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TRENT UNIVERSITY
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SAMMLUNG PIPER
DER MARXISMUS
Seine Geschichte in Dokumenten
BAND i
PHILOSOPHIE IDEOLOGIE
Vorwort. 17
Einleitung. 20
Religionskritik. 41
6
Anthropologie 101
7
Geschichtsphilosophie . 136
FRANCOIS GUIZOT.139
AUGUSTIN THIERRY.HO
FRANCOIS-AUGUSTE-MARIE MIGNET.142
Marxistische Geschichtsphilosophie
8
MAX ADLER Die sozialökonomische Basis — der
Lebensraum der Gesellschaft / Der teleologische
Charakter des Entwicklungsbegriffs.174
Die Klassiker
10
Die Herausbildung der Orthodoxie
Erkenntnistheorie.313
11
Die Klassiker
Neukantianer
EDUARD BERNSTEIN.329
12
Orthodoxe
Ethik .383
Klassiker
13
liehen Moral / Heuchelei und bürgerliche Moral /
Die Aufhebung des Gegensatzes von Askese und
Genuß im Kommunismus / Die historische Be-
Bedingtheit der Moral.587
Neukantianer
14
Wertungen als wesentliche Richtungsmomente des
historischen Prozesses.425
Orthodoxe
Kritische Marxisten
15
VORWORT
17
Rolle gespielt und verdienen heute schon darum
Beachtung, weil manche ihrer kritischen Einwände
gelegentlich als neue Argumente wieder auftauchen.
Es fällt vielleicht auf, daß die Anzahl der deutschen
Marxisten ganz erheblich überwiegt. Das ist kein Zufall,
die deutsche Sozialdemokratie war die erste marxistische
Arbeiterpartei der Welt und die Deutschen galten
— seinerzeit mit Recht — als die »Philosophen« unter
den Sozialisten. Von den Franzosen tauchen hier nur
Paul Lafargue und Jean Jaures auf. Italien ist durch
Antonio Labriola und Gramsci vertreten, Rußland durch
Plechanow, von Struve, Berdjajew, Tugan-Baranowsky,
Lenin, Bucharin; England nur durch eine knappe Er¬
klärung von Hyndman und Beifort Bax. Der Beitrag
der Engländer zur Geistesgeschichte des Marxismus ist
ganz wesentlich auf die ökonomische Theorie beschränkt.
Die beiden »Austromarxisten« Max Adler und Otto Bauer
gehören auch in den Zusammenhang der Geistesge¬
schichte des deutschen Marxismus. Das gleiche könnte
man von Georg Lukäcs’ frühen Arbeiten — nament¬
lich seinem Werk Geschichte und Klassenbewußtsein —
sagen.
Auf die Hervorhebung »nationaler Besonderheiten«
habe ich verzichtet; außerdem wurden die Autoren
nicht nach Nationalitäten gruppiert. Im wesentlichen
war das marxistische Denken bis zur Herausbildung
der sowjetischen Parteiorthodoxie international. Die
wichtigsten Werke wurden übersetzt und in allen mar¬
xistischen Parteien diskutiert. Bei der Frage, welche
Autoren überhaupt als »Marxisten« anzusprechen sind,
mußte ich mich mit einem möglichst allgemeinen und
unverbindlichen Kriterium begnügen. Mitgliedschaft zu
einer sich als marxistisch deklarierenden Partei und
Mitarbeit an einer Parteizeitschrift wurde im allge¬
meinen als ausreichendes Merkmal angesehen. In einigen
18
Fällen wurden aber auch parteiunabhängige Denker
(zum Beispiel Herbert Marcuse), die nach Auffassung
des Herausgebers wesentliche Denkanstöße von Marx-
erfahren haben, einbezogen. Dagegen mußten alle die¬
jenigen wegfallen, die nur in der einen oder anderen
Hinsicht Anregungen von Marx aufgegriffen und kritisch
verarbeitet hatten (zum Beispiel Max Weber, Ernst
Troeltsch, Rudolf Stammler usw.). In eine umfassende
Geistesgeschichte des Marxismus würden auch sie hinein¬
gehören ebenso wie Karl Mannhehn und eine Anzahl
von Historikern, aber ihre Arbeit würde sich kaum in
kurzen Auszügen adäquat präsentieren lassen.
Der vorliegende Band Philosophie und Ideologie stellt
einerseits einen in sich geschlossenen Zusammenhang
dar, ist aber doch zugleich auch auf den ergänzenden
zweiten Band Ökonomie und Politik angelegt. Der
Marxismus hat sich ja nie damit begnügt, bloß eine
neue philosophische Richtung zu sein, sondern war
immer zugleich auf die politische Praxis bezogen. Die
Trennung der Aspekte erfolgte nicht nur aus äußeren
Gründen; denn sie ist auch in der Geschichte des Mar¬
xismus selbst begründet, wie ich in der Einleitung nach¬
zuweisen suche. In manchen Fällen war es freilich
nicht ganz leicht, zu entscheiden, ob ein Abschnitt in
den Teil Philosophie oder in den Teil Politik aufzu¬
nehmen war. Wenn man daher den einen oder den
anderen wesentlichen Gesichtspunkt vermißt, so frage
man sich bitte zunächst, ob er nicht vielleicht im folgen¬
den Band seinen systematischen Ort haben sollte. Im
übrigen bin ich dem Leser für Hinweise auf wesentliche
Lücken und dergleichen im voraus zu Dank ver¬
pflichtet.
20
empirischen Existenz — bisher dagegen galt es als
Aufgabe der Philosophie, den Sinn des Daseins oder
den Sinn hinter der äußeren Sinnlosigkeit des Daseins
zu erkennen, das »Denken mit der Wirklichkeit zu ver¬
söhnen«, wie es Hegel formulierte. Aber an diesen
Gedanken, daß sich das Neue, das an die Stelle der bis¬
herigen Philosophie zu treten habe, in dem selbst¬
bewußten historischen Akt der Revolution und Emanzi¬
pation des Proletariats verwirkliche, wurde in der Folge
nicht festgehalten. Der Gedanke der Überbietung der
bürgerlich-legalen Emanzipation von der Ständegesell¬
schaft durch die proletarisch-soziale Emanzipation von
der Klassengesellschaft, von der Ablösung des dualisti¬
schen Reichs der in Bourgeois und Citoyens gespaltenen
Menschen durch die einige »menschliche Gesellschaft«
und den »gesellschaftlichen Menschen« geriet in Ver¬
gessenheit, trat zumindest in den Hintergrund. Welt¬
anschauliche Reflexion, die sich zum Dogma mehr und
mehr verhärtete, trat auf die eine, taktisches und
praktisches Verhalten auf die andere Seite. Der aus
der geschichtlichen Bewegung herauswachsende, sich
als Reflexivwerden der Bewegung verstehende Gedanke
löste sich von dieser Realität los und wurde zur »Ge¬
schichtsphilosophie« verfestigt.
Das Ausbleiben der seit 1848 immer wieder ver¬
geblich erhofften Revolution verschaffte Marx die Zeit,
um seinen dialektischen Scharfsinn auf die verstehende
Nachkonstruktion der Struktur- und Bewegungsgesetze
der kapitalistischen Gesellschaft zu konzentrieren. Der
gewaltige Torso des Kapitals entstand. Daneben aber,
mehr durch die Notwendigkeit der journalistischen
Tätigkeit als aus reiner Neigung entsprungen, schrieben
Marx und Engels scharfsichtige Kommentare zu den
politischen und sozialen Zeiterscheinungen: den Kolonial¬
kriegen, dem Krimkrieg, dem amerikanischen Biirger-
21
krieg, der europäischen Kabinettspolitik, der britischen
Parlamentsreform, dem Aufstieg des Bismarckschen
Deutschland. In all diesen Analysen ist die »Geschichts¬
theorie« wenig mehr als methodologisch-heuristisches
Prinzip.
Als Ratgeber und leitende Mitglieder der »Inter¬
nationale« sind die beiden fehlbare und zuweilen recht
herrschsüchtige Politiker. Der ursprüngliche, einheit¬
liche Gedanke mochte wohl noch im Hintergrund
schlummern, für alle, die die Frühschriften nicht kann¬
ten und nicht kennen konnten, war der Marxismus eine
Sammlung von Theorien und Kenntnissen über den
Gang der Geschichte der Menschheit, über die Entwick¬
lungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft, über die
Notwendigkeit der proletarischen Revolution. Die Lehre
zerfiel in die Teilstücke Philosophie, Sozialökonomie,
Politik — oder wie sie später die Dogmatiker des Sowjet¬
marxismus bezeichnen sollten: dialektischer und histo¬
rischer, Materialismus, Politökonomie und wissenschaft¬
licher Sozialismus. Zwar wurde die Einheit all dieser
Systembestandteile nie in Frage gestellt, ein Teil baut
auch nach der heute herrschenden Lehre auf dem ande¬
ren auf, aber der unerhörte Gedanke einer Einheit von
selbstbewußter Aktion und sich verwirklichender Philo¬
sophie war verlorengegangen. Wir werden sogleich
sehen, welche Konsequenzen diese Dissoziation auch für
die marxistische Philosophie haben mußte.
Wer die ersten hundert Jahre der Geschichte des
»Marxismus« überblickt, muß freilich diese spätere Dif¬
ferenzierung zugrunde legen. Meine Sammlung charak¬
teristischer Texte wird daher in diesem ersten Bande
philosophische und in einem folgenden sozialökonomische
und politische Auszüge zusammenstellen. Hier soll zu¬
nächst nur auf den engen Zusammenhang hingewiesen
werden, der zwischen all diesen »Systemteilen« not-
22
wendig besteht. Gewiß, man kann die marxistische
Ökonomie auch unabhängig von Marxens Anthropologie
und seiner Geschichtskonzeption interpretieren. Das
Kapital erscheint dann als das bloß hypothetische Modell
einer denkbaren, rein kapitalistischen Gesellschaft. Aber
mit solcher Isolation versperrt man sich zugleich den
Zugang zu dem, worauf es Marx (und den meisten
Marxisten) ankam: den Nachweis der Unzulänglichkeit
dieser Wirtschaftsordnung für den sich verwirklichen¬
den Menschen und die Überzeugung der Fatalität der
Entwicklung auf diesen »reinen« Typus hin und über
ihn hinaus zu einer »höheren Form« des Kapitalismus
(Aktiengesellschaften, Kartellabsprachen usw. bis hin
zur Aufhebung der Konkurrenzgesellschaft selbst) und
endlich zum Sozialismus und Kommunismus.
Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx, die
bekanntlich von einer Kritik der ökonomischen Theorie
begleitet wird, will zugleich die Unmenschlichkeit und
die vorübergehende Unvermeidlichkeit (historische
Rechtfertigung) der kapitalistischen Wirtschaftsform
aufweisen. Wer sie von den voraufliegenden philo¬
sophischen Erwägungen loslöst, muß sie daher not¬
wendig mißverstehen. Aber auch noch der sogenannte
»wissenschaftliche Sozialismus« ist in seiner konkreten
Ausformung von bestimmten philosophischen (aber
auch sozialökonomischen) Thesen und Erkenntnissen
abhängig. Wo die empirische Gesellschaft ohne weiteres
mit der Modellkonstruktion von Marx identifiziert wird
(etwa bei Karl Kautsky), da müssen entsprechende
politische Folgerungen gezogen werden, die der politi¬
schen Wirksamkeit in der ganz anders aussehenden Welt
im Wege stehen.
Wer, wie Eduard Bernstein, die ökonomische Theorie
zu revidieren unternimmt, weil sie bestimmte Fakten,
auf die der empirische Sozialforscher stößt, nicht zu er-
25
klären vermag, der wird auf Grund dieser Revision der
ökonomischen Theorie auch zu einer anderen politischen
Konsequenz getrieben. Rosa Luxemburgs und Lenins
politisch-taktische Konzepte hängen aufs engste mit
ihrer unterschiedlichen »Imperialismustheorie« zusam¬
men, und bei Lenin kann man sogar eine Verbindung
hersteilen zwischen gewissen Unzulänglichkeiten seiner
philosophischen Lehren und der einseitigen Auslegung
der Diktatur »des Proletariats« im Sinne einer terroristi¬
schen Minderheitsherrschaft und der Partei als eines
»selbstbewußten Vortrupps« der Arbeiterklasse, der zu
unumschränkter Bevormundung berechtigt und sogar
verpflichtet ist.
Aber die Zusammenhänge sind nicht etwa nur ein¬
seitig. Genauso wie ökonomische und politische Theorien
von philosophischen abhängig sein können, tritt auch
die umgekehrte Dependenz oft genug in Erscheinung.
Wenn zum Beispiel Tugan-Baranowsky die ökonomische
Kritik der Marxisten am Kapitalismus widerlegt, so ist
er genötigt — falls er »Sozialist«bleiben will —, sie durch
eine ethische zu ersetzen. Ähnliches geschieht auch bei
dem russischen Reformisten Peter von Struve, nur daß
er glaubt, den Revolutionsgedanken auch durch seine
Erkenntnistheorie ad absurdum geführt zu haben; daher
mußte auch er das sittliche Ideal als Richtpunkt für eine
allmähliche Reform bemühen. Eine sinnvolle Lektüre
der vorliegenden Texte schließt daher ein Hin- und
Herblättern zwischen den einzelnen Autoren und den
drei Teilen der Sammlung ein. Dennoch scheint mir die
gesonderte Publikation des ersten Bandes gerechtfertigt
zu sein. Hier werden die Fundamente gelegt und hier
taucht auch — bei einzelnen bedeutenden Marxisten —
der Gedanke jener umwälzenden Praxis und der histo¬
risches Selbstbewußtsein des Sinns dieser Praxis kom¬
binierenden »Überwindung der Philosophie« wieder auf.
24
Am Anfang steht die Religionskritik und die Anthro¬
pologie. Beide bilden eine Einheit, denn für Marx wie
für Feuerbach ist die Theologie nur eine Anthropologie,
die sich selbst noch nicht verstanden hat, die Kritik der
Religion daher umgekehrt ein Nachweis oder ein Hin¬
weis auf das eigentliche Wesen des Menschen, der sein
»Gattungswesen« nicht in ein imaginäres transzendentes
Wesen »entfremdet« hat. Da diese Feuerbach-Marxsche
Anthropologie ihrerseits eine Anzahl wichtiger unmittel¬
barer Vorläufer hat, füge ich ein paar Texte von Hegel,
David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Moses Heß
hinzu.
Bei Engels aber biegt die Entwicklung des religions¬
kritischen Denkens bereits von dem humanistisch¬
anthropologischen Ursprung ab, nimmt darwinistische
und positivistische Bestandteile in sich auf und entfaltet
sich in dieser Form bei den meisten anderen Autoren.
Das Kernstück der Sammlung bilden natürlich die
Texte zur Geschichtsphilosophie. Als Wegbereiter nenne
ich hier die von Georg Plechanow in ihrer Bedeutung
für Marx nachdrücklich herausgestellten französischen
Restaurationshistoriker Guizot, Thierry und Mignet.
Wesentlicher noch scheint mir die Bedeutung Hegels,
der über die Verbindungsglieder Cieszkowski und Heß,
aber auch direkt, namentlich durch seine Rechtsphilo¬
sophie und die Philosophie der Weltgeschichte, auf
Marxens Geschichtskonzeption eingewirkt hat. Nur weil
Marx von Hegels Lehre von der in der Realität im¬
manenten Vernunft, von dem »Trieb« der objektiven
Vernunft zur Verwirklichung durchdrungen war, schien
ihm eine ethische Fundierung der sozialistischen Ziele
überflüssig.
Moralisierende Geschichtsbetrachtung war für Hegel
wie für Marx mit der ohnmächtigen Sollensforderung
des Individuums gegenüber der im Prozeß der Ge-
25
schichte sich realisierenden Vernünftigkeit identisch.
Es war nicht Zynismus, der Gott immer nur bei den
»stärksten Bataillonen« sieht, sondern der aus bürger¬
licher Tradition stammende Glaube an die der objektiven
Vernünftigkeit (der realen Entwicklung) innewohnen¬
de Kraft der Realisation, der auf alles Moralisieren
Verzicht leisten ließ. Erst als dieses Hegelsche Erbe in
Vergessenheit geriet, entstand das von Stammler ge¬
rügte Paradoxon, daß nämlich eine Entwicklung, von
der man nichts anderes zu sagen vermochte, als daß sie
»unvermeidlich«, »naturgesetzlich« usw. verlaufe, auch
bewußt gewollt und mit Fleiß beschleunigt werden
sollte. Erst als die Entwicklung der Gesellschaft zu einer
Evolution im Sinne Darwins und Häckels verflacht war,
konnte das Bedürfnis entstehen, diesen Evolutionismus
durch eine sozialistische Ethik zu ergänzen. Die Neu¬
kantianer unter den Sozialisten sind für diesen Versuch
kaum zu tadeln, weil sie das herauszuarbeiten ver¬
suchten, was dem Marxismus eines Kautsky und anderer
»Orthodoxer« längst wirklich abhanden gekommen war:
die Ausrichtung der Geschichte auf Sinnverwirklichung.
Die Entleerung der ursprünglich mit Elegelscher Ver¬
nunft gesättigten Auffassung war schon ein halbes Jahr¬
hundert alt, als sie in Stalins Identifikation des histori¬
schen Progresses mit der Steigerung der Produktivität
ihren Endpunkt erreichte. Die Geschichte der marxisti¬
schen Geschichtsphilosophie zeigt eine beinahe konti¬
nuierliche Verflachung der Konzeptionen, die erst in
den zwanziger Jahren durch Lukäcs, Korsch, Bloch und
etwas später durch den italienischen Kommunisten
Antonio Gramsci unterbrochen wird. Immerhin gibt es
auch unter den Theoretikern der »zweiten Internatio¬
nale« (1889 bis 1914) eine Anzahl differenzierter Geister,
unter denen ich hier nur Antonio Labriola und Max
Adler nennen möchte.
26
Das vierte, fünfte und sechste Kapitel (Weltanschau¬
ung, Erkenntnistheorie und Ethik) gehören wieder eng
zusammen. Auch wenn schon bei Marx und dann vor
allem bei Engels zahlreiche Stellen — bei Engels sogar
ganze Schriften — weltanschaulichen Problemen ge¬
widmet sind, so haben diese »Fundamentalien« doch
erst spät und insbesondere im russischen Marxismus jene
Bedeutung erlangt, die uns heute geläufig ist. Selbst in
der Zeit, als die Kautskyanische Orthodoxie in Deutsch¬
land das Feld beherrschte, war vom »dialektischen
Materialismus« nur wenig die Rede, und sogar Plecha-
now, der doch die Bedeutung des »Materialismus« durch
seine Studien zum französischen Materialismus des
18. Jahrhunderts nachdrücklich unterstrich, wandte
sein Hauptinteresse dem historischen, nicht dem dia¬
lektischen Materialismus zu. Das Bedürfnis nach Aus¬
arbeitung einer derartig umfassenden Weltanschauung
und die Herausstellung der Marxschen und Engelsschen
Texte hierzu sind charakteristische Symptome der
sozialistischen Bewegung in Ländern, die keinen Spiel¬
raum für die Entfaltung politischer Aktivität gewährten.
In Deutschland trug die Aufhebung des Sozialisten¬
gesetzes (1890) wesentlich dazu bei, das Interesse wieder
mehr auf praktische Fragen hinzulenken; in Rußland,
dessen Sozialisten vorwiegend Intellektuelle waren und
wo von einer freien politischen Tätigkeit keine Rede
sein konnte, wurde das Interesse selbst so praktisch ein¬
gestellter Menschen wie Lenin auf Fragen der Welt¬
anschauungslehre gelenkt. Nach Engels Anti-Diihring
(1878) wurde Lenins Materialismus und Empiriokriti¬
zismus (1908) zu einem weiteren Markstein auf dem
Wege zur Verwandlung des Marxismus in ein um¬
fassendes weltanschaulich-philosophisches System. Der
Aufbau dieses Systems und die Auseinandersetzungen,
die dabei (bis 1950) in der Sowjetunion geführt wurden,
27
fallen außerhalb des Rahmens, den ich mir hier gesteckt
habe. Dagegen schien es mir wichtig, auf die »klassi¬
schen Dogmatiker« — Kautsky, Plechanow, Lenin, drei
kritisch eingestellte Marxisten folgen zu lassen, die aus
verschiedenen Gründen ein derartiges weltanschau¬
liches System verurteilen. Max Adler tut es von einem
kantianisch-szientifischen Standpunkt aus, während
Karl Korsch und Herbert Marcuse, als Hegelianer der
»Linken« den fundamentalen Unterschied von Natur
und Gesellschaftsentwicklung im Auge behaltend, den
Leninschen und sowjetischen dialektischen Materialis¬
mus marxistisch als Epiphänomen der Sowjetgesellschaft
und Begleiterscheinung der spezifischen russischen Form
der »bürgerlichen« Revolution begreifen.
In den Kapiteln Erkenntnistheorie und Ethik bildet
eine Anzahl fast vergessener Neukantianer jeweils das
Mittelstück. Es wird sich empfehlen, die Texte eines und
desselben Autors auch einmal im Zusammenhang zu
lesen, denn erkenntnistheoretische und moralphilo¬
sophische Argumentationen ergänzen sich zuweilen und
ergeben erst gemeinsam ein deutliches Bild des betref¬
fenden Denkers. Beachtenswert ist auch, daß die von
Engels gelieferte »Kant-Widerlegung« nicht nur von
den Neukantianern, sondern auch von einer Anzahl
kritischer Marxisten (Lukäcs und ansatzweise auch
Gramsci) zurückgewiesen wird. Für Georg Lukäcs exi¬
stiert die Kantsche erkenntnistheoretische Problematik
auf dem Gebiet der »eigentlichen« Realität, des ge-
schichthch-geseUschaftlichen Daseins, überhaupt nicht.
Hier, wo wir es mit der von uns Menschen selbst ge¬
schaffenen Wirklichkeit zu tun haben, wo idealiter
Subjekt der Aktion und Objekt der Aktion (in der Selbst¬
emanzipation des Proletariats) zusammenfallen, sind die
Antinomien der Erkenntnistheorie grundsätzlich über¬
wunden, ist die Hegelsche Kant-Kritik durch Aufweis
28
dieses realen Subjekt-Objekts »bewiesen«. Das gleiche
gilt freilich nicht für jene Marxisten, die an der Wichtig¬
keit der Naturdialektik und der umfassenden materiali¬
stischen Weltanschauung festhalten.
Für mich selbst war es überraschend, wie zahlreich
die erreichbaren Äußerungen marxistischer Theoretiker
zur Ethik sind. Bei Marx fand sich die bezeiclmende
Bemerkung über die »Entfremdung«, die sich in der
unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Beurteilung ein
und derselben Handlung durch den Nationalökonomen
und durch den Moralphilosophen offenbart. Der Gegen¬
typus zu dieser Vielfalt von koexistierenden Beurtei¬
lungsmöglichkeiten ist für ihn offenbar die einheitliche
Wertschätzung einer Handlung als vernünftig, sittlich,
richtig, wie sie von einem hegelianischen Blickpunkt aus
erfolgen kann. Gegenüber einer solchen einhelligen
rational-humanistischen, immanenten »Norm« erscheint
die Betrachtungsweise, die eine Tat etwa zugleich als
»ökonomisch richtig« und »moralisch verderblich« be¬
wertet, als Ausdruck der »Entfremdung«. Der von Marx
gegenüber der »bürgerlichen« und »christlichen« Moral
erhobene Vorwurf, sie sei »heuchlerisch«, hängt mit
seiner Überzeugung zusammen, es sei wenigstens dem
Durchschnittsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft
gar nicht möglich, den sittlichen Forderungen, die
er selbst als allgemeinverbindlich deklariert und allen
anderen stellt, gerecht zu werden. Auch hinter diesem
Vorwurf steht deutlich eine eigene sittliche Wertung.
Das gleiche gilt für die namentlich durch Engels und
Dietzgen propagierte These, die moralischen Forderun¬
gen seien zwar durch die sozial-ökonomische Basis be¬
dingt, entwickelten sich jedoch in einer aufsteigenden
Linie. Gegenüber den reinen »Materialisten« unter den
orthodoxen Marxisten betont dann Eduard Bernstein
nachdrücklich die im Werk von Marx selbst versteckt
29
enthaltenen moralischen Wertungen, die Rolle, welche
die »Idee der Gerechtigkeit« bei Marx spielt. Franz
Staudinger und Nikolai Berdjajew unternehmen den
Versuch, den moralischen Apriorismus Kants mit der
marxistischen Ableitung des wechselnden Inhalts der
moralischen Forderungen zu kombinieren. Bei Tugan-
Baranowsky und bei Ludwig Woltmann endlich tritt
die moralische Begründung des Sozialismus offen an die
Stelle der sozialökonomischen Ableitung.
Hätte ich mich nicht allein an die eindeutig »marxi¬
stischen« Autoren gehalten, wäre hier auch Georges
Sorels eigentümliche Position zu verzeichnen gewesen.
Wie Tugan und Woltmann war auch Sorel von der
Berechtigung der Bernsteinschen Kritik an den Marx-
schen Prognosen überzeugt. Weder die Konzentration
des Kapitals noch die Verelendung hatte sich in dem
von Marx erwarteten Maß und Tempo vollzogen. Der
»Zusammenbruch« des Kapitalismus stand in weiter
Ferne. Für Sorel ergab sich daraus jedoch im Gegensatz
zu Bernstein nicht die Rechtfertigung einer reformisti¬
schen Zielsetzung und der Verwandlung der revolutio¬
nären Klassenkampfpartei in eine parlamentarische
Oppositionspartei, sondern die Ersetzung der »wissen¬
schaftlichen« Fundierung der revolutionären Politik
durch die irrationalistisch-mythische. Das offenbar wis¬
senschaftlich nicht mehr »ableitbare« revolutionäre Ziel
sollte in um so strahlenderer Reinheit und Absolutheit
zum sittlichen Postulat erhoben werden. Die Arbeiter¬
bewegung hört auf, Vollzugsorgan des schmutzigen
Prozesses der ökonomischen Entwicklung zu sein, und
wird das Gefäß der moralischen Reinigung und sittlich¬
religiöser Wiedergeburt.
Auf entgegengesetzter Position stand Karl Kautsky
mit seiner naturalistischen Ethik, die mehr Darwin und
der schottischen Schule des 18. Jahrhunderts zu ver-
30
danken scheint als Marx oder gar Hegel. Moralische
Regeln sind ererbte Verhaltensweisen, die sich die
Menschheit im Laufe der Geschichte angeeignet hat;
es handelt sich bei ihnen um bloße Weiterbildungen von
sozialen Instinkten, die als solche auch bereits im Tier¬
reich beobachtet werden können. Max Adler und Otto
Bauer fällt es nicht schwer, die Unzulänglichkeit dieser
naturalistischen Moraltheorie aufzuweisen, aber Kautsky
gelingt es seinerseits, zu zeigen, daß Otto Bauer mit dem
Kantschen kategorischen Imperativ das sittliche Problem
des Streikbruchs kaum besser lösen kann als die Kautsky -
sche Moraltheorie. Daß die Moral bei Lenin ganz und
gar dem Klassenkampf untergeordnet wird und sich in
ein Instrument der Disziplin und Selbstdisziplin ver¬
wandelt, wird niemanden verwundern, der auch nur
ein ungefähres Bild von diesem genialen Strategen und
Taktiker des Parteiaufbaus und der Revolution besitzt.
Als Kontrast — weniger zu den moralischen Thesen bei
Lenin als vor allem zu der späteren Sowjetmoral — füge
ich zwei Texte an, in denen das ursprüngliche Marxsche
Ideal einer »guten«, das heißt mühelos gut handelnden
und friedlich zusammenlebenden Menschheit beschwo¬
ren wird: Paul Lafargues Kritik genau jener bürgerlich¬
asketischen Arbeitsmoral, die heute in der Sowjetunion
als höchste sittliche Errungenschaft gepriesen wird, und
Marcuses Andeutungen über Glück und unterdrük-
kungslose Entfaltung der Menschen in einer unent-
fremdeten Gesellschaft.
Die Entwicklung, deren Phasen sechsmal an unserem
geistigen Auge vorüberzieht, vollzieht sich nicht im luft¬
leeren Raum. Daß sie mit dem Wandel der ökonomi¬
schen und politischen Konzeptionen eng zusammen¬
hängt, habe ich schon erwähnt. Ebenso aber steht sie in
enger Beziehung zum gleichzeitig ablaufenden sozialen,
politischen und kulturellen Geschehen. Die Geistes-
31
geschichte des Marxismus ist selbst ein Teil der all¬
gemeinen Geschichte und insbesondere der Kultur¬
geschichte. Wie man den ursprünglichen revolutionären
und humanistischen Gedanken von Marx selbst nur
»verstehen« kann, indem man ihn einerseits auf die
höchstgespannten Erwartungen und Ansprüche des
deutschen Idealismus und andererseits auf die revolutio¬
näre Begeisterung der vierziger Jahre bezieht, so stehen
auch all die zahlreichen späteren Wendungen und Modi¬
fikationen des „marxistischen Denkens“ in engem Zu¬
sammenhang mit herrschenden philosophischen Strö¬
mungen, politischen Situationen und Zielsetzungen der
Arbeiterparteien. Geistes geschichtlich sind dabei folgen¬
de Daten wichtig: das Erscheinen von Darwins Origin of
Species (1857) und von Marx’ Kritik der politischen Öko¬
nomie im gleichen Jahre, das Vordringen des Positivismus
infolge der Triumphe der Naturwissenschaften und der
Hochschätzung, die ihren Methoden entgegengebracht
wurde; die Rückkehr zu Kant, schon in den sechziger
Jahren (unter anderem durch Liebmanns Schrift Kant
und die Epigonen propagiert), aber erst in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur herrschenden
philosophischen Richtung geworden, und endlich etwa
seit 1905 die Neuentdeckung Hegels, die auf Korsch
und Lukacs nachhaltigen Einfluß gehabt hat. Von all
diesen Einflüssen ist vermutlich derjenige des Naturalis¬
mus und Positivismus am nachhaltigsten gewesen, be¬
stimmt er doch heute noch weithin die Gestalt der
sowjetmarxistischen Philosophie, auch wenn deren
spezialisierte Arbeiten im Niveau mittlerweile weiter
gekommen sind.
Wenn man die Äußerungen marxistischer Darwini¬
sten neben die »bürgerlicher« Autoren aus der gleichen
Zeit stellt, bedarf es häufig schon großer Aufmerksam¬
keit, um die Unterschiede zu bemerken, so groß ist die
52
»Familienähnlichkeit« der Zeitgenossen, so groß der Ab¬
stand von unserer heutigen philosophischen Auffassung.
Daß die jeweils tonangebenden philosophischen und
weltanschaulichen Denkweisen in so starkem Maße in
die Arbeiterbewegung eindringen konnten, war aber die
Folge jener wahren Bildungsleidenschaft, die diese
Klasse in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und wohl
noch darüber hinaus erfüllte.
Ein Bildungshunger, der sich keineswegs nur auf das
verwertbare berufliche Wissen erstreckte, sondern im
Gegenteil in erster Linie auf die Erfassung der gesamten
Wirklichkeit ausging. Mit dem naiven Glauben fast
jedes Halbgebildeten, daß alles wißbar, lernbar, erfahr¬
bar und verstehbar sein müsse, machten sich die Arbeiter
in ihren Bildungsvereinen und in Parteischulungs¬
abenden mit den Erkenntnissen und Theorien der
»bürgerlichen« Wissenschaftler und ihrer eigenen
Ideologen vertraut. Und wie auf naturwissenschaft¬
lichem Gebiet der Vorzug jeweils den neuesten For¬
schungen und den neuesten Theorien oder Hypothesen
zu geben war, so mußten auch die jeweils neuesten
philosophischen Lehren die Präsumtion der Überlegen¬
heit für sich haben. Das galt auch für den mit physio¬
logischen und wissenschaftsmethodologischen Erwägun¬
gen einhergehenden Neukantianismus.
Dieser großen Aufnahmebereitschaft, die die Wir¬
kung Eugen Dührings (dessen Einfluß Engels zu be¬
kämpfen hatte) und später die der Neukantianer erklärt,
stand nun freilich der feste Wille der Parteiführung
entgegen, die vereinte sozialistische Arbeiterschaft auch
weltanschaulich zusammenzuhalten. Diesem Zwecke
dienten in erster Linie der Ausbau des »dialektischen
Materialismus« zur umfassenden Weltanschauungslehre
und die Abwehr aller »unmarxistischen«, vor edlem jeder
»idealistischen« Strömung durch die Verteidiger der
33
»Orthodoxie« (Kautsky, Plechanow, Lenin). »Idealisti¬
schen« Neigungen gegenüber waren diese Gralshüter
der materialistischen Lehre außerordentlich hellhörig.
Selbst die positivistische Suspendierung des Urteils in
bezug auf die Frage nach Idealismus oder Materialismus
wurde bereits als häretisch diffamiert.
Lernbegierige Aufnahmebereitschaft einerseits, welt¬
anschaulicher Abschluß der Partei andererseits, das
waren die Grundtendenzen in der marxistischen Be¬
wegung vor dem Ersten Weltkrieg. Während aber nach
dem Sieg der Oktoberrevolution sich in Rußland nach
anfänglichen Richtungskämpfen bald eine einseitige
orthodoxe Richtung durchsetzte, die sorgfältig alle Züge
bewahrte, die dem Marxismus aus der Zeit seiner Ent¬
faltung zur Weltanschauungslehre anhafteten (das heißt
den aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahr¬
hunderts stammenden Naturalismus und Evolutionis¬
mus), konnte außerhalb Rußlands da und dort eine
Renaissance des marxistischen Denkens entstehen, das
mit dem Neuhegelianismus (Lukäcs, Korsch, Marcuse),
aber auch mit kultursoziologisch weitergedachten An¬
sätzen in der Freudschen Psychoanalyse fruchtbare Ver¬
bindungen einging (Marcuse, Horkheimer, Adorno).
Zugleich streifte bei diesen Denkern (bei Lukäcs frei¬
lich nur in seinem Werk Geschichte und Klassenbewußt¬
sein) die marxistische Philosophie den Provinzialismus
ab, den sie als Integrationsideologie der Arbeiterbewe¬
gung angenommen hatte und annehmen mußte. Sie
verwandelte sich in das Instrument einer subtilen, ander¬
wärts beinahe vergessenen, den Traditionen des frühen
Bürgertums verpflichteten Kulturkritik. Während sich
aber diese unvergleichliche Niveauhebung bei vereinzel¬
ten Denkern vollzog, emanzipierten sich die demokra¬
tische Arbeiterbewegung im Westen und ihre Führer
mehr und mehr vom Marxismus, zu dessen ausschließ-
54
liehen Erben sich die Apologeten der sowjetischen
Zwangsgesellschaft aufwarfen.
Abgesehen von ein paar Versuchen, den Marxismus
in kritisch gereinigter und mit einem humanitären
Liberalismus versetzter Gestalt als Ideologie der sozial¬
demokratischen Opposition gegen Hitler und sein Reich
zu verwenden (Siegfried Marek), kehrten sich die sozial¬
demokratischen Parteien gänzlich von Marx und seinen
Lehren ab. Die Orientierung dieser Parteien wurde
immer pragmatischer, ihr politisches Credo war von der
Hochschätzung der parlamentarischen Demokratie und
der Anerkennung der pluralistischen Gesellschaft (man
denke nur an die Schriften des Labour-Ideologen Harold
Laski) bestimmt, allenfalls beschäftigten sich ein paar
Wirtschaftsexperten mit dem Kapital und den späteren
Arbeiten marxistischer Ökonomen. Durch die Entideolo-
gisierung der sozialistischen Parteien entstand aber so¬
zusagen als Kompensation die Möglichkeit, das Denken
von Marx selbst, unbelastet durch die mit jeder »Indienst¬
stellung« für die Praxis verbundene Vergröberung, zu
analysieren und zu deuten. Die Edition einiger bis dahin
(1932) unbekannter Frühschriften, namentlich des Ent¬
wurfs Nationalökonomie und Philosophie (1844), trug
ganz wesentlich zu einer »Marx-Renaissance« bei, die,
in Deutschland durch die nationalsozialistische Macht¬
ergreifung unterbrochen, nach dem Zweiten Weltkrieg
vor allem das französische Denken tiefgehend beein¬
flußt hat. Henri Lefebvre hat in einem berühmt ge¬
wordenen Aufsatz geschildert, wie ein paar Jahre sogar
die französischen Kommunisten an diesem Aufschwung
Anteil hatten, bis dogmatische Verdammungsurteile der
Moskauer Zentrale diese Ansätze wieder zunichte mach¬
ten.
Wenn in dieser ganzen Entwicklung jedoch die Kon¬
zeptionen von Marx zwischen 1844 und 1848 und die
35
Arbeiten von Korsch, Lukäcs und Marcuse zwischen
1923 und 1932 als Höhepunkt erscheinen, ist das meines
Erachtens darin begründet, daß in beiden Fällen Denker,
die Hegels Philosophieren zu dem ihren gemacht hatten,
einer revolutionären Situation konfrontiert wurden, von
der sie jene »Verwirklichung der Philosophie« erwarten
konnten, die das eigentliche Ziel des Marxismus ist.
Sicher, in beiden Fällen beruhten jene Hoffnungen auf
einer Täuschung, und es gehörte der unbeirrbare Glaube
an die Vernunft der Geschichte und des Menschen dazu,
um trotz aller zutage tretenden Widervernünftigkeiten
an dieser Hoffnung festzuhalten. Ernst Bloch hat sie da¬
her ganz konsequent in den Mittelpunkt seiner eigenen
(Marx, aber auch vielen anderen Denkern verpflichte¬
ten) Philosophie gestellt. Ohne diese Ploffnung müßte
auch die Kulturkritik, die sich mehr und mehr der
Termini des jungen Marx bedient, sinnlos werden.
Was kann uns ein solcher Überblick über die Ge¬
schichte der marxistischen Philosophie lehren? Zunächst
einmal dies: daß sich philosophisches Denken — vor
allem, wenn es so stark wirklichkeitsbezogen sein
möchte wie das marxistische — nicht unabhängig von
der politischen und sozialen Geschichte entwickelt. Das
Anwachsen der Arbeiterbewegung, ihre Stellung als
»kulturelles Proletariat« (im Sinne Toynbees) gegen¬
über der bürgerlichen Kultur, ihr Bildungshunger und
die Absicht der Parteiführung, ihre Anhängerschaft
auch weltanschaulich deutlich von der Umgebung abzu¬
setzen, haben zusammengewirkt, um das Bild der je¬
weils herrschenden Lehren und der »ketzerischen«
Auffassungen zu bestimmen. Bis zur Entstehung der
Leninschen Partei neuen Typs wurde freilich nie, trotz
aller Schärfe und Unsachlichkeit der Auseinander¬
setzungen, wegen weltanschaulicher Fragen ein »Ketzer¬
gericht« veranstaltet. Nur wer, wie Eduard Bernstein,
36
die sozialpolitischen Prognosen des Marxismus in Frage
stellte und damit den verbalen Revolutionarismus der
Parteiorthodoxie unmöglich zu machen drohte, sah sich
einer bis zur Erbitterung gehenden Abneigung gegen¬
über. Doch selbst Bernstein nahm man nie die Möglich¬
keit der Meinungsäußerung in der Parteipresse, ganz
abgesehen davon, daß er sich in den »Sozialistischen
Monatsheften« auch noch ein eigenes Organ schaffen
konnte.
Die Vielgestaltigkeit der Lehren und Theorien, die
in den aus gewählten Texten, die ich Zusammentragen
konnte, zum Ausdruck kommt, macht aber auch deut¬
lich, wie fruchtbar die Marxschen Denkanstöße für
Philosophen verschiedenster Provenienz werden konn¬
ten. Wenn ich wiederholt betont habe, daß die Hegelia¬
ner oder die an Hegel gebildeten Marxisten die übrigen
an Scharfsinn und Konsequenz erheblich übertrafen
(das gilt übrigens auch für Antonio Labriola auf Grund
der in Italien nicht unterbrochenen Hegeltradition), so
schließt das nicht aus, daß auch Neukantianern im
einzelnen interessante und bemerkenswerte Leistungen
gelungen sind.
Wer nur die sowjetmarxistischen Arbeiten kennt, wird
erstaunt feststellen, daß das Niveau der Diskussionen in
einer Zeit, da Marxisten kaum über Lehrstühle und nur
über sehr wenige »Fachorgane« verfügten, oft weit
höher war als in einer Epoche, wo ihnen die wirtschaft¬
lichen Hilfsquellen eines Weltreichs zur Verfügung
stehen. Die relative Freiheit der Diskussion philo¬
sophischer Fragen und die ständige Notwendigkeit der
Auseinandersetzung mit nichtmarxistischen Denkern
haben sicher entscheidend zu diesem zuweilen hohen
Niveau der Arbeiten beigetragen. Bei all dem darf man
jedoch nie vergessen, daß es sich bei unseren Autoren
nur in ganz wenigen Fällen um »Fachphilosophen«
57
handelt, sondern vielmehr um sozialistische Theoretiker
und Politiker, die das Bedürfnis verspürten, ihren poli¬
tischen Entscheidungen ein solides philosophisches
Fundament zu geben oder sich von ihrer unbewußten
Weltorientierung Rechenschaft abzulegen.
In meiner Auswahl habe ich mich auf den Zeitraum
von 1840 bis etwa 1925 beschränkt. Die Entwicklung
und Wandlung der marxistischen Philosophie und
Ideologie in der Sowjetunion wurden ausgespart, weil
sie ganz eigenen Gesetzen und Bedingungen unter¬
liegen und weil das Bild einer im wesentlichen ab¬
geschlossenen Epoche vermittelt werden sollte. Nur bei
einigen wenigen Autoren habe ich von dieser Regel eine
Ausnahme gemacht: ich bringe eine Anzahl von Aus¬
zügen aus Werken des bedeutenden italienischen Marxi¬
sten Antonio Gramsci, der die kommunistische Partei
Italiens mitbegründet hat, aber alles andere als ein
»Apparatschik« war. Eine ihm eigentümliche realistische
Auffassung vom Sozialgeschehen verbindet er mit gros¬
sem, an Croces Hegelianismus geschultem, dialektischen
Geschick, das er unter anderem in der Kritik des posi-
tivistisch-mechanizistischen Marxismus von Bucharin
bewiesen hat.
Das Kapitel über die marxistische Anthropologie
schließe ich mit einem Lexikonartikel von Rosental und
Jüdin (1955) ab, der den Abstand veranschaulichen soll,
der diese sowjetischen Autoren von der ursprünglichen
Marxschen Anthropologie trennt. Im dritten und sech¬
sten Kapitel führe ich ein paar Abschnitte aus Arbeiten
Herbert Marcuses an, die auch schon aus der »Stalinzeit«
stammen. Sie stehen für das, was von den Parteimarxi¬
sten in dieser Zeit längst nicht mehr geschrieben werden
durfte, und sollen verdeutlichen, was eine auf Marx sich
stützende, aber nur der Vernunft verpflichtete Reflexion
gegenüber dem dogmatischen Sowjetmarxismus leisten
58
kann. Im übrigen bringe ich vom dritten Kapitel an
jeweils »Klassikertexte«, Auszüge aus den Schriften der
»Orthodoxen«, neukantianische Lehren — und zum Ab¬
schluß Abschnitte aus den Arbeiten der neuhegeliani¬
schen Marxisten Lukdcs, Korsch, Gramsci, Marcuse. Den
letzteren gegenüber erscheinen dann zumeist Orthodo¬
xie wie »idealistische Abweichung« als die zwei zu¬
sammengehörigen Bestandteile derselben Sache, näm¬
lich der Auflösung der ursprünglichen Einheit des in
Aktion umschlagenden Marxschen Denkens.
RELIGIONSKRITIK
41
Strauß waren die Aussagen der Bibel lediglich die my¬
thische Einkleidung einer wesentlich philosophischen
Aussage. Philologische Textkritik konnte sich an ihnen
versuchen, ohne daß die Gefahr bestand, das Wesentliche
dadurch zu zerstören. Aber nicht nur in der Form, auch
inhaltlich ging man so über den christlichen Glauben
hinaus. Wenn Hegel immer wieder von der >Einheit der
göttlichen und menschlichen Natur< in einem aus my¬
stischer Tradition stammenden Sinne emphatisch ge¬
sprochen hatte, so wurde hieraus bei Strauß die Umwand¬
lung der Christologie in die Lehre von der Göttlichkeit
der Menschheit. Die dem einzelnen Menschen fehlenden
Züee, welche das Christentum allein dem Gott-Menschen
Jesus zuschreibt, können nach Strauß vernünftigerweise
nur der Menschheit insgesamt zukommen. Schon hier
tritt der Tendenz nach die Gesellschaft an die Stelle
Gottes.
Neben diese Umdeutung der Christologie und den
Übergang vom Gefühlten, Geglaubten zum von der dia¬
lektischen Vernunft Erfaßten tritt die moralische Ab¬
wertung der Religion. Bruno Bauer betont den Gegen¬
satz von religiösem Egoismus und humaner Gesinnung,
und Karl Marx zeigt sich in seiner Kritik der heuchleri¬
schen christlichen Moral< (vgl. das Kapitel Ethik) noch von
diesem Urteil beeinflußt. Die Theologie, so lautet die ein¬
fache Grundthese Ludwig Feuerbachs, setzt alle Eigen¬
schaften, die der göttlichen Menschheit insgesamt (nicht
freilich dem einzelnen Individuum) zukommen, in ein
imaginäres, jenseitiges Wesen und beraubt sie damit, ver¬
armt sie, >entfremdet< ihr alles, worauf sie mit Recht stolz
sein dürfte. Um der Vollendung der Vermenschlichung
des Menschen willen muß daher die Religion kritisiert
und bekämpft werden.
An diese Feuerbachsche These knüpft Marx an. Er
übernimmt sie unbesehen, fragt aber hinter sie zurück
und glaubt, die Ursachen für die Entstehung von Gottes¬
vorstellungen im Bewußtsein der Menschen gefunden zu
haben. Die Menschen entfremden sich ihr Gattungs-
42
wesen nur dann, projizieren es nur dann in einen imagi¬
nären Gott, wenn sie in ihrer realen Alltagsexistenz ihre
Menschlichkeit nicht entfalten können. Um daher die
Religion zu überwinden, genügt es nicht, sie zu kriti¬
sieren, die himmlischen Hirngespinste< zu entlarven,
man muß die Lebensverhältnisse ändern, in denen not¬
wendig immer wieder religiöse Vorstellungen entstehen.
Die Religion ist >das Opium des Volkes<, das sich in
seinem Schmerz über die Unmöglichkeit menschlicher
Entfaltung in der Klassengesellschaft zu betäuben
wünscht. Nur der hat ein Recht, ihm dieses schmerz¬
stillende Mittel zu nehmen, der ihm auch dazu ver¬
helfen will, die Ursachen des Schmerzes zu beseitigen.
Marx sieht die Religion immer nur unter dem Bilde
des Opiums, des Beruhigungsmittels. Sie ist ihm nicht
mehr, wie für den naiven Aufklärer, einfach ein Er¬
zeugnis herrschsüchtiger und betrügerischer Priester,
sondern ein Produkt der leidenden Menschheit selbst,
die in der imaginären Welt der Religion Trost zu suchen
genötigt ist. Hierin besteht der Schritt von der Ver¬
ständnislosigkeit des Aufklärers zu dem funktional¬
sozialpsychologischen Verstehen des Ideologiekritikers.
Aber viele spätere Marxisten sind wieder auf den Stand¬
punkt des naiven Aufklärers zurückgefallen.
Die Marxsche Religionskritik wird von den späteren
Marxisten weder übertroffen noch weitergebildet. Ihr
Hauptinteresse gilt vielmehr der Deutung der Ent¬
wicklung der Religionen mit Hilfe des historischen
Materialismus, wobei sie starken Gebrauch von den Mit¬
teilungen der Ethnologen über primitive Religionen
machen. Bemerkenswert ist aber, daß neben der Kritik
an der Religion schon Engels und vor allem Josef Dietzgen
auf die Ähnlichkeiten hingewiesen haben, die zwischen
der sich herausbildenden proletarischen Weltanschauung
und einer Religion bestehen. Was sehr viel später zu
einem häufig verwendeten Vorwurf gegen den ideolo¬
gisch gewordenen Marxismus geworden ist, taucht hier
als Selbsterkenntnis der frühen Marxisten auf. Vor allem
45
aber hat sich der kritische Akzent nach Marx — bereits
bei Engels, noch deutlicher bei Kautsky, Cunow, Bucharin
usw. — auf die Hervorhebung der Unwissenschaftlichkeit
der Religion verlagert. Damit lenkt der Marxismus in
den breiten Strom der positivistischen Religionskritik ein,
deren klassische Formulierung der von Marx äußerst
gering geschätzte Comte geliefert hat: Die religiöse Welt¬
interpretation entspricht einem niedrigen Stand der
Entwicklung der geistigen Kräfte der Menschheit, die
metaphysische Deutung, die sich fingierter Entitäten
bedient, geht schon etwas weiter, aber erst die positive
Wissenschaft erfaßt die Wirklichkeit mit adäquaten
Mitteln. Gegenüber dieser verflachten Auffassung, die das
Eigenwesen der Religion noch weit mehr verfehlt als die
Marxsche sozialpsychologische Interpretation, hat Antonio
Gramsci auf einen Zug namentlich des Christentums
verwiesen, den auch Ernst Bloch immer wieder hervor¬
gehoben hat: die Ausrichtung auf eine erhoffte bessere
Welt.
HEGEL
44
Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition
dessen gibt, was es für das Wahre hält ... Die Religion
ist das Bewußtsein eines Volkes von dem, was es ist, von
dem Wesen des Höchsten. Dies Wissen ist das allve-
D
D. F. STRAUSS
45
zum machtlosen Material seiner Tätigkeit herunter¬
gesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang
ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung
immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber
und ihrer Geschichte aufgehoben ist ...« [Das Leben
Jesu-, zit. nach der 3. Aufl., Tübingen 1839, Bd., II.
§ 149, S. 767]
BRUNO BAUER
46
nichts Wirkliches; er müßte also, wenn man sich dazu
verstehen wollte, den Namen Gott für das Gute und
die Wirklichkeit zu mißbrauchen, der wahre Atheist
sein ...« [a.a.O., S. 59 ff.]
»Der Religiöse muß der Überzeugung leben, daß das
Jüngste Gericht jeden Augenblick beginnen, der Herr
zu jeder Stunde kommen könne; er muß sein Herz also
der Welt, den menschlichen Verhältnissen, der Geschichte
entfremden, er muß sich von den Vergnügungen dieser
Welt, den theoretischen Ergötzungen der Wissenschaft
und Kunst abwenden, die praktischen Siege der
Geschichte verabscheuen und über ihre Triumphe
Strafpredigten halten — er muß alle Zufriedenheit
hassen ...«[a.a.O., S. 60ff.]
»Wer ist Egoist, der Gläubige, der Staat, Geschichte,
Menschheit fahren läßt und auf den Trümmern der
V ernunft und Menschheit sich nur mit seiner miserablen,
interesselosen Seele beschäftigt, oder der Mensch, der
mit Menschen lebt und arbeitet und in Familie, Staat,
Kunst, Wissenschaft seine Leidenschaft für den Fort¬
schritt der Menschheit befriedigt?
Wer ist der Egoist, der Christ, der sich isoliert und an
seiner Isolierung weidet, oder der Mensch, der sich in
den Kampf der Geschichte wirft, sei es auch auf die
Gefahr des Untergangs hin, wenn er nur die Schlacht¬
linie der kämpfenden Menschheit weiter vorgerückt,
seinem Haß gegen die Dummheit und Bosheit Genüge
getan und seiner Begeisterung für Recht und Wahrheit
Luft gemacht hat?« [a.a.O., S. 75]
»Bin ich ein Egoist, wenn ich mein wahres Leben nur
in dem Leben für die allgemeinen Zwecke der Mensch¬
heitsehe? Und sind die Zwecke und Interessen der Mensch¬
heit nicht auch meine? Befriedige ich also nicht not¬
wendig mein Selbstgefühl, wenn ich mein Scherflein
zum Besten der Menschheit beitrage und eine Kugel
verschieße, um der Menschheit in ihrem Kampfe gegen
die Unmenschlichkeit siegen zu helfen? Und nütze ich
nicht der Menschheit, wenn ich mich selbst immer mehr
achten lerne? Der Einzelne kann nicht ohne die Gat¬
tung: sein und die Gattung nicht ohne ihn.« [a.a.O.,
S. 74ff.]
»Selbst der Name >Gott<, der nur erwähnt zu werden
braucht, um wenigstens das Gefühl einer öden Lange¬
weile zu erregen, muß zum Besten der menschlichen
Heiterkeit und des Frohsinns gemieden werden, und der
Name Atheist, das Wort Atheismus kann nur jetzt, nur
in einer Zeit, die mit Gewalt noch einmal recht gottvoll
sein will, von Wert und von Bedeutung sein. Der Name
Atheist darf jetzt noch nicht verschmäht werden, wenn
er auch nur eine negative Bezeichnung ist, da er als
Losungswort der ersten Befreiung der Menschheit un¬
endliche Bedeutung hat.« [a.a.O., S. 111]
LUDWIG FEUERBACH
48
eigentliche Menschheit im Menschen aus? Die Ver¬
nunft, der Wille, das Herz ... Vernunft, Liebe, Willens¬
kraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte,
sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und
der Zweck seines Daseins. Der Mensch ist, um zu er¬
kennen, um zu lieben, um zu wollen. Aber was ist der
Zweck der Vernunft? Die Vernunft. Der Liebe? Die
Liebe. Des Willens? Die Willensfreiheit. Wir erkennen,
um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu
wollen, d. h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes,
liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen gött¬
lich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die
Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Drei¬
einigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen
ist die Einheit vonVernunft, Liebe,Wille.. .«[a.a.O.,S.37]
»Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand. Große
exemplarische Menschen — solche Menschen, die uns
das Wesen des Menschen offenbaren, bestätigen diesen
Satz durch ihr Leben. Sie hatten nur eine herrschende
Leidenschaft: die Verwirklichung des Zwecks, welcher
der wesentliche Gegenstand ihrer Tätigkeit war. Aber
der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesent¬
lich, notwendig bezieht, ist nichts andres als das eigne
aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts ...« [a.a.O.,
S. 39]
»An dem Gegenstände wird daher der Mensch seiner
selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstandes ist das
Selbstbewußtsein des Menschen ... der Gegenstand ist
sein offenbares Wesen, sein wahres, objektives Ich.«[S.40]
»Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein
eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist
daher die Macht seines eignen Wesens. So ist die Macht
des Gegenstands des Gefühls die Macht des Gefühls,
die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht
der Vernunft selbst, die Macht des Gegenstands des
49
Willens die Macht des Willens ... Das Gefühl wird nur
durch das Gefühlvolle, d. h. durch sich selbst, sem
eignes Wesen bestimmt. So auch der Wille, so auch die
Vernunft. Was für eines Gegenstandes wir uns daher
auch nur immer bewußt werden: wir werden stets zu¬
gleich unsres eignen Wesens uns bewußt.« [a.a.0.,S.41]
»Das Gefühl ist deine innigste und doch zugleich eine
von dir unterschiedene, unabhängige Macht, es ist in dir
über dir: es ist dein eigenstes Wesen, das dich aber als
und wie ein anderes Wesen ergreift, kurz, dein Gott —
wie willst du also von diesem Wesen in dir noch ein
anderes gegenständliches Wesen unterscheiden? Wie
über dein Gefühl hinaus?« [a.a.O., S. 49]
»Der Gegenstand des Menschen ist nichts andres als
sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch
denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: soviel Wert
der Mensch hat, soviel und nicht mehr hat sein Gott.
Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des
Menschen. Die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis
des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst du den
Menschen und wiederum aus dem Menschen seinen
Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das
ist sein Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott:
Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst
des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung
der verborgenen Schätze des Menschen, das Einge¬
ständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche
Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.
Wenn aber die Religion, das Bewußtsein Gottes, als
das Selbstbewußtsein des Menschen bezeichnet wird, so
ist dies nicht so zu verstehen, als wäre der religiöse
Mensch sich direkt bewußt, daß sein Bewußtsein von Gott
das Selbstbewußtsein seines Wesens ist, denn der Mangel
dieses Bewußtseins begründet eben das eigentümliche
Wesen der Religion. Um diesen Mißverstand zu be-
50
seitigen, ist es besser zu sagen: die Religion ist das erste
und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen ...
Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er
es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als ein
andres Wesen Gegenstand. Die Religion ist das kind¬
liche PF?sen der Menschheit ... Jeder Fortschritt in der
Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntnis. Aber
jede bestimmte Religion, die ihre altern Schwestern als
Götzendienerinnen bezeichnet, nimmt sich selbst 1—
und zwar notwendig, sonst wäre sie nicht mehr Reli¬
gion — von dem Schicksal, dem allgemeinen Wesen der
Religion aus; sie schiebt nur auf die andern Religionen,
was doch —- wenn anders Schuld — die Schuld der
Religion überhaupt ist ...« [a.a.O., S. 51ff.]
»Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Ver-
halten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu
seinem PVesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als
zu einem andern PVesen. Das göttliche Wesen ist nichts
andres als das menschliche Wesen oder besser: das
PVesen des Menschen abgesondert von den Schranken des
individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen,
vergegenständlicht d. h. angeschaut und verehrt als ein
andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen — alle
Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Be¬
stimmungen des menschlichen Wesens.« [a.a.O., S. 53]
51
nach der Laute, um in ihren Tönen seinen eignen
Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt seinen Schmerz,
indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegenständ¬
licht; er erleichtert die Lust, die auf seinem Herzen ruht,
indem er sie der Luft mitteilt, seinen Schmerz zu einem
allgemeinen Wesen macht. Aber die Natur erhört nicht
die Klagen des Menschen — sie ist gefühllos gegen seine
Leiden. Der Mensch wendet sich daher weg von der
Natur, weg von den sichtbaren Gegenständen über¬
haupt — er kehrt sich nach innen, um hier, verborgen
und geborgen vor den gefühllosen Mächten, Gehör für
seine Leiden zu finden. Hier spricht er seine drückenden
Geheimnisse aus, hier macht er seinem gepreßten
Herzen Luft. Diese freie Luft des Herzens, dieses aus¬
gesprochene Geheimnis, dieser entäußerte Schmerz ist
Gott. Gott ist eine Träne der Liebe, in tiefster Ver¬
borgenheit vergossen über das menschliche Elend. >Gott
ist ein unaussprechlicher Seufzer, im Grunde der Seelen
gelegem — dieser Ausspruch ist der merkwürdigste,
tiefste, wahrste Ausspruch der christlichen Mystik.«
[Sebastian Franck von Word in Zinkgrefs Apophtegmata
deutscher Nation, a.a.O., S. 200 ff.]
»Der Mensch hat, wenigstens im Zustande des Wohl¬
seins, den Wunsch, nicht zu sterben. Dieser Wunsch ist
ursprünglich eins mit dem Selbsterhaltungstriebe. Was
lebt, will sich behaupten, will leben, folglich nicht
sterben. Dieser erst negative Wunsch wird in der
spätem Reflexion und im Gemüte, unter dem Drucke
des Lebens, besonders des bürgerlichen und politischen
Lebens, zu einem positiven Wunsche, zum Wunsche
eines Lebens und zwar bessern Lebens nach dem Tode.
Aber in diesem Wunsche liegt zugleich der Wunsch der
Gewißheit dieser Hoffnung. Die Vernunft kann diese
Hoffnung nicht erfüllen ... zu solcher Gewißheit gehört
eine unmittelbare, sinnliche Versicherung, eine tatsäch-
52
liehe Bestätigung. Diese kann mir nur dadurch gegeben
werden, daß ein Toter, von dessen Tod wir vorher ver¬
sichert waren, wieder aus dem Grabe aufersteht, und
zwar ein Toter, der kein gleichgültiger, sondern vielmehr
das Vorbild der andern ist ... Die Auferstehung Christi
ist daher das befriedigte Verlangen des Menschen nach
unmittelbarer Gewißheit von seiner persönlichen Fort¬
dauer nach dem Tode — die persönliche Unsterblichkeit
als eine sinnliche, unbezweifelbare Tatsache.« [a. a.O.,
S. 219ff.]
MOSES HESS
54
Mächten beherrscht. Das ist klar. Aber klar istauch, daß,
wenn Religion und Politik das Produkt eines viehischen
Zustandes, sie selbst oder ihre Repräsentanten eben nur
die andere Seite jenes Materialismus sind, in welchem
die Völker und Individuen befangen. — Die Priester
und Herrscher können nicht dadurch entschuldigt
werden, daß die Völker sie notwendig machten, ebenso¬
wenig wie die Individuen und Völker ihre Sklaverei
etwa durch ihre Priester und Herrscher entschuldigen
können. Sklaverei und Tyrannei, abstrakter Materialis¬
mus und Spiritualismus, bedingen sich gegenseitig ■—
und beklagenswert sind nur die, welche nicht einsehen,
daß aus diesem geschlossenen Kreise der Knechtschaft
nur durch radikalen Bruch mit der Vergangenheit her¬
auszukommen ist. Diesen Bruch haben die Franzosen
und Deutschen zustande gebracht, die erstem, indem
sie die Anarchie in der Politik, die andern, indem sie
dieselbe Anarchie in der Religion hervorriefen ...«
[.Philosophie der Tat, »Einundzwanzig Bogen aus der
Schweiz«, Hg. G. Herwegh, Zürich-Winterthur 1843,
S. 316f.]
55
sondern sich das, was es wünschte, glaubte und hoffte,
bildlich vorstellte.
56. Was ist der Glaube des Christentums? — Der
Glaube an das bittere Leiden der menschlichen Gat¬
tung ... 58. Ist der Glaube der Christen Wahrheit? —
Er ist Wahrheit, solange die menschliche Gattung
wirklich leidet und sofern man das Wesentliche der
christlichen Vorstellung faßt. 59. Darf der Christ
hoffen, daß die Leiden der Menschheit einmal aufhören
werden? Ja, diese Hoffnung ist sogar ein Teil seiner
Religion. 60. Unter welchem Bilde stellt er sich die
bessere Zukunft der Menschengattung vor? Unter dem
Bilde der himmlischen Freuden in der Gottseligkeit.
Wir werden aber diesen Himmel auf Erden haben, wenn
wir nicht mehr in der Selbstsucht, im Hasse, sondern in
der Liebe, in der einigen Menschengattung, in der kom¬
munistischen Gesellschaft leben.
61. Sind war böse von Geburt an? — Nein, wir
werden böse durch die schlechte Gesellschaft, in welcher
wir leben. 62. Ist die christliche Gesellschaft eine
schlechte? Ja, diese Welt ist, wie das Christentum selbst
verkündet, schlecht und verwerflich. 63. Wie heißt
das schlechte Wesen der Welt, wogegen das Christentum
stets eiferte? Es heißt Geld. 64. Ist der Fürst dieser Welt,
der Böse oder der Teufel, vor dessen Verführung das
Christentum warnt, wesentlich etwas Anderes als dieser
verfluchte Mammon, den wir unsern Schatz nennen? —
Nein, nichts Anderes ... 65. Ist die Hölle etwas Anderes
als die Erde unter der verfluchten Geldherrschaft? Nein,
sondern diese Erde ist die wahre, wirkliche Hölle.
67. Ist Gott im Himmel etwas Anderes als die Liebe?
Nein, nichts Anderes ... 71. Ist unser Gott, in welchem
wir leben und weben und sein möchten, etwas Anderes
als die menschliche Gattung — oder die in Liebe ver¬
einigte Menschheit? Nein, nichts Anderes. 72. Warum
56
glaubten wir bisher, daß der Teufel in uns, in der Welt,
und daß unser Gott nicht in uns, nicht in der Welt,
sondern irn Himmel sei? — Weil wir selbst nicht in der
Liebe, sondern in der Trennung und Feindschaft
lebten. Die Liebe hatte uns verlassen, und wir waren in
der Auflösung begriffen, darum glaubten wir, unser
Gott sei außer uns und jenseits dieser schlechten Welt,
der Teufel aber sei in uns, in dieser Welt, das Welt¬
wesen selbst. Unser Glaube war ... kehl Irrtum; er war
im wesentlichen Wahrheit. — So wie wir uns aber ver¬
einigen und im Kommunismus leben werden, ist die Hölle
nicht mehr auf Erden und der Himmel nicht mehr jen¬
seits der Erde, und alles, was uns im Christentum
prophetisch und phantastisch in Aussicht gestellt wor¬
den, geht in der wahrhaft menschlichen Gesellschaft
nach den ewigen Gesetzen der Liebe und Vernunft voll¬
ständig in Erfüllung.« [Kommunistisches Bekenntnis in
Fragen und Antworten, 6. »Von der Religion«, »Rhei¬
nische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform«,
Belle-Vue bei Constanz 1846, S. 166 ff.]
KARL MARX
57
Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der
Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt
des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese
Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Welt¬
bewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Reli¬
gion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklo¬
pädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form,
ihr spiritualistischer Point d’honneur, ihr Enthusias¬
mus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergän¬
zung, ihr allgemeiner Trost und Rechtfertigungsgrund.
Sie ist die phantastische Verwirklichung des mensch¬
lichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine
wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die
Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt,
deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des
wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen
das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der
bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt,
wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das
Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen
Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen
Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen
Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand
aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der
Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals,
dessen Heiligenschein die Religion ist.
Die Kritik hat die imaginären Rlumen an der Kette
zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose,
trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe
und die lebendige Rlume breche. Die Kritik der
Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke,
handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter,
zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich
58
selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die
Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den
Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst
bewegt.
Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das
Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit
des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe
der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht,
nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstent¬
fremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihrer
unheiligen Gestalt zu entlarven. Die Kritik des Him¬
mels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die
Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der
Theologie in die Kritik der Politik.« [Kritik der Hegel-
schen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1844, MEGA,
Erste Abteilung, Bd. I, erster Halbband, S. 607 ff.;
Marx/Engels Die heilige Familie und andere philoso¬
phische Frühschriften, Ostberlin 1953, S. 11 ff.]
»Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen
Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine
religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht
darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage auf¬
zulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich
selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den
Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit
und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grund¬
lage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst so¬
wohl in ihrem Widerspruch verstanden als auch prak¬
tisch revolutioniert werden. Also nachdem z. B. die
irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie
entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und
praktisch vernichtet werden . . .« [Thesen über Feuer-
bach, 4. These, geschr. Brüssel 1845, MEGA, Erste Ab¬
teilung, Bd. II; Marx / Engels Werke, Ostberlin 1958,
Bd. III, S. 6]
59
»Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche
Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem
einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In
seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaft¬
lichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen
Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und
das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein ab¬
strakt-isoliert-menschliches Individuum vorauszusetzen.
2. Das Wesen kann daher nur als >Gattung<, als innere,
stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbin¬
dende Allgemeinheit gefaßt werden.« [a.a.O., 6. These]
»Feuerbach sieht daher nicht, daß das >religiöse
Gemüt< selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß
das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer be¬
stimmten Gesellschaftsform angehört.« [a.a.O., 7. These]
60
des praktischen Werktagslebens den Menschen tag¬
täglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zuein¬
ander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesell¬
schaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Pro¬
duktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebel¬
schleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter
Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle
steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der
Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller
Existenzbedingungen, welche selbst wieder das natur¬
wüchsige Produkt einer langen und qualvollen Ent¬
wicklungsgeschichte sind.« [a.a.O., S. 85]
»Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den
irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden
[was Feuerbach getan hat], als umgekehrt aus den
jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre ver¬
himmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die
einzig materialistische und daher wissenschaftliche
Methode. Die Mängel des abstrakt naturwissenschaft¬
lichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß
ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und
ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald
sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.« [a.a.O.,
S. 589, Anmerkung 89]
61
tariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu
verteidigen.
Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen
die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unter¬
drückten Klasse und haben für die letztere nur den
frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein.
Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die
konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den
Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser
Infamien auf der Erde.
Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären
alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die
Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erb¬
sünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die
der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen
Weisheit verhängt.
Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen
die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die
Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der
Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille
behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl,
seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel
nötiger als sein Brot.
Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duck-
mäuserig, und das Proletariat ist revolutionär.« [Der
Kommunismus des >Rheinischen Beobachtern, Deutsche
Brüsseler Zeitung vom 12.9. 1847; Marx/Engels Werke,
Bd. IV, S. 200]
62
FRIEDRICH ENGELS
63
Nationalgott Jahve seine Verkörperung fand. In dieser
allem anpaßbaren Gestalt kann die Religion fort-
bestehen als unmittelbare, d. h. gefühlsmäßige Form
des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden
fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten,
solange die Menschen unter der Herrschaft solcher
Mächte stehn. Wir haben aber mehrfach gesehen, daß
in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Menschen
von den von ihnen selbst produzierten Produktions¬
mitteln wie von einer fremden Macht beherrscht
werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen
Reflexaktion dauert also fort, und mit ihr der religiöse
Reflex selbst ... Es heißt noch immer: der Mensch denkt
und Gott (d. h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen
Produktionsweise) lenkt. Die bloße Erkenntnis, und ginge
sie weiter und tiefer als die der bürgerlichen Ökonomie,
genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Elerr-
schaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor
allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat
vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Resitzergreifung
und planvolle Handhabung der gesamten Produktions¬
mittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der
Knechtschaft befreit hat ... wenn der Mensch also nicht
mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst ver¬
schwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in
der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet
auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem ein¬
fachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzu¬
spiegeln gibt.« [Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft (1878), Ostberlin 1948, S. 393ff.]
64
sierten Menschheit 1800 Jahre beherrscht hat, wird
man nicht fertig, indem man sie einfach für von Be¬
trügern zusammengestoppelten Unsinn erklärt. Man
wird erst fertig mit ihr, sobald man ihren Ursprung
und ihre Entwicklung aus den historischen Bedingungen
zu erklären versteht, unter denen sie entstanden und
zum Herrschen gekommen ist. Und namentlich beim
Christentum. Es gilt eben die Frage zu lösen, wie es
kam, daß die Volksmassen des römischen Reiches diesen
noch dazu von Sklaven und Unterdrückten gepredigten
Unsinn allen anderen Religionen vorzogen, so daß end¬
lich der ehrgeizige Konstantin in der Annahme dieser
Unsinnsreligion das beste Mittel sah, sich zum Allein¬
herrscher der römischen Welt emporzuschwingen. Zur
Beantwortung dieser Frage hat Bruno Bauer bei weitem
mehr beigetragen als irgendein anderer ...«
Es folgen Hinweise auf >den Juden Philo<, Seneka
usw. und die These, das Christentum sei aus einer Ver¬
bindung von vorderasiatischer >Vulgärreligion< und
monotheistischer (stoischer) >Vulgärphilosophie< hervor¬
gegangen. Danach wendet sich Engels den politisch¬
sozialen Verhältnissen zu:
65
Verpflanzung orientalischer Götterkulte nach Rom scha¬
dete nur der römischen Religion, konnte aber den Verfall
der orientalischen Religionen nicht hemmen. Sobald die
Nationalgötter die Unabhängigkeit und Selbständigkeit
ihrer Nation nicht mehr schirmen können, brechen sie
sich selbst den Hals. So geschah es überall (abgesehen
von den Bauern, besonders im Gebirg). Was in Rom
und Griechenland die vulgärphilosophische Aufklärung,
ich hätte beinahe gesagt der Voltairianismus, das tat in
den Provinzen die römische Unterjochung und die
Ersetzung freiheitsstolzer Männer durch verzweifelte
Untertanen und selbstsüchtige Lumpe.
Das war die materielle und moralische Lage. Die
Gegenwart unerträglich, die Zukunft womöglich noch
drohender. Kein Ausweg. Verzweiflung oder Rettung in
dem allerordinärsten Genuß — bei denen wenigstens,
die sich das erlauben konnten, und das war eine kleine
Minderzahl. Sonst blieb nur noch die schlaffe Ergebung
in das Unvermeidliche.
Aber in allen Klassen mußte es eine Anzahl Leute
geben, die, an der materiellen Erlösung verzweifelnd,
eine geistige Erlösung als Ersatz suchten — einen Trost
im Bewußtsein, der sie vor der gänzlichen Verzweiflung
bewahrte. Diesen Trost konnte die Stoa nicht bieten,
ebensowenig wie die Schule Epikurs, eben weil sie
Philosophien, also nicht für das gemeine Bewußtsein
berechnet sind, und dann zweitens, weil der Lebens¬
wandel ihrer Jünger die Lehren der Schule in Mißkredit
brachte. Der Trost sollte nicht die verlorene Philosophie,
sondern die verlorene Religion ersetzen, er mußte eben
in religiöser Form auftreten, wie damals und noch bis
ins 17. Jahrhundert, alles, was die Massen packen sollte.
Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß von den
nach einem solchen Bewußtseinstrost, nach dieser
Flucht aus der äußern Welt in die innere, sich sehnen-
66
den Leuten die Mehrzahl sich finden mußte — unter
den Sklaven.
In diese allgemeine ökonomische, politische, intellek¬
tuelle und moralische Auflösung trat nun das Christen¬
tum. Zu allen bisherigen Religionen trat es in ent¬
schiedenen Gegensatz.«
Bei den bisherigen Religionen seien die Zeremonien
die Hauptsache gewesen und diese hätten im intoleranten
Orient zu deren Verfall wesentlich beigetraven.
67
den gegebenen Vorstellungsstoff, bildet ihn weiter aus;
sie wäre sonst keine Ideologie, d. h. Beschäftigung mit
Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig ent¬
wickelnden, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfenen
Wesenheiten. Daß die materiellen Lebensbedingungen
der Menschen, in deren Köpfen dieser Gedankenprozeß
vor sich geht, den Verlauf dieses Prozesses schließlich
bestimmen, bleibt diesen Menschen notwendig unbe¬
wußt, denn sonst wäre es mit der ganzen Ideologie am
Ende. Diese ursprünglichen religiösen Vorstellungen
also, die meist für jede verwandte Völkergruppe gemein¬
sam sind, entwickeln sich, nach der Trennung der
Gruppe, bei jedem Volk eigentümlich, je nach den ihm
beschiednen Lebensbedingungen, und dieser Prozeß
ist für eine Reihe von Völker gruppen, namentlich für
die arische (sogenannte indoeuropäische) im einzelnen
nachgewiesen durch die vergleichende Mythologie. Die
so bei jedem Volle herausgearbeiteten Götter waren
Nationalgötter, deren Reich nicht weiter ging als das
von ihnen zu schützende nationale Gebiet, jenseits des¬
sen Grenzen andre Götter unbestritten das große Wort
führten. Sie konnten nur in der Vorstellung fortleben,
solange die Nation bestand; sie fielen mit deren Unter¬
gang. Diesen Untergang der alten Nationalitäten
brachte das römische Weltreich, dessen ökonomische
Entstehungsbedingungen wir hier nicht zu unter¬
suchen haben. Die alten Nationalgötter kamen in Ver¬
fall, selbst die römischen, die eben auch nur auf den
engen Kreis der Stadt Rom zugeschnitten waren; das
Bedürfnis, das Weltreich zu ergänzen durch eine Welt¬
religion, tritt klar hervor in den Versuchen, allen
irgendwie respektablen fremden Göttern neben den
einheimischen in Rom Anerkennung und Altäre zu
schaffen. Aber eine neue Weltreligion macht sich nicht
in dieser Art durch kaiserliche Dekrete. Die neue Welt-
68
religion, das Christentum, war im stillen bereits ent¬
standen aus einer Mischung verallgemeinerter orientali¬
scher, namentlich jüdischer Theologie und vulgarisier¬
ter griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Wie
es ursprünglich aussah, müssen wir erst wieder mühsam
erforschen, da seine uns überlieferte offizielle Gestalt
nur diejenige ist, in der es Staatsreligion wurde. Genug,
die Tatsache, daß es schon nach 250 Jahren Staats¬
religion wurde, beweist, daß es die den Zeitumständen
entsprechende Religion war. Im Mittelalter bildete es sich
genau im Maß, wie der Feudalismus sich entwickelte,
zu der diesem entsprechenden Religion aus, mit ent¬
sprechender feudaler Hierarchie.
Und als das Riirgertum aufkam, entwickelte sich im
Gegensatz zum feudalen Katholizismus die protestan¬
tische Ketzerei zuerst in Südfrankreich bei den Albigen-
sern zur Zeit der höchsten Blüte der dortigen Städte ...
Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei
entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden
Bürgertums; als dies Bürgertum hinreichend erstarkt
war, begann sein bisher vorwiegend lokaler Kampf mit
dem Feudaladel nationale Dimensionen anzunehmen.
Die erste große Aktion fand in Deutschland statt —
die sogenannte Reformation. Das Bürgertum war weder
stark noch entwickelt genug, um die übrigen rebelli¬
schen Stände — die Plebejer der Städte, den niederen
Adel und die Bauern auf dem Lande — unter seiner
Fahne vereinigen zu können. Der Adel wurde zuerst
geschlagen; die Bauern erhoben sich zu einem Aufstand,
der den Gipfelpunkt dieser ganzen revolutionären
Bewegung bildet; die Städte ließen sie im Stich, und so
erlag die Revolution den Heeren der Landesfürsten, die
den ganzen Gewinn einstrichen. Von da an verschwand
Deutschland auf drei Jahrhunderte aus der Reihe der
selbständig in die Geschichte eingreifenden Länder.
69
Aber neben dem deutschen Luther hatte der Franzose
Calvin gestanden; mit echt französischer Schärfe stellte
er den bürgerlichen Charakter der Reformation in den
Vordergrund, republikanisierte und demokratisierte die
Kirche. Während die lutherische Reformation in
Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde
richtete, diente die calvinistische den Republikanern in
Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Hol¬
land von Spanien und vom Deutschen Reiche frei und
lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der
bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging.
Hier bewährte sich der Calvinismus als die echte reli¬
giöse Verkleidung der Interessen des damaligen Bürger¬
tums und kam deshalb auch nicht zu voller Anerken¬
nung, als die Revolution 1689 durch einen Kompromiß
eines Teils des Adels mit den ßürgem vollendet wurde.
Die englische Staatskirche wurde wiederhergestellt,
aber nicht in ihrer früheren Gestalt, als Katholizismus
mit dem König zum Papst, sondern stark calvinisiert.
Die alte Staatskirche hatte den lustigen katholischen
Sonntag gefeiert und den langweiligen calvinistischen
bekämpft, die neue verbürgerte führte diesen ein, und
er verschönt England noch jetzt.«
»In Frankreich wurde die calvinistische Minorität
1685 unterdrückt, katholisiert oder weggejagt; aber
was half’s? Schon damals war der Freigeist Pierre Bayle
mitten in der Arbeit, und 1694 wurde Voltaire ge¬
boren. Die Gewaltmaßregel Ludwigs XIV. erleichterte
nur dem französischen Bürgertum, daß es seine Revolu¬
tion in der der entwickelten Bourgeoisie allein ange¬
messenen irreligiösen, ausschließlich politischen Form
machen konnte. Statt Protestanten saßen Freigeister in
den Nationalversammlungen. Dadurch war das Chri¬
stentum in sein letztes Stadium getreten. Es ist unfähig
geworden, irgendeiner progressiven Klasse fernerhin als
70
ideologische Verkleidung für ihre Strebungen zu dienen;
es wurde mehr und mehr Alleinbesitz der herrschenden
Klassen, und diese wenden es an als bloßes Regierungs¬
mittel, womit die untern Klassen in Schranken gehalten
werden. Wobei dann jede der verschiedenen Klassen
ihre eigne entsprechende Religion benutzt: die grund¬
besitzenden Junker die katholische oder protestantische
Orthodoxie, die liberalen und radikalen Bourgeois den
Rationalismus; und wobei es keinen Unterschied macht,
ob die Herren an ihre respektiven Religionen selbst
glauben oder auch nicht.
Wir sehen also: die Religion, einmal gebildet, enthält
stets einen überlieferten Stoff, wie denn auf allen
ideologischen Gebieten die Tradition eine große konser¬
vative Macht ist. Aber die Veränderungen, die mit
diesem Stoff vorgehn, entspringen aus den Klassen¬
verhältnissen, also aus den ökonomischen Verhältnissen
der Menschen, die diese Veränderungen vornehmen.
Und das ist hier hinreichend.« [Ludwig Feuerbach
und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie
(1886); zit. nach Marx/Engels Ausgewählte Schriften
in 2 Bänden, Berlin 1953, Bd. II, S. 371 ff.]
71
jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der
Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der
Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre
Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die
einen als Feinde des Menschengeschlechts, die andern
als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der
gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgun¬
gen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide
siegreich, unaufhaltsam vor. Dreihundert Jahre nach
seinem Entstehen ist das Christentum anerkannte
Staatsreligion des römischen Weltreichs, und in kaum
sechzig Jahren hat sich der Sozialismus eine Stellung
erobert, die ihm den Sieg absolut sicherstellt.« \Zur
Urgeschichte des Christentums, »Die Neue Zeit«, 1894/95,
XIII. Jg., Heft 1 und 2; zit. nach Marx/Engels Über
Religion, Ostberlin 1958, S. 255]
»Ich möchte den alten >Internationalen< sehen, der
z. B. den sogenannten zweiten Brief Pauli an die
Korinther lesen kann, ohne daß wenigstens in einer
Beziehung alte Wunden bei ihm aufbrechen. Der ganze
Brief vom 8. Kapitel an hallt den ewigen, ach so wohl-
bekannten Klageton wider: les cotisations ne rentrent
pas -— die Beiträge wollen nicht einkommen! Wie
viele der eifrigsten Propagandisten der sechziger Jahre
würden dem Verfasser dieses Briefs, wer er auch sei,
verständnisinnig die Hand drücken und flüstern: also
auch dir ging’s so! Auch wir können ein Liedchen davon
singen — auch in unserer Assoziation wimmelte es von
Korinthern —, diese nicht einkommenden Beiträge, die
unfaßbar vor unsren Tantalusblicken umherflattern,
das waren ja gerade die berühmten >Millionen der
Internationaled« [a.a. O., S. 257]
Weiter berichtet Engels, daß es auch in der frühen
Arbeiterbewegung eine große Anzahl falscher Propheten
und Schwindler gegeben habe, die sich — ähnlich jenem
72
Peregrinus (oder Proteus), von dem Lucian von Samosata
berichtete — in die Bewegung einschlichen, um ihren
persönlichen Vorteil von der Verehrung der hoffnungs¬
vollen Massen zu ziehen. Schließlich wird das Christen¬
tum der >Offenbarung Johannes< als ältester Bestandteil
des Neuen Testaments und Dokument für das frühe
Christentum analysiert und wiederum mit dem Sozialis¬
mus der Ersten Internationale verglichen:
»In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermäch¬
tige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer
untereinander ist beiden gemeinsam, den Urchristen
wie den Sozialisten. Beide großen Bewegungen sind
nicht von Führern und Propheten gemacht — obwohl
Propheten genug bei beiden Vorkommen ——, sie sind
Massenbewegungen. Und Massenbewegungen sind im
Anfang notwendig konfus; konfus, weil alles Massen¬
denken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten,
Zusammenhangslosigkeiten bewegt, konfus aber auch
eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch
darin spielen. Diese Konfusion zeigt sich in der Bildung
zahlreicher Sekten, die sich untereinander mit minde¬
stens eben derselben Heftigkeit bekämpfen, wie den
gemeinsamen Feind draußen. So war’s im Urchristen¬
tum, so war’s in den ersten Zeiten der sozialistischen
Bewegung, sosehr das auch die wohlmeinenden Bieder¬
männer betrübte, die Einigkeit predigten, wo keine
Einigkeit möglich war.« [a.a.O., S. 266]
Im letzten Teil seines Aufsatzes geht Engels auf die
>Klassenbasis< des frühen Christentums ein und versucht
nachzuweisen, daß die spätantike Gesellschaft eine reale
Emanzipation dieser Schichten (heruntergekommene
Freie — ähnlich den mean whites in den amerikanischen
Südstaaten, Sklaven, in Schuldknechtschaft verfallene
Kleinbauern usw.) nicht zuließ:
»Wie die Dinge lagen, konnte er nur ein religiöser Aus¬
weg sein. Und da erschloß sich eine andre Welt. Die
75
Fortexistenz der Seele nach dem Tod des Leibes war
allmählich überall in der römischen Welt anerkannter
Glaubensartikel geworden ... Da kam das Christentum,
machte Emst mit der Belohnung und Bestrafung im
Jenseits, schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war
gefunden, der die Mühseligen und Beladnen aus
diesem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige
Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf eine
jenseitige Belohnung war es möglich, die stoisch-
philonische Weltentsagung und Askese zum ethischen
Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volks -
massen hinreißenden Weltreligion zu erheben.« [a.a.O.,
S. 270]
Endlich betont Engels auch die Intensität der eschato-
logischen Erwartungen der frühen Christen und erinnert
sich, in seiner Jugend alte Leute gekannt zu haben, die
als Anhänger des schwäbischen Theologen Johann
Albrecht Bengel den Weltuntergang für 1836 er¬
warteten :
74
JOSEPH DIETZGEN
75
Schönen, Rechten, Göttlichen hinaufzuführen. Ja, die
soziale Demokratie ist insofern die wahre Religion, die
alleinseligmachende Kirche, als sie den gemeinschaft¬
lichen Zweck nicht mehr auf phantastischem Wege,
nicht mit Bitten, Wünschen und Seufzen, sondern auf
realem, tatkräftigem Wege, wirklich und wahr, durch
gesellschaftliche Organisation der Hand- und Kopf¬
arbeit erstrebt.« [a.a.O., S. 98]
»Die Sozialdemokratie lebt im Glauben an den Sieg
der Wahrheit, in der Hoffnung auf Erlösung aus mate¬
rieller und geistiger Knechtschaft, in der Liebe für die
Gleichberechtigung der Menschen.« [a.a.O., S. 105]
»Bewußte, planmäßige Organisation der sozialen
Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren
Zeit.« [a.a.O.]
76
Erbsünde, an der das Menschengeschlecht bisher leidet,
ist die Selbstsucht ... Die bürgerliche Gesellschaft fußt
auf dem selbstsüchtigen Unterschied von Mein und Dein,
fußt auf dem sozialen Krieg, auf der Konkurrenz, auf
der Überlistung und Ausbeutung des einen durch den
anderen. Und zum Schluß die Moral: sie verlangt, und
ihr ganzes Wesen beruht auf diesem Verlangen, daß wir
die Gegensätze der Liebe und Selbstsucht miteinander
versöhnen, daß sich die Gesellschaft auf dieser Ver¬
söhnung konstituiere, daß der Mensch dem Menschen
die Hand reiche, um mit vereinter Kraft und Arbeit die
Natur zur reichlichen Hergabe unsrer Lebensmittel zu
zwingen. Amen ...« [a. a. O., S. 110]
77
Hohen erniedrigen und die Niedrigen erhöhen will. Die
Charakterlosen der Schaukel-Politik sind als religiöse
Heuchler leicht wieder zu erkennen. Die Herren der
großen Industrie, nebst ihren betreßten und betitelten
Lohndienem, als da sind: Professoren, Kreisrichter,
Advokaten usw. schwärmen, wie für die Freiheit der
Gewerbe und Konkurrenz, so auch für Religionsfreiheit.
Der Mensch darf glauben, was er will. Aber wehe dem,
der ... mit der Freiheit von aller Religion Ernst machen
will! Einer freireligiösen Gemeinde darf man schon
angehören ...; aber gar keiner Religion und einer
Schule ohne Konfession? Nein! Da hört alles auf! Da ist
die Welt mit Brettern zugeschlagen! Wenn das Volk an
nichts mehr glaubt, wer wird daun unser Eigentum
heiligen und unserem Vaterlande das Kanonenfutter
hergeben?« [a.a.O., S. 112f.]
KARL KAUTSKY
78
gleich zwischen Christentum und Sozialdemokratie
legten die Ausleger dieser Art den Nachdruck nicht auf
die Unwiderstehlichkeit und Raschheit des Vordringens,
sondern darauf, daß Konstantin das Christentum frei¬
willig als Staatsreligion anerkannte, daß diese ohne
jede gewaltsame Erschütterung des Staates in durchaus
friedlicher Weise durch ein Entgegenkommen der
Regierung zum Siege gelangte. So meinten sie, müsse
und werde auch die Sozialdemokratie siegen. Und un¬
mittelbar nach Engels’ Tod schien in der Tat diese
Erwartung schon in Erfüllung zu gehen, indem Herr
Waldeck-Rousseau in Frankreich als neuer Konstantin
auftrat und einen Bischof der neuen Christen, Herrn
Millerand, zu seinem Minister machte.« [Karl Kautsky
Der Ursprung des Christentums, 1908; zit. nach der
7. Aufl., Stuttgart 1919, S. 494ff.]
Diese Interpretation lehnt Kautsky energisch ab und
betont:
»Wir haben gesehen, daß das Christentum erst zum
Siege gelangte, als es sich in das gerade Gegenteil seines
ursprünglichen Wesens verwandelt hatte; daß im
Christentum nicht das Proletariat zum Siege gelangte,
sondern der es ausbeutende und beherrschende Klerus;
daß das Christentum nicht siegte, nicht als umstürz-
lerische, sondern als konservative Macht, als neue Stütze
der Unterdrückung und Ausbeutung; daß es die kaiser¬
liche Macht, die Sklaverei, die Besitzlosigkeit der
Massen und die Konzentration des Reichtums in wenigen
Händen nicht nur nicht beseitigte, sondern befestigte.
Die Organisation des Christentums, die Kirche, siegte
dadurch, daß sie ihre ursprünglichen Ziele preisgab und
deren Gegenteil verfocht.« [a. a. O., S. 496]
79
PAUL LAFARGUE
80
dieses unpersönliche Eigentum, das so unbestimmt ist
wie ein metaphysischer Gedanke, für seine sämtlichen
Bedürfnisse wie der himmlische Vater der Christen,
ohne von ihm eine andere Arbeit zu verlangen als das
Einkassieren der Dividenden. Er empfängt sie in einer
seligen Faulheit des Körpers und des Geistes wie eine
Gnade. Er zerquält sein Hirn ebensowenig, um die
Natur des unpersönlichen Eigentums kennenzulernen,
das ihm Renten und Dividenden gibt, als um zu er¬
fahren, ob sein einziger kosmopolitischer Gott Mann,
Weib oder Tier, intelligent oder geistlos ist, ob er Kraft,
Wildheit, Gerechtigkeit oder Güte usw. besitzt, Eigen¬
schaften, mit denen die menschenähnlichen Götter
begabt waren. Er verschwendet seine Zeit nicht damit,
an ihn Gebete zu richten, weil er sicher ist, daß kein
Fehlen den Zins- und Dividendensatz des unpersön¬
lichen Eigentums verändert, von dem sein eigener
kosmopolitischer Gott der geistige Reflex ist.
81
»Jeder für sich und Gott, d. h. für ihn das Geld, für alle.
Die Industrie- und Handelsfreiheit mußte sich not¬
wendigerweise in seiner Betrachtungsweise der Reli¬
gion widerspiegeln, die jeder auf seine Art versteht.
Jeder setzt sich mit seinem Gotte auseinander wie in
kaufmännischen Dingen mit seinem Gewissen. Jeder
interpretiert die Lehren der Kirche und die Worte der
Bibel je nach seinen Interessen und seiner Einsicht ...«
[a. a. O., S. 552]
82
dieser Aufgabe gewerbsmäßige Verdummer zur Ver¬
fügung haben. Als solche betrachtet sie die Geistlichen
aller Kulte. Wie jedoch die Medaille auch ihre Kehr¬
seite hat, so birgt auch die Lektüre der Bibel durch die
Lohnarbeiter Gefahren in sich. Rocke feiler wußte sie zu
würdigen. Dieser große >Vertruster< hat, um diesem
Übelstand abzuhelfen, einen Trust zur Herausgabe von
Volksbibeln gegründet, die von den Klagen über die
Ungerechtigkeiten der Reichen und den neidischen
Zornesrufen gegen deren empörendes Glück gereinigt
sind ...« [a.a.O., S. 552f.]
83
geboren, wird er als Lohnarbeiter leben und als Lohn¬
arbeiter sterben. Sein Streben kann in der gegebenen
Gesellschaft nicht höher hinaus wollen als zu einer
Lohnerhöhung und einer ununterbrochenen Fortdauer
des Lohnes durch alle Tage des Jahres und durch alle
Jahre seines Lebens. Für den Proletarier existieren nicht
die Zufälle und die unvorhergesehenen Glückschancen
des Bourgeois, die diesen zu seinen mystischen Ideen
geneigt machen; und die Gottesidee kann im mensch¬
lichen Gehirn erst dann aufkommen, wenn ihr Er¬
scheinen durch mystische Vorstellungen, gleichviel
welchen Ursprungs, vorbereitet ist...« [a.a. O., S. 553 f.]
»Das gigantische Werkzeug aus Stahl und Eisen, das
die Fabrik erfüllt, das sie wie einen Automaten in
Bewegung setzt, das ihn bisweilen verschlingt, ver¬
stümmelt, zerschmettert, ruft dennoch in ihm nicht ein
Gefühl abergläubischen Entsetzens hervor wie der Don¬
ner beim Landmann, sondern läßt ihn ungerührt, uner¬
schrocken; denn er weiß, daß die einzelnen Glieder
dieses metallenen Ungeheuers von seinen Kameraden
fabriziert und montiert worden sind und daß er nur
einen Treibriemen umzulegen braucht, um sie zum
Gehen oder Stehen zu bringen. Trotz ihrer Kraft und
ihrer wunderbaren Produktionsfähigkeit hat die Ma¬
schine nichts Geheimnisvolles für ihn. Der Arbeiter in
einem Elektrizitätswerk, der nur eine Kurbel zu drehen
braucht, um auf viele Kilometer Entfernung die be¬
wegende Kraft der Straßenbahnen ... zu entsenden,
kann wie Gott im ersten Buche Mosis sagen: >Es werde
Lichtd und es wird Licht. Niemals ist so phantastische
Zauberei erträumt worden; dennoch ist für ihn diese
Zauberei etwas ganz Einfaches und Natürliches. Man
würde ihn sehr in Erstaunen setzen, wenn man ihm
sagte, daß ein Gott nach Belieben die Maschinen an-
halten und die Lampen löschen könne. Er würde wohl
84
darauf antworten, daß dieser anarchische Gott ganz ein¬
fach nur ein zerbrochener Maschinenteil oder ein
zerrissener Leitungsdraht sein könne, und daß es für
ihn ein leichtes wäre, diesen Störenfried von Gott zu
suchen und zu finden ...« [a.a.O., S. 555]
MAX ADLER
85
nicht ein Begriff der Naturgesetzlichkeit, sondern
lediglich der Geistesgesetzlichkeit ist, daß er also nicht
erklärt und bewiesen, wohl aber geglaubt und ge¬
schaffen werden kann.« [Das Soziologische in Kants
Erkenntniskritik, Wien 1924, S. 408ff.]
»Nur dann, wenn die Welt nicht bloß als ein Mecha¬
nismus angesehen wird, in dessen zweckloser Gesetzlich¬
keit der Mensch mit seinen Zwecken als eine lächerliche
und überflüssige Possenfigur erscheint, die einige Jahr¬
tausende sich über Naturgesetzlichkeit und Sinn des
Lebens mehr oder weniger uneigenartige Gedanken
macht, um dann wieder in das Nichts des toten Welt¬
geschehens zu versinken, sondern erst, wenn die Welt
als Kosmos erfaßt wird, in welchem der Mensch seine
eigenen Vernunftszwecke nicht anders denn als Ausfluß
einer Weltgesetzlichkeit betrachten kann, die auch die
Realisierung dessen verbürgt, was sie ihm als wertvoll
anzuerkennen nötigt, wird mit dieser Vorstellung eines
Endzweckes jener Schritt über die Moralhinaus gemacht,
der erst zu religiösen Begriffen im eigentlichen (philo¬
sophischen) Sinn des Wortes führt.« [a.a.O., S. 504f.]
A. DEBORIN
86
einer Kombination von Kantschem Idealismus und
Marxismus geltend macht ...
Adler erklärt also den Sozialismus < zur formal¬
gnoseologischen Kategorie des vergesellschafteten sozia¬
len Menschen. Wir übergehen hier die Verwechslung
der Begriffe >sozial< und sozialistische Das transzenden¬
tale Bewußtsein Kants stellt sich nach der Lehre Adlers
dar als identisch mit dem Marxschen Begriff des ver¬
gesellschafteten Menschen. Wie das transzendentale
Bewußtsein ein überindividuelles Bewußtsein sei, so
bedeute auch der >vergesellschaftete Menseln die Über¬
windung des Individualismus und Bejahung des
Sozialismus*. In diesem Sinne sei Kant gewissermaßen
der größte Sozialist gewesen, da er bis zu den letzten
Quellen, bis zum Sozialismus des Bewußtseins, zum
Sozialismus des Geistes vorgedrungen sei. Es kümmert
Adler nicht, daß das transzendentale Bewußtsein Kants
zum Unterschied von dem >vergesellschafteten Men¬
schen von Marx* eine rein formale, übergeschichtliche
und überempirische Kategorie darstellt und seinem
ganzen Wesen nach innerlich widerspruchsvoll ist ...
Das Kantsche überindividuelle Bewußtsein, das über
der Wirklichkeit steht und ihr seine Gesetze diktiert,
verfügt über eine Reihe von a priori-Funktionen, d. h.
von der Erfahrung imabhängiger Funktionen. Mit
diesen a priori-Funktionen stattet nun Max Adler seinen
vergesellschafteten Menschen* aus, der (nach Adler)
denn auch nichts anderes sei als das transzendentale
Subjekt Kants. In voller Übereinstimmung mit Kant
akzeptiert Adler drei Arten des Bewußtseins oder drei
grundlegende Funktionen desselben: die Erkenntnis,
— die Willens (moral) — und die Glaubensfunktion. So
wird die Funktion des Glaubens oder das religiöse
Bewußtsein zu einem Element der menschlichen Natur.
Der Glaube bildet eine notwendige und allgemeingültige
87
Form des Bewußtseins des vergesellschafteten Menschen,
ohne welchen Bewußtsein überhaupt undenkbar ist.
Max Adler war niemals orthodoxer Marxist. Dennoch
hatte er sich bisher nie zu so reaktionären Schlu߬
folgerungen verstiegen, obwohl die Zulässigkeit solcher
Schlußfolgerungen sich aus seiner allgemeinen, ideali¬
stischen Weltanschauung ergab.« [Des Revisionismus
letzte Weisheit, »Unter dem Banner des Marxismus«,
I. Jg., Heft 1, S. 70ff.]
HEINRICH CUNOW
88
allem der Tod, zuerst in dem Menschen das Gefühl der
Furcht und Abhängigkeit geweckt und seinem einfachen
Denken geheimnisvolle Rätsel aufgegeben. Ferner aber
lebte selbst auf den alleruntersten Entwicklungsstufen
der Mensch nicht nur in der Natur, sondern zugleich in
der Gemeinschaft mit seinesgleichen und dieses Ge¬
meinschaftsleben, d. h. die sich aus ihm ergebenden
gesellschaftlichen Existenzbedingungen gewannen, wie
das Beispiel der heutigen niedrigstehenden Wildvölker
zeigt, schon früh einen rasch steigenden, sich stetig
vergrößernden Einfluß auf seine religiöse Gedanken¬
welt — nicht erst auf jener Stufe, die nach Engels
Ansicht selbst die alten Inder, Perser, Griechen, Römer
noch nicht erklommen hatten.« [Ursprung der Religion
und des Gottesglaubens, Erweiterung der 1911 in der
»Neuen Zeit« erschienenen »Religionsgeschichtlichen
Streifzüge«; zit. nach der 5. Aufl., Berlin 1924, S. 17]
»Der Inselbewohner verlegt sein ... Götterland nach
abgelegenen Inseln... des Bergbewohners Geister hausen
hingegen auf hohen Bergen... So spiegeln sich ganz selbst¬
verständlich in den phantastischen Mythen jedes Volkes
seine natürlichen Anschauungsbilder wider. Aber wer
durch dieses äußere Lokalkolorit zu dem eigentlichen
religiösen Inhalt der Vorstellungen vordringt, der findet
bald, daß diese nicht durch die sogenannten Naturein¬
drücke, sondern durch die soziale Lebensauffassung be¬
dingt sind. Stellen wir z. B. die Frage, wie sich die primi¬
tiven Völker denn nun ihren oder ihre Weltschöpfer vor¬
stellen, welche Eigenschaften sie ihnen beilegen, wie sie
ihr eigenes Verhältnis zu diesen Göttern auffassen, was
diese von ihnen fordern usw., so sehen wir sofort, mit der
schönen Lehre von der Bedingtheit der religiösen An¬
schauungen durch die Naturmächte ist absolut nichts an¬
zufangen ; nur aus den sozialen Lebensverhältnissen las¬
sen sich alle diese Anschauungen erklären.« [a.a.O.,S. 20]
89
W. I. LENIN
90
keine Mißverständnisse hervorrufen. Wir verlangen,
daß die Religion Privatsache sei, soweit es den Staat
angeht; wir können jedoch die Religion keinesfalls als
Privatsache ansehen, soweit es sich um unsere eigne
Partei handelt. Der Staat soll mit der Religion nichts zu
tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen nicht
mit der Staatsgewalt verbunden sein. Jedermann muß
volle Freiheit haben, sich zu einer beliebigen Religion
zu bekennen oder überhaupt jede Religion abzulehnen,
d. h. Atheist zu sein, was gewöhnlich auch jeder Sozialist
ist ...« [a.a.O., S. 7 ff.]
»Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die
Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist eine Ver¬
einigung klassenbewußter, vorgeschrittener Kämpfer
für die Befreiung der Arbeiterklasse. Eine solche Ver¬
einigung kann und darf nicht gleichgültig sein gegen¬
über fehlender Bewußtheit, gegenüber Unwissenheit und
Obskurantismus in Form von religiösem Glauben. Wir
verlangen die völlige Trennung von Kirche und Staat,
um die religiöse Vernebelung mit rein geistigen und nur
geistigen Waffen, mit unserer Presse, mit unserem
Wort bekämpfen zu können. Wir haben aber unsere
Gemeinschaft, die SDAPR, unter anderem eben auch
für den Kampf gegen jede religiöse Verdummung der
Arbeiter gegründet. Der ideologische Kampf ist für uns
keine Privatsache, sondern Sache der ganzen Partei,
Sache des ganzen Proletariats.« [a.a.O., S. 9ff.]
91
Kirchen, alle und jegliche religiösen Organisationen
stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die dem
Schutz der Ausbeutung und der Umnebelung der
Arbeiterklasse dienen.
Zugleich verurteilte Engels jedoch wiederholt die Ver¬
suche von Leuten, die >linker< oder revolutionärer sein
wollten als die Sozialdemokratie, in das Programm der
Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheismus
im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion einzu¬
fügen ... Eine solche Kriegserklärung sei das beste Mittel,
das Interesse für die Religion zu beleben und das wirk¬
liche Absterben der Religion zu erschweren. Engels hält
den Blanquisten ihr Unvermögen vor, zu begreifen, daß
nur der Klassenkampf der Arbeitermassen, der die
breitesten Schichten des Proletariats allseitig in die be¬
wußte und revolutionäre gesellschaftliche Praxis hin¬
einzieht, imstande ist, die unterdrückten Massen tat¬
sächlich vom Joch der Religion zu befreien, während die
Proklamierung des Krieges gegen die Religion zur poli¬
tischen Aufgabe der Arbeiterpartei eine anarchistische
Phrase ist ...
Engels erhob gegen Dühring, der darauf erpicht war,
ultrarevolutionär zu sein, den Vorwurf, in anderer
Form ebendiese Dummheit Bismarcks [im Kulturkampf
gegen die katholische Kirche] wiederholen zu wollen,
und verlangte von der Arbeiterpartei, sie müsse ver¬
stehen, geduldig an der Organisierung der Aufklärung
des Proletariats zu arbeiten, einem Werk, das zum
Absterben der Religion führe, dürfe sich aber nicht in
das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die
Religion stürzen. Diese Auffassung ist der deutschen
Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen, die
sich z. B. für die Freiheit der Jesuiten, für deren Zu¬
lassung in Deutschland, für die Aufhebung aller polizei¬
lichen Kampfmaßnahmen gegen diese oder jene Religion
92
ausgesprochen hat. Erklärung der Religion zur Privat¬
sache < — in diesem berühmten Punkt des Erfurter
Programms (1891) ist die erwähnte politische Taktik
der Sozialdemokratie verankert ...« [Über das Ver¬
hältnis der Arbeiterpartei zur Religion, »Proletari«, Nr.
45, Mai 1909; zit. nach W. I. Lenin Über die Religion,
Moskau o. J. (1954), S. 21 ff.]
»Die Furcht hat die Götter erzeugt. Die Furcht vor
der blind waltenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr
Walten von den Volksmassen nicht vorausgesehen
werden kann, eine Macht, die bei jedem Schritt im
Leben des Proletariers und des kleinen Eigentümers
ihm den >plötzlichen<, >unerwarteten<, >zufälligen< Ruin,
den Untergang, die Verwandlung in einen Bettler, einen
Pauper, eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen
droht und bringt — das ist jene TVurzel der heutigen
Religion, die der Materialist vor allem und am meisten
beachten muß, wenn er nicht ein Abc-Schütze des
Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift
wird die Religion aus den Massen austreiben, die, nieder¬
gehalten durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von
den blind waltenden, zerstörenden Kräften des Kapita¬
lismus abhängen, solange diese Massen nicht selbst ge¬
lernt haben werden, vereint, organisiert, planmäßig,
bewußt zu kämpfen gegen diese Wurzel der Religion
und gegen die Herrschaft des Kapitals in allen ihren
Formen ... Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda
der Sozialdemokratie unter geordnet sein muß ihrer Haupt¬
aufgabe: der Entfaltung des Klassenkampfes der ausge-
beuteten Massen gegen die Ausbeuter.« [a. a. O., S. 25ff.]
»Die theoretische Propaganda des Atheismus ...
durch eine absolute, unübersteigbare Grenze von dem
Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassen¬
kampfes dieser Schichten trennen, heißt undialektisch
denken, heißt das zu einer absoluten Grenze machen,
95
was eine bewegliche, relative Grenze ist, heißt das
gewaltsam trennen, was in der lebendigen Wirklichkeit
untrennbar verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel.
Gesetzt, das Proletariat eines bestimmten Gebiets und
eines bestimmten Industriezweiges zerfällt in eine fort¬
geschrittene Schicht ziemlich bewußter Sozialdemo¬
kraten, die selbstverständlich Atheisten sind, und in
ziemlich rückständige, noch mit dem Dorf verbundene
Arbeiter, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder
sogar unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen
stehen, der ... einen christlichen Arbeiterverein gründet.
Gesetzt ferner, der wirtschaftliche Kampf habe in
diesem Orte zu einem Streik geführt. Der Marxist ist
verpflichtet, den Erfolg der Streikbewegung in den
Vordergrund zu stellen, einer Scheidung der Arbeiter
in diesem Kampf in Atheisten und Christen entschieden
entgegenzuwirken ... Die atheistische Propaganda kann
unter diesen Umständen sowohl überflüssig als auch
schädlich sein — vom Standpunkt eines wirklichen
Fortschritts des Klassenkampfes, der unter den Ver¬
hältnissen der modernen kapitalistischen Gesellschaft
die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozial¬
demokratie und zum Atheismus führt als die bloße
atheistische Propaganda.« [a. a.O., S. 26 ff.]
94
Schöpfung usf. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel
sich von einem blauen unterscheidet. Von Gottsucherei
zu sprechen, nicht um sich gegen jegliche Teufel und
Götter, gegen jede geistige Leichenschändung auszu¬
sprechen (jeder Herrgott ist Leichenschändung, mag es
auch der säuberlichste, idealste, nicht gesuchte, sondern
erschaffene Herrgott sein, das ist einerlei), sondern um
einem blauen Teufel den Vorrang vor einem gelben zu
geben, das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt
nicht zu sprechen.« [Brief an Maxim Gorki, November
1913, veröffentlicht 1924; zit. nach Lenin Über die
Religion, S. 47ff.]
»Gerade weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem
Herrgott, selbst jedes Kokettieren mit einem Herrgott
eine unsagbare Abscheulichkeit ist, die von der demokra¬
tischen Bourgeoisie mit besonderer Duldsamkeit (oft
sogar wohlwollend) aufgenommen wird — gerade des¬
halb ist sie die ge fäll r liebste Abscheulichkeit, die wider¬
lichste Seuche. Millionen von Sünden, Gemeinheiten,
Gewalttaten und Verseuchungen physischer Art werden
von der großen Menge viel leichter erkannt und sind
daher viel weniger gefährlich als die raffinierte, ver¬
geistigte, in die prächtigsten >ideologischen< Gewänder
gekleidete Idee von einem lieben Gott. Ein katholischer
Pfaffe, der Mädchen schändet ... ist gerade für die
>Demokratie< weit weniger gefährlich als ein Pfaffe
ohne Priesterrock, ein Pfaffe ohne grobschlächtige
Religion, als ein sich auf bestimmte Ideen stützender
und demokratischer Pfaffe, der die Schöpfung und Er¬
schaffung eines lieben Gottes predigt. Denn jenen
Pfaffen zu entlarven ist leicht — diesen aber kann man
nicht so einfach davon jagen, ihn zu entlarven ist tausend¬
mal schwerer, und kein >brüchiger und wehleidig
wankelmütiger! Spießer wird damit einverstanden sein,
ihn zu >verdamrnen<.« [a.a.O., S. 48 ff.]
95
»Es trifft nicht zu, daß Gott ein Komplex von Ideen
ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren.
Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen
Ursprung der Ideen vertuschen will. Gott ist (historisch
wie im Alltagsleben) vor allem ein Komplex von Ideen,
die von der dumpfen, sowohl durch die äußere Natur als
auch durch die Klassenunterdrückung bewirkte Nieder¬
gedrücktheit des Menschen erzeugt wurden — von
Ideen, die diese Niedergedrücktheit zu einer dauernden
Erscheinung machen, die den Klassenkampf ein¬
schläfern. Es gab in der Geschichte eine Zeit, als trotz
dieses Ursprungs und dieser tatsächlichen Bedeutung
der Gottidee der Kampf der Demokratie und des Prole¬
tariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee
gegen eine andere vor sich ging. Aber auch diese Zeit
ist längst vorbei. Jetzt ist sowohl in Europa als auch in
Rußland jedwede, selbst die verfeinertste, die wohl¬
gemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gott¬
idee eine Rechtfertigung der Reaktion.« [Brief an Gorki,
Dezember 1913, erstmalig veröffentlicht 1924; zit. nach
Lenin Über die Religion, S. 53 ff.]
»Die Gottidee hat die sozialen Gefühle immer einge¬
schläfert und abgestumpft, da sie an die Stelle des
Lebendigen Leichenhaftes setzte und stets die Idee der
Sklaverei (der schlimmsten, der ausweglosen Sklaverei)
war. Nie hat die Gottidee >die Persönlichkeit mit der
Gesellschaft verbunden^ sondern stets die unterdrückten
Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unter¬
drücker gefesselt.
Bürgerlich ist ihre Definition (und unwissenschaft¬
lich, unhistorisch), weil sie mit summarischen, allge¬
meinen, >robinsonhaften< Begriffen schlechthin und
nicht mit bestimmten Klassen einer bestimmten ge¬
schichtlichen Epoche operiert.
Die Gottidee bei einem Wilden ... und die Gottidee
96
bei Struwe und Co sind zweierlei. In beiden Fällen unter¬
stützt die Klassenherrschaft diese Idee (und wird von
dieser Idee unterstützt). Der >volkstümliche< Begriff
vom lieben Gott und vom Göttlichen ist volkstüm¬
lichem Stumpfsinn, Unterwürfigkeit, Unwissenheit, ist
genau dasselbe wie die >volkstümliche< Vorstellung vom
Zaren, vom Waldschrat, vom Prügeln der Ehefrauen.
Wie Sie die volkstümliche Vorstellung^ von Gott eine
>demokratische< nennen können, ist mir absolut unver¬
ständlich.« [a.a.O., S. 54ff.]
NIKOLAI BUCHARIN
97
Mensch zerfiel in Körper und Geist. Die >Seele< ist das¬
jenige, was den >ICörper< lenkt. Die Seele steht ebenso
höher als der Geist, wie der Organisator und Verwalter
höher als der einfache Vollstrecker steht ... Nach dem¬
selben Vorbild fing man an, auch die ganze übrige Welt
zu betrachten: man fing an zu glauben, daß hinter
jedem Ding der >Geist< dieses Dinges sitze. Die ganze
Natur erwies sich als beseelt« ... »War eine solche Auf¬
fassung einmal entstanden, so mußte sie auch zur
Religion führen, die mit der Anbetung der Ahnen
(Ahnenkult) begann ...« [Theorie des historischen
Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der
marxistischen Soziologie, Hamburg 1922, S. 192ff.]
98
>Molokaner< usw.) ... Es sei zum Schluß nur erwähnt,
daß die russischen Bezeichnungen der Gottheit auf den
Ursprung dieser netten Gottesideen deutlich hinweisen:
Herrgott — Gospodij ist dasselbe wie Gospodin — Herr;
Gott — Bog hat dieselbe Wurzel wie bogatij, der
Reiche. Herrscher, himmlischer Vater, Richter, Vater
usw. — das sind die Benennungen für den feudal¬
adligen Monarchen, der das Volk als seine Sklaven be¬
zeichnet. Nicht umsonst gefiel dem Absolutismus so
sehr die >rechtgläubige< Kirche.« [a.a.O., S. 199ff.]
99
Elias glauben. Dann hätten wir nie und niemals die
elektrischen Bahnen zu sehen gekriegt. Dank der Religion
wären wir in Barbarei steckengeblieben ...« [Programm
der Kommunisten (Bolschewiki), Bern 1918, S. 93]
ANTONIO GRAMSCI
101
dem machen, was er >ist<. Nur indem er die Natur den
menschlichen Bedürfnissen und Vorstellungen, Be¬
griffen und Plänen anverwandelt, kann er selbst auch
menschlich leben. Das gilt für Marx sowohl im materiel¬
len als auch im ideellen Sinn. Hegel aber habe die Arbeit
allzusehr mit der bloß begrifflichen Erfassung der
Realität identifiziert, so daß am Ende die >wahre< Arbeit
doch nur die des die Welt deutenden Philosophen
gewesen sei, ein Vorwurf, der zumindest in dieser apodik¬
tischen Form Hegel allerdings nicht trifft.
Dagegen hat Marx einen anderen Gedanken Hegels
unterschlagen, der für dessen Konzeption von der ver¬
menschlichenden Wirkung der Arbeit ausschlaggebend
war: die Beziehung von Herrschaft und Knechtschaft. Für
Hegel entsteht die vermenschlichende Arbeit erst da¬
durch, daß in einem Prestigekampf auf Leben und Tod
sich der eine der beiden Streiter unterwirft und nun
vom siegreichen Herrn zur Leistung von Arbeit ge¬
zwungen werden kann. Diese Arbeit ist es dann, die als
>aufgeschobene Begierde< dem Knecht sowohl zur Eman¬
zipation von seiner eigenen sinnlichen Natur (der gegen¬
über er sich durch Askese frei zu machen weiß) als auch
von der äußeren Natur (die er durch seine Arbeit voll¬
ständig umwandelt) verhilft. Die knechtische Situation
ist also für Hegel die ermöglichende Bedingung der
anthropogenen Wirkung der Arbeit.
Diesen Gedanken läßt Marx vollständig weg. So merk¬
würdig es klingen mag, in diesem Punkt ist der große
Sozialist weniger konkret als der spekulative Philosoph!
Auch hören wir bei Marx über die vermenschlichende
Arbeit in einer vor der Entfremdung liegenden Gesell¬
schaft nur sehr wenig. Der Nachdruck seiner anthro¬
pologischen Untersuchungen liegt auf der Analyse der
entfremdeten Arbeit in einer arbeitsteiligen Welt mit
Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Um die Natur vermenschlichen zu können, muß der
arbeitende Mensch selbst über ein Stück materieller
Natur verfügen. Er benötigt Rohstoffe und Arbeits-
102
instrumente (die letztlich auch bearbeitete Natur sind).
Die gesamte Natur kann er zu seinem mnorganischen
Leibe< machen, weil er sich in ihr vergegenständlichen
(oder, was dasselbe ist, sie vermenschlichen) kann. Dieser
ungeheuere Vorteil gegenüber der Tierwelt verwandelt
sich jedoch sofort in einen Nachteil, wenn ihm dieser
mnorganische Leib< entzogen wird. Das aber geschieht
infolge der >entfremdeten Arbeite Wenn die Arbeit nicht
mehr vollzogen wird aus dem Bedürfnis heraus, sich
(und den Mitmenschen) die äußere Natur anzueignen,
wenn das bewußte Motiv der Arbeit nicht mehr das
Bedürfnis der Vergegenständlichung der eigenen Mensch¬
lichkeit im Rohstoff ist, bekommt die Arbeit Zwangs¬
charakter. Das geschieht mit Notwendigkeit in der
arbeitsteiligen Gesellschaft und vollends in einer Gesell¬
schaft, in der die Mehrheit keine eigenen Produktions¬
mittel besitzt. Schon die Arbeitsteilung, die mich zwingt,
zeit meines Lebens ein und derselben spezialisierten
Tätigkeit nachzugehen, schränkt die Entfaltungsmög¬
lichkeiten der Menschlichkeit ein. Der Schuster, der sein
Leben lang Schuhe macht, würde vielleicht ganz gern
auch einmal einen Schrank bauen oder ein Kleid nähen,
aber er hat weder die Erlaubnis noch die Zeit zu solcher
Tätigkeit und muß — mit oder ohne Lust — bei seinem
Leisten bleiben.
105
phänomene: die politische Entfremdung, in der der Staat
als eine imaginäre Gemeinschaft der abstrakten Staats¬
bürger über der Gesellschaft der konkreten Menschen
steht, ebenso wie die religiösen Vorstellungen, durch die
entfremdete Menschen ihrer verstümmelten Existenz
eine jenseitige Ergänzung zu geben versuchen. Alle
Änderung muß daher hier bei der Realität der Gesell¬
schaft, bei ihrer Eigentumsverteilung und ihrer Fixierung
der einzelnen an eine ausschließliche Tätigkeit ansetzen.
104
Sowjetpsychologie das Bild vom Menschen vollends auf
das eines Spätprodukts der dialektischen Entwicklung der
Materie herabgesunken. Dogmatisch verarbeitete Er¬
gebnisse der Pawlowschen Rellexologie verbinden sich
hier mit der Leninschen Widerspiegelungstheorie zu
einer Lehre, die mit der Marxschen Anthropologie nichts
mehr zu tun hat.
HEGEL
105
dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat.
Diese negative Mitte oder das formierende Tun ist zu¬
gleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des
Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das
Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein
kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen
Seins als seiner selbst.« [Phänomenologie des Geistes, Hg.
Hoffmeister, 3. Aufl. 1927, S. 148ff.]
»Daß der Mensch sich zu dem machen muß, was er
ist, daß er im Schweiße seines Angesichts sein Brot ißt,
hervorbringen muß, was er ist, das gehört zum Wesent¬
lichen, zum Ausgezeichneten des Menschen und hängt
notwendig zusammen mit der Erkenntnis des Guten und
Bösen.« [Religionsphilosophie, »Werke«, Bd.XVII, S. 267]
106
indem ich in mich reflektiert bin, unmittelbar in den
Anderen reflektiert, und umgekehrt beziehe ich mich,
indem ich mich auf den Anderen beziehe, unmittelbar
auf mich selber. Wir haben daher hier die gewaltige
Diremtion des Geistes in verschiedene Selbste, die an-
und-für-sich und für einander vollkommen frei, selb¬
ständig, absolut spröde, widerstandleistend — und doch
zugleich mit einander identisch, somit nicht selbständig,
nicht undurchdringlich, sondern gleichsam zusammen¬
geflossen sind.« [Enzyklopädie, Zusatz zu § 456, »Werke«
Bd.X, S. 290]
LUDWIG FEUERBACH
107
sehen Sinne sind wohl schärfer als die menschlichen,
aber nur in Beziehung auf bestimmte, mit den Bedürf¬
nissen des Tieres in notwendigem Zusammenhang
stehende Dinge, und sie sind schärfer eben wegen dieser
Determination, dieser ausschließlichen Beschränkung
auf Bestimmtes. Der Mensch hat nicht den Geruch des
Jagdhundes, eines Raben; aber nur weil sein Geruch
alle Arten von Gerüchen umfassender, darum freier,
gegen besondere Gerüche indifferenter Sinn ist. Wo
sich aber ein Sinn erhebt über die Schranke der Parti-
kularität und seine Gebundenheit an das Bedürfnis, da
erhebt er sich zu selbständiger, zu theoretischer Bedeu¬
tung und Würde: — universeller Sinn ist Verstand,
universelle Sinnlichkeit (ist) Geistigkeit. Selbst die
untersten Sinne, Geruch und Geschmack, erheben sich
im Menschen zu geistigen, zu wissenschaftlichen
Akten. Geruch und Geschmack der Dinge sind Gegen¬
stände der Naturwissenschaft. Ja, selbst der Magen des
Menschen, so verächtlich wir auf ihn herabbiieken, ist
kein tierisches, sondern menschliches, weil universales,
nicht auf bestimmte Arten von Nahrungsmitteln einge¬
schränktes Wesen. Eben darum ist der Mensch frei von
der Wut der Freßbegierde, mit welcher das Tier über
seine Beute herfällt. Laß einem Menschen seinen Kopf,
gib ihm aber den Magen eines Löwen oder Pferdes — er
hört sicherlich auf, ein Mensch zu sein. Ein beschränkter
Magen verträgt sich auch nur mit einem beschränkten,
d. i. tierischen Sinn. Das sittliche und vernünftige Ver¬
hältnis des Menschen zum Magen besteht daher auch
nur darin, denselben nicht als ein viehisches, sondern
menschliches Wesen zu behandeln. Wer mit dem
Magen die Menschheit abschließt, den Magen in die
Klasse der Tiere versetzt, der autorisiert den Menschen
im Essen zur Bestialität.« [ Grundsätze der Philosophie der
Zukunft, § 55, »Werke«, Hg. Jodl, Bd. II, 1845, S. 515 f.]
108
Die Vollendung des Menschen in der Gemeinschaft von
Ich und D u:
109
MOSES HESS
110
aus nur ebenso kritisch dem praktischen Gotte, dem
Gelde, wie dem theoretischen gegenüber zu verhalten,
— oder man braucht nur das Wesen der vollendetsten
Politik, das Wesen des Rechtsstaates, ebenso richtig auf¬
zufassen, wie er das Wesen der vollendeten Religion,
des Christentums aufgefaßt hat — um die Krämerwelt
aus ihren Fugen zu heben und mit Proudhon, aber
durch einfachere Schlußfolgerungen als dieser, zu dem
Satze zu gelangen, daß das bestehende Eigentum das
Gegenteil von dem ist, was es zu sein scheint und was es
in Wahrheit sein sollte. Denn es sollte ein mit dem
Menschen innig verwachsenes soziales Besitztum und als
solches, d. h. als das ihm zu seiner sozialen Tätigkeit
dienende Material, ebenso unveräußerlich sein, wie
alles, was der Mensch sonst als Material oder Mittel zu
semer Lebenstätigkeit sein Eigentum nennt, z. B. seinen
Körper, sein Erlerntes usw. Aber das bestehende Eigen¬
tum, das Geldeigentum, ist das entäußerte und daher
auch das veräußerliche, verkäufliche, soziale Besitztum,
und im vollkommenen Staate ist das menschliche TVesen
ebenso praktisch entäußert, wie in der vollkommenen
Religion theoretisch, nämlich absolut, so daß alles Ver¬
mögen des schöpferischen Menschen einem jenseitigen
Wesen vindiziert ist, das nun alle Attribute des >Schöp-
fers< annimmt. Das Geld ist im praktischen Leben des
Menschen ebenso allmächtig und allgegenwärtig, eben¬
so die Quelle alles Heils und Segens, wie Gott es in
ihrem theoretischen Leben ist. Warum ist Feuerbach zu
diesen wichtigen praktischen Konsequenzen seines Prin¬
zips nicht gelangt? — Das Wesen Gottes, sagt Feuer¬
bach, ist das transzendente Wesen des Menschen, und
die wahre Lehre vom göttlichen Wesen ist die Lehre
vom menschlichen Wesen: Theologie ist Anthropo¬
logie — das ist wahr —, aber das ist nicht die ganze
Wahrheit. Das Wesen des Menschen, muß hinzugefügt
111
werden, ist das gesellschaftliche TVesen, das Zusammen¬
wirken der verschiedenen Individuen für einen und
denselben Zweck, für ganz identische Interessen, und
die wahre Lehre vom Menschen, der wahre Humanis¬
mus, ist die Lehre von der menschlichen Vergesell¬
schaftung, d. h. Anthropologie ist Sozialismus.« [ Uber
die sozialistische Bewegung in Deutschland, »Neue Anek-
dota«, Darmstadt 1845, S. 202ff.]
MARX
112
d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich da¬
durch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte — was
wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen
möglich ist, nur als Resultat der Geschichte — heraus¬
schafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was
zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung
möglich ist ...« [MEGA I, 5, S. 156]
113
Tätigkeit als eine Tätigkeit eines gegenständlichen
natürlichen Wesens.
Wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus
oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus
(Hegels) als dem Materialismus (Feuerbachs und der
Materialisten des 18. .Th.) unterscheidet und zugleich
ihre beide vereinigende Wahrheit ist. Wir sehen zu¬
gleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der
Weltgeschichte zu begreifen.« [MEGA I, 3, S. 160]
»Die Arbeit ist ein Prozeß zwischen Mensch und
Natur, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der
Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und
kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine
Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit ange¬
hörenden Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und
Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in
einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzu¬
eignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur
außer ihm einwirkt und sie verändert, verändert er zu¬
gleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr
schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel
ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es
hier nicht mit der ersten tierartig instinktmäßigen
Form der Arbeit zu tun ... Wir unterstellen die Arbeit
in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich
angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen
des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch
den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen
Baumeister. Was aber den schlechtesten Baumeister vor
der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in
seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am
Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus,
das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des
Arbeiters, also ideell vorhanden war. Nicht daß er nur
eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er ver-
114
wirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er
weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz
bestimmt.« [Das Kapital, Berlin 1947, Bd. I, S. 185ff.]
115
je geformter sein Produkt, um so mißförmiger der
Arbeiter, daß, je zivilisierter sein Gegenstand, um so
barbarischer der Arbeiter, daß, um so mächtiger die
Arbeit, um so ohnmächtiger der Arbeiter wird, daß, je
geistreicher die Arbeit, um so mehr geistloser und Natur -
knecht der Arbeiter wurde.« [a.a.O., S. 84]
»Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen,
aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie
produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie
produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den
Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber
sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen
Arbeit zurück und macht den andern Teil zur Maschine.
Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn,
Kretinismus für den Arbeiter.« [a.a.O., S. 85]
117
Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätig-
keit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gat¬
tungscharakter, und die freie bewußte Tätigkeit ist der
Gattungscharakter des Menschen. Das Leben selbst
erscheint (hier also) nur als Lebensmittel.« [a.a.O.,
S. 87]
»Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen
den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie
ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegen¬
ständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem
Tier in den Nachteil, daß sein unorganischer Leib, die
Natur, ihm entzogen wird.« [a.a.O., S. 89]
119
Völkern ihren ersten Anfang danach nimmt, ob das
wahre anerkannte Leben des Volks mehr im Bewußt¬
sein oder in der äußern Welt vor sich geht, mehr das
ideelle oder reelle Leben ist ...« [a.a.O., S. 115]
Der unentfremdete Mensch ist das bewußte gesell¬
schaftliche Wesen. Einzelmensch und Gemeinschaft sind
jetzt ganz eins geworden:
»... wie die Gesellschaft selbst den Menschen als
Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.
Die Tätigkeit und der Genuß, wie ihrem Inhalt, sind
auch der Existenzweise nach gesellschaftlich, gesell¬
schaftliche Tätigkeit und gesellschaftlicher Genuß. Das
menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesell¬
schaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da
als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den
andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement
der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als
Grundlage seines eignen menschlichen Daseins. Erst
hier ist ihm sein natürliches Dasein sein menschliches
Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden.
Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit
des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion
der Natur, der durchgeführte Naturalismus des
Menschen und der durchgeführte Humanismus der
Natur.« [a.a.O., S. 116]
121
ENGELS
125
gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Denken zu
^erklären statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei aller¬
dings im Kopf iich widerspiegeln, zum Bewußtsein
kommen) — und so entstand mit der Zeit jene ideali¬
stische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang
der antiken Welt die Köpfe beherrscht.« [a.a.O., S. 188]
124
KARL KAUTSKY
125
mißverstand, fühlte ich mich hier gedrängt, das All¬
gemeinmenschliche, das allem historischen Geschehen
zugrunde liegt, ausführlicher zu behandeln, allerdings
in einer Weise, die denjenigen wenig behagen wird, die
am meisten das Wort von dem Allgemeinmenschlichen
im Munde führen ... Das Allgemeinmenschliche, das
für uns im Grunde weiter nichts ist als das Tierische im
Menschen — alles nicht Tierische in ihm ist historisch
Besonderes ...« [Die materialistische Geschichtsauf¬
fassung, Berlin 1927, Bd. I, S. 591 f.]
»Das in Wirklichkeit Allgemeinmenschliche haben
wir nicht als ein einseitiges Begehren erkannt. Nichts
ist irriger als die Behauptung, die materialistische
Geschichtsauffassung beruhe auf der Annahme, der
Mensch werde nur von egoistischen Motiven geleitet.
Der Leser hat gesehen, wie sehr wir uns dessen bewußt
sind, daß zur Menschennatur nicht nur der Trieb der
Selbsterhaltung gehört, sondern auch geschlechtliche
Liebe, Ethik, die Freude am Schönen, sowie das Ver¬
langen nach Erkenntnis.
Und da der ganze Mensch in den geschichtlichen
Prozeß eingeht mit allen seinen Fähigkeiten, Trieben,
Bedürfnissen, so greifen sie auch alle in die geschicht¬
liche Entwicklung ein, wenn auch nicht alle in gleichem
Maße. Welche gewaltige Rolle hat die Brutpflege in der
Geschichte gespielt! Das Erbrecht ist eines ihrer Ergeb¬
nisse in einer höher entwickelten Gesellschaft. Wie sehr
hat es die Politik der Dynastien bestimmt! Aber nicht
bloß bei diesen, bei allen Klassen, auch den demokra¬
tischsten, bedeuten weitgesteckte politische und soziale
Ziele, >Ideale<, doch im Grunde nichts anderes als
besondere Formen der Brutpflege ...« [a.a.O., S. 392 f.]
Ähnliches sucht Kautsky sodann auch für die anderen,
dem Menschen angeborenen Triebe nachzuweisen. Für
den historischen Einfluß der Liebe nennt er den Trojani-
126
sehen Krieg, für die >Freude am Schönem Ludwigs XIV.
»maßlose Bauwutc, die Entstehung des gemünzten Geldes
und anderes mehr.
127
können stets nur nächstliegende Ziele und Bedürfnisse
hervorbringen, die sich immer wieder von neuem
wiederholen, die aus dem Alltag hervorgehen.
Das Erkenntnisvermögen des Menschen erreicht da¬
gegen eine Höhe, die ihm einen weiteren Horizont ver¬
schafft, und ihm ermöglicht, über das Nächstliegende
hinwegzusehen. Damit wird es aus einem Diener der
Triebe bis zu einem gewissen, stets wachsenden Maße
ihr Herr. Er hat nun nicht mehr bloß die Mittel zu er¬
forschen, die zur Befriedigung der Instinkte und Triebe
in besonderen Fällen die zweckmäßigsten sind, es ver¬
mag den Menschen Ziele zu setzen, die höher sind, weiter
liegen als die vom bloßen Triebleben gegebenen.
Aber sosehr sich die Ideale den Wolken zu nähern
scheinen, ihre Basis bleibt doch auf der Erde. Sie werden
kraftlos, wenn sie nicht in einem starken Triebleben
wurzeln ...«[a.a.O., S. 599]
MAX ADLER
»Es kommt viel darauf an, daß man diesen Begriff des
vergesellschafteten Menschen in seiner grundsätzlich
neuen Bedeutung festhalte, durch welche erst seit Marx
der Begriff der Gesellschaft und des sozialen Lebens so¬
wohl aus der Unbestimmtheit eines bloß geselligen
Wesens der Menschen wie aus den Spekulationen über
ihren Ursprung endgültig heraus gebracht wurde. Die
Vergesellschaftung führt den Charakter der mensch¬
lichen Gesellschaft ebensosehr aus der Vergeisterung
einer bloßen Idee wie aus der Vergröberung eines
animalischen Triebes, ebensosehr aus der Naivität einer
Vertragschließung wie aus der Brutalität einer Zwangs-
128
Vereinigung zurück auf eine große Tatsächlichkeit: auf
die Gesellschaftlichkeit der menschlichen Kräfte in dem
besonderen Sinne, daß sie nicht bloß erst durch ihr
Nebeneinander und Ineinander in der geschichtlichen
Entfaltung gesellschaftlich werden, sondern von vorn¬
herein schon in der individuellen Betätigung jedes ein¬
zelnen nur Funktionsweisen des Gattungsmäßigen sind.
Deshalb ist der eigentliche gesellschaftliche Standpunkt
auch erst dann erreicht und das menschliche Wesen
erst dann richtig erfaßt, wenn, wie Marx dies einmal
ausdrückt, der wirkliche individuelle Mensch >als indivi¬
dueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner
individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhält¬
nissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der
Mensch seine >forces propres < als gesellschaftliche Kräfte
erkannt und organisiert hat<. Diese Erkenntnis erlaubt
es nun, durch die Erforschung der besonderen Art und
Ursächlichkeit der gesellschaftlichen Kräfte in die
kausale Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens einzu¬
dringen. Und so ist es der Begriff der Vergesellschaftung
bei Marx, dessen exakter Inhalt es nun erst ermöglicht,
den durch das neuzeitliche Denken heraus gebildeten
Gegensatz von Natur und Gesellschaft in einer und der¬
selben wissenschaftlichen Grundauffassung zu ver¬
einen. Natur und Gesellschaft umfassen jetzt die kausale
Gesetzmäßigkeit des Geschehens im ganzen, erstere
bloß das körperliche Geschehen um und an dem
Menschen, letztere das bloß geistige Geschehen in und
durch den Menschen, wobei alles Körperliche, mag es
auch zur Gattung Mensch gehören, als das bloß Naturale,
und alles Geistige, mag es auch nur das Individuelle
betreffen, als das stets Soziale erkannt wird. So wird
erst mit Marx ein sozialwissenschaftlicher Standpunkt
möglich, der logisch gleichberechtigt neben den natur¬
wissenschaftlichen tritt und den Bereich der Wissen-
129
schaft derart auf das Doppelte ihres bisherigen Gebietes
erweitert ...« [Marx als Denker (1908), 5. vermehrte
Aufl. 1925, S. 47 f.]
»Was ist ... der Unterschied zwischen Vergesell¬
schaftung und Geselligkeit? Die Lehre, die davon aus¬
geht, daß der Mensch von Natur aus ein geselliges
Wesen ist, macht offenbar eine psychologische Charak¬
teristik des Menschen, die auf viele Menschen zutreffen
mag, zu einem absoluten Wesenscharakter der mensch¬
lichen Natur selbst. Sie nimmt damit eine spekulative
Voraussetzung zur Grundlage ihrer Anschauungen vom
gesellschaftlichen Leben und verfolgt dabei eine im we¬
sentlichen optimistische Meinung. Eine solche Anschau¬
ung schmeichelt sich leicht ein, denn man hört es gern,
daß die Menschen im Grunde eigentlich gut sind, zu¬
einander streben und die Geselligkeit der Vereinzelung
oder gar Entzweiung vorziehen, so daß letztere Zu¬
stände gleichsam als bloße Entartungen der Natur des
Menschen erscheinen.« [Lehrbuch der materialistischen
Geschichtsauffassung, Berlin 1930, Bd. I, S. 220 f.]
Adler verweist dann auf die gegensätzlichen Auffas¬
sungen von der geselligen und ungeselligen Natur des
Menschen bei Grotius auf der einen und Kant wie Hobbes
auf der anderen Seite und fährt fort:
»Aber wenn wir uns selber fragen, welcher Meinung
der beiden Philosophen wir uns eher anschließen
möchten, der Lehre von dem Lämmerdasein oder von
dem Wolfswesen der Menschen, so wird dem heutigen
Menschen innerhalb der Ausbeutungsverhältnisse der
kapitalistischen Gesellschaft und besonders nach den
Greueln des Weltkrieges recht sch werfallen, noch dem
Optimismus derer zu huldigen, welche unbedingt daran
festhalten: >der Mensch ist gut<. Andererseits werden
diejenigen, die diese Überzeugung haben, sich ... ihren
Glauben an die gute Natur des Menschen nicht rauben
130
lassen und fest darauf vertrauen, daß sie sich schließlich
doch noch durchsetzen wird. Wer von beiden hat nun
recht? Wir sehen sofort, daß wir hier auf das Gebiet der
Weltanschauung gekommen sind, der subjektiven Ein¬
stellung zum Menschen und seinem Wesen.
Je nachdem der eine es optimistisch oder der andere
es pessimistisch auffaßt ... wird er die eine oder die
andere Anschauung von der Natur des Menschen wahr¬
scheinlicher oder nicht finden. Auf dieser Grundlage
kann ... keine wissenschaftliche Erkenntnis aufgebaut
werden ...« [a.a.O., S. 221 f.]
»Dagegen macht nun gerade dies den Charakter des
Begriffs der Vergesellschaftung aus, daß er ein streng
objektiver Begriff ist, der gar nichts mit subjektiven
Auffassungen vom Wesen des Menschen ... zu tun hat.
Für den Begriff der Vergesellschaftung ist es nämlich
ganz gleichgültig, ob der Mensch von Natur aus gesellig
oder ungesellig, ob er mehr gutartig oder mehr bös¬
artig ist, da er jedenfalls dies alles nur in der Vergesell¬
schaftung sein kann. Nicht nur das gesellige Wesen,
sondern auch das ungesellige ist eine Form der Vergesell-
schaftung. Und ebenso ist nicht nur die freundliche und
liebevolle Beziehung der Menschen zueinander, sondern
ebenso auch ihr feindseliges Verhalten nur in der Ge¬
sellschaft möglich. Man kann nur in der Gesellschaft
ungesellig sein, und man kann auch nur gegen einen
anderen gut oder böse sein ...« [a.a. O., S. 222]
»Auch die Einsamkeit und die Menschenscheu ist nur
in der Vergesellschaftung möglich; man kann sich nicht
von der Gesellschaft trennen, man kann sich nur in ihr
vereinzeln. Aber auch der Einsiedler und der Menschen¬
feind bleiben, solange sie noch nicht pathologisch ent¬
artet sind, an die Gesellschaft gebunden, bloß daß sie
von ihr nichts wissen wollen. Eine wirkliche Isolierung
des Menschen beginnt erst dort, wo seine geistige Ver-
131
bundenheit mit anderen Menschen unterbrochen ist,
d. h. im Wahnsinn ...
Der Begriff der Vergesellschaftung drückt also diese
völlig objektive Grundtatsächlichkeit aus, die nichts
weiter enthält als die unaufhebbare Verbundenheit der
Menschen miteinander in ihrem Dasein. Mensch sein
heißt zugleich einer unter vielen Menschen sein. Und
ein anderes menschliches Dasein hat es nie gegeben und
könnte es nur in der phantastischen Vorstellung eines
letzten Menschen geben, der aber selbst noch das Ver¬
mächtnis aller anderen in seinem eigenen Schicksal zu
Grabe trüge. Diese objektive Verbundenheit der
Menschen ist an sich völlig wertfrei, und alle Wertungen
einer freundschaftlichen oder feindschaftlichen Ver¬
bundenheit sowie eines daraus hervorgehenden gut¬
artigen oder bösartigen Charakters der Menschen ent¬
falten sich erst innerhalb dieser Vergesellschaftung. Sie
sind Produkte und Formen derselben, die in ihrem
historischen Prozeß entstehen.
So ergibt sich nun, daß die geistige Natur des Men¬
schen gleichbedeutend ist mit seiner sozialen oder ver¬
gesellschafteten Natur und infolgedessen die geistige
Kausalität mit sozialer Kausalität. Und weiter folgt
daraus, daß, wenn in soziologischer Hinsicht vom
Menschen die Rede ist oder von menschlichem Wollen
und Handeln, damit immer der vergesellschaftete
Mensch gemeint ist, selbst wenn von seinen ganz in¬
dividuellen Mehlungen und Plänen ... ausgegangen
wird. Und ebenso bedeuten die Ausdrücke von einem
Naturgesetz der geschichtlichen Entwicklung oder von
einer Naturnotwendigkeit der ökonomischen Prozesse,
daß es sich dabei überall nicht um Naturgesetze und um
Naturnotwendigkeiten im Sinne der physischen Natur
handelt, sondern um Naturnotwendigkeiten der sozialen
Natur, also eben nicht um Naturprozesse, sondern um
152
/ ergesellschaftungsprozesse. Und alle diese Ausdrücke
besagen dasselbe: daß der Kausalprozeß auf dem Boden
der Vergesellschaftung eben ein geistiger Prozeß ist,
und daß somit überall in den Mittelpunkt der gesell¬
schaftlichen Notwendigkeiten der Mensch tritt, der
denkende, wollende und wertende Mensch, aber aller¬
dings nicht der aus freien Stücken in allen diesen Rich¬
tungen hin gleichsam schöpferisch waltende Mensch,
sondern in allen diesen Richtungen bestimmt durch die
äußeren Verhältnisse, unter denen er lebt und in allen
diesen Richtungen nicht der auf sich selbst gestellte
Einzelmensch, sondern der vergesellschaftete Mensch.«
[a.a.O., S. 225 ff.]
ROSENTAL-JUDIN
Sowjetmarxistische Psychologie:
155
Werk >Die Reflexe des Gehirns < hat Setschenow zum
ersten Male den Gedanken ausgesprochen, daß jede
psychische Aktivität ihrem Wesen nach Reflexcharakter
hat und die komplexen psychischen Akte wie Denken,
Wollen, Fühlen Gehirnreflexe sind. I. Pawlow, dem
Schüler Setschenows, verdanken wir die experimentelle
Ausarbeitung und Rechtfertigung der Theorie der
höheren Nerventätigkeit, die die Grundlage der materi¬
alistischen Psychologie bildet.
Marx und Engels haben in der Mitte des 19. Jahrhun¬
derts als erste die philosophischen Grundlagen einer
materialistischen Psychologie gelegt. Die wissenschaft¬
liche Psychologie, welche sich von den Prinzipien des
dialektischen und historischen Materialismus inspirieren
läßt und auf die Theorie von Pawlow stützt, betrachtet
die psychische Aktivität als die Eigenschaft einer hoch¬
gradig organisierten Materie, nämlich des Gehirns, eine
Eigenschaft, die im Laufe der Wechselwirkung zwi¬
schen lebenden Organismen und ihrer Umwelt aufge¬
taucht ist. Die Eigentümlichkeit des menschlichen
Geisteslebens ist der entscheidende Einfluß, den die
Geschichte der Gesellschaft und vor allem seine prak¬
tische Tätigkeit auf dessen Entwicklung ausübt.
Indem die objektive Welt durch die Sinnesorgane auf
das Gehirn des Menschen einwirkt, veranlaßt sie ihn zu
einer Aktivität, unter deren Einfluß sich die Wirklich¬
keit im Bewußtsein unter verschiedenen psychischen
Aspekten reflektiert. Die Reize, die aufs Gehirn ein¬
wirken, sind Signale der Wirklichkeit, die einen be¬
stimmten biologischen Sinn besitzen, zu der beim
Menschen noch eine soziale Bedeutung hinzukommt.
Im Verlauf der (Entwicklung) gesellschaftlichen Arbeit
ist auf einer bestimmten Stufe die menschliche Sprache
entstanden und hat sich in der Folge weiter entwickelt.
Die menschliche Sprache stellt — nach Pawlow — das
134
zweite Signalsystem dar und ist ein dem Menschen
eigentümliches Mittel, die Wirklichkeit zu signalisieren.
Das Wort ist ein mehrdeutiges Reizmittel, das alle
konkreten und realen Signale ersetzt. Das zweite
Signalsystem führte ein neues Prinzip in die höhere
Nerventätigkeit des Menschen ein; es war die not¬
wendige materielle Bedingung für die Entwicklung des
Denkens und des menschlichen Bewußtseins.
Unlösbar mit dem ersten Signalsystem verbunden,
vermittelt das zweite dem Menschen einen ungeheueren
Vorteil gegenüber den Tieren: die Fähigkeit, Phäno¬
mene zu verallgemeinern und vom Besonderen zu ab¬
strahieren.
Entstanden aus dem gesellschaftlichen Leben und
auftauchend im Zusammenhang mit der Arbeit, ist das
menschliche Bewußtsein, der Reflex seines sozialen
Sems, eine wirksame Macht, die sich unter vielfältigen
Aspekten der menschlichen Tätigkeit manifestiert. In¬
folge der großen revolutionären Veränderungen, die in
der Sowjetunion infolge des Aufbaus der sozialistischen
Gesellschaft entstanden sind, haben zahlreiche Ver¬
änderungen im Geistesleben der Sowjetbürger statt¬
gefunden. Die neuen sozialen Beziehungen, die von der
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreit
sind, waren die Ursache radikaler Veränderungen in der
Einstellung der Menschen gegenüber der Arbeit und
dem kollektiven Eigentum. Die wissenschaftliche
Psychologie studiert die Veränderung, die im Bewußt¬
sein der Menschen stattfindet und die Entstehung
der neuen Geisteshaltung besonders in der aufsteigen¬
den Generation. Sie sucht die Mittel und Methoden, die
zur harmonischen Entfaltung aller Begabungen und
Fälligkeiten jeder Person beitragen.« [Kleines Philoso¬
phisches Wörterbuch, Moskau 1955 (russ.)]
GESCHICHTSPHILOSOPHIE
136
Gedanke, dessen Kern uns heute beinahe banal erscheint,
wurde in der Folge — wie alle ursprünglichen Marxschen
Ansätze — erheblich vergröbert und entstellt. Es konnte
sich tür Marx nicht darum handeln, ein Schema der
Interpretation der Geschichte aufzustellen, sondern nur
>einen Leitfaden< anzubieten, mit dessen Hilfe man
verwickelte Zusammenhänge aufklären und begreifen
kann: Warum sah das Resultat der bürgerlichen Fran¬
zösischen Revolution so ganz anders aus als die hoch¬
fliegenden Ziele der Revolutionäre? Weil die Menschen
für solche hohen Ideale zu klein waren, weil jedem
großen sittlichen Aufschwung immer wieder der
Katzenjammer folgt — so oder ähnlich hatte man bisher
geantwortet. Marx erklärt: weil der objektive geschicht¬
liche Sinn dieser Revolution allein in der Durchsetzung-
geeigneter rechtlicher und politischer Bedingungen für
die Entfaltung der kapitalistischen Gesellschaft lag und
nicht in der Errichtung eines idealen republikanischen
Tugendstaates. Die befeuernden Ideale der Frühphase
der revolutionären Bewegung waren unvermeidliche
Selbsttäuschungen, die jenem Augenblick der allgemeinen
Befreiung aller Stände vom Joch des Anden Regime ent¬
sprachen; der nüchterne Alltag des Thermidor und des
Napoleonischen Kaiserreiches war das objektive histori¬
sche Fazit. Mehr von dieser Revolution zu erwarten, war
>Ideologie<. Nach der Entlarvung dieses ideologischen
Charakters der demokratischen Ideale des siegreichen
Bürgertums noch an diesen Idealen festzuhalten, das
bedeutete auf der Seite des herrschenden Bürgertums
verlogene Apologetik, auf der des Kleinbürgertums und
des Proletariats lähmende Illusion. Die Ideen begleiten
nicht einfach nur als abhängige Variable den Gang der
sozialen und politischen Entwicklung, sie helfen oftmals,
ihn vorwärts zu treiben, wie man an diesem Beispiel
deutlich sehen kann; aber sie sind ohnmächtig, der
Entwicklung eine andere Richtung zu geben als die,
welche in den Tendenzen der Gesellschaft selbst objektiv
angelegt ist.
157
Meine Textauswahl beginnt mit drei charakteristischen
Stellen aus den Arbeiten der französischen Historiker, auf
die Marx selbst ausdrücklich hingewiesen hat. Zu ihnen
hätte man noch Auszüge aus den Schriften englischer
Nationalökonomen hinzufügen können, in denen gleich¬
falls die >Klassen< als einheitliche Handlungssubjekte an¬
genommen werden. Das IMuster, nach dem die IVlarxsche
Geschichtstheorie angelegt ist, liefert aber wiederum
Hegel. Sein Glaube an die >Vernunft in der Geschichte<,
seine Lehre von der >List der Vernunft<, die sich der
einzelnen Volksgeister und welthistorischen Individuen
zur Erreichung ihrer (objektiv vernünftigen) Ziele be¬
dient, ist von Marx in modifizierter Gestalt übernommen
worden. Nur daß an die Stelle des wesentlichen Ab¬
schlusses der Geschichte, den man zumindest aus man¬
chen Stellen bei Hegel deutlich herauslesen kann, bei
Marx die Erschließung eines noch ausstehenden künftigen
Endes tritt, daß die kontemplative Haltung einer aktivi-
stischen weicht und die spiritualistischen Begriffe (Welt¬
geist, Volksgeist usw.) durch soziologische (Gesellschaft,
Klassen usw.) ersetzt werden.
158
bination mit idealistischen Elementen bei Jean Jaures.
Bloße Forschungshypothese bei Hyndman, Beifort Bax
und Eduard Bernstein, eine mehr oder weniger ab¬
solut gesetzte Theorie bei den meisten übrigen. Von
einer systematischen Unterteilung des Abschnitts in
>Orthodoxe<, >Revisionisten<, dogmatische und kritische
Marxisten wurde abgesehen, um nicht die individuelle
Ausprägung jedes einzelnen Denkers zu verwischen.
Labriola, Plechanow, Lenin, Martynow gelten im
sowjetmarxistischen Sinne (fast durchweg) als >orthodox<.
Max Adler und Otto Bauer sind als >Austromarxisten<
mit kantianisierenden Neigungen bekannt, Jean Jaures
durch seine Begeisterung für die klassische deutsche
Philosophie und ihren sittlichen Idealismus. Georg Lukäcs
und Karl Korsch gelten als >hegelianisierende Abweichler<,
und Antonio Gramsei ist zwar der ruhmreiche Begründer
der KPL, gilt aber doch der Orthodoxie des Sowjet¬
marxismus gleichfalls als >verdächtig< hegelnah.
FRANCOIS GUIZOT
139
welches der Zustand eines Volkes sei, muß man vor
allem den Zustand des Volkes untersuchen, um zu
wissen, welcher Art die Regierung sein müsse, welcher
Art sie sein könne ... Die Gesellschaft, ihre Zusammen¬
setzung, die Lebensweise der einzelnen Menschen ent¬
sprechend ihrer sozialen Lage, die Beziehungen der ver¬
schiedenen Klassen von Individuen, kurz, die Lebens¬
weise der Menschen — das ist ganz gewiß die erste
Frage, die die Aufmerksamkeit des Historikers bean¬
sprucht, der das Leben der Völker erforschen will, und
des Publizisten, der wissen will, wie sie regiert wurden.«
[Essais sur Vhistoire de France (1821), Paris 1860,
S. 73 ff.]
»Um die politischen Einrichtungen zu begreifen, muß
man die verschiedenen in der Gesellschaft bestehenden
Schichten und ihre gegenseitigen Beziehungen unter¬
suchen. Um diese verschiedenen Schichten zu begreifen,
muß man die Natur der Bodenverhältnisse kennen.«
[a.a.O., S. 75ff]
AUGUSTIN THIERRY
141
terianer, d. h. sie duldeten auf religiösem Gebiet in
bezug auf sich keine Unterdrückung. Die im entgegen¬
gesetzten Lager kämpften, waren Anhänger der
Bischöfe und des Papstes, denn sogar in den Formen der
Religion suchten sie vor allem die Macht, die sie nutzen,
und Steuern, die sie aus den Menschen herauspressen
könnten.« [a.a.O., S. 92]
FRANCOIS-AUGUSTE-MARIE MIGNET
HEGEL
145
der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen
versöhnt werden sollte.« [a.a.O., S. 42]
Die Weltgeschichte geht >auf dem geistigen Boden <
vor (S. 45), es ist also zunächst die >Natur des Geistes< zu
entwickeln. »Die Natur des Geistes läßt sich durch den
vollkommenen Gegensatz desselben erkennen. Wie die
Substanz der Materie die Schwere ist, so müssen wir
sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die
Freiheit« [S. 44]. »Die Materie hat ihre Substanz außer
ihr; der Geist ist das Bei-sich-selbst-sein. Dies eben ist die
Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich
mich auf ein Anderes, das ich nicht bin; ich kann nicht
sein ohne ein Äußeres; frei bin ich, wenn ich bei mir
selbst bin.« [a.a.O., S. 44]
144
»Dies sind die großen Menschen in der Geschichte,
deren eigne partikulare Zwecke das Substantielle ent¬
halten, welches Wille des Weltgeistes ist. Sie sind inso¬
fern Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren
Beruf nicht bloß aus dem ruhigen angeordneten, durch
das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge
geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt
verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein
gediehen ist, aus dem innern Geiste, der noch unter¬
irdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale
pocht und sie sprengt, weil er ein anderer Kern als der
Kern dieser Schale ist...« [a. a. O., S. 60]
»Aber im Gange der Weltgeschichte selbst, als noch
im Fortschreiten begriffenen Gange, ist der reine letzte
Zweck der Geschichte noch nicht der Inhalt des Bedürf¬
nisses und Interesses, und indem dieses bewußtlos dar¬
über ist, ist das Allgemeine dennoch in den besonderen
Zwecken und vollbringt sich durch dieselben.«
[a.a.O., S. 54ff.]
»Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die
Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was
durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden
leidet. Denn es ist eine Erscheinung, von der ein Teil
nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist
meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Indivi¬
duen werden geopfert und preisgegeben. Die Idee be¬
zahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit
nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der
Individuen.« [ a.a.O. S. 65]
145
ein solcher die Realisation der Freiheit, d. i. des abso¬
luten Endzwecks ist, daß er um sein selbst willen ist;
man muß ferner wissen, daß aller Wert, den der Mensch
hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den
Staat hat. Denn seine geistige Wirklichkeit ist, daß ihm
als Wissenden sein Wesen, das Vernünftige gegen¬
ständlich sei, daß es objektives, unmittelbares Dasein für
ihn habe; so nur ist er Bewußtsein, so nur ist er in der
Sitte, dem rechtlichen und sittlichen Staatsleben. Denn
das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjek¬
tiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den
Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestim¬
mungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf
Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte
Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die
Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genüsse
dieser Objektivität lebt. Denn das Gesetz ist die Objek¬
tivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und
nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei, denn
er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und frei.«
[a.a.O., S. 71]
MOSES HESS
147
unterscheidet sich nur formal von seinem subjektivem.
Wesentlich sind beide zusammen, nach Hegels eigenem
Ausdrucke nur die >Schädelstätte des absoluten Geistes<.
Die Philosophie der Tat ist ein lebensfähiger Keim der
Zukunft, wohingegen Hegels >objektiver< Geist pure
Idee ist und bleibt. Napoleon hatte recht, wenn er die
Deutschen >Ideologen< schimpfte. Eine Philosophie der
Geschichte hat, indem sie, wie die Hegelsche, nur das
Vergangene, das Daseiende als vernünftig zu erkennen
sich bemüht, ihre Aufgabe nur halb verstanden. Zur
Erkenntnis der Geschichte gehört wesentlich dieses:
aus der Vergangenheit und Gegenwart, aus einem
Gewesenen -und Daseienden, aus diesen beiden bekann¬
ten Größen eine unbekannte dritte, die Zukunft, das
Werdende zu folgern. So gestellt, ist die Aufgabe der
Geschichtsphilosophie eine würdige, und mit der
Lösung dieser Aufgabe wird die Philosophie der
Geschichte Philosophie der Tat, wie die Geschichte
selber eine durchaus providentielle, sittliche, heilige
wird — nicht aber, weil wir den Geist als Wunder¬
täter, sondern weil wir umgekehrt die Wundertat als
Geistestat erkennen ...« [a.a.O., S. 17f.]
Marxistische Geschichtsphilosophie
149
wegung ...« [Marx/Engels Kommunistisches Manifest
(1848), II Proletarier und Kommunisten]
»Die’ Philosophen haben die Welt nur verschieden
interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«
[Marx XI. Feuerbachthese, Brüssel, Frühjahr 1845]
150
können hier natürlich weder auf die physische Be¬
schaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den
Menschen Vorgefundenen Naturbedingungen, die geo¬
logischen, oro-hydrographisclien, klimatischen und
anderen Verhältnisse eingehen. Alle Geschichtsschrei¬
bung muß von diesen natürlichen Grundlagen und
ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die
Aktion der Menschen aus gehen.
Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch
die Religion, durch, was man sonst will, von den Tieren
unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den
Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre
Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre
körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Men¬
schen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie
indirekt ihr materielles Leben selbst.
Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel
produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der
Vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel
selbst ab.
Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der
Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der
physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr
schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Indivi¬
duen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine
bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen
ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zu¬
sammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie
produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was
die Individuen also sind, das hängt ab von den materiel¬
len Bedingungen ihrer Produktion.
Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung
der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr
der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses
Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.
151
Die Tatsache also ist die: Bestimmte Individuen, die
auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese
bestimmten gesellschaftlichen und politischen Ver¬
hältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in
jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesell¬
schaftlichen und politischen Gliederung mit der Produk¬
tion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekula¬
tion aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und
der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß be¬
stimmter Individuen hervor, aber dieser Individuen
nicht, wie sie in der eigenen oder fremden Vorstellung
erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d. h.
wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter
bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unab-
hängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen
tätig sind.
Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen,
sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur
Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über
ihre eigene Beschaffenheit. Es ist einleuchtend, daß in
allen diesen Fällen diese Vorstellungen der — wirkliche
oder illusorische — bewußte Ausdruck ihrer wirklichen
Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres
Verkehrs, ihres gesellschaftlichen und politischen —
Verhaltens sind. Die entgegengesetzte Annahme ist nur
dann möglich, wenn man außer dem Geist der wirk¬
lichen, materiell bedingten Individuen noch einen
aparten Geist voraussetzt. Ist der bewußte Ausdruck der
wirklichen Verhältnisse dieser Individuen illusorisch,
stellen sie in ihren Vorstellungen ihre Wirklichkeit auf
den Kopf, so ist dies wiederum eine Folge ihrer bor¬
nierten Betätigungsweise und ihrer daraus entsprin¬
genden bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des
Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in
152
die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr
der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vor¬
stellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen
erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiel¬
len Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in
der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der
Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt,
gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer
Vorstellungen, Ideen etc. etc., aber die wirklichen,
wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine
bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des
denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen
weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann
nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das
Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.
Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre
Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf
gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr
aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die
Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus
ihrem unmittelbar physischen. [a.a.O., S. 10-15]
»Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß
Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich
selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten
allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes,
sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhält¬
nissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem
Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahr¬
hunderts, unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft
zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürger¬
lichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu
suchen sei. Die Erforschung der letztem, die ich in Paris
begann, setzte ich in Brüssel fort. Das allgemeine
Resultat, das sich mir ergab, und, einmal gewonnen,
meinem Studium zum Leitfaden diente, kann kurz so
155
formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produk¬
tion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, not¬
wendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse
ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Ent¬
wicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte ent¬
sprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhält¬
nisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft,
die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politi¬
scher Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesell¬
schaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Pro¬
duktionsweise des materiellen Lebens bedingt den
sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß über¬
haupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das
ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein,
das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe
ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktiv¬
kräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vor¬
handenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein
juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsver¬
hältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten.
Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen
diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt
dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Ver¬
änderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der
ganze ungeheuere Überbau langsamer oder rascher um.
In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets
unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissen¬
schaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung der
ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristi¬
schen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philo¬
sophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die
Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn aus¬
fechten. So wenig man das, was ein Individuum ist,
nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso¬
wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus
154
ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr
dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen
Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell¬
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhält¬
nissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie
unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die
sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsver¬
hältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen
Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten
Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt
sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen
kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden,
daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiel¬
len Bedingungen der Lösung schon vorhanden oder
wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind. In
großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und
modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive
Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation be¬
zeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsver¬
hältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesell¬
schaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht
im Sinne von individuellem Antagonismus, sondern ein
aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der
Individuen hervorwachsender Antagonismus, aber die
im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft sich entwik-
kelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die mate¬
riellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonis¬
mus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt da¬
her die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft
ab.« [Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Öko¬
nomie (1859); zit. nach der Neuausgabe, Ost-Berlin 1947,
S. 12 ff]
»Was ist die Gesellschaft, welches immer ihre Form
sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der
Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene
155
Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie
einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktiv¬
kräfte der Menschen,und Sie erhalten eine entsprechende
Form des Verkehrs und der Konsumtion. Setzen Sie be¬
stimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des
Verkehrs und der Konsumtion, und Sie erhalten eine
entsprechende Form sozialer Konstitution, eine ent¬
sprechende Organisation der Familie, der Stände oder
der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende bürger¬
liche Gesellschaft. Setzen Sie eine solche Gesellschaft
und Sie erhalten einen entsprechenden politischen Zu¬
stand, der nur der offizielle Ausdruck dieser Gesellschaft
ist ... Man braucht nicht hinzuzufügen, daß die
Menschen nicht frei über ihre Produktivkräfte — die
Basis ihrer ganzen Geschichte — verfügen; denn jede
Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt
einer früheren Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also
das Resultat der angewandten Energie der Menschen,
doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Um¬
stände, in welche die Menschen sich versetzt finden,
durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die
Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht
schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Genera¬
tion ist.
Dank der einfachen Tatsache, daß jede nachfolgende
Generation von der vorhergehenden Generation er¬
worbene Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Roh¬
material für neue Produktion dienen, entsteht ein Zu¬
sammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht
die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Ge¬
schichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte
der Menschen und infolgedessen ihre sozialen Beziehun¬
gen gewachsen sind. Die notwendige Folge: Die gesell¬
schaftliche Geschichte der Menschen ist stets nur die
Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob die
156
Menschen sich dessen bewußt sind oder nicht. Ihre
niater'iellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Ver¬
hältnisse. Diese materiellen Verhältnisse sind nichts
andres als die notwendigen Formen, in denen ihre
materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert.»
[Marx am 28. 12. 1846 an Annenkow, aus dem Franz,
übersetzt; zit. nach Marx/Engels Ausgewählte Briefe,
Ost-Berlin 1955, S. 42ff.]
157
austauschen (soweit Teilung der Arbeit besteht). Also
die gesamte Technik der Produktion und des Transports
ist da einbegriffen. Diese Technik bestimmt nach unserer
Auffassung auch die Art und Weise des Austauschs,
weiterhin der Verteilung der Produkte und damit, nach
der Auflösung der Gentilgesellschaft, auch die Ein¬
teilung in Klassen, damit die Herrschafts- und Knecht¬
schaftsverhältnisse, damit Staat, Politik, Recht etc.
Ferner sind einbegriffen unter den ökonomischen Ver¬
hältnissen die geographische Grundlage, worauf diese
sich abspielen, und die tatsächlich überlieferten Reste
früherer ökonomischer Entwicklungsstufen, die sich
forterhalten haben ... natürlich auch das diese Gesell¬
schaftsform nach außen hin umgebende Milieu ...«
[Engels an Starkenburg am 25. 1. 1895, a. a. O., S. 559]
»Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen,
sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen
abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir
finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten auf¬
weist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve.
Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so
werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode
und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese
Achse der ökonomischen Entwicklung annähernd paral¬
lel läuft.« [a.a.O., S. 561]
159
wickelter, mehr durch Zwischenglieder verdunkelt.
Aber er existiert. Wie die ganze Renaissancezeit, seit
Mitte des 15. Jahrhunderts, ein wesentliches Produkt
der Städte, also des Bürgertums war, so auch die seitdem
neu erwachte Philosophie; ihr Inhalt war wesentlich
nur der philosophische Ausdruck der der Entwicklung
des Klein- und Mittelbürgertums zur großen Bour¬
geoisie entsprechenden Gedanken.« [Engels Ludwig
Feuerbach, S. 48]
»Wenn wir nun aber sehen, daß die drei Klassen der
modernen Gesellschaft, die Feudalaristokratie, die
Bourgeoisie und das Proletariat, jede ihre besondere
Moral haben, so können wir daraus nur den Schluß
ziehen, daß die Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre
sittlichen Anschauungen in letzter Instanz aus den
praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre
Klassenlage begründet ist, aus den ökonomischen Ver¬
hältnissen, in denen sie produzieren und austauschen.«
[Engels Anti-Dühring, S. 113]
KARL KAUTSKY
161
»Die materielle Basis ist also stark geistig durchsetzt.
Andererseits ist wieder der ideologische Überbau heines-
wegs rein geistiger Art. Es handelt sich bei diesem Über¬
bau nicht um geistige Bedürfnisse und Anschauungen,
die der einzelne für sich allein in seinem Kopfe ent¬
wickelt. Solche können nie historische Bedeutung ge¬
winnen. Marx spricht auch ausdrücklich von bestimm¬
ten gesellschaftlichen Bewußtseinsformenc
Damit die Einwirkungen des Unterhaus auf den
Überbau gesellschaftliche Formen bekommen, müssen
sie nicht in den Köpfen der einzelnen verschlossen
bleiben. Solange dies der Fall, werden sie auch dann
nicht zu einem gesellschaftlichen Faktor, wenn die
gemeinsame Wirkung der gleichen Faktoren auf eine
Menge Menschen, die unter den gleichen Bedingungen
leben, in jedem von ihnen dieselbe Art zu fühlen und zu
denken hervorruft. Nur durch gegenseitige Mitteilung
und Verständigung bekommen diese gemeinsamen An¬
schauungen gesellschaftlichen Charakter und damit ge¬
schichtsbildende Kraft. Diese Mitteilung und Ver¬
ständigung wird um so notwendiger, je mehr die Gesell¬
schaft sich nach sozialen Bedingungen und Bildungs¬
möglichkeiten differenziert und damit die Bewußtseins¬
formen der verschiedenen Menschen voneinander ab¬
weichen.« [a. a. O., S. 815]
»Man kann also nicht einfach sagen, daß im Unterbau
bloß materielle Dinge zu finden seien, und im Überbau
bloß Gedanken und Gefühle. Man kommt hier wie dort
ohne materielle Dinge ebensowenig aus, wie ohne
geistiges Tun.
Noch mehr. Man kann auch nicht sagen, daß Unterbau
und Überbau zueinander stets in dem Verhältnis von
Ursache und JVirkung stünden. Sie beeinflussen ein¬
ander in steter TVechselwirkung. Bestimmte juristische,
politische, religiöse Anschauungen werden durch be-
162
stimmte ökonomische Verhältnisse bedingt. Aber ebenso
ist das umgekehrte festzustellen. Juristische und politi¬
sche Verhältnisse wirken auch bestimmend auf das
ökonomische Leben. Und das gilt sogar von der Reli¬
gion ...« [a.a.O., S. 817]
»Was die materialistische Geschichtsauffassung zu
leisten hat, ist die Erklärung der Bildung des Neuen in
der Geschichte. Sie hat in jedem gesellschaftlichen Zu¬
stand die neue Ideologie zu erklären, die in ihm auf¬
kommt.« [a.a.O., S. 817]
»Betrachten wir in einer gegebenen Gesellschaft die
neuen Ideen, die sich in ihr emporringen, so können wir
feststellen, daß ihnen neue technische und ökonomische
Bedingungen vorhergehen. Diese erzeugen nicht sofort
neue Ideen. Die Menschen sind konservativ und suchen
die neue Technik und Ökonomie den alten Ideen an7.11-
163
einem gesellschaftlichen Zustand vorfinden, aus den
gleichzeitig gegebenen ökonomischen Verhältnissen
erklären zu wollen.
Man muß bei den Ideen eines Zeitalters unter¬
scheiden zwischen den alten, die es von seinen Vor¬
gängern übernimmt, und den neuen, die es selber her¬
vorbringt. Diese neuen brauchen die alten nicht immer
zu verdrängen. Sie können sich zu ihnen hinzugesellen,
das geistige Leben bereichern ... Viele alte Ideen blei¬
ben erhalten, freilich nur solche, die mit dem neuen
Zustand vereinbar sind ... sonst könnten sie sich nicht
behaupten, würden aufgeben ... d. h. sie hörten auf,
das Verhalten der Menschen praktisch zu bestimmen,
brauchten aber keineswegs formell abgelehnt zu
werden ... Um aber die Ideen zu begreifen, die das
betreffende Zeitalter von der Vorzeit übernommen hat,
muß ich nicht dieses allein untersuchen, sondern auch
die vorhergehende Epoche. Ich muß feststellen, was
von deren Ideen damals neu war, was nicht. Wir
werden wieder finden, daß nur ein Teil neu aufkam;
nur dieser vermag aus den ökonomischen Verhältnissen
dei Zeit erklärt zu werden. Zur Erklärung der anderen
muß ich noch weiter zurückgreifen. So müssen wir, um
die ganze Ideologie unserer Zeit zu begreifen, bis in die
entfernte Vorzeit zurückgehen. Nur dann wird es uns
gelingen, alle ihre ökonomischen Ursprünge bloßzu¬
legen. Aber stets werden wir finden, wenn wir tief genug
graben, daß alle Ideen in ökonomischen Verhältnissen
wurzeln.
Das ist der Sinn des Bildes von Unterbau und Über¬
au Die Beziehungen zwischen den beiden Faktoren
sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick er¬
scheinen.« [a.a.O., S. 818 f.]
Als Beispiel einer solchen komplexen Analyse des Ur¬
sprungs \ on Ideen aus dem >Unterbau< schließt Kautsky
164
ein Kapitel über Christentum und Religion< an. An¬
knüpfend an die oben zitierten Äußerungen des späten
Engels heißt es schließlich:
165
wieder weiteres Fortschreiten von Technik und Ökono¬
mie nach sich zieht. Die beiden Arten der Gestal¬
tung der Naturwissenschaften durch Technik und
Ökonomie sind also voneinander grundverschieden
und müssen scharf auseinandergehalten werden.« [a.a.
O., S. 886]
»Wie der Prozeß des Erkennens ist also auch der der
gesellschaftlichen Weiterentwicklung ein ewiger —
d. h., ein so lang dauernder, als die Menschheit mit
ihren Fähigkeiten und ihre bisherige natürliche Umwelt
fortdauert.
Eine dauernd vollkommene Gesellschaft ist ebenso¬
wenig möglich, wie eine absolute Wahrheit. Und das eine
wie das andere würde nichts anderes bedeuten als
gesellschaftlichen Stillstand und Tod.« [a.a.O., S. 635]
ANTONIO LABRIOLA
167
stehung beider, und um diese Genesis zu rekonstruieren,
müssen wir aus dem Kreis der bloßen Bewußtseinstat¬
sachen heraustreten, um bei der Analyse der einfachen
Bedürfnisse anzulangen, die zum Teil aus den sozialen
Bedingungen herkommen und zum anderen, sich im
dunklen Grund der organischen, ererbten Disposi¬
tionen verlieren. Ganz genauso liegt es beim histori¬
schen Determinismus. Auch hier fängt man die Analyse
mit den religiösen, politischen, ästhetischen, leiden¬
schaftsbedingten Motiven an, aber auch hier muß man
dann erst die Ursachen dieser Mntive in den zugrunde¬
liegenden Fakten aufsuchen. Die Untersuchung dieser
Bedingungen muß aber so genau erfolgen, daß sie nicht
nur deutlich aufweist, welches diese Ursachen sind,
sondern auch, auf welchem Wege (durch welche Ver¬
mittlungen) sie zu dieser bestimmten Form kommen,
die sie dem Bewußtsein als Motive enthüllt, deren Ur¬
sprung oftmals vergessen war.
Hieraus aber folgt offenbar jene zweite Konsequenz
daß es sich nämlich bei unserer Doktrin nicht darum
handelt, alle komplizierten historischen Manifestationen
m Ökonomische Kategorien zurückzu verwandeln, son¬
dern lediglich sie in »letzter Instanz« (Engels) durch die
ihnen zugrundeliegende sozialökonomische Struktur zu
erklären (Marx). Das erfordert zunächst Analyse und
eduktion und sodann Vermittlung und Zusammen-
169
Menschen ist, die ihre Bewußtseinsformen bestimmt.
Aber diese Bewußtseinsformen bilden, wie sie durch die
Lebensumstände bedingt sind, zugleich selbst einen
Teil der Geschichte. Diese besteht nicht nur aus der
ökonomischen Anatomie, sondern aus dem Ganzen, das
dieses anatomische Skelett bedeckt und umkleidet bis
hin zu den bunten Reflexen der Phantasie. Mit anderen
Worten, es gibt zwar kein historisches Faktum, das nicht
durch seinen Ursprung auf die Bedingungen der zu¬
grundeliegenden ökonomischen Struktur verwiese, aber
es gibt auch kein historisches Faktum, das nicht vor¬
bereitet, begleitet und gefolgt würde von bestimmten
Bewußtseinsformen, mögen diese nun abergläubisch
oder experimentell, naiv oder reflektiert, impulsiv oder
selbstbeherrscht, phantastisch oder vernünftig sein.«
[Essais sur la conception materialiste de l'histoire (1896),
Paris 1928, S. 118ff.]
»Die vorläufige Orientierung am bequemen System
der historischen >Faktoren< [Staat, Recht, Weltan¬
schauung, Ökonomie] kann in bestimmten Fällen auch
uns, die wir ein einziges historisches Interpretations-
prinzip vertreten, nützlich sein, wenn wir nicht bei der
einfachen Feststellung der Theorie stehenbleiben,
sondern sie durch eine persönliche Forschungsarbeit
bereichern wollen. Da wir in diesem Falle an ein
direktes Detailstudium gehen müssen, müssen wir zu¬
erst den Faktenzusammenhängen nachgehen, die ent¬
weder vorherrschend oder unabhängig zu sein scheinen.
Man darf sich nämlich nicht einbilden, daß das so
evidente Einheitsprinzip, zu dem wir gelangt sind, wie
ein Talisman sofort und auf den ersten Blick zur unfehl¬
baren Losung und Deutung des komplizierten und ver¬
zahnten Apparates der Gesellschaft führt. Die zu¬
grundeliegende ökonomische Struktur, die alles andere
bestimmt, ist kein einfacher Mechanismus, aus dem wie
170
automatische oder mechanische Wirkungen die politi¬
schen Institutionen, Gesetze und Sitten, Gedanken,
Gefühle und Ideologien hervorgehen. Der Prozeß der
Abteilung und Vermittlung zwischen dieser Basis und
dem übrigen ist äußerst kompliziert, oftmals subtil und
voller Umwege, manchmal überhaupt nicht entziffer¬
bar ...« [a.a.O., S. 167f.]
»Wenn ... wir uns vornehmen, die vergangenen Er¬
eignisse bis hin zur Gegenwart zu untersuchen und
dabei als >Leitfaden< die verschiedenen Formen der
ökonomischen Basis der Gesellschaft verwenden — bis
hin zu der einfachsten Gegebenheit: den Veränderun¬
gen der Produktionsinstrumente —, dann müssen wir
uns immer der Schwierigkeit des Problems bewußt
bleiben, das wir vor uns haben: es geht hier nicht ein¬
fach darum, die Augen zu öffnen und zu sehen, sondern
handelt sich um eine Denkbemühung, die mit dem viel¬
gestaltigen Schauspiel der unmittelbaren Erfahrung
fertig zu werden versucht, um es in die Elemente eines
genetischen Zusammenhangs zu bringen. Aus diesem
Grunde habe ich gesagt, daß wir bei konkreten Unter¬
suchungen gleichfalls von jenen Faktenzusammen¬
hängen ausgehen müssen, d. h. von der empirischen
Forschung, aus der jener Glauben an die Faktoren sich
dann zu einer Art Halbdoktrin entwickelt hat ...«
[a.a.O., S. 170f.]
171
Grunde ist sie ja auch mit dem Darwinismus vergleich¬
bar, der ebenfalls nur eine Methode ist und keine
moderne Wiederholung der konstruierten und kon¬
struktiven Naturphilosophie & la Schelling ...« [a.a.O.,
S. 149]
»So kann es denn auch Vorkommen und ist in der Tat
schon passiert, daß Personen, die wenig mit den Schwie¬
rigkeiten historischer Forschung vertraut sind, im
historischen Materialismus ein Stimulans zur Ent¬
wicklung einer neuen Ideologie, einer neuen, systema¬
tischen, d. h. schematischen und tendenziösen Geschichts¬
philosophie finden. Und es gibt keine Vorsichtsmaßregel,
die hier ausreicht. Unsere Intelligenz gibt sich selten
mit der rein kritischen Forschung zufrieden und neigt
immer dazu, jede neue Entdeckung in ein Element der
Pedanterie und eine neue Scholastik zu verwandeln.
Mit einem Worte, selbst die materialistische Geschichts¬
auffassung kann in eine dogmatische Thesenlehre ver¬
wandelt werden und dazu dienen, mit neuen Moden
alte Vorurteile, wie das einer demonstrativen und
deduzierbaren Geschichte wieder zu beleben.
Damit das nicht geschieht, und vor allem, damit nicht
auf indirekte oder versteckte Weise eine neue Form
der Teleologie auftaucht, muß man sich von zwei
Dingen fest überzeugen: daß alle bekannten histori¬
schen Bedingungen zufällig sind und daß der Fort¬
schritt bis jetzt immer von zahlreichen Hindernissen
aufgehalten wurde und daher immer nur partiell und
limitiert war.« [a.a.O., S. 158f.]
172
H. M. HYNDAtAN UND E. BELFORT BAX
173
der Menschen hindurch. Unzweifelhaft ist das öfters
von beiden Seiten geschehen. Die extremen Materiali¬
sten mögen allerdings mit ihren Auslegungen der Wahr¬
heit näherkommen als die extremen Idealisten. Je ein¬
gehender, je unparteiischer indessen der Gegenstand
betrachtet wird, desto deutlicher erscheint es nach
unserer Überzeugung, daß nur und insofern volles
Gewicht beiden Faktoren gleichmäßig beigelegt wird,
als ein endgültiger haltbarer Begriff der historischen
Kräfte zu erlangen sein wird.« \Die materialistische
Geschichtsauffassung, »Die Neue Zeit«, 1914, XXXII. Jg.,
I. Hbb., S. 789 f.]
MAX ADLER
175
durchgängigen Kausalzusammenhang bringt, der, wie
wir sehen werden, ein geistiger Zusammenhang ist.
Schon hier erweist sich daher die hohnvolle Frage, mit
welcher viele gelehrte Gegner glauben, die >Absurdität<
des Marxismus schlagend erwiesen zu haben, wie denn
z. B. Goethes >Faust< oder Mozarts >Zauberflöte< von den
ökonomischen Verhältnissen hervorgebracht sei, nur als
Beleg für die theoretische Unzulänglichkeit dieser
Kritiken selbst.« [Lehrbuch der materialistischen Ge¬
schichtsauffassung, Bd. I, Berlin 1950, S. 151 ff.]
»Sie [die ökonomischen Verhältnisse] stellen also in
ihrer Gesamtheit, wie Marx dies ausdrückte, die Basis,
den Unterbau der Gesellschaft auf einer gegebenen
Stufe der Entwicklung ihrer Produktivkräfte dar, oder,
wie wir sagen möchten, sie bilden den Lebensraum
dieser Gesellschaft. Dieses Wort halte ich für weniger
mißverständlich als den Begriff des Unterbaues, an
dem ... sich sehr irrtümliche Vorstellungen angeknüpft
haben, vor allem das Mißverständnis, daß dieser Unter¬
bau etwas vom Überbau Getrenntes und Verschiedenes
sei. Demgegenüber bezeichnet das Wort Lebensraum
die Tatsache, daß die ökonomischen Verhältnisse eben
nur die Grundverhältnisse einer bestimmten Art des
gesellschaftlichen Lebens sind, innerhalb deren sich alle
anderen Lebensverhältnisse ihnen entsprechend ent¬
wickeln. Und so wird jetzt auch klar verständlich, wie
alle gesellschaftlichen Erscheinungen, selbst die geisti¬
gen Spitzenerscheinungen, durch die ökonomischen Ver¬
hältnisse bedingt sein können. Es ist dies kein direkter
und unmittelbarer Zusammenhang, sondern indem die
Ökonomischen Verhältnisse eben das jeweilige Lebens-
milieu einer Epoche darstellen, entspricht ihnen auch
eine jeweils anders bestimmte Mentalität der Menschen:
es entsprechen also bestimmten ökonomischen Ver¬
hältnissen bestimmte Lebensformen und Lebensinter-
176
essen, aber weiterhin auch bestimmte andere daraus her¬
vorgehende Bedürfnisse, Vorstellungen und Ideen.«
[a.a.O., S. 172f.]
177
Soziale, das nicht aus einer jenseitigen Welt, sondern
aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der
Menschen mit schließlich unwiderstehlicher Gewalt
hervorwächst.
Mit dieser Einsicht in den wunderbaren Mechanismus
der Geschichte ist ein entscheidender Punkt nicht nur
in unserer theoretischen, sondern auch in unserer
praktischen Stellungnahme zum sozialen Leben ge¬
setzt. Denn wenn aus dieser Geschichtsauffassung sich
die große Erkenntnis von Marx ergibt, daß die Mensch¬
heit sich immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann,
weil, wie Marx sagt, genauer betrachtet, sich stets
finden wird, >daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo
die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vor¬
handen oder wenigstens im Prozeß des Werdens be¬
griffen sind<, so folgt hieraus umgekehrt, daß sich aus
der Erkenntnis dieser materiellen Bedingungen, aus
der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Natur und
ihres Zusammenwirkens, ebenso auch die Aufgaben
erkennen lassen, welche die Menschheit in dieser be¬
sonderen Situation sich notwendig wird stellen müssen
und die Mittel, die sie zur Lösung dieser Aufgabe zu
ergreifen hat. Das kausale Getriebe der Geschichte wird
so durch seine wissenschaftliche Durchleuchtung direkt
m eine Teleologie übergeführt, ohne doch irgendwie an
der Geschlossenheit seiner kausalen Bestimmtheit Ab¬
ruch zu erleiden. Es tritt nur die wissenschaftliche
Erkenntnis der besonderen gesellschaftlichen Lage nun-
mehr- selbst als eine Ursache in dieses Kausalgetriebe ein,
die auf Abänderung im Sinne der errungenen Erkennt¬
nis hmarbeitet.« [Marxistische Probleme (1913) Stutt¬
gart 1920, S. 44 f.] ’
179
heißt die Idee der Entwicklung ist der an einem ge¬
wissen Punkte der geistigen Geschichte auftretende
gedankliche Zwang, aus dem Fortgang im inneren Zu¬
sammenhang des Denkens den Zusammenhang äußerer
Entwicklungsvorgänge zu erfassen.« [a.a.O., S. 45]
OTTO BAUER
181
verwertbar sein, ihre Produktionsmethoden vervoll¬
kommnen sollen. So lehrt uns denn der skeptische Positi¬
vismus eines Mach, Poincare, James die Naturwissen¬
schaft in neuem Lichte sehen: unser Wissen ist ein
Werkzeug für den Daseinskampf, nur Mittel für prak¬
tische Zwecke; es kann nicht das Wesen der Dinge er¬
forschen, sondern nur Erfahrungen zu praktischen
Zwecken sammeln und ordnen. Die Hypothesen, aus
denen die Naturwissenschaft ihre experimentell über¬
prüfbaren Naturgesetze deduziert — den Denkern des
älteren Bürgertums waren sie die Befriedigung ihrer
Weltanschauungsinteressen, Bausteine zu einem Welt¬
bild, das sie dem Weltbild der feudalen Epoche kämp¬
fend entgegenstellten; dem Positivismus unserer Zeit
sind sie an sich unwichtig, bloß als Hilfsmittel zur
Ordnung, zur rechnerischen Verknüpfung der Erfah¬
rungstatsachen verwendbar. Die Tat des Kopemikus
war den Alten eine revolutionäre Tat gegen das
Gedankensystem der herrschenden Kirchengewalten;
dem Relativismus unserer Zeit ist es eine bloße Ver¬
tauschung der Koordinatensysteme, das Koordinaten¬
system des Kopemikus dem ptolemäischen nur darum
vorzuziehen, weil es eine bequemere Rechnung er¬
möglicht.« [a.a.O., S. 452 f.]
dtsdbVmBed'tCklUn?gang Revolution
IsraetL dl UtU?g’Te T Ideologie des .Reiches
ideal • ■ r englischen, die jakobinische Gleichheits-
ologie m der Französischer, Revolution hatte. Der
182
russische Kommunismus ist nicht der Sozialismus eines
auf der Basis des Hochkapitalismus entwickelten, ge¬
schulten Proletariats, das den realen Kampf um die
durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst bereits
vorgebildete, bereits objektiv möglich gewordene Ver¬
gesellschaftung der Güterproduktion und des Güter¬
austausches zu führen vermag. Der russische Kom¬
munismus war vielmehr die Illusion der plebejischen
Massen eines sich eben aus den Fesseln des Feudalismus
befreienden Landes, die, durch die bürgerliche Revolu¬
tion vorübergehend zur Macht emporgeschleudert, ihre
Ideale vergebens zu verwirklichen suchen, um schlie߬
lich an dem niedrigen Entwicklungsgrad der Produktiv¬
kräfte zu scheitern und zu erfahren, daß ihre Herr¬
schaft nicht ihre kommunistischen Ideale verwirklichen
kann, sondern nur das Mittel der Geschichte war, alle
Überbleibsel des Feudalismus zu zertrümmern und da¬
durch die Voraussetzungen der Entwicklung des Kapita¬
lismus auf neuer, verbreiterter Grundlage zu schaffen.«
[Der neue Kurs in Sowjetrußland, Wien 1921, S. 31]
JEAN jaurLs
Ökonomischer Materialismus:
183
zufolge die Menschheit von ihrem Ursprung an gleich¬
sam eine dunkle Vorstellung, ein erstes Vorgefühl
ihres Schicksals und ihrer Entwicklung hat.
Vor der Erfahrung der Geschichte, vor der Errich¬
tung dieses oder jenes ökonomischen Systems, trägt die
Menschheit in sich eine vorgängige Idee der Gerechtig¬
keit, des Rechts, und dieses Ideal ist es, welchem sie von
einer Zivilisation zur höheren Zivilisation folgt; und
wenn sie sich bewegt, so geschieht es nicht durch die
automatische und mechanische Umgestaltung der
Produktionsweisen, sondern unter dem mehr oder
weniger klar empfundenen Einfluß dieses Ideals. So daß
die Idee selbst zum Prinzip der Bewegung und der
Handlung wird und daß — weit entfernt, daß die
intellektuellen Auffassungen aus den Ökonomischen
Fakten abgeleitet würden, es vielmehr umgekehrt die
ökonomischen Fakten sind, die nach und nach in der
Wirklichkeit der Geschichte das Ideal der Menschheit
realisieren.« [Zit. nach Charles Rappoport Jean Jaures,
l komme, le penseur, le socialiste. Paris 1915, S. 597]
185
Menschheit zweiteilen und ihr ideales (geistiges) Leben
vom ökonomischen trennen. So lautet meine These,
deren partielle Bestätigung ich in der griechischen
Philosophie finde.« [a.a.O., S. 405]
G. W. PLECHANOW
187
wendig — d. h. eine geeignete Flora und Fauna —,
damit die Urfischer und Urjäger zur Viehzucht und
zum Ackerbau übergehen konnten. L. H. Morgan
bemerkt: >das Nichtvorhandensein zähmbarer Tiere in
der westlichen Flemisphäre und die spezifische Ver¬
schiedenheit zwischen den Zerealien beider Hemi¬
sphären übten einen mächtigen Einfluß auf die ent¬
sprechende Entwicklung ihrer Bewohner aus< (Die
Urgesellschaft, Stuttgart 1891, S. 20f.) ... Wie dem
aber auch sei, auf jeden Fall steht fest, daß, je mannig¬
faltiger die Natur ist, um so günstiger ist sie auch für die
Entwicklung der Produktivkräfte. >Es ist nicht die ab¬
solute Fruchtbarkeit des Bodens <, sagt Marx (Kapital,
Bd. I, S. 539), »sondern seine Differenzierung, die
Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche
die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der
Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der
Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Ver-
mannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten,
Arbeitsmittel und Arbeitsweisen anspornt. < Fast mit den¬
selben Worten äußert sich Ratzel ... Die natürlichen
geographischen Verhältnisse bedingen die Entwicklung
der Produktivkräfte; die Entwicklung dieser bedingt
ihrerseits che Entwicklung der wirtschaftlichen und dar¬
auf auch der gesellschaftlichen Verhältnisse ...« [Grund¬
probleme des Marxismus, dt. Stuttgart 1910, S. 44ff.;
vgl. auch Zur Frage der Entwicklung der monistischen
Geschichtsauffassung {1895), Beriin 1956, S. 146f.]
189
Der Einfluß der Produktionstechnik auf die Bewußt-
seinsformen:
»In der Urgesellschaft, die keine Klassenscheidung
kannte, hat die produktive Arbeit des Menschen auf
seine Weltanschauung und seine Ästhetik unmittelbar
eingewirkt. Die Ornamentik entnimmt ihre Motive der
Technik, und der Tanz — in dieser Gesellschaft wohl
die wichtigste Kunstart — beschränkt sich nicht selten
auf eine künstlerische Reproduktion des Arbeitspro¬
zesses ...« [a.a.O., S. 67]
191
Gesellschaftsmenschen (die soziale >Teleologie<) als not¬
wendige Folge des sozialen Prozesses zu erklären, der
seinerseits in letzter Linie durch den Gang der wirt¬
schaftlichen Entwicklung bestimmt wird.« [a.a.O.,
S. 93]
193
der Geschichte< versucht. Der glänzende Redner kommt
ein wenig spät, da die marxistische Geschichtsauffassung
nichts auf diesem Gebiet zu wersöhnem übrigläßt. Marx
hat den moralischen Gefühlen gegenüber, welche in der
Geschichte eine Rolle spielen, niemals die Augen ge¬
schlossen. Er hat den Ursprung dieser Gefühle erklärt.
Damit Jaures den Sinn dessen besser zu fassen vermag,
was er die >Formel von Marx< (der sich immer über
Menschen mit einer Formel lustig machte) zu nennen
beliebt, wollen wir ihm noch eine Stelle aus dem eben
zitierten Buch (18. Brumaire des Louis Bonaparte) an¬
führen. Es handelt sich um die >demokratisch-soziali-
stische< Partei, welche in Frankreich 1849 entstand.
>Der eigentümliche Charakter der Sozialdemokratie
faßt sich dahin zusammen, daß demokratisch-republika¬
nische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht
um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, aufzuheben,
sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in
Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Maßregeln
zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden
mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutio¬
nären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt
bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der
Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Um¬
änderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums.
Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung
machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein
egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt
vielmehr, daß die besonderen Bedingungen seiner Be¬
freiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb
deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der
Klassenkampf vermieden werden kann. Man muß sich
ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Reprä¬
sentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben
schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer indivi-
194
duellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt
sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist,
daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinaus¬
kommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt,
daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen
theoretisch getrieben werden, wohin jenen das mate¬
rielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch
treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politi¬
schen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der
Klasse, die sie vertretene [K. Marx Der 18. Brumaire
des Louis Bonaparte, Berlin 1946, S. 40 ff.]
Die Vortrefflichkeit der dialektischen Methode des
Marxschen Materialismus zeigt sich am deutlichsten
da, wo es sich darum handelt, Probleme >moralischer<
Art zu lösen, vor denen der Materialismus des 18. Jahr¬
hunderts ohnmächtig stehenblieb. Um aber die Lö¬
sungen auch richtig zu begreifen, muß man sich
zunächst von metaphysischen Vorurteilen frei machen.
Jaures sagt umsonst: >Ich will nicht die materiali¬
stische Auffassung auf die eine Seite dieser Scheide¬
wand und die idealistische auf die andere steilem;
er kommt gerade zum System der Scheidewände
zurück, er stellt auf die eine Seite den Geist, auf
die andere die Materie, hier die ökonomische Not¬
wendigkeit, dort die moralischen Gefühle, und hält
ihnen dann eine Predigt, indem er ihnen zu beweisen
versucht, daß sie sich gegenseitig durchdringen sollten.«
[.Beiträge zur Geschichte des Materialismus (1896),
Berlin 1946, S. 162 ff.]
195
Einfluß auf die Literatur und schönen Künste anderer
zivilisierter Länder. Dieser gegenseitige Einfluß ist eine
Wirkung der Ähnlichkeit der sozialen Struktur dieser
Länder. Eine im Kampfe mit ihren Gegnern befind¬
liche Klasse erobert sich in der Literatur eines Landes
eine Stellung. Wenn dieselbe Klasse in einem anderen
Lande sich zu rühren beginnt, bemächtigt sie sich der
von ihrer vorgeschritteneren Schwester geschaffenen
Ideen und Formen. Aber sie modifiziert dieselben und
geht über sie hinaus oder bleibt hinter ihnen zurück, je
nach dem Unterschied, der zwischen ihrer Lage und
der Lage der Klasse besteht, welche ihre Vorbilder schuf.
Wir haben gesehen, daß das geographische Milieu einen
großen Einfluß auf die historische Entwicklung der
Völker hatte. Wir sehen jetzt, daß die internationalen
Beziehungen vielleicht einen noch größeren Einfluß auf
diese Entwicklung haben. Die vereinigte Einwirkung des
geographischen Milieus und der internationalen Bezie¬
hungen erklärt die ungeheueren Unterschiede, die wir,
obwohl die fundamentalen Gesetze der sozialen Evolu¬
tion überall dieselben sind, in den historischen Schick¬
salen der Völker finden.« [a.a. O., S. 168]
197
seine hartnäckige Verteidigung des alten Regimes auf
das Volle aufreizend ... Ungefähr dasselbe läßt sich
auch von Robespierre sagen ...« [ Über die Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte, Berlin 1952, S. 37 f.]
»Das was Napoleon im italienischen Feldzug und in
den anderen Feldzügen vollbracht hat, hätten andere
Generale vollbracht (wenn ihn in der Schlacht bei
Arcole eine Kugel niedergestreckt hätte). Sie hätten
wahrscheinlich nicht solche Talente an den Tag gelegt
wie er und hätten nicht so glänzende Siege errungen.
Die französische Republik wäre aber dennoch aus ihren
damaligen Kriegen als Siegerin hervorgegangen, denn
ihre Soldaten waren unvergleichlich besser als alle
anderen europäischen Soldaten. Was den 18. Brumaire
und seinen Einfluß auf das innere Leben Frankreichs
betrifft, so wären dem Wesen nach der allgemeine Gang
und Ausgang der Ereignisse wahrscheinlich dieselben
gewesen wie unter Napoleon. Die Republik siechte,
durch die Niederlage vom 9. Thermidor tödlich ge¬
troffen, langsam dahin. Das Direktorium war nicht
imstande, die Ordnung wiederherzustellen, die die
Bourgeoisie nunmehr sehnlichst herbeiwünschte, nach¬
dem sie sich von der Herrschaft der höheren Stände
befreit hatte. Zur Wiederherstellung der Ordnung be¬
durfte es eines >guten Degens<, wie sich Sieyes aus¬
druckte. Anfangs glaubte man, die Rolle des wohl¬
tätigen Degens würde General Jourdan spielen; als
er bei Novi fiel, nannte man Moreau, Macdonald, Ber-
nadotte. Von Bonaparte begann man erst später zu
re en ... Aber außer ihm gab es damals recht viele
enei gische, talentierte und ehrgeizige Egoisten. Der
atz, en es ihm gelang einzunehmen, wäre sicherlich
nicht unbesetzt geblieben
Einflußreiche Persönlichkeiten können dank der
Besonderheiten ihres Versandes und Charakters das
198
individuelle Gepräge der Geschehnisse und einige ihrer
besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allge¬
meine Richtung nicht ändern, die durch andere Kräfte
bestimmt wird.« [a.a.O., S. 59ff.]
»Die persönliche Kraft Napoleons erscheint uns in
äußerst vergrößerter Gestalt, da wir ihr die ganze gesell¬
schaftliche Kraft zuschreiben, von der sie vorgeschoben
und gestützt wurde. Sie erscheint uns als etwas ganz
Exklusives, denn andere Kräfte, die ihr glichen, sind
nicht aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überge¬
gangen. Und wenn man uns sagt: Was wäre, wenn es
keinen Napoleon gegeben hätte, so gerät unsere Phan¬
tasie in Verwirrung, und es scheint uns, daß ohne ihn
die ganze gesellschaftliche Bewegung, auf der seine
Kraft und sein Einfluß beruhen, überhaupt nicht hätte
zustande kommen können ...« [a.a.O., S. 41]
»Ein großer Mann ist nicht dadurch groß, daß seine
persönlichen Besonderheiten den großen geschicht¬
lichen Geschehnissen ein individuelles Gepräge ver¬
leihen, sondern dadurch, daß er Besonderheiten besitzt,
die ihn am fähigsten machen, den großen gesellschaft¬
lichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter dem
Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen ent¬
standen sind. In seinem bekannten Werk über die
Helden nennt Carlyle die großen Männer Beginner. Das
ist eine sehr gelungene Bezeichnung. Der große Mann
ist eben ein Beginner, er blickt weiter als die anderen
und will stärker als die anderen. Er löst die wissenschaft¬
lichen Aufgaben, die der vorhergegangene Verlauf der
geistigen Entwicklung der Gesellschaft auf die Tages¬
ordnung gesetzt hat; er weist die neuen gesellschaft¬
lichen Bedürfnisse auf, die durch die vorhergegangene
Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen er¬
zeugt worden sind; er ergreift die Initiative zur Befrie¬
digung dieser Bedürfnisse. Er ist ein Held ... in dem
199
Sinne, daß seine Tätigkeit der bewußte und freie Aus¬
druck dieses notwendigen und unbewußten Ganges
(der Dinge) ist. Darin liegt seine ganze Bedeutung,
darin seine ganze Kraft. Das ist aber eine gewaltige
Bedeutung, eine ungeheuere Kraft.« [a.a.O., S. 50f.]
W. I. LENIN
201
Widergespiegelten sein, aber es wäre unsinnig, hierbei
von Identität zu sprechen. Das Bewußtsein spiegelt
überhaupt das Sein wider — das ist die allgemeine
These des ganzen Materialismus. Es geht nicht an,
ihren direkten und untrennbaren Zusammenhang mit der
These des historischen Materialismus: das gesellschaft¬
liche Bewußtsein spiegelt das gesellschaftliche Sein
wider, nicht zu sehen.« [Materialismus und Empirio¬
kritizismus (1908), dt. Moskau 1947, S. 347f.]
»... diese Theorie der Identität von gesellschaftlichem
Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein ist ein totaler
Unsinn, ist eine unbedingt reaktionäre Theorie. Wenn
einzelne Leute sie mit dem Marxismus, mit marxisti¬
schem Verhalten vereinbaren, so müssen wir zugeben,
daß diese Leute besser sind als ihre Theorien, wir dürfen
aber nicht haarsträubende theoretische Entstellungen
des Marxismus rechtfertigen.« [a.a. O., S. 349]
»Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist
sich dessen bewußt, daß er die und die Änderung in die
Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer
ist sich bewußt, daß er die und die Produkte gegen
andere austauscht, doch weder Produzent noch fVaren-
besitzer sind sich dessen bewußt, daß sie dadurch das
gesellschaftliche Sein verändern. Die Summe aller dieser
Veränderungen in allen ihren Verästelungen könnten
innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft auch 70
Marxe nicht bewältigen. Was höchstens geleistet
werden konnte, ist, daß die Gesetze dieser Veränderungen
entdeckt wurden, daß in den Haupt- und Grundzügen
die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer ge¬
schichtlichen Entwicklung aufgezeigt wurde — objektiv
nicht in dem Sinne, daß eine Gesellschaft von bewußten
Wesen, von Menschen existieren und sich entwickeln
konnte, unabhängig von der Existenz bewußter Wesen
... sondern in dem Sinne, daß das gesellschaftliche Sein
202
unabhängig ist von dem gesellschaftlichen Bewußtsein
der Menschen. Aus der Tatsache, daß ihr lebt und wirt¬
schaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, diese
austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette
von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem
gesellschaftlichen Bewußtsein unabhängig ist, die von
diesem niemals restlos erfaßt wird. Die höchste Aufgabe
der Menschheit ist, diese objektive Logik der wirtschaft¬
lichen Evolution (Evolution des gesellschaftlichen Seins)
in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um der¬
selben ihr gesellschaftliches Bewußtsein und das der
fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder
so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzu¬
passen.« [a. a. O., S. 550]
»Der Materialismus überhaupt erkennt das objektive
reale Sein (die Materie) als unabhängig von dem
Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der
Menschheit an. Der historische Materialismus aner¬
kennt das gesellschaftliche Sein unabhängig vom gesell¬
schaftlichen Bewußtsein der Menschheit. Das Bewußt¬
sein ist hier wie dort nur das Abbild des Seins ... Man
kann aus dieser, aus einem Guß geformten Philosophie
des Marxismus ... nicht einen einzigen wesentlichen Teil
wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu
entfernen, ohne der bürgerlich-reaktionären Lüge in
die Arme zu geraten.« [a.a.O., S. 350f.]
203
stand der Betrachtung gemacht, ohne nachzuforschen,
wodurch diese Motive hervorgerufen werden, ohne die
objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des
Systems der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erfassen,
ohne die Wurzeln dieser Verhältnisse im Entwicklungs¬
grad der materiellen Produktion zu erblicken; zweitens
hatten die früheren Theorien gerade die Handlungen
der Massen der Bevölkerung außer acht gelassen, wäh¬
rend der historische Materialismus zum erstenmal die
Möglichkeit gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die
gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Massen sowie
die \eränderungen dieser Bedingungen zu erforschen.
Die >Soziologie< und die Geschichtsschreibung vor Marx
hatten im besten Falle eine Anhäufung von fragmen¬
tarisch gesammelten unverarbeiteten Tatsachen und die
Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses
geliefert. Der Marxismus wies den Weg zur allum¬
fassenden, allseitigen Erforschung des Prozesses der
Entstehung, der Entwicklung und des Verfalls der ge¬
sellschaftlich-ökonomischen Formationen, indem er die
Gesamtheit aller widerstreitenden Tendenzen unter¬
suchte, diese auf die exakt bestimmbaren Lebens- und
Produktionsverhältnisse der verschiedenen Klassen der
Gesellschaft zurückführte, den Subjektivismus und die
V illkur bei der Auswahl bzw. Auslegung der einzelnen
>vorherrschenden < Ideen ausschaltete und die Wurzeln
ausnahmslos aller Ideen und aller verschiedenen
endenzen un gegebenen Stand der materiellen Produk¬
tivkräfte aufzeigte. Die Menschen machen ihre Ge-
sclichte selbst; aber wodurch die Motive der Menschen
und namentlich die der Massen der Menschen bestimmt
wo um die Zusammenstöße der widerstreitenden
deen und Bestrebungen verursacht werden, was die
esamtheit aller dieser Zusammenstöße der ganzen
Masse der menschlichen Gesellschaften darstellt, was die
204
objektiven Produktionsbedingungen des materiellen
Lebens shid, die die Basis für alles geschichtliche
I landein der Menschen schaffen, wie das Entwicklungs¬
gesetz dieser Bedingungen lautet — auf all das machte
Marx aufmerksam und wies den Weg zum wissen¬
schaftlichen Studium der Geschichte als eines einheit¬
lichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und
Gegensätzlichkeit gesetzmäßigen Prozesses.« [KarlMarx,
Juli-November 1914; zit. nach Marx/Engels Marxismus,
Moskau 1947, S. 16 f.]
NIKOLAI BUCHARIN
205
»Die Form dieses Prozesses ... ist, erstens, der Gleich¬
gewichtszustand; zweitens, die Störung dieses Gleich¬
gewichts; drittens, die Wiederherstellung des Gleich¬
gewichts auf neuer Grundlage. Und dann beginnt die
Geschichte von neuem: das neue Gleichgewicht wird
zum Ausgangspunkt für die neue Störung, dann folgt
wieder ein anderes Gleichgewicht und so fort, ins Un¬
endliche. Im großen und ganzen haben wir einen
Prozeß der Bewegung vor uns, dessen Grundlage die
Entwicklung der inneren Widersprüche bildet.« [a. a 0
S. 75]
206
»Bewegliches Gleich gewacht mit positivem Vor¬
zeichen (Entwicklung des Systems) ... Wenn wir vor¬
aussetzen, daß das Verhältnis zwischen der mensch¬
lichen Gesellschaft und der Natur so geändert wird, daß
die Gesellschaft durch Produktion aus der Natur mehr
Energie aussaugt, als sie ausgibt (der Boden wurde
fruchtbarer, neue Werkzeuge wurden erfunden oder
beides) — dann wird diese Gesellschaft wachsen und
nicht auf einem Fleck verharren. Das neu eintretende
Gleichgewicht wird wirklich ein neues sein. Der Wider¬
spruch zwischen der Natur und der Gesellschaft wird
jedesmal auf neuer, >höherer< Stufe wiederhergestellt
werden ... Hier haben wir einen Fall des beweglichen
Gleichgewichts, sozusagen mit positivem Vorzeichen.«
[a. a. O., S. 78]
»Gesetzt den Fall, das Verhältnis zwischen der Natur
und der GeseUschaft ändert sich in der Richtung, daß
die Gesellschaft gezwungen wird, immer mehr auszu¬
gehen und immer weniger zu erhalten (der Boden wird
erschöpft, die Technik verschlechtert sich usw.) — dann
wird das neue Gleichgewicht auf herabgesetzter Grund¬
lage eintreten, auf Kosten des Unterganges eines Teiles
der Gesellschaft. Hier haben wir eine Bewegung mit
negativem Vorzeichen: die Gesellschaft wird eine unter¬
gehende, eine verfallende sein.
Auf diese drei Fälle lassen sich alle denkbaren Fälle
zurückführen. Der Bewegung liegt, wie wir gesehen
haben, tatsächlich ein Widerspruch zwischen Milieu
und System zugrunde, der beständig reproduziert
wird.« [a.a.O., S. 79]
207
verbunden sind. Die menschliche Gesellschaft — aus
Menschen, der Wald — aus Bäumen und Sträuchern ...
Und hierbei gibt es eine ganze Reihe von Wider¬
sprüchen, Ungereimtheiten, Gegensätzen. Ein absolutes
Gleichgewicht gibt es da nicht. Wenn, streng genom¬
men, kein absolutes Gleichgewicht zwischen dem
Milieu und dem System besteht, so ist ein solches Gleich¬
gewicht auch zwischen den Elementen (Teilen) dieses
Systems selber nicht da.« [a.a.0., S. 79]
209
sich die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft
und die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit aus.«
[a.a.O., S. 126]
»Die menschliche Gesellschaft arbeitet in und an der
Natur als dem Arbeitsgegenstand. Das unterliegt
keinem Zweifel. Aber jene Elemente, die an sich in der
Natur Vorkommen, sind hier mehr oder weniger be¬
ständig da. Sie können daher die Veränderung nicht
erklären. Verändert wird die gesellschaftliche Technik,
die sich natürlich an das anpaßt, was in der Natur vor¬
handen ist ... Ist aber die Technik die veränder¬
liche Größe, und zwar so, daß diese Veränderung
der Technik eine Änderung im Verhältnis zwischen
Natur und Gesellschaft hervorruft, so ist klar, daß
hier auch der Ausgangspunkt für die Analyse der
gesellschaftlichen Veränderungen liegen muß.« [a a O
S. 153]
211
Sprache oder das Denken. Der Überbau ist also der
allgemeinste Begriff.« [a.a. O., S. 238]
»Unter der gesellschaftlichen Ideologie werden wir
das System der Gedanken, Gefühle oder Verhaltungs¬
maßregeln (Normen) verstehen. Dazu gehören folglich
solche Erscheinungen, wie der Inhalt der Wissenschaft
(aber nicht z. B. das Fernrohr oder die Personenorgani¬
sation innerhalb eines chemischen Laboratoriums) und
der Kunst, die Gesamtheit der Normen, der Sitten oder
der Moral usw.
Unter gesellschaftlicher Psychologie werden wir die
nicht systematisierten oder wenig systematisierten
Gefühle, Gedanken und Stimmungen verstehen, die
die gegebene Gesellschaft, Klasse, Gruppe, Profession
usw. aufweist ...« [a.a.O., S. 238ff.]
»Der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen
Psychologie und der Ideologie besteht ... im Grad der
Systematisierung. Die gesellschaftliche Psychologie
tauchte wiederholt in der bürgerlichen Gesellschaft
unter der sehr geheimnisvollen Hülle des sogenannten
>Volksgeistes < oder Zeitgeistes < auf, den man sich in
Wirklichkeit vorstellte als irgendeine gesellschaftliche,
alleinige Seele im buchstäblichen Sinne des Wortes
Jedoch, in solchen Ausdrücken, wie >Zeitgeist< oder
>Volksgeist< steckt ein gewisser Sinn: diese Ausdrücke
deuten mit Recht auf zwei Tatsachen hin, die man
überall und allerorts beobachten kann: 1. darauf, daß zu
jeder gegebenen Zeit eine gewisse herrschende Strö¬
mung von Gedanken, Gefühlen und Stimmungen, eine
herrschende Psychologie vorhanden ist, die dem ganzen
eben der Gesellschaft ihre Färbung verleiht; 2. daß
diese herrschende Psychologie sich ändert, je nach dem
> lar ter er Epoche!, d. h. in unserer Ausdrucks weise,
je, nach den Bedingungen der gesellschaftlichen Ent¬
wicklung.« [a.a.O., S. 240ff.]
212
»Die gesellschaftliche Psychologie ist ein gewisses
Reservoir für die Ideologie. Man kann sie mit einer
Salzlösung vergleichen, aus der sich nach und nach die
Ideologie auskristallisiert. In der Tat, wir haben schon...
gesehen, daß die Ideologie sich durch eine größere
Systematisiertheit ihrer Elemente, d. h. der Gefühle,
Gedanken, Empfindungen, Gestalten usw. auszeichnet.
YY as wird von der Ideologie systematisiert? Sie systema¬
tisiert das, was wenig oder gar nicht systematisiert ist,
d. h. die gesellschaftliche Psychologie. Die Ideologien
sind das Geronnene der gesellschaftlichen Psycho¬
logie.« [a.a.O., S. 247f.]
215
die Produktion selbst. Nämlich welche? Sie beseitigt die
Reibungen, hemmt die Gegensätze, systematisiert und
koordiniert die einzelnen Elemente der Arbeit, oder,
wie man sonst sagt, sie schafft eine bestimmte >Ordnung<
der Arbeit. Dasselbe ist auch auf anderen Gebieten der
Fall. Wir sahen z. B., daß die Moral, die Sitten und ähn¬
liche Normen die Handlungen der Menschen koordi¬
nieren und sie in bestimmten Bahnen festhalten, so daß
die Gesellschaft nicht in ihre Bestandteile auseinander¬
fällt. Und die Wissenschaft? ... Dieses Arbeitsgebiet
weist letzten Endes (wenn von den Naturwissenschaften
die Rede ist) dem Produktionsprozeß die Wege, steigert
seinen Effekt und regelt, ordnet seinen Gang. Und die
Philosophie? Wir haben wiederum gesehen, worin
deren wahre Bedeutung liegt. Die Arbeitsteilung zwi¬
schen den Wissenschaften erzeugt verschiedene Wider¬
sprüche zwischen ihnen. Die Philosophie koordiniert sie,
verleiht ihnen Ordnung und Verbundenheit (oder ver¬
sucht es zu tun).« [a.a.O., S. 263]
»Das Verhältnis zwischen ihnen (Basis-Arbeit und
Überbau-Arbeit) besteht darin, daß die ideologische
Arbeit, als abgeleitete Größe, zugleich ein regulierendes
Prinzip darstellt. In bezug auf die Gesamtheit des gesell¬
schaftlichen Lebens liegt der Unterschied im Unter¬
schied der Funktionen.« [a.a.O., S. 264]
»Dadurch wird auch folgende Frage vollkommen klar,
nämlich die Frage des »umgekehrten Einflusses des
Überbaus auf die ökonomische Basis und die Produktiv¬
kräfte der Gesellschaft!. Der Überbau selbst wird er¬
zeugt durch die ökonomischen Verhältnisse und die
Produktivkräfte, die diese Verhältnisse bestimmen. Aber
beeinflussen sie diese ihrerseits? Nach all dem Gesagten
ist klar, daß sie es tun müssen. Sie können eine Ent¬
wicklungskraft sein, sie können — unter bestimmten
Umstanden - zum Hemmschuh der Entwicklung
214
werden. Aber stets wirken sie, umgekehrt, auch auf die
ökonomische Basis sowie auf den Zustand der Produktiv¬
kräfte. Mit anderen Worten: zwischen den verschiede¬
nen Reihen der gesellschaftlichen Erscheinungen findet
ein stetiger Prozeß der Wechselwirkung statt. Ursache
und Wirkung tauschen die Plätze.« [a.a.O., S. 264]
A. MARTYNOW
215
Zusammensetzung einmal mach der Seite des Werts <
(konstantes plus variables Kapital) und einmal mach
der Seite des Stoffs < (Produktionsmittel und lebendige
Arbeitskraft) auf. Wertzusammensetzung und tech¬
nische Zusammensetzung sei miteinander verbunden
aber nicht identisch.] »In demselben zweifachen Sinne
faßt Marx auch die Produktivkräfte auf. Wenn Marx vor
der Aufgabe steht, eine materialistische Erklärung der
Geschichte zu geben, betrachtet er die Produktivkräfte
von ihrer materiellen, der Natur zugekehrten Seite, und
dann betont er, daß das charakteristischste, das aus¬
schlaggebende Element der Produktivkräfte, die Arbeits¬
werkzeuge,, die Arbeitsmittel sind, die Technik [vgl.
Kapital, Bd. I, S. 389] ... Von diesem materialistischen
Standpunkt aus betrachtet Marx auch den Menschen
den Arbeiter als >Naturgegenstand<, als >Ding<. >Der
Mensch selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft be¬
trachtet, ist ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch
em lebendiges, selbstbewußtes Ding, und die Arbeit
selbst ist dingliche Äußerung jener Kraft [Kapital, Bd.I
S.211]. Von dem gleichen materialistischen Stand¬
punkt ausgehend, stellte Marx auch das Primat der
Produktion in der politischen Ökonomie fest ...«
Es folgt ein Abschnitt aus der Einleitung und
Vorrede zur Kritik der nnliHr,U„ Ai_ •
dialektischen Entwickli
<ung, die Ursache der Entstehung
216
von Widersprüchen zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen klarwerden wollen.
Wenn Marx und Engels die dialektischen Entwick¬
lungsgesetze der Gesellschaft aufdecken und klarstellen
wollen, so betrachten sie die Produktivkräfte von einer
anderen Seite, von derjenigen, die nicht der Natur,
sondern der Gesellschaft zugekehrt ist. In diesem Fall
wird betont, daß auch die Technik selber eine Verding¬
lichung früherer gesellschaftlicher Arbeit ist. In diesem
Falle betont Marx, daß sowohl der Teilarbeiter als auch
der >Gesamtarbeiter< Produktivkräfte sind: Unter allen
Produktionswerkzeugen sei die revolutionäre Klasse
selber die größte Produktivkraft, schrieb Marx. Und
was in diesem Falle von besonderer Wichtigkeit ist —
eine bestimmte Kategorie von Produktionsverhältnissen
wird von Marx ebenfalls in den Begriff Produktiv¬
kräfte auf genommen. Bereits Plechanow hat ... darauf
verwiesen, daß Marx und Engels den Ausdruck Pro¬
duktionsverhältnisse < in zweifachem Sinne gebrauchen:
»Wenn es sich bei ihnen um den grundlegenden Wider¬
spruch handelt, der die gesellschaftliche Entwicklung
vorwärtstreibt, so wird der Ausdruck Produktionsver¬
hältnisse“ von ihnen auch im engeren Sinne der Eigen¬
tumsverhältnisse gebraucht. In anderen Fällen werden
unter den materiellen Existenzbedingungen neuer Pro¬
duktionsverhältnisse (Eigentumsverhältnisse) ... auch
die unmittelbaren Verhältnisse der Produzenten im
Produktionsprozeß verstanden (z. B. die Organisation
der Arbeit in der Fabrik und in der Manufaktur).<
[Plechanow, Gesammelte Werke (russ.), Bd. XI, »Herr
P. Struve als Kritiker der Marxschen Werttheorie«]
Diese letztere Kategorie der Produktionsverhältnisse,
die man als arbeitstechnische Produktionsverhältnisse
(im Unterschied von den AJzgmtunwverhältnissen, den
sozialökonomischen Produktionsverhältnissen) bezeich-
217
nen kann, wird von Marx und Engels ebenfalls in den
Begriff der gesellschaftlichen Produktivkräfte einge¬
schlossen. Im ersten Band des Kapital spricht Marx in
einem Falle von der >aus der Kombination der Arbeiten
entspringenden Produktivkräfte in einem anderen
Falle von Produktivkräften, >die aus der Kooperation
und Teilung der Arbeit< entspringen ... Nunmehr ver¬
stehen wir, in welchem Sinne die Produktivkräfte den
Gegenstand der politischen Ökonomie bilden und in
welchem Sinne sie es nicht sind: im Sinne der Technik
sind sie nicht Gegenstand der Politökonomie, im Sinne
aber der arbeitstechnischen Produktionsverhältnisse der
Menschen sind sie es selbstverständlich. Die Entwick¬
lungsgeschichte der Technik — Handmühlen — Wind¬
mühlen — Dampfmühlen —, das alles gehört zur
Geschichte der Technologie; Handwerk, Kooperation,
Manufaktur, Fabrik — das alles gehört in die politische
Ökonomie, wovon auch die entsprechenden Kapitel des
ersten Bandes des Kapital von Marx zeugen «
[a.a.O., S. 104ff.]
219
Fragestellung/iAh es an der von der Dialektik geforder¬
ten Einheit der Widersprüche. Nach Marx und Engels
aber bedeutet der Widerspruch zwischen Produktiv¬
kräften und Produktionsverhältnissen einen Wider¬
spruch zwischen zwei Arten von Produktionsverhält¬
nissen, d. h. einen inneren Widerspruch in den Produk¬
tionsverhältnissen der Gesellschaft.« [a.a.O., S. 109]
»Die Einheit der Gegensätze kommt in der Marxschen
Formulierung ferner darin zum Ausdruck, daß die
sozialökonomischen Produktionsverhältnisse einer be¬
stimmten Entwicklungsstufe der arbeitstechnischen
Produktionsverhältnisse entsprechen. Doch diese Ein¬
heit verwandelt sich in ihren Gegensatz, wenn die
sozialökonomischen Produktionsverhältnisse aus einer
Entwicklungsform der arbeitstechnischen Produktions¬
verhältnisse zu ihren Fesseln werden.« [a.a.O., S. 110]
»Es wächst die Technik, in engem Zusammenhang
und parallel mit ihr wachsen und entfalten sich die
arbeitstechnischen Produktionsverhältnisse, d. h. es
entwickelt sich der Vergesellschaftungsprozeß der
Arbeit. Diese zunehmende Vergesellschaftung der
Arbeit ist es, die in immer größeren Widerspruch zu
den sozialökonomischen kapitalistischen Produktions¬
verhältnissen gerät, bis endlich die kapitalistische Hülle
geprengt wird. In diesem Bild tritt sowohl die materiali¬
stische Seite des Prozesses — die Entwicklung der
lechnik — als seine Grundlage klar zutage, als auch im
gleichen Maße seine dialektische Seite — die inneren
Widersprüche der Produktionsverhältnisse — als trei¬
bende Kraft. Dieses ganze Bild ist bei Bucharm ver-
cunkelt und entstellt, denn er hat die Marxsche Dia¬
lektik den zweifachen Charakter der Produktivkräfte
mc t egriffen, hat sie einseitig mechanistisch ausge¬
legt. Dieses Nichtverstehen des dialektischen Charak-
ers er Wechselbeziehungen zwischen Produktiv-
220
kräften und Produktionsverhältnissen war es, das ihn
genötigt hat, in Gestalt der mechanistischen Theorie
des labilen Gleichgewichts der Gesellschaft ein Surrogat
der Marxschen geschichtlichen Entwicklungstheorie zu
schaffen.« [a.a.O., S. 110f.]
GEORG LUKÄCS
221
Ich habe im Jahre 1930 die Ökonomisch-philosophi¬
schen Manuskripte des jungen Marx noch vor ihrer
Veröffentlichung studiert und habe dadurch die rich¬
tige Einsicht in diese Problemlage errungen. Seitdem
bemühe ich mich stets, die Leser von Geschichte und
Klassenbewußtsein vor dem prinzipiellen Fehler dieses
Werkes zu warnen. Leider hat auch die Veröffentli¬
chung des Marxschen Jugendwerkes wenig genutzt;
überwiegend wird es hegelisch interpretiert, statt als
fundamentale Kritik dieser Konzeption Hegels zu die¬
nen. Ich selbst habe im letzten Kapitel meines Buches
über den jungen Hegel (Zürich 1948) diesen Tatbe¬
stand zu klären versucht. Ich muß also auch hier die
alte Warnung wiederholen: wer die Hegelsche Auffas¬
sung nicht wie Marx kritisiert und kritisch überwin¬
det, gerät in dieselbe theoretische Sackgasse, in die
seinerzeit Geschichte und Klassenbewußtsein geraten ist.«
225
tischen Subjekt-Objekt aus jede Gegebenheit als Produkt
dieses identischen Subjekt-Objekts, jede Zweiheit als
abgeleiteten Spezialfall dieser Ureinheit zu begreifen.«
[a.a.O., S. 135 f.]
»Wie wenig es sich hier — wie überall in der klassi¬
schen Philosophie — um reine Gelehrtenkämpfe han¬
delt, zeigt sich am klarsten, wenn wir ... dieselbe Frage
auf einer gedanklich weniger durchgearbeiteten, sach¬
lich jedoch dem gesellschaftlichen Lebensgrund näher¬
liegenden und darum konkreteren Stufe betrachten.
Plechanow hebt sehr scharf die gedankliche Schranke
des Weltbegreifens, an die der bürgerliche Materialis¬
mus des 18. Jahrhunderts gestoßen wurde, hervor:
einerseits erscheint der Mensch als Produkt des sozialen
Milieus, andererseits wird >das soziale Milieu durch
die ,öffentliche Meinung1 erzeugt, d. h. durch den
Menschern. Die Antinomie, die uns in dem — schein¬
bar — rein erkenntnistheoretischen Problem der
Erzeugung, in der systematischen Frage nach dem
Subjekt der >Tathandlung<, nach dem >Erzeuger< der
einheitlich erfaßten Wirklichkeit entgegentrat, offen¬
bart hier ihre gesellschaftliche Grundlage ...« [a.a.O.,
S. 148 f.]
224
sich ... nunmehr konkret auf die Frage der dialekti¬
schen Methode. In ihr erhält die Forderung des intuiti¬
ven Verstandes (der methodischen Überwindung des
rationalistischen Erkenntnisprinzips) eine klare, objek¬
tive und wissenschaftliche Gestalt ...« [a.a.O., S. 156]
»Mit dieser Einstellung [Hegels], in der die beiden
Hauptmomente der Ding-an-sich-Irrationalität, die
Konkretheit des Einzelinhalts und die Totalität nun¬
mehr positiv gewendet in ihrer Einheit erscheinen,
ändert sich zugleich die Beziehung von Theorie und
Praxis und mit ihr die von Freiheit und Notwendigkeit.
Das von uns selbst Gemachte der Wirklichkeit verliert
hier sein sonst mehr oder weniger fiktionsartiges
Wesen: wir haben — nach dem ... prophetischen Wort
von Vico — unsere Geschichte selbst gemacht und
wenn wir die ganze Wirklichkeit als Geschichte (also als
unsere Geschichte, denn eine andere gibt es nicht) zu
betrachten imstande sind, so haben wir uns tatsächlich
zu dem Standpunkt erhoben, wo die Wirklichkeit als
unsere >Tathandlung< aufgefaßt werden kann. Das
Dilemma der Materialisten hat seinen Sinn verloren,
denn es enthüllt sich als rationalistische Beschränktheit,
als Dogmatismus des formalen Verstandes, nur in
unseren bewußten Handlungen unsere Taten zu er¬
kennen und die von uns selbst geschaffene Umwelt der
Geschichte, das Produkt des Geschichtsprozesses als uns
fremdgesetzlich beeinflussende Wirklichkeit aufzu¬
fassen. Hier jedoch ... erhebt sich erneut, jetzt aber ganz
konkret die entscheidende Frage dieses Denkens: die
Frage nach dem Subjekt der Tathandlung, der Genesis.
Denn die >Einheit von Subjekt und Objekt<, von Denken
und Sein, die die >Tathandlung< nachzuweisen und auf¬
zuzeigen unternahm, hat tatsächlich ihren Erfüllungs¬
ort und ihr Substrat in der Einheit von Genesis der
Gedankenbestimmungen und Geschichte des Werdens der
225
Wirklichkeit. Diese Einheit kann aber nur dann als be¬
griffene Einheit gelten, wenn in der Geschichte nicht
bloß auf den methodischen Ort der Auflösbarkeit all
dieser Probleme hingewiesen wird, sondern das >Wir<,
das Subjekt der Geschichte, jenes >Wir<, dessen Hand¬
lung die Geschichte wirklich ist, konkret aufgezeigt
werden kann.
An diesem Punkte hat aber die klassische Philosophie
kehrt gemacht und sich ins ausweglose Labyrinth der
Begriffsmythologie verirrt ...« [a.a.O., S. 160f.]
»Hegel, der in jeder Beziehung den Gipfelpunkt dieser
Entwicklung repräsentiert, hat auch dieses Subjekt [der
Tathandlung] in der ernsthaftesten Weise gesucht.
Das >Wir<, das er zu finden vermochte, ist bekanntlich
der Weltgeist, oder besser gesagt sind seine konkreten
Gestalten, die einzelnen Volksgeister ... [Aber] selbst,
wenn alle Voraussetzungen Hegels kritiklos zugegeben
würden, wäre dieses Subjekt [nicht imstande], die ihm
zugewiesene, methodisch-systematische Funktion [auch
vom Standpunkt Hegels] ... zu erfüllen. Denn der
Volksgeist kann auch für Hegel nur eine >natürliche<
Bestimmtheit des Weltgeistes sein, d. h. eine, >welche
erst in dem höheren Momente, nämlich im Bewußtsein
über ihr Wesen, die Beschränkung auszieht und nur in
diesem Erkennen ihre absolute Wahrheit hat, nicht
aber unmittelbar in ihrem Sein.< {Werke, Bd. II, S. 267)
Daraus folgt vor allem, daß der Volksgeist nur scheinbar
das Subjekt der Geschichte, der Täter seiner Taten ist-
es ist vielmehr der Weltgeist, der ... durch es, über es
hinweg, seine Taten vollführt. So wird aber das Tun für
den Tater selbst transzendent, und die scheinbar errun¬
gene Freiheit verwandelt sich unversehens in jene fiktive
reihen der Reflexion über die einen selbst bewegenden
Gesetze, die der geworfene Stein des Spinoza haben
wurde, wenn er ein Bewußtsein hätte.« [a. a. O., S. 161 f.]
226
Hegels Erklärung für diesen Sachverhalt durch die
>List der Vernunft< könne aber >nur dann mehr als eine
Mythologie sein, wenn die wirkliche Vernunfu aufgefun¬
den und aufgezeigt werde.
227
zuweisen begann, die dialektische Methode als Methode
der Geschichte ist jener Klasse Vorbehalten geblieben, die
das identische Subjekt-Objekt, das Subjekt der Tathand¬
lung, das >Wir< der Genesis von ihrem Lebensgrund aus
in sich selbst zu entdecken fähig war: dem Proletariats.«
[a. a.O.j
251
einer mechanisch-kausalen keineswegs identisch. Im
Anschluß an die eben angeführte Stelle sagt Marx: die
Arbeiterklasse >hat nur die Elemente der neuen Gesell¬
schaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß
der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft ent¬
wickelt habeno Zu dem bloßen Widerspruch — dem
automatisch-gesetzmäßigen Produkt der kapitalisti¬
schen Entwicklung — muß also etwas Neues hinzu¬
treten-. das zur Tat werdende Bewußtsein des Prole¬
tariats. Indem aber sich dadurch der bloße Widerspruch
zum bewußt-dialektischen Widerspruch erhöht, indem
das Bewußtwerden zum praktischen Über gangspunkt
wird, zeigt sich die bereits öfter erwähnte Wesensart
der proletarischen Dialektik abermals konkreter: da
das Bewußtsein hier nicht das Bewußtsein über einen
ihm gegenüberstehenden Gegenstand, sondern das
Selbstbewußtsein des Gegenstandes ist, umwälzt der Akt
des Bewußtwerdens die Gegenständlichkeitsform seines
Objekts.« [a.a.O., S. 194f.]
»Erscheint nun — hegelisch gesprochen — das
Werden als die Wahrheit des Seins, der Prozeß als die
Wahrheit der Dinge, so bedeutet dies, daß den Entwick¬
lungstendenzen der Geschichte eine höhere Wirklichkeit
zukommt als den Tatsachen< der bloßen Empirie «
[a.a.O., S. 198]
»Methodisch ist dieser Wirklichkeitsunterschied zwi¬
schen /Tatsache < und Tendenz von Marx an unzähligen
Stellen in den Vordergrund der Betrachtung gehoben
worden Ist doch bereits der methodische Grundgedanke
seines Hauptwerks, die Rückverwandlung der ökonomi¬
schen Gegenstände aus Dingen in prozeßartig sich
wandelnde konkrete Beziehungen zwischen Menschen
auf diesen Gedanken aufgebaut. Daraus folgt aber
weiter, daß die methodische Priorität, die Stelle im
System (als ursprünglich oder abgeleitet) den einzelnen
252
Formen des ökonomischen Aufbaues der Gesellschaft je
nachdem zukommt, wieweit sie von diesem Moment
der Rückverwandelbarkeit entfernt sind. Darauf grün¬
det sich die Priorität des industriellen Kapitals vor
Handelskapital,Geldhandelskapitalusw.« [a. a. O.,S.200]
Allein das Proletariat ist als Klasse imstande, die höhere
Wirklichkeit dieser >Tendenzen< zu erfassen, da deren
>Sinn< die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft ist
und das Funktionieren der Gesetzmäßigkeiten der Waren¬
gesellschaft die Bewußtlosigkeit der Agenten zur Voraus¬
setzung hat.
235
Sprüche der Gesamtentwicklung, durch Bewußtwerden
des immanenten Sinnes dieser Widersprüche für die
Gesamtentwicklung die verdinglichte Struktur des
Daseins praktisch zu durchbrechen. Dabei muß fol¬
gendes festgehalten werden: 1. daß dieser Durchbruch
nur als Bewußtwerden der immanenten Widersprüche
des Prozesses selbst möglich ist. Nur wenn das Bewußt¬
sein des Proletariats jenen Schritt zu zeigen imstande
ist, dem die Dialektik der Entwicklung objektiv zu-
drängt, ohne ihn jedoch kraft der eigenen Dynamik
leisten zu können, erwächst das Bewußtsein des Prole¬
tariats zum Bewußtsein des Prozesses selbst, erscheint
das Proletariat als das identische Subjekt-Objekt der
Geschichte, wird seine Praxis ein Verändern der Wirk¬
lichkeit. Vermag das Proletariat diesen Schritt nicht zu
tun, so bleibt der Widerspruch ungelöst und wird auf
erhöhter Potenz, in veränderter Gestalt, mit gesteiger¬
ter Intensität von der dialektischen Mechanik der Ent¬
wicklung reproduziert. Darin besteht die ökonomische
Notwendigkeit des Entwicklungsprozesses. Die Tat des
Proletariats kann also stets nur die konkret-praktische
Durchführung des nächsten Schrittes der Entwicklung
sein. Ob dies nun ein entscheidender« oder ein >episo^
discher« Schritt ist, hängt von den konkreten Umständen
ab ... Damit steht 2. in unaufhebbarem Zusammen¬
hang, daß die Totalitätsbeziehung sich durchaus nicht
darin auszudrücken braucht, daß ihre extensiv-inhalt¬
liche Fülle in die Motive und Objekte des Handelns be-
wußt einbezogen wird. Es kommt auf die Intention auf
Totalität an, darauf, daß das Handeln die - oben beschrie¬
bene - Funktion in der Totalität des Prozesses erfüllt
ier kommt eben praktisch zur Geltung, daß in der
dialektischen Totalität die Einzelmomente die Struktur
des Ganzen an sich tragen. Äußerte sich dies theore¬
tisch darin, daß etwa aus der Warenstruktur die Er-
234
kenntnis der ganzen bürgerlichen Gesellschaft ent¬
wickelt werden konnte, so zeigt sich jetzt derselbe
struktive Tatbestand darin, daß praktisch von der Ent¬
scheidung in einem — scheinbar geringfügigen Anlaß
das Schicksal einer ganzen Entwicklung abhängen kann.
Darum kommt es 3. bei der Beurteilung der Richtig¬
keit oder Falschheit eines Schrittes auf diese funktio¬
nelle Richtigkeit oder Falschheit in bezug auf die
Gesamtentwicklung an. Das proletarische Denken ist
als praktisches Denken stark pragmatisch. >The proof of
the pudding is in the eating< ... Dieser Pudding ist
aber die Konstituierung des Proletariats zur Klasse: das
Praktisch-zur-Wirklichkeit-Werden seines Klassenbe¬
wußtseins. Der Standpunkt, daß das Proletariat das
identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses ist,
d. h. das erste Subjekt im Laufe der Geschichte, das
eines adäquaten gesellschaftlichen Bewußtseins (objek¬
tiv) fähig ist, erscheint damit in konkreter Gestalt. Es
erweist sich nämlich, daß die objektiv gesellschaftliche
Lösung der Widersprüche, in denen sich der Antagonis¬
mus der Entwicklungsmechanik äußert, nur dann
praktisch möglich ist, wenn diese Lösung als neue,
praktisch errungene Bewußtseinsstufe des Proletariats
erscheint. Die funktionelle Richtigkeit oder Falschheit
der Handlung hat also ihr letztes Kriterium in der Ent¬
wicklung des proletarischen Klassenbewußtseins. Das
eminent praktische Wesen dieses Bewußtseins äußert
sich also 4. darin, daß das adäquate, richtige Bewußtsein
ein Verändern seiner Objekte, in erster Reihe seiner
selbst, bedeutet.« [a.a.O., S. 216ff.]
235
KARL KORSCH
237
setzen. Karl Marx setzt sich stattdessen als Ziel die
238
Sophien leere Hirnwebereien sind) ist es wesentlich, daß
er solche geistige Gebilde, wie die Philosophie und jede
andere Ideologie, vor allem einmal als Wirklichkeiten
theoretisch auffaßt und praktisch behandelt. Mit dem
Kampf gegen die Wirklichkeit der Philosophie haben
M. und E. in ihrer ersten Periode ihre gesamte revolu¬
tionäre Tätigkeit begonnen, und wir werden zeigen, daß
sie später zwar ihre Ansicht über das Verhältnis der
philosophischen Ideologie zu anderen Ideologien inner¬
halb der ideologischen Gesamtwirklichkeit radikal ge¬
ändert, dabei aber niemals aufgehört haben, alle Ideo¬
logien und also auch die Philosophie als reale Wirklich¬
keiten und durchaus nicht als leere Hirngespinste zu
' behandeln.« [a.a.O., S. 92]
»... Noch heute faßt wohl die Mehrzahl der marxisti¬
schen Theoretiker die Wirklichkeit aller sogenannten
geistigen Tatsachen in rein negativem, durchaus ab¬
straktem und undialektischem Sinn auf, statt auch auf
diesen Teil der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit
die von M. und E. eingeschärfte, einzig materialistische
und daher wissenschaftliche Methode folgerichtig anzu¬
wenden. Statt neben dem sozialen und politischen
Lebensprozeß auch den geistigen, neben dem gesell¬
schaftlichen Sein und Werden im weitesten Sinn des
Wortes (Ökonomie, Politik, Recht usw.) auch das ge¬
sellschaftliche Bewußtsein in seinen verschiedenen
Erscheinungsformen als wirklichen, wenn auch ideellen
(oder ideologischem) Bestandteil der gesellschaftlichen
Gesamtwirklichkeit zu begreifen, erklärt man in gänz¬
lich abstrakter und im Grunde geradezu metaphysisch¬
dualistischer Weise alles Bewußtsein für einen völlig
unselbständigen oder doch nur relativ selbständigen,
letzten Endes aber unselbständigen Reflex des eigent¬
lichen allein wirklichen, materiellen Entwicklungs¬
prozesses.« [a.a.O., S. 100f.]
239
Der präzise marxistische Ideologiebegriff:
240
tischen und praktischen Gesellschaftskritik von M. und
E. ... Die Kritik der politischen Ökonomie rückt ...
theoretisch wie praktisch an die erste Stelle. Aber auch
diese tiefere und radikalere Erscheinungsform der
theoretisch und praktisch revolutionären Gesellschafts¬
kritik M.’ens hört deshalb keineswegs auf, eine Kritik
der ganzen bürgerlichen Gesellschaft und also auch
aller ihrer Bewußtseinsformen zu sein.« [a.a.O.,
S. 103 ff.]
241
Mißverständnissen sogar in hohem Grade Vorschub
geleistet haben. Von aller Philosophie abgesehen ist es
aber ganz klar, daß ohne dieses für jede, auch die
marxistisch-materialistische Dialektik charakteristische
Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirklichkeit,
welches bewirkt, daß auch die materiellen Produk¬
tionsverhältnisse der kapitalistischen Epoche das, was
sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewußtseins¬
formen sind, in denen sie sich sowohl im vorwissen¬
schaftlichen als auch im (bürgerlich) wissenschaftlichen
Bewußtsein dieser Epoche widerspiegeln, und ohne
diese Bewußtseinsformen in Wirklichkeit nicht be¬
stehen könnten, eine Kritik der politischen Ökonomie nie
und nimmer zu dem wichtigsten Bestandteil einer Theorie
der sozialen Bevolution hätte werden können. Woraus
dann freilich umgekehrt auch folgt, daß für solche mar¬
xistische Theoretiker, für die der Marxismus nicht mehr
wesentlich eine Theorie der sozialen Revolution war,
ganz konsequent auch jene dialektische Auffassung
über das Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirk¬
lichkeit überflüssig werden und ihnen infolgedessen
schließlich auch theoretisch falsch ... scheinen mußte «
[a.a.O., S. 106ff.]
»Für die nicht abstrakt-naturalistische, sondern viel¬
mehr dialektisch und daher einzig wissenschaftliche
Methode des M.E.'sehen Materialismus steht dagegen
sowohl das vorwissenschaftliche und außerwissen-
schafthche, als auch das wissenschaftliche Bewußtsein
der natürlichen und erst recht der geschichtlich-gesell¬
schaftlichen Welt nicht mehr selbständig gegenüber,
sondern als ein realer, wirklicher, »wenn auch geistig-
ideellem Teil dieser Welt in dieser Welt mitten darin.
lerin liegt die erste spezifische Differenz zwischen der
materialistischen Dialektik von M. E. und der ideali¬
stischen Dialektik Hegels, der zwar einerseits auch
242
schon erklärt hatte, daß das theoretische Bewußtsein
des Individuums über seine Zeit, seine gegenwärtige
Welt nicht >hinausspringen< könne, der aber anderer¬
seits doch noch viel mehr die Welt in die Philosophie,
als die Philosophie in die Welt hineingestellt hatte. Mit
dieser ersten Differenz ... hängt eine zweite aufs engste
zusammen: >Die kommunistischen Arbeiter — sagt
M. ... in der Heiligen Familie — wissen sehr gut, daß
Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit und dergleichen
durchaus keine ideellen Hirngespinste, sondern sehr
praktische, sehr gegenständliche Erzeugnisse ihrer
Selbstentfremdung sind, die also auch auf eine prak¬
tische, gegenständliche Weise aufgehoben werden
müssen, damit nicht nur im Denken, im Bewußtsein,
sondern im (massenhaften) Sein, im Leben der Mensch
zum Menschen werde.< In diesem Satze ist mit voller
materialistischer Klarheit ausgesprochen, daß infolge
des unzerreißbaren Zusammenhanges aller wirklichen
Erscheinungen im ganzen der bürgerlichen Gesellschaft
auch deren Bewußtseinsformen durch das Denken allein
nicht aufgehoben werden können. Diese gesellschaft¬
lichen Bewußtseinsformen können vielmehr auch im
Denken, auch im Bewußtsein nur aufgehoben werden
unter gleichzeitiger -praktisch-gegenständlicher Um¬
wälzung der in diesen Formen bisher begriffenen materi¬
ellen Produktionsverhältnisse selbst...« [a. a. 0.,S.112£.]
»Nicht bloß für die im engeren Sinne ökonomischen
Bewußtseinsformen, sondern für alle gesellschaftlichen
Bewußtseinsformen überhaupt gilt der M.’sche Satz,
daß sie durchaus keine Hirngespinste sind, sondern
>seh.r praktische, sehr gegenständlichem gesellschaftliche
Wirklichkeiten, die also auch >auf eine praktisch¬
gegenständliche Weise aufgehoben werden müssenc
Nur von jenem naiv metaphysischen Standpunkt des
gesunden Menschenverstandes aus, der das Denken
243
dem Sein als etwas Selbständiges entgegenstellt ...
kann die Meinung aufrechterhalten werden, daß zwar
die ökonomischen Bewußtseinsformen ... eine gegen¬
ständliche Bedeutung hätten, da ihnen eine Wirklich¬
keit (die ... der durch sie begriffenen Produktionsver¬
hältnisse) entspräche, alle höheren Vorstellungsweisen
aber bloße gegenstandslose Hirn Webereien wären, die
sich nach der Umwälzung der ökonomischen Struktur
der Gesellschaft und der Aufhebung ihres juristischen
und politischen Überbaus von selbst in das Nichts auf-
lösen würden, was sie im Grunde auch jetzt schon sind.
Auch die ökonomischen Vorstellungen stehen zur
Wirklichkeit der materiellen Produktionsverhältnisse
nur scheinbar im Verhältnis eines Bildes zu dem abge¬
bildeten Gegenstand, in Wirklichkeit aber in dem Ver¬
hältnis, in welchem ein besonderer, eigentümlich be¬
stimmter Teil eines Ganzen zu den anderen Teilen
dieses Ganzen steht ...« [a.a.O., S. 115f.]
Das gleiche gelte für die juristischen und politischen
Vorstellungen und endlich auch für Kunst, Religion und
Philosophie:
»Wenn wir bei diesen Vorstellungen scheinbar keinen
Gegenstand mehr antreffen, den sie, richtig oder ver¬
kehrt, abbilden könnten, so sind wir uns doch anderseits
schon darüber klargeworden, daß auch die ökonomi¬
schen, politischen, juristischen Vorstellungen einen
besonderen, selbständig für sich bestehenden, von allen
Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft isolierten
Gegenstand durchaus nicht besitzen, sondern daß es eine
abstrakte und ideologische bürgerliche Vorstellungs¬
weise ist, wenn wir ihnen solche Gegenstände gegen¬
überstellen. Auch sie drücken nur, in ihrer besonderen
If eise, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft aus. Und
ebenso tut dies die Kunst, die Religion und die Philo¬
sophie. Sie alle zusammen bilden die geistige Struktur
244
der bürgerlichen Gesellschaft, welche der ökonomi¬
schen Struktur dieser Gesellschaft entspricht ...«
[a.a.O., S. 116f.]
245
Wortes >auf den Kopf gestellte Für K. bildet umge¬
kehrt ... die gesamte Entwicklung der historischen
Zeit< im Vergleich zur Entwicklung der Menschheit und
gar der gesamten Natur nur >eine abnorme Episode<,
die im Widerspruch steht zu dem überwiegenden Teil
des bisherigen Daseins des Menschengeschlechtes (II,
S. 843). Und auch in dieser >abnormen Episode< bildet
bei K. nicht ... die materielle Produktionsweise die
Basis ... für die Entwicklung der menschlichen Gesell¬
schaft. Vielmehr ist — ... >die Entwicklung der ,mate¬
riellen Produktivkräfte' im Grunde nur ein anderer
Name für die Entwicklung des Wissens von der
Natur< ... In dieser gegenständlichen Auffassung des
Verhältnisses von Natur und Gesellschaft, Geschichte
und »Naturgeschichte< besteht der wichtigste Gegensatz
zwischen dem naturwissenschaftlichen Materialismus
Kautskys und der materialistischen Geschichtsauffassung
von M. und E. ... Während M. und E. auch die natur¬
wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich unter dem
Gesichtspunkt der daraus zu gewinnenden materiali¬
stischen Einsicht in die geschichtliche Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft betrachten, bildet für K. um¬
gekehrt die gesamte menschliche Geschichte im Grunde
genommen nur eine — Anwendung der in dem weiten
Keich des Kosmos allenthalben waltenden natürlichen
Gesetzlichkeit. Und er zieht aus dieser Auffassung auch
ie Konsequenz, indem er schon rein quantitativ in der
Verteilung seines Stoffes, aber ebenso auch qualitativ in
seiner durchgehenden Gesamtauffassung aller Fragen
das Hauptgewicht nicht auf jene vorübergehende
»Anomalie< legt, die man menschliche Gesellschaft be¬
zeichnet ..., sondern natürlich auf die viel größeren
Zeitramne der dieser »historischen Zeit< vorhergehenden
rgeschichte und Naturgeschichte. Gerade in dieser
natur- und urgeschichtlichen »Erweiterung dermateria-
246
iistischen Geschichtsauffassung sieht K. die eigentliche,
über die von M. und E. gegebenen Ansätze weit hinaus¬
gehende wissenschaftliche Leistung seiner materiali¬
stischen Geschiehtsauffassungc« [a.a.O., S. 199ff.]
ANTONIO GRAMSCI
247
gelingt es auf die eine oder andere Weise, selbst in der
Form des philosophischen Romans < zu verstehen, was
die PFirklichkeit ist. Das heißt, man hat hier in einem
System und bei einem einzigen Philosophen jenes
Bewußtsein der Gegensätze, das vorher nur aus der
Betrachtung der Gesamtheit der Systeme hervorgehen
konnte, aus der Gesamtheit der miteinander polemi¬
sierenden und wechselseitig ihre Widersprüche auf¬
zeigenden Philosophen. In einem bestimmten Sinne ist
also die Philosophie der Praxis eine Reform und eine
PFeiterentwicklung der Hegelschen Philosophie, sie ist
(oder sucht zu sein) eine von allen einseitigen, phanta¬
stischen ideologischen Elementen befreite Philosophie,
d. h. das volle Bewußtsein der Gegensätze, in dem der
Philosoph — als Individuum oder ganze soziale Gruppe
nicht nur die Gegensätze versteht, sondern sich
selbst als Element des Gegensatzes setzt und dieses
Element auf ein bewußtes Niveau erhebt und damit in
Aktion überführt.« [a.a.O., S. 101 f.]
249
Wert besitzt (Historizität aller Welt- und Lebensauf¬
fassungen), ist es sehr schwer, praktisch verständlich zu
machen, daß eine derartige Interpretation auch für die
Philosophie der Praxis selbst gilt, ohne doch die Über¬
zeugungen zu erschüttern, die für die Handlung not¬
wendig sind.
Das ist übrigens eine Schwierigkeit jeder historisti-
schen Philosophie: ihrer bedienen sich auch die Pole¬
miker zu herabgesetzten Preisen (besonders Katholiken),
um in ein und derselben Person den >Wissenschaftler<
dem >Demagogen<, den >Philosophen< dem >Mann der
Tat< gegenüberzustellen usw., und um daraus zu fol¬
gern, daß der Historismus notwendiger Weise zu morali¬
schem Skeptizismus und Sittenverderbnis führen
müsse ... Aus diesem Grunde ist der Übergang vom
Reich der Freiheit ins Reich der Notwendigkeit zu
analysieren und mit viel Feinheit und Delikatesse zu
erarbeiten ...« [a.a.O., S. 103]
251
Als Beispiel führt Gramsci die dogmatische Kontroverse
zwischen Rom und Byzanz an, deren inhaltliche Aussage
man niemals auf die Basis zurückführen könnte, die aber
formell aus dem Bedürfnis der Distinktion von der ande¬
ren Gruppe und gleichzeitig dem Zusammenhalt der
eignen erklärlich sei.
252
»Man sucht im >gemeinverständlichen Lehrbuch < ver¬
geblich ein Expose der Dialektik. Die Dialektik wird als
gegeben vorausgesetzt und absurder Weise nicht dar¬
gelegt ...
Die Abwesenheit eines Exposes über Dialektik kann
zwei Ursachen haben: die erste könnte das Faktum sein,
daß man die Philosophie der Praxis in zwei Elemente
aufteilt: in eine Theorie der Geschichte und der Politik
als Soziologie, die man nach der Methode der Natur¬
wissenschaft konstruieren müßte; und eine Philosophie
im eigentlichen Sinn des Wortes, die nichts andres als
der philosophische oder metaphysische oder mechani¬
sche (vulgäre) Materialismus wäre. Selbst nach der
großen Diskussion über den Mechanizismus [in der
Sowjetunion] scheint der Verfasser des Lehrbuchs das
Problem nicht wesentlich anders zu stellen, wie sein
Beitrag auf dem Internationalen Kongreß der Wissen¬
schaftsgeschichte (in London, 1929) beweist. Für ihn
zerfällt die Philosophie der Praxis noch immer in zwei
Teile: die Lehre von Geschichte und Politik und die
Philosophie, die er allerdings dialektischen Materialis¬
mus nennt ... Wenn man die Frage so stellt, versteht
man die Bedeutung und den Sinn der Dialektik nicht
mehr, die damit aus einer Erkenntnistheorie und Zell¬
substanz der Historiographie und Politikwissenschaft auf
das Niveau eines Unterabschnitts der formalen Logik,
auf eine Elementarscholastik herabgebracht wird. Funk¬
tion und Bedeutung können in ihrem wesentlichen Teil
nur verstanden werden, wenn die Philosophie der
Praxis als eine integrale und originale Philosophie ver¬
standen wird, die den Anfang einer neuen Phase der
Geschichte und der weltweiten Entwicklung des
Denkens bildet, insofern sie ebenso über den Idealismus
wie über den traditionellen Materialismus hinausgeht
(und im Hinausgehen deren wertvollste Elemente ab-
253
sorbiert), die Ausdrucksformen der alten Gesellschaften
waren ...« [a.a.O., S. 137ff.]
»Die Wurzel aller Irrtümer des Lehrbuchs und seines
Autors ... ist genau jene Prätention, die Philosophie der
Praxis in zwei Teile aufspalten zu wollen ... Von der
Theorie der Geschichte und der Politik losgelöst, kann
die Philosophie nicht anders als metaphysisch sein,
während die große Eroberung der modernen Philo¬
sophiegeschichte, wie sie durch den Marxismus reprä¬
sentiert wird, gerade in der konkreten Historisierung
der Philosophie und in ihrer Identifikation mit der
Geschichte besteht.« [a.a.O., S. 139f.]
»Die Philosophie des Lehrbuchs (die in ihr implicite
enthaltene) kann man einen positivistischen Aristote-
lismus nennen, eine Anpassung der formalen Logik an
die Methoden der physikalischen und Naturwissen¬
schaften. Das Kausalitätsgesetz, die Erforschung der
Regelmäßigkeiten, der Normalitäten, der Uniformität
werden der historischen Dialektik substituiert. Wie aber
kann man aus dieser Auffassung der Dinge ein Über¬
schreiten, eine Umwälzung der Praxis ableiten? Der
Effekt kann auf mechanische Weise niemals über die
Ursache oder das System der Ursachen hinausgehen,
und man kann daher auch keine anderen Perspektiven
aufstellen, als die platte, vulgäre Entwicklung des
Evolutionismus. Wenn der spekulative Idealismus<
eine Wissenschaft der apriorischen Kategorien und
Synthesen des Geistes ist, d. h. eine Form der anti-
historischen Abstraktion, dann ist die Philosophie, die
implicite im Lehrbuch enthalten ist, ein Idealismus mit
umgekehrtem Vorzeichen, in dem Sinne, daß hier
empirische Begriffe und Klassifikationen die spekulativen
Kategorien ersetzen, die ebenso abstrakt und antihisto-
risch sind wie jene ...« [a.a.O., S. 141]
254
Wie Martynow (S. 135) wirft auch Gramsci Bucharin
vor, daß er die Produktivkräfte mit der Produktions¬
technik identifiziert; noch schärfer als Martynow weist
Gramsci die einseitige Orientierung an der Technik zu¬
rück und betont, daß zum Beispiel Wissenschaften wie
die Geologie und erst recht die Mathematik in ihrem
Fortschritt weithin von den Techniken unabhängig waren.
Die Fehler Bucharins werden mit denjenigen Achille
Lorias verglichen, die schon Croce zurückgewiesen hat.
255
WELTANSCHAUUNG
(Dialektischer Materialismus)
256
den fasziniert war. Plechanow weist zwar energisch auf
die Bedeutung der Materialisten des 18. Jahrhunderts und
die Überlegenheit des Marx-Engelsschen dialektischen
Materialismus hin, aber sein Interesse liegt doch so viel
mehr auf historischem Gebiet, daß er für die allgemeine
Lehre des >Diamat< nicht viel hergibt. Erst Lenin trägt
wieder zum Ausbau dieses Systembestandteils bei. Sein
philosophisches Hauptwerk< von 1908 (Materialismus
und Empiriokritizismus) werden wir ausführlich im
nächsten Abschnitt kennenlernen, der den erkenntnis¬
theoretischen Diskussionen gewidmet ist. Hier muß vor
allem auf seine Bemühung hingewiesen werden, das
>Erbe Hegels< für eine wirklich dialektische Deutung der
Resultate der modernen Naturwissenschaften fruchtbar
zu machen, die ja inzwischen hier und da selbst auf eine
dialektische Deutung< hindrängten. Lenin hat bereits
recht früh erkannt, daß eine dialektische Weltanschau-
ungslehre aus der >Überwindung< der mechanistischen
Physik Kapital schlagen könnte, und er ahnte umgekehrt
auch, daß die theoretischen Schwierigkeiten des moder¬
nen physikalischen Weltbildes idealistischen Weltan¬
schauungen gewisse Chancen bieten. Eine Rückbesinnung
auf Hegel sollte den Alaterialisten helfen, in dieser Aus¬
einandersetzung überlegen zu bleiben.
257
düng auf die Wissenschaft in der Sowjetunion) ziemlich
fernzuliegen; B. M. Kedrow zum Beispiel, ein be¬
kannter sowjetischer Philosoph, konnte, als ihn ein west¬
licher Marxist fragte, ob seine intensive Beschäftigung
mit der Hierarchie der Wissenschaftern nicht eine Folge
seines Lebens in einer hierarchisierten Gesellschaft sei,
den Sinn dieser Fragestellung einfach nicht begreifen.
Die Klassiker
261
Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung,
Gewohnheit, Erziehung, dem Einflüsse der äußeren
Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der
Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen
notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus
und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der
Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle
Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also
darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er
das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich ange¬
wöhnt, daß er sich als Mensch erfährt. Wenn das wohl¬
verstandene Interesse das Prinzip aller Moral ist, so
kommt es darauf an, daß das Privatinteresse des
Menschen mit dem menschlichen Interesse zusammen¬
fällt. Wenn der Mensch unfrei im materialistischen
Sinne, d. h. frei ist, nicht durch die negative Kraft,
dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive
Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so
muß man nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen,
sondern die antisozialen Geburtsstätten des Ver¬
brechens zerstören und jedem den sozialen Raum für
seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der
Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man
die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von
Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine w'ahre
Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht
semer Natur nicht an der Macht des einzelnen Indivi¬
duums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.
Diese und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich
selbst in den ältesten französischen Materialisten. Es ist
hier nicht der Ort, sie zu beurteilen. Bezeichnend für die
sozialistische Tendenz des Materialismus ist Mandevilles,
eines alteren englischen Schülers von Locke, Apologie
der Laster. Er beweist, daß die Laster in der heutigen
esellschaft unentbehrlich und nützlich sind. Es war
262
dies keine Apologie der heutigen Gesellschaft. Fourier
geht unmittelbar von der Lehre der französischen
Materialisten aus. Die Babouvisten waren rohe, un¬
zivilisierte Materialisten, aber auch der entwickelte
Kommunismus datiert direkt von dem französischen
Materialismus. Dieser wandert nämlich in der Gestalt,
die ihm Helvetius gegeben hat, nach seinem Mutter¬
lande, nach England, zurück, Bentham gründet auf die
Moral des Helvetius sein System des wohlverstandenen
Interesses, wie Owen, von dem System Benthams aus¬
gehend, den englischen Kommunismus begründet.
Nach England verbannt, wird der Franzose Cabet von
den dortigen kommunistischen Ideen angeregt und
kehrt nach Frankreich zurück, um hier der populärste,
wenn auch der flachste Repräsentant des Kommunismus
zu werden. Die wissenschaftlicheren französischen
Kommunisten, Dezamy, Gay etc. entwickeln, wie
Owen, die Lehre des Materialismus als die Lehre des
realen Humanismus und als die logische Basis des Kom¬
munismus.« [a. a. O., S. 260 £f.]
263
sich stets gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Welt¬
körpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten
von organischen Wesen, wie sie Linnö gelehrt hatte,
faßt er die neuern Fortschritte der Naturwissenschaft
zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte
in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Organismen,
von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt
werden, entstehen und vergehn, und die Kreisläufe,
soweit sie überhaupt zulässig bleiben, unendlich große
Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesent¬
lich dialektisch und braucht keine über den andern
Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an
jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt,
über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der
Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzu¬
werden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamt¬
zusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bis¬
herigen Philosophie dann noch selbständig bestehen
bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen_
die formelle Logik und die Dialektik. Alles andere geht
auf in die positive Wissenschaft von Natur und Ge¬
schichte.« [Friedrich Engels Anti-Dühring (1878) Berlin
1955, S. 28 f.]
»Aus der Auflösung der Hegelschen Schule ging aber
noch eine andere Richtung hervor, die einzige, die
wirklich Früchte getragen hat, und diese Richtung
knüpft sich wesentlich an den Namen Marx. Die Tren¬
nung von der Hegelschen Philosophie erfolgte auch hier
urch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt.
as heißt, man entschloß sich, die wirkliche Welt —
Natur und Geschichte aufzufassen, wie sie sich
selbst einem jedem gibt, der ohne vorgefaßte idealistische
Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede
i ealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu
bringen, die sich mit den in ihrem eigenen Zusammen-
264
hang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tat¬
sachen nicht in Einklang bringen ließ. Und weiter heißt
Materialismus überhaupt nichts. Nur daß hier zum
erstenmal mit der materialistischen Weltanschauung
wirklich ernst gemacht, daß sie auf allen in Frage
kommenden Gebieten des Wissens — wenigstens in
den Grundzügen — konsequent durchgeführt wurde.«
[Friedrich Engels Ludwig Feuerbach und der Ausgang
der klassischen deutschen Philosophie (1886 in »Die
Neue Zeit«); Marx/Engels Ausgew. Schriften, Bd. II,
S. 559f.]
Leben:
»Das Leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, und
diese Daseinsweise besteht wesentlich in der beständigen
266
Selbsterneuerung der chemischen Bestandsteile dieser
Körper ... Überall, wo wir Leben vorfinden, finden wir
es an einen Eiweißkörper gebunden, und überall, wo
wir einen, nicht in der Auflösung begriffenen Eiwei߬
körper vorfinden, da finden wir ausnahmslos auch
Lebenserscheinungen ...« [a.a.O., S. 97]
»Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers,
besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augen¬
blick er selbst und zugleich ein andrer ist; und dies
nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen her
unterworfen wird, wie dies auch bei den toten Körpern
der Fall sein kann. Im Gegenteil, das Leben, der durch
Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel
ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem
Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den
es nicht sein kann. Und daraus folgt, daß, wenn es der
Chemie jemals gelingen sollte, Eiweiß künstlich herzu¬
stellen, dies Eiweiß Lebenserscheinungen zeigen muß,
mögen sie auch noch so schwach sein ...« [a.a.O., S. 98]
267
bewegung kann sich nur dadurch vollziehen, daß ein
Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem
Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und
demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fort¬
währende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses
Widerspruchs ist eben die Bewegung ... Wenn schon
die einfache mechanische Ortsbewegung einen Wider¬
spruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Be¬
wegungsformen der Materie und ganz besonders das
organische Leben und seine Entwicklung. Wir sahen
oben, daß das Leben gerade darin besteht, daß ein
Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein
andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen
und Vorgängen selbst vorhandener, sich stets setzender
und lösender Widerspruch; und sobald der Wider¬
spruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod
tritt ein ...« [a.a.O., S. 147]
269
einer höheren Stufe, nämlich auf der zweiten Potenz.
Auch hier macht es nichts aus, daß wir dasselbe a2 da¬
durch erlangen können, daß wir das positive a mit sich
selbst multiplizieren und dadurch auch a2 erhalten.
Denn die negierte Negation sitzt so fest in dem a2, daß
es unter allen Umständen zwei Quadratwurzeln hat, a
und —a. Und diese Unmöglichkeit, die negierte Nega¬
tion loszuwerden, bekommt eine sehr handgreifliche
Bedeutung schon bei den quadratischen Gleichungen.«
[a.a.O., S. 167 f.]
»Nicht anders in der Geschichte. Alle Kulturvölker
fangen an mit dem Gemeineigentum am Boden. Bei
allen Völkern, die über eine gewisse ursprüngliche
Stufe hinausgehen, wird dies Gemeineigentum im
Lauf der Entwicklung des Ackerbaus eine Fessel für die
Produktion. Es wird aufgehoben, negiert, nach kürzeren
oder längeren Zwischenstufen in Privateigentum ver¬
wandelt. Aber auf höherer, durch das Privateigentum
am Boden selbst herbeigeführter Entwicklungsstufe
des Ackerbaus wird umgekehrt das Privateigentum
eine Fessel für die Produktion — wie dies heute der
Fall ist sowohl mit dem kleinen wie mit dem großen
Grundbesitz. Die Forderung, es ebenfalls zu negieren,
es wieder in Gemeingut zu verwandeln, tritt mit Not¬
wendigkeit hervor. Aber diese Forderung bedeutet
nicht die Wiederherstellung des altursprünglichen
Gemeineigentums, sondern die Herstellung einer weit
höhern entwickeltem Form von Gemeinbesitz, die, weit
entfernt, der Produktion eine Schranke zu werden, sie
vielmehr erst entfesseln und ihr die volle Ausnutzung
der modernen chemischen Entdeckungen und mecha¬
nischen Erfindungen gestatten wird ...« [a. a. O., S. 169]
»Was ist also die Negation der Negation? Ein äußerst
allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes
und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der
270
Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das, wie wir
gesehn, in der Tier- und Pflanzenwelt, in der Geologie,
in der Mathematik, in der Geschichte, in der Philo¬
sophie zur Geltung kommt ...« [a.a.O., S. 172f.]
»Negieren in der Dialektik heißt nicht einfach nein
sagen, oder ein Ding für nicht bestehend erklären, oder
es in beliebiger Weise zerstören. Schon Spinoza sagt:
omnis determinatio est negatio, jede Begrenzung oder
Bestimmung ist zugleich Negation. Und ferner ist die
Art der Negation hier bestimmt erstens durch die all¬
gemeine und zweitens durch die besondre Natur des
Prozesses. Ich soll nicht nur negieren, sondern auch die
Negation wieder aufheben. Ich muß also die erste
Negation so einrichten, daß die zweite möglich bleibt oder
wird. Wie? Je nach der besondern Natur jedes Falls.
Vermahle ich ein Gerstenkorn, zertrete ich ein Insekt,
so habe ich den ersten Akt vollzogen, aber den zweiten
immöglich gemacht. Jede Art von Dingen hat also ihre
eigentümliche Art, so negiert zu werden, daß eine Ent¬
wicklung dabei herauskommt und ebenso jede Art von
Vorstellungen und Begriffen ... Es ist aber klar, daß bei
einer Negationsnegierung, die in der kindischen
Beschäftigung besteht, a abwechselnd zu behaupten und
wieder auszustreichen, oder von einer Rose abwechselnd
zu behaupten, sie sei eine Rose und sie sei keine Rose,
nichts herauskommt, als die Albernheit dessen, der
solche langweilige Prozeduren vornimmt ...« [a.a.O.,
S. 173f.]
JOSEPH DIETZGEN
271
Tatkraft. An die Stelle der Gnade setzt er die bewußte
Werktätigkeit. Das alte Buch nannte sich Autoritäts¬
glaube^ das neue setzt die Wissenschaft, die revolu¬
tionäre, auf sein Titelblatt.« [Die Religion der Sozial¬
demokratie (»Volksstaat« 1870ff.); zit. nach Joseph Dietz-
gen Gesammelte Schriften, Berlin 1930, Bd. 1, S. 96]
»Im Unterschiede zwischen Glauben und Wissen
steckt der erste Keim revolutionärer Entwicklung. Beide
suchen das Heil unseres Geschlechts, aber in entgegen¬
gesetzter Weise. Der Glaube nur im Glauben, in der
Phantasie. Die Wissenschaft, mit nüchternem Ver¬
stände, in der realen Wirklichkeit.« [a.a.O.]
»Wirklich und leibhaftig wird der Zweck der Religion
erst durch materielle Kultur, durch Kultur der Materie
erreicht. Arbeit nannten wir den Heiland, den Erlöser
des Menschengeschlechts. Wissenschaft und Handwerk,
Kopf- und Handarbeit sind nur zwei verschiedene Ge¬
stalten derselben Wesenheit. Wissenschaft und Hand¬
werk sind wie Gott-Vater und -Sohn, zwei Dinge und
doch nur eine Sache. Ich würde ... diese WTahrheit ein
Kardinal-Dogma der sozialdemokratischen Kirche nen¬
nen, wenn die Sozialdemokratie eine Kirche und ver¬
ständige Erkenntnis Dogmen genannt werden dürf¬
ten ... Die Verbindung von Hirn- und Sinnentätigkeit
unterscheidet die Naturwissenschaft von allen vor¬
zeitigen spekulativen Wissenschaften « Ta a O
S. 104 f. ] ’
»Die geschichtliche Entwicklung der Religion besteht
m ihrer allmählichen Auflösung ... Religion (ist) ein
Substitut der menschlichen Unwissenheit, d. li. sie füllt
die Lücken unseres Wissens aus. Wo diese Lücken groß
smd, hat auch die Religion einen großen Umfang
Die zivilisierten Nationen der Gegenwart überlassen
em leben Gott nur das, was zu erforschen ihnen
bisher nicht gelungen.« [a.a.O., S. 116]
272
Materie und Bewußtsein:
Monismus:
275
Gutes und Böses, alle Verschiedenheit, alle Gegensätze
der Welt, sind als mannigfaltige Formen desselben
Wesens zu erkennen, die graduell ineinander über¬
gehen, sich im Kampf ums Dasein beständig befehden,
durch natürliche Zuchtwahl beständig sich erneuern
und vervollkommnen. Aus dem Chaos ist die Welt zum
geistbegabten Menschen fortgeschritten, der nun die
erfreuliche Pflicht und Fähigkeit hat, den weiteren
Fortschritt unserer vergleichsweise noch sehr chaoti¬
schen Welt dadurch zu poussieren, daß er ihre Kräfte
studiert und organisiert.« [a.a.O., S. 119]
»Unser Körper ist mit seinem Geiste derart ver¬
bunden, daß physische Arbeit absolut unmöglich ist,
ohne geistige Zutat. Der simpelste Plandlangerdienst
erfordert die Mitbeteiligung des Verstandes. Anderer¬
seits ist der Glaube an die Metaphysik oder Unkörper¬
lichkeit der geistigen Arbeit eine Gedankenlosigkeit.
Auch die reinste Forschung ist unleugbar eine An¬
strengung des Körpers. Alle menschliche Arbeit ist
geistig und körperlich zumal. Wer von der Wissenschaft
des Geistes etwas versteht, weiß, daß die Gedanken
nicht, nur vom Hirn, also subjektiv von der Materie
ausgehen, sondern immer auch irgendein Material zum
Gegenstand oder Inhalt haben. Hirnmaterial ist das
bub]ekt des Gedankens, sein Objekt das unendliche
Material der Welt.« [a.a.O., S. 129]
™ UngIaube-EeWe
“Tt" a“S dem Rohen heraus ™ wissen-
^
schafthcher Pragnanz durchgearbeitet. Dafür aber
ie ade mische Gelehrsamkeit kein Verständnis
274
weil die im Materialismus enthaltenen demokratischen
Konsequenzen ihre werte soziale Stellung gefährden . «
[a. a.O., S. 126]
»Die klare Erkenntnis, wie Gedankenspäne fabriziert
werden, stellt uns theoretisch auf einen Standpunkt, der
von Göttern, Büchern und Menschen unabhängig ist.
Indem diese Wissenschaft den Dualismus zwischen Geist
und Materie auf löst, nimmt sie der bisherigen Zweiteilung
in Herrscher und Beherrschte, in Unterdrücker und Unter¬
drückte die letzte theoretische Stütze.« [a.a.O., S. 128]
»W er das phantastische, das religiöse System der
Weherklärung absetzen will, der muß doch wieder ein
System, diesmal ein rationelles, an die Stelle setzen ...«
[a.a.O., S. 152]
»Die kannibalische Religion des Anfangs hat sich
christlich kultiviert, die Philosophie hat die Kultur fort¬
gesetzt und nach vielen unhaltbaren vergänglichen
Systemen endlich das unvergängliche System des demo¬
kratischen Materialismus gewonnen.« [a.a.O., S. 135]
275
Weisheit darin enthalten ist, berufen, die gesamte Wind¬
beutelei, die religiöse, die philosophische und politische
auszutreiben, ist eine sozialdemokratische Neuigkeit.«
[a.a.O., S. 158]
»Das induktive läßt sich füglich auch das dialektische
System nennen. Hier findet sich, was die Naturwissen¬
schaft immer mehr bestätigt, daß auch die wesentlichen
Unterschiede nur graduelle Verschiedenheiten sind. Wie
scharf wir auch die Merkmale feststellen, welche das
Organische vom Anorganischen, das Pflanzen- vom
Tierreich unterscheiden, so zeigt Natura doch, daß die
Grenzen verschwinden, daß alle Verschiedenheiten und
Gegensätze ineinanderfließen. Die Ursache wirkt und
die Wirkung verursacht. Die Wahrheit erscheintund die
Erscheinung ist wahr. Wie die Wärme kalt und die Kälte
warm, beides sich nur dem Grade nach unterscheidet,
so relativ ist das Gute bös und das Böse gut. Alles sind
Relationen desselben Stoffes, Formen oder Arten der
physischen Empirie.« [a.a.O., S. 142f.]
KARL KAUTSKY
Materialistische Weltanschauung::
277
Materie des Materialismus bedeutet nichts anderes als
die Anerkennung, daß die Welt außer uns wirklich
besteht, nicht bloßer Schein, nicht Produkt des denken¬
den Kopfes ist.« [a.a.O., S. 23]
279
in der These bereits der Widerspruch zu sich selbst,
die Negation.
Diese Negation wächst und führt schließlich zur Auf¬
hebung der These, des Ausgangspunktes des Prozesses.
Aber auch die Negation trägt wieder den Keim ihrer
eignen Verneinung in sich, die schließlich zur Synthese
und erneuten Bejahung der These, aber auf höherer
Stufenleiter führt.
Marx und Engels haben diese Auffassung der Dialek¬
tik von Hegel übernommen, indes ... >vom Kopf auf die
Füße gestellte Denn bei Hegel war sie eine Selbst¬
bewegung des Geistes, der die Welt in Bewegung setzt
und die geschichtliche Entwicklung bewirkt. Marx und
Engels materialisierten sie, verwandelten sie in ein
Bewegungsgesetz ebenso der materiellen Welt wie der des
Denkens ...« [a.a.O., S. 150]
G. W. PLECHANOW
285
keit von Sprüngen im Prozeß der Entwicklung teilten
Marx und Engels. Engels entwickelte sie in seiner
Polemik gegen Dühring, wobei er sie >auf die Füße<,
d. h. auf eine materialistische Grundlage stellte ...
Überhaupt werden die Gesetze des dialektischen Den¬
kens durch die dialektischen Eigenschaften des Sems
bestätigt. Das Sein bedingt auch hier das Denken.«
[a.a.O., S. 51]
287
fließt, ist in steter Veränderung^ sagt der alte griechi¬
sche Denker. Die Verbindungen, die wir Gegenstände
nennen, sind in stetem — mehr oder weniger raschem
_Werden und Vergehen begriffen. Soweit diese Ver¬
bindungen als solche bleiben, müssen wir darüber nach
der Formel >ja, ja und nein, nein< urteilen; hören sie
aber auf, bestimmte Verbindungen zu sein, so können
wir uns von ihnen nur nach der Formel >ja, nein und
nein, ja<, also auf Grund der Logik des Widerspruchs,
eine Vorstellung machen. Wie die Ruhe ein Spezialfall
der Bewegung, so ist auch das Denken nach den Prinzi¬
pien der formellen Logik ein spezieller Fall des dialek¬
tischen Denkens.« [a. a.O., S. 35]
»Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei folgendes
vermerkt: Auch wenn wir vor dem Übergang einer Art
der Bewegung in eine andere stehen — sagen wir von
mechanischer Bewegung in Wärme —, so müssen wir
Überwegs Gesetz gemäß urteilen: diese Bewegungsart
ist entweder Wärme oder mechanische Bewegung oder
usw. Das ist klar. Wenn das aber klar ist, so finden die
Grundgesetze der formellen Logik in gewissen Grenzen
auch in bezug auf die Bewegung Anwendung. Daraus
folgt wiederum, daß die Dialektik die formelle Logik
nicht auf hebt, sondern ihr nur die absolute Gültigkeit
nimmt, die ihr die Metaphysiker verliehen.« [a.a.0.,
S. 37]
»Wie aber, wenn wir es nicht mit einfachen, sondern
mit einem komplizierten Gegenstand zu tun haben, in
dem sich völlig entgegengesetzte Eigenschaften ver¬
einigen? Ist auch in bezug auf solche Gegenstände
immer eine bestimmte Antwort möglich? Nein. Selbst
Überweg — ... — ist der Meinung, daß hier ein
anderes Gesetz Anwendung findet, und zwar der Satz
der Vermittlung (principium coincidentiae oppositorum).
Der weitaus größte Teil der Erscheinungen, mit denen
288
die Naturwissenschaft sowohl als auch die Soziologie zu
tun hat, gehören bekanntlich gerade zu den kompli¬
zierten Erscheinungen. Ein Klümpchen Protoplasma
oder das Leben einer noch so unentwickelten sozialen
Gemeinschaft vereinigt in sich völlig entgegengesetzte
Erscheinungen. Folglich muß man der Dialektik so¬
wohl in den Naturwissenschaften als auch in der
Soziologie einen großen Platz einräumen. Und seitdem
ihr dieser Platz eingeräumt wurde, machten die er¬
wähnten Wissenschaften in der Tat kolossale Fort¬
schritte.« [a. a.O., S. 38 f.]
W. I. LENIN
Dialektische Evolutionstheorie
289
Anti-Dühring) ... Diese revolutionäre Seite der Hegel-
schen Philosophie wurde von Marx übernommen und
entwickelt. Der dialektische Materialismus >braucht
keine über den anderen Wissenschaften stehende Philo¬
sophie mehre Was von der bisherigen Philosophie noch
bestehen bleibt, ist >die Lehre vom Denken und seinen
Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektiko Die
Dialektik in der Marxschen, ebenso wie in der Plegel-
schen Auffassung schließt jedoch in sich das ein, was
man heute Erkenntnistheorie, Gnoseologie nennt ... In
unserer Zeit ist die Idee der Entwicklung, der Evolu¬
tion nahezu restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein
eingegangen, aber auf anderen Wegen, nicht über die
Philosophie Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr
Marx und Engels, ausgehend von Hegel, gegeben haben,
ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als die
landläufige Evolutionsidee: Eine Entwicklung, die die
bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal
durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe (>Negation
der Negation*), eine Entwicklung, die nicht gradlinig,
sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine
sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolu¬
tionäre Entwicklung; Unterbrechungen der Allmäh-
lichkeitc Umschlagen der Quantität in Qualität; innere
Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch denWiderspruch,
durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte
und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper oder
innerhalb der Grenzen einer gegebenen Erscheinung
oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam
sind; gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzer¬
trennlicher Zusammenhang aller Seiten jeder Erschei-
nung ... ein Zusammenhang, der einen einheitlichen,
gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung ergibt, das
sind einige Züge der Dialektik als der ... inhaltsreiche¬
ren Entwicklungslehre ...« [Karl Marx, Juli-November
290
1914; zit. nach Marx-Engels-Marxismus, Moskau 1947
S. 13f.]
»Marx und Engels verfochten mit aller Entschieden¬
heit den philosophischen Materialismus und legten zu
wiederholten Malen dar, wie grundfalsch jede Ab¬
weichung von dieser Basis ist. Am klarsten und aus¬
führlichsten sind ihre Anschauungen niedergelegt in
Engels’ Werken, Ludwig Feuerbach und Anti-Dühring,
die — gleich dem Kommunistischen Manifest — Hand¬
bücher jedes klassenbewußten Arbeiters sind ... Aber
Marx blieb nicht beim Materialismus des 18. Jahr¬
hunderts stehen, er entwickelte die Philosophie weiter.
Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der klas¬
sischen deutschen Philosophie und besonders des Hegel-
schen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuer¬
bachs geführt hatte ... Marx, der den philosophischen
Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn
zu Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf
die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft aus.«
[Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (März
1913), a.a.O., S. 56]
Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Ein¬
heit der Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der
Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das erfordert Er¬
läuterungen und Entwicklung.
MAX ADLER
295
Bezeichnung der marxistischen Theorie hervorzu-
heben, welche für die Kausalerklärung des Sozial¬
geschehens von entscheidender Bedeutung geworden
ist, nämlich die gesellschaftliche, also sozialpsychische;
und da wäre der Name eines sozialökonomischen Deter¬
minismus vielleicht ein weniger irreführender als der
bloß noch historisch zu verstehende einer materialisti¬
schen Geschichtsauffassung ... Was ist der Materialis¬
mus? Eine Antwort auf die Frage nach dem IVesen der
Welt, nach ihrem Sinn an sich, kurz, eine ontologische
und deshalb von vornherein metaphysische Auffassung.«
[.Marxistische Probleme, Wien 1920, S. 65 ff.]
»Es sei ... erinnert, wie stets zu beachten ist, was zumeist
übersehen wird, daß mit dem Worte >Dialektik< zwei
ganz verschiedene Begriffe bezeichnet werden, deren
Vermischung der eigentliche Grund für die Unklarheit
ist, in welcher sich zumeist die Diskussion über die
Dialektik bewegt. Einmal bedeutet nämlich Dialektik
bloß eine Art des Denkens, nämlich die Beziehung aller
festumgrenzten Denkinhalte auf dasjenige, wovon es
durch diese Begrenzung unterschieden wird, auf seinen
fW iderspruch<. Das Denken wird angehalten, darauf
zu achten, jeden seiner scheinbar selbständigen und
isolierten Inhalte im Zusammenhang damit zu denken,
was aus diesem Inhalt ausgeschlossen wurde und ihm
dadurch erst seine Bestimmung gab. Auf diese Weise
wird die Starrheit der rein logischen Begriffe über¬
wunden und eine durchgängige Verbindung der Denk-
rnhalte bewirkt, die das Denken in den Stand setzt, sich
selbst als einen beständigen Fluß aller seiner Momente zu
begreifen und dieser Bewegung des Denkens zu folgen.
Die Dialektik in diesem Sinne ist also eine Methode.
296
Weiter bezeichnet das Wort Dialektik aber auch eine
Art des Seins, nämlich die im Weltganzen als schöpferi¬
sche Potenz waltende Gegensätzlichkeit der einzelnen
realen Bestimmtheiten derselben, den Widerstreit der
Dinge als den V ater alles Geschehens. Insofern also mit
der Dialektik eine Wesensbeschaffenheit des Seins selbst
gemeint ist, ist Dialektik eine Metaphysik.
Ganz zu unterscheiden hiervon ist aber diejenige
Bedeutung, in welcher zwar auch eine Gegensätzlich¬
keit des Seins gemeint ist, aber nicht mehr der Welt¬
beschaffenheit, sondern der empirisch zu konstatierenden
Eigenschaften eines bestimmten Erscheinungskomple¬
xes. Die Gegensätzlichkeit, die zum Beispiel das soziale
Leben beherrscht und hauptsächlich gemeint ist, wenn
von einer realen Dialektik im Marxismus die Rede ist,
hat nichts mehr mit der Frage nach der Natur des Seins
zu tun, sondern konstatiert einfach eine vorhandene
Gegensätzlichkeit zwischen dem Selbstinteresse des
Individuums und den sozialen Formen, in die dasselbe
gebannt ist. Die Dialektik in diesem Sinne ist dann ein
Stück positiver Wissenschaft. Sie trägt nur zufällig, aus
bloß historisch zu verstehenden Gründen, den irre¬
führenden Namen der Dialektik und würde besser
Antagonismus genannt werden ...
Es ist nun für das Mißverständnis der Dialektik ent¬
scheidend geworden, daß auch für Marx und Engels
kein Grund vorlag, diese Scheidung zu machen, da sie
ja von ihrem positivistischen Realismus aus zu einem
erkenntnistheoretisch ähnlichen, nur sachlich umge¬
kehrten Identitätsstandpunkt gelangten wie Hegel«
[gemeint ist die Identität von Denken und Sein, a.a.O.,
S. 76 ff.]
»Die Verabsolutierung der Dialektik wird einge¬
leitet durch die Verabsolutierung des Satzes, wonach
das Denken vom Sein bestimmt wird und nicht umgekehrt.
297
Was diesen Satz bei Marx und Engels zu so großer, ihre
ganze theoretische Leistung tragender Bedeutung hat
kommen lassen, wird man vergeblich in seiner meta¬
physischen oder erkenntnistheoretischen Bedeutung
suchen. Dagegen quillt in seiner immanenten, das
heißt innerhalb der empirischen Sphäre verbleibenden
und auf alle Weltanschauungs- oder erkenntniskritische
Fragen verzichtende Anwendung das reichste Leben
aus ihm. In der Art, wie er bei Marx und Engels nicht
als bloße These für eine Weltauffassung, sondern als
Forschungsprinzip zur Untersuchung des sozialen
Lebens auftritt, ist er zum Ausgangspunkt grundlegen¬
der Erkenntnis der sozialen Gesetzlichkeit geworden, so
daß von ihm aus erst eine Sozialwissenschaft möglich
wurde, die auf diesen Namen wirklich Anspruch
machen kann. In der materialistischen Geschichtsauf¬
fassung erfährt er seine systematische sozialtheoretische
Ausführung und bildet durch sie nicht nur die Grund¬
lage des Marxismus, sondern ... immer mehr der
modernen Arbeit auf den verschiedensten Gebieten der
Geistes Wissenschaften.
Sobald aber dieser Satz von der Bestimmung des
Denkens durch das Sein über seine Bedeutung als For¬
schungsmaxime hinaus als eine erkenntnistheoretische
Wahrheit oder gar als wissenschaftliche Erkenntnis von
der Beschaffenheit der Natur selbst und des Verhältnis¬
ses von Denken und Sein in ihr aufgefaßt wird, ver¬
wandelt sich die schöpferische Kraft dieses Gedankens
m eine unkritische Anschauung von heute geradezu
archaischer erkenntniskritischer Naivität. Er stellt dann
einfach eine dogmatisch-metaphysische Behauptung
dar, dei andere derartige Sätze vielleicht mit mehr, viel¬
leicht mit weniger Recht entgegen gestellt werden
können. Jedenfalls aber wird er der Springquell aller
Unklarheiten und endlosen Streitigkeiten, die aus einer
298
solchen Verquickung einer metaphysischen Grundan¬
schauung mit einem rein methodologischen Stand¬
punkt hervorgehen müssen. Freilich ist diese Ver¬
quickung, diese Aquivokation grundverschiedener Be¬
deutungen die einzige und noch dazu scheinbar selbst¬
verständliche Möglichkeit, aus dem wissenschaftlichen
System des Marxismus einen Materialismus zu machen.
Denn da der Satz von der Bestimmung des Denkens
durch das Sein sowohl in seinem methodologischen als
in seinem metaphysischen Sinne dieselbe Wortform hat,
so können nur zu leicht die Folgerungen aus dem
letzteren Sinne auch für Konsequenzen des ersteren
gelten, und damit ist der ganze Jammer fertig: der alte
Jammer aller philosophischen und wissenschaftlichen
Diskussion, die an den Worten ihrer Begriffe mehr
hängt als an diesen selbst.« [a.a.O., S. 82f.]
KARL KORSCH
505
senkampfes, und die als das ideologische Fundament jener
leninistischen Theorie dienende materialistische Philo¬
sophie Lenins ist aus diesem Grunde auch nicht die dieser
heutigen Entwicklungsstufe entsprechende revolutio¬
näre Philosophie des Proletariats.
Dieser geschichtlichen und praktischen Lage ent¬
spricht auch der theoretische Charakter der Leninschen
materialistischen Philosophie. Im strikten Gegensatz zu
jener ... in ihrem Ziel und in ihrer gegenwärtigen
Tendenz bereits auf die totale Aufhebung der Philo¬
sophie gerichteten materialistisch-dialektischen An¬
schauung,, die Marx und Engels in ihrer ersten revolu¬
tionären Periode begründet haben und in deren Er¬
neuerung auf einer höheren Entwicklungsstufe auch
gegenwärtig die einzige auf dem philosophischen Gebiet
zu erfüllende revolutionäre Aufgabe besteht, will der
Philosoph Lenin, ganz ebenso wie sein philosophischer
Lehrer Plechanow und dessen andere philosophische
Schülerin L. Axelrod-Orthodox, als Marxist allen
Ernstes zugleich Hegelianer bleiben. Er stellt sich den
Übergang von der Hegelschen idealistischen Dialektik
zu dem dialektischen Materialismus ... tatsächlich als
eine bloße Auswechselung der dieser dialektischen
Methode zugrunde liegenden idealistischen Weltan¬
schauung durch eine andere, nicht mehr >idealistische<,
sondern >materialistische< philosophische Weltanschau¬
ung vor, und er scheint nichts davon zu ahnen, daß
durch eine solche >materialistische Umstülpung< der
Hegelschen idealistischen Philosophie im besten Falle
nur eine terminologische I er ander ung herbeigeführt
werden könnte, die darin bestände, das Absolute nicht
mehr >Geist<, sondern >Materie< zu nennen. In Wirklich¬
keit handelt es sich bei diesem Leninschen Materialis¬
mus sogar um etwas noch weit Schlimmeres. Es wird
dadurch nicht nur die letzte, durch Marx und Engels
304
herbeigeführte materialistische Umstülpung der Hegel-
schen idealistischen Dialektik wieder rückgängig ge¬
macht, sondern die gesamte Diskussion zwischen
Materialismus und Idealismus auf eine schon durch die
idealistische deutsche Philosophie überwunden gewesene
frühere geschichtliche Entwicklungsstufe zurückgeworfen
... Die Marx-Engelssche materialistische Umstülpung
der idealistischen Dialektik Hegels bestand nur noch
darin, diese ... von ihrer letzten mystifizierenden Hülle
zu befreien, in der dialektischen >Selbstbewegung der
Idee< die darunter verborgene wirkliche geschichtliche
Bewegung zu entdecken und diese revolutionäre ge¬
schichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrig¬
bleibende >Absolutem zu proklamieren. Dagegen kehrt
nun Lenin zu jenen schon durch Hegel dialektisch über¬
wundenen absoluten Gegensätzen von >Denken< und
>Sein<, >Geist< und >Materie< zurück, über die einst im
17. und 18. Jahrhundert der philosophische und z. T.
noch religiöse Streit zwischen den beiden Richtungen
der Aufklärung geführt wurde ...« [a.a.O., S. 53 ff.]
HERBERT MARCUSE
marxismus :
306
Für Hegel ist der Gegensatz von Denken und Gegen¬
stand aufgehoben, und die Vernunft als die gemeinsame
reale Struktur beider erkannt. Die Bewegung der Wirk¬
lichkeit wird als ein Prozeß begriffen, der zu einer immer
klareren und bewußteren Selbsterfassung der begriff¬
lichen Wirklichkeit durch sich selbst führt. >Die Wirk¬
lichkeit hat ... ihren eignen Logos und die Logik ist
Ontologie.< (a.a.O., S. 159).
311
talismus, sondern hat in einem entscheidenden Aspekt
an der Funktion des Kapitalismus teil, nämlich in der
industriellen Entwicklung der Produktivkräfte unter
Trennung der mnmittelbaren Produzenten < von der
Kontrolle der Produktion. Die Sowjettheorie drückt
hier aus, was die Ideologie leugnet: daß die bolsche¬
wistische Revolution >noch nicht< zu einer sozialisti¬
schen Revolution geführt hat, daß die >erste Phase<
noch nicht Sozialismus ist ...« [a.a.O., S. 149f.]
312
ERKENNTNISTHEORIE
313
Marxens Feuerbach-Thesen die Rede ist, kann daher auch
nichts anderes als die revolutionäre Tat sein, durch
die das Proletariat der bisherigen Geschichte Sinn gibt
oder vielmehr ihren bisher verborgenen Sinn an den
Tag bringt.
Erkenntnistheoretische Probleme tauchen erst dann
auf, wenn die Naturerkenntnis als wesentlicher Bestand¬
teil in die Theorie aufgenommen wird und aufhört —
wie bei Marx —, lediglich als Moment der Geschichte
(die es mit der menschlichen Arbeit und der durch sie
bewirkten Naturveränderung sowie mit den sozialen Um¬
wälzungen zu tun hat) zu figurieren.
Die wesentlichen Schritte zur Herausbildung einer
>marxistischen< Erkenntnistheorie werden von Friedrich
Engels, Joseph Dietzgen, G. W. Plechanow und vor allem
W. I. Lenin getan. Diese Theorie erweist sich als ein
relativ naiver >Realismus<, der lediglich in den >Philo-
sophischen Heftern, die Lenin im Schweizer Exil schrieb,
etwas vertieft und >dialektisiert< wird. Die Erkenntnis ist
eine >Widerspiegelung< des außerhalb des menschlichen
Bewußtseins objektiv existierenden Seins. Sie ist zu dieser
Funktion befähigt, weil sie >Eigenschaft der Materie< und
das widergespiegelte Sein gleichfalls materiell ist. Es gibt
keine >Dinge an sich<, die wir prinzipiell nicht erkennen
können, sondern nur Dinge, die wir (zufällig) noch nicht
erkannt haben. Der Progreß der Erkenntnis geht ständig
weiter und stößt nie auf absolute, immer nur auf relative,
zeitbedingte (technische) Schranken. Da allerdings auf
der anderen Seite die Möglichkeiten des Lebens auf
diesem Planeten zeitlich limitiert sind, wie Engels selbst
betont, ist die menschliche Naturerkenntnis höchstens
potentiell unendlich. Sie wird — mit dem Menschen zu¬
sammen aufhören, lange bevor sie ihr Ziel erreicht
hat. Der Unterschied zwischen einem derartigen — mit
Hegel zu reden schlechthin unendlichen Progreß< und
dem Anspruch der Marxschen Geschichts- und Gesell¬
schaftstheorie auf absolute Erkenntnis wird von den heuti¬
gen Sowjetmarxisten nicht gesehen. Diejenigen >west-
314
lichen< Marxisten, die für eine Beschränkung der dialek¬
tischen Methode auf die geschichtlich-menschliche Welt
eintreten, sind sich des wesentlichen Unterschiedes, ja
Gegensatzes, bewußt: die vom Menschen geschaffene
und vollendbar gedachte Welt kann gedeutet und ver¬
standen werden. Da sie von dem gleichen >Subjekt<, das
auch Autor der Vollendung ist, >verstanden< wird, ist
dieses Verständnis unüberbietbar adäquat (>absolut<). Die
»unendliche Natur< aber erlaubt nur immer beschränkte
Einblicke in ihre Kausalstruktur, durch die wir zur Be¬
herrschung einzelner Naturzusammenhänge und ihrer
Indienststellung für menschliche Zwecke befähigt werden.
Ein >Verstehen< der Natur im ganzen ist jedoch niemals
möglich. Jenes >Ins-Innere-der-Natur-Dringen<, das die
D ,
Wesenserkenntnis erlauben würde, konnte zwar dem
romantischen Naturphilosophen möglich erscheinen,
nicht aber dem modernen Naturwissenschaftler, der sich
mit ständig zu korrigierenden Annäherungen und der
Erfassung phänomenaler Strukturzusammenhänge be¬
gnügt.
Die Neukantianer unter den Marxisten, von denen
viele heute fast völlig vergessen sind, hatten sich weniger
gegen eine >offiziell< damals kaum vertretene marxistische
Erkenntnistheorie zu wehren, als dem Marxismus über¬
haupt erst die fehlende erkenntniskritische >Ergänzung<
zu geben. Da ihnen zumeist der prinzipielle Unterschied
von Natur- und Geisteswissenschaften unwichtig schien,
«daubten sie auch nicht an eine Zweiteilung des Erkennt¬
nisproblems. Die in der zeitgenössischen Philosophie ein-
o-etretene »Rückkehr zu Kant< spiegelte sich auch in den
Diskussionen unter marxistischen Denkern wider. Die
höchst oberflächliche Engelssche Kant-Kritik forder e
geradezu zu einer Richtigstellung heraus (Konrad Schmidt
und Ludwig Woltmann, aber — freilich anders akzen¬
tuiert — auch G. Lukäcs); der von Kautsky praktizierte
naive Naturalismus (und Empirismus) konnte mühelos
von der reflektierteren neukantianischen Erkenn tm -
theorie kritisiert werden (Berdjajew und andere). Für
315
Auffassung des dialektischen Materialismus und des histo¬
rischen Materialismus hatten diese neukritizistischen
Tendenzen weitreichende Konsequenzen. Eine — not¬
wendig metaphysisch werdende — systematische Kon¬
struktion der Gesamtwirklichkeit mußten diese Kantianer
a limine ablehnen. Damit fiel der dialektische Materialis¬
mus, aber auch der historische konnte nicht mehr als abso¬
lut gültige Aussage gelten. Er wurde zum >heuristischen
Prinzip< oder bestenfalls zur Erkenntnis einer Gesetz¬
mäßigkeit der phänomenalen Welte Daß — wenigstens
von einzelnen Neukantianern — auch der Revolutions¬
begriff (Peter von Struve) und jedenfalls die revolutionäre
Richtung des Sozialismus kritisiert wurde (vgl. zum Bei¬
spiel Konrad Schmidts und Eduard Bernsteins Revisionis¬
mus), hat wesentlich zu der heftigen Reaktion der Ortho¬
doxem, Plechanow und Lenin, beigetragen.
An dieser leninistischen Orthodoxie übt nun vor allem
Georg Lukacs seinerseits Kritik. Diese Kritik beruht auf
der Marxschen Trennung der geschichtlich-gesellschaft¬
lichen Welt von der vom Menschen isolierten Natur und
der Einsicht, daß die Einheit von >Tat und Bewußtseim
nur im ersten Bereich möglich ist. Insofern der Mensch
selbst ein spätes Produkt der Natur ist, könnte man zwar
die dialektische Struktur seiner Welt auch als >natürlich<
bezeichnen, aber damit würde man den wesentlichen
Unterschied unterschlagen, der zwischen einer auf den
Menschen bezogenen, von ihm veränderten und auf ihn
zurückwirkenden Natur und der vom Menschen isolierten
Natur besteht.
Die Klassiker
»Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phäno¬
mene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäf¬
tigt ... Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz
ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d. h. der Über¬
gang aus einer Form in die andere, aus einer Ordnung
des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal das
Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folge,
worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt< ...
Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche
Methode nennt, so treffend, und ... so wohlwollend
317
schildert, was hat er anderes geschildert als die dialek¬
tische Methode? Allerdings muß sich die Darstellungs¬
weise formell von der Forschungsweise unterscheiden.
Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen,
seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren
und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem
diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung
entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spie¬
gelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es
aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion zu tun.
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach
von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr
direktes Gegenteil. Für Flegel ist der Denkprozeß, den er
sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Sub¬
jekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur
seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt
das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf um¬
gesetzte und übersetzte Materielle ...« [Karl Marx, Nach¬
wort zur 2. Aufl. des Kapital, am Anfang Zitat aus dem
»Westnik Evropi« (Europ. Bote, Petersburg, Mai 1872);
Das Kapital, Berlin 1955, S. 15 ff.]
JOSEPH DIETZGEN
325
nis zum unermeßlichen Problem der Wissenschaft, so
also, daß jede Person ihre Aufgabe begrenzen muß; daß
aber andererseits das Erkenntnisvermögen der mensch¬
lichen Gattung so absolut einsichtsvoll und unbegrenzt,
so unermeßlich ist wie die Aufgabe, welche ihm die
Natur zur Lösung vorlegt. Die Armseligkeitstheorie, die
Lehre vom begrenzten Menschenverstand ist der letzte
Rest des religiösen Humbugs ...« \Die Grenzen der Er¬
kenntnis, »Vorwärts«, 1877, a. a.O., S. 206]
Abbildtheorie:
Neukantianer
KONRAD SCHMIDT
327
Kantscher Phänomenalismus und materialistische Meta¬
physik:
EDUARD BERNSTEIN
LUDWIG WOLTMANN
NIKOLAI BERDJAJEW
334
thenru: den Skeptizismus prinzipiell überwinden und der
wissenschaftlichen Welterkenntnis feste Grundlagen
/'eben kann. Die allgemoingiltigen Normen des Denkens
(die vorn Standpunkt, des Empirismus unerklärlich sind),
die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis stürzen
zusammen, wenn man den empirischen Ursprung der
Kategorie der Kausalität anerkennt, und die größte Er¬
rungenschaft des wissenschaftlichen Korschens des 19,
Jahrhunderts, die Gesetzmäßigkeit aller Welterschei
nungen, verliert festen Roden. Der konsequente
Empirismus führt unvermeidlich zum Skeptizismus,
wie das Beispiel J. S. Mills beweist.« [F, A. Lange
und die kritisi he PhihisophLe in ihren Beziehungen zum
Sozialismus, »Die Neue Zeit«, VIII. Jg., II. JIbb-,
S. 164J
555
stellt sich heraus, daß der Widerspruch in unserer Er¬
kenntnis gar nicht existiert. Die Idee der Identität des
Denkens und Seins, die von dem naiven, nicht kriti¬
schen Denken als Dogma anerkannt wird, wurde von
der kritischen Philosophie zwar in dem Ausgangspunkt
der Entwicklung zerstört, aber im Endpunkt ihrer Ent¬
wicklung kommt sie zu derselben Identität des Seins
und Denkens, der Identität des Begriffs der Realität und
Erkennbarkeit, behauptet das aber nicht mehr naiv,
sondern streng kritisch ...« [a.a.O., S. 167f.]
Berdjajew schildert sodann die drei typischen Formen
von Erkenntnistheorie, die bisher aufgetaucht seien:
Erstens den maiven Realismus<, dem schon Locke
>schwere Schläge versetzt< habe und den Kant >endgiltig
begrub<; zweitens den >Idealismus<, für den der Übergang
vom erkennenden Subjekt zum Objekt ein unlösbares
Problem sei (Berkeley) und den Kant >und nach ihm fast
die ganze kritische Philosophie ebenso wie den naiven Rea¬
lismus verneinen Endlich drittens die Kantsche Position:
336
Von dieser Kantschen Erkenntnistheorie muß daher
viertens eine abgehoben werden, die Berdjajew selber —
im Anschluß an Avenarius und andere — vertritt:
338
ändert, sondern wie und in welchem Sinne ist es möglich
zu behaupten, daß es eben dasselbe sei, was vorher diese
und jetzt eine andere Qualität hat.< (Wilhelm Schuppe
Erkenntnistheoretische Logik, Bonn 1878, S. 445.) Hier¬
aus ergeben sich weiter für den uns interessierenden
Fall nicht unwichtige Folgerungen. Qualitätsverände¬
rungen desselben >Dinges< (und unter den Begriff des
»Dinges< fällt auch die Gesellschaft) sind nur unter be¬
stimmten Bedingungen denkbar. Es sind dies nämlich
dieselben Bedingungen, welche uns veranlassen, die
Identität des »Dinges< trotz der qualitativen Änderungen
der unmittelbaren Wahrnehmung anzunehmen. Die
kardinalste dieser Bedingungen ist die erwiesene oder
vorausgesetzte Stetigkeit der Veränderung. Dieses Ge¬
setz der Konthiuität aller Veränderung, welches die
hegelisch angehauchten Marxisten — nach dem Vor¬
gänge Hegels — als sinnlose Tautologie ausgeben, hat
kein Geringerer als ... Kant aufgestellt. Alle Verände¬
rung ist ... nur durch eine kontinuierliche Handlung
der Kausalität möglich ... Es ist kein Unterschied des
Realen in der Erscheinung, so wie kein Unterschied in
der Größe der Zeiten, der kleinste, und so wächst der
neue Zustand der Realität von dem ersten an, darin
diese nicht war, durch alle unendlichen Grade derselben,
deren Unterschiede voneinander insgesamt kleiner sind
als der zwischen 0 und a. (Kritik der reinen Vernunft,
2. Aufl., Ausg. Kehrbach, S. 194f.) Diese Ausführungen
enthalten eine erkenntnistheoretische Deutung des Evolu¬
tionismus. Die Stetigkeit jeder auch der durchgreifend¬
sten Veränderung ist ein notwendiges erkenntnistheore¬
tisches und psychologisches Postulat ihrer Begreiflichkeit.
Das Evolutionsgesetz nimmt eine Stellung analog dem
Kausalgesetz ein: es ist eine allgemeingiltige Form,
unter welcher wir die durchgreifende Veränderung der
Dinge uns vorstellen müssen, um sie zu begreifen. Über
339
den Inhalt und die Kausalität der Veränderung sagt das
Evolutionsprinzip nichts aus: es gibt nur ihre Form an,
und diese Form ist — Stetigkeit. Der alte Satz natura
non facit saltus ist dementsprechend dahin abzuändern,
daß man sagt: intellectus non patitur saltus.« [Die
marxistische Theorie der sozialen Entwicklung, Ein kriti¬
scher Versuch, »Archiv für soziale Gesetzgebung und
Statistik«, 14. Bd., 1899, S. 679ff.]
540
Sozialismus das zu Erschließende ist — nicht, das beide
Gestaltungen Trennende, sondern umgekehrt, das sie
notwendig — d. h. in durchgängiger Kausalität und in
stetigen Übergängen — Verbindende auszufinden. Für
die theoretische, d. h. entwicklungsgeschichtliche Be¬
trachtung ist der in der marxistischen Literatur äußerst
beliebte Hinweis auf die völlige Wesensverschiedenheit
des Sozialismus und des Kapitalismus und auf die Un¬
möglichkeit, den Sozialismus im Rahmen der kapitali¬
stischen Gesellschaft und mit den Mitteln derselben zu
verwirklichen — eine Instanz gegen die historische Not¬
wendigkeit und selbst gegen die Möglichkeit des Sozialis¬
mus. Um das heiß ersehnte Unmögliche schließlich doch
als notwendig zu erweisen, wird das soziale Wunder zu
Hilfe gerufen — die soziale Revolution, die den Um¬
schlag der Quantität in Qualität durch ihr innewohnende
schöpferische Kraft zustande bringt...« [a. a.O., S. 685 f.]
»Es ist hier nicht der Ort, die >Dialektik< eingehend dar¬
zulegen und zu kritisieren. Gegenüber aber der fort¬
gesetzten Verherrlichung derselben ... ist es mehr als
angebracht, auf das schärfste zu betonen, daß es keines¬
wegs richtig ist, die >Dialektik< mit dem Evolutions¬
prinzip zu identifizieren. Die >Dialektik< ist eine auf
einem bestimmten metaphysischen Prinzip — nämlich
auf der Identität von Denken und Sein — aufgebaute
logische Methode. Die >Dialektik< macht somit die Logik
zur Ontologie. Wenn aber in dem, was wir Wirklichkeit
nennen, alles flüssig ist, so kommt andrerseits das logische
Denken nur mit Hilfe der Konstanz und Bestimmtheit
der Urteile und Begriffe zustande. >Die Bedingung der
Möglichkeit vollkommener Urteile ist durchgängige
Konstanz, vollkommene Bestimmtheit, allgemeine Über-
341
einstimmung und unzweideutige sprachliche Bezeich¬
nung der Vorstellungen, welche als Prädikate bezie¬
hungsweise als Subjekte in das Urteil eingehen. Eine
Vorstellung, welche diese Forderungen erfüllt, nennen
wir Begriff im logischen Sinn des Wortes.< (Christoph
Sigwart, Logik, Bd. I, Freiburg 1889, S. 515.) Ist die
Wirklichkeit >dialektische, so ist das logische und somit
das wissenschaftliche Denken — seinem Wesen nach —-
undialektisch. Der beliebten Art aber die Starrheit des
Denkens gegenüber der >Dialektik<, d. h. der Flüssigkeit
des Realen, als eine unvermeidliche Schwäche des
menschlichen Geistes anzuführen, kann mit ebensoviel
Recht die Auffassung entgegengestellt werden, daß es
lediglich dem starren Denken mit seinen konstanten
Vorstellungen und Begriffen gelingt, die matürliche
Anarchie< der dialektischen< Wirklichkeit, d. h. der
Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen praktisch und
theoretisch zu überwinden. In der Starrheit des >Den-
kens< liegt aber nicht sowohl seine Stärke als die Bedin¬
gung seiner Möglichkeit eingeschlossen: ohne dieselbe
kann es eben selbst nicht gedacht werden. Es ist ein
ontologisches Vorurteil, die absolute Veränderlichkeit
der Welt, welche übrigens ihrerseits nur mit Hilfe des
Begriffs der absolut beharrlichen Substanz und einer
ebenso absolut beharrlichen Kraft gedacht werden kann,
in der angeblichen Flüssigkeit der Begriffe wiederfinden
zu wollen. Das Veränderliche sowohl wie das Unver¬
änderliche der Welt wird durch konstante Begriffe der
menschlichen Erkenntnis einverleibt ...« [a. a.O.,
S. 687 f.]
542
MAX ADLER
346
Bauer in seinem Gedenkartikel zum 25. Todestag von
Marx, Geschichte eines Buches aufgezeigt. (>Neue Zeit<,
1908, I. Hbb.) Hier weist er auf den oben im Text be¬
sonders hervorgehobenen Umstand hin, daß für Marx
seine Begriffe nur Werkzeuge seien, das Konkrete zu
bewältigen, so daß er also den >aller idealistischen Philo¬
sophie gemeinsamen Gedanken der Bestimmung unse¬
res Wesens durch die Gesetzlichkeit unseres Bewußt¬
seins übernimmt< (S. 51). Und er rühmt es den Ortho¬
doxem im Unterschied zu den Revisionisten< nach, daß
sie die >Erkenntniskritik, die den Marxismus überwinden
sollte, in ihm selbst entdeckt habem (S. 32).« [a. a. O.,
Anm. S. 155]
347
nur in wechselweiser Beziehung aufeinander bestehen,
so das Ich und die anderen. Sie bilden die Daseinsweisen,
in welchen überhaupt Bewußtsein da ist: es existiert
nicht anders, als indem ein Ich sich in Beziehung
zu anderen ebenso gearteten, also mit ihm verbundenen
Ichen weiß.
Diese transzendental-soziale Bezogenheit des indivi¬
duellen Erkenntnisprozesses auf eine unbestimmte Viel¬
heit gleichartiger Erkenntnis Subjekte begründet und er¬
klärt es, warum das Grundproblem der theoretischen
Erkenntniskritik, die Frage nach der Möglichkeit der
gültigen Erfahrung gleichbedeutend ist mit der Frage
nach der Möglichkeit, nach der Allgemeingültigkeit des
Urteils. Schon durch diese Qualität der Allgemein¬
gültigkeit, die aber nicht so zu verstehen ist, als ob es
bei ihr auf eine faktische Zustimmung einer beliebigen
Menge ankäme, sondern die als ein Anspruch der Rich¬
tigkeit des Urteils auf allgemeine Zustimmung besteht,
selbst wenn es sich um Robinson auf seiner Insel handelt,
diese Allgemeingültigkeit also hebt bereits das Erkennt¬
nissubjekt aus seiner Vereinzelung in jeder seiner Er¬
kenntnisfunktionen heraus und gliedert es in ein Reich
geistiger Verbundenheit mit anderen ein, für welches
der Begriff der Menschheit nur die höchste Form ihrer
Bewußtheit geworden ist. Der Mensch baut in seiner
unmittelbaren Erfahrung nicht nur die Natur erst auf,
deren Gesetze er im langen Werdeprozeß des Erkennens
sich hintennach zum Bewußtsein bringt, sondern er
schafft zugleich auch seine Gesellschaft, die er im nicht
minder langwierigen Gestaltungsprozeß seines Wollens
bis zur Menschheit, ja bis zur Gottheit erweitert. Der
Mensch wird sozial nicht erst unter Menschen, sondern
er ist bereits sozial in jedem seiner Gedanken, von dem
er annimmt, daß ihn der Nebenmensch verstehen, und,
wenn er ihn für richtig hält, auch anerkennen wird
348
müssen. Und so erweist sich, was bis jetzt noch fast ganz
unbeachtet geblieben ist, daß die Kantsche Erkenntnis¬
kritik nicht erst in ihrem praktischen Felde, sondern
schon auf dem theoretischen Gebiet einen sozialen Stoff
behandelt, daß sie wirklich das ist, als was wir sie schon
öfters bezeichnet haben, eine kritische Philosophie des
sozialen Bewußtseins.« [Das Soziologische in Kants Er¬
kenntniskritik, Wien 1924, S. 460ff.]
349
lehnt natürlich Lenin ab, indem er ausdrücklich betont
(womit freilich der strenge Materialismus schon ver¬
abschiedet ist), daß Empfindung nicht auf Bewegung
reduziert werden kann; aber dafür geht er von der An¬
schauung aus, >daß die ganze Materie eine Eigenschaft
besitzt, die dem Wesen nach der Empfindung verwandt
ist, die Eigenschaft der Abbildung. Welch letzteres
Wort nur ein anderer Ausdruck für Empfindung selbst
ist. < Lenin behauptet also, daß die ganze Materie als
empfindungsfähig angenommen werden muß, und so
sagt er ... ausdrücklich, der Materialismus bestehe darin,
daß man zwar nicht die Empfindung aus der Bewegung
ableiten könne, aber >daß die Empfindung als eine der
Eigenschaften der sich bewegenden Materie anerkannt
wird<. Wir haben schon hervorgehoben, daß dies eine
Erschleichung ist, welche durch das Wort >Eigenschaft<
verdeckt werden soll. Es wird der Materie, die nach der
Voraussetzung des Materialismus nur eine Eigenschaft
haben darf, die der Bewegtheit, nun noch eine zweite
beigelegt, nämlich der Empfindungsfähigkeit, d. h. aber
nichts anderes als der Beseeltheit. Damit ist freilich das
Problem der Entstehung des Geistes aus der Materie
gelöst, nur nicht materialistisch. Der Geist braucht gar
nicht aus der Materie zu entstehen, weil er von Anfang
an in ihr steckt. Eine solche Auffassung nennt man
Panpsychismus, sie ist eine durchaus mögliche meta¬
physische Anschauung, hat auch ihre historischen
großen Anwendungen in dem primitiven Animismus
und in der Mystik aller Zeiten, ist vielleicht sogar auch
vom Standpunkt der modernen naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung wieder zulässig — jedenfalls aber kein
Materialismus mehr. Und jedenfalls darf der Materia¬
list^ der von einer solchen allgemeinen Eigenschaft der
Materie, empfindungsfähig zu sein, ausgeht, nicht mehr
sein materialistisches Dogma wiederholen, daß die Welt
350
sich bewegende Materie ist. Er muß vielmehr sagen, die
Welt ist sich bewegende und empfindende Materie, und
hat dann gleich in seinem ersten Grundsatz den Dualis¬
mus seiner Anschauung klar vor Augen.«[a. a. O., S. 143 f. ]
Orthodoxe
G. W. PLECHANOW
351
sagt das. Die Dinge an sich sind also die Ursache unserer
Empfindung. Aber derselbe Kant behauptet, daß die
Kategorie der Kausalität, wie alle anderen Kategorien,
auf die Dinge an sich nicht anwendbar ist. Der Wider¬
spruch dieser Behauptung ist sinnfällig.
Der gleiche Widerspruch zeigt sich bezüglich der Zeit.
Die Wirkung, welche die Dinge an sich auf uns aus¬
üben, kann nur in der Zeit stattfinden; aber anderer¬
seits ist die Zeit nur eine subjektive Form unserer An¬
schauung ... Das Angeführte genügt für den Nachweis,
daß Kants Lehre sich so lange selbst widerspricht, als
wir annehmen, und zwar in Übereinstimmung mit dem,
was der Philosoph in den >Prolegomena< sagt, daß die
Dinge an sich die Ursache unserer Empfindung sind ...«
[a.a.O., S. 136]
352
In einer Fortsetzung dieses Artikels beruft sich Plecha-
now gegen eine Anti-Kritik Schmidts darauf, daß schon
F. H. Jacobi in seinem Gespräch Idealismus und Realis¬
mus diesen Kantschen Widerspruch aufgedeckt habe
(1787); 1792 habe G. E. Schulze in seinem Buch Aene-
sidemus nachgewiesen, daß Kant und sein Schüler Rein¬
hai d micht verstanden haben, die logischen Konsequen¬
zen ihrer eigenen Lehre zu ziehen< fMaterialismus oder
Kantianismus, a.a.O., S. 591). Während Schmidt erklärt
hatte, der Materialismus setze das >Wesen< mit der Er¬
scheinung als >wesensgleich<, hält ihm Plechanow ein
Zitat von Holbach entgegen, in dem es heißt: >Wir ken¬
nen die Materie nur durch Eindrücke, Vorstellungen und
Ideen, die sie in uns hervorruft. Hiernach urteilen wir,
gut oder schlecht, je nach der Beschaffenheit unserer
Organe< (a.a.O., S. 627). Und endlich bestimmt er den
Unterschied zwischen dem Kantianismus und der materiali¬
stischen Erkenntnistheorie wie folgt:
355
Dinge an sich keine Geltung besitze. Der Materialismus,
der die Dinge an sich als die Ursache der Phänomene
erachtet, widerspricht sich nicht. Und das ist alles. Wenn
wir, gestützt auf diesen Unterschied, behaupten wollten,
daß der Materialismus eine metaphysische Lehre ist, so
müßten wir vorher annehmen, daß das Wesen der
>kritischen< Philosophie in dem Widerspruch mit sich
selbst besteht.« [a.a. O., S. 628]
»Nach Kant ist die Natur >das Dasein der Dinge, sofern
es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist<. Diese all¬
gemeinen Gesetze ... sind die Gesetze unseres Ver¬
standes. >Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori)
nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor<,
erklärt Kant. Diese Gesetze haben also keinen objektiven
Wert oder, mit anderen Worten, sie besitzen nur Gel¬
tung für die Phänomene und nicht für die Dinge an
sich. Da diese Phänomene nur in uns existieren, so ist
es augenscheinlich, daß Kants Theorie der Erfahrung
in letzter Instanz durchaus subjektiv ist und sich in
nichts von der Fichtes unterscheidet. Wir haben bereits
gesehen, in welches Labyrinth von Absurditäten sich
derjenige unvermeidlich verliert, der diese Theorie ernst
nimmt und ihre letzten Konsequenzen zieht. Betrachten
wir näher die materialistische Theorie der Erfahrung.
Nach dieser Theorie ist die Natur vor allem ein In¬
begriff von Erscheinungen. Aber da die Dinge an sich
die Bedingungen der Erscheinungen sind, oder mit
anderen Worten, da die Erscheinung durch die Aktion
des Objekts auf das Subjekt hervorgerufen wird, so sind
wir gezwungen, anzuerkennen, daß die Gesetze der
Natur nicht bloß einen subjektiven, sondern auch einen
objektiven Wert besitzen, oder m. a. W., daß der Zu¬
sammenhang der Ideen im Subjekt dem Zusammenhang
der Dinge außer ihm korrespondiert. Konrad Schmidt
wird ohne Zweifel behaupten, daß das eine >Identitäts-
354
philosophie< ist, und daß sie >die Elemente der Er¬
scheinungen als Dinge an sich« erklärt. Allein er würde
sich damit im Irrtum befinden. Um ihn vor diesem Irr¬
tum zu bewahren, bitte ich ihn, sich der geometrischen
Zeichnung zu erinnern, mit deren Hilfe Spencer den
Lesern das Verständnis seines transformierten Realis¬
mus« zu erleichtern versucht. Stellen wir uns einen
Zylinder und einen Kubus vor. Der Zylinder ist das
Subjekt, der Kubus ist das Objekt, und das von dem
Kubus auf den Zylinder geworfene Schattenbild gleicht
in nichts dem Kubus: die geraden Linien des Kubus er¬
scheinen im Schattenbild gekrümmt, die ebenen Flächen
werden durch gebogene Flächen dargestellt. Trotzdem
wird jeder Veränderung am Kubus eine entsprechende
Veränderung des Schattens folgen. Nichts hindert uns
an der Annahme, daß bezüglich des Vorgangs der Vor¬
stellung etwas Analoges erfolgt: die >Wirkungen<, welche
im Subjekt durch die Aktion des Objekts hervorgerufen
werden, sind vollständig verschieden vom Objekt (wie
auch vom Subjekt), aber nichtsdestoweniger entspricht
jeder b er ander ung des Objekts eine Veränderung seiner
Wirkung auf das Subjekt. Das ist durchaus nicht jene
grobe und vulgäre Identitätsphilosophie, die wir nach
Konrad Schmidt behaupten. Aber es ist doch eine von
der Natur ausgehende Theorie der Erfahrung, die uns
erlaubt, die Inkonsequenzen des Kantianismus und die
Absurditäten des subjektiven Idealismus zu vermei¬
den ...« [a. a. O., S. 629f.]
»Spencers Theorie der Erkenntnis [ist zwar nicht mit
der des Materialismus identisch], in den Grenzen, inner¬
halb deren ich mich ihrer bediente, um den mate¬
rialistischen Standpunkt zu verteidigen und zu erklären,
ist [sie aber] nur die Fortentwicklung der Ideen der
französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhun¬
derts ...« [a. a. O.]
355
Die soziale Wurzel des Neo-Kantianismus:
356
lektik ist eine materialistische Erkenntnistheorie unvoll¬
ständig, ja sogar unmöglich.
Bei Hegel fällt die Dialektik mit der Metaphysik zu¬
sammen. Bei uns stützt sie sich auf die Lehre von der
Natur.
Für Hegel ist die absolute Idee der Demiurg des Wirk¬
lichen ... für uns ist die absolute Idee nichts
anderes als eine Abstraktion der Bewegung, durch die
der Zustand der Materie und alle ihre Verbindungen
hervorgerufen werden.
Nach Hegel bewegt sich das Denken durch das Her¬
vortreten der Widersprüche, die in den Begriffen ent¬
halten sind, und durch die Lösung dieser Widersprüche.
Nach unserer materialistischen Lehre stellen die Gegen¬
sätze, die in den Begriffen enthalten sind, nur eine Wider¬
spiegelung, eine Übertragung in die Sprache des Denkens
der Gegensätze dar, die in den Erscheinungen infolge
ihrer allgemeinen widerspruchsvollen Grundlage vor¬
handen sind, d. h. infolge der Bewegung.
Nach Hegel wird der Gang der Dinge durch den Gang
der Ideen bestimmt. Unserer Ansicht nach bestimmt
umgekehrt der Gang der Dinge den Gang der Ideen,
der Gang des Lebens den Gang des Gedankens ...« [Die
Grundprobleme des Marxismus, russ. 1908, deutsch
Stuttgart 1910, S. 38]
357
ist von manchen ... als der direkte Gegensatz zum
Materialismus aufgefaßt worden. In Wirklichkeit, wenn
man sie nur richtig versteht, ist sie dagegen die Über¬
tragung der materialistischen Lehre Feuerbachs von der
Einheit von Sein und Denken, von Subjekt und Objekt in
die Sprache der modernen Naturwissenschaft (man ver¬
gesse übrigens nicht, daß viele französische Materialisten
des 18. Jahrhunderts geneigt waren, die Lehre von der
Beseeltheit der Materie< anzuerkennen. Von Spinoza
wollen wir schon gar nicht reden). Man darf wohl mit
Sicherheit behaupten, daß Marx und Engels, die diese
Ansicht Feuerbachs geteilt haben, die erwähnte Rich¬
tung in der Naturwissenschaft mit dem größten Inter¬
esse verfolgt hätten, die allerdings vorläufig noch un¬
genügend entwickelt ist ...« [a.a.O., S. 42f.]
W. I. LENIN
358
dem, was empfunden wird, das >Ding für uns< von dem
>Ding an sich<; wobei Hume von dem >Ding an sich<
nichts wissen will, den Gedanken daran für philo¬
sophisch unzulässig, für >Metaphysik< ... hält; Kant hin¬
gegen nimmt ein >Ding an sich< an, erklärt es aber für
>nicht-erkennbar<, für prinzipiell verschieden von der
Erscheinung, prinzipiell einer anderen Sphäre ange¬
hörend, der Sphäre des >Jenseits<, die der Erkenntnis
unzugänglich ist, aber dem Glauben offenbart wird.
Was ist das Wesentliche an dem Ein wand von Engels?
Gestern wußten wir noch nicht, daß im Kohlenteer
Alizarin existiert, heute haben wir es erfahren. Es fragt
sich, hat das Alizarin auch gestern im Kohlenteer
existiert?
Natürlich war es da. Jeder Zweifel daran wäre ein
Hohn auf die moderne Naturwissenschaft.
Wenn dem aber so ist, so lassen sich daraus drei
wichtige erkenntnistheoretische Folgerungen ableiten:
1. Die Dinge existieren unabhängig von unserem
Bewußtsein, unabhängig von unsrer Empfindung, außer
uns; denn es ist unbestreitbar, daß Alizarin auch gestern
im Kohlenteer existierte, und es ist ebenso unbestreitbar,
daß wir gestern von dieser Existenz nichts wußten und
keine Empfindung vom Alizarin hatten.
2. Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich
gibt es entschieden keinen prinzipiellen Unterschied und
kann es einen solchen nicht geben. Einen Unterschied
gibt es nur zwischen schon Erkanntem und noch nicht
jErkanntem. Die philosophischen Spitzfindigkeiten über
besondere Grenzen zwischen dem einen und dem
andern, darüber, daß das Ding an sich >jenseits< der
Erscheinungen liege (Kant), oder daß man sich von der
Frage nach der Welt, die in diesem oder jenem Teil
noch nicht erkannt ist, aber doch außer uns existiert
durch eine philosophische Scheidewand abgrenzen muß
359
(Hume) —- das alles ist barer Unsinn, eine Schrulle,
eine Ausflucht, ein Hirngespinst.
5. In der Erkenntnistheorie muß man, ebenso wie auf
allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch
denken, d. h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges
und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf
welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie
unvollkommenes, nicht exaktes Wissen zu vollkomme¬
nerem und exakterem Wissen wird.
Hat man sich einmal auf den Standpunkt gestellt,
daß sich die menschliche Erkenntnis aus dem Nicht¬
wissen entwickelt, so wird man merken, daß Millionen
Beispiele, die ebenso einfach sind wie die Entdeckung
des Alizarins im Kohlenteer, Millionen Beobachtungen,
nicht nur aus der Geschichte der Wissenschaft und Tech¬
nik, sondern auch aus jedermanns täglichem Leben, dem
Menschen die Verwandlung der >Dinge an sich< in
>Dinge für uns< zeigen ... Der einzige unausweisliche
Schluß ... den alle Menschen in der lebendigen mensch¬
lichen Praxis daraus ziehen, und den der Materialismus
seiner Erkenntnistheorie bewußt zugrunde legt — be¬
steht darin, daß außerhalb und unabhängig von uns Ge¬
genstände, Dinge, Körper existieren, daß unsere Empfin¬
dungen Abbilder der Außenwelt sind ...« [Materialismus
und Empiriokritizismus (1908), Moskau 1947, S. 98 f.]
360
Dieselbe Erfahrung ... die in uns die feste Überzeugung
bewirkt hat, daß unabhängig von uns andere Menschen
und nicht bloße Komplexe meiner Empfindungen des
Hohen, Niedrigen, Gelben, Harten usw. existieren, die¬
selbe Erfahrung bewirkt bei uns die Überzeugung, daß
Dinge, Welt und Umgebung unabhängig von uns
existieren. Unsere Empfindungen, unser Bewußtsein
sind nur das Abbild der Außenwelt, und es ist selbst¬
verständlich, daß ein Abbild nicht ohne das Abgebildete
existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von
dem Abbildenden existiert. Die >naivei Überzeugung der
Menschheit wird vom Materialismus bewußt zur Grund¬
lage seiner Erkenntnistheorie gemacht ...« [a.a.O.,
S. 61 f.]
»Die Materie ist das Primäre; Gedanke, Bewußtsein,
Empfindung sind das Produkt einer sehr hohen Ent¬
wicklung. Dies besagt die materialistische Erkenntnis¬
theorie, auf deren Boden die Naturwissenschaft instinktiv
steht ...« [a.a.O., S. 68]
362
biologisch förderndes psychisches Erlebnis. < >Nur der Er-
folg vermag beide (Erkenntnis und Irrtum) zu scheiden.<
(S. 116.) Der Begriff ist >eine physikalische Arbeits-
hypothese< (S. 143). Unsere russischen Machisten, die
Marxisten sein möchten, nehmen solche Phrasen von
Mach mit erstaunlicher Naivität hin als Beweis dafür,
daß er sich dem Marxismus nähere ... Bei Mach stehen
solche Sätze neben seiner idealistischen Erkenntnis¬
theorie, aber sie bedeuten keine Entscheidung für diese
oder jene erkenntnistheoretische Linie. Die Erkenntnis
kann nur dann biologisch fördernd, fördernd für das
menschliche Handeln, für die Erhaltung des Lebens,
für die Erhaltung der Gattung sein, wenn sie eine objek¬
tive, vom Menschen unabhängige Wahrheit wider¬
spiegelt. Für einen Materialisten beweist der >Erfolg< der
menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vor¬
stellungen mit der objektiven Natur der von uns wahr¬
genommenen Dinge. Für den Solipsisten ist >Erfolg<
alles, wessen ich in der Praxis bedarf, die man getrennt
von der Erkenntnistheorie betrachten kann. Schließen
wir das Kriterium der Praxis in die Grundlage der Er¬
kenntnistheorie ein, so kommen wir unvermeidlich zum
Materialismus, sagt der Marxist ...« [a.a.O., S. 139f.]
»Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis muß
der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkennt¬
nistheorie sein. Und dieser Gesichtspunkt führt unver¬
meidlich zum Materialismus, da er von vornherein die
zahllosen Schrullen der Professorenscholastik beiseite
wirft. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß
das Kriterium der Praxis dem Wesen nach niemals
irgendeine menschliche Vorstellung völlig bestätigen
oder widerlegen kann. Auch dieses Kriterium ist un¬
bestimmt genug, um die Verwandlung der mensch¬
lichen Kenntnisse in ein >Absolutum< zu verhindern,
zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle
363
Spielarten des Idealismus und Agnostizismus einen un¬
erbittlichen Kampf zu führen. Wenn das, was unsere
Praxis bestätigt, die einzige, letzte, objektive Wahrheit
ist, so ergibt sich daraus, daß der einzige Weg zu dieser
Wahrheit der Weg der auf dem materialistischen Stand¬
punkt stehenden Wissenschaft ist. Bogdanow z. B. läßt
Marx’ Theorie des Geldumlaufs als objektive Wahrheit
nur >für unsere Zeit< gelten und nennt es Dogmatis¬
mus^ wenn man dieser Theorie eine mbergeschichtlich-
objektive< Wahrheit zuerkennt. Das ist wieder eine
Konfusion. Daß diese Theorie der Praxis entspricht,
kann durch keine künftigen Umstände geändert werden,
und zwar aus demselben Grunde, aus welchem die
Wahrheit, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist,
ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis, d. h. der
Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder (!)
in den letzten Jahrzehnten die objektive Wahrheit der
ganzen sozial-ökonomischen Theorie von Marx über¬
haupt und nicht nur eines ihrer Teile ... beweist, so
ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an
die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier vom Dog¬
matismen der Marxisten gesprochen wird ...« [a.a.O.,
S. 143]
366
sprüche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der
Entstehung und Aufhebung von Widersprüchen aufzu¬
fassen.« [a.a.O., S. 115]
»Ist die Vorstellung der Realität näher als das Denken?
Sowohl ja als nein. Die Vorstellung kann die Bewegung
nicht in ihrer Ganzheit erfassen, zum Beispiel erfaßt sie
die Bewegung mit einer Schnelligkeit von 500000 km
in der Sekunde nicht, aber das Denken erfaßt sie und
soll sie erfassen. Das der Vorstellung entnommene
Denken widerspiegelt ebenfalls die Realität.« [a.a.O.,
S. 152]
»Die Bedeutung des Allgemeinen ist widersprechend:
es ist tot, es ist unrein, unvollständig etc. etc., aber es
ist auch nur eine Stufe zur Erkenntnis des Konkreten;
denn wir erkennen das Konkrete nie vollständig. Die
unendliche Summe der allgemeinen Begriffe, Gesetze
etc. ergibt das Konkrete in seiner Vollständigkeit. Die
Bewegung der Erkenntnis zum Objekt kann stets nur
dialektisch vor sich gehen: zurückgehen, um sicherer zu
treffen — reculer pour mieux sauter (savoir?) ...«
[a.a.O., S. 216]
»Die Dialektik ist eine lebendige, vielseitige (bei ewig
zunehmender Zahl von Seiten) Erkenntnis mit einer
Unzahl von Schattierungen jedes Herangehens, jeder
Annäherung an die Wirklichkeit (mit einem philo¬
sophischen System, das sich aus jeder Schattierung zu
einem Ganzen auswächst) — das ist der unermeßlich
reiche Inhalt, verglichen mit dem >metaphysischen<
Materialismus, dessen Haupt übel in der Unfähigkeit
besteht, die Dialektik auf die Bildtheorie, auf den
Prozeß der Erkenntnis anzuwenden. Der philosophische
Idealismus ist nur Unsinn vom Standpunkt des groben,
einfachen, metaphysischen Materialismus aus. Um¬
gekehrt ist vom Standpunkt des dialektischen Materialis¬
mus aus der philosophische Idealismus eine einseitige,
367
übertriebene, überschwengliche (Dietzgen) Entwick¬
lung (Aufblähung, Anschwellung) eines der Züge, einer
der Seiten, einer der Grenzen der Erkenntnis zu einem
Absolutum, losgelöst von der Materie, von der Natur,
vergöttlicht. Idealismus ist Pfaffentum. Stimmt. Doch
ist der philosophische Idealismus (nichtiger gesagt< und
>außerdem<) ein Weg zum Pfaffentum über eine der
Schattierungen der unendlich komplizierten (dialek¬
tischen) Erkenntnis des Menschen.
Die Erkenntnis des Menschen ist nicht (resp. be¬
schreibt nicht) eine gerade Linie, sondern eine Kurve,
die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unend¬
lich nähert. Jedes Bruchstück, jeder Splitter, jedes
Stückchen dieser Kurve kann verwandelt werden (ein¬
seitig verwandelt werden) in eine selbständige, ganze,
gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den
Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffentum
führt (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschen¬
den Klassen verankert wird). Gradlinigkeit und Ein¬
seitigkeit, Hölzernheit und Verknöcherung, Subjektivis¬
mus und subjektive Blindheit, voilä die erkenntnis¬
theoretischen Wurzeln des Idealismus. Und das Pfaffen¬
tum (— philosophischer Idealismus) besitzt natürlich
erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden,
es ist unstreitig eine taube Blüte, die wächst am lebendi¬
gen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, macht¬
vollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten mensch¬
lichen Erkenntnis.« [a.a.O., S. 288f.]
»Das Herangehen des Verstandes (des Menschen) an
das einzelne Ding, die Anfertigung eines Abdruckes
(— Begriffes) von ihm, ist kein einfacher, unmittelbarer,
spiegelartig toter, sondern ein komplizierter, zwiespälti¬
ger, zickzackartiger Akt, der die Möglichkeit in sich
schließt, daß die Phantasie dem Leben entschwebt; da¬
mit nicht genug: die Möglichkeit der Verwarndlung ...
368
des abstrakten Begriffs, der Idee in eine Phantasie (in
letzter Instanz — Gott). Denn auch in der einfachsten
Verallgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen
Idee (>der Tisch< überhaupt) steckt ein gewisses Stück-
lem Phantasie (vice versa: es ist unsinnig, die Rolle der
Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leug¬
nen: siehe Pissarew über den nützlichen Traum als
Ansporn zur Arbeit und über die leere Träumerei).«_
[a.a.O., S. 299]
GEORG LUKÄCS
»Es sei hier gestattet, mit einigen Worten ... auf die
Bemerkungen Friedrich Engels' über das Problem des
Dinges an sich einzugehen, weil diese ... die Auffassung
dieses Begriffs in weiten Kreisen der Marxisten beein¬
flußt haben und das Vorbeigehen an ihrer Richtigstel¬
lung deshalb leicht Mißverständnisse bestehen lassen
könnte ... [Es folgt das Engels-Zitat von S. 323 f.] Vor
allem gilt es hier, eine bei dem Hegelkenner Engels fast
unbegreifliche terminologische Ungenauigkeit richtig¬
zustellen. Für Hegel sind >an sic/u und für uns< durch¬
aus nicht Gegensätze, sondern im Gegenteil: notwendige
Korrelate. Daß etwas bloß >an sich< gegeben sei, be¬
deutet für Hegel, daß es bloß >für uns< gegeben ist. Der
Gegensatz des für uns< oder >an sich< ist vielmehr das
für sich<, jene Art des Gesetztseins, wo das Gedachtsein
369
des Gegenstandes zugleich das Bewußtsein des Gegen¬
standes über sich selber bedeutet. Dann ist es aber ein
völliges Verkennen der Erkenntnistheorie Kants, anzu¬
nehmen, als ob das Ding-an-sich-Problem eine Schranke
der Möglichkeit der konkreten Erweiterung unserer
Erkenntnisse bedeuten würde. Im Gegenteil, Kant, der
ja methodisch von der damals höchst entwickelten Natur¬
wissenschaft, von der Astronomie Newtons ausging und
seine Erkenntnistheorie gerade auf diese und auf ihre
Entwicklungsmöglichkeiten Zuschnitt, nimmt damit not¬
wendigerweise die schrankenlose Erweiterharkeit dieser
Methode an. Seine >Kritik< bezieht sich bloß darauf, daß
selbst eine vollendete Erkenntnis sämtlicher Phänomene
— eben bloß eine Erkenntnis der Phänomene (im
Gegensatz zu den Dingen an sich) wäre; daß selbst die
vollendete Erkenntnis der Phänomene die struktiven
Schranken dieser Erkenntnis — also nach unserer
Formulierung die Antinomien der Totalität und der
Inhalte — niemals überwinden könnte. Die Frage des
Agnostizismus, der Beziehung zu Hume (und dem
besonders gemeinten aber nicht genannten Berkeley)
hat Kant selbst in dem Abschnitt über die >Widerlegung
des Idealismus< hinreichend klar erledigt. Das tief¬
gehendste Mißverständnis von Engels liegt jedoch darin,
daß er das Verhalten der Industrie und des Experiments
für Praxis — in dialektisch-philosophischem Sinne hält.
Gerade das Experiment ist die am reinsten kontempla¬
tive Verhaltensweise. Der Experimentator schafft ein
künstliches, abstraktes Milieu, um das ungestörte Sich-
auswirken der zu beobachtenden Gesetze ungehindert,
alle hemmend irrationalen Elemente sowohl von der
Seite des Subjekts wie von der des Objekts ausschaltend,
beobachten zu können. Er ist bestrebt, das materielle
Substrat seiner Beobachtung — soweit wie nur möglich
— auf das rein vernunftgemäß Erzeugte, auf die >intel-
370
ligible Materie< der Mathematik zu reduzieren. Und
wenn Engels bei der Industrie davon spricht, daß das so
»Erzeugte< »unseren Zwecken! dienstbar wird, so scheint
er die grundlegende Struktur der kapitalistischen Gesell¬
schaft, die er selbst schon in seinem genialen Jugend¬
aufsatz unübertrefflich klar formuliert hat, für einen
Augenblick vergessen zu haben. Daß es sich nämlich in
der kapitalistischen Gesellschaft um >ein Naturgesetz!
handelt, >das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten
beruht!. Die Industrie — insofern sie >Zwecke< setzt —
ist im entscheidenden, im dialektisch-geschichtlichen
Sinne nur Objekt, nicht Subjekt der gesellschaftlichen
Naturgesetze. Marx hat wiederholt und nachdrücklich
den Kapitalisten ... als bloße Charaktermaske bezeich¬
net ... Daß also die »Industrie!, d. h. der Kapitalist
als Träger des ökonomischen, technischen usw.
Fortschritts, nicht handelt, sondern gehandelt wird,
daß seine »Tätigkeit! sich in der richtigen Beob¬
achtung und Kalkulation der objektiven Auswirkung
der gesellschaftlichen Naturgesetze erschöpft, ist im
Sinne des — sonst auch von Engels in dieser Rich¬
tung ausgelegten — Marxismus eine Selbstverständ¬
lichkeit ...« [Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin
1923, S. 145ff.]
371
sich theoretisch die —für das verdinglichte Bewußtsein
_unüberwindliche Dualität von Denken und Sein, von
Bewußtsein und Wirklichkeit.
Und von diesem Standpunkt aus kommt es aufs gleiche
hinaus, ob die Dinge als Abbilder der Begriffe oder die
Begriffe als Abbilder der Dinge gefaßt werden, denn in
beiden Fällen erhält diese Dualität eine unüberwindliche
Fixierung. Kants großzügiger und sehr folgerichtiger
Versuch, diese Dualität logisch zu überwinden, die
Theorie von der synthetischen Funktion des Bewußt¬
seins überhaupt im Erschaffen der theoretischen Sphäre,
konnte keine philosophische Lösung der Frage bringen,
weil die Dualität bloß aus der Logik entfernt, aber in
der Form der Dualität von Erscheinung und Ding an
sich als — unlösbares — philosophisches Problem ver¬
ewigt wurde ...« [a.a.O., S. 218f.]
372
Standpunkt sehr richtig das philosophische Grundmotiv
der Erinnerungslehre: es sei darin die Grundbeziehung
des Menschen mythisch dargestellt, >die Wahrheit liege
in ihm und es handle sich nur darum, daß sie zum
Bewußtsein gebracht werde <. Wie ist aber diese Identität
der letzten Substanz im Denken und Sein nachweisbar
— nachdem diese durch die Art, wie Denken und Sein
für das anschauende, kontemplative Verhalten erschei¬
nen müssen, bereits als einander prinzipiell heterogen
gefaßt worden sind? Hier muß eben die Metaphysik ein-
setzen, um durch offen oder versteckt mythologische
Vermittlungen Denken und Sein, deren Getrenntheit
nicht nur den Ausgangspunkt des >reinen< Denkens
bildet, sondern deren Getrenntheit — gewollt oder un¬
gewollt — stets festgehalten wird, irgendwie wieder zu
vereinigen. Und diese Lage ändert sich nicht im gering¬
sten, wenn die Mythologie umgedreht wird und das
Denken aus dem empirisch materiellen Sein erklärt
werden soll. Rickert nannte einmal den Materialismus
einen Platonismus mit verkehrtem Vorzeichen. Mit
Recht. Denn solange Denken und Sein ihr altes, starres
Gegenüberstehen bewahren, solange sie in ihrer eigenen
Struktur und der Struktur ihrer Beziehungen zuein¬
ander unverändert bleiben, ist die Auffassung, daß das
Denken ein Produkt des Gehirns und darum mit den
Gegenständen der Empirie übereinstimmend ist, eine
ebensolche IMythologie wie die von IViederermnerung
und Ideenwelt. Eine Mythologie, denn sie ist ebenso¬
wenig imstande, die spezifischen Probleme, die hier auf¬
tauchen, aus diesem Prinzip heraus zu erklären ... Es
ist aber ... ebensowenig möglich, diesen Unterschied
durch einen unendlichen Progreß aus der Welt zu
schaffen. Es entsteht dabei entweder eine Scheinlösung
oder die Abbildlichkeit taucht in veränderter Form
wieder auf.
373
Gerade der Punkt, worin sich für das historische
Denken die Übereinstimmung von Denken und Sein
enthüllt, daß sie nämlich beide — unmittelbar, aber
bloß unmittelbar — die dinghafte starre Struktur haben,
zwingt dem undialektischen Denken diese unlösbare Frage¬
stellung auf. Aus dem starren Gegenüberstehen von
Denken und (empirischem) Sein folgt einerseits, daß
sie unmöglich in einem Verhältnis der Abbildlichkeit
zueinander steben können, andererseits aber, daß das
Kriterium des richtigen Denkens nur auf dem Weg der
Abbildlichkeit gesucht werden kann. Solange der
Mensch sich anschauend-kontemplativ verhält, kann
seine Beziehung sowohl zu seinem eigenen Denken wie
zu den ihn umgebenden Gegenständen der Empirie nur
eine unmittelbare Beziehung sein. Er nimmt beide in
ihrer — von der historischen Wirklichkeit produzierten
Fertigkeit — hin. Da er die Welt nur erkennen, nicht
verändern will, ist er gezwungen, sowohl die empirisch¬
materielle Starrheit des Seins wie die logische Starrheit
der Begriffe als unabwendbar hinzunehmen, und seine
mythologischen Fragestellungen richten sich nicht dar¬
auf, aus welchem konkreten Boden die Starrheit die¬
ser beiden Grundgegebenheiten entstanden ist, welche
realen Momente in ihnen selbst stecken, die in der
Richtung einer Überwindung dieser Starrheit am
Werke sind, sondern bloß darauf, wie das unveränderte
Wesen dieser Gegebenheiten als Unverändertes doch
zusammengebracht und als solches erklärt werden
könnte.
Die Lösung, die Marx in seinen Feuerbachthesen an¬
gibt, ist die Verwandlung der Philosophie ins Praktische.
Dieses Praktische hat aber ... seine objektiv strukturelle
Voraussetzung und Kehrseite in der Auffassung der
Wirklichkeit als eines >Komplexes von Prozessen <, in der
Auffassung, daß die Entwicklungstendenzen der Ge-
574
schichte den starren, dinghaften Faktizitäten der Em¬
pirie gegenüber eine aus ihr selbst entsteigende, also
keineswegs jenseitige, aber doch eine höhere, die wahre
Wirklichkeit repräsentieren. Das bedeutet nun für
die Abbildtheorie, daß sich das Denken, das Bewußt¬
sein zwar an der Wirklichkeit zu orientieren hat,
daß das Kriterium der Wahrheit in dem Auftreffen
auf die Wirklichkeit besteht. Jedoch diese Wirklich¬
keit ist mit dem empirisch-faktischen Sein keineswegs
identisch. Diese Wahrheit ist nicht, sie wird ...« [a. a. O.,
S. 220ff.]
»Andererseits ist das Werden zugleich die Vermittlung
zwischen Vergangenheit und Zukunft ... zwischen kon¬
kreter, d. h. historischer Vergangenheit und konkreter,
d. h. ebenfalls historischer Zukunft. Das konkrete Hier
und Jetzt, in dem es sich zum Prozeß auflöst, ist kein
durchlaufender, unfaßbarer Augenblick mehr, die ent-
huschende Unmittelbarkeit (vgl. darüber die Phäno¬
menologie Hegels, besonders Werke, Bd. II, S. 75ff., wo
dieses Problem noch am tiefsten behandelt wird, sowie
Ernst Blocks Lehre vom >Dunkel des gelebten Augen¬
blicks < und seine Theorie des >noch nicht bewußten
Wissens <), sondern das Moment der tiefsten und weit¬
verzweigten Vermittlung, das Moment der Entscheidung,
das Moment der Geburt des Neuen. Solange der Mensch
sein Interesse — kontemplativ — auf Vergangenheit
oder Zukunft richtet, erstarren beide zu einem fremden
Sein, und zwischen Subjekt und Objekt ist der unüber-
schreitbare schädliche Raum< der Gegenwart gelagert.
Erst wenn der Mensch die Gegenwart als Werden zu
erfassen fähig ist, indem er in ihr die Tendenzen er¬
kennt, aus deren dialektischem Gegensatz er die Zukunft
zu schaffen fähig ist, wird die Gegenwart... als Werden
zu seiner Gegenwart. Nur wer die Zukunft herbeizu¬
führen berufen und gewillt ist, kann die konkrete Wahr-
575
heit der Gegenwart sehen ... Wenn aber die herbeizu¬
führende ... Zukunft, das Neue in den sich (mit unserer
bewußten Hilfe) realisierenden Tendenzen die Wahr¬
heit des Werdens ist, erscheint die Frage von der Ab¬
bildlichkeit des Denkens als vollständig sinnlos. Das
Kriterium der Richtigkeit des Denkens ist zwar die
Wirklichkeit. Diese ist aber nicht, sondern wird — nicht
ohne Zutun des Denkens.
Hier erfüllt sich also das Programm der klassischen
Philosophie: das Prinzip der Genesis ist in der Tat die
Überwindung des Dogmatismus (besonders in seiner
größten geschichtlichen Gestalt, in der platonischen
Abbildlehre). Aber nur das konkrete (geschichtliche)
Werden vermag die Funktion einer solchen Genesis zu
leisten. Und in diesem Werden ist das Bewußtsein (das
praktisch gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats)
ein notwendiger, unentbehrlicher, konstitutiver Be¬
standteil. Denken und Sein sind also nicht in dem Sinne
identisch, daß sie einander >entsprechen<, einander Ab¬
bildern, daß sie miteinander >parallellaufen< oder >zu-
sammenfallen< (alle diese Ausdrücke sind nur versteckte
Formen einer starren Dualität), sondern ihre Identität
besteht darin, daß sie Momente eines und desselben real¬
geschichtlichen dialektischen Prozesses sind. Das, was
das Bewußtsein des Proletariats >abbildet<, ist also das
aus dem dialektischen Widerspruch der kapitalistischen
Entwicklung entspringende Positive und Neue. Mithin
etwas, was keineswegs vom Proletariat erfunden oder
aus dem Nichts >geschaffen< wird, vielmehr die not¬
wendige Folge des Entwicklungsprozesses in seiner
Totalität ist; das aber erst in das Bewußtsein des Prole¬
tariats gehoben, vom Proletariat praktisch gemacht aus
einer abstrakten Möglichkeit zu einer konkreten Wirk¬
lichkeit wird. Diese Verwandlung ist aber keine bloß
formelle, denn das Wirklichkeitwerden einer Möglich-
576
keit, das Aktuellwerden einer Tendenz bedeutet eben
die gegenständliche Umwandlung der Gesellschaft, die
Veränderung der Funktionen ihrer Momente und damit
die sowohl struktive wie inhaltliche Veränderung sämt¬
licher einzelner Gegenstände.
Es darf aber niemals vergessen werden: nur das
praktisch gewordene Klassenbewußtsein des Proletariats
besitzt diese verwandelnde Funktion ...« [a.a.O.,
S. 223 f.]
ANTONIO GRAMSCI
578
man ernsthaft ein derartiges Problem, ob die Außenwelt
objektiv existiert, stellen könne. Es genügt, das Problem
m dieser Form zu stellen, um einen Heiterkeitssturm
Gargantuaischen Ausmaßes zu erzeugen, der einfach
unbezähmbar ist. Die Leute >glauben<, daß die Außen¬
welt objektiv wirklich ist, und genau hier liegt das
Problem: welches ist der Ursprung dieses >Glaubens<
und welchen kritischen Wert hat er >objektiv<? Dieser
Glaube ist in der Tat religiösen Ursprungs, auch wenn
diejenigen, die ihn teilen, in religiösen Fragen indifferent
sein sollten. Da alle Religionen lehren, daß Gott das
Universum vor der Schöpfung der Menschen geschaffen
hat und daß infolgedessen der Mensch die Welt fix und
fertig, katalogisiert und definiert vorfand, ist dieser
Glauben zu einem unerschütterbaren Faktum des »ge¬
sunden Alltagsverstandes < geworden und lebt mit glei¬
cher Kraft weiter, selbst nachdem das religiöse Gefühl
nachgelassen hat. Deshalb hat es eher eine reaktionäre
Bedeutung, wenn man sich zum Zwecke der Widerlegung
des Idealismus von seiner komischen Seite aus auf diesen
>gesunden Alltagsverstand< stützt. Implicite bedeutet das
nämlich eine Rückbeziehung auf das religiöse Gefühl,
und in der Tat bedienen sich die katholischen Redner
und Schriftsteller des gleichen Mittels, um den gleichen
durchschlagenden Heiterkeitserfolg zu erzielen ...«
[a. a. O., S. 145 f.]
»In Wahrheit ist das Problem meines Erachtens das
Folgende: Wie kann man es erklären, daß eine solche
Auffassung, die gewiß auch für einen Philosophen der
Praxis [einen Marxisten] nicht einfach wertlos ist, bei
ihrer öffentlichen Darstellung nur Gelächter und Heiter¬
keit erzeugt? Es ist dies, glaube ich, ein typischer Fall
für den Abstand, der Wissenschaft und Leben, be¬
stimmte führende intellektuelle Gruppen und die gro¬
ßen Volksmassen voneinander trennt; ein typischer Fall
379
auch dafür, daß die philosophische Fachsprache zu einem
Jargon geworden ist, der die gleiche Wirkung wie der
des Harlekin hervorruft. Wenn aber der >gesunde All¬
tagsverstand < sich vor Lachen schüttelt, sollte der Philo¬
soph der Praxis nach einer Erklärung suchen, einmal
dafür, daß eine solche Auffassung entstehen und sich
unter Intellektuellen verbreiten konnte, und dann auch,
warum sie den >gesunden Alltagsverstand< zum Lachen
bringt. Es steht fest, daß die subjektivistische Auffassung
der neuzeitlichen Philosophie in ihrer entwickeltsten
Gestalt eigentümlich ist, da ja aus ihr und als Hinaus¬
gehen über sie der historische Materialismus entstanden
ist, der in der Lehre von den Überbauten das, was die
traditionelle Philosophie in spekulativer Form aus¬
drückte, in eine realistische und historistische Sprache
übersetzte. Die Demonstration dieser These, die hier
kaum nur formuliert wurde, hätte die größte kulturelle
Tragweite, da sie eine ganze Reihe von nichtigen und
überflüssigen Diskussionen beenden und eine organische
Entwicklung der Philosophie der Praxis ermöglichen
würde. Diese würde dann endlich zur führenden Re¬
präsentantin der hohen Kultur werden. Es ist außer¬
ordentlich erstaunlich, daß bisher noch nie in befriedi¬
gender Weise die Verbindung zwischen der idealistischen
These von der Wirklichkeit der Welt als eines Erzeug¬
nisses des menschlichen Geistes einerseits und der Behaup¬
tung der Historizität und Hinfälligkeit aller Ideologien
durch die Philosophie der Praxis auf der andern Seite
festgestellt und entwickelt worden ist.
Diese Frage ist —- wie man versteht —- eng mit der
nach dem Wert derjenigen Wissenschaften verbunden,
die man gewöhnlich exakte oder physikalische nennt.
Diese haben nach und nach eine führende Stellung
innerhalb der Philosophie der Praxis eingenommen, die
beinahe fetischistisch genannt werden muß, und durch
580
die sie zur einzigen Philosophie, zur einzig wahren Welt¬
erkenntnis gemacht werden.
Was aber soll man unter subjektivistischer Wirklich¬
keitsauffassung verstehen? Ist es möglich, sich bei
irgendeiner der tausend subjektivistischen Theorien
aufzuhalten ... die manchmal bis zum Solipsismus
gehen? Es ist klar, daß die Philosophie der Praxis auch
hier nur mit der Hegelschen idealistischen Auffassung
in Beziehung gesetzt werden kann.
Sie bildet die entwickeltste und genialste Form der
idealistischen Auffassung, und von den späteren Theorien
brauchen nur partielle Aspekte und nützliche Gesichts¬
punkte berücksichtigt zu werden ...« [a.a.O., S. 146]
»Der Vorwurf, den man dem Verfasser des gemein¬
verständlichen Lehrbuchs< machen muß, ist, daß er die
subjektivistische Auffassung so dar gestellt hat, wie sie
in der Kritik des >gesunden Alltagsverstands < erscheint,
und den Begriff der objektiven Wirklichkeit in seiner
trivialsten und unkritischsten Form aufgenommen hat,
ohne auch nur zu ahnen, daß man gegen den letzteren
den Vorwurf des Mystizismus erheben kann, was auch
in der Tat geschehen ist. Das Ärgerliche ist, daß es bei
der Analyse dieser Auffassung im ganzen doch nicht
sehr leicht ist, einen derart mechanisch konzipierten
Standpunkt der äußeren Objektivität zu rechtfertigen.
Wer kann sich denn auf diese Weise auf den Standpunkt
des >Kosmos an sich< stellen? Man kann sehr wohl be¬
haupten, daß es sich hierbei um ein Besiduum der Vor¬
stellung vom unbekannten Gott handelt... Der Objek¬
tivitätsbegriff des metaphysischen Materialismus scheint
eine Objektivität angeben zu wollen, die sogar außerhalb
des Menschen existiert; wenn man aber behauptet, daß
eine Wirklichkeit existieren würde, auch wenn der
Mensch nicht existierte, dann formuliert man entweder
eine Metapher, oder man fällt in eine Form des Mystizis-
381
mus. Wir erkennen die Realität nur durch ihre Bezie¬
hung zum Menschen, und da der Mensch historisches
Werden ist, sind beide, das Bewußtsein und die Wirk¬
lichkeit, ebenfalls ein Werden und die Objektivität eben¬
so usw. Die Engelssche Formel: >Die Materialität der
Welt ... ist bewiesen ... durch eine lange und lang¬
wierige Entwicklung der Philosophie und der Natur¬
wissenschaft (Anti-Dühring, S. 51), müßte analysiert
und präzisiert werden. Ist hier unter Naturwissenschaft
die praktische oder die theoretische Tätigkeit der Natur¬
forscher zu verstehen? Oder die Synthese dieser beiden
Tätigkeiten? Man könnte sagen, daß die experimentelle
Tätigkeit des Naturwissenschaftlers der Typus des ein¬
heitsstiftenden Wirklichkeitsprozesses ist, denn sie ist
das erste Modell der dialektischen Vermittlung zwischen
Mensch und Natur, die historische Elementar zelle, durch
die der Mensch, indem er sich durch die Technik mit
der Natur in Beziehung setzt, diese erkennt und be¬
herrscht. Es besteht kein Zweifel, daß die Aufnahme
der experimentellen Methode die Grenzscheide zweier
Epochen bildet und den Auflösungsprozeß von Theologie
und Metaphysik in Gang setzt, mit ihm aber jene Ent¬
wicklung des modernen Denkens, an deren Ende die
Philosophie der Praxis steht. Das wissenschaftliche
Experiment ist die erste Zelle der neuen Produktions¬
weise, der neuen Vereinigung von Mensch und Natur.
Der experimentierende Wissenschaftler ist zugleich
Arbeiter und nicht nur reiner Denker und sein Denken
wird kontinuierlich durch die Praxis kontrolliert und
umgekehrt, bis sich die perfekte Einheit von Theorie
und Praxis verwirklicht ...« [a.a.O., S. 149ff. 1
ETHIK
383
sittliche Verurteilung jener >Arbeitsteilung< zwischen ver¬
schiedenen normativen Disziplinen bedeutet der Marx-
sche Hinweis auf die entgegengesetzten Bewertungen der
Ökonomie und der Moral? Wenn der Ökonom und der
Moralist ein und dieselbe Handlung ganz entgegengesetzt
>bewerten<, dann ist eben die Wertung des Ökonomen von
vornh erein fragwürdig und die des Moralisten unrealistisch
für Menschen, die in einer Welt leben müssen, die von
den Gesetzen der Ökonomie beherrscht wird. In der Kritik
an der christlichen Moral der Entsagung und der Unter¬
drückung der natürlichen Triebe wird dann Marxens
eigene moralische Stellungnahme deutlich.
384
Gedanken ergänzen — die Moral des siegreichen Prole¬
tariats die universellste und höchste Menschheitsmoral
sem werde. M re in der Engelsschen Geschichtsphilosophie
starker die evolutionäre und technizistische Seite berück¬
sichtigt wird als die revolutionäre (»sprunghafte«), dia¬
lektische, so auch hier in der Auffassung von der Ent¬
wicklung der Moralen. Lenin, der davon spricht, daß die
Menschen im Kommunismus gelernt haben werden, »die
elementaren, seit alters her bekannten und seit Jahr¬
tausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des
Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne
Zwang ... einzuhaltem, scheint eher an eine zur Gewohn¬
heit gewordene allgemeine Moralität als an den (von
Marx erwarteten) Durchbruch der natürlichen Güte des
Menschen zu denken. Wenn der heutige Sowrjetmarxis-
mus mit höchstem Nachdruck die »moralische Erziehung
der Massen« vorantreiben will, hat er sich noch weiter
vom Marxschen Ausgangspunkt entfernt.
385
zum Streikbrecher werden darf und ob man sein mora¬
lisches Dilemma besser mit der naturalistischen Ethik
Kautskys oder mit der neukantianischen Bauers lösen
kann.
Für fast alle neukantianischen Marxisten tritt im übri¬
gen die ethische Begründung des Sozialismus an die Stelle
der geschichtsphilosophischen. Nachdem die Geschichts¬
philosophie zu einer rein >naturwissenschaftlich< gedach¬
ten Evolutionslehre geworden war, mußte ja in der Tat
die Frage gestellt werden, warum sich das Proletariat für
diese Entwicklung und ihre Beschleunigung einsetzen
sollte. Die Evolution als solche stellt ja nicht unter allen
Umständen ein Bonum dar. Wer sich nicht mit einer
naturalistischen Moral im Stile Kautskys oder einer pro-
diiktionsmaterialistischen Bewertung (wie der spätere
Stalin) zufriedengeben wollte, der mußte nach einer Er¬
gänzung der marxistischen Evolutionslehre in einer spezi¬
fischen Ethik suchen. Material gedeutet, bot die Formel
des kategorischen Imperativs, derzufolge niemals ein
Mensch mur als Mitteh, sondern immer zugleich als
Zweck< behandelt werden soll, einen guten Ansatzpunkt.
In ihrem Namen wurde das >System der Lohnarbeit
verurteilt. Denker, die obendrein an der vulgär-mar¬
xistischen >Zusammenbruchstheorie< des Kapitalismus
zweifelten, gingen dazu über, die entwicklungsgeschicht¬
liche >Ableitung< des Sozialismus durch eine ethische
zu ersetzen (Bernstein, Struve, Woltmann, Tugan-
Baranowsky).
Gegenüber den oft scharfsinnigen Gedanken der Neu¬
kantianer nimmt sich die >Orthodoxie< von Kautsky und
Lenin recht dürftig aus. An Kautskys Gedanken zur
sozialistischen Ethik ist einmal der starke Naturalismus
(Zurückführung der Moral auf soziale Triebe) und zum
anderen die Vorwegnahme der Stalinschen Formel von
der >Rückwirkung des Überbaus auf die Basis< bemerkens¬
wert. Lenins Originalität besteht vor allem in der skru¬
pellosen Reduktion der (proletarischen) Moral auf
die taktisch-strategischen Interessen des Klassenkamp-
386
fes. >Gut ist, was dem Sieg der Arbeiterklasse nützt<.
Warum und wodurch der Sieg der Arbeiterklasse selbst
>sittlich gerechtfertigt ist, das wird gar nicht mehr
erörtert.
Von diesen >Orthodoxen< hebt sich schon Paul Lafar-
gues Lob der Faulheit ab, das entschlossen das neuzeit¬
lich-bürgerliche Moralprinzip des Fleißes diskreditiert.
Kein Wunder, daß seine Schrift in der heutigen Sowjet¬
union, in der ein beispielloser Triumph der frühkapitali¬
stischen Moral und Prüderie herrscht, kaum bekannt ist.
Den eigentlichen Kontrapunkt gegen die orthodoxe Ver¬
fälschung der Marxschen Gedanken zur Ethik bildet aber
die Äußerung von Herbert Marcuse über Glück und
Moral in einer freien künftigen Gesellschaft. Hier
werden die Marxschen Ideen wieder lebendig und
— noch eindringlicher in anderen Arbeiten des Ver¬
fassers — mit den Einsichten der Freudschen Psycho¬
logie kombiniert. Der Glaube an den von Natur aus
guten Menschen wird durch die Annahme der Möglich¬
keit einer radikalen Änderung seiner Triebstruktur in
einer nichtkompetiven Gesellschaft präzisiert.
Klassiker
388
der Moral ist der Reichtum an gutem Gewissen, an
Tugend etc., aber wie kann ich tugendhaft sein, wenn
ich nicht bin, wie ein gutes Gewissen haben, wenn ich
nichts weiß? — Es ist dies im Wesen der Entfremdung
gegründet, daß jede Sphäre einen andren und entgegen¬
gesetzten Maßstab an mich legt, einen andren die Moral,
einen andren die Nationalökonomie, weil jede eine be¬
stimmte Entfremdung des Menschen ist und jede einen
besonderen Kreis der entfremdeten Wesenstätigkeit
fixiert, jede sich entfremdet zu der andren Entfremdung
verhält ...« [a.a.O., S. 151 f.]
S. 506] 3 „ . .
». . Wenn das wohlverstandene Interesse das Prinzip
aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privat¬
interesse des Menschen mit dem menschlichen Interesse
zusammenfällt. Wenn der Mensch unfrei im materiali¬
stischen Sinne, d. h. frei ist, nicht durch negative
Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die
positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu
machen, so muß mau nicht das Verbrechen am Ernad-
nen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstatten
589
des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen
Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben.
Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird,
muß man die Umstände menschlich bilden ... Diese
und ähnliche Sätze findet man fast wörtlich selbst in
den ältesten französischen Materialisten ...« [a.a.O.,
S. 507 f.]
590
Die Verkehrung der Menschlichkeit in der christlichen
Moral:
392
machen> &erade wie das stets umgangene Gesetz den
religiösen Juden zum religiösen Juden macht. Dieses
Verhältnis des Bourgeois zu seinen Existenzbedingungen
erhält eine seiner allgemeinen Formen in der bürger¬
lichen Moral ...« [a.a.O., S. 162]
393
als der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat
kommunistische und sozialistische Anschauungen er¬
zeugt hatte. Damit war aller Moral, sei sie Moral der
Askese oder des Genusses, der Stab gebrochen ...«
[a.a.O., S. 397]
394
und möglichster Ausbeutung der einen durch die
andern ...« [Engels, Ludwig Feuerbach und der Aus¬
gang der klassischen deutschen Philosophie (1886), Aus-
gewählte Werke, Bd. II, S. 358]
JOSEPH DIETZGEN
396
holen? Einfach, indem wir aus dem Verschiedenen das
Allgemeine, indem wir extrahieren, was unter allen Um¬
ständen moralisch, sittlich oder recht ist. Es kann das
nichts Spezielles, es muß das Generelle, das Abstrakte
des gesamten moralischen Materials sein. Mittels eines
solchen induktiven Verfahrens findet sich, daß die sitt¬
liche Weltordnung im allgemeinen aus den Rücksichten
besteht, verschieden je nach Zeit und Umständen,
welche das gesellschaftliche Bedürfnis der Menschen er¬
heischt. Ferner findet sich die unleugbare Tatsache, daß
dieses Bedürfnis mit der Kultur sich entwickelt, daß der
soziale Trieb des Menschen wächst, daß die menschliche
Assoziation breiter und inniger, daß die Moral morali¬
scher wird. Schon die christliche Moral spricht aus, daß
die beschränkte Brüderlichkeit der Horden, Stämme,
Völker und Nationen sich in eine internationale Brüder¬
schaft verwandeln soll. Aber der überspannte religiöse
Geist, seine Schelmerei und Narrheit, vermochte das
Ideal nicht zu realisieren. Erst der ökonomische Materia¬
lismus, erst die von der Sozialdemokratie erstrebte kom¬
munistische Organisation der leiblichen Arbeit wird die
Menschen wahrhaft assoziieren. Aus der politischen Ab¬
schaffung der Klassenherrschaft, aus der Verwandlung
der egoistischen Kapitalien in genossenschaftliche Ar¬
beitsinstrumente kann erst innige Nächstenliebe, die
wahre Moral und Gerechtigkeit resultieren.« [a.a.O.,
S. 147]
398
verstehen das besser. Uns ist der reale Weltprozeß mit
seiner Menschengeschichte das lebendige Material, aus
dem wir die abstrakte Idee der Moral, die ideale Sittlich¬
keit bewußtermaßen produziert haben. Nun bestrebt sich
die Sozialdemokratie, das Ideal der Nächstenliebe mittels
einer sozialeren Gestaltung der politischen Ökonomie zu
verwirklichen ...« [a.a.O., S. 150]
»Das Prinzip der Moral ist das Prinzip der Gesell¬
schaft, und das Prinzip der Gesellschaft ist das Prinzip
des Fortschritts. Die Sozialdemokratie ist nichts und will
nichts als gesellschaftlichen und genossenschaftlichen
Fortschritt, das ist die wahre moralische Vervollkomm¬
nung ...« [a.a.O., S. 152]
»Wie ... Stiel und Klinge der generelle Inhalt des
Messers, so ist die Unterordnung der besonderen Gelüste
und persönlichen Interessen unter das allgemeine, kom¬
munale, nationale und schließlich internationale Heil
genereller Inhalt der Moral. Du sollst deine momentanen
Begierden dem allgemeinen Leben, die persönlichen
Bedürfnisse dem Heile der Sozietät unterordnen — das
ist moralisch, vernünftig und notwendig. Worin zeit¬
weise nun das Heil der Gesellschaft besteht, wird durch
Gesetz bestimmt. Mit der faktischen Welt stimmt die
sozialdemokratische Moraltheorie überein, sie anerkennt
im politischen Staat den berechtigten Wächter und
Hüter der Sittlichkeit, aber fühlt sich auch berufen, dem
Staat auf die Finger zu sehen, daß er nicht aus einer
vergänglichen und veränderlichen Institution einen
ewigen und heiligen Popanz mache, daß er nicht statt
dem sittlichen Fortschritt eine unsittliche Reaktion,
statt kommunistischer Moral egoistische Laster trei¬
be. Indem die Sozialdemokratie alle Privatinteressen
dem Allgemeinen, der sozialistischen Organisation unter¬
ordnet, bekundet sie wahre, echte Moral ...« [a.a.O.,
S. 153]
399
Neukantianer
EDUARD BERNSTEIN
400
Mit dieser abweisenden Haltung der Theorie steht
nun die Praxis des Marxismus in anscheinend unver¬
söhnlichem Widerspruch. Niemand wird bestreiten
können, daß das Kapital überreich an Wendungen ist,
denen ein moralisches Urteil zugrunde liegt. Schon
die Bezeichnung des Lohnverhältnisses als eines Aus-
beutungsverhältnisses unterstellt ein solches, da der
Begriff der Ausbeutung, wo es sich um Charakterisierung
der Beziehungen von Mensch zu Mensch handelt, stets
den Makel unberechtigter Aneignung, der Übervortei¬
lung, einschließt. In anerkannten Popularisierungen
aber wird der Mehrwert kurzerhand als Prellerei, Dieb¬
stahl oder auch Raub gebrandmarkt.
Der kapitalistische Unternehmer erscheint ... als der
Aneigner von Mehrwert, der ihm nicht gebührt, der
Arbeiter ... als um einen Teil des ihm Zukommenden
gekürzt. Gelegentlich wird dann wohl hinzugefügt, daß
der Erstere nicht persönlich für diese Aneignung zu
tadeln ist, sondern nur tue, wozu er nach Lage der
Verhältnisse, die er nicht geschaffen, berechtigt sei; aber
gerade in dieser Entschuldigung liegt der Gedanke ein¬
geschlossen, daß die Aneignung von Mehrwert im
Grunde ein Unrecht ist. Die ökonomische Objektivität
der Mehrwertslehre besteht denn auch nur für die
abstrakte Untersuchung. Sobald es zu ihrer Anwendung
kommt, stellt sie sich vielmehr sofort als ein ethisches
Problem dar, wie denn die Masse sie auch immer wieder
moralisch auffaßt. Letzteres gilt übrigens von der gan¬
zen Arbeitswerttheorie. So wird die an ihr von den
Bekennern der Nützlichkeits-(Grenznutzen-)Werttheo-
geübte Kritik von vielen ihrer sozialistischen Ver¬
teidiger völlig moralisch behandelt, d. h. mit einem
sonst unmotivierten Aufwand von sittlicher Entrüstung
zurückgewiesen. Sie sehen in ihr nur den Versuch, die
moralische Fragwürdigkeit des Mehrwerts zu verdun-
401
kein. Umgekehrt wird die Arbeitswerttheorie von vielen
Verteidigern der bestehenden Gesellschaftsordnung
lediglich wegen der Kompromittierung des Mehrwerts
bekämpft ...« [Das realistische und das ideologische
Moment im Sozialismus, »Die Neue Zeit«, XVI. Jg.,
II. Hbb., S. 390 f.]
402
auf Grundlage der heutigen Produktionsweise< sei, be¬
merkt Ph. Lotmar in seiner höchst lehrreichen Abhand¬
lung über die Gerechtigkeit, daß Marx da mit >gerecht<
nur >rechtmäßig< oder >rechtlich entsprechend< meine.
Vom Standpunkt der aristotelischen Auffassung der
Gerechtigkeit als verhältnismäßiger Gleichheit, den
Lotmar akzeptiert, könne die Verteilung trotzdem un¬
gerecht sein ...)
Die Gerechtigkeit ist denn auch heute noch ein sehr
starkes Motiv in der sozialistischen Bewegung, wie ja
überhaupt keine andauernde Massenaktion ohne mora¬
lische Antriebe stattfindet ...« [a.a.O., S. 592f.]
»Der marxistische Sozialismus unterscheidet "'"sich
nicht dadurch von anderen sozialistischen Theorien, daß
er völlig frei wäre von jeder Ideologie. Das ist keiner
auf die Zukunft gerichteten Lehre gegeben. Ohne
Ideologie hört überhaupt jede weitblickende Reform¬
tätigkeit auf. Der Marxismus hat das Fundament der
sozialistischen Theorie der Ableitung aus vorgefaßten
Ideen und damit der willkürlichen Konstruktion ent¬
zogen und es auf den soliden Boden einer realistischen
Geschichtsbetrachtung gestellt, die in ihren Hauptzügen
unwiderlegt geblieben ist. Daß ihre Begründer in allen
Einzelheiten die einzig zulässigen Konsequenzen aus ihr
gezogen, daß die von ihnen gezogenen Folgerungen für
alle Zeiten unbeschränkte Geltung haben würden,
haben sie nie behauptet. Es war nur natürlich, daß sie
u. a. in ihrem Kampfe gegen die damals übliche ma߬
lose Überschätzung der moralischen Anschauungen zur
Unterschätzung derselben gedrängt wurden. Tatsäch¬
lich ist die Moral eine zwar nicht unter allen Umständen,
aber doch häufig, zwar nicht unbegrenzt, aber doch in
weiter Sphäre schöpferischer Wirkung fähige Potenz,
und es läßt sich an zahlreichen Beispielen beweisen,
daß schon die Moral der entwickelten bürgerlichen
405
Gesellschaft durchaus nicht identisch ist mit der Moral
des Bourgeois, wie er im Buche steht. Wer nicht von
einem jähen Sprung in die kommunistische Gesellschaft
träumt, wird daher, wie die Durchsetzung wirtschaft¬
licher Reformen, so auch die Weiterbildung der Moral¬
und Rechtsanschauungen nicht als eine Sache betrach¬
ten, die lediglich der Zukunft anheimfällt ...« [a.a.O.,
S. 395]
404
i Labriola recht, wenn er, solange er untersucht, von Ab-
s sichten und Wertschätzungen absehen will. Aber dann
j müßte sogar der Gedanke, daß Entwicklung zur > Ver-
i
4 vollkommnungi führt, den man auch bei Labriola öf-
ters findet, wegbleiben. Denn dieser Gedanke schließt
eine FFertschälzung ein und hat mit der Untersuchung
U der Entwicklungstatsachen als solcher nichts zu tun.
1 Ebenso aber ist die Frage davon zu trennen, ob und wie
i weit der bewußte Wille auf künftige Entwicklung Ein-
1 fluß üben kann. Denn auch er enthält Würdigungen
i von richtig und unrichtig, gut und schlecht. Ist nun
i auch sicherlich das Material zu solchen Würdigungen
) durch die Tatsachen an die Hand gegeben, so sind sie
) doch selbst in ihrem Charakter als Würdigungen nicht
i daraus abzuleiten; denn in dem historischen Materialis¬
mus liegt zugestandenermaßen keine Würdigung.
Hier beginnt der Punkt, an dem wir uns mit Labriola
auseinandersetzen müssen, denn hier arbeitet er zwei
verschiedene Gedanken vorschnell ineinander. Aber
nicht allein bloß Labriola, sondern die meisten Soziali¬
sten, Marx und Engels nicht ausgeschlossen ... Die Ver¬
mengung, die wir im Auge haben, ist eben derart, wie
es eine Vermengung der Biologie mit der Chemie sein
würde, ohne daß beide zuvor nach den ihnen eigenen
Methoden gesondert untersucht wären ... Die Biologie
fragt, unter welchen kausalen Bedingungen der Orga¬
nismus entsteht; der Chemie ist das ganz gleichgiltig,
sie fragt, aus welchen Zusammensetzungen er besteht...
Erst dann, wenn beide Wissenschaften zunächst nach
ihren eigenen Methoden gearbeitet haben, kann die
komplexe Frage mit Erfolg in Angriff genommen
werden, wie die chemischen Verbindungen sich beim
Entstehen zusammenfinden und modifizieren. Dann
erst können die beiden Wissenschaften einander för¬
dern ...
405
Genau dasselbe Verhältnis, wie es zwischen Biologie
bzw. Physiologie und Chemie besteht, findet auch
zwischen Geschichte und Ethik statt. Die Geschichte stellt
nach der Methode des historischen Materialismus das
Werden der Gesellschaft dar, ohne nach dem Willen,
den Werturteilen der Menschen, die Geschichte machen,
zu fragen. Die millionenfachen Zusammenstöße und
Verflechtungen menschlichen Willens, die im Ergebnis,
im Tun zu Tage treten, sind ihr gleichgiltig. Sie fragt
nur nach dem objektiven Zusammenhang der Ergeb¬
nisse selbst. Der Ethik dagegen liegen zunächst diese
Ergebnisse und ihr historisch kausaler Zusammenhang
seitab. Sie untersucht die Gesetze des Willens und des
Zusammenhangs zwischen Ziel und Wille und berück¬
sichtigt das Ergebnis, das Tun nur insofern, als es eben
Ziel bzw. Folge des Willens ist. Nach dieser inneren
Gesetzlichkeit des Willens schaffen wir ... ohne Unter¬
laß unbewußt, seit wir Bewußtsein haben. Das klingt
widersprechend, ist es aber doch nicht in höherem Grade,
als daß der Mensch bewußt nach den Gesetzen der
Optik sieht, ohne sich dieser Gesetze selbst bewußt zu
sein ... Aber bekanntlich ist es eine noch unvollkommene
Stufe, wenn wir empirisch etwas tun und uns der
Gesetzlichkeit dieses Tuns wissenschaftlich nicht bewußt
sind; die Sicherheit in der Handhabung dieser Gesetze
beginnt erst, wenn wir ihrer Herr werden. Gerade auf
der Tatsache, daß der historische Materialismus die
unbewußt waltenden Gesetze des ökonomischen Wer¬
dens dar gelegt hat, beruht ja seine Hoffnung, die
Gestaltung der Gesellschaft in Zukunft rationell beein¬
flussen, an Stelle des Reichs der Notwendigkeit ein Reich
der Freiheit setzen zu können. Vielleicht wird hier je¬
mand ein wen den: nicht auf dieser Erkenntnis, sondern
auf den Tatsachen der heutigen ökonomischen Entwick¬
lung beruhe diese Hoffnung; aber wenn die heutige
406
ökonomische Entwicklung jene Erkenntnis nicht produ¬
ziert hätte oder sie nicht zum Gemeingut zu machen
vermöchte, so würde das Menschengeschlecht trotz allem
blindlings weitertaumeln zu neuen Entwicklungen,
ohne sie selber mit vernünftigem Willen beherrschen
zu können.
Wenn nun der historische Materialismus uns die Ent¬
wicklung der Gesellschaft wissenschaftlich begreifen
lehrt, so liegt ihm damit doch die Erkenntnis in die
Chemie des Willens ... noch nicht offen vor. Diese
Chemie wendet er nach wie vor in alter Weise empirisch
an bei seinen Würdigungen und Zielbestimmungen; und
wesentlich mit daher, wie wir glauben, konnte in neue¬
rer Zeit eine eklektische Sturzwelle, in der alle mög¬
lichen alten und neuen Ideen bunt durcheinander¬
wirbeln, dem Außenstehenden den Anschein einer Zer¬
setzungskrise erwecken. Aus der Gesetzlichkeit des
Werdens läßt sich die Theorie der Würdigung nicht ent¬
nehmen; aus der bloßen Empirie, den Bedürfnissen nach
Änderungen des Gegebenen springen sie nur unbewußt
hervor. Das wissenschaftliche Bewußtsein ihrer inneren
Gesetzlichkeit muß daher notwendigerweise erworben
werden ...« [Antonio Labriola und die Ethik, »Die
Neue Zeit«, XVIII. Jg., II. Hbb., S. 558ff.]
»Freilich Wissenschaft muß die Chemie des Willens
sein, sich als solche erweisen, ehe sie berechtigt ist, Ein¬
fluß zu üben ... Und so ist durchaus verständlich, wenn
der historische Materialist angesichts der weitaus meisten
Leistungen der philosophischen Ethik mißtrauisch ist...
Wenn darum Labriola mit Schärfe wiederholt gegen
die absolute Philosophie ... auftritt, so hat er völlig
recht. Wenn er aber glaubt, daß von der Philosophie nur
die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen, die for¬
male Logik und Dialektik übrigbleibt (nach Engels’
Anti-Dühring), so ist eine Wissenschaft vergessen oder
407
verkannt: eben jene Chemie des Willens, die Ethik. Hier¬
gegen sträubt er sich mit den heutigen Sozialisten. Es
wird bemerkt, daß in der Entwicklung jeder Zeit, jede
Klasse inhaltlich eine eigene Ethik besitzt, und man
schließt vorschnell daraus, die Ethik sei ihrem inneren
Bestände nach nichts als die Summe sittlicher An¬
schauungen und Gebote, die das Tun der Individuen
unter jeweiligen Verhältnissen zu bestimmen suchen.
Und nun glaubt man, eine vorgebliche wissenschaftliche
Ethik wolle entweder das Gemeinsame all dieser sitt¬
lichen Formen zusammenstellen, oder wahrscheinlicher
eine über den Wolken schwebende Ethik gründen ...«
[a.a.O., S. 560]
408
und daß sie unrichtig sind, sofern sie bloß tatsächlich
nicht stimmen, so haben wir negativ ein Gesetz aus¬
gesprochen, das positiv ausgedrückt dahin geht, daß nur
der auf systematische Übereinstimmung menschlicher
Handlungen überhaupt gerichtete Wille vernünftig, nur
eine solche Übereinstimmung menschlicher Handlun¬
gen objektiv richtig sei. Daraus ergibt sich, daß nur eine
solche allgemeine Ordnung menschlicher Handlungen,
welche ein vernünftiges Handehr der einzelnen ermög¬
licht, vollkommen, eine Ordnung, die dies nicht tut,
unvollkommen sei. Und daraus ergibt sich ferner, daß
nur ein Wille, der auf eine solche Ordnung (einen
solchen Monismus des Handelns) hinstrebt, wirklich
allgemein vernünftig sein kann, daß aber ein Wille, der
unter Nichtachtung solchen Zieles seine Separatgelüste
durchsetzen will, unvernünftig im eigentlichen Sinne
handelt. Letzteren Willen nennen wir böse, ersteren
gut. Die Beziehung auf eine Ordnung des Lebens macht
erst den Willen sittlich oder unsittlich. Und so war es
unbewußt auch bisher. Aber bisher bestimmte die be¬
stehende Ordnung das Urteil. Daher war jede Neu¬
entwicklung blind, das Resultat von vernunftlosen
Kämpfen. Anders nach der wissenschaftlichen Ethik.
Was aber gut oder böse ist im inhaltlichen Sinne, läßt
sich nach ihr nicht ein für allemal bestimmen ... In
diesem Sinne sagt Joseph Dietzgen ... >Die Moral ist der
summarische Inbegriff der verschiedensten einander
widersprechenden sittlichen Gesetze, welche den ge¬
meinschaftlichen Zweck haben, die Handlungen des
Menschen gegen sich und andere derart zu regeln, daß
bei der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem Einen
das Andere, neben dem Individuum auch die Gattung
bedacht sei.< Dieser Satz ist vollständig richtig; und er
ist — man wolle nicht erschrecken — der kategorische
Imperativ Kants, in etwas anderen Worten ausgedrückt,
409
j ener formale Imperativ, den F. Engels in seinem Feuer¬
bach so nichtachtend seitab wirft ... Kants Imperativ
lautet bekanntlich: >Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte< (Kritik der praktischen
Vernunft § 7). (Wenn wir Kant hier anführen, der nach
Sokrates-Plato den ersten wesentlichen Fortschritt in
wissenschaftlicher Erfassung der Ethik gemacht hat ...
so geschieht dies nicht etwa, um ihn zu glorifizieren,
sondern weil wir ... allerdings der Ansicht sind, daß
_ ebenso wie der Weg vom Liberalismus nicht bloß
historisch, sondern auch logisch zum Sozialismus führt
— der fVeg von der konsequenten liberalen Ethik Kants
zur heute angebahnten wissenschaftlichen sozialistischen
Ethik führt. Nicht darum handelt es sich, ob Kant schon
irgendwie sozialistische Ideen gehabt hat, sondern ob
seine Ethik der Ausgangspunkt zu einer sozialistischen
Ethik tatsächlich sein kann ...) In dem Wort Maxime
liegt der Gedanke der Tendenz zur Gesetzlichkeit ebenso
stark aus gedrückt wie in Dietzgens Worten >welche den
Zweck haben< ... Die Moral ist nichts, was als solches
existiert, sondern ein Gesetz, das gilt, eine Beurteilungs¬
art menschlichen Wollens und Handelns.« [a.a. 0.,
S. 586ff.]
»Aus solcher Gesetzlichkeit des Willens aber folgt ...
daß nur die Selbsttätigkeit des Menschen solche Ordnung
schaffen kann, daß sie nicht von selber entsteht ... Dazu
gehört aber, daß der Mensch frei wollen könne. Und
dies enthält zweierlei, erstlich, daß die Erkenntnis der
obengenannten Bedingungen vernünftiger Ordnung
überhaupt vorhanden ist, zweitens die äußere Möglich¬
keit für die Volksmassen, solche Erkenntnis zu erwerben
und in Anwendung zu bringen. Marx sagt einmal, das
Geheimnis des Wertausdrucks könne erst entdeckt
werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit
410
die Festigkeit eines Volks Vorurteils besitze. Ganz ebenso
konnte auch die Bedingung allgemein menschlicher
Freiheit erst dann entdeckt werden, als wenigstens die
Forderung äußerer Freiheit aus den gesellschaftlichen
Lebensbedingungen hervorleuchtete. Das war gerade zu
Kants Zeit der Fall. Wohl ist sie bei Kant noch meta¬
physisch verschleiert ... aber ausgesprochen war sie
bereits in voller Konsequenz des damals herrschenden
Glaubens, daß die bürgerliche Verfassung jedermanns
Freiheit gewährleiste. Und wie der Sozialismus in ver¬
schiedener Hinsicht auf diesem damaligen Glauben
fußen und ilm gegen die heutigen Anhänger des libera¬
len Systems ins Feld führen muß, so findet er auch bei
Kant den methodischen Anknüpfungspunkt zur wissen¬
schaftlichen Begründung einer ganzen Reihe ihm eigen¬
tümlicher und notwendiger Gedanken.
Der Sozialismus erstrebt an Stelle der Kapitalherr¬
schaft, die trotz aller scheinbaren Freiheit den Nicht¬
besitzenden zum Arbeitsmittel der Besitzenden macht,
damit dessen Kapital sich verwerte, einen Zustand, in
dem Arbeitsgemeinschaft herrscht, d. h. in dem jeder
als freier Mensch zugleich den anderen dienen und von
diesen nach gemeinschaftlicher Regel gefördert wird.
Kants Satz, daß ein Mensch dem anderen niemals bloß
Mittel, sondern stets zugleich Selbstzweck sein müsse,
sagt ganz dasselbe, freiüch ohne die materielle Be¬
stimmtheit, die heute möglich ist.
Und dieser Satz folgt logisch aus der Gesetzlichkeit
vernünftiger Ordnung. Denn eine solche läßt sich nicht
hersteilen, so lange ein vernünftiges Wesen das andre
als bloßes Mittel zu seinen Zwecken benützen kann.
Daß heute erst die historische Möglichkeit gegeben ist,
diese Bedingung zu erkennen und erfolgreich nach
ihrer Verwirklichung zu streben, ist richtig. Ihrer
Geltung nach aber begründet sich diese Forderung nicht
411
aus der Entwicklung, sondern nur aus der Forderung
des Zusammenhanges der Ziele freier Menschen. Die Ent¬
wicklung als solche bietet keine Forderungen und keine
Maßstäbe ihrer Beurteilung dar ...« [a.a.O. H, S. 589]
NIKOLAI BERDJAJEW
412
siven Klasse, der Klasse der Zukunft aber, ist immer das
Produkt der Anpassung an die Forderungen des welt¬
historischen Fortschritts. Eine solche Klasse bildet in der
gegenwärtigen Gesellschaft das Proletariat; seine durch
besondere Bedingungen seines gesellschaftlichen Lebens
geschaffene Moral ist fortschrittlich und allgemein
menschlich. Die Psychologie der Arbeiterklasse ist 50
- 414
Handlungen ethisch-politisch gemessen und bewertet
werden. Und nicht anders ist es auch mit einer Klasse,
die, in einer Partei organisiert, als ethisch-politisches
Subjekt nach außen und innen hin einheitlich auftritt.
Die sozialdemokratische Bewegung muß von einem End¬
ziel ideal beherrscht werden oder — sie wird sich auf-
lösen. Der Glaube an das Endziel ist die Religion der
Sozialdemokratie und diese Religion ist keine >Privat-
sache<, sondern die wichtigste öffentliche Angelegenheit
h^r Partei ... Einzelne Sozialisten können an dem
Klassenkampf verzweifeln und bürgerlich-sozialistisch,
regierungs-sozialistisch, kirchen-sozialistisch und was
noch mehr werden, die als Partei organisierte Klasse
oder die als Klasse sich fühlende Partei kann dies nie
tun, ohne der Auflösung zu verfallen. Der Klassenkampf
ist ihr Dasein, über welches man nicht diskutiert. So¬
weit also >Marxismus< den auf das sozialistische Endziel
gerichteten Klassenkampf bedeutet, ist er, ob richtig
oder unrichtig, gar nicht aufzugeben ...« [Die Marxsche
Theorie der sozialen Entwicklung, »Archiv für soziale
Gesetzgebung und Statistik«, 1899, Bd. XIV, S. 698f.]
»Man kann den entwicklungsgeschichtlichen Utopis¬
mus nicht einfach amputieren, auch wenn man über
schärfere geistige Instrumente als Bernstein verfügt.
Er ist dafür zu tief in das sozialdemokratische Bewußt¬
sein eingedrungen. Dies entspricht auch vollkommen
seiner großartigen geschichtlichen Funktion. Es ist ein
rationalistischer Aberglaube, daß nur inhaltlich richtige
oder wahre Ideen fördernd auf das persönliche oder
gesellschaftliche Leben einwirken können. Wissen¬
schaftlich falsche Gedanken können durch ihre psycho¬
logisch bedingte Wirkung auf das gesellschaftliche
Leben einen mächtigen und wohltätigen Einfluß aus¬
üben. Sie können sich in politisch richtigen Handlungen
auslösen ...
415
Die sozialdemokratische Religion kann aber ihren
Inhalt wechseln, insofern sie sozialdemokratisch bleibt.
Und sie wird es. Sie wird mit der Zeit den entwicklungs¬
geschichtlichen Utopismus abstreifen: eine Reihe von
Vorstellungen, die jetzt religiös sind, werden vernichtet
oder durch andere, welche keinen religiösen Charakter
tragen, ersetzt werden. Es wird scheinbar ein Rück¬
schritt stattfinden: an Stelle vernichteter klarer Vor¬
stellungen werden unklare allgemeine Postulate oder
praktische und ich möchte fast sagen, kleinliche Pro¬
grammpunkte treten. Aber so geht die Umwandlung
religiöser oder religionsähnlicher Ideologien immer vor
sich ...« [a.a.O., S. 700f.]
»Bernstein ... hat den entwicklungsgeschichtlichen
Utopismus ganz aufgegeben ... Sein Buch ist ein be¬
deutsames Symptom der Umbildung der sozialdemokra¬
tischen Ideologie, und zugleich — denn Bernstein ist
neben Engels und Kautsky der Mitbegründer der mar¬
xistischen Orthodoxie -— eine moralisch imponierende
Haltung. Aber es braucht Zeit zu wirken ...« [a.a.O.,
S. 701]
»Der wissenschaftliche Sozialismus ist keine Rein¬
kultur der Wissenschaft: als soziales Ideal ist er not¬
wendig eine Verbindung von Wissenschaft und Utopie.
Das Utopische an ihm stammt daher, daß die soziale
Zukunft nicht einfach erschlossen, sondern erstrebt und
erkämpft werden muß. Sie nimmt teil an der Unsicher¬
heit, welche für unser psychologisches Bewußtsein alle
zukünftigen menschlichen Handlungen auszeichnet ...
Je mehr sie aber prädeterminiert ist, je mehr sie in ihrer
geschichtlichen Notwendigkeit auch inhaltlich von uns
erkannt ist, je kleiner also im sozialen Ideal das Feld
des Unsicheren, der Utopie ist, desto besser begründet
ist unser Ideal, desto sicherer sind wir auch des ewig
Unsicheren — unserer Utopie. Hierin liegt die Berechti-
416
gung und die Bedeutung der wissenschaftlichen und
speziell der entwicklungsgeschichtlichen Begründung
des Sozialismus. Dieselbe muß danach streben, soweit
es an ihr liegt, das soziale Zukunftsbild ausschließlich
mit der Farbe der geschichtlichen Notwendigkeit auszu¬
malen ... Sie hat darauf zu sehen, daß ihre Kreise durch
das Hineinspielen der Utopie nicht gestört werden.
Andererseits hat auch die Utopie ihr Recht. Sie ist der
in die Wissenschaft nicht aufgegangene autonome Rest
des sozialen Ideals. Man hilft auch der Utopie zu ihrem
Recht, wenn man eine reinliche Scheidung zwischen ihr
und der Wissenschaft verlangt. Die Utopie soll der
Wissenschaft nicht widersprechen, sonst aber kann und
soll sie autonom sein. Die marxistische Krise als ideolo¬
gische Erscheinung läßt sich zum guten Teil auf die
Verkennung dieser Wahrheit als auf ihren Grund zu¬
rückführen. Man wollte allzu wissenschaftlich sein und
hat vielfach sowohl die Wissenschaft dem Sozialismus
tendenziös untergeordnet, als auch die Würde und den
Wert des Sozialismus von der nach vielen Richtungen
noch zweifelhaften oder ausstehenden wissenschaft¬
lichen Begründung abhängig gemacht. Man vergaß, daß
Sozialismus ein soziales Ideal ist und als solches immer
ein göttliches Recht auf ein gut Stück Utopie besitzt.
Eine Reaktion gegen die orthodoxe Pseudowissenschaft,
welche in sich den ganzen Sozialismus absorbieren will,
konnte nicht ausbleiben. Jedem, der sich als Sozialist
fühlt, ist das Utopische und Revolutionäre an ihm eben¬
so teuer oder noch teurer als das Realistische. Unwahr
ist nur der Utopismus, der sich als Wissenschaft gibt.
Daß Marx und Engels Utopisten und Revolutionäre
waren, macht ihre menschliche und zum guten Teil
auch ihre geschichtliche Größe aus. Aber insofern sie
sich die titanische Aufgabe stellten, das zu vollständiger
Deckung und Einheit zu bringen, was immer und immer
417
eine Einheit zu werden strebt und dazu nie gelangen
kann: das Sein und das Seinsollen, scheiterten sie und
mußten scheitern als Männer der Wissenschaft ...«
[a.a.O., S. 703f.]
MICHAEL TUGAN-BARANOWSKY
418
zugrunde gehen muß. Dieser Widerspruch besteht dar¬
in, daß die kapitalistische Wirtschaft aus dem arbeiten¬
den Menschen ein bloßes wirtschaftliches Mittel macht
und zugleich zur Verbreitung der Rechtsauffassung
führt, welche in aller menschlichen Person den höchsten
Zweck an sich erblickt. Das ist also der Widerspruch des
fundamentalen ökonomischen Prinzips des Kapitalismus
mit der fundamentalen ethischen Norm, welche lautet
>Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen
existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel
zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen,
sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als
auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen
jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. < (Kant
Grundlegung der Metaphysik der Sitten.) Die vorher¬
gehenden Ausführungen haben gezeigt, daß der Kapita¬
lismus, semem innersten Wesen nach, gegen diese
höchste ethische Norm verstößt ... Die ökonomische
Entwicklung verbreitet in immer weiteren Bevölkerungs¬
kreisen das Bewußtsein dieser Sachlage und schafft die
Mittel zu ihrer Beseitigung. Das neue soziale Ideal wird
zu einer immer größeren gesellschaftlichen Macht ...
Ein soziales Ideal kann nur dann siegen, wenn es zu¬
gleich den Interessen mächtiger sozialer Gruppen und
dem allgemeinen moralischen Bewußtsein entspricht.
Dann aber muß es siegen. Nun besitzt das sozialistische
Ideal diese beiden Eigenschaften. Es entspricht den
Interessen der Arbeiterklasse — der großen Mehrzahl
der Bevölkerung — und ist zugleich als die fundamen¬
tale Forderung des Naturrechts zu betrachten. >Das an¬
geborene Recht ist nur ein einziges<, hat der größte
Denker der Neuzeit gesagt, und Freiheit (Unabhängig¬
keit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie
mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen
Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ur-
419
sprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit
zustehende Recht< (Kant, a.a.O.). Der Kapitalismus
vereitelt dieses ursprüngliche Menschenrecht; darum
muß er einer besseren und gerechteren Gesellschafts¬
ordnung Platz machen. Die Menschheit aber wird den
Sozialismus nie als ein Geschenk blinder, elementarer
ökonomischer Kräfte erhalten, sondern muß die neue
Gesellschaftsordnung zielbewußt erarbeiten und er¬
kämpfen.« [Theoretische Grundlagen des Marxismus,
Leipzig 1905, S. 236 ff.]
LUDWIG WOLTMANN
420
rische Tendenz des kapitalistischen Zusammenbruchs
überhaupt in Zweifel gezogen werden müßte.« [Der
historische Materialismus, 1900, S. 422]
»War es auf der einen Seite die Überschätzung der
technischen Revolution, so hat andererseits der Schema¬
tismus der Hegelschen Dialektik seinen Teil zu den
Formulierungen der Zusammenbruchstheorie beigetra¬
gen und Marx zu einer nebulösen Ideologie verleitet ...
an der harten Erfahrung werden schließlich die letzten
Reste der Hegelschen Dialektik zerschellen ... Was die
Zukunft des Sozialismus betrifft, so wird er von den
Marxisten als eine ökonomische Notwendigkeit hin¬
gestellt derart, daß er den Kapitalismus nach denselben
unabwendbaren Gesetzen der ökonomischen Entwick¬
lung ablösen müsse, wie dieser den Feudalismus, wäh¬
rend die Idealisten in ihm eine ethische und kulturelle
Notwendigkeit sehen. Man meint, daß eine Entwick¬
lungsphase der kapitalistischen Produktionsweise ein-
treten werde, wo aus technisch-ökonomischen Ur¬
sachen die sozialistische Gesellschaft den Menschen sich
unweigerlich aufzwingen müsse, nachdem die Einsicht
in die Unsinnigkeit des Kapitalismus sich ebenso not¬
wendig eingestellt habe. >Sie kommt von selbst. < (Bebel)
Es handelt sich in diesen gegensätzlichen Ansichten
in letzter Instanz um das theoretische und praktische
Verhältnis der Ethik zur Ökonomie. Engels schreibt dar¬
über: >Die obige — sozialistische — Nutzanwendung
der Ricardoschen Theorie, daß den Arbeitern, als den
alleinigen wirklichen Produzenten, das gesamte gesell¬
schaftliche Produkt gehört, führt direkt in den Kom¬
munismus. Sie ist aber, wie Marx ... andentet, ökono¬
misch formell falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung
der Moral auf die Ökonomie. Nach den Gesetzen der
bürgerlichen Ökonomie gehört der größte Teil des
Produkts nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben.
421
Sagen wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so
geht das die Ökonomie zunächst gar nichts an. Wir
sagen bloß, daß diese ökonomische Tatsache unserem
sittlichen Gefühl widerspricht. Marx hat daher nie seine
kommunistischen Forderungen hierauf begründet, sondern
auf den notwendigen, sich vor unseren Augen täglich
mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der
kapitalistischen Produktionsweise; er sagt nur, daß der
Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine ein¬
fache Tatsache ist. Was aber ökonomisch formell falsch,
kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt
das sittliche Bewußtsein der Masse eine ökonomische
Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder die Fron¬
arbeit, für unrecht, so ist das ein Beweis, daß die Tat¬
sache selbst sich schon überlebt hat, daß andere ökono¬
mische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene un¬
erträglich und unhaltbar geworden sind.< (Vorwort zu
Das Elend der Philosophie von K. Marx, Berlin 1947,
S. 15.) In diesen Sätzen wird trotz der Anerkennung des
relativen Wertes des sittlichen Gefühls die Notwendig¬
keit des Sozialismus als eine technisch-ökonomische auf¬
gefaßt. Engels spielt hier mit dialektischen Begriffs¬
gegensätzen. Einmal wird das sittliche Bewußtsein als
ökonomisch formell falsch <, dann aber wieder als welt¬
geschichtlich richtig< anerkannt. In den wissenschaft¬
lichen Abstraktionen mag man zwischen Ethik und
Ökonomie begrifflich trennen und ihre Gegensätze dia¬
lektisch tanzen lassen, aber die Praxis des gesellschaft¬
lichen Lebensprozesses schert sich den Teufel um das
dialektische Begriffsspiel von ökonomischer Unrichtig¬
keit und weltgeschichtlicher Richtigkeit. Ist aber das
sittliche Gefühl der Ungerechtigkeit von weltgeschicht¬
licher Bedeutung, so muß es auch für den Sozialismus
eine ethische Notwendigkeit sein. Der Sozialismus hat
aber selbst einen doppelten Charakter, und daher rührt
422
die zweideutige Auffassung von der Notwendigkeit des¬
selben. In ökonomischer Hinsicht bedeutet er die Ver¬
gesellschaftung der Produktionsmittel, in ethischer Hin¬
sicht eine soziale Ordnung, wo gleiches Recht und
gleiche Pflicht aller herrscht, unabhängig von Rasse,
Klasse und Geschlecht ...« [a.a.O., S. 423ff.]
»Es ist indes unrichtig, daß eine ökonomische Tat¬
sache schon überlebt sein muß, bevor sie das sittliche
Bewußtsein der Masse für unrecht erklärt. Der Kapita¬
lismus steht noch fest gegründet da, und doch erklärt ihn
das sittliche Bewußtsein von Millionen für ungerecht und
unmoralisch, und ist dieses sittliche Bewußtsein der
Quell der Empörung und des Kampfes gegen diese
ökonomische Tatsache.
Überdies enthüllt sich der angebliche ökonomische
Mechanismus der Geschichte als eine Ideologie der
schlimmsten Sorte. Der Kapitalismus sorgt dafür, daß
die sozialistischen Bäume nicht in den Himmel wach¬
sen ... Wird aber durch technische Ursachen nie und
nimmer die AI ehrwert-Ausbeutung aus dem gesellschaft¬
lichen Arbeitsprozeß aus geschaltet, so ist der Sozialismus
in erster Linie eine ethische Notwendigkeit. Das morali¬
sche Bewußtsein führt aber insofern notwendig zu
einem ökonomischen Sozialismus, als die Ökonomie
durch die technische Beschaffenheit der Produktions¬
mittel und durch die gesellschaftliche Form des Arbeits¬
prozesses auf diese Weise allein dem moralischen Be¬
wußtsein gerecht werden kann. An sich kann das
moralische Bewußtsein auch mit dem Privateigentum
an Produktionsmitteln vereinbar sein; denn die Art der
ökonomischen Erfüllung des moralischen Gesetzes hangt
von der historischen Stufe der individuellen oder gesell¬
schaftlichen Beschaffenheit des Arbeitsprozesses ab. Diese
Begründung der ökonomischen Notwendigkeit des
Sozialismus ist freilich eine andere als die aus dei ver-
423
meintlichen kapitalistischen Entwicklung gefolgerte
Notwendigkeit. Gibt man auch die von Marx erwarteten
spezifischen ökonomischen Voraussetzungen auf, so gibt
man damit keineswegs den Sozialismus prinzipiell auf.
Man muß nur andere Wege einschlagen, um zum Ziel
zu gelangen ...« [a.a.O., S. 426ff.]
424
und daß die Erzieher selbst erzogen werden müssen. Das
Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der
menschlichen Tätigkeit könne nur als umwälzende
Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.
Diese umwälzende Praxis kann infolge der ökonomi¬
schen Lage der gesellschaftlichen Verhältnisse nur darin
bestehen, daß die Arbeiterklasse durch Gewerkschaften
und Genossenschaften in den Produktions- und Kon¬
sumtionsprozeß der Waren als machtbegabter solidari¬
scher Faktor direkt eingreift und ihre geistige und
politische Emanzipation durch die revolutionäre Selbst¬
hilfe wirtschaftlicher Organisationen herbeiführt ...
Nur der Klassenkampf auf der Grundlage einer wirt¬
schaftlich umwälzenden Praxis kann das neue Geschlecht
heranzüchten, von dem Marx hoffte, daß es die Gesell¬
schaft wieder zu einer Gemeinschaft von Menschen für
ihre höchsten Zwecke machen werde.« [a.a.O., S. 428f.]
MAX ADLER
426
durch die bloß theoretische Orientierung des Verfassers,
wenn statt aller dieser Fragen, die wir erfahren wollen,
was zum Problem gehört, gar nicht mehr gefragt wird,
was der moralische Sinn und das sittliche Ideal eigent¬
lich sind, sondern ... wie sie sich — hier und dort, dann
und je — entwickeln. Es wird nicht mehr gefragt,
was sie sind, sondern wie sie entstanden sind. Auf die¬
se Weise wird also beides für die Untersuchung gerade¬
zu vorausgesetzt und ohne weiteres von ihnen der
Ausgang genommen, als ob sie an sich überhaupt
etwas ganz Eindeutiges, Unmißverständliches wären,
nach dessen Verursachung man einfach bloß zu fragen
brauche.
Allein die Kausalerklärung des moralischen Sinnes
und des sittlichen Ideals befindet sich in der mißlichen
Lage, daß sie zunächst ihren Gegenstand gar nicht
zweifellos aufzeigen kann. Verzichtet sie von vornherein,
das Wesen ihrer Phänomene zu untersuchen, wer be¬
hütet sie dann vor dem verderblichen Anfang am un¬
richtigen Orte? Wer zeigt mir den richtigen (echten)
moralischen Sinn? Am Ende mühe ich mich an einer
Erscheinung ab, ihr das Rätsel des ethischen Problems
abzufragen, die gar nicht moralischen Charakters
ist ...« [a.a.O., S. 113]
»Die Kausalerklärung ethischer Phänomene kann
mir ... nur ihre historisch bestimmte Erscheinungsweise
erklären; sie vermag mir das Auftreten derselben an
bestimmten Stellen des historischen Flusses der Dinge,
ihre Abänderung, ihr Werden und Vergehen verständ¬
lich zu machen. Den Bestand des Ethischen selbst aber,
woran ich es als ethische Wertung erkenne, selbst in
den entlegensten Zeiten und fremdartigsten Verhält¬
nissen, ist gerade für die Kausalerklärung eine letzte
Beschaffenheit, die sie selbst nicht weiter auflösen
kann.« [a.a.O., S. 114]
427
»Es handelt sich (bei ICautsky) um die Ursachenklä¬
rung der zwei ethischen Grundphänomene: der Ver¬
pflichtung, respektive des moralischen Sinnes und des
sittlichen Ideals, wohl zu beachten um eine Ursach-
erklärung, die nicht etwa bloß das historische Auftreten
oder Wechseln dieser Phänomene, sondern ihr Wesen
selbst darlegen soll. Zur Erklärung des ersteren greift
Kautsky auf den sozialen Trieb, zur Erklärung des letz¬
teren auf den sozialen Kampf, den Klassenkampf, zurück.
Beide meint er als ausreichende Erklärungsprinzipien
des Ethischen darstellen zu können ...« [a. a. O., S. 114f.]
428
also in der ihnen zukommenden Art psychischen Lebens
am schärfsten den Nutzen der Gesellschaft zu erkennen
vermögen, würden auch die meisten Chancen des Über¬
lebens und Vererbens haben. Und so würde sich ein
sozialer Trieb entwickeln, der durch Übung, Gewöh¬
nung und Vererbung erst zuletzt unbewußt, aber in die
Form einer Disposition, einer Gesinnung übergegangen
ist — eben unserer ethischen Gesinnung ... Allein wenn
wir näher Zusehen, so ist auch jetzt für das Ethische
nichts gewonnen. Denn diese Ableitung des sozialen
Triebes als eines bewußt akquirierten und tradierten
Phänomens setzt die Unterscheidung des Nützlichen und
Schädlichen voraus, in welch primitiver Form man dies
immer erst zugeben will. Und also läuft diese Begrün¬
dung der Ethik gerade auf jenes Prinzip des Nutzens
hinaus, von dem Kautsky mit Recht gezeigt hat, daß es
zur Lösung des ethischen Problems, speziell der Ver¬
pflichtung, ganz ungenügend ist. Der soziale Trieb ist
als bewußtes Phänomen nichts anderes als eine unmittel¬
bare Beziehung auf das eigene Wohl, bei welcher längst
schon durch Einübung und Vererbung alle vermitteln¬
den Erfahrungen weggefallen sind. Wenn er nun in uns
als ein Drang wirkt, im Interesse der Allgemeinheit zu
handeln, weil ungezählte Generationen dabei gut ge¬
fahren sind, wie folgt aus dem noch so großen Drange,
etwas zu tun, die Pflicht dazu?« [a. a.O., S. 122 f.]
»Wieso wird aus dem sozialen Triebe Pflicht... Kaut¬
sky fühlt ... selbst, daß aus dem sozialen Trieb ... noch
keineswegs das Bewußtsein der Pflicht ... hervorgehe.
Wie kommt er nun zu diesem Bewußtsein? Die Antwort
könnte durch ihre Einfachheit überzeugen, wenn sie
auch ebenso überzeugend wie einfach wäre: Wenn
nämlich die sozialen Triebe starker geworden sind als
alle anderen, dann treten sie, sobald sie mit diesen in
Konflikt geraten, ihnen übermächtig als Gebot gegen-
429
über. Das ist zunächst eine ganz willkürliche Behaup¬
tung. Denn worauf gründet sich diese Umwandlung des
Triebes in ein Gebot? ... Wie unmöglich es ist, die
Pflicht als herangezüchtete dauernde Übermacht des
sozialen Triebes zu erklären, ergibt sich schon daraus,
daß dieser Gedanke, zu Ende gedacht, den Begriff der
Pflicht ganz aufhebt. Denn die dauernde Übermacht des
sozialen Triebes bedeutet doch seinen dauernden Sieg,
also daß sich der soziale Trieb, wo er übermächtig ge¬
worden ist, jedem Konflikt gegenüber durchsetzt. Ich
muß einfach so handeln, weil es der Trieb verlangt,
darin liegt seine Übermacht. Was hat es dann für einen
Sinn, von einer Handlung, die ich ausführen muß, zu
sagen, daß ich sie ausführen soll? Man braucht nicht zu
gebieten, was man ohnehin tun muß.« [a. a.O., S. 125f.]
»Die sozialen Triebe sind an und für sich weder
Tugend noch Untugend; sie sind eine Tatsache, aber
noch kein Wert. Ich habe ... schon darauf hingewiesen,
wie das Soziale an sich ethisch noch ganz indifferent ist.
An und für sich spricht nichts gegen den Gedanken,
eine Vereinzelung — so unmöglich sie ist — ebenso
wertvoll oder noch wertvoller zu finden als unsere
Sozialisierung. Man kann den sozialen Zusammenhang,
dieses Aneinanderkleben der Menschen, als eine Not¬
wendigkeit eingesehen haben, und doch zugleich als
große Last, als eine Schranke ... unserer Natur empfin¬
den. Von da aus ist dann keine Möglichkeit, soziale
Triebe als Tugenden zu preisen. Und wie will man
einer solchen Ansicht entgegentreten, wenn nicht einzig
und allein derart, daß man zeigt, wie das Soziale not¬
wendig aus einer Beziehung unseres Erkennens auf sich
selbst hervor geht als Bewußtsein überhaupt, und wie das
Ethische nur seine praktische Form darstellt, nämlich
die notwendige Form alles unseres Wollens, sobald wir es
aus der bloß empirischen Vereinzelung befreien und
430
beziehen auf ein TViollen überhaupt. Aber das ist freilich
e in Schritt, den die materialistische Ethik ebensowenig
machen kann wie die empiristisch-relativistische. Denn
dazu gehört nicht bloß praktische Vernunft, sondern
auch Kritik der praktischen Vernunft, welch beides jene
Richtungen nun einmal nicht annehmen wollen.«
[a.a.O., S. 128]
431
nissen. Trotzdem gestalten nicht diese die neue Ord¬
nung, sondern aus ihnen gestaltet sie das wählende sitt¬
liche Bewußtsein der aufstrebenden Klasse. Auf derselben
materiellen Grundlage wären ja sonst sehr verschiedene
gesellschaftliche Ordnungen möglich; und wäre nicht
das sittliche Ideal, warum sollte das Proletariat nicht am
Ende mit einem System des Industriefeudalismus zu¬
frieden sein, wenn — was ja nicht ausgeschlossen ist —
es in ihm besseren Lohn als jetzt, eine reinliche Woh¬
nung, eine kürzere Arbeitszeit und ausreichende Ver¬
sicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter -und Invalidi¬
tät fände?
Die materiellen Bedingungen schaffen also nicht das
sittliche Ideal, sondern sie geben ihm nur den geschicht¬
lichen Inhalt, sie entscheiden über die Art seiner Reali¬
sierung. Und so liegt hierin die Bedeutung des sittlichen
Ideals, welches als unentbehrliche Komponente des histo¬
rischen Geschehens gerade durch die materialistische
Geschichtsauffassung erst in seiner Wirklichkeit ver¬
ständlich gemacht wurde, so daß diese, weit entfernt,
das sittliche Ideal, wie K. meint, als richtunggebenden
Faktor der sozialen Entwicklung wollig depossediert< zu
haben, es vielmehr in dieser Eigenschaft erst heraus¬
stellt. Um aber diesen richtunggebenden Charakter des
sittlichen Ideals seiner Möglichkeit nach zu begreifen,
muß man es eben in seiner Wesenheit erkannt haben
als die zur Idee, d. h. zum Motiv gewordene Gesetz¬
mäßigkeit des Wollens überhaupt.« [a.a.O., S. 135ff.]
432
der Entwicklungsprozeß des Sozialismus ist zugleich der
Hervorgang neuer Rechtsanschauungen und ethischer
Empfindungen in den Gemütern der Menschen. Es ist
für den Marxismus selbstverständlich, daß die geschicht¬
liche Bewegung ... nur durch die Menschen selbst bewirkt
werden kann, und daß darum ihre ethischen Wertungen
nicht nur an dem geschichtlichen Prozeß mitbeteiligt
sind, sondern ihn ganz wesentlich erst zustande kommen
lassen. Denn nur in den zu bestimmten Massenwillen
zusammengeronnenen zahllosen Einzelwertungen von
dem, was diese vielen Einzelnen als das Rechte, als das
Vernünftige, als das für sie darum zu Erringende an-
sehen, entfaltet sich ja erst das grandiose Schauspiel der
Klassenkämpfe in der marxistischen Geschichtsauffas¬
sung. Aber diese ethischen Wertungen kommen in ihr
gerade nicht als solche in Betracht, sondern als immanent
wirkende Kausalfaktoren. Denn nicht auf die Beurteilung
des Geschehens ist hier der Blick eingestellt, sondern auf
dessen Erklärung. Trotzdem aber fällt diese ethische
Beurteilung nicht aus dem Kausalprozeß heraus, nur
daß sie hier in anderer Form erscheinen muß. Gerade
die klassische formale Beschaffenheit ... diese ... in
jedem menschlichen Bewußtsein gleichmäßig wirkende
ethische Beurteilung ist es, die für die Kausalbetrachtung
als durchgängige Richtungsbestimmtheit des sozialen
Geschehens in Betracht kommt, so daß also der geschicht¬
lichen Kausalität die ethische Wertung immanent ist.
Dies ist der Punkt, der noch vielfach auch im Lager der
Marxisten übersehen wird ...« [a.a.O., S. 145f.]
»Wenn ... Cohen einmal sagt, daß die politische Idee
des Sozialismus fest in jener Fassung des kategorischen
Imperativs begründet liegt, welche in einem jeden die
Menschheit zu achten und keinen bloß als Mittel,
sondern immer zugleich auch als Zweck anzusehen ver¬
langt, so ist dies eine tiefe und wahre Bemerkung, sofern
433
wir den Sozialismus ethisch würdigen wollen. Insoweit
aber der Sozialismus als geschichtliche Bewegung auf¬
zufassen ist — und nur dies ist das Problem des IMaixis-
mus —, so erscheint uns die im kategorischen Imperativ
ausgedrückte soziale Idee nicht mehr als Wertung, son¬
dern als immanent wirkende Kraft, die sich durch die
Jahrtausende in den verschiedenen Formen des Klassen-
kampfes durchzuringen strebt. Wenn der Sozialismus
vom Standpunkt der Ethik im kategorischen Imperativ
begründet erscheint, so ist er deshalb kausal noch nicht
auf Ethik gegründet. Es ist wie eine andere, nur sicherer
zu konstatierende prästabilierte Harmonie, welche ge¬
rade die kausalgenetische Untersuchung des sozialen
Lebens immer deutlicher erkennen läßt, daß der ge¬
schichtliche Prozeß kausalnotwendig zu den Zielen
führen muß, welche die Ethik als begründet ansieht,
weil eben der wichtigste geschichtliche Kausalfaktor der
richtungsbestimmte menschliche Wille ist. Es ist daher
innerhalb der wissenschaftlichen Betrachtung des sozia¬
len Geschehens, die der Marxismus anstrebt, gar nicht
nötig, die sich vollziehenden Prozesse auch noch ethisch
zu begründen, da die ethische Wertung bereits in den
dynamischen Kausalfaktoren enthalten ist, so daß alle
historischen Prozesse sich nach ihrer evolutiven Seite
unbedingt als Ethik en marche, als immanent ethische
Entwicklung heraussteilen müssen.« [a.a.O., S. 145f.]
OTTO BAUER
Auf die Frage eines imaginären Arbeiters X., der vor der
Entscheidung steht, ob er durch Streikbruch für seine
434
}lungernde Familie und die kranken Kinder Nahrung
besorgen oder der streikenden Klasse die Treue halten
soll, antwortet Bauer zunächst mit den Argumenten der
Kautskyschen materialistischen Ethik:
435
Tatsache fließt, daß ich ein Mensch bin, der essen, der
sein Weib nicht hungern, sein Kind nicht frieren lassen
will? ... Mir aber wurde es klar, daß es doch etwas ande¬
res ist, die sittlichen Erscheinungen zum Gegenstand
der Wissenschaft zu machen, zu forschen, wie inhaltlich
bestimmte sittliche Erscheinungen unter gewissen natür¬
lichen und sozialen Bedingungen notwendig entstehen
müssen, und auf eine sittliche Frage des Lebens zu ant¬
worten ...
Für Hegel ist alles, was ist, nicht nur notwendig,
sondern auch vernünftig. Für ihn ist die Entwicklung
der Natur und der Gesellschaft die Eigenbewegung des
Geistes, in der, wenn auch in einem unendlichen Prozeß,
das Seiende zum Sein-Sollenden wird. Aber soviel wir
auch Flegel verdanken, und so reichen Gewinn wir auch
heute noch aus seiner Lehre ziehen können, gerade in
diesem Punkte sind wir seine Schüler nicht mehr ...
Wer Hegels Panlogismus verwirft, der ist nicht mehr
berechtigt, die Frage nach dem Sollen in der Frage nach
dem JVerden auf gehen zu lassen ...« [Marxismus und
Ethik, »Die Neue Zeit«, XXIV. Jg., II. Hbb., S. 487f.]
»Was hat die Einsicht in die kausale Notwendigkeit
proletarischer Ethik meinem Freunde X geholfen, der
beinahe zum Streikbrecher geworden wäre? Es mag sein,
daß das Gebot der proletarischen Ethik ihm den rechten
Weg gewiesen hätte; wenn ich ihm das aber beweisen
will, so genügt es nicht, zu zeigen, daß dieses Gebot
proletarisch ist, es gilt vielmehr zu beweisen, daß das
proletarische Gebot das richtige ist. Ist das aber möglich?
Wenn es doch keine moralischen Gebote gibt, die immer
und überall gelten, sondern jede Klasse neue moralische
Vorstellungen erzeugt, ja selbst die Ethik jeder Klasse im
Laufe ihrer Geschichte sich verändert, wie könnte dann
von einem Imperativ ausgesagt werden, daß er der
rechte, d. h. doch wohl der allgemein gültige ist? Dieses
436
Pf oblem löst die Ethik Kants, indem sie das Kriterium,
das den ethischen Imperativ von der bloßen Maxime
sondert, zwar nicht in der Materie, wohl aber in der
formalen Gesetzlichkeit des inhaltlich wie immer be¬
stimmten Imperativs, in seiner Fähigkeit zu allgemeiner
Gesetzgebung entdeckt ...« [a.a.O., S. 489]
437
sehen Erkenntnisse gegeben, d. h. >eine solche Verfas¬
sung derselben, in welcher die Idee des Ganzen den
Teilen in der Methode vorausgeht<, und fragt nun, wie
ein solches System von Imperativen möglich ist. So ge¬
langt er zu seinem praktischen Grundgesetz: >Handle
so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne<.
Dieses Gesetz macht jeden konkreten Imperativ erst
möglich. So wird die Fähigkeit der Maxime, Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung zu sein, zum Kriterium,
das ermöglicht, den konkreten ethischen Imperativ von
der bloßen individuellen Maxime zu sondern, die sich
dem gedachten System von Geboten nicht einzuordnen
vermag ...« [a.a.O., S. 493]
»... Wenn wir sittlich urteilen wollen, so brauchen
wir dazu Kants Formulierung des praktischen Grund¬
gesetzes durchaus nicht zu kennen. Aber wenn der
ethische Skeptizismus an uns herantritt, der aus der
Erkenntnis, daß die Materie des sittlichen TVollem
wandelbar ist, daß kein inhaltlich bestimmtes Gebot
überall und immer gilt, keine bestimmte Ethik die ab¬
solute ist, voreilig schließt, es gehe also überhaupt nicht
an ... die Gebote der einen als Imperative gelten zu
lassen, die der anderen als bloße Maximen zu enthüllen:
dann zeigt uns Kants Kritik, worin sich der konkrete
ethische Imperativ von der bloßen Maxime unter¬
scheidet: in der Fälligkeit zur allgemeinen Gesetz¬
gebung.« [a.a.O., S. 494]
»Wozu dient also ... die Lehre Kants? Ist sie ... nicht
praktisch gänzlich nutzlos? Doch nicht ganz. Sie ist der
letzte Stützpunkt, auf den wir uns zurückziehen, sooft
der ethische Skeptizismus jene naive sittliche Wertung
der von der Wissenschaft aufgedeckten Klassenmaximen
verhindert. Das ist nun heute kein seltener Fall. Die
Bourgeoisie,^die nicht mehr hoffen darf, ihre Maxime
438
als Imperativ erweisen zu können, verbreitet ... den
ethischen Relativismus, jene Gesinnung, die eine Maxime
schon gerechtfertigt zu haben glaubt, wenn sie sie als
Resultat historischer Entwicklung begreift. Die materia¬
listische Geschichtsauffassung würde leicht dazu kom¬
men, die Geschäfte der Feinde der Arbeiterklasse zu
besorgen, wie sie der Darwinismus heute schon vielfach
besorgt, wollte sie sich des Rechts begeben, die Aufgabe,
alle Maximen wissenschaftlich zu begreifen, streng von
der Frage zu scheiden, welche der widerstreitenden
Maximen uns erfüllen soll. Wer, vom ethischen Skepti¬
zismus beirrt, nun meint, es gebe für ihn keine Norm
der Wahl, weil er ja das Wollen aller Klassen in seiner
Notwendigkeit begreife, den lehren wir, sich der for¬
malen Gesetzlichkeit semes Wollens weder zu erinnern,
dem geben wir das Kriterium, das ihn befähigt, das
Wollen der Arbeiterklasse von dem der Bourgeoisie dem
Werte nach zu unterscheiden und so in das Lager der
kämpfenden Arbeiterklasse führt ...« [a.a.O., S. 498]
>Orthodoxe<
G. W. PLECHANOW
440
kläger dem Tier sagen, daß es besser getan hätte, lieber
dem einen als dem anderen Impuls gefolgt zu sein. Der
eine Weg hätte eingeschlagen werden sollen, der an¬
dere nicht; >der eine wäre der rechte gewesen, der
andere der Unrechte <.
Diese Zeilen zogen ihrem Verfasser mehr als eine
Rüge seitens der respektablem Leute zu. Ein gewisser
Sidgwick schrieb in der Academy of London, daß >eine
höher entwickelte Biene< danach streben würde, eine
mildere Lösung der Bevölkerungsfrage zu finden. Wir
wollen das von der Biene annehmen; aber daß die eng¬
lische Bourgeoisie, und nicht allein die englische, keine
>mildere< gefunden hat, dafür kann der Beweis in ge¬
wissen ökonomischen, von den respektablem Leuten
sehr respektierten Büchern gefunden werden. Im Juni
1848 und im Mai 1871 waren die französischen Bour¬
geois durchaus nicht so milde wie >eine höher entwickelte
Bienen Die Bourgeois töteten >ihre Brüder< Arbeiter
(und ließen sie töten) mit einer unerhörten Grausam¬
keit, und was hier noch bemerkenswerter für uns ist,
mit durchaus ruhigem Gewissen. Sie sagten sich ohne
Zweifel, daß sie gerade diesen >Weg< und >keinen ande¬
ren < >einschlagen< müßten. Weshalb? Weil die Moral
der Bourgeois ihnen durch ihre soziale Stellung, durch
ihren Kampf mit den Proletariern auferlegt ist, so gut
wie die >Handlungsweise < der Tiere ihnen durch die
Bedingungen ihrer Existenz diktiert wird.
Dieselben französischen Bourgeois betrachten die
antike Sklaverei als unmoralisch und verurteilen wahr¬
scheinlich die Abschlachtung der aufständischen Sklaven,
welche im alten Rom stattfand, als zivilisierter Men¬
schen und selbst intelligenter Bienen unwürdig. Ein
Bourgeois comme il faut kann gut >moralisch und dem
Gemeinwohl ergeben sein<; er wird in seiner Auffassung
der Moral und des Gemeinwohls nicht die Schranken
441
überschreiten, die ihm unabhängig von seinem Willen
und Bewußtsein durch die materiellen Bedingungen
seiner Existenz gezogen sind. Und darin unterscheidet
sich der Bourgeois nicht von den Mitgliedern anderer
Klassen. Indem er in seinen Ideen und Gefühlen die
materiellen Bedingungen seiner Existenz reflektiert,
erleidet er nur das gemeine Schicksal der Sterblichen <.«
[.Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Holbach/
Helvetius/Marx (1896), Berlin 1946, S. 160ff.]
KARL KAUTSKY
442
nen an die Sache der Gesamtheit seiner Klasse und ein
ungemein starkes Pflichtgefühl ihr gegenüber ent¬
wickeln.
Das Proletariat, als unterste Schicht der Gesellschaft,
kann sich nicht befreien, ohne aller Unterdrückung,
aller Ausbeutung ein Ende zu machen. So wird das
klassenbewußte Proletariat dort, wo es eine Macht ge¬
worden, der Anwalt aller Unterdrückten, soweit ihre
Interessen nicht mit denen der sozialen Entwicklung
kollidieren, unterdrückter Klassen, unterdrückter Natio¬
nen, eines unterdrückten Geschlechtes. Aus ihrer histo¬
rischen Rolle erwachsen ihm Pflichten, die außerhalb
seiner direkten Klasseninteressen liegen. Aber auch da¬
mit ist noch nicht der Kreis der sozialen Pflichten er¬
schöpft, die das klassenbewußte kämpfende Proletariat
auf sich nimmt.
Es kann sich nicht befreien auf der Grundlage des
Lohnsystems. Es bedarf der Aufhebung der bestehenden
Eigentums- und Produktionsordnung, es muß sich ein
hohes soziales Ziel setzen und es ist heute die einzige
Klasse, die sich ein solches setzt. Es ist die einzige revo¬
lutionäre Klasse ... die ... ein soziales Ideal anstrebt —
in diesem Sinne die einzige Klasse, in der Idealismus zu
finden ist.
So erwächst aus dem Klassenkampf des Proletariats
die höchste ethische Kraft, die Hingabe an ein hohes
Ideal, und der revolutionäre Klassenkampf des Proleta¬
riats wird der Boden, auf dem sich die kampffähigen und
kampflustigen Idealisten aller Klassen der modernen Ge¬
sellschaft zusammenfinden — so viele es ihrer noch gibt.
Je revolutionärer, idealistischer der proletarische
Klassenkampf, je mehr er das Endziel betont, desto
größer seine ethische Kraft, seine Kraft der moralischen
: Regenerierung des Proletariats. Die praktische Klein¬
arbeit des Proletariats selbst wird dadurch geadelt, die
443
sonst nur zu leicht die Tendenz erzeugt, den Proletarier
auf das moralische Niveau des heutigen Kleinbürgers
herabzuziehen.« [Klassenkampf und Ethik, »Die Neue
Zeit«, XIX. Jg., I. Hbb., S. 240]
+44
schädliches. Sich der Ausbeutung und Unterdrückung
durch das Kapital zu widersetzen, auf die Vernichtung
des Kapitalverhältnisses hinzuarbeiten, wird nicht nur
durch das Sonderinteresse des Proletariats, sondern
durch das Gesamtinteresse der Gesellschaft geboten.
Sich gegen die Kapitalistenklasse zu empören, sie nieder¬
zuwerfen, wo die Möglichkeit gegeben, wird von diesem
Standpunkt aus eine sittliche Verpflichtung des Prole¬
tariats. Unterwürfigkeit und Bedürfnislosigkeit des
Arbeiters werden nun zu einem sittlichen Makel, sie
erscheinen als feiger Knechtssinn und Mangel an Kultur.
Nur wenn Dr. Förster sich auf den bürgerlichen
Standpunkt stellt, kann er zur Ivonstruierung sittlicher
Pflichten der Arbeiterklasse gegenüber der Kapitalisten¬
klasse kommen.« [a.a.O., S. 470]
»Wo versucht wird, an Stelle des Klassenkampfes den
persönlichen Kampf zwischen Arbeiter und Kapitalist
zu setzen, werden wir stets die ethischen Pflichten gegen
die Person des Letzteren betonen. Ebenso müßten wir
dies in dem Moment tun, in dem der Klassenkampf
zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse sein Ziel er¬
reicht, wo das siegreiche Proletariat dieser Klasse ein
Ende macht, indem es das Privateigentum an den gesell¬
schaftlichen Produktionsmitteln aufhebt. Damit wird
allerdings die Arbeiterklasse sittliche Verpflichtungen
gegenüber jenen Elementen übernehmen, die ihr bis
dahin als Kapitalistenklasse gegenüberstanden.« [a.a.O.,
S. 471]
445
sprachen. Endlich aber kann eine bloße Gewohnheit
nicht die Kraft des Pflichtgefühls erklären, das sich oft
mächtiger erweist als alle Gebote der Selbsterhaltung.
Das Gewohnheitsmäßige in der Moral bewirkt bloß, daß
gewisse Normen ohne weiteres als sittliche anerkannt
werden, es erzeugt aber nicht die sozialen Triebe, die
die Durchführung der als sittliche Normen anerkannten
Forderungen erzwingen ...« [Ethik und materialistische
Geschichtsauffassung (1906), Stuttgart 1910, S. 122]
»Aber nicht nur sind die sozialen Triebe etwas durch¬
aus nicht Konventionelles, sondern etwas tief in der
Menschennatur, der Natur des Menschen als sozialen
Tieres Begründetes; auch die sittlichen Satzungen sind
nichts Willkürliches, sondern entspringen den gesell¬
schaftlichen Bedürfnissen.
Es ist allerdings nicht in jedem Falle möglich, den
Zusammenhang zwischen bestimmten sittlichen An¬
schauungen und den gesellschaftlichen Verhältnissen,
denen sie entsprangen, festzustellen. Das Individuum
übernimmt die sittlichen Normen von seiner gesell¬
schaftlichen Umgebung ohne jedes Bewußtsein ihrer
gesellschaftlichen Ursachen. Die sittliche Norm wird
ihm zur Gewohnheit und erscheint ihm dann als ein
Ausfluß seines eigenen geistigen Wesens, von vorn¬
herein gegeben, ohne jede praktische Wurzel. Nur die
wissenschaftliche Forschung vermochte nach und nach
für eine Reihe von Fällen die Beziehung zwischen be¬
stimmten Gesellschaftsformen und bestimmten sitt¬
lichen Satzungen aufzuhellen, und vieles liegt da noch
dunkel ...« (a.a.O., S. 125]
»Indessen ist der Zusammenhang zwischen den Sat¬
zungen der Moral und den gesellschaftlichen Bedürf¬
nissen bereits an so zahlreichen Beispielen erwiesen, daß
man ihn als allgemeine Regel annehmen kann. Besteht
aber dieser Zusammenhang, dann muß eine Änderung
446
dei Gesellschaft auch eine Änderung mancher morali¬
scher Satzungen nach sich ziehen. Deren Wechsel ist
also nicht nur nichts Wunderbares, wunderbar wäre es
vielmehr, wenn mit der Veränderung der Ursache nicht
auch die Wirkung sich änderte. Diese Änderungen sind
notwendig, gerade deswegen notwendig, weil jede Ge¬
sellschaftsform zu ihrem Bestand bestimmter, ihr an¬
gepaßter moralischer Satzungen bedarf ...« [a.a.O.,
; S. 124]
447
Die Moral wirkt also auf das gesellschaftliche Leben
fördernd zurück. Aber das gilt nur so lange, als sie von
diesem abhängig bleibt, als sie den gesellschaftlichen
Bedürfnissen entspricht, die sie erzeugen ...« [a.a.O.,
S. 128 f.]
»Sobald die moralischen Satzungen sich verselbständi¬
gen, hören sie auf, ein Element des gesellschaftlichen
Fortschritts zu sein. Sie verknöchern, werden ein kon¬
servatives Element, ein Hindernis des Fortschritts. So
kann in der menschlichen Gesellschaft, was in der tieri¬
schen unmöglich, die Moral aus einem unentbehrlichen,
zusammenhaltenden Bindeglied zu einem Mittel uner¬
träglicher Einschnürung des gesellschaftlichen Lebens
werden.« [a.a.O., S. 129f.]
448
sittlichen Normen erfüllt ist, zwingen, der öffentlichen
' Meinung der Mehrheit zu trotzen.
Aber die öffentliche Meinung wirkt in eurer klassen¬
losen Gesellschaft als ein ausreichendes Mittel der Poli¬
zei, der öffentlichen Befolgung der sittlichen Normen...«
[a.a.O., S. 150f.]
449
taten antiker Bürgertugend. Mehr als das eigne Leben
einsetzen zur Rettung eines anderen vermochte bisher
auch die sublimste Menschenethik nicht, und ich fürchte,
sie wird in der Praxis nie über diesen Pavian hinaus¬
kommen können ...« \Der Ursprung der Moral, »Die
Neue Zeit«, XXV. Jg., I. Hbb., S. 217f.]
450
\
Der Kantsche kategorische Imperativ, der eine un¬
bedingte, allgemeine Regel unseres Handelns sein soll,
erweist sich, bei Licht betrachtet, in einer ganzen Reihe
von Fallen innerhalb der heutigen Gesellschaft als un¬
durchführbar und unmöglich, weil er nicht ... einen
bloß formalen Charakter hat, sondern weil er eine be¬
stimmte Gesellschaftsordnung voraussetzt, eine solche,
in der eine allgemeine Gesetzgebung möglich ist und
diese durch den bloßen guten Willen der einzelnen
Individuen durchgeführt werden kann. Kants Grund¬
gesetz der reinen, praktischen Vernunft« hat nur dann
einen Sinn, wenn in der Gesellschaft, in der wir leben,
eine allgemeine Gesetzgebung^ d. h. ein widerspruchs¬
loses System von Forderungen an den einzelnen möglich
und der Wille des einzelnen frei ist, es bloß vom Wollen
des Individuums abhängt, diese Forderungen durchzu¬
führen oder nicht. Kant führte die Gegensätze in der
Gesellschaft bloß auf den Gegensatz innerhalb des ein¬
zelnen Menschen zurück, auf den Gegensatz zwischen
seiner Geselligkeit und seiner Ungeselligkeit ... Kant
hatte keine Ahnung davon, daß die gesellschaftlichen
Gegensätze aus Faktoren entspringen, die unabhängig
von dem Wollen und dem Bewußtsein des einzelnen
entstehen und wirken, daß die Gegensätze der Gesell¬
schaft nicht bloß Gegensätze einzelner Individuen sind,
sondern auch Gegensätze von Klassen, daß sie nicht nur
Kollisionen zwischen Eigeninteresse und Gesamtinter¬
esse, sondern auch stete Kollisionen der Pflichten gegen¬
über den verschiedenen Gemeinschaften hervorrufen,
denen das Individuum angehört.« \_Leben, Wissenschaft
und Ethik, »Die Neue Zeit«, XXVI. Jg., II. Hbb.,
S. 517 f.]
»Wir ziehen unser ethisches Grundgesetz aus der
Beobachtung der Wirklichkeit ... Kant dagegen und
ebenso alle Kantianer ... suchen ein ethisches Grund-
451
gesetz, dessen zwingende Gewalt daher rühren soll, daß
es außer aller Erfahrung, über aller Erfahrung steht,
das ewige Geltung beanspruchen ... soll ... Dieses
Sittengesetz wird rein aus der Luft geholt, aus der Zer¬
gliederung der reinen praktischen Vernunft, die vor
jeder Erfahrung da ist, und gerade in dieser Reinheit ...
sehen Kant und seine Anhänger die Gewähr für seine
Ewigkeit und seine zwingende Kraft.
Also selbst wenn wir annehmen, daß der Inhalt des
ethischen Grundgesetzes hier wie dort derselbe ist,
unterscheiden sich schon durch diesen Gegensatz der
Methoden unsere und die Kantsche Ethik wie Feuer und
Wasser. Aber ihre Unvereinbarkeit zeigt sich weiter
noch dann, wenn man in dem Grundgesetz mehr sucht
als einen bloßen Gemeinplatz und den Begriff der
Gesellschaft zergliedert, der jeder der beiden Auffassun¬
gen tatsächlich, wenn auch bei Kant bloß unbewußt und
inkonsequent, zugrunde liegt.
Kant kennt eigentlich nur Individuum und Mensch¬
heit ... hat keine Idee davon, daß die Gesellschaft mehr
ist als ein Haufen zusammenlebender Individuen, daß
sie ein Organismus ist, dessen Zellen, die Individuen,
nicht bloß eine gegenseitige Wechselwirkung aufeinan¬
der ausüben, sondern die durch die Arbeitsteilung unter¬
einander auch auf bestimmte Formen des Zusammen¬
wirkens angewiesen sind, die nicht von ihrem guten oder
bösen Willen abhängen, sondern von der Art der Pro¬
duktivkräfte ...« [a.a.O., S. 519]
»Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelt,
desto mehr werden die Pflichten des einzelnen gegen
die Gesamtheit verdunkelt und kompliziert durch die
Pflichten des einzelnen gegen einzelne Organe der
Gesamtheit, desto mehr gesellt sich zu der Möglichkeit
von Kollisionen zwischen Einzelinteresse und Gesamt¬
interesse auch die von Kollisionen zwischen den Interes-
452
sen der einzelnen Organisationen, die die gesellschaft¬
lichen Organe bilden. Kollisionen der letzteren Art sind
es dann, die Gewissensfragen erzeugen, welche für den
einzelnen die quälendsten werden und auf die er so oft
keine Antwort weiß, auf die ihm aber am allerwenigsten
der Kantsche kategorische Imperativ eine Antwort gibt,
da Kant die in den ökonomischen Verhältnissen not¬
wendig bedingten sozialen Gegensätze aller Art bei
seiner Ethik völlig außer acht ließ und nach seiner
Methode auch außer acht lassen mußte ...« [a.a.O.,
S. 520]
Anschließend kritisiert Kautsky Kants berühmtes Bei¬
spiel für die Anwendung des kategorischen Imperativs
(Pflicht, ein mir anvertrautes >Depositum< eines ohne
Testament und Aufzeichnung Verstorbenen an dessen
Hinterbliebene zurückzugeben). Kautsky meint, daß in
diesem Falle nicht das Kriterium des kategorischen
Imperativs, sondern ein festes Gefühl für >soziale Tugend<
und ein entsprechender sozialer Instinkt< die Rückgabe
des Depositums bewirke. Kant hatte behauptet, die
Absicht, besagtes Depositum nicht zurückzugeben, würde
— in Gedanken zum allgemeinen Gesetz gemacht —■
bewirken, >daß es gar kein Depositum gäbec Kautsky
entgegnet: >In der Regel handelt jeder, der ein Deposi¬
tum bei einem anderen niederlegt, so, als wenn jene
Maxime allgemeines Gesetz wäre<. Er läßt sich nämlich
sicherheitshalber eine Quittung über den Betrag geben
und bewahrt diese unter seinen Papieren auf.
455
Alternative steht, entweder die Pflichten gegen Weib und
Kind oder die gegen die Kameraden verletzen zu müssen.
Bauer rechnet die ersteren Pflichten merkwürdiger¬
weise zu Ausflüssen des Egoismus, des Eigeninteresses,
was nutzt uns aber die Kantsche allgemeine Gesetz-
gebung< bei einem derartigen Konflikt der sittlichen
Pflichten?
Freilich auch meine Ethik liefert keine Schablone,
einen derartigen Konflikt ohne weiteres ... aufzulösen,
aber wer marxistisch geschult ist, wird am ehesten den
Weg finden, ihn zu überwinden. Hätte Genosse B. sei¬
nen verzweifelten Freund zu mir geschickt ... so hätte
ich als Marxist, dem nichts absolut, alles relativ er¬
scheint, statt nach einer absoluten Formel der Verpflich¬
tung auszuschauen, vor allem versucht, herauszufinden,
wie der Fall eigentlich liegt, welchen besonderen Zu¬
sammenhängen er entspringt.
Da Freund X ein so stark entwickeltes Klassengefühl
hat, ist wohl anzunehmen, daß er einer gewerkschaft¬
lichen Organisation angehört. Woher dann seine Not¬
lage? Sie kann durch außerordentliche Unglücksfälle
verursacht sein. Aber in solcher Situation, wenn er nur
den Ausweg hat zwischen dem Streikbruch und dem
Ruin seiner Familie, hat er das Recht, seinerseits an die
Solidarität zu appellieren; den gesellschaftlichen Pflich¬
ten entsprechen gesellschaftliche Rechte. Besser als
Streikbrecher zu werden ist es jedenfalls, von der
Organisation der bessergestellten Kollegen eine Unter¬
stützung zu verlangen, die über die Not hinweghilft.
Sollten aber die Kollegen des X etwa alle in der
gleichen Notlage sein wie X, sollte der Streik alle ihre
Kräfte erschöpft haben, ihre Frauen und Kinder selbst
hungern — ja dann entsteht die Frage, ob die Fort¬
setzung des Streiks noch einen Zweck hat, ob X nicht
trachten soll, dessen Aufhebung herbeizuführen. Diese
454
Frage ist aber wiederum nicht zu lösen durch einen
kategorischen, rein formalen Imperativ, sondern durch
ein Abwägen der Bedeutung des Kampfobjektes und der
Opfer des Kampfes. Niemand wird fordern, daß die
Arbeiter ihre Familien zugrunde gehen lassen sollen,
etwa bloß um einen groben Werkmeister loszuwerden
oder eine Frühstückspause um 10 Minuten auszudehnen.
Aber sicher gibt es auch Fälle, in denen das Kampfobjekt
so groß ist, daß es gilt, alles zu wagen, nicht bloß das
eigene Leben, sondern auch das von Weib und Kind,
z. B. bei einem politischen Streik, wo es sich darum han¬
delt, ein Mordsystem zu stürzen, das das ganze Land
verwüstet und dessen Bewohner hinmetzelt. Aber in
einem solchen Falle wird die nötige Begeisterung und
Entschlossenheit sicher nie durch irgendeine Analyse
der reinen praktischen Vernunft gewonnen werden,
sondern nur durch den Kampf selbst und durch die Er¬
kenntnis der Wichtigkeit seiner Ziele, der Unerläßlich -
keit seiner Mittel. Da kann die ethische Klarheit und
Entschiedenheit nur aus der Wissenschaft und vor allem
dem Leben stammen, nie aus dem Bereich einer Ethik,
die außer und über der Wissenschaft [gemeint ist die
marxistische Geschichtstheorie] und dem Leben stehen
soll.« [a.a.O., S. 521 f.]
w. I. LENIN
455
eigene Moral hätten, und sehr oft beschuldigt uns die
Bourgeoisie, daß wir Kommunisten jede Moral ver¬
neinen. Das ist die Methode, die Begriffe zu verwirren,
den Arbeitern und Bauern Sand in die Augen zu streuen.
In welchem Sinne verneinen wir die Moral, verneinen
wir die Sittlichkeit?
In dem Sinne, in dem die Bourgeoisie sie predigte,
die diese Sittlichkeit aus den Geboten Gottes ableitete.
Hier sagen wir natürlich, daß wir nicht an Gott glauben
und sehr wohl wissen, daß die Geistlichkeit, die Guts¬
besitzer und die Bourgeoisie im Namen Gottes sprachen,
um ihre Ausbeuterinteressen durchzusetzen. Oder sie
leiteten diese Moral nicht aus Geboten der Sittlichkeit,
aus Geboten Gottes, sondern aus idealistischen oder halb¬
idealistischen Phrasen ab, die stets ebenfalls auf etwas
hinausliefen, das den Geboten Gottes sehr ähnlich sah.
Jede solche Sittlichkeit, die aus einem übersinnlichen,
klassenlosen Begriff abgeleitet wird, lehnen wir ab. Wir
sagen, daß das Betrug ist, daß das Schwindel ist, eine
Verkleisterung der Hirne der Arbeiter und Bauern im
Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten.
Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen
des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist.
Unsere Sittlichkeit ist abgeleitet aus den Interessen des
proletarischen Klassenkampfes ...« [Rede auf dem drit¬
ten allrussischen Kongreß des Komsomol, 2. 10. 1920;
zit. nach Aus gewählte Werke, Bd. II, S. 788 f.]
»Wir sagen: sittlich ist, was der Zerstörung der alten
Ausbeutergesellschaft dient und dem Zusammenschluß
aller Werktätigen um das Proletariat, das die neue kom¬
munistische Gesellschaft errichtet.
Die kommunistische Sittlichkeit ist jene Sittlichkeit,
die diesem Kampf dient, die die Werktätigen zusam¬
menschließt — gegen jede Ausbeutung, gegen jedes
Kleineigentum, denn das Kleineigentum gibt in die
456
Hände des einzelnen, was durch die Arbeit der ganzen
Gesellschaft geschaffen wurde ...« [a.a.O., S. 790]
»Die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit ist
der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kom¬
munismus. Darin besteht denn auch die Grundlage der
kommunistischen Erziehung, Bildung und Schulung...«
[a.a. O., S. 792]
PAUL LAFARGUE
»Wollt Ihr Euer Dogma von der Arbeit, auf das Ihr Euch
so viel zugute tut, verhöhnt, verdammt sehen? So
457
schlagt die Geschichte der Alten, die Schriften ihrer
Philosophen und ihrer Gesetzgeber nach: >Ich vermag
nicht zu sagen<, schreibt der Vater der Geschichte, Hero-
dot, >ob die Griechen die Verachtung, mit der sie auf
die Arbeit blicken, von den Ägyptern haben, weil ich
dieselbe Verachtung bei den Thrakiem, bei den Skythen,
bei den Persern, bei den Lydern verbreitet finde; mit
einem Worte bei den meisten Barbaren (Nichtgriechen).
Diejenigen, welche die Handwerke lernen, und selbst
deren Kinder als die letzten Bürger betrachtet wer¬
den ...; alle Griechen werden in diesen Grundsätzen
erzogen, besonders die Lakedämonier .. .< ... Die Römer
kannten nur zwei edle und freie Berufe: Landbau und
Waffendienst; alle Bürger lebten von Rechts wegen auf
Kosten des Staatsschatzes, ohne daß sie gezwungen wer¬
den konnten, für ihren Unterhalt durch eine der sordi-
dae artes (schmutzigen Künste, so nannten sie die Hand¬
werke) aufzukommen, die von Rechts wegen den
Sklaven zukamen ...
Die alten Philosophen stritten über den Ursprung der
Ideen, aber sie waren einig, wenn es galt, die Arbeit zu
perhorreszieren. >DieNatur<, schreibt Plato, >... hat weder
Schuhmacher noch Schmiede geschaffen; solche Be¬
schäftigungen entwürdigen die Leute, die sie ausüben:
niedere Lohnarbeiter, Elende ohne Namen, die durch
ihren Stand bereits von den politischen Rechten aus¬
geschlossen sind< ...
Proletarier, die man durch das Dogma von der Arbeit
verdummt hat, hört Ihr die Sprache dieser Philosophen,
die man Euch mit eifersüchtiger Sorge verbirgt? Ein
Bürger, der seine Arbeit für Geld hergibt, erniedrigt
sich zum Rang eines Sklaven; er begeht ein Verbrechen,
das jahrelanges Gefängnis verdient!!
Die christliche Heuchelei und der kapitalistische Uti¬
litarismus ... hatten diese Philosophen des Altertums
458
noch nicht verdorben; da sie für freie Männer lehrten,
so sprachen sie unbefangen ihre Gedanken aus. Plato
und Aristoteles, diese Riesendenker, denen unsere Mode¬
philosophen, und wenn sie sich auf die Fußspitzen stel¬
len, noch nicht bis an die Knöchel reichen, wollten, daß
die Bürger ihrer Idealrepubliken der größten Muße ge¬
nössen, denn, setzte Xenophon hinzu, >die Arbeit nimmt
die ganze Zeit in Anspruch und bei ihr hat man keine
Zeit für die Republik und seine Freundec Nach Plutarch
hatte Lykurg, >der weiseste aller Menschern, deshalb den
großen Anspruch auf die Bewunderung der Nachwelt,
weil er den Bürgern der Republik Muße zusprach, in¬
dem er ihnen die Ausübung irgendeines Handwerks
untersagte.
Aber, werden die Treitschke, die Windthor st, die
Wagner der christlichen und der kapitalistischen Moral
antworten, diese Denker ... predigten die Sklaverei!
Ganz richtig, aber konnte es unter den wirtschaftlichen
und politischen Verhältnissen ihrer Epoche anders
sein? ...
Aber predigen nicht die Moralisten und Ökonomen
des Kapitalismus die moderne Sklaverei, das Lohn¬
system? Und was sind das für Leute, denen der kapitali¬
stische Sklave Muße verschafft? Die Rothschild, die
Bleichröder, die Stumm — unnütze und schädliche
Schmarotzer, Sklaven ihrer Laster und Bedienten. Das
>Vorurteil der Sklaverei beherrsche den Geist von
Aristoteles<... hat man gesagt, und doch träumte Aristo¬
teles : >Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß oder auch vor¬
ausahnend das ihm zukommende Werk verrichten
könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst
bewegten, oder die Dreifüße des Hephästos aus eigenem
Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Weber¬
schiffe von selber webten, so bedürfte es weder für den
Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herren der
459
Sklaven<. Der Traum des Aristoteles ist heute Wirklich¬
keit geworden. Unsere Maschinen verrichten feurigen
Atems, mit stählernen, unermüdlichen Gliedern, mit
wunderbarer, unerschöpflicher Zeugungskraft, gelehrig
und von selbst ihre heilige Arbeit, und doch bleibt der
Geist der großen Philosophen des Kapitalismus nach wie
vor beherrscht vom Vorurteil des Lohnsystems, der
schlimmsten aller Sklavereien. Sie begreifen noch nicht,
daß die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der
Gott, der den Menschen von den sordidae artes und der
Lohnarbeit loskaufen, der Gott, der ihnen Muße und
Freiheit bringen wird.« [Das Recht auf Faulheit, deutsch
von E. Bernstein, Berlin 1891, S. 29 ff.]
Kritische Marxisten
HERBERT MARCUSE
460
blick auf den schon erreichten Stand der gesellschaft¬
lichen Entwicklung verneint werden: er ermöglicht ein
wahreres Glück als das, was sich die Menschen heute
selbst verschaffen. Die Lust an der Demütigung anderer
wie an der Selbstdemütigung unter einen stärkeren
Willen, die Lust an den mannigfachsten Surrogaten der
Sexualität, am sinnlosen Opfer, an der Heroizität des
Krieges ist deshalb eine falsche Lust, weil die in ihr sich
erfüllenden Triebe und Bedürfnisse die Menschen un¬
freier, blinder und armseliger machen, als sie sein
müssen. Sie sind Triebe und Bedürfnisse der Individuen,
wie sie in der antagonistischen Gesellschaft heraus¬
gebildet wurden. Sofern sie nicht mit einer neuen Form
der Gesellschaft überhaupt verschwinden sollten, wären
Weisen ihrer Befriedigung denkbar, in denen sich wirk¬
lich die äußersten Möglichkeiten der Menschen glück¬
haft entfalten. Diese Befreiung der Möglichkeiten ist
Sache der gesellschaftlichen Praxis: bei ihr liegt es, was
die Menschen mit ihren ausgebildeten sinnlichen und
seelischen Organen und mit dem durch ihre Arbeit ge¬
schaffenen Reichtum anfangen können, um das höchste
Maß an Glück zu erreichen. So gefaßt, kann das Glück
überhaupt nicht mehr etwas bloß Subjektives sein: es
fällt in den Bereich des gemeinschaftlichen Denkens und
Handelns der Menschen.
Wo die entfalteten Produktivkräfte nur in gefesselter
Form von der Gesellschaft verwertet werden, sind nicht
erst die Befriedigungen, sondern schon die Bedürfnisse
verfälscht ...« [Zur Kritik des Hedonismus, »Zeitschrift
für Sozialforschung«, VII. Jg., 1958, Doppelh. 1/2,
S. 79 f.]
»In der kritischen Theorie hat der Begriff des Glücks
mit dem bürgerlichen Konformismus und Relativismus
nichts mehr zu tun: er ist ein Teil der allgemeinen,
objektiven Wahrheit, die für alle Individuen gilt, sofern
461
ihrer aller Interesse darin aufgehoben ist. Erst gegen¬
über der geschichtlichen Möglichkeit der allgemeinen
Freiheit wird es sinnvoll, auch das faktische, wirklich
empfundene Glück in den bisherigen Daseinsverhältnis-
sen als unwahr zu bezeichnen. Es ist das Interesse des
Individuums, welches sich in seinen Bedürfnissen aus¬
drückt, und ihre Befriedigung entspricht diesem Inter¬
esse. Daß es überhaupt in der von blinden Gesetzen
beherrschten Gesellschaft Glück gibt, ist ein Segen: so
kann sich noch das Individuum in ihr geborgen fühlen
und vor der letzten Verzweiflung bewahrt sein. Die
rigoristische Moral versündigt sich gegen die karge
Gestalt, in der Humanität noch übriggeblieben ist; ihr
gegenüber ist jeder Hedonismus im Recht. Erst heute,
auf der letzten Stufe der Entwicklung des Bestehenden,
wenn die objektiven Kräfte, die zu einer höheren Ord¬
nung der Menschheit drängen, reif geworden sind, und
erst im Zusammenhang der mit solcher Veränderung
verbundenen geschichtlichen Theorie und Praxis darf
mit dem Ganzen des Bestehenden auch das Glück in ihm
Gegenstand der Kritik werden. Es zeigt sich, daß die
Individuen, welche zur Einordnung in den antagonisti¬
schen Arbeitsprozeß erzogen worden sind, nicht Richter
über ihr Glück sein können. Sie sind an der Erkenntnis
ihres wahren Interesses verhindert. So kann es geschehen,
daß sie ihren Zustand als glücklich bezeichnen und sich
ohne äußeren Zwang zu dem System bekennen, das sie
unterdrückt. Die Ergebnisse moderner Volksabstimmun¬
gen beweisen, daß die von der möglichen Wahrheit ge¬
trennten Menschen dazu gebracht werden können,
gegen sich selbst zu stimmen ...
Angesichts der Möglichkeit einer glücklicheren realen
Verfassung der Menschheit ist das Interesse des Indivi¬
duums keine letzte Gegebenheit mehr: es gibt wahres
und falsches Interesse auch im Hinblick auf das Indivi-
462
duum. Sein faktisches, unmittelbares Interesse ist nicht
schon sein wahres Interesse. Nicht als ob das wahre
Interesse dasjenige wäre, das auf Grund des geringeren
Risikos und der größeren Genußchance die Opferung
eures unmittelbaren Interesses verlangte. Solche Be¬
rechnung des Glücks hält sich in dem allgemeinen
Rahmen des falschen Interesses und kann bestenfalls
die Wahl des besseren falschen Glücks erleichtern. Im
wahren Interesse des Individuums kann es nicht sein,
seine eigene Verkümmerung und die der anderen zu
wollen. Nicht einmal im wahren Interesse derjenigen,
deren Macht nur auf Kosten solcher Verkümmerung
aufrechterhalten werden kann. Auf der erreichten Stufe
der Entwicklung kann die Macht nicht mehr die von
ihr beherrschte Welt genießen: in dem Augenblick, wo
sie aufhörte zu arbeiten, immer wieder den blutigen
und aufreibenden Prozeß ihrer bloßen Reproduktion zu
erneuern, wäre sie verloren. Auch für sie gibt es noch
etwas zu gewinnen.
Daß das wahre Interesse des Individuums das Inter¬
esse der Freiheit ist, daß wirkliche individuelle Freiheit
mit wirklicher allgemeiner Freiheit einhergehen kann,
ja erst zusammen mit ihr überhaupt möglich ist, und
daß das Glück schließlich in der Freiheit besteht, dies
alles sind keine Aussagen der philosophischen Anthropo¬
logie über die Natur des Menschen, sondern Beschrei¬
bungen einer geschichtlichen Situation, welche sich die
Menschheit in der Auseinandersetzung mit der Natur
selbst erkämpft hat. Die Individuen, um deren Glück
es bei der Ausnützung dieser Situation geht, sind in der
Schule des Kapitalismus zu Menschen geworden: der
hohen Intensivierung und Differenzierung ihrer Fähig¬
keiten und ihrer Welt entspricht die gesellschaftliche
Fesselung dieser Entfaltung. Sofern die Unfreiheit schon
in den Bedürfnissen steckt und nicht erst in ihrer Befrie-
463
digung, sind sie zunächst zu befreien. Das ist kein Akt
der Erziehung, der moralischen Erneuerung des Men¬
schen, sondern ein ökonomischer und politischer Vor¬
gang. Die Verfügung der Allgemeinheit über die Pro¬
duktionsmittel, die Umstellung des Produktionsprozesses
auf die Bedürfnisse der Gesamtheit, die Verkürzung des
Arbeitstages, die aktive Teilnahme der Individuen an
der Verwaltung des Ganzen gehören zu seinen Inhalten.
Mit der Erschließung aller vorhandenen subjektiven und
objektiven Möglichkeiten der Entfaltung werden die
Bedürfnisse andere geworden sein: jene, welche in dem
gesellschaftlichen Zwang zur Verdrängung, in der Un¬
gerechtigkeit, dem Schmutz und dem Elend gründen,
müßten verschwinden. Aber nichts schließt aus, daß es
auch dann noch Kranke, Verrückte und Verbrecher
geben könnte. Das Reich der Notwendigkeit bleibt be¬
stehen, die Auseinandersetzung mit der Natur und unter
den Menschen selbst geht weiter. So wird auch die
Reproduktion des Ganzen weiterhin mit Entbehrungen
des einzelnen verbunden sein; das besondere Interesse
wird nicht unmittelbar mit dem wahren Interesse zu¬
sammenfallen. Die Differenz von besonderem und
wahrem Interesse ist jedoch etwas anderes als die Diffe¬
renz zwischen dem besonderen Interesse und dem Inter¬
esse einer verselbständigten, die Individuen unterdrük-
kenden Allgemeinheit. In seiner Beziehung zur All¬
gemeinheit wird sich das Individuum wirklich zur
Wahrheit verhalten: in ihren Forderungen und Be¬
schlüssen wird sein Interesse aufbewahrt sein und
schließlich doch seinem Glück zugute kommen. Wenn
das wahre Interesse fernerhin durch ein allgemeines
Gesetz vertreten werden muß, welches bestimmte Be¬
dürfnisse und Befriedigungen verbietet, so wird hinter
solchem Gesetz nicht mehr das partikulare Interesse von
Gruppen stehen, die ihre Macht durch die Usurpation
464
1
der Allgemeinheit gegen diese selbst aufrechterhalten,
sondern der vernünftige Entscheid freier Individuen.
Die mündig gewordenen Menschen werden sich mit
ihren Bedürfnissen selbst auseinanderzusetzen haben.
Ihre Verantwortung wird unendlich viel größer sein,
weil sie die falsche Lust der masochistischen Geborgen¬
heit in dem starken Schutz einer heteronomen Macht
nicht mehr haben werden. Die innere, wirkliche (nicht
erst im Jenseits hergestellte) Verbindung von Pflicht und
Glück, an der die idealistische Ethik verzweifelt hatte,
ist nur in der Freiheit möglich. So hat sie Kant inten¬
diert ...
Wenn die mündigen Individuen bestimmte Bedürf¬
nisse und eine bestimmte Lust als schlecht verwerfen
werden, so geschieht dies aus der autonomen Erkenntnis
ihres wahren Interesses heraus: der Erhaltung der all¬
gemeinen Freiheit. So geschieht es aber im Interesse
ihres Glücks selbst, das nur in der allgemeinen Freiheit
als die Erfüllung aller entfalteten Möglichkeiten da sein
kann. Es war das alte Desiderat des Hedonismus, das
Glück mit der Wahrheit zusammenzudenken. Das Pro¬
blem war unlösbar: solange eine anarchische, unfreie
Gesellschaft über die Wahrheit entschied, konnte sie
entweder nur in dem besonderen Interesse des ver¬
einzelten Individuums oder in den Notwendigkeiten der
verselbständigten Allgemeinheit liegen. Im ersten Fall
ging ihre Form verloren (die Allgemeinheit); im zweiten
ihr Inhalt (die Besonderheit). Die Wahrheit, zu der sich
das befreite Individuum im Glück verhält, ist sowohl
die allgemeine wie die besondere. Das Subjekt ist in
seinem Interesse nicht mehr gegen die anderen ver¬
einzelt, sein Leben kann über den Zufall des Augen¬
blicks hinaus glücklich sein, weil seine Daseinsverhält-
nisse nicht mehr durch einen Arbeitsprozeß bestimmt
werden, der Reichtum nur durch Erhaltung des Elends
465
und der Entbehrung schafft, sondern durch die vernünf¬
tige Selbstverwaltung des Ganzen, an der das Subjekt
aktiv tätig ist. Das Individuum kann sich zu den anderen
als zu seinesgleichen und zur Welt als seiner Welt ver¬
halten: sie wird ihm nicht mehr entfremdet sein. Das
gegenseitige Verstehen wird nicht mehr vom Unglück
durchherrscht sein, da die Einsicht und die Leidenschaft
nicht mehr mit der verdinglichten Gestalt der mensch¬
lichen Beziehungen in Konflikt geraten werden ...«
[a.a.O., S. 80ff.]
»Die Freiheit der Erkenntnis ist ein Teil der wirk¬
lichen Freiheit, die nur mit der gemeinsamen Entschei¬
dung und Befolgung des als wahr Erkannten Zusammen¬
gehen kann. Die wesentliche Rolle der Wahrheit für
das Glück der Individuen läßt nun auch die Bestimmung
des Glücks als Lust und Genuß ungenügend erscheinen.
Wenn die Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr mit der
Erkenntnis von Schuld, Elend und Ungerechtigkeit ver¬
bunden ist, braucht sie nicht mehr außerhalb des Glücks
zu fallen, welches den unmittelbaren, sinnlichen Be¬
ziehungen überlassen bleibt. Einer wirklich schuldlosen
Erkenntnis können auch die persönlichen Verhältnisse
der Menschen für das Glück offen werden: vielleicht
sind sie dann in der Tat jene freie Gemeinschaft im
Leben, von der die idealistische Moral die höchste Ent¬
faltung der Individualität erwartet hatte. Die Erkennt¬
nis wird die Lust nicht mehr stören; vielleicht kann sie
sogar selbst zur Lust werden, wie es die antike Idee des
Nous als letzte Bestimmung der Erkenntnis zu sehen
gewagt hatte. In dem Schreckbild des entfesselten
Genußmenschen, der sich nur seinen sinnlichen Bedürf¬
nissen hingeben würde, steckt noch die Trennung der
geistigen Produktivkräfte von den materiellen und des
Arbeitsprozesses vom Konsumtionsprozeß. Die Über¬
windung dieser Trennung gehört zu den Voraussetzun-
466
\
gen der Freiheit: daß die Entfaltung der materiellen
Bedürfnisse mit der Entfaltung der seelischen und
geistigen Bedürfnisse zusammengehe ... Der Hedonis¬
mus kommt in der kritischen Theorie und Praxis zur
Aufhebung; herrscht die Freiheit auch in den seelischen
und geistigen Lebensbereichen, in der Kultur, steht
diese nicht mehr unter dem Zwang der Verinnerlichung,
dann wird es sinnlos, das Glück auf die sinnliche Lust
zu beschränken.
Die Wirklichkeit des Glücks ist die Wirklichkeit der
Freiheit, als der Selbstbestimmung der befreiten Mensch¬
heit in ihrem gemeinsamen Kampf mit der Natur ...«
[a.a.O., S. 86]
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
469
(zweite Folge); Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel
(dritte Folge)]
Iring Fetscher: Von Marx zur Sowjetideolugie. Frankfurt
1956, 1965 (9. Auf).)
II
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schichte«, 1928, Heft 1, S. 1 ff.
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471
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über Probleme des Sozialismus und nach 1899 zur
Verteidigung der erstgenannten Schrift)
Der Revisionismus in der Sozialdemokratie. Amster¬
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mus in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart—-
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»Unter dem Banner des Marxismus«, 1926, I. Jg.,
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Benedictus Spinoza. In: »Unter dem Banner des Mar¬
xismus«, 1928, II. Jg., S. 1—7
Ein neuer Feldzug gegen den Marxismus (Kritik an
Hendrik de Mans Psychologie des Sozialismus). In:
»Unter dem Banner des Marxismus«, 1928, II. Jg.,
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Die Weltanschauung Spinozas. In: Thalheimer und
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dialektischen Materialismus. Wien — Berlin 1928
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FRIEDRICH ENGELS
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Das Wesen des Christentums. 1841, Berlin 1956 (Neu¬
auflage; herausgegeben von W. Schuffenhauer)
Grundsätze der Philosophie der Zukunft. 1845
Vorlesungen über das Wesen der Religion. 1848
(Sämtliche genannten Schriften sind enthalten in:
Ludwig Feuerbach: Sämtliche Werke. 10 Bde, her¬
ausgegeben von W. Bolin und F. Jodl, 1903—1911,
neue Aufl. Stuttgart 1959)
ANTONIO GRAMSCI
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M. M. Cottier: Le Neomarxisme d’Antonio Gramsci.
In: »Nova et Vetera«, 1955
Palmiro Togliatti: Antonio Gramsci, ein Leben für
die italienische Arbeiterklasse. Berlin 1954 (die »offi¬
zielle« kommunistische Biographie)
FRANCOIS GUIZOT
MOSES HESS
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Die europäische Triarchie. 1841
Philosophie der Tat. In: »Einundzwanzig Bogen aus
der Schweiz« (herausgegeben von G. Herwegh),
Zürich—Winterthur 1843
Über die sozialistische Bewegung in Deutschland. In:
»Neue Anekdota«, Darmstadt 1845
Kommunistisches Bekenntnis in Fragen und Antworten.
In: »Rheinische Jahrbücher zur Gesellschaftlichen
Reform«, Bellevue bei Constanz 1846, Bd. II
Roter Katechismus für das deutsche Folk. 1848/49
(Sämtliche genannten Arbeiten sind enthalten in:
Moses Heß: Philosophische und sozialistische Schriften
1837—1850. Berlin 1961)
478
JEAN JAURES
KARL KAUTSKY
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Bernstein und das sozialdemokratische Programm,
eine Anti-Kritik. 1899
Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung.
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Bernstein und die Dialektik. »Die Neue Zeit«, XVII.
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Klassenkampf und Ethik. »Die Neue Zeit«, XIX. Jg.,
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Bernsteins alte Artikel und neue Schmerzen. »Die
Neue Zeit«, XIX. Jg., Bd. II, S. 274—278
Problematischer gegen wissenschaftlicher Sozialismus.
»Die Neue Zeit«, XIX. Jg., Bd. II, S. 355—364 (gegen
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lich?)
Die soziale Revolution. 1. Sozialreform und soziale
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Drei Krisen des Marxismus (Gegenrevolution 1849,
Ende der 1. Internationale, Revisionismus). »Die
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Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Ein
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Leben, Wissenschaft und Ethik (Antwort auf O. Bauers
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Aus dem philosophischen Nachlaß. Exzerpte und Rand¬
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Zum Begriff des Wesens. In: »Zeitschrift für Sozial¬
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Über den affirmativen Charakter der Kultur. In : »Zeit¬
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Philosophie und kritische Theorie. In: »Zeitschrift für
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forschung«, 1958, VII. Jg., S. 55—88
Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social
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Eros and Civilisations. Boston 1955 (Eros und Kultur.
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Trieblehre und Freiheit und die Idee des Fortschritts im
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Unabgeschlossen, bisher beste Edition der Früh¬
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geplante, nicht vollständige Ausgabe auf Grund der
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von H. J. Lieber).Stuttgart 1960 ff. (bisher erschienen:
Bd. I: »Frühschriften«; Bd. III, 1 und 2: »Politische
Schriften«; Bd. IV, 1: »ökonomische Schriften«)
Marx-Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden.
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W. A. Fomina: Die philosophischen Anschauungen
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FRANZ STAUDINGER
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Kulturgrundlagen der Politik (Bd. I: »Ausgangspunkte
und Methoden«; Bd. II: »Ursachen und Ziele«). Jena
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490
AUGUSTIN THIERRY
LUDWIG WOLTMANN
r^s0 -F^
PRINTED IN U.S.A.
CAT. NO. 23 233
TR ENT VE RS TY
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64 03011 24 4
ISSUED TO
- 137433
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