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Deutscher Ethikrat:

„Die wenigsten Wissenschaftler, die ich kenne, wollen


berühmt sein“

Die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx über die Bedeutung ihrer Arbeit für die
Politik, Öffentlichkeit auf Twitter und überhöhte Erwartungen an die Wissenschaft.

Tanja Brandes, 30.1.2021 - 15:25 Uhr

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https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-wenigsten-
wissenschaftler-die-ich-kenne-wollen-beruehmt-sein-li.135962

Foto: Juli Eberle/TUM


Alena Buyx berät die Bundesregierung zu den ethischen Fragen der Corona-Pandemie.
BerlinSeit Mai vergangenen Jahres ist Alena Buyx Vorsitzende des Deutschen
Ethikrats. Seitdem steht sie gewissermaßen im Auge des Sturms. Mit dem
Gremium berät sie die Bundesregierung in den ethischen Fragen der Pandemie.
Daneben ist die Medizinethikerin gefragte Gesprächspartnerin in den Medien,
Anfragen stürzen den ganzen Tag auf sie ein. Dabei ist die Arbeit im Ethikrat
ehrenamtlich – hauptberuflich leitet Buyx das Institut für Geschichte und Ethik der
Medizin an der TU München. Die Doppelbelastung merkt man der 43-Jährigen
während des Video-Telefonats nicht an: Leidenschaftlich spricht sie über die
großen Fragen der Pandemie, Konflikte als Auftrag und darüber, was es bedeutet,
als Wissenschaftlerin plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen.

Frau Buyx, dass der Ethikrat die Politik berät, ist nicht neu, und doch scheint es,
als würde er erst durch die Pandemie in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.

Wenn ich unterwegs bin oder irgendwo auftrete, wird mir manchmal gesagt: „Ich
wusste gar nicht, dass es euch gibt!“ Ich glaube, in der Politik waren wir immer
schon gut bekannt. Wir sind am Bundestag aufgehängt, unsere Stellungnahmen
wurden an den entsprechenden Stellen auch rezipiert. Da hat sich nicht so viel
verändert. Aber mit Blick auf die mediale Debatte schon, da ist die Wahrnehmung
und Aufmerksamkeit gestiegen.
Impfstoff angekündigtSchutz vor Corona: Wer wird zuerst geimpft?

Die Mitglieder des Ethikrats kommen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen.


Wenn Experten aus Natur- und Religionswissenschaften aufeinandertreffen – wie
ist es da überhaupt möglich, zu einem Konsens zu kommen? Stehen sich die beiden
Fächer nicht in vielen Fragen völlig entgegengesetzt gegenüber – etwa, wenn es
um die medizinische und die theologische Position bei Fragen von
Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe geht?

Nein, überhaupt nicht. So stehen sich die Positionen nicht gegenüber bei uns, es
gibt ja in der Regel nicht die eine monolithische Position in der einen Disziplin.
Denken Sie beispielsweise an die Position der evangelischen Kirche zur
Suizidbeihilfe – da gibt es ja innerhalb der evangelischen Moraltheologie
Unterschiede. Das ist eben das Komplexe in der Wissenschaft, dass es eine
Pluralität nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch innerhalb einer
Disziplin geben kann. Hinter dem Ethikrat steckt genau diese Idee: Die
Interdisziplinarität soll ausloten, was das begründbare Positionenspektrum
innerhalb von Wissenschaft und Gesellschaft ist. Es geht darum zu ergründen, wie
sich diese Positionen zueinander verhalten und ob es einen überlappenden
Konsensus gibt, auf dem Empfehlungen aufbauen können.

Der Ethikrat
Der Deutsche Ethikrat bearbeitet naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche
Fragen unter ethischen Gesichtspunkten und untersucht die möglichen Folgen, die
sich im Zusammenhang mit der entsprechenden Forschung für den Menschen und
die Gesellschaft ergeben. Der Ethikrat besteht aus Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen, darunter Theologie, Medizin und
Philosophie. Zu den Aufgaben des Rates gehören die Information der Öffentlichkeit,
die Förderung der Diskussion in der Gesellschaft und die Erarbeitung von
Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln für die
Bundesregierung und den Deutschen Bundestag. Der Ethikrat legt die Themen für
seine inhaltliche Arbeit selbst fest, kann aber auch von der Bundesregierung oder
dem Bundestag beauftragt werden, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten.
Das klingt kompliziert …

Ich habe nie behauptet, dieser Austausch wäre unkompliziert (lacht). Und es
gelingt auch nicht immer. Manchmal gibt es auch Mehrheiten und Minderheiten
oder Sondervoten. Wir bemühen uns aber immer um den Konsens. Auch, weil das
für die politischen Handlungsträger insgesamt hilfreicher ist. Zum Beispiel bei der
Impf-Priorisierung in der Corona-Krise, als wir mit der Ständigen Impfkommission
und der Leopoldina zusammengearbeitet haben. Bei so einem konkreten
Handlungsauftrag wäre es schwierig gewesen, drei verschiedene Standpunkte und
Vorgehensweisen anzubieten. Andererseits ist das auch ein wichtiger Teil unserer
Arbeit: In der Vergangenheit gab es manchmal tiefe Gräben zwischen einzelnen
Positionen. Dann ist es notwendig, der Politik zu sagen: Es gibt hier zwei – oder
mehr – begründbare Seiten, die jeweils von vernünftigen Leuten vertreten werden.
Wir können nun einmal keinen Konsens herbeizaubern. Meistens bildet so ein
Konflikt ja auch gesellschaftliche Differenzen ab. Wenn wir für die Politik und die
Gesellschaft ethische Orientierung bieten sollen, können wir das nicht übertünchen.
Am Ende des Tages sagt man dann der Politik: Wir zeigen, wie das Schienennetz
verläuft, hier sind die Weichen, aber den Zug, den fahrt immer noch ihr.

Am Ende des Tages sagt man der Politik: Wir zeigen, wie das
Schienennetz verläuft, hier sind die Weichen, aber den Zug, den fahrt
immer noch ihr.
Alena Buyx

In der Pandemie ist die Wissenschaft als Berater der Politik sehr in den Fokus
gerückt. Wie sehr lastet derzeit der Erwartungsdruck auf Ihnen?

Die, die uns anfragen – der Bundestag, die Bundesregierung oder einzelne
Ministerien –, wollen unseren Rat, aber sie wissen genau, dass wir ihnen
Entscheidungen nicht abnehmen. Ich habe den Eindruck, dass das mehr eine
Erwartung der Öffentlichkeit ist, nach dem Motto: Der Ethikrat sagt jetzt, was heiß
oder was kalt ist. Zum Teil gibt es ja auch ganz eindeutige Empfehlungen von uns
– wie im Fall der Impf-Priorisierung. Aber auch da gilt: Das ist eben eine
Empfehlung, die die Politik dann umsetzt.

In der Öffentlichkeit werden Aussagen von Wissenschaftlern mitunter anders


wahrgenommen. Wenn sich etwa der Virologe Christian Drosten oder seine
Kollegen auf Twitter äußern, wird das schnell als Tatsache gedeutet, nicht als
Zwischenstand der Entwicklung. Wie gehen Sie mit dem Anspruch um, klare
Antworten auf die Fragen in der Pandemie liefern zu müssen?

Man kann zur Klärung beitragen, aber manchmal gibt es eine fehlgeleitete
Erwartung, dass man immer und auf alle Fragen eine Antwort haben muss. Kein
Wissenschaftler kann das. Davon muss man sich freimachen, sonst wird man
verrückt. Ich gebe Antworten nach bestem Wissen und Gewissen. Und das tut Herr
Drosten auch. In den Beratungsrunden, in denen wir sitzen, heißt es ja nicht: Wir
machen jetzt das, was Herr Drosten sagt, oder das, was Frau Buyx sagt. Politische
Entscheidungsträger werden von vielen verschiedenen Experten beraten, einige
davon bekannter, andere weniger bekannt. Ich finde es manchmal schade, dass das
so vereinfacht wird. Und es ist auch ungnädig.

Zur Person
Alena Buyx wurde 1977 in Osnabrück geboren. Sie ist approbierte Ärztin und hat
zusätzlich einen Studienabschluss in Philosophie und Soziologie. 2005 wurde sie im
Fach Medizin promoviert. Buyx hat in London und Harvard geforscht und ist seit 2018
Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für
Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der
Technischen Universität München. Seit Mai 2020 ist sie Vorsitzende des Deutschen
Ethikrats. Alena Buyx ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Ungnädig wem gegenüber?

Zum einen den Experten gegenüber, die herausgepickt werden. Deren Einfluss wird
zum Teil völlig überhöht. Und das ist für viele Wissenschaftler ein echtes Problem,
erst recht, wenn dann in den sozialen Netzwerken gegen einzelne Personen
gewettert wird. Diese Art von Aufmerksamkeit ist kein Vorteil. Ich finde es aber
auch ungnädig der Politik gegenüber, wenn man ihr unterstellt, sie höre nur auf die
paar Wissenschaftler, die nun mal gerade in der Öffentlichkeit auftauchen.

Aber ist es nicht auch eine Form der Demokratisierung, wenn jede Bürgerin und
jeder Bürger über die sozialen Netzwerke an der Debatte teilhaben kann? Wenn
sich Wissenschaftler vereinfacht auf Twitter äußern, dann müssen sie doch damit
rechnen, dass sie auch Widerspruch hervorrufen …

Ich finde eine öffentliche Debatte sehr wichtig. Ich finde es auch völlig legitim,
wenn gefragt wird: Wer berät die Regierung? Wer berät die Ministerpräsidenten?
Aber es werden oft einzelne Leute herausgezogen. Wir haben als
Wissenschaftskollektiv schon auch die Verantwortung, dass wir unsere Expertise
zur Verfügung stellen. Aber das ist nicht die primäre Aufgabe von
Wissenschaftlern. Wir sind ja keine gewählten Volksvertreter. Wenn Herr Spahn in
eine Pressekonferenz kommt, wird er von Mitarbeitern begleitet, die ihn
abschirmen und Anfragen regulieren. Herr Drosten kommt alleine mit dem
Fahrrad. Das ist auch eine Lernerfahrung für diejenigen von uns, die sich darauf
einlassen: Dass man da auf ein Bedürfnis reagiert, das neben der Politik steht. Das
ist auch völlig legitim, denn die Leute wollen es ja verstehen, gerade, wenn
Themen strittig sind. Aber sich da hineinzubegeben, ohne die Strukturen, die
öffentliche Personen ansonsten haben, ist eine große Herausforderung. Die
wenigsten Wissenschaftler, die ich kenne, wollen öffentliche Personen oder gar
berühmt sein. Mich eingeschlossen. Wir wollen einfach einen Beitrag leisten.

Es gibt so viele Menschen, die gerade einen enormen Beitrag leisten,


die Erzieherinnen, Krankenpfleger, Supermarktkassierer. Für diese
Menschen ist es einfach eine Selbstverständlichkeit, dass sie, wenn die
Zeiten schwer werden, über sich hinauswachsen.
Alena Buyx

Sie haben im Mai den Vorsitz des Ethikrates übernommen, mitten in der Pandemie.
Wenn Sie gewusst hätten, was alles auf sie einstürzt – hätten Sie sich darauf
eingelassen?

Wenn mir jemand vorher gesagt hätte: „Es kommt eine Pandemie und du kannst
zur Überwindung einen kleinen Beitrag leisten", dann hätte ich gesagt: „Natürlich
mache ich das. Was denn sonst?“ Ich freue mich auch über die Aufmerksamkeit,
die wir als Ethikrat gerade bekommen. Für mich sind die ethischen Fragen, die die
Politik gerade umtreiben, nicht neu, ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit
Medizinethik. Neu ist die Brisanz und die Dichte, mit der diese Fragen in der
Pandemie jetzt verhandelt werden. Das ist zum Teil durchaus anstrengend. Wir
arbeiten im Ethikrat ehrenamtlich, auch ich mache das neben meinem Vollzeit-
Beruf. Das würden wir nicht machen, wenn wir nicht ein Gefühl einer
Verantwortung gegenüber der Gesellschaft hätten. Aber das geht ja nicht nur uns
so: Es gibt so viele Menschen, die gerade einen enormen Beitrag leisten, die
Erzieherinnen, Krankenpfleger, Supermarktkassierer und viele mehr. Für so viele
Menschen ist es im Moment eine Selbstverständlichkeit, dass sie, wenn die Zeiten
schwer werden, über sich hinauswachsen.

Es wird viel darüber debattiert, wie die Gesellschaft aus der Pandemie
herauskommen wird. Was glauben Sie: Werden wir solidarischer miteinander
umgehen?
Nach einer Krise gibt es gewöhnlich eine Zeit der Aufarbeitung, die auch
schmerzhaft ist. In der nach Verantwortlichen gesucht wird, Schäden begutachtet
werden. Ich glaube, da kommt noch eine harte Bewältigungsphase auf uns zu. Aber
am Ende des Tages bin ich eine zuversichtliche Realoptimistin: Meine hoffende
Erwartung ist, dass wir mit einer erhöhten Resilienz aus der Krise hervorgehen,
dass viel von der Solidarität übrig bleibt.

Das Gespräch führte Tanja Brandes.

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