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I. Einleitung
„Nicht nur etwas Überflüssiges, sondern etwas Falsches" — „Prinzip der Unsitt-
lichkeit." Zu diesem Ergebnis kommt Hegel in seiner Beurteilung des Kantischen
Sittengesetzes1; ein Verdikt, welches den Versuch, das höchste Prinzip menschlicher
Handlungsregulation, das Prinzip des guten Handelns, unter Hinweis auf die „po-
puläre sittliche Weltsicht"2 zu rekonstruieren, im Innersten des eigenen Anspruchs
treffen muß. Den als Formalismuseinwand3 bekannt gewordenen und bis in die
jüngste Zeit4 vorgetragenen sachlichen Kern der Kritik darzustellen und auf seine
Berechtigung zu überprüfen, ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit.
„Formalismus" als Überbewertung des Formalen präsentiert sich dem alltags-
sprachlichen Vorverständnis im Hinblick auf die moralische Reflexion als „blut-
leere", nicht sinnlich vermittelte Abstraktion von der lebendigen Mannigfaltigkeit
in motivationaler und inhaltliche Leere und Beliebigkeit in kognitiver Hinsicht.
Beiden Aspekten ist gemein, daß der Gegenstandsbereich angesichts fehlender Kon-
kretion jedenfalls als nicht adäquat erfaßt gilt. Dementsprechend wurde dem nach-
kantischen deutschen Idealismus gerade „die unbefriedigend gebliebene Weise der
Vermittlung zwischen dem in der Gestalt des Sittengesetzes auftretenden Guten und
der diesem Anspruch folgenden endlichen Handlung" zum Problem5.
Daß jede Ethik als Wissenschaft vom moralischen Handeln formal ist, indem sie
nach einem qualitativen Moment als Kriterium fragt, welches eine Handlung zu
einer guten Handlung macht, ist hier allerdings unbeachtlich, da die Kritik am
kategorischen Imperativ auf dessen genuinen und insofern doppelten Formalismus
1
Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der
praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, S. 463
(zitiert nach der von E. Moldenhauer und K. M. Michel herausgegebenen Werkausgabe,
Bd. 2, Frankfurt a. M. 1970, S. 434ff.).
2
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, S. 406 (alle Kantzitate nach der Akade-
mieausgabe unter römischer Bandangabe, arabischer Seitenangabe).
3
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 135: „Leeren Formalismus" (zitiert nach
obengenannter Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, unter Angabe der Paragraphen).
4
Vgl. z. B. U. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Mo-
raltheorie, Hamburg 1990, S. 69 f.
5
W. Bartuschat, Artikel „Gut, das Gute, das Gut", in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch
der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 937 ff., Sp. 964.
abzielt. Worin dieser für Hegel (und zwar hier thematisiert nur in kognitiver
Hinsicht) besteht, wird eingangs zu erläutern sein, allerdings ohne dieses hier zu
den Hegeischen Alternativentwurf vollständig zurückbinden zu können. Anschlie-
ßend sollen kurz die Konsequenzen dieses Einwands im Falle seiner Berechtigung
dargelegt werden, um dann selbige zu prüfen. Dabei werden Ziel, Inhalt und Ergebnis
der Maximenprüfung aufzugreifen sein.
Die Analyse der Hegeischen Formalismuskritik hat zunächst auf einen gemein-
samen Bezugspunkt beider ethischer Konzeptionen zu verweisen. Auch für Hegel
liegt der Grund des Guten im Selbstbezug des Vernunftsubjekts und seiner Gesetz-
lichkeit, so daß „die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel
der Pflicht hervorzuheben" sei und es gar nicht darum gehe, den Kantischen
Standpunkt zu leugnen6. Auf dem so verstandenen moralischen Standpunkt der
Vernunftethik ist nach Hegel das Gute aber nur als abstrakte Idee gegeben7. An-
gesichts deren völliger Unbestimmtheit ist das Subjekt, ausgesetzt und in Gegensatz
befindlich zu deren „perennierendem Sollen"8, zurückgeworfen auf die bloße Inner-
lichkeit und Selbstgewißheit guter Gesinnung, der „ebensosehr die Möglichkeit das
an und für sich Allgemeine als die Willkür, die eigene Besonderheit über das
Allgemeine zum Prinzip zu machen" inhärent ist, um so „auf dem Sprunge zu sein,
ins Böse umzuschlagen"9. Der zur Unbedingtheit abstrahierten Idee des Guten
korreliert ein Subjektivierungsprozeß, der die Vernunftethik in resignative Überfor-
derung, ideologischen Fanatismus oder zynische bzw. dünkelhafte Instrumentalisie-
rung münden läßt.
Daher ist der Standpunkt der Subjektivität aufzuheben und in seiner Entwicklung
und Vereinseitigung zu überwinden in der Sphäre der Sittlichkeit als der „zur
vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der
Freiheit"10. Indem so das vormals nur abstrakt Gute eine Materialisierung in der
institutionellen Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens erfährt und das Subjekt
darin seine Selbstverwirklichung sucht und ermöglicht sieht, kann nach Hegel nur
auf diesem Boden eine immanente und konsequente Pflichtlehre als die „Entwicklung
6
Hegel, Grundlinien, § 135.
7
Ebd., S 131.
8
Ebd., § 135.
9
Ebd., § 139.
10
Ebd., § 142.
20
Ebd.
21
J. R. Silber, Verfahrensformalismus in Kants Ethik, in: Akten des 4. Internationalen Kant-
Kongresses, Teil III, hrsg. von G. Funke, Berlin, New York 1974, S. 149 ff., S. 177.
22
Hegel, Naturrecht, S. 464.
23
Hegel, Grundlinien, § 135.
24
Hegel, Naturrecht, S. 463.
25
Hegel, Grundlinien, § 135.
26
Hegel, Naturrecht, S. 465.
darzutun, „daß es reine praktische Vernunft gebe"27, wenn sie sich als zutreffend
erweisen sollte?
Der Aufweis des Sittengesetzes als „Faktum der Vernunft" führt über die Kritik
materialer Ethikbegründungen und die Zurückweisung empirisch bedingter Ver-
nunftanmaßung, „ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens abgeben
zu wollen"28. In dieser Heteronomiekritik liegt das „Paradoxon der Methode"29
begründet, die Begriffe des Guten und des Bösen, vor der Vergegenständlichung
bewahrend, allererst aus dem vorgängig gewonnenen Sittengesetz zu bestimmen.
Auf dem Wege der Selbstreflexion kommt die praktische Vernunft zu sich selbst als
Unbedingtem im Sittengesetz als, wie Kant andeutet, dem „Selbstbewußtsein einer
reinen praktischen Vernunft"30.
Soll aber die reine praktische Vernunft „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die
Tat"31 beweisen, Faktum sein, so muß die Applizierbarkeit des Gesetzes auf konkrete
Handlungsvollzüge nachgewiesen werden, das Faktum in kognitiver Hinsicht in der
Regelbesonderung, in motivationaler Hinsicht als sinnliche Antriebskraft eingelöst
werden32; und zwar jeweils unmittelbar33.
Gelingt es mithin nicht, durch die Besonderung des so bestimmt Guten das von
Hegel artikulierte Interesse zu wissen, was denn Recht und Pflicht sei (s. o.) zu
befriedigen, so muß der Versuch, eine Ethik auf dem Gedanken der Autonomie zu
begründen, fragwürdig werden. Jede Bemühung, einen solchen Mangel durch die
wie auch immer geartete Einbeziehung des sinnlich Gegebenen in das Kriterium der
Sittlichkeit zu beheben, muß aber Gefahr laufen, die Objektivität des Kriteriums
aus der Hand zu geben. Zumindest sieht sich Kant selbst vor diese Alternative
gestellt, wenn er konstatiert: „Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einen
praktisch, d. h. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten
könne, so gibt es praktische Gesetze, wo aber nicht, so werden alle praktischen
Grundsätze bloße Maximen sein"34.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch Hegel in bezug auf seine Sittlichkeits-
konzeption geltungslogisch von einer solch vollständigen Disjunktion auszugehen
scheint — ungeachtet aller Ansätze, antikes Ordnungsdenken mit dem neuzeitlichen
Subjektivitätsprinzip zu versöhnen und die Wirklichkeit individueller Freiheit in
27
Kr. d. p. V., V, S. 3.
28
Ebd., S. 16.
29
Ebd., S. 62.
30
Ebd., S. 29, vgl. auch S. 65: „... um das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des
Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines
reinen Willens a priori zu unterwerfen."
31
Ebd., S. 3.
32
Vgl. zur Einheit von rationalen und emotionalem Akt D. Henrich, Der Begriff der sittlichen
Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: G. Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung
seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, S. 223 ff., S. 239.
33
Vgl.-Xr. d. p. V., V, S. 62 und 71.
34
Ebd., S. 19.
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne"37 - die kritische Erörterung der Hegel-
schen Formalismusthese, die ihren Ausgang von der Grundformel des kategorischen
Imperativs nimmt, soll hier in drei Schritten vorgetragen werden. Im Mittelpunkt
muß dabei stehen, wie das Kriterium der Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz zu
verstehen ist. Indem Allgemeinheit Widerspruchslosigkeit meint, muß angegeben
werden, was sich im negativen Fall widerspricht, in welchem Sinn es dies tut38 und
ob so verstandene Widerspruchsfreiheit bzw. Widersprüchlichkeit ein eindeutiges,
zumindest nicht im Hegeischen Sinne bloß formales (und damit gar kein) Kriterium
abgibt.
Da der kategorische Imperativ zu einem Verfahren der Maximenprüfung ver-
pflichtet, soll jedoch zunächst ermittelt werden, was genau Gegenstand des Prüf-
verfahrens ist. Mithin gilt es, den keineswegs eindeutigen Begriff der Maxime und
im Anschluß daran Sinn und Zweck des Prüfverfahrens zu klären. Damit soll ein
kritisches Verständnis der Kantischen Redeweise von Form und Materie gewonnen
werden, auf dessen Grundlage allererst ein Widerspruchsbegriff in praktischer Hin-
sicht entfaltet werden kann.
ist ihre Subjektivität40. Letzteres soll zunächst zurückgestellt werden, um vorher die
Bestimmung der Maxime als Grundsatz zu diskutieren.
Als Grundsatz ist die Maxime zum einen abzugrenzen von bloßen Regeln, Hand-
lungen und Handlungsabsichten. Die Maxime ist keine Handlung oder Handlungs-
beschreibung, sondern eine Handlungsregel. Deren Allgemeinheit drückt sich nicht
in der Anzahl der unter sie fallenden Situationen oder ihrer Geltungsdauer aus,
sondern in ihrer Funktion, das Wollen zu „vereinheitlichen" und „primäre, funda-
mentale Willensbestimmung" zu sein41, sie ist „Lebensregel"42. Eine Maxime sagt
somit, „was für ein Mensch man sein will"43. Zum anderen ist die Maxime dennoch
Willensbestimmung zum Handeln, was wiederum ihre Allgemeinheit in mehrfacher
Hinsicht begrenzen muß44.
Eine Maxime formuliert bereichsspezifische Letztzielorientierungen, so daß „die
Letztzielorientierung des Willens in Maximen mit Situationsfeldern oder Lebens-
bereichen vermittelt wird"45. Mit „Bereich" sind Gegenstandsbereiche bezeichnet,
die als Aufgegebenes unentrinnbar sind und als anthropologisch oder sozial gegebene
Lebensfelder zur Stellungnahme zwingen46. Das Letztziel ließe sich dabei bestimmen
als (bereichsspezifisch) „vorletzte" Antwort auf die Frage nach dem Handlungs-
grund: sobald insistiert wird, könnte nur noch mit „gut für mich" oder „gut an
sich" geantwortet werden. Daraus erhellt sich zugleich, daß Glückseligkeit oder
Sittlichkeit in diesem Sinne keine Letztziele formulieren, indem auf dieser Stufe der
Allgemeinheit die Funktion der Maxime, handlungsbestimmend zu sein, verloren-
geht47.
Bei der so gewonnenen Begriffsbestimmung stehen zu bleiben hieße aber, ein
zentrales Problem auszuklammern. Nach dem bisher Ausgeführten könnte auf die
Frage: „Wie halst Du es mit Geld?" die bereichsspezifische und letztzielorientierte
Antwort gegeben werden: „Ich will Reichtum", sofern dieses tatsächlich das Letztziel
im obigen Sinne ist. Eine solche Maxime entzieht sich von vornherein einer Verall-
gemeinerbarkeitsprüfung, sie ist nur Grundhaltung48 und besagt als eine solche
nichts. Dementsprechend erweisen sich auch die von Kant gegebenen Beispiele als
im höchsten Maße uneinheitlich: sie reichen von der Unterschlagung eines Deposi-
tums bis zur Maxime eigener Glückseligkeit(!).
40
Vgl. Kr. d. p. V., V, S. 19, s. auch Grundlegung, IV, S. 400 Anm. und 420 Anm. 2
41
Hoffe, Kriterium, S. 357 und 359.
42
Bittner, Maximen, S. 489.
43
Hoffe, Kriterium, S. 359.
44
So treffend Bittner, Maximen, S. 490.
45
Nisters, Leitfaden, S. 148.
46
Dieses kommt, wie Nisters, Leitfaden S. 92 deutlich macht, darin zum Ausdruck, daß es
unmöglich ist, der „Fragestellung" einer Maxime eine Antwort schuldig zu bleiben, indem
auch keine Antwort eine Antwort ist.
47
S. Bittner, Maximen, S. 490 und Hoffe, Kriterium, S. 360. So gilt Kr. d. p. V., V, S. 25,
Glückseligkeit nur als der „allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und be-
stimmt nichts Spezifisches".
48
Auf dieses Problem macht Nisters, Leitfaden, S. 235, aufmerksam.
Einen Ausweg könnte hier die von Kant getroffene Unterscheidung von vollkom-
menen und unvollkommenen Pflichten — oder besser noch die Unterscheidung eines
negativen und eines positiven Aspekts der durchgeführten Selbstreflexion — weisen.
Dieses hieße allerdings, vom Ergebnis her zu argumentieren. Da aber dieses Dilemma
einiger Beispiele Kants auf die Notwendigkeit eines schlüssigen Ableitungszusam-
menhangs verweist, soll dieser Weg hier eingeschlagen werden, zumal es sich eben
„nur" um Beispiele handelt. Seine Berechtigung muß sich dann allerdings wiederum
anhand der Beispiele dartun lassen.
b. Warum widerspruchsfrei? — Form und Materie
„Maxime ist nur, was einer sich zu seiner macht" (Bittner)49. Das Spezifikum der
Maximen ist ihre Subjektivität. In positiver Hinsicht heißt das, die Maxime bzw.
ihre Annahme ist vernunftimprägniert, ist nicht reine Durchsetzung eines triebhaften
Impulses, sondern vielmehr Ergebnis einer „natürlichen Autonomie"50. In negativer
Hinsicht bleibt die Maxime in einem nun näher zu erläuternden Sinn bloß subjek-
tiv51, indem die Vernunft zum „Behuf der Neigung"52 tätig ist, woraus sich die
spezifische Differenz allererst ergibt.
Was ist damit gemeint? Vom Gegenteil her argumentiert fordert der kategorische
Imperativ, von aller Materie einer Maxime abzusehen: „Also ist die gesetzgebende
Form, sofern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungs-
grund des Willens ausmachen kann"53. Berechtigterweise ist darauf hingewiesen
worden, daß jede Maxime nach Abstraktion von allem Inhalt ihre Allgemeinheit
zurückläßt, da sie Lebensregel ist54. Zudem scheint nun völlig unklar, was denn
nach Absonderung aller Materie überhaupt noch gewollt wird bzw. gewollt werden
soll, Ansatzpunkt der Formalismuskritik.
Diese Frage fordert nun eine nähere Verständigung über die Begriffe Form und
Materie und damit über den Sinn der vom kategorischen Imperativ geforderten
Abstraktionsleistung. Als Materie oder Gegenstand der Maxime gelten Kant die
jeweils erstrebten Zwecke oder, wie nach dem oben Ausgeführten gesagt werden
darf, die Vorstellung bereichsspezifisch letztzielorientierter Handlungen und durch
Handlungen hervorgebrachter Sachverhalte, sofern diese ursächlich ist für die Her-
vorbringung eben dieser Gegenständlichkeit55. Offensichtlich ist jedem Handeln,
auch dem sittlich guten, eine solche Gegenständlichkeit eigen, indem immer irgend-
etwas gewollt wird. Und so kann Kant ohne weiteres — wie Beck meint, von vielen
49
Bittner, Maximen, S. 486.
50
Ebd., S. 494.
51
Vgl. Kr. d. p. V., V, S. 27: „seine subjektiv-praktischen Prinzipien" (Hervorhebung durch
Kant).
52
Grundlegung, IV, S. 413 Anm.
53
Kr. d. p. V., V, S. 29.
54
Vgl. H. J. Paton: Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilo-
sophie, Berlin 1962, S. 74.
55
Vgl. zum Zweck als Materie Grundlegung, IV, S. 436, sowie zum Zweckbegriff, Metaphysik
der Sitten, VI, S. 381.
seiner Kritiker unbemerkt56 — behaupten: „Nun ist freilich unleugbar, daß alles
Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; ,.."57. Daraus
folgt zugleich, daß in der Materie zumindest unmittelbar das Spezifische der Maxime
nicht gefunden werden kann.
Diese Unterscheidung zielt vielmehr ab auf den Grund, in Kantischer Termino-
logie: die Bedingung, sich diese oder jene Materie zu eigen zu machen, mithin auf
den Bestimmungsgrund des Willens bzw. der Willkür. Das Subjekt vermag sich auf
zweierlei Weise ins Verhältnis zu setzen zu einer möglichen oder wirklichen Materie
des Willens (Form). Zum einen kann dieses (und ist vorfindlich zunächst meist
dieses) Verhältnis in dem „pathologischen Interesse am Gegenstand der Handlung"58
begründet sein. Dann ist der Gegenstand bzw. die „Erwartung der Existenz des
Gegenstandes"59 unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens. Inbegriff solcher Ge-
genstandsbestimmtheit ist das Streben nach Glückseligkeit, nach der „Annehmlich-
keit des Lebens, die unmittelbar sein [des endlichen Vernunftwesens] Leben beglei-
tet"60. Ein solches Verhältnis bleibt, wie Kant in seiner Kritik der empirischen
Vernunft ausführt, empirischen und damit kontingenten Lust- und Unlustempfin-
dungen sowie Erfolgsabschätzungen unterworfen. Indem eine Materie Bestimmungs-
grund des Willens ist, ist sie je meine Materie und angesichts der Zufälligkeit nur
Materie „auf Grund meines Entschlusses für mein Leben nur zu gelten" wie Bittner
einprägsam formuliert61. Damit ist das Besondere der Maxime aufgefunden: es ist
diese Form.
Demgegenüber fordert der kategorische Imperativ dazu auf, die (empirisch-kon-
tingente) Subjektivität zu überschreiten. Nach dem oben Gesagten kann dieses nur
bedeuten, ein notwendiges Verhältnis zur Materie einzunehmen. Ein solches ist nur
möglich, wenn nicht die Materie Bestimmungsgrund ist, selbige anzunehmen, son-
dern die Möglichkeit, die Maxime ihrer Materie nach als Allgemeines zu begreifen
und darum zu wollen. Dieses erfordert wiederum, daß die Materie des Wollens auch
unabhängig vom empirisch-subjektiven und das heißt unmittelbar gegenstandsbe-
stimmten Wollen, also allgemein, von allen, als allgemeines Gesetz gewollt werden
kann. Zu abstrahieren ist somit von der Materie als Bestimmungsgrund und in der
Prüfung auf Tauglichkeit zur allgemeinen Gesetzgebung wird ermittelt, ob dieses
bezüglich der jeweiligen Materie überhaupt möglich ist62. „Also kann zwar die
56
L.W. Beck: Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar, München 1985,
S. 117 f.
57
Kr.d.p.V., V, S. 34.
58
Grundlegung, IV, S. 413 Anm.
59
Kr. d. p. V., V, S. 34.
60
Ebd., S. 22.
61
Bittner, Maximen, S. 495 (Hervorhebung im Original).
62
Diese ergibt sich bereits aus Lehrsatz III (Kr. d. p. V., V, S. 27), wo die Absonderung jeglicher
Gegenständlichkeit als Bestimmungsgrund gefordert wird. Problematisch bleibt bei dieser
Interpretation allerdings, wie sittliche Maximen in die Systematik praktischer Grundsätze
einzuordnen sind. Zwar ist der Definition nach § \ Kr. d. p. V. genüge getan, indem es nur
Maximen und objektive Grundsätze gibt. Streng genommen ist dann aber sittliches Handeln
Materie der Maxime bleiben; sie muß aber nicht die Bedingung derselben sein, denn
sonst würde diese nicht zum Gesetz taugen. Also die bloße Form eines Gesetzes,
welche die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum
Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen"63.
Bevor das Prüfungsverfahren im einzelnen diskutiert wird, um festzustellen, was
denn „zur allgemeinen Gesetzgebung tauglich" meint, sollen zunächst einige Schluß-
folgerungen für die Hegeische Kritik aus den bisherigen Ausführungen gezogen
werden.
c. Erste Ergebnisse
(l) Das Almosenbeispiel. — Oben wurde bereits das Almosenbeispiel als Teil des
Hegeischen Hilfsarguments referiert. Zur Erinnerung: Hegel geht aus von der
Maxime „Armen will ich helfen". Ein solcher Grundsatz muß der Verallgemeinerung
zum Opfer fallen, da es entweder keine Arme und damit keine Hilfsmöglichkeit
mehr gibt oder aber nur noch Arme mit dem selben Ergebnis. Bestand hätte diese
Regel nur, wenn Armut und somit auch die Möglichkeit zu helfen bleiben sollen,
was wiederum keine ernsthafte Willensbestimmung wäre (s. o.).
Hegel hat m. E. recht, trifft jedoch nicht Kant. Der benannten Handlungsregel
fehlt nämlich die oben als unverzichtbar erwiesene Letztzielorientierung. Eine solche
ist der bloßen Regel nicht unmittelbar zu entnehmen: sie könnte durch die reine
Freude am Helfen motiviert sein oder aber durch das Ziel, fremde Armut zu
überwinden. Das Hegeische Beispiel zielt darauf ab zu zeigen, daß auch allgemein
als sittlich gut erachtete Grundsätze einer Prüfung ihrer Verallgemeinerbarkeit nicht
standhalten. Der Grundsatz, der Hegel dabei vorschwebt, enthält aber bereits die
Willensbestimmung, keine Armut zu wollen. Dies Ausrichtung vernichtet sich aber
keineswegs in der von Hegel dargelegten Weise selbst. Ob sie allerdings nach dem
kategorischen Imperativ als gut ausgezeichnet werden kann, muß an dieser Stelle
angesichts des zweiten Hauptarguments noch unbeantwortet bleiben. Zumindest
verdient festgehalten zu werden, daß Hegel hier das Wesen der Maxime als Grund-
satz verfehlt64.
nach Maximen unmöglich bzw. nur möglich unter der Ergänzung „Maximen ihrer Materie
nach". Dieses würde der Formulierung des kategorischen Imperativs widersprechen. Es
bietet sich an, sittliche Maximen als Grundsätze zu bezeichnen, die zwar allgemein gewollt
werden können, aber nicht aufgrund dieser Eigenschaft gewollt werden. Beck, Kommentar,
S. 85 f., wirft demgegenüber Kant einen logischen Fehler in seiner Ausgangsdefinition vor
und unterscheidet nicht subjektive und objektive Grundsätze, sondern reine Maximen,
Gesetze und Gesetze, die zugleich Maximen sind. Der hier vorgeschlagenen Interpretation
widerspricht zudem Kants Äußerung, eine Materie · müsse nicht Bestimmungsgrund der
Maxime sein (Kr. d. p. V., V, S. 34). Andererseits weisen die darauf folgenden Ausführungen
in die hier eingeschlagene Richtung. Vgl. zum Ganzen auch Nisters, Leitfaden, S. 157 ff.,
der eine Kreuzklassifikation von vier (!) Grundsatzarten vorschlägt.
63
Kr. d. p. V., V, S. 34.
64
Zu Hegels Interpretation des Almosenbeispiels vgl. J. Ebbinghaus, Die Formeln des kate-
gorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Gesammelte
Aufsätze, Hildesheim 1968, S. 155 f.
(2) Der „Stoff von außen". - In einem anderen Punkt ist Hegel jedoch recht zu
geben: in der Tat setzt die Prüfung von Maximen bestimmte zu prüfende Maximen
voraus65, da der kategorische Imperativ dem Willen keinen Gegenstand gibt, sondern
dessen Prüfung fordert. Wird damit ein „Stoff von außen" hereingenommen? —
Äußerlich ist dem Subjekt die zu prüfende Maxime prima facie insofern nicht, als
sich Maximen als frei gewählte Grundsätze erwiesen haben und somit zwar aus den
Ansprüchen der Neigung resultieren mögen, aber dennoch einen besonderen Akt
der Zustimmung (oder Ablehnung) zu diesen Neigungen implizieren. Ihre Zufällig-
keit findet ihre Grenze in der oben dargelegten Bereichsspezifizierung.
Der moralischen Reflexion, die sich wiederum auf die „natürliche Autonomie"
(s. o.) bezieht, begegnen die Maximen jedoch als bloß Vorfindliches, zunächst
Zufälliges und Äußerliches. Daher sind auch keine Maximen von der Prüfung und
damit von der potentiellen Verwerfung ausgeschlossen, was allerdings zum Problem
wird, wenn Hegels zweites Argument zutreffen sollte. Aber daß die Vernunft auf
sinnliche Materie angewiesen ist (und mit ihr jedes Wollen, jedes Handeln), sie
unmittelbar materialiter nichts gebiert, ist damit zugestanden: schließlich appelliert
der kategorische Imperativ an das endliche, nicht nur vernünftige Vernunftwesen.
Dieses zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es sinnlich und vernünftig ist, so daß
die Forderung, sich jeder sinnlichen Materie zu entledigen sinnlos und von Kant nie
vertreten worden ist. Vielmehr stellt er unmißverständlich klar: „Aber diese Unter-
scheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort
Entgegensetzung beider, und die reine Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche
auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf
gar nicht Rücksicht nehmen"66.
Weil dies so ist, beharrt Kant darauf, daß der kategorische Imperativ ein synthe-
tischer Satz a priori ist, indem er „das Wollen einer Handlung nicht aus einem
anderen, schon vorausgegebenen analytisch ableitet (denn wir haben keinen so
vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriff des Wollens als eines vernünftigen
Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft"67 (Hervor-
hebung durch den Verfasser). Indem Hegel aber die Brücke zur Sinnlichkeit bei Kant
vollständig abgebrochen sieht, liegt es nahe — soviel kann hier schon gesagt werden
— Formallgemeinheit als rein formallogische Widerspruchsfreiheit aufzufassen.
Der kategorische Imperativ wird aufgefunden durch die Abstraktion von aller
Materie, um ihn dann aber auf eben diese anzuwenden. Jene wird dadurch im Falle
der Bestätigung nicht allgemein, sondern als eine solche begriffen und gewollt, die
allgemein gewollt werden kann, verallgemeinerungsfähig ist68.
65
Zu Hegels Trugschluß von der Inhaltsbedürftigkeit auf notwendig vorauszusetzende be-
stimmte Pflichten vgl. M. Baum, Hegels Kritik an Kants Moralprinzip, in: H. Kimmerle
u. a. (Hg.), Hegeljahrbuch 1987, S. 235 ff., insbesondere S. 241.
66
Kr. d. p. V., V, S. 93.
67
Grundlegung, IV, S. 420 Anm. I.
68
Zu Hegels Mißverständnis von logischer Widerspruchsfreiheit auszugehen und auf der nicht
einlösbaren Allgemeinheit von Besonderem zu insistieren, s. Silber, Verfahrensformalismus,
S. 177 ff.
69
J. Derbolav, Abriß europäischer Ethik. Die Frage nach dem Guten und ihr Gestaltwandel,
Würzburg 1983, S. 60.
70
Hoffe, Kriterium, S. 373.
71
Nisters, Leitfaden, S. 17, verwendet diesen Ausdruck nicht ganz entsprechend. Weil aber
„Natur" die Verfaßheit des Vernunftwesens als Vernunftwesen meint — und apriorisch gar
nichts anderes meinen kann — , trifft er auf die hier vorgeschlagene Interpretation zu.
72
Vgl. Metaphysik der Sitten, VI, S. 217.
73
Nisters, Leitfaden, S. 20.
74
S. ausführlich^., S. 21 ff.
75
Ebd., S. 28.
76
Zum falschen Versprechen: Grundlegung, IV, S. 422 („... indem niemand glauben würde,
daß ihm was versprochen sei"), zum Depositum: Kr.d.p.V., V, S. 27 („..., weil es [als
allgemeines Gesetz] machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe").
in der Tat die Fixierung für gut befundener Institutionen vorausgehen. Zudem
ermöglicht sie keine Begründung von Pflichten gegen sich selbst77.
Die vorgestellten Prüfungsverfahren genügen folglich nicht den oben aufgelisteten
Ansprüchen. Dieses resultiert, wie zu zeigen sein wird, aus einer empirisch orien-
tierten Widerspruchsprüfung, der das Subjekt als Vernunftsubjekt nebst anderen
Vernunftsubjekten noch weitgehend äußerlich bleibt.
77
Vgl. Nisters, Leitfaden, S. 67 f.
78
Kant: Kr. d. p. V., V, S. 20.
79
Ebd., S. 35.
80
So gegenüber Hegel auch Silber, Verfahrensformalismus, S. 381.
81
Zum Begriff der Person vgl. Kr. d. p. V., V., S. 87.
82
J. Schmucker, Der Pormalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants,
in: J. B. Lotz (Hg.): Kant, und die Scholastik heute, Pullach 1955, S. 155 ff., S. 176 ff.
dabei herausstellen, daß, wie Paton zutreffend bemerkt, der Ausdruck „wollen
können" offenbar „der wichtigste Schlüssel zum Verständnis von Kants Lehre ist"83.
(1) „Zweck an sich selbst" und das „Reich der Zwecke". — Oben war bereits
von Gegenständlichkeit und zwar im empirischen Sinne die Rede. Dieses ist nun zu
erweitern um eine quasi apriorische Gegenständlichkeit: „Gesetzt aber es gäbe etwas,
dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst
ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein,
der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes
liegen"84. Der kategorische Imperativ verweist auf ein moralisch reflektierendes
Wesen. Dieses ist eine, wie bereits oben angedeutet, unhintergehbare Voraussetzung,
die zu bestreiten bereits bedeutet, sich auf sie einzulassen. Die praktische Anerken-
nung dieser Voraussetzung heißt positiv, dem Vernunftsubjekt bzw. der Freiheit des
endlichen Vernunftwesens einen absoluten Wert einzuräumen, negativ aber, dieses
zumindest nicht vollständig relativen Zwecken als Mittel unterzuordnen. Und so
kann Kant folgern, daß jedes vernünftige Wesen als „Zweck an sich selbst" anzu-
erkennen ist: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in
der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst"85.
Damit bin ich als vernünftiges Subjekt objektiver Zweck, indem sich menschliches
Dasein und Handeln notwendig selbstzweckhaft versteht86. Daher darf jede Person
nur nach solchen Grundsätzen behandelt werden, die jedes Subjekt wollen kann.
Anders gewendet: „es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem
Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte,
möglich ist"87. Letzteres macht deutlich, daß es sich nur um eine „Formel ebendes-
selben Gesetzes"88 handelt.
Fordert die genannte Formel zunächst die Anerkennung eines immer schon im-
plizierten Selbstverständnisses, so bedarf die im letzten Zitat angedeutete Integration
der anderen Subjekte noch einer weiteren Explikation. Die Verbindung aller auto-
nomen Personen wird von Kant im Ideal eines Reichs der Zwecke89 entwickelt. In
ihm wird eine Welt entworfen, in der Vernunftsubjekte unter gemeinsamen, selbst
auferlegten und dennoch objektiv-nötigenden Gesetzen vereint sind. In dem so
83
Paton, Der kategorische Imperativ, S. 164.
84
Grundlegung, IV, S. 428.
85
Ebd., S. 428 f., gegen diesen Terminus wird häufig eingewandt, es sei unmöglich, sich
existente Dinge zum Zweck zu machen. Vielmehr sei der Zweckbegriff nur auf Sachverhalte
zu beziehen. Das Problem ist zu lösen, indem auf das Wollen bzw. das Wollen-können
Bezug genommen wird.
86
Vgl. ebd.
87
Kr.d.p.V., V, S. 87.
88
Grundlegung, IV, S. 436. Entgegen Silber, Verfahrensformalismus, S. 157, enthält diese
Formel nach hier vertretener Auffassung mehr als eine reine Verfahrensvorschrift für die
Urteilskraft, wenn auch zuzugeben ist, daß Kants Äußerungen an dieser Stelle für eine
solche Deutung sprechen.
89
Vgl. Grundlegung, IV, S. 433 ff.
90
Ebd., S. 436.
91
Vgl. ebd., S. 433, „... ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke
an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jeder sich setzen mag) ...".
92
Kr. d. p. V., V. S. 69, vgl. dazu R.W. Hall, Kant and Ethical Formalism, in: Kant-Studien
62, S. 433 ff., S. 439.
93
So auch Beck, Kommentar, S. 156 f.
94
Ebd., S. 155.
95
Kr. d.U., V, S. 180 f.
Naturgesetz betrachten heißt, ihrer Funktion als Grundsatz des Handelns, welches
wesentlich zweckmäßig ist, Rechnung zu tragen. Konsequent führt dieser Natur-
begriff zur Idee eines Endzweckes, welcher von der Art sein muß, „daß es in der
Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung als seiner Idee abhängig
ist". Diese unbedingte Zweckhaftigkeit kann in der Welt nur dem Menschen als
moralischem Wesen beigelegt werden, womit sich der Kreis zur Selbstzweckformel
schließt. „Von dem Menschen nun ... als einem moralischen Wesen kann nicht
weiter gefragt werden: wozu ... er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck
selbst in sich, ,.."96.
Für den Begriff des „Wollen-Könnens", der Allgemeinheit bzw. der praktischen
Widerspruchsfreiheit müssen daher die je eigene Personenhaftigkeit sowie die an-
derer den unter (1) vorgestellten Formeln gemäß in den gedachten Naturzusam-
menhang integrierbar sein. Dieses ist für die (ganze97) Einbeziehung der eigenen
Person in den Wendungen „durch die du zugleich wollen kannst" in der Grundformel
der Grundlegungsschrift und „von der du selbst ein Teil wärest" der Typik enthal-
ten98. Ist also mit meiner Maxime als Naturgesetz die vorgestellte Natur als eine
real widerspruchsfreie und kontinuierliche Koordination von (autonomen) Personen
in dem Sinne beschreibbar, daß in ihr die systematisch-harmonische Verbindung der
(absoluten und damit vermittelt auch der empirischen) Zwecke möglich ist? Dieses
zu beurteilen erfordert dann allerdings empirisches „Folgewissen": Mit der Natur-
gesetzformel ist der Zugang der Erscheinungswelt eröffnet, zu mir und anderen als
Erscheinung!
Die hier vorgeschlagene Interpretation hat damit dem formalen Sittengesetz eine,
wie Derbolav formuliert, „implizite Inhaltlichkeit" unterlegt: „Denn nur zu dieser
Inhaltlichkeit können unmoralische Maximen letztlich in Widerspruch geraten"99.
Anders gesagt: der Wille widerspricht sich selbst. Zudem ist es kein Verstoß gegen
eine Ethikbegründung aus reiner Vernunft, eine solche Inhaltlichkeit anzunehmen,
indem es sich gleichsam um eine „apriorische Materie"100 handelt. Damit ist den
oben vorgegebenen Interpretationsgesichtspunkten (1), (4) und ansatzweise (3) ge-
nüge getan. Die Postulate (2) und (3) sollen nun, nachdem Gegenstand, Ziel und
Kriterium der Prüfung dargestellt sind, anhand der Ergebnisse der Prüfung eingelöst
werden.
(3) Positiv —negative Deontologie: die Beispiele, — Wenn die bisherige Inter-
pretation zutrifft, muß die in der Grundlegungsschrift von Kant angegebene Unter-
scheidung des Allgemeinheitskriteriums in „denken können" und „wollen können"
96
Ebd., S. 435.
97
Beck, Kommentar, S. 156, formuliert prägnant: „... falls es [ein vernünftiges Wesen] die
Implikationen seines Begehrens an ihr Ende verfolgte".
98
Grundlegung, IV, S. 421 (meine Hervorhebung) und Kr. d. p. V., V, S. 69.
99
Derbolav, Abriß europäischer Ethik, S. 60, beschreibt sie als „Humanismusgedanke der
Menschheitsformel und des ideologischen Naturbegriffs der Naturgesetzformel".
100
G. Anderson, Die „Materie" in Kants Tugendlehre und der Formalismus der kritischen
Ethik, in: Kant-Studien 26, S. 289 ff., S. 310.
weitgehend aufgehoben bzw. modifiziert werden, wird doch auch in der Kritik der
praktischen Vernunft auf das Wollen-dürfen, die moralische Möglichkeit abge-
stellt101. Es scheint der Kantischen Intention eher zu entsprechen, im Rahmen des
oben dargelegten („materialen") Sittlichkeitsgebots von einem negativen und einem
positiven Moment zu sprechen102, ohne deshalb beide hier scharf voneinander
abgrenzen zu dürfen und zu können.
Grundsätzlich gilt: eine Maxime, die dem Prüfungsverfahren nicht standhält, ist
verboten, eine solche, die standhält, ist erlaubt aber nicht geboten, wenn nicht aus
dem Verbot des Gegenteils unmittelbar deren Verbindlichkeit folgt103. Das Verbots-
kriterium kann nun enger oder weiter gefaßt werden104. Unmittelbar verboten sind
solche Maximen, die eine systematische Harmonie der Zwecke und direkt die
Autonomie der Person mißachten: das falsche Versprechen aus Not degradiert den
Adressaten zum bloßen Mittel und, so weitergehend Ebbinghaus, zerstört als all-
gemeines Gesetz gedacht das Versprechen als Mittel für Menschen, „miteinander in
Bezug auf das, was ihnen von Nutzen sein kann, zu verkehren"105, mithin ihre
Zwecke zu koordinieren. Die Maxime, das eigene Leben aus Überdruß zu beenden106,
bedeutete, sich selbst zum bloßen Objekt der eigenen Neigungen zu machen. Hegel
ist zuzugeben, daß eine Welt ohne Menschen — und auch ohne mich selbst —
keinerlei logische Schwierigkeiten bereitet107. Das ist aber eine Feststellung aus
theoretischer Distanz, um die es Kant, wie oben gezeigt, gerade nicht geht. Die
Behauptung Kants, der Selbstmord aus Unlust sei als allgemeines Gesetz wider-
sprüchlich, indem Unlustempfindungen von der Natur dazu bestimmt seien, „zur
Beförderung des Lebens anzutreiben"108, läßt sich aus der genuin praktischen Inten-
tion Kants so rekonstruieren: ein durchreflektiertes (und das heißt: Abstrahieren
von der unmittelbaren Unlust) Wollen kann als Wollen nicht wollen, nicht zu wollen.
Genau das würde behauptet, hielte man den Selbstmord aus Unlust für moralisch
möglich.
Die weitere Fassung des Kriteriums verweist auf einen positiven Aspekt, der über
die verbotsmäßige Respektierung eigener und fremder Autonomie hinausgeht. Dafür
ist zweierlei zu erinnern: das Reich der Zwecke integriert auch private, empirische
Zwecke (deren Inbegriff: Glückseligkeit), sofern sie nach der engeren Fassung erlaubt
sind. Und: Der Wille enthält im Gegensatz zum Wunsch die „Aufbietung aller Mittel,
soweit sie in unserer Gewalt sind"109. Diese Fassung des Kriteriums verbietet nun
Maximen, die zur systematischen Harmonie der Zwecke nichts beitragen, oder
101
Kr.d.p.V., V, S. 58.
102
Vgl. Schmucker, Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien, S. 194 f.
103
S. Grundlegung, IV, S. 439.
104
Diese Unterscheidung folgt Paton, Der kategorische Imperativ, S. 179.
105
Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs, S. 145.
106
Vgl. Grundlegung, IV, S. 421.
107
Vgl. Hegel, Grundlinien, § 135.
108
Grundlegung, IV, S. 422.
109
Ebd., S. 394.
positiv gewendet: sie gebietet die Förderung einer solchen Harmonie. Gegen sich
selbst ist die Entwicklung der Talente und Fähigkeiten Pflicht, indem sie allererst
die Handlungsspielräume eröffnet, sich Zwecke zu setzen und zu realisieren. Kant
spricht von der Beförderung der Menschheit als Zweck an sich selbst110, indem „sie
[die Vermögen] doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind"111.
Die Maxime der Hartherzigkeit als allgemeines Gesetz zu wollen, hieße das eigene
Wollen dem vernunftwidrigen Zufall zu überantworten, „indem der Fälle sich doch
manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf"112. Positiv
ist so die Beförderung fremder Glückseligkeit geboten, mithin sich andere Vernunft-
wesen nicht nur nicht bloß zum Mittel und auch zum Zweck an sich, sondern direkt
zum Zweck zu machen. Nur aus der „impliziten Inhaltlichkeit" (s. o.) des katego-
rischen Imperativs kann diese Forderung, fremde Glückseligkeit zu befördern, ver-
ständlich gemacht werden. Nur aus dem Gedanken einer Koordination autonomer
Wesen in ihrer Materialität und der damit verbundenen wechselseitigen Beschrän-
kung und Beförderung heraus kann einsichtig gemacht werden, daß es bei Kant
heißt: „Die Materie sei z. B. meine eigene Glückseligkeit. Diese, wenn ich sie jedem
beilege kann nur alsdenn ein objektives praktisches Gesetz werden, wenn ich anderer
ihre in dieselbe mit einschließe"113.
Es wird darüber hinaus deutlich, daß die Beispiele Kants, in denen der negative
Aspekt des Sittlichkeitskriteriums zum Ausdruck kommt, von diesem Ergebnis her
und damit bezüglich ihres Maximencharakters fragwürdig gewählt sind. Sie ent-
halten nämlich konkrete Handlungsvollzüge, die erst aus dem Gesamtzusammen-
hang als verboten ableitbar sind.
IV. Schluß
110
Ebd., S. 430.
111
Ebd., S. 423.
112
Ebd.
113
Kr. d. p. V., V, S. 34.
114
Vgl. Kr. d. U., V, S. 294.
115
Kr.d.p.V., V, S. 33.
116
So kennzeichnet J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel,
Frankfurt a. M. 1977 (Taschenbuchausgabe), S. 308, den in Hegels Sittlichkeitskonzeption
eingeräumten Zufluchtsort der moralischen Reflexion angesichts nicht entwickelter sittli-
cher Lebensverhältnisse. S. dazu Hegel, Grundlinien, § 150.
117
Vgl. Hegel, Grundlinien, § 140.