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"Anfangs haben wir täglich Rebellen erschossen"

Stuttgarter Zeitung
15. Juli 2003

Copyright 2003 Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft GmbH All rights reserved

Section: DREI; 3
Length: 1843 words
Highlight: In der indonesischen Kriegsprovinz Aceh

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In der Kriegsprovinz Aceh will Indonesien angeblich "Herzen und Geist" der Menschen gewinnen. Das geschieht
mit Gewalt und mit Propaganda - und möglichst unbeobachtet vom Ausland. Von Moritz Kleine-Brockhoff, Banda
Aceh Der UN-Mann Madani zuckt mit den Schultern. "Ich kann nicht sagen, was los ist. Wir dürfen die Stadt Banda
Aceh schon lange nicht mehr verlassen." Madani soll im Aceh-Krieg die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen
koordinieren. "Außerhalb der Stadt ist das zu gefährlich", hört Madani aus New York. "Sie dürfen nicht direkt helfen,
sondern nur über Ministerien in Jakarta", hört er vom indonesischen Militär. Die Generäle haben außer dem Roten
Kreuz und der staatlichen Menschenrechtskommission allen Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen
verboten, durch Aceh zu reisen. Möglichst ungestört wollen 40 000 Regierungssoldaten und Polizisten ihren
Gegner "auslöschen": Seit Mai herrscht Kriegsrecht an Indonesiens Westspitze. Indonesiens Gegner ist die
Bewegung Freies Aceh (Gam). Die Rebellentruppe, 5000 Kämpfer hat sie, will einen unabhängigen Staat, weil
Aceh früher ein Sultanat war. Im 19. Jahrhundert kamen Holländer nach Aceh und im 20. Jahrhundert, als die
Nation Indonesien entstand, da kamen Soldaten aus der Hauptstadt Jakarta. Sie setzen bis heute durch, was Gam
nicht akzeptieren will: dass Indonesien alles umfasst, was holländische Kolonie war. Den Rebellen reicht Acehs
junge Autonomie nicht, in der islamisches Recht gelten darf und viel mehr Öl- und Gasgeld in der Provinz bleiben
soll. Die Rebellen bestehen auf einen eigenen Staat, Jakarta wird das nie zulassen. Seit 1976, seit der bewaffnete
Widerstand den Namen Gam trägt, sind 12 000 Menschen im Kampf um Aceh gestorben.

Seit Mai wird so oft geschossen wie nie zuvor. "Mir ist es peinlich, aber laut Militärdekret dürfen wir nicht mit Ihnen
sprechen", meint eine Frau im Büro der Koalisi Ham, wo sich lokale Menschenrechtsgruppen
zusammengeschlossen haben. Die Frau neigt kurz ihren Kopf zur Seite in Richtung Wand. Dort steht auf einer
Tafel eine Statistik über Verbrechen beider Seiten in Aceh aus den vergangenen zwei Jahren: Exekutionen,
Entführungen, willkürliche Festnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen - 1221 Fälle sind registriert. Bis Ende April
2003 geht die Erhebung, seit Mai, seit Kriegsrecht herrscht, gibt es keine Zahlen mehr. Auch Koalisi Ham darf
nicht mehr raus auf dem "Killer Highway", auf die Straße zwischen Banda Aceh und Lhokseumawe. Dort, an der
Nordküste Acehs, sind die Gebiete Pidie, Bireuen und Nisam, wo die Rebellen am stärksten sind und am stärksten
bekämpft werden. Hinter der Stadtgrenze von Banda Aceh sind kaum noch Autos oder Menschen auf der Straße.
Wer zum "Apparat", so nennen die Bewohner der Stadt indonesische Soldaten und Polizisten, gehört, hat Angst vor
Gam. Wer zu den Rebellen gehört oder sie mag, hat Angst vor dem "Apparat". Wer mit keiner Seite etwas am Hut
hat, hat Angst vor beiden. "Vollgas ist am sichersten", meint der Fahrer Razali und tritt aufs Gaspedal seines alten
Geländewagen. Busse fahren hier nicht mehr, Lastwagen rollen in Konvois mit 50 Wagen, vorne und hinten
eskortieren schwer bewaffnete Spezialeinheiten der Polizei. Der Job der Beamten ist gefährlich, die Rebellen
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schießen oft. Das Risiko wird gut bezahlt, umgerechnet 40 Euro bezahlt jeder Lastwagenfahrer der Polizei. Wer
außerhalb des Konvois fährt, muss an Militärposten zahlen. Weil es so viele gibt, ist das teuer. Früher haben auch
die Rebellen Wegezoll eingetrieben. Im Moment trauen sie sich selten auf die Hauptstraße, weil dort so viele
Soldaten sind. Seit die zu zehntausenden gekommen sind, ist Aceh rot-weiß. Vor jedem Haus flattert die
indonesische Nationalflagge an Bambusstangen, die im Boden stecken. "Das Militär hat uns gesagt, dass wir die
Fahnen hissen müssen", sagt ein Acehnese. "Niemand traut sich abzulehnen. Bestimmt würde er sofort
erschossen." Distrikt Pidie, ein heißer Morgen auf einem trockenen Lehmweg, der vom "Killer-Highway" rechts
abgeht in Richtung Berge. Die Gipfel sind auf 2500 Meter hinter dicken Wolken versteckt. Der Weg ist gleichzeitig
ein Steg zwischen den Reisfeldern. Im flachen Wasser stehen zwei Frauen, sie bücken sich und stopfen die
kleinen, grünen Pflanzen in nasse Erde. Bestimmt hören sie den Motor des Geländewagens, aber sie trauen sich
nicht aufzuschauen. Hinter ihnen liegt ihr Dorf wie eine Insel aus Palmen und Dächern in den Reisfeldern. Neben
den verkohlten Betongerippen, die vor kurzem noch eine Schule waren, sitzen fünf Männer in einem Café und
rauchen. In Aceh sind seit Mai 530 Schulen verbrannt. Die Rebellen sollen mit der Massenbrandstiftung
angefangen haben. Angeblich weil sie nicht wollen, dass acehnesische Kinder lernen, was in indonesischen
Schulbüchern steht. Indonesische Soldaten sollen weitergemacht haben. "Wir haben nicht gesehen, wer unsere
Schule angezündet hat", sagen die Männer in dem Café, "und wir wissen auch nicht, wer die Lehrer erschossen
hat." 60 Lehrer sind jüngst in Aceh ermordet worden. Noch ein Kaffee, noch zwei Zigaretten. "Gestern waren die
Soldaten wieder da", sagt einer der Jüngeren auf einmal, "wieder ,Sweaping'." Fast alle Acehnesen kennen das
englische Wort. Schrecklich selbstverständlich geht ihnen der Militärjargon über die Lippen. Indonesische Soldaten
wollen die Dörfer von Rebellen "säubern". "Sie kommen nachts, treten Türen ein, prügeln und brüllen. "Wir sollen
sagen, wo Gam-Leute sind", erzählt ein Dorfbewohner. "Gestern haben die Indonesier alle Männer
zusammengetrieben und in eine Reihe gestellt. Ich dachte, sie erschießen uns. Aber zum Glück haben sie nur ihre
Gewehrläufe an jede Stirn gehalten und gebrüllt. Dann gingen sie wieder." Ein anderer Mann schreit auf: "Aber sie
haben meinen Bruder mitgenommen! Er ist noch nicht zurück, bestimmt haben sie ihn erschossen." Es ist still, nur
aus einem Fernseher kommt noch eine Stimme, die Nachrichten. Wieder soll ein Massengrab in Aceh entdeckt
worden sein. Zwei Kilometer weiter sind 20 Soldaten stationiert, die die Einheit ihres Landes verteidigen sollen und
wissen, dass sie in Aceh immer als Besatzungsmacht gelten werden. Marineinfanteristen von der Hauptinsel Java
sind es. Einer ist 19 Jahre alt und zum ersten Mal weit weg von zu Hause. "Uns macht es richtig Spaß hier. Seit
einem Monat sind wir da. Am Anfang haben wir fast täglich Rebellen erschossen", erzählt er stolz. "Jetzt sind die
Rebellen in die Berge geflohen, und wir haben hier alles unter Kontrolle." Mehr wollen die Soldaten nicht erzählen,
sie bieten Wodka an, prahlen mit ihren Gewehren, lachen und plaudern über Oliver Kahn. "Wasser!" brüllt einer von
ihnen plötzlich so laut, dass die acehnesischen Frauen, die ein paar Meter hinter ihm an einem Kiosk stehen, den
Befehl hören. Eine junge Frau bringt sofort Mineralwasser. Der Soldat bietet kein Geld an, die Frau fragt nicht.
Hastig geht sie zurück zum Kiosk, den Blick auf den Boden gerichtet. Wie sie die Flasche auf die Bank gestellt hat,
auf der der Soldat sitzt, konnte man sehen, dass sie zittert. Zurück auf der Hauptstraße. An jeder Ein- und Ausfahrt
der Stadt sind große rot-weiße Banner über die Straße gespannt. "Ein Land, ein Volk, eine Sprache - Indonesien"
steht auf ihnen. Natürlich auch in Bireuen, wo das Militär in der Nähe Panzer, Artilleriegeschütze,
Kampfhubschrauber und F-16-Jets eingesetzt hat. Beim Roten Kreuz hängt eine Grafik, rote Balken zeigen die Zahl
der unidentifizierten Leichen an, die täglich im Distrikt abgeholt wurden. 18 waren es am dritten Tag des
Kriegsrechtes. Im Moment holen die Helfer etwa zwei pro Tag. Die Leichen, die von Verwandten identifiziert
werden, kommen nicht zum Roten Kreuz. Sie werden ganz schnell, so schreibt es der Islam vor, im Dorf bestattet.
Weil diese Opfer bisher in keiner Statistik auftauchen, weiß niemand, wie viele Menschen in Aceh sterben. Die
offizielle Angabe - von 380 ist die Rede - ist untertrieben. Das Militär hat tausende vertrieben, von 50 000
Flüchtlingen ist offiziell die Rede. Viele Dörfer sind von den Soldaten komplett entvölkert worden. Die Bewohner
glauben, dass die Soldaten möglichst viele Acehnesen in Lager stecken, wo sie leichter zu kontrollieren seien als
auf dem Land. Wahrscheinlich will das Militär den Rebellen auch den Nachschub entziehen. Die Rebellen holen
sich bei der Zivilbevölkerung Essen, und sie treiben Steuern für ihren Kampf ein. In Bireuen geht beides nur noch
schwer, weil so viele Häuser verlassen sind. Die Vertriebenen sind in Lagern untergebracht, die Regierung richtet
gerade weitere Zeltstädte ein. Das größte Lager heißt Cot Gapu. Der Rasen eines Fußballstadions ist bedeckt mit
Armeezelten. Tausende Menschen hocken auf dem Boden. "Das Militär kam in unser Dorf und hat uns gesagt,
dass wir mitkommen müssen, Lastwagen für unseren Transport hierher hatten sie mitgebracht", sagt eine
schwangere Frau. "Dabei war in unserem Dorf kein Schuss gefallen." Das Lager ist von einer drei Meter hohen
Mauer umgeben. Über dem einzigen Eingang flattert ein Banner mit der Aufschrift "Ich liebe Indonesien". Auf den
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Armeezelten steht in großen Buchstaben "Sozialministerium". Der Aceh-Krieg soll eine "integrierte Operation" aus
militärischen und humanitären Maßnahmen sein. Das Humane ist, dass Indonesien die Menschen nicht
verhungern lässt, die von seinen Soldaten vertrieben wurden. In den Lagern, das erzählen alle "Flüchtlinge", gebe
es zwar zu wenig Wasser und kaum sanitäre Einrichtungen, aber genug Reis und gesalzenen Fisch. Ein Arzt und
einige Krankenschwestern sind da. "1235 Menschen habe ich schon behandelt", sagt der Mediziner müde, "leider
muss ich meine wenigen Medikamente gerecht aufteilen und kann Patienten nur Antibiotika für zwei Tage geben.
Das bringt zwar nichts, aber wenn ich ungerecht bin, stürmen sie mir bestimmt die Bude." Der Fahrer Razali gibt
wieder Vollgas. "Wir sollten bei Tageslicht in der Stadt Lhokseumawe sein", meint er. Ein indonesisches TV-Team
schaffte das nicht. Rebellen verschleppten die Gruppe und halten sie jetzt gefangen. Ein Kameramann war vor
Wochen von Unbekannten ermordet worden, ein Radioreporter wurde verprügelt - vom Militär, sagt er. Kurz vor
Lhokseumawe ein kurzer Stopp am Hafen, in den ehemals deutsche Kriegsschiffe Nachschub für die Soldaten
bringen, obwohl der Kaufvertrag ihren Einsatz auf Schmuggel- und Pirateriebekämpfung beschränkt. "Gerade
angekommen", sagt ein Marinesoldat von der Teluk Cirebon, der ehemaligen Nordperd. Schnell weiter, vorbei an
dem kilometerlangen Zaun, der kurz vor Lhokseumawe die Raffinerie des Exxon-Mobil-Partners PT. Arun schützt,
wo Javaner und Amerikaner viele Milliarden US-Dollar verdienen. 100 Meter vor dem Zaun stehen erbärmliche
Häuser. Einige Hütten sind nur noch verkohlte, leer stehende Ruinen. Gelegentlich ein bisschen Schießerei an der
Raffinerie hilft den Generälen, die Schutzgeldmillionen hochzutreiben, die sie kassieren. Auf der anderen
Straßenseite sieht man einen langen Zaun. Dahinter golfen Militärs und Geschäftsleute im letzten Tageslicht.
Acehnesen tragen ihre Golfschlägertaschen.

Load-Date: July 15, 2003

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