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Das idealistische bzw.

realistische Konzept des Dramas als Konsequenz eines


unterschiedlichen Welt- und Menschenbilds

I. Das Welt- und Menschenbild der deutschen Klassik

Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in
einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen
ihm ein reines, freies Entzücken gewährt - dann würde das Weltall, wenn es sich selbst
empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens
und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und
Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und
werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins
erfreut?

(...) Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann
sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und
selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommnen zu verweilen und dem
hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. Denn genau genommen kann man sagen, es
sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.

Dagegen tritt nun die Kunst ein: denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist,
so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel
hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und
Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis
zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen
glänzenden Platz einnimmt. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen
Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor:
denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche,
Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt
beseelt, den Menschen über sich selbst.

(Aus: J. W. v. Goethe, Winckelmann. In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band 12, Hamburg 1967,
6. Auflage, S. 98 f. und 102 f.)

Arbeitsfragen zu I.:

a) Welche Beziehung besteht zwischen Mensch und Natur bzw. Kosmos?


b) Welche Beziehung besteht zwischen Mensch, Natur und Kunst?
c) Fassen Sie die wichtigsten Aussagen zu Goethes Welt- und Menschenbild
thesenartig zusammen!

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II. Zum Welt- und Menschenbild und zum poetologischen Selbstverständnis Georg
Büchners

1. Aus einem Brief Georg Büchners an August Stöber,


Darmstadt: d. 9 Dez. 33
Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich, ich meine
für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich
nicht, ich lache über meine Narrheit und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als
taube Nüsse zu knacken. Man muss aber unter der Sonne doch auf irgendeinem Esel reiten
und so sattle ich in Gottes Namen den meinigen; fürs Futter ist mir nicht bang, an Distelköpfen
wird's nicht fehlen, so lang die Buchdruckerkunst nicht verloren geht. Lebe wohl, Bester. Grüße
die Freunde, es geschieht dann doppelt, ich habe auch Boeckel darum gebeten.

2. Aus einem Brief Georg Büchners an Gutzkow, Januar 1836


Ich zeichne meine Charaktere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte,
und lache über die Leute, welche mich für die Moralität oder Immoralität derselben
verantwortlich machen wollen. Ich habe darüber meine eigenen Gedanken [...]
(Aus: Hans Ritscher, Georg Büchner: Woyzeck. Aus der Reihe Grundlagen und Gedanken zum
Verständnis des Dramas, hrsg. von H.-G. Roloff, Frankfurt/M., 9. Aufl. 1986, S. 9)

3. Aus einem Brief Büchners an die Familie:


Straßburg, den 28. Juli 1835.
Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber, steht aber
über letzterem dadurch, dass er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich
unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt,
uns statt Charakteristiken Charaktere und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste
Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.
Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene
Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studium
der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum
vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele
unmoralische Dinge darin erzählt werden, müsste mit verbundenen Augen über die Gasse
gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müsste über einen Gott Zeter
schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir
übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie
sie sein solle, so antworte ich, dass ich es nicht besser machen will als der liebe Gott, der die
Welt gewiss gemacht hat, wie sie sein soll. [S. „Leonce und Lena“: „LEONCE. Weißt du auch,
Valerio, dass selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, dass das Leben noch viel zu
kurz ist, um ihn lieben zu können? Und dann kann ich doch einer gewissen Art von Leuten, die
sich einbilden, dass nichts so schön und heilig sei, dass sie es nicht noch schöner und heiliger
machen müssten, die Freude lassen. Es liegt ein gewisser Genuss in dieser lieben Arroganz.
Warum soll ich ihnen denselben nicht gönnen?] Was noch die so genannten Idealdichter
anbetrifft, so finde ich, dass sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und
affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und
Freude mich mitempfinden macht und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung
einflößt.
(Aus: Georg Büchner, Werke und Briefe. Mit einem Nachwort von Fritz Bergemann. München, 6. Auflage,
1972, S. 181 /182)

4. Aus dem Erzählfragment „Lenz“

Ich verlange in allem - Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben
dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei,
Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens
begegne es uns nur selten: in Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es
einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute
können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles,
was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung
der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben der Geringsten
und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum
bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im „Hofmeister“ und den „Soldaten“.
Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf
einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das
unbedeutendste Gesicht macht einen tiefen Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen,
und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu
kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht.
Er fuhr weiter fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen
zusammen; je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde dieser
elementarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbständig
genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl sein, so von dem
eigentümlichen Leben jeder Form berührt zu werden, für Gesteine, Metalle, Wasser und
Pflanzen eine Seele zu haben, so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen,
wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.
(Aus: Georg Büchner, Werke und Briefe. Mit einem Nachwort von Fritz Bergemann, München, 6. Auflage,
1972, S. 71/72)

Arbeitsfragen zu II. 1, 2, 3:

a) Was ist nach Büchner die Aufgabe des dramatischen Dichters?


b) Worin unterscheidet sich der Dichter vom Geschichtsschreiber?
c) Wie urteilt Büchner über den „Idealismus“? Wie begründet er seine Auffassung?

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