten Arbeiten sind enthalten in:
Moses Heß: Philosophische und sozialistische Schriften
1837—1850. Berlin 1961)

B Th. Zlocisti: Moses Heß, der Forkdmpfer des Sozia¬


lismus und Zionismus. Berlin 1921
Georg Lukäcs: Moses Heß und die Probleme der
idealistischen Dialektik. In: »Grünbergs Archiv«,
1926, Bd. XII
Irma Gotein: Probleme der Gesellschaft und des
Staates bei Moses Heß. Leipzig 1931
Edmund Silberner: Moses Heß. An Annotated Biblio-
graphy. New York 1951

HENRY MAYERS HYNDMAN

A England for All. The Text-Book of Democracy. 1881.


A Summary of the Principles of Socialism (zusammen
mit W. Morris). 1884
Marx's Theory of Falue. 1889
Manifesto of English Socialists (zusammen mit
W. Morris und G. B. Shaw). 1893
Death and the Socialist Ideal. 1907
Die materialistische Geschichtsauffassung (zusammen
mit B. Bax). »Die Neue Zeit«, 1913/14, XXXII. Jg.,
Bd. I, S. 788—790

B Chushichi Tsuzuki: H. M. Hyndman and British


Socialism. Oxford 1961

478
JEAN JAURES

A De Primis Socialismi Germanici Lineamentis. Tou¬


louse 1891
(Des Origines du Socialisme Allemand. Preface de
L. Goldmann. Paris 1960)
Etudes Socialistes. Paris 1901
Oeuvres (herausgegeben von Max Bonnafous). Paris
1951—59, IX Bde

B Charles Rappoport: J. Jaures, L'Homme, le Penseur,


le Socialiste. Paris 1915
J. Hampden Jackson: J. Jaures, sein Deben und sein
Werk. Hamburg 1949

KARL KAUTSKY

A Der Einfluß der Volksvermehrung auf den Fortschritt


der Gesellschaft untersucht. Wien 1880
Karl Marx’ ökonomische Lehren, gemeinverständlich
dargestellt und erläutert. 1887
Thomas Moore und seine Utopie. 1888
Die Klassengegensätze von 1789. 1889
Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen
Teil erläutert. 1892
Die Vorläufer des neuren Sozialismus. Bd. I: »Von
Plato bis zu den Wiedertäufern«, 1895; Bd. II: »Von
Thomas Moore bis zum Vorabend der franz. Revolu¬
tion«, 1895
Die materialistische Geschichtsauffassung und der
psychologische Antrieb (Polemik gegen E. Beifort
Bax). »Die Neue Zeit«, 1896, XIV. Jg., Bd. I, S. 652
bis 659
Was will und kann die materialistische Geschichtsauf¬
fassung leisten? (Antwort an E. Beifort Bax). »Die
Neue Zeit«, XV. Jg., Bd. I, S. 215—218, 228—258,
260—271
Utopistischer und materialistischer Marxismus (Ant¬
wort an E. Beifort Bax). »Die Neue Zeit«, XV. Jg.,
Bd. I, S. 716—727

479
Bernstein und das sozialdemokratische Programm,
eine Anti-Kritik. 1899
Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung.
»Die Neue Zeit«, XVII. Jg., Bd. II, S. 4—16
Bernstein und die Dialektik. »Die Neue Zeit«, XVII.
Jg., Bd. II, S. 56—50
Klassenkampf und Ethik. »Die Neue Zeit«, XIX. Jg.,
Bd. I, S. 233—242, 468—472
Bernsteins alte Artikel und neue Schmerzen. »Die
Neue Zeit«, XIX. Jg., Bd. II, S. 274—278
Problematischer gegen wissenschaftlicher Sozialismus.
»Die Neue Zeit«, XIX. Jg., Bd. II, S. 355—364 (gegen
Bernsteins Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus mög¬
lich?)
Die soziale Revolution. 1. Sozialreform und soziale
Revolution. Berlin 1902
Drei Krisen des Marxismus (Gegenrevolution 1849,
Ende der 1. Internationale, Revisionismus). »Die
Neue Zeit«, XXI. Jg., Bd. I, S. 723—751
Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Ein
Versuch. Stuttgart 1906
Leben, Wissenschaft und Ethik (Antwort auf O. Bauers
Kritik). »Die Neue Zeit«, XXIV. Jg., Bd. II, S. 516
bis 529
Der Ursprung des Christentums, eine historische Unter¬
suchung. Stuttgart 1908
Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesell¬
schaft. Stuttgart 1910
Die materialistische Geschichtsauffassung. 2 Bde,
Berlin 1927
Erinnerungen und Erörterungen (herausgegeben von
B. Kautsky). 1960

B Karl Korsch: Karl Kautsky und die materialistische


Geschichtsauffassung. In: »Grünbergs Archiv«, 1929,
XIV. Jg., S. 179—279
Erich Mathias: Kautsky und der Kautskyanismus.
»Marxismusstudien«, Tübingen 1957 (zweite Folge)

480
Werner Blumenberg: Karl Kautsky's literarisches
fVerk. Eine bibliographische Übersicht. Den Haag
1960

KARL KORSCH

A Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung.


Leipzig 1922
Karl Marx' Randglossen zum Programm der deutschen
Arbeiterpartei (mit einer ausführlichen Einleitung
und 6 Anhängen, herausgegeben von R. Korsch).
Leipzig 1922
Marxismus und Philosophie. In: »Grünbergs Archiv«,
1925, 1930 (Buchausgabe)
Der gegenwärtige Stand des Problems Marxismus und
Philosophie (Einleitung zur 2. Aufl. des vorigen). 1930
Karl Marx. London 1958

B Autobiographischer Artikel in »The Southern Advocate


for Workers Councils«, Melbourne, Juli—-August 1948
Kostas Axelos: Presentation bio-bibliographique de
Karl Korsch. In: »Arguments«, 1959, 5e annee, Nr.16,
S. 26 f.

ANTONIO LABRIOLA

A Essais sur la Conception materialiste de VHistoire.


Paris 1896, 1928 (Del materialismo storico. 1897)
Socialisme et Philosophie. Paris 1897
Zur Krise des Marxismus (Kritik an Masaryks Die
philosophischen und soziologischen Grundlagen des
Marxismus). »Die Neue Zeit«, 1899/1900, XVIII. Jg.,
• Bd. I, S. 68—80
Scritti vari di Filosofia et di Politica, a cura di Bene-
detto Croce. Bari 1906
(Zahlreiche Artikel in »Le Devenir Social«, »Critica
Sociale« usw.)

B Charles Andler: La Conception materialiste de VHis¬


toire d’apres Labriola. (»Revue de Metaphysique et
de Morale«) 1897

481
Benedetto Croce: Come nacque e mori il Marxismo
teorico in Italia (im Anhang zu der von Croce besorg¬
ten Neuauflage der Concezione materialistica della
Storia). Bari 1939
G. Berti: Per uno Studio della Vita e del Pensiero di
Antonio Labriola. Koma 1954

PAUL LAFARGUE

Das Recht auf Faulheit (Le Droit ä la Paresse. 1883).


Berlin 1891 (übersetzt von Eduard Bernstein)
LeCommunisme et VEvolution Economique. Lille 1892
Der Ursprung der Idee des Gerechten und Unge¬
rechten. »Die Neue Zeit«, 1898/99, XVII. Jg., Bd. II,
S. 421—426, 464—473, 488—493
Der Ursprung der abstrakten Ideen. »Die Neue Zeit«,
1898/99, XVII. Jg., Bd. I, S. 18—23, 40—50
Der Ursprung der Idee des Guten. »Die Neue Zeit«,
1899/1900, XVIII. Jg., Bd. I, S. 80—86, 106—111,
176—180
Marx’ historischer Materialismus. »Die Neue Zeit«,
1903/04, XXII. Jg., Bd. I, S. 70—78
Die Ursachen des Gottesglaubens. »Die Neue Zeit«,
1905/06, XXIV. Jg., Bd. I, S. 476—480, 508—518,
548—556
Le Determinisme economique: la Methode historique
de Karl Marx. 1907
La Religion du Capital. 1907

WLADIMIR ILJITSCH LENIN

A Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Be¬


merkungen über eine reaktionäre Philosophie. 1909,
deutsch Moskau 1947
Die Aufgaben der Jugendverbände. Rede auf dem
dritten allrussischen Kongreß des Kommunistischen
Jugendverbandes Rußlands am 2.10.1920. In: »Praw-
da«, 5., 6. und 7. 10. 1920;deutsch: W. I. Lenin Aus¬
gewählte Werke, Bd. II, S. 780—797

482
Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus. In:
»Pod Znamjenem Marksisma« (März 1922); deutsch
in: »Unter dem Banner des Marxismus«, 1925, I. Jg.,
Heft 1, S. 9—20
Aus dem philosophischen Nachlaß. Exzerpte und Rand¬
glossen. Deutsch 1932, Berlin 1949
Über die Religion (Sammlung von Aufsätzen). Mos¬
kau 1954; deutsch Moskau o. J., Berlin 1956

Werkausgaben:

Sotschinjenija (Werke). Moskau 1941—-1951, 4. Aufl.


(danach die in Ostberlin erscheinende deutsche Aus¬
gabe; zuverlässiger ist die »vorstalinistische« 3. Aufl.)
Ausgewählte Werke in 12 Bänden. Wien—Berlin
1928
Ausgewählte Werke in 2 Bänden. Moskau 1946 u. ö.
Marx — Engels — Marxismus. Moskau 1947

B I. Luppol: Lenin und die Philosophie. Wien—Berlin


1929
David Shub: Lenin: A Biography. New York 1948;
deutsch Wiesbaden 1952
Georg von Rauch: Lenin, Grundlegung des Sowjet¬
systems. Göttingen 1952
Henri Lefebvre: Pour connaitre la Pensee de Le'nine.
Paris 1957

GEORG LUKÄCS

A Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über mar¬


xistische Dialektik. Berlin 1923
Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen
Ideologie. Berlin 1948
Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik
und Ökonomie. Zürich—Wien 1948, Berlin 1954
Existenzialismus oder Marxismus? Berlin 1951
Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954
(Der Verlag Luchterhand bringt eine Ausgabe der
Werke Lukäcs heraus; im gleichen Verlag hat Peter

483
Ludz eine interessante Auswahl (1er Schriften zur
Literatur Soziologie von Georg Lukäcs zusammen¬
gestellt, Neuwied 1961.)

B Lucien Goldmann: Georg Lukäcs, UEssayiste. In:


»Revue Esthetique«, 1950, S. 82 ff. Neudruck in
L. Goldmann: Recherches dialectiques. Paris 1959
Bela Laszlo: Georg Lukäcs ou le Destin du dernier Philo-
sophe marxiste. In: »Preuves«, 1951, Heft 5, S. 12ff.
Georg Lukäcs zum siebzigsten Geburtstag. Berlin 1955
(mit Bibliographie der selbständigen Publikationen
von Georg Lukäcs)
Morris Watnick: Georg Lukäcs: An Intellectual Bio-
graphy. In: »Soviet Survey«, Nr. 25, S. 60—66; Nr.
24, S. 51—57; Nr. 25, S. 61—68 (etwas überarbeitet
wieder abgedruckt in »Revisionism, Essays in the
History of Marxist Ideas«, London 1962, S. 142—165)
Peter Ludz: Marxismus und Literatur — eine kriti¬
sche Einführung in das Werk von Georg Lukäcs (in der
von ihm besorgten Auswahl Schriften zur Literatur¬
soziologie. Neuwied 1961, S. 19—68)

HERBERT MARCUSE

Zur Wahrheitsproblematik der soziologischen Methode


(Kritik an Karl Mannheims Ideologie und Utopie). In:
»Die Gesellschaft«, 1929, VI. Jg., S. 356—569
Transzendentaler Marxismus? (Kritik an Max Adler).
In: »Die Gesellschaft«, 1930, VII. Jg., Bd. II, S. 304
bis 526
Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie
der Geschichtlichkeit. Frankfurt 1952
Neue Quellen zur Grundlegung des historischen Ma¬
terialismus. In: »Die Gesellschaft«, 1952, IX. Jg.,
Bd. II, S. 156—174
Uber die philosophischen Grundlagen des wirtschafts¬
wissenschaftlichen Arbeitsbegrijfs. »Archiv für Sozial¬
wissenschaft und Sozialpolitik«, 1933, Bd. 69, S. 257
bis 292

484
Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären
Staatsauffassung. In : »Zeitschrift für Sozialforschung«,
1954, III. Jg., S. 161—194
Zum Begriff des Wesens. In: »Zeitschrift für Sozial¬
forschung«, V. Jg., S. 1—37
Über den affirmativen Charakter der Kultur. In : »Zeit¬
schrift für Sozialforschung«, 1957, VI. Jg., S. 54—92
Philosophie und kritische Theorie. In: »Zeitschrift für
Sozialforschung«, 1957, VI. Jg., S. 651—647
Zur Kritik des Hedonismus. In: »Zeitschrift für Sozial¬
forschung«, 1958, VII. Jg., S. 55—88
Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social
Theory. London 1941, 1955 (2. erw. Aufl.)
Existenzialismus. Bemerkungen zu J. P. Sartres
L'Etre et le Neant. In: »Sinn und Form«, 1950,
2. Jg., 2. Heft, S. 50—82
Eros and Civilisations. Boston 1955 (Eros und Kultur.
Stuttgart 1957)
Trieblehre und Freiheit und die Idee des Fortschritts im
Lichte der Psychoanalyse. In: »Freud und die Gegen¬
wart«. Ein Vortragszyklus, »Frankfurter Beiträge zur
Soziologie«, 1957, Bd. 6, S. 401—441
Soviet Marxism: A Critical Analysis. New York 1958

KARL MARX

A Zur Judenfrage. In: »Deutsch-Französische Jahrbü¬


cher«, 1844
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Ein¬
leitung. In: »Deutsch-Französische Jahrbücher«, 1844
Zur Kritik der Nationalökonomie. Ökonomisch-Philo-
sophischeManuskripte (geschrieben 1844). Erstdruck in
der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. 5 (I. Abteilung),
1931 und in: Marx Der Historische Materialismus (Hg.
S. Landshut und J. P. Mayer), 2 Bde, Leipzig 1931
Die Heilige Familie. 1845 (zusammen mit Engels)
MEGA, I. Abteilung, Bd. 3, Einzelausgabe, Berlin
1953

485
Die Deutsche Ideologie (geschrieben 1845/46). Erst¬
druck: MEGA, I. Abteilung, Bd. 5
Misere de la Philosophie. Brüssel 1847 (Stuttgart
1885; jetzt Berlin 1947 u. ö.)
Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (ge¬
schrieben 1857/58). Erstdruck: Moskau 1939/41,
2 Bde; Neudruck: Berlin 1953
Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1947
Das Kapital. Bd. I, 1867; Bd. II (aus dem Nach¬
laß herausgegeben von F. Engels), 1885; Bd. III,
1894
Marx-Engels-Gesamtausgabe. Frankfurt — Berlin —
Moskau 1927—1935 (I. Abteilung: »Schriften bis
1848«; III. Abteilung: »Briefwechsel Marx-Engels«.
Unabgeschlossen, bisher beste Edition der Früh¬
schriften)
Marx-Engels: kVerke. Berlin 1956 ff. (auf 35 Bände
geplante, nicht vollständige Ausgabe auf Grund der
russischen Edition; bis 1962 sind 18 Bände erschienen).
Karl Marx: fVerke, Schriften, Briefe (herausgegeben
von H. J. Lieber).Stuttgart 1960 ff. (bisher erschienen:
Bd. I: »Frühschriften«; Bd. III, 1 und 2: »Politische
Schriften«; Bd. IV, 1: »ökonomische Schriften«)
Marx-Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden.
Berlin 1954
Die Frühschriften (herausgegeben von S. Landshut).
Stuttgart 1953

B Biographien und Bibliographien:

Franz Mehring: Karl Marx. Geschichte seines Lebens.


1918, Leipzig 1933 (5. Aufl.)
Isaiah Berlin: Karl Marx. Sein Leben und sein Werk.
München 1959

Maximilien Rubel: Bibliographie des ceuvres de Karl


Marx. Paris 1956
Karl Marx. Essai de Biographie intellectuelle. Paris
1957

486
Gertrud Hertel: Inhaltsvergleichsregister der Marx-
Engels-Gesamtausgaben. Berlin 1957
Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels.
Bd. I (1818—1844), Berlin 1954
Zur Marxschen Philosophie:

Herbert Marcuse: Neue Quellen zur Grundlegung des


historischen Materialismus. In: »Die Gesellschaft«,
1932, IX. Jg., S. 136—174
Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social
Theory. London 1941, deutsch Neuwied 1962
Karl Löwith: Max JVeber und Karl Marx. In: »Archiv
für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik«, 1932,
Bd. 67 (wieder abgedruckt in: Gesammelte Abhand¬
lungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz.
Stuttgart 1960)
Sidney Hook: From Hegel to Marx. Studies in the
Intellectual Development of Karl Marx. London 1936
Ludwig Landgrebe: Hegel und Marx. In:»Marxis¬
musstudien«, Tübingen 1953 (erste Folge)
Das Problem der Dialektik. In: »Marxismusstudien«,
Tübingen 1960 (dritte Folge)
Heinrich Popitz: Der entfremdete Mensch. Zeitkritik
und Geschichtsphilosophie des jungen Marx. Basel
1953
Jakob Hommes: Der technische Eros. Das Wesen der
materialistischen Geschichtsauffassung. Freiburg 1955
Jean-Yves Calvez: La Pensee de Karl Marx. Paris
1956 (enthält ein Verzeichnis der franz. Arbeiten über
Marx)
Helmut Gollwitzer: Zum Verständnis des Menschen
beim jungen Marx. Festschrift Günther Dehn, 1957,
S. 183—203
Erwin Metzke: Mensch und Geschichte im ursprüng¬
lichen Ansatz des Marxschen Denkens. In : »Marxismus¬
studien«, 1957 (zweite Folge)
Erich Thier: Das Menschenbild des jungen Marx.
Göttingen 1957

487
Manfred Friedrich: Philosophie und Ökonomie heim
jungen Marz. Berlin 1960
Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre
von Karl Marz. Frankfurt 1962

FRANCOIS A. MIGNET

Histoire de la Revolution Franqaise. 2 Bde, 1824


Introduction ä l’Histoire de la Succession d'Espagne.
1843

GEORGI WALENTINOWITSCH PLECHANOW

A Anarchismus und Sozialismus. Berlin 1894


Zur Frage der Entwicklung der monistischen Ge¬
schichtsauffassung (russ. 1895). Berlin 1956
Beiträge zur Geschichte des Materialismus (deutsch
1896). Russ. 1922
Uber materialistische Geschichtsauffassung (1897).
Berlin 1946
Bernstein und der Materialismus. »Die Neue Zeit«,
1898, XVI. Jg., Bd. II, S. 545—555
Uber die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte
(1898). Berlin 1952
Konrad Schmidt gegen Karl Marz und Friedrich Engels.
»Die Neue Zeit«, 1899, XVII. Jg., Bd. I, S. 153—144
Materialismus oder Kantianismus. »Die Neue Zeit«,
1899, XVII. Jg., Bd. I, S. 589—596, 626—632
La Conception materialiste de V Histoire (Vorträge vor
Genfer Arbeitern, 1904). Paris 1946
Die Grundprobleme des Marzismus (russ. 1908). Stutt
gart 1910
Kunst und Literatur (ein Sammelband). Berlin 1955
Sotschinjenija (Werke, herausgegeben von Rjasanow,
24 Bde). Moskau 1922—1927

B W. Waganjan: G. W. Plechanow. Moskau 1924 (russ.)


S. Wolfson: G. kV. Plechanow. Minsk 1924 (russ.)

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Plechanow. In: »Revisionism, Essays in the History of
Marxist Ideas«, London 1962
W. A. Fomina: Die philosophischen Anschauungen
G. JV. Plechanows. Berlin 1957

KONRAD SCHMIDT

Einige Bemerkungen über Plechanows letzten Artikel


in der »Neuen Zeit«. »Die Neue Zeit«, 1898/99, XVII.
Jg., Bd. I, S. 324—334
Was ist Materialismus. »Die Neue Zeit«, 1898/99,
XVIII. Jg., Bd. I, S. 697—698
Uber die geschichtsphilosophischen Ansichten Kants. In :
»Sozialistische Monatshefte«, 1906, Bd. II, S. 683—692
Bemerkungen über Ethik und materialistische Ge¬
schichtsauffassung. In: »Sozialistische Monatshefte«,
1906, Bd. II
Über den Zusammenhang von Sozialismus und Ethik.
In: »Sozialistische Monatshefte«, 1908, Bd. IV, S. 525
bis 531
Rechtsauffassung. In: »Sozialistische Monatshefte«,
1910, Bd. VI, S. 268—271

FRANZ STAUDINGER

Ethik und Politik. Berlin 1899


Die materialistische Geschichtsauffassung und der
praktische Idealismus (erschien unter dem Pseudo¬
nym Sadi Gunter). »Die Neue Zeit«, 1897/98, XVI.
Jg., Bd. II, S. 452—464
Bernstein und die Wissenschaft. »Die Neue Zeit«,
1898/99, XVII. Jg., Bd. II, S. 644—653
Antonio Labriola und die Ethik. »Die Neue Zeit«,
1899/1900, XVIII. Jg., Bd. II, S. 556—560, 586—591
Kant und der Sozialismus. In: »Sozialistische Monats¬
hefte«, 1904, Bd. I, S. 103—114
Wirtschaftliche Grundlagen der Moral. 1907

489
Kulturgrundlagen der Politik (Bd. I: »Ausgangspunkte
und Methoden«; Bd. II: »Ursachen und Ziele«). Jena
1914

DAVID FRIEDRICH STRAUSS

Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. 2 Bde, Tübingen


1835/36
Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über
das Leben Jesu. Tübingen 1838
Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen
Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissen¬
schaft dargestellt. 2 Bde, 1840/41
Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren oder
Julian der Abtrünnige. 1847
Der politische und theologische Liberalismus. 1848

PETER BERNHARD0WITSCH VON STRUVE

A Krititscheskije Sametki k woprosu ob ekonomitscheskom


Raswitij Rossii. Petersburg 1894 (kritische Bemer¬
kungen über die wirtschaftliche Entwicklung Ru߬
lands; gegen die Auffassung der »Narodniki«)
Studien und Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte
des wissenschaftlichen Sozialismus. »Die Neue Zeit«,
1896/97, XV. Jg., Bd. I und II
Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung.
In: »Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik«,
1899, Bd. XIV, S. 658—704

B Richard Rindersley: The First Russian Revisionist. A


Study of »Legal Marxism« in Russia. Oxford 1962

MICHAIL IWANO WITSCH TUGAN-B ARANO WS KY

A Snatschenije ekonomitscheskogo faktora w istorii (Die


Bedeutung des ökonomischen Faktors in der Ge¬
schichte). In: »Mir Boszi«, Nr. 12, Petersburg 1895
Theoretische Grundlagen des Marxismus. Leipzig 1905

B siehe unter von Struve

490
AUGUSTIN THIERRY

La Conquete d'Angleterre par les Normands. 1825


Lettres sur VHistoire de France. 1827
Recits des Temps Merovingiens. 1835
Considerations sur VHistoire de France. 1840
Essai sur VHistoire du Tiers Etat. 1850

LUDWIG WOLTMANN

A Kritische und genetische Begründung der Ethik. Frei¬


burg 1896 (Diss.)
Systeme des moralischen Bewußtseins. 1898
Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus. Düssel¬
dorf 1899
Der historische Materialismus. Darstellung und Kritik
der marxistischen Weltanschauung. Düsseldorf 1900
Sozialismus und Erziehung, eine sozialpädagogische
Skizze. »Die Neue Zeit«, 1900/01, XIX. Jg., Bd. I,
S. 84—89

B Gedenkheft der von Woltmann geleiteten »Politisch-


Anthropologischen Revue«, April 1907 (Beiträge von
Raoul Richter, Karl Vorländer und Eduard Bernstein)
«
Date Due

r^s0 -F^

PRINTED IN U.S.A.
CAT. NO. 23 233
TR ENT VE RS TY

n
64 03011 24 4

HX36 ,F4 Bd. 1


Fetscher, Iring
Der Marxismus.

ISSUED TO

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