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Deutschland
Von Christoph Egle
Vor dem Hintergrund des politischen und ökonomischen Zustandes, in dem sich
Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befand, kann die Bundesre-
publik11 als eine „Erfolgsgeschichte“ Sozialer Demokratie gelten. Gab es nach dem
Ende der Naziherrschaft Bedenken, ob Deutschland jemals (wieder) ein friedliches
und demokratisches Land werden könne, sind Zweifel an der Stabilität der bundesre-
publikanischen Demokratie und deren Verankerung in einer vitalen Zivilgesellschaft
heute weitgehend ausgeräumt. Die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft
war freilich ein Prozess, der erst Ende der 1960er-Jahre voll zum Durchbruch kam.
Die Schande der Naziherrschaft und das Scheitern der Weimarer Republik prägen
bis heute die politische Kultur Deutschlands. Zu deren Charakteristika zählen ein
Verzicht auf nationalistische Rhetorik und eine tief sitzende Skepsis gegenüber Ext-
remismus jeder Art. Demgegenüber gelten die Suche nach Kompromissen und das
Finden der „Mitte“ als wichtige bundesrepublikanische Tugenden.
Neben der gelungenen (Re-)Demokratisierung nach 1945 trug auch das „Wirtschafts-
wunder“ dazu bei, dass die Bundesrepublik aufgrund einer fast einmaligen Kombi-
nation ökonomischer Leistungsfähigkeit, politischer Stabilität und sozialen Ausgleichs
lange Zeit als Vorbild für andere westliche Industrieländer galt. Auch die deutsche
Sozialdemokratie identifizierte sich mit der sozialen und ökonomischen Ordnung
der Bundesrepublik und sah darin ihre politischen Wertvorstellungen verwirklicht.
So warb die SPD bei der Bundestagswahl 1976 für das „Modell Deutschland“. Nach
der Wiedervereinigung mehrten sich jedoch die Zeichen, dass die Bundesrepublik
dieser Vorbildrolle nicht mehr gerecht wurde, da sie beim Wirtschaftswachstum
und der Schaffung von Arbeitsplätzen zurückgefallen war. Bemerkenswert ist, dass
ein Teil derjenigen Faktoren, die bis in die 1980er-Jahre zur Charakterisierung des
„deutschen Modells“ und dessen Erfolgs herangezogen wurden, in den 1990er-
Jahren als Grund für den „Abstieg“ Deutschlands identifiziert wurden. Dies betrifft
vor allem das Regierungssystem, das eine Anpassung an veränderte wirtschaftliche
Bedingungen (Globalisierung) verzögerte, und bestimmte Strukturen des Sozialstaa-
tes, die sich in einigen Bereichen als ein Beschäftigungshemmnis erwiesen haben
(vor allem für Geringqualifizierte und für Frauen). Als ein historischer Glücksfall gilt
jedoch das zunächst nur für eine Übergangszeit vorgesehene Grundgesetz.
Der Sozialstaat
Die Bundesrepublik ist das Musterbeispiel für den sogenannten konservativ-kor-
poratistischen Sozialstaat, der auch als „christdemokratisch“ oder als „Bismarck-
Typ“ bezeichnet wird. Diese Terminologie macht deutlich, dass der deutsche Sozi-
alstaat nicht in erster Linie von Sozialdemokraten geschaffen wurde, sondern in
seiner historischen Entstehung vor allem auf Konservative und Christdemokraten
zurückgeht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Ausbau des Sozialstaates
durch gleich zwei Sozialstaatsparteien (CDU/CSU und SPD) vorangetrieben.
Trotz seines großen finanziellen Umfangs zeichnet sich der deutsche Sozialstaat
durch eine nur mäßige Umverteilung aus, da bestehende soziale Unterschiede
oftmals fortgeschrieben werden. Beispiele hierfür sind unterschiedliche Sozi-
alversicherungs- und Versorgungssysteme für verschiedene Berufsgruppen.
Die allgemeine Sozialversicherungspflicht gilt nur für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer; Selbstständige sowie Beamtinnen und Beamte hingegen können
sich privat gegen soziale Risiken versichern bzw. unterliegen einem gesonderten
Versorgungssystem (z. B. Beamtenpensionen).
Rente
Das von der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlte Standardrentenniveau
betrug 2012 (ohne betriebliche Zusatzversorgung) 49,6 % des durchschnittlichen
Arbeitseinkommens. Sowohl das Durchschnittseinkommen (27.139 Euro im Jahr)
als auch die Durchschnittsrente (13.465 im Jahr) sind dabei als Nettoeinkommen
vor Steuern gerechnet. Nach jetziger Gesetzeslage wird das Sicherungsniveau
langfristig auf etwa 45 % sinken. Zur Kompensation dieses Rückgangs wird der
Abschluss einer kapitalgedeckten Zusatzrente durch staatliche Zulagen und
steuerliche Begünstigungen gefördert. Liegen die erworbenen Rentenansprü-
che unterhalb des Sozialhilfeniveaus, springt eine Grundsicherung im Alter ein.
Arbeitslosenversicherung
Das von der Arbeitslosenversicherung gezahlte Arbeitslosengeld I beträgt je nach
Familienstand 60 bis 67 % des vorangegangenen Lohns. Es wird abhängig von
Beitragsdauer und Lebensalter des Empfängers zwischen 6 und 24 Monate lang
gezahlt. Nach Auslaufen dieser Ansprüche kann das steuerfinanzierte Arbeitslosen-
gelds II auf Höhe der Sozialhilfe bezogen werden. Der Bezug des Arbeitslosengeldes
II bzw. der Sozialhilfe (für Nichterwerbsfähige) setzt eine Bedürftigkeitsprüfung
voraus, von Erwerbsfähigen wird außerdem die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme
erwartet und überprüft. Durch einen Rechtsanspruch auf diese Fürsorgeleistungen
ist ein soziokulturelles Existenzminimum für alle Personen garantiert.
Gesundheitssystem
Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gelten im interna-
tionalen Vergleich als gut, allerdings ist das System auch vergleichsweise teuer.
Deutschland
73,3 %
Beschäftigungsquote 2013 (68,8
%)
Langzeitarbeitslosenquote
2,4 %
2013
Einkommensungleichheit/
28,3 %
Gini-Koeffizient 2003–2012
Gewerkschaftlicher Organi- 18 %
sationsgrad – Stand 2013 (2011)
Weibliche
32,4 %
Abgeordnete 2013
Anteil der Langzeitarbeitslosen (12 Monate und mehr) an der erwerbsfähigen Bevölkerung (Quelle: Eurostat)
Kennzahl für die Ungleichverteilung von Einkommen, je höher der Wert, desto größer die Ungleichheit (Quelle: Human
Development Report 2014, S. 168)
Anteil, zu dem Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen/Schüler im Fach Mathematik auf deren sozioökono-mischen
Hintergrund zurückzuführen sind (Quelle: OECD 2012)
Anteil an Parlamentssitzen,
die von Frauen gehalten werden (Quelle: Human Development Report 2014, S. 172)
Anteil der Menschen, die mit der Auswahl an Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, zufrieden sind (Quelle: Human
Development Report 2014, S. 220)
Kinder und nicht erwerbstätige Ehepartner sind kostenfrei bei ihren Eltern bzw. erwerbststätigen Partnern
mitversichert, Bezieher von Sozialleistungen sind automatisch Mitglied in der GKV. Selbständige, Beamtinnen
und Beamte, sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit hohem Einkommen sind von der
Versicherungspflicht befreit und können sich (oft zu günstigeren Konditio-nen) privat versichern.
Das Bildungssystem
Das Bildungssystem liegt in der fast alleinigen Zuständigkeit der Bundesländer und weist deutliche regionale Differenzen in
Struktur und Qualität auf. Während manche Länder Anschluss an die internationale Spitzengruppe gefunden haben, liegen die
Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in anderen Bundesländern unterhalb des OECD-Durchschnitts. Im internationalen
Vergleich wurde außerdem deutlich, dass in kaum einem anderen Land die soziale Herkunft von Schülern so sehr deren
Bildungserfolg bestimmt, das heißt das Gebot der Chancengleichheit in Deutschland kaum erfüllt wird. Im internationalen
Vergleich immer noch als vorbildlich gilt trotz regelmäßiger Engpässe beim Lehrstellenangebot das System der dualen
Berufsausbildung, da es eine betriebsnahe Berufsqualifizie-rung ermöglicht und diese mit einer allgemeinbildenden Schulpflicht
verknüpft.
Fazit
Das „Modell Deutschland“ galt lange Zeit als vorbildlich und war bis in die 1970er-Jahre eine hochinklusive Soziale
Demokratie. Im Zuge der Anpassung an die Folgen der deutschen Einheit und die Globalisierung ging diese Spitzenstellung
verloren. Seither lässt sich Deutschland eher als mittelinklusive Soziale Demo-kratie bezeichnen. Als nachteilig erwies sich
u. a die Finanzierungsstruktur des Sozialstaates. Seit Mitte der 1990er-Jahre versuchten erst die Regierung Kohl, nach
einigem Zögern auch die Regierung Schröder, durch einen Um- und Rück- bau des Sozialstaates die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft zu stärken und das System der sozialen Sicherung an die Alterung der Gesellschaft und den Wandel der
Familienstrukturen anzupassen. Diese Reformen wurden zum Teil gegen erheblichen Widerstand in der Bevölkerung
durchgesetzt, waren bzw. sind aber vermutlich eine Voraussetzung dafür, das Beschäftigungsniveau wieder zu erhöhen. Es bleibt
abzuwarten, ob es Deutschland in Zukunft wieder gelingt, sich in Richtung hochinklusive Soziale Demokratie zu bewegen. Die vor-
gesehene Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes wird von vielen Beob-achtern als ein wichtiger Schritt in diese
Richtung bewertet.