Sie sind auf Seite 1von 2

1 Richtige Eltern hatte ich eigentlich nie.

Meine Erzeuger trafen sich jung, sehr jung, beide waren


2 gerade 20. Mein Vater war ein Träumer, der kiffte und viel trank. Meine Mutter zog nachts oft um
3 die Häuser. Sie gab mich dann bei den Eltern meines Vaters ab. Als unerwartet mein Opa starb,
4 zerbrach auch die Beziehung meiner Eltern, und sie gaben mich zu meiner Oma.

5 Ich mochte meine Oma, wir verreisten viel, aber sie war sehr streng. Irgendwann fing sie an, mich zu
6 schlagen. Mit elf schlug ich das erste Mal zurück. Kurz darauf erkrankte sie an Krebs und meine
7 Tante holte mich zu sich. Ich sollte meiner Oma nicht beim Sterben zusehen müssen. Von meiner
8 Tante erfuhr ich das erste Mal die Zuwendung, die andere Kinder von ihren Eltern kennen. Dass wir
9 nur wenige Wochen nach meinem Einzug von Koblenz in ein kleines Dorf zogen, machte aber alles
10 wieder schlimmer. Ich fand keine Freunde, trank,
11 kiffte und musste vom Gymnasium auf die
12 Hauptschule. Ich war orientierungslos.

13 Mein Glück war ein Studienfreund meiner Tante. Er


14 arbeitete für die SOS-Kinderdörfer im Saarland. Mit
15 13 zog ich nach Saarbrücken, in eine
16 Jugendwohngemeinschaft.

17 Ich war keine fünf Minuten da, als mich Marco ansprach, ein 17-jähriger Muskelberg: „Ey, du machst
18 doch Sport, oder? Dann kannst du auch Football spielen.“ Er nahm mich mit in den Garten, gab mir
19 seinen Mofahelm und verpasste mir den ersten Hit meines Lebens. Mein Aufnahmeritual hatte ich
20 bestanden.

21 Wir lebten mit bis zu acht Jugendlichen, alle zwischen 13 und 18, in einem großen Haus in
22 Rotenbühl. Ein schicker Stadtteil, nebenan wohnte Oskar Lafontaine. Mein Zimmer war 20
23 Quadratmeter groß. An die Wände hängte ich Poster von Che Guevara und Bob Marley.

24 Im Erdgeschoss befanden sich die Gemeinschaftsräume, im zweiten Stock wohnten die Jungs, im
25 ersten die Mädchen. Auch zwei Schwestern aus Eritrea. Ein paar Wochen vor meinem Einzug hatte
26 sich ihre älteste Schwester in ihrem Zimmer erhängt. An den Wochenenden bekamen die Mädels oft
27 Besuch von Freundinnen, sie kochten stundenlang und machten sich die Haare. Ich hing viel mit
28 ihnen ab.

29 Stress gab es selten. Drogen waren ein Thema, gekifft haben wir alle. Und einmal mussten wir
30 dazwischengehen, als ein Junge namens Francis einen der Betreuer schlagen wollte. Dabei waren die
31 eigentlich cool. Sie ließen uns genügend Freiraum und im Keller Punkrock spielen, sie nahmen sich
32 viel Zeit und rauchten auch mal eine mit uns, wenn es nicht gut lief.

1|Jugendwohnheim – Marcs Geschichte


33 Ich habe uns als verschworene Gruppe in Erinnerung. Vielleicht hat uns zusammengehalten, dass es
34 bei jedem Einzelnen nicht so gut lief. In der WG habe ich verstanden, dass nicht ich das Problem war,
35 sondern das Umfeld, in dem ich aufgewachsen war. Ich ging mit einem der Mädels und bekam in der
36 Schule die Kurve, schaffte später sogar mein Abi. Ehrlich gesagt waren die Jahre in der Jugend-WG
37 die schönsten meines Lebens.

38 Meine Eltern habe ich natürlich trotzdem vermisst. Kontakt hatten wir nur ganz selten. Mein Vater
39 ist trockener Alkoholiker, meine Mutter war offensichtlich nicht an mir interessiert. Ich habe sie das
40 letzte Mal gesehen, als ich ihre Unterschrift für meinen BAföG-Antrag benötigte. Ich habe zu beiden
41 keinen Kontakt mehr und kann das heute akzeptieren.

42 Mit 17 bin ich aus der WG in eine eigene Wohnung gezogen, mit Anfang 20 dann nach Berlin, um
43 Soziale Arbeit zu studieren. Nach der Ankunft der vielen Einwanderer 2015 habe ich selbst eine WG
44 für unbegleitete minderjährige Asylsuchende in Berlin-Nikolassee betreut. Heute, mit 38, arbeite ich
45 in einer sogenannten Krisen- und Clearingeinrichtung. Sie hilft Teenagern, die keine stabile
46 Lebenssituation haben, so wie ich damals.

47 Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht
48 verwendet werden.

Eine überarbeitete Version von: https://www.fluter.de/erfahrungen-jugendwohnheim

Aufgaben

1. Lest den Text. Helft einander unbekannte Vokabeln und Sätze zu verstehen.
2. Antwortet auf folgende Fragen:
a. Wer ist Marc heute? Wie alt ist er? Was ist sein Beruf?

b. Was ist ein Jugendwohnheim? Warum kam Marc in ein Jugendwohnheim?

c. Wie war es für Marc im Jugendwohnheim? Wie waren seine Freunde dort?

2|Jugendwohnheim – Marcs Geschichte

Das könnte Ihnen auch gefallen