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folio.nzz.ch/1993/oktober/hitler-im-visier
Was Delmer Anfang 1941 unter dem Stichwort «Schwarze Propaganda» zu entwickeln
begann, war eine phänomenale Mischung von systematischer Generalstabsarbeit und
unverfrorener Scharlatanerie, von minuziöser Recherche, angereichert und aufbereitet
durch skrupellose Erfindung. Als Medium standen ihm sowohl Radio wie Druckerpresse zur
Verfügung. In beiden Bereichen baute er sich einen Stab von exzellenten Fachleuten auf.
Die meisten von ihnen waren Deutsche, die vor dem Regime geflohen waren, Schriftsteller
und Journalisten, Schauspieler und Politiker. Delmer dirigierte seine Truppe von Milton
Bryan aus, einem kleinen Ort nordwestlich von London. Hier befanden sich auch die
Studios der Radiosender, die ihre Meldungen und Kommentare nach Deutschland funkten.
Die «Schwarze Propaganda» kämpfte mit verdecktem Visier. Ihr Bestreben war, sich zu
tarnen, das Publikum glauben zu machen, ihre Radiosendungen und Druckerzeugnisse
stammten aus Deutschland selbst. Wenn ein Deutscher an seinem Gerät eine Sendung der
britischen «Schwarzen Propaganda» empfing, sollte er auf Anhieb annehmen, hier
sprächen Deutsche aus Deutschland zu ihren Volksgenossen. Am wirkungsvollsten schien
Delmer das Leitmotiv, die Wehrmacht als Opposition gegen Partei, SS und Gestapo
auftreten zu lassen. Der wegen seiner Erfolge damals auf dem Höhepunkt von Macht und
Popularität stehende Hitler wurde geschont, um so schärfer waren die Attacken auf das
mittlere Kader der Nazipartei, die im Volk wenig beliebten «Goldfasane».
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Alle britischen, gegen Deutschland gerichteten Schwarzsender wie Gustav Siegfried 1,
oder später der Kurzwellensender Atlantik und der Soldatensender Calais operierten auf
dieser Linie. Als Gustav Siegfried 1 am 23. Mai 1941 erstmals auf Sendung ging,
vermittelte der in der Ansage «Chef» genannte Sprecher den Eindruck, er sei das Haupt
einer weitverzweigten Gruppe national gesinnter Offiziere, die sich zwar gegen das
Parteiregime auflehnten, sonst aber mit Hitlers Ziel der Schaffung eines mächtigen
Deutschen Reiches einverstanden seien. Die Sprache des «Chefs» war knapp und
militärisch, er dachte patriotisch und verschmähte selbst antisemitische Ausfälle nicht.
Unter der Bevölkerung riefen solche Meldungen Angst und Besorgnis hervor, und das
Regime konnte sie nicht dementieren, ohne ihnen zugleich weitere Verbreitung zu
verschaffen. Die deutsche Abwehr hatte zwar längst den Standort der «Schwarzen
Propaganda» geortet und wusste, dass sie aus England kam. Aber Delmer bezog auch das
mit in sein Kalkül ein. In die Anweisungen, die der «Chef» mit metallischer Stimme am
Mikrophon verlas, wurden kryptische Wendungen eingeflochten, und die Deutschen
vermuteten darin einen Geheimcode für in Deutschland tätige britische Agenten. In der
zweiten Hälfte des Krieges, als die «Schwarze Propaganda» über stärkere Sender verfügte
und auch im Mittelwellenbereich aktiv wurde, schaltete sie sich bei den Sendepausen
deutscher Stationen auf deren Frequenz ein und führte das Programm weiter, geschickt
durchsetzt mit Giftpfeilen gegen Nazibonzen, SS und Gestapo. Die Verwirrung war total.
Der «Schwarzen Propaganda» lag daran, ihre Hörer mit vielen Meldungen und
Kommentaren zu beliefern, die den Eindruck einer ausgezeichneten Kenntnis selbst
engster lokaler Verhältnisse in Deutschland vermittelten. Die dafür notwendigen
Informationen verschaffte sich Delmers Team durch die Auswertung der deutschen
regionalen Presse, vor allem der Inserate, der Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen, die
ihnen Namen und Adressen lieferten. Eine andere Quelle waren die deutschen
Kriegsgefangenen, deren Gespräche im Lager abgehört wurden. Das Auffangen von
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Funksprüchen aus einem deutschen Verwundetenlazarett bei Neapel benützte die
«Schwarze Propaganda», um den Angehörigen von Verstorbenen fingierte, angeblich von
einer Krankenschwester verfasste Briefe zu schreiben, in denen ihnen mitgeteilt wurde, der
Verstorbene habe einige wertvolle Andenken hinterlassen, welche der örtlichen
Parteidienststelle zugeleitet worden seien; diese könnten dort abgeholt werden.
Selbst der Suchdienst des Roten Kreuzes wurde von der «Schwarzen Propaganda»
missbraucht. Die Angehörigen von Vermissten (die wahrscheinlich längst tot waren)
erhielten einen anonymen Brief mit der Mitteilung, der Gesuchte lebe und befinde sich in
Sicherheit in einem neutralen Land. Er verdiene gut, könne sich aber aus Furcht vor der
Gestapo nicht selber melden. Solche Schreiben wie auch die erfundenen Steckbriefe und
Broschüren wurden von britischen Agenten nach Deutschland geschmuggelt und dort
verschickt. Als Frankatur benützten sie in England gedruckte falsche deutsche
Briefmarken.
Ihren grössten Erfolg erzielte die «Schwarze Propaganda» mit dem «Mölders-Brief».
Werner Mölders, ein erfolgreicher, von der Goebbels-Propaganda zum Nationalhelden
emporstilisierter deutscher Jagdflieger, war im November 1941 bei einem Flug abgestürzt.
Es handelte sich um einen reinen Unfall, aber die «Schwarze Propaganda» machte daraus
einen verbrecherischen Anschlag des Regimes. Grund: der tief gläubige Katholik Mölders
habe aus seiner Empörung über den antikirchlichen Kurs der Nazis kein Hehl gemacht und
sei deshalb ermordet worden. Als Beweis dafür wurde ein angeblicher Brief Mölders an
einen katholischen Geistlichen produziert, samt einleitendem Text, in welchem zur
Verbreitung des Schreibens aufgefordert wurde. Wer den Brief in der Hand hielt, musste
glauben, der Begleittext, geschrieben auf einem Funkmeldeformular der Luftwaffe, sei von
Fliegerkameraden des Toten verfasst und abgeworfen worden. Tatsächlich stammte alles
aus den Werkstätten der «Schwarzen Propaganda», nach Deutschland gebracht hatte es
ein Flugzeug der Royal Air Force. Der Brief fand solche Verbreitung, dass Goebbels sich
widerwillig zu einer Stellungnahme gezwungen sah und das Ganze als plumpe Erfindung
des Feindes abtat, was aber auf wenig Glauben stiess.
Andere Aktionen der «Schwarzen Propaganda» blieben ohne sichtbaren Erfolg. In der
letzten Phase wurde eine Briefmarke mit dem Portrait Himmlers gedruckt, um zu zeigen,
dass der SS-Chef sich bereits darauf vorbereitete, Hitlers Stelle einzunehmen. Aber das
deutsche Volk hatte damals andere Sorgen. Niemand scheint die Fälschung bemerkt zu
haben, nicht einmal die Post, welche die Marken anstandslos abstempelte. Und als man
hoffte, den im Mai 1941 nach Grossbritannien geflohenen Rudolf Hess mit einer
gefälschten Nummer der Parteizeitung «Völkischer Beobachter» aus seiner Reserve zu
locken und zum Reden zu bringen, verfing das nicht. Hess reagierte nicht darauf.
Was bleibt als Bilanz der «Schwarzen Propaganda»? Obwohl genügend Beweise vorlagen,
dass Schwarzsender wie Gustav Siegfried 1 oder Calais in Deutschland ein Echo fanden,
wurde in England die Wirksamkeit der «Schwarzen Propaganda» von vielen bezweifelt.
Auch Sefton Delmer hat später rückblickend davor gewarnt, sie etwa als
kriegsentscheidend anzusehen. In seinen 1959 erschienenen Erinnerungen, denen er den
Titel «Black Boomerang» gab, machte sich Delmer zudem Gedanken über die
Zweischneidigkeit der von ihm so virtuos gehandhabten Propagandawaffe. Mit der zur
Leitlinie genommenen Fiktion, in der deutschen Wehrmacht habe schon 1941 eine
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entschlossene Widerstandsgruppe existiert, sei eine Legende geschaffen worden, welche
die deutschen Generäle nach 1945 weidlich ausgenützt hätten. Auch bereits während des
Krieges, im Herbst 1941, habe sich die «Schwarze Propaganda» als Bumerang ausgewirkt.
Der US-Militärattaché in Berlin nahm sie für bare Münze und berichtete nach Washington,
Hitlers scheinbar so monolithisches Regime zeige, wie die Existenz eines
Wehrmachtgeheimsenders auf deutschem Boden beweise, deutliche Risse. Die Briten, die
befürchteten, der amerikanische Isolationismus erhalte durch solche Informationen
Auftrieb, wurden im Weissen Haus vorstellig, um zumindest Präsident Roosevelt über die
sonst von strikter Geheimhaltung umgebene «Schwarze Propaganda» aufzuklären.
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