Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Engel Mit Nur Einem Flugel Der Grabstein PDF
Engel Mit Nur Einem Flugel Der Grabstein PDF
AN DER SPREE
Herausgegeben
von Marc Loth
1
PHARAONEN AN DER SPREE
1
PHARAONEN AN DER SPREE
Ägyptisierende Architektur und Skulptur in Berlin
Band 1
3
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über dnb.d-nb.de abrufbar.
IMPRESSUM
ISBN 978-3-848-21242-2
4
INHALTSVERZEICHNIS
INDEX 153
5
6
ENGEL MIT NUR EINEM FLÜGEL?
Der Grabstein der Eheleute Loewy und sein altägyptisches Vorbild,
der Berliner Eingeweideschrein Scheschonqs I.1
Helmut Brandl
Abb. 1: Grabstein Loewy, Zustand im Frühjahr 2012 Abb. 2: Grabstein Loewy kurz nach Restaurierung im Jahre 2003
Auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Berlin Auf der Vorderseite ist der Steinblock mit Reliefs und
(Landkreis Potsdam-Mittelmark) gibt es ein aus einer Inschrift versehen, während die übrigen Sei-
ägyptologischer Sicht bemerkenswertes Denkmal, ten undekoriert sind. Die Hohlkehle ist auf der Vor-
dessen oberer Teil einem bedeutenden Exponat des derseite mit einer in versenkter Relieftechnik aus-
Berliner Ägyptischen Museums nachempfunden ist. geführten, 42 cm breiten Flügelsonne geschmückt
Es handelt sich um den Grabstein des Landgerichts- (Abb. 3). Dieses altägyptische Motiv besteht aus
rats Dr. Paul Loewy (1854–1912) und seiner Gattin einem Kreis (der Sonnenscheibe) mit zwei einrah-
Margarete Loewy, geb. Mende (1864–1921).2 Er menden Uräusschlangen und zwei symmetrisch
besteht im unteren Teil aus einem 114,5 cm hohen daran angrenzenden, ausgebreiteten Falkenflügeln.
Pfeiler aus hellgrauem Stein, der an der Vorderseite Es stellt eine abstrakte Gestalt des Sonnengottes
eine quadratische Platte mit den Namen und Le- Horus dar. Der Gott wurde in dieser Weise häu-
bensdaten der Verstorbenen sowie einem Epigramm fig über altägyptischen Tempeltoren, auf Schreinen
trägt. Auf diesem Untersatz steht ein massives, an- und Stelen dargestellt und ist dort regelmäßig als
nähernd quaderförmiges Monument mit leicht ein- Behedeti, d.h. „Der von Edfu“, bezeichnet.
wärts geneigten Wänden, das etwas schmaler als
der Sockel ist. Dieses besteht aus porösem, grauen
Stein und ist 77,5 cm hoch. Seine leicht abgesetzte,
8,5 cm hohe Sockelzone weist auf allen vier Sei-
ten eine Kantenlänge von 56,5 cm auf. Am oberen
Rand des Blockes ist eine Hohlkehle über einem
Rundstab (einem umlaufenden walzenförmigen
Dekor-Element) ausgearbeitet (Abb. 1, 2). Abb. 3: Flügelsonne am Grabstein Loewy
143
Helmut Brandl
Auf dem Stahnsdorfer Grabstein fehlt eine solche stammenden Pharaonen der Dritten Zwischenzeit
Beischrift jedoch. Unter diesem Götterbild befindet (21.–24. Dynastie). Scheschonq I. begründete die
sich ein weiteres symmetrisch angelegtes Relief, 22. Dynastie und regierte von ca. 946/45 bis 924 v.
das den größten Teil der Vorderseite des Steinblocks Chr.4 Er ist auch aus der Bibel bekannt, da er einen
einnimmt. Es zeigt, platziert in einem rechtwinkli- Feldzug gegen das Reich des Rehabeam, des Soh-
gen Rahmen (Basisbreite: 47 cm, obere Breite: 45 nes König Salomos führte. Aus dem Tempel zu Jeru-
cm, Höhe: 41 cm), zwei sich gegenüberstehende salem soll er dabei die goldenen Schilde Salomos
Göttinnen. Sie tragen eine lange Perücke mit hinten als Beute nach Ägypten gebracht haben (1.Kön. 14,
geknotetem Stirnband und sind in ein langes, eng 24–25; 2.Chr. 12, 2–9). Seinen Siegeszug ließ Sche-
anliegendes Gewand gehüllt. Durch die Hierogly- schonq I. durch ein noch weitgehend erhaltenes
phen auf ihrem Kopf sind sie als Isis (links) und Ne- monumentales Relief am Bubastidentor des Amun-
phthys (rechts) identifizierbar. Beide strecken einen Re-Tempels von Karnak verewigen. Der Schrein ge-
Arm fast waagerecht vor und halten damit eine gro- hörte einst wohl zur Grabausstattung des Pharaos.
ße, von ihrem Körper ausgehende Vogelschwinge. Im Jahre 1891 wurde er dem Berliner Ägyptischen
Sie zeigt ein detailliert ausgearbeitetes Gefieder, Museum von seinem Mäzen Julius Isaac geschenkt.
wobei sich die abgewinkelten Enden der Flügel Über die Herkunft des Objektes ist nichts überlie-
dekorativ überschneiden. Die Szene wird in ihrer fert und auch die Lage des Grabes Scheschonqs I.
ganzen Breite oben durch eine Himmelshierogly- ist nicht bekannt. Ob der Herrscher in der Königs-
phe ( ) begrenzt. Darunter ist der Familienname nekropole von Tanis bestattet war oder in Memphis,
„LOEWY“ eingemeißelt (Abb. 4). wie ebenfalls vorgeschlagen wird5, oder aber an ei-
Dieser reliefgeschmückte Steinblock stellt die ab- nem ganz anderen Ort, ist ungeklärt.
gewandelte Nachahmung eines sogenannten Ein- Im Gegensatz zu dem neuzeitlichen Grabstein
geweideschreins im Berliner Ägyptischen Museum der Loewys besteht der etwas kleinere Schrein des
dar (Abb. 5).3 Er gehörte einst Pharao Scheschonq I., Scheschonq aus zwei separaten Teilen, die aus fei-
einem der bedeutendsten Herrscher der aus Libyern nem Calcit-Alabaster hergestellt wurden.
Abb. 4: Grabstein der Eheleute Loewy, Vorderseite Abb. 5: Eingeweideschrein Scheschonqs I., Vorderseite (A)
144
GRABSTEIN LOEWY
Der untere Teil des Scheschonq-Schreines besitzt ten Körper war der Kopf des Tieres offenbar separat
die Form eines einfachen, 53 cm hohen, 49 cm und plastisch gearbeitet. Er hat sich jedoch nicht
breiten und 50 cm tiefen Steinkubus, dessen Inne- erhalten. Nur eine kleine, kreisrunde Ansatzstelle
res vier vertikale, zylindrische Hohlräume aufweist. mit einem darin eingelassenen Metallstift ist davon
Sie dienten einst wohl zur Aufnahme von vier mu- übrig geblieben. Der Geier ist eine Erscheinungs-
mienförmigen Behältnissen, vermutlich aus Edel- form weiblicher Schutzgottheiten wie Mut (der
metall, in denen ausgewählte einbalsamierte inne- Gemahlin des Amun-Re) und Nechbet, der ober-
re Organe des Königs (Leber, Lunge, Magen, und ägyptischen Kronengöttin. Welche Göttin gemeint
Gedärm) separat beigesetzt waren (Abb. 6).6 Die ist, kann wegen des Fehlens einer entsprechenden
Vierzahl geht auf die traditionellen Kanopengott- Beischrift nicht mit Sicherheit gesagt werden. Auf
heiten Amset, Hapi, Duamutef und Kebehsenuef der linken und rechten Seite des Daches (Seiten B
zurück, die Söhne des Gottes Horus, denen der ma- und D) ist eine vielfach eng gewundene Kobra in
gische Schutz der Organe anvertraut war. Diesen erhabenem Relief abgebildet (Abb. 8). Möglicher-
männlichen Gottheiten entsprachen als weibliche weise handelt es sich bei ihr um die Schutzgottheit
Schützerinnen der Organe die vier Göttinnen Isis, Werethekau („die Zauberreiche“), die an gleicher
Nephthys, Selket und Neith. Stelle auch bei Statuenschreinen (zum Beispiel aus
Der obere Teil ist der massive Deckel des Schreins. dem Grab des Tutanchamun7) erscheinen kann.
Er besitzt die Form einer Hohlkehle über einem Denkbar ist jedoch auch, dass die Schlange die
Rundstab und einer niedrigen Basiszone und ist Göttin Uto (bzw. Wadjit) repräsentiert, die als un-
17,5 cm hoch, 54,5 cm breit und 59 cm tief. Auf terägyptische Kronengöttin häufig die Gestalt einer
der Oberseite des Deckels ist ein gewölbt nach hin- Kobra annimmt und auf diese Weise die Geiergöt-
ten abfallendes Dach ausgearbeitet, das ein Relief- tin Nechbet komplementär ergänzt.
bild eines Geiers mit schützend ausgebreiteten Flü- Die Unterseite des Deckels weist vier mit den Hohl-
geln schmückt, welcher die gesamte zur Verfügung räumen des Unterteils korrespondierende, runde
stehende Breite einnimmt (Abb. 7). In den Klauen Vertiefungen auf. Sie lassen darauf schließen, dass
des Raubvogels sind schen-Ringe zu erkennen, d.h. die vier inneren Eingeweidegefäße des Scheschonq
Hieroglyphen, die für eine zyklische Auffassung nicht vollständig in die Steinkiste versenkt werden
von „Unendlichkeit“ stehen und Wiedergeburt an- konnten, sondern leicht darüber hinausragten, was
deuten. Im Gegensatz zu dem nur schwach model- eine leichte, vierfache Aushöhlung auch des De-
lierten und überwiegend in Ritztechnik ausgeführ- ckels nötig machte.
145
Helmut Brandl
146
GRABSTEIN LOEWY
147
Helmut Brandl
Nephthys
Nephthys
Nephthys
B
Isis
Isis
Isis
Isis
Abb. 16: Isis A / Nephthys A (Detail) Abb. 17: Isis B / Nephthys B (Detail)
148
GRABSTEIN LOEWY
Nephthys
Nephthys
Nephthys
D
Isis
Isis
Isis
Isis
Abb. 18: Isis C / Nephthys C (Detail) Abb. 19: Nephthys D / I sis D (Detail)
149
Helmut Brandl
ausgegangen werden kann. Allerdings stammen Neith auf den Seiten B, C und D ist daher unbe-
wahrscheinlich schon die Figuren der Seiten A und friedigend. Theoretisch hätte man für Scheschonq
B von zwei unterschiedlichen Handwerkern, was I. wohl einen der Originalschreine der 18. bzw. 19.
an der stilistischen Diskrepanz der Figurenpaare A Dynastie, die bei der Öffnung der thebanischen
und B erkennbar ist. Signifikant erscheinen hier die Königsgräber zum Vorschein kamen, umarbeiten
unterschiedlichen Ausarbeitungen der Schleife des und wiederverwenden können. Bei dem schweren
Haarbandes und die Form der Schläfenpartie der Sarkophag des Merenptah, den man in der Königs-
Göttinnen. Aufgrund von Übereinstimmungen in nekropole von Tanis fand, ist man bekanntlich vor
der Gesichtsphysiognomie könnte man sogar ver- einer solchen Usurpation nicht zurückgeschreckt.
muten, dass die Gesichter der Isis A und der Ne- Vermutlich gab es jedoch nach der Plünderung der
phthys B von dem einen Reliefschneider stammen Königsgräber im Tal der Könige keinen intakten Ein-
und die Gesichter der Nephthys A und der Isis B geweideschrein mehr, den man hätte umarbeiten
von dem zweiten. Dies würde jedoch bedeuten, können. Die erhaltenen Reste der steinernen Einge-
dass die beiden Reliefschneider der Seiten A und weideschreine des Neuen Reiches sind in einem so
B ihre Arbeitspositionen zwischendurch getauscht fragmentarischen Zustand, dass sich der Gedanke
hätten. Auffällig sind in diesem Zusammenhang an eine absichtliche Zerschlagung aufdrängt, ver-
sicher die großen Ohren, die bei Isis A und Neph- mutlich im Zusammenhang mit der Plünderung der
thys B Markierungen für Ohrringlöcher tragen. Bei Gräber. Bei der möglichen zweidimensionalen Vor-
diesen beiden Göttinnen entsprechen sich auch die lage für die erklärungsbedürftige Ikonographie des
Gesichtsphysiognomien und die Proportionen der Scheschonq-Schreines könnte es sich wohl um die
Köpfe weitgehend, wohingegen sich bei Nephthys schematische Zeichnung einer (noch intakten) Seite
A und Isis B die Gesichtsdetails einschließlich ihrer eines Schreines aus dem Tal der Könige gehandelt
runden Augenform stärker ähneln. Die gröberen Fi- haben, möglicherweise auf einem Ostrakon oder
guren der Isis C / Nephthys C und der Nephthys D einem Papyrus. Diese Seite dürfte dann Isis und
/ Isis D dürften von zwei weiteren Reliefschneidern Nephthys gezeigt haben. Die eigentlich halbplas-
hergestellt worden sein. Bei den Göttinnen der Sei- tischen Figuren der beiden geflügelten Göttinnen
te C sind sehr dünne Arme und kleine Köpfe mit könnte der Zeichner durch „vollständige“, d.h.
„Brillenaugen“ und abgesetzt modellierter Iris19 auf- hieroglyphisch aufgefasste, nicht angeschnittene
fällig (Abb. 18), während die zwei Göttinnen der Göttinnenbilder wiedergegeben haben. Das we-
Seite D in ihrer Flächigkeit (und in ihrer stilistischen sentliche Charakteristikum dieser Göttinnenbilder,
Dürftigkeit) zusammenpassen (Abb. 19). Nur auf die beiden ausgestreckten Arme mit Flügeln, wäre
der Seite C sind die Flügel der Göttinnen sorgfältig dabei nicht richtig erfasst worden. Die zweidimen-
durch eine Doppellinie eingefasst, wohingegen auf sionale Fassung hätte dann nur noch einen Flügel
Seite D sogar deren obere Begrenzungslinie fehlt. erhalten. Auf diese Weise wäre nicht nur eine ver-
Nur bei den Göttinnen der Seite D wurde auch die einfachte, sondern auch eine missverstandene Vari-
Anordnung vertauscht. Isis steht hier rechts, wäh- ante des Originals entstanden.
rend Nephthys auf der linken Seite zu erkennen ist. Der Bildhauer des Grabsteins Loewy kopierte das
Bei ihren Figuren wurde die Fiederung der Flügel möglicherweise schon im zehnten Jahrhundert v.
auf eine eigentümlich flächige und auf dem Sche- Chr. missverstandene Motiv der geflügelten Göt-
schonq-Schrein nur hier begegnende Weise ausge- tinnen ohne sich um dessen Genese Gedanken zu
arbeitet. Vermutlich arbeiteten also wenigstens vier machen. Er folgte auch nicht genau dem Verlauf der
Personen am Reliefdekor des Schreins. Die Unter- einzelnen Linien. Bei ihm schneidet beispielsweise
schiede der Figuren waren nach der anzunehmen- die Linie des Halsausschnittes die vordere Strähne
den, abschließenden Bemalung wohl nicht mehr der Götterperücke, was auf dem Originalschrein
sichtbar. Auf der Vorderseite des Schreines flankie- ohne Vorbild ist (vgl. Abb. 20a, b und 21). Das kör-
ren die Göttinnen die Kartuschen Scheschonqs I., nige und offenbar stärker als Calcit-Alabaster zur
wodurch vermutlich auf die „Osiris-Qualität“ des Verwitterung neigende Material des Grabsteins hat
toten Königs angespielt wird. Auf den übrigen Sei- sicher eine Feinmodellierung erschwert. Dies dürfte
ten ist dies nicht der Fall. Die wiederholte Abbil- ein zusätzlicher Grund für die heute undetailliert
dung von Isis und Nephthys anstelle von Selket und erscheinenden Darstellungen sein.
150
GRABSTEIN LOEWY
Abb. 20a, b: Darstellung der Nephthys auf dem Grabstein Loewy (Detail) Abb. 21: Nephthys A auf dem Eingeweide-
und entsprechende Umzeichnung schrein Scheschonqs I. (Detail)
Warum die Loewys gerade den Schrein des Sche- Für Ägyptologen ist die Bezeichnung der „Würdi-
schonq als Vorbild für ihren Grabstein wählten, ist gen“ jedoch bestes altägyptisches Gedankengut,
unbekannt. Vielleicht kannten sie dessen früheren wurden doch verklärte Verstorbene häufig als ima-
Eigentümer Julius Isaac, dem Berlin das Geschenk chu ( ), d.h. als Würdige bzw. Versorgte be-
des Schreines verdankt, oder waren sogar mit ihm zeichnet.21 Ob ägyptologisches Fachwissen auch
verwandt. Möglicherweise sagte ihnen auch das eine Rolle bei der Auswahl des Grabspruches ge-
Motiv der geflügelten orientalischen Schutzgöttin- spielt hat, ist wohl nicht mehr eindeutig zu klären.
nen zu, deren Erscheinung entfernt an Engelsfigu- Denkbar wäre es. Heutige Betrachter mögen sich
ren erinnert. Der Grabstein der Loewys trägt als beim Anblick des Scheschonq-Schreins eher an ei-
Inschrift ein bekanntes Epigramm Goethes: „Halte nen Aphorismus Luciano De Crescenzos erinnert
das Bild der Würdigen fest! Wie leuchtende Ster- fühlen: „Siamo angeli con un’ala soltanto e possia-
ne teilte sie aus die Natur durch den unendlichen mo volare solo restando abbracciati.“22 – Jeder von
Raum.“20 Diese Aufforderung zum ehrenden Toten- uns ist ein Engel mit nur einem Flügel und wir kön-
gedenken mag modernen Besuchern der Grabstätte nen nur fliegen, wenn wir uns umarmen.
nicht mehr sofort verständlich sein.
151
Helmut Brandl
152