Wolfgang Widulle
Springer VS
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Für meine Eltern
Vorwort
„Finden oder suchen?“, so lautet der Titel eines Buches von Günter L. Huber und
Jürgen H. W. Roth (Huber & Roth 1999), der sich auf das Lehren und Lernen in
Zeiten der Ungewissheit bezieht. Solche Zeiten stehen Studierenden der Sozialen
Arbeit bevor, wenn sie sich auf den Weg machen, professionelles kommunikati-
ves Handeln für ihren Beruf zu lernen. Die direkte Klientenarbeit in sozialen
Berufen ist komplex, anspruchsvoll und voller unerwarteter Dynamiken, beson-
ders mit Menschen in Krisen und Problemsituationen. Die Heterogenität der
Arbeitsfelder, Adressaten und Aufgaben macht erfolgreiche Kommunikation
nicht einfacher: Was im einen Praxisfeld hilfreich wirkt, ist in einem anderen
kontraindiziert, und was mit diesem Klienten Kontakt schafft, führt mit einem
anderen in den Konflikt. Alltägliche kommunikative Muster sind dabei genau so
oft hilfreich wie hinderlich. Wenn aber alles fließt, wird das Navigieren schnell
zur Herausforderung. Für Novizen ist Kommunikation in der klientenbezogenen
Arbeit jedenfalls nur scheinbar vertrautes Gewässer. In Wirklichkeit ist sie ein
Fluss mit vielen Untiefen und überraschenden Stromschnellen.
Tröstlich ist daher, dass das Gegenteil ebenfalls gilt: Auch im Fluss der
Kommunikation kommen Wiederholungen vor. „Zwar steigt man nie zweimal in
den gleichen Fluss – indessen: Die Badeszenen gleichen sich“ (Aebli 1994,
S. 83). Um ruhigere Flussabschnitte und bekannte Badeszenen ist jeder Berufs-
anfänger froh, der das erste Gespräch mit seinen Klientinnen und Klienten
gesucht (und gefunden) hat.
Beim Training kommunikativer Kompetenzen geht es um beides, um Finden
und um Suchen. Die Suche nach Bekanntem und Vertrautem ist Bedingung für
jede Orientierung, um nicht im Fluss des Geschehens unterzugehen. Das „Fin-
den“, die Offenheit im Ungewissen und für Unerwartetes, ist die Voraussetzung
jeder Begegnung. Beide Haltungen zusammen machen deutlich, was Fritz B.
Simon meint, wenn er für die Gesprächsführung in der systemischen Therapie
vom „Navigieren beim Driften“ (Simon & Weber 2009) spricht.
Ein drittes Verständnis von Suchen und Finden: In der helfenden Gesprächs-
führung suchen die Anfänger manchmal das Gespräch, finden es aber nicht: Sie
kreisen an der Oberfläche oder weichen der Begegnung aus. Sie lassen sich
verstricken oder verlieren ihre Rolle, das Thema oder Ziel aus den Augen. „Das
Gespräch suchen und finden“, die Wendung verweist auf die Absicht, sich
ernsthaft um Verständigung zu bemühen. Eine Studierende, überrascht vom
unerwartet positiven Verhalten der Klientin in einem Rollenspiel, brachte dies
auf den Punkt: „Sie hat mehr das Gespräch gesucht.“ Dies setzt voraus, dass
Gleiches auch bei der Studierenden der Fall war.
8 Vorwort
Verbunden ist mit dieser Arbeit die Hoffnung, dass Studierende der Sozialen
Arbeit lernen, unter den herausfordernden Bedingungen psychosozialer Notsitua-
tionen ernsthaft das Gespräch zu suchen. Dass die vorliegende Untersuchung
einen kleinen Beitrag zur professionellen Verständigung von Fachkräften mit
ihren Klienten leisten kann, ist der tiefe Wunsch des Verfassers.
Danksagungen
Ich danke Herrn Prof. Dr. Günter L. Huber für die Begleitung während des
ganzen Dissertationsvorhabens, die fachliche Unterstützung in der Forschungs-
strategie – besonders zu AQUAD 6 – und die kritischen und wertvollen Rück-
meldungen. Ich danke Frau Prof. Dr. Petra Bauer für Ihre Bereitschaft, aufgrund
Veränderungen der Promotionsordnung der Universität Tübingen das Zweitgut-
achten dieser Dissertation zu übernehmen. Mein besonderer Dank gilt Herrn
Prof. Dr. Diethelm Wahl für seine Ermutigung zu dieser Arbeit und seine stete
Unterstützung. Er hat mich als Dozenten und Trainer sehr geprägt und seine
Forschungs- und Lehrtätigkeit haben die vorliegende Dissertation maßgeblich
beeinflusst. Leo Gürtler gilt besonderer Dank für den fachlichen Diskurs und
seine wertvollen, kritischen und anregenden Feedbacks. Mein Dank geht an die
Studierenden, die in diesem Projekt mitgearbeitet haben und nun schon einige
Jahre in der Sozialen Arbeit tätig sind. Agnès Fritze danke ich für ihre Unterstüt-
zung für ein Semester ohne Lehrverpflichtung. Susanne Quistorp sei Dank für
das Coaching, das zur „Perturbaciòn“ einiger Subjektiver Theorien über mich
beitrug und so den Weg zum Abschluss dieser Arbeit bahnte. Christoph Gass-
mann sei ein Dank für das sorgfältige Korrektorat. Meiner Frau Barbara danke
ich für die nötige Ungeduld zum Abschluss der Arbeit. Und meinen Eltern danke
ich für ihre Liebe und Sorge und alles, was sie mir ermöglicht haben.
8 Schlussfolgerungen............................................................... 291
8.1 Empirische Ergebnisse und Entwicklungspotenzial der
Lernumgebung....................................................................................... 291
8.2 Didaktisch-methodische Schlussfolgerungen ........................................ 300
8.2.1 Schlussfolgerungen zur Lernarchitektur und den Lehr-Lernformen ..... 300
8.2.2 Notwendige Rahmenbedingungen für erfolgreiches Kommunika-
tionslernen im Studium der Sozialen Arbeit .......................................... 310
9 Reflexion und Forschungsausblick ..................................... 313
9.1 Reflexion zur vorliegenden Arbeit ........................................................ 313
9.2 Anschlussfragen und weiterer Forschungsbedarf .................................. 314
10 Literaturverzeichnis............................................................. 319
11 Verzeichnis der Abkürzungen ............................................ 341
12 Verzeichnis der Abbildungen .............................................. 343
13 Verzeichnis der Tabellen ..................................................... 345
1 Einleitung
1.1 Berufliche Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit
1.1.1 Forschungsstand
Die Soziale Arbeit hat auch nach einem vier Jahrzehnte dauernden Professionali-
sierungsdiskurs (Otto & Utermann 1971) einen Stand der Professionalisierung
erreicht, der die Diskussionen um den Status der Sozialen Arbeit als Profession
nicht hat verstummen lassen, auch wenn die akademische Sozialpädagogik sich
ihren Platz als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft erkämpft hat und diesen
Platz behauptet (Helsper 2008, S. 147). Die theoretischen Arbeiten um Professi-
on und Professionalität in der Sozialen Arbeit sind zweifellos vorangekommen
(Combe & Helsper 1996; Dewe et al. 2001; Heiner 2004), und auch zu konzepti-
onellen und methodischen Grundlegungen professionellen Handelns findet sich
eine breite Literatur (Galuske 2003; Heiner et al. 1998; von Spiegel 2004;
Stimmer 2000). Die Wissensverwendungsforschung (Beck & Bonß 1989) hat
ihren Beitrag dazu geleistet, dass naiv-technokratische Vorstellungen über die
Nutzung sozialwissenschaftlichen Wissens für das Handeln in psychosozialen
Berufen revidiert wurden (Lüders 1989). In diesem Zuge entwickelten sich auch
die Modelle und Theorien zur professionellen Handlungskompetenz deutlich
weiter (Treptow 2011), wie auch ganze Fachbuchreihen zu diesem Thema zeigen
(Heiner 2010).
Im Dreieck von Disziplin, Profession und Ausbildungssystem blieben zwei
Felder in der Diskussion indessen deutlich zurück, nämlich erstens Forschungs-
projekte zu den realen Kompetenzen von Fachkräften und zweitens Wirkungs-
forschung zum Studium in Sozialer Arbeit. Der Stand empirischer Untersuchun-
gen zur Entwicklung von Handlungskompetenz bei Fachkräften der Sozialen
Arbeit in der Ausbildung hat in den letzten Jahren zwar einige Fortschritte erzielt
(Schulze-Krüdener & Homfeldt 2002a, S. 106ff.). Gemessen an der theoreti-
schen Bedeutung des Themas in einem so langen Professionalisierungsdiskurs,
liegen aber immer noch eher wenige empirische Untersuchungen zur realen
Entwicklung beruflicher Kompetenz von Fachkräften der Sozialen Arbeit vor:
Schulze-Krüdener hält die empirische Rekonstruktion der sozialpädagogischen
Handlungspraxis und Professionalisierungsformen im Spannungsverhältnis von
Wissenschaft, Ausbildung und Praxis für ein unabgeschlossenes Projekt
(Schulze-Krüdener & Homfeldt 2002a, S. 113). Die vorliegenden Untersuchun-
gen zur Fachlichkeit und zu den Kompetenzen sozialpädagogischer Fachkräfte
sind seit Alys „Wofür wirst du eigentlich bezahlt?“ (Aly 1977) im Ton mehrheit-
lich kritisch (Ackermann & Seeck 1999, S. 23; Müller 2006; Thole & Küster-
Schapfl 1997, S. 23; Thole et al. 2005). Dass Sozialpädagogen und Sozialarbei-
ter ausgeprägte Handlungskompetenz zeigen, dass sie „wissen, was sie tun“
(Klatetzki 1993) und auch „tun, was sie wissen“ (Wahl 2005, S. 9), anerkennt ein
eher kleinerer Teil der Studien als positiv, wie der Überblick von Schulze-
Krüdener zeigt (Schulze-Krüdener & Homfeldt 2002a). Die häufigsten Kritik-
punkte sind folgende (Schulze-Krüdener & Homfeldt 2002a, S. 104ff.): Die
Wissensnutzung, das Können und der berufliche Habitus von Sozialpädagogen
werden in der Regel als unzureichend beschrieben. Die befragten Studierenden
und Praktiker nutzten primär biografisch und alltagsweltlich erworbenes Wissen,
und Berufsanfänger brächten idealistische und wenig realitätsnahe Grundhaltun-
gen mit, die etliche Reibungsstellen im beruflichen Handeln schaffen. Auch
jüngere Untersuchungen bleiben kritisch, der Vorwurf fehlender Fachlichkeit
und Handlungskompetenz bleibt bestehen. Müller rekonstruiert das berufliche
Selbstverständnis, die Fachlichkeit und den Bezug zur Ausbildung von elf
Sozialpädagoginnen und -pädagogen in der Heimerziehung in qualitativen
Interviews und kommt zum ernüchternden Schluss, dass bei keiner der befragten
Fachkräfte ein eigenständiges berufliches Selbstverständnis und eine adäquate
Fachlichkeit nachgewiesen werden konnten (Müller 2007, S. 385). Selbst Pra-
xisvertreter sind beißende Kritiker der Kompetenzen ihrer Kolleginnen und
Kollegen. Der Leiter einer großen Institution für stadtteilbezogene Soziale Arbeit
fragt sich in einem Artikel zur Problematik von Qualitätssicherung und Fortbil-
dung in Sozialinstitutionen: „Was können Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei-
ter?“ (Hinte 2006, S. 129). Seine Antwort ist harsch: Daran zu glauben, dass
Fachkräfte der Sozialen Arbeit ihr Handwerk beherrschten, gebe es nur wenig
Anlass, daran zu zweifeln, jedoch viele Indizien. Die Feedbackkultur durch
Klienten werde mit dem Hinweis auf die Autonomie der Fallbearbeitung unter-
drückt, den Klienten fehlten Maßstäbe und die Ermutigung zum Einbringen
berechtigter Kritik, die Einrichtungen prüften die in der klientenbezogenen
Interaktion an den Tag gelegte Kompetenz nicht, und misslungene Beratungsver-
läufe seien mit Leichtigkeit auf die Defizite der Klienten zurückzuführen. Hintes
Urteil für die Profession ist wenig schmeichelhaft:
renzieren das Urteil und betonen die Möglichkeit und Wirklichkeit von professi-
oneller Handlungskompetenz in der Sozialen Arbeit. Heiner bewertet die von ihr
untersuchten Fachkräfte differenzierter (Heiner 2004): Bezüglich der beruflichen
Expertise unterscheidet sie drei Gruppen: Den von ihr als unprofessionell einge-
stuften Fachkräften (Heiner 2004, S. 151) würden ressourcenorientierte Sicht-
weisen und Klientenbilder fehlen. Motivationsarbeit werde für überflüssig
gehalten, und eine selbstkritische Reflexion des eigenen Tuns finde nicht statt.
Statt realistischer Zielsetzungen fänden sich überhöhte Erwartungen oder Per-
spektivlosigkeit, und schließlich sei ein positives Kontrollkonzept nicht erkenn-
bar. Eine zweite Gruppe nennt Heiner „distanzierte Dienstleister“, die ihre Arbeit
als Serviceleistung verstehen, welche „der Kunde“ nutzen könne oder nicht. Die
größten Kompetenzlücken findet Heiner bei diesen beiden Gruppen „nicht im
Bereich der Sachkompetenz, sondern bei der Sozial- und Rollenkompetenz,
sowohl bezogen auf die Definition der eigenen Rolle im Interaktionsprozess wie
auch auf deren Ausgestaltung“ (Heiner 2004, S. 154). Sie führt diese Lücken
nicht auf strukturelle berufliche oder institutionelle Mängel zurück, sondern auf
die begrenzte Handlungskompetenz der Fachkräfte. Den größten Teil der unter-
suchten Gruppe stuft sie jedoch als professionell ein und konstatiert für sie ein
ressourcenorientiertes Klientenbild, aushandlungsorientierte Interventionskon-
zepte, ein positives Kontrollkonzept mit variabler Anwendung von Kontrollfor-
men und einen reflexiven Umgang mit Normalitätserwartungen. Für diese
Gruppe stellte sie weiter eine ausgeprägte Bereitschaft fest, sich zu evaluieren
und ihr methodisches Vorgehen und die Beziehungsgestaltung in Supervision
und kollegialer Beratung zu hinterfragen. Die Studie steht in starkem Kontrast zu
den anderen genannten Studien, vor allem zu Ackermann und Müller
(Ackermann & Seeck 1999; Müller 2006).
Was den vorgefundenen Studien allerdings fehlt, ist der konkrete Bezug zum
Studium in Sozialer Arbeit und ein Untersuchungsinstrumentarium, das sich auf
mehr als nur Interviews und Rekonstruktionen von Selbstdeutungen der Fach-
kräfte bezieht. Die Chance, die Professionalität von Fachkräften anhand von
konkreten Fällen oder beruflichem Handeln zu überprüfen, Sozialarbeitende
beim Handeln zu beobachten und in anschließenden Reflexionen darüber zu
untersuchen, welche fachlichen Wissensmuster sich zeigen, wird in keiner der
Untersuchungen genutzt. Die Auswertungen unterschätzen dabei nach Auffas-
sung des Verfassers zum einen die Macht der Prozeduralisierung, des impliziten
Wissens und der Enkapsulierung von Wissen (Gruber 1999b). Sie unterschätzen
zum andern die Transformation von Fachwissen in Subjektive Theorien, wie sie
das gleichnamige Forschungsprogramm nennt, die dann in ihrer alltagssprachli-
chen Form nicht als Fachwissen rekonstruiert werden. Auch das reale Handeln
der Fachkräfte scheint die Forschung zur Handlungskompetenz in der Sozialen
20 Einleitung
Arbeit bislang nicht zu interessieren. Dies ist ein Monitum zu vielen For-
schungsarbeiten über die Handlungskompetenz von Sozialpädagoginnen und
Sozialarbeitern, das die vorliegende Untersuchung einlöst, wenn auch nur in der
Form eines qualitativen Experiments (Kleining 1995), hier mit Rollenspielen als
Forschungsmethode (Sader 1986).
Erschwerend kommt hinzu, dass trotz aller Forderungen nach Kompetenzer-
werb im Studium und einer eigentlichen Inflation des Kompetenzbegriffs das
Potenzial des Studiums zur Ausbildung von profunder Handlungskompetenz
eher als gering eingeschätzt wird: „Der Anspruch, während der Ausbildung
professionelle Handlungskompetenz in einem umfassenden und prägenden Sinn
zu vermitteln, ist überzogen und irreführend, und zwar unabhängig, ob an der
Universität oder an den Fachhochschulen. (…) Der Anspruch, professionelle
Handlungskompetenz im Ausbildungssystem zu erzeugen, ist im Grunde ver-
gleichbar mit dem Ansinnen, Wildwasserkajak im Schwimmbad zu lehren“
(Sommerfeld 2000, S. 226). Das Ausbildungssystem wird dabei als mit der
Praxis konkurrierendes und zu ihr nur wechselseitig etikettierbares, nicht aber
transferfähiges System konzipiert, so etwa bei Dewe (Dewe et al. 1992, S. 78f.).
Es erklärt sich in der Folge für die Ausbildung von Handlungskompetenz der
Absolventen als nicht zuständig, weil nicht in der Lage.
Die konkurrierenden Handlungssysteme Hochschule und Praxis fördern dann
aber umso mehr vielfältige Disparitäten zwischen Ausbildungswissen, Berufs-
motivation, Erfahrungen und Funktionserwartungen in der Praxis, die unter den
Ungewissheiten und Paradoxien des beruflichen Handelns erst in Richtung einer
Berufsidentität neu geordnet werden müssen (Schulze-Krüdener & Homfeldt
2002a, S. 106). Kritik am Ausbildungssystem wird allerdings auch von Studie-
renden und Praktikern der Sozialen Arbeit geäußert: Die Ausbildung trägt in
deren Auffassung nur unzureichend zu ihrer Handlungskompetenz bei und wird
in vielen Untersuchungen als wenig förderlich empfunden (Schulze-Krüdener &
Homfeldt 2002a, S. 107). Wissenschaftliches Wissen wird häufig als überflüssig
taxiert. Soziale und personale Kompetenzen wie Geduld, Fähigkeit zum Zuhö-
ren, Selbstbewusstsein oder Akzeptanz werden als bedeutsamer für das eigene
berufliche Handeln bewertet, was auch auf mangelnde Qualitäten der Studien-
gänge selbst hindeuten könnte.
im FST eher selten erwähnt, fungiert aber dennoch als Zentralbegriff. Zum einen
funktioniert der ganze Forschungsprozess im FST über Kommunikation. Erhe-
bung und Rekonstruktion, die Zielidee der idealen Sprechsituation oder die
kommunikative Validierung sind kommunikatives Handeln von Forschern. Zum
andern ist im epistemologischen Subjektmodell des FST (vgl. Kap. 5) die
sprachliche Kommunikationsfähigkeit ein Kernmerkmal von Menschenbild und
Handlungsbegriff (Groeben et al. 1988, S. 16).
Kommunikatives Handeln kann im Anschluss an das FST in Subjektiven
Theorien (ST) größerer und geringer Reichweite abgebildet werden. ST größerer
Reichweite sind z.B. Modelle von Kommunikation, Repräsentationen übergrei-
fender Gesprächsstrategien, Phasenkonzepte oder Modelle zu Strukturbedingun-
gen von Gesprächen. Sie sind nicht direkt handlungsleitend, dafür aber leichter
zu modifizieren (Wahl 2005, S. 19). Dies ist für die Ausbildung bedeutsam, denn
in traditionellen Ausbildungssettings werden schlechtestenfalls träges Wissen
(Gruber et al. 2000), bestenfalls mentale Modelle, Überzeugungen und Wissens-
bestände erzeugt, die aber kommunikatives Handeln nicht direkt steuern können.
Auch beeinflussen konventionelle Ausbildungsmodelle kaum Emotionen,
Motive oder Körperempfindungen, die ebenfalls direkt handlungssteuernd sind.
Subjektive Theorien kurzer Reichweite steuern Handlungen direkt. Als
Strukturkomprimierungen kommunikativen Wissens werden sie in der Logik des
Handelns (typische Situationen mit typischen Reaktionen) unter Einbezug von
Motiven und Emotionen gespeichert und stehen so für das schnelle und spontane
kommunikative Handeln zur Verfügung (Wahl 2005, S. 20).
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Subjektiven Theorien kurzer
Reichweite beim schnellen und spontanen kommunikativen Handeln, z.B. zur
Bearbeitung der Anliegen von Klienten, zum Umgang mit Provokationen,
Aggressionen, Schweigen oder heftigen Emotionen oder zur Metakommunikati-
on bei Störungen in Gesprächen. Diese Subjektiven Theorien kurzer Reichweite
sind am schwersten zu verändern und werden im Rahmen traditioneller Lernum-
gebungen nicht modifiziert. Die folgende kognitive Landkarte, die in erweiterter
Form als Advance Organizer für den Unterricht benutzt wird, zeigt ein
didaktisiertes Modell kommunikativen Handelns in der Sozialen Arbeit mit den
wesentlichen Bestimmungsstücken, zu denen die vorliegende Lehrveranstaltung
unterrichtet wurde. Das Wissen zum methodischen Handeln in der Sozialen
Arbeit, ein Phasenmodell des Beratungsprozesses oder das Wissen über Struk-
turbedingungen von Gesprächen lassen sich nach dem FST als ST mittlerer
Reichweite darstellen. Die ST kurzer Reichweite tauchen als Episoden aus dem
Fluss des kommunikativen Geschehens hervor. Sie lassen sich als Kombinatio-
nen typischer Situationen und typischer Reaktionsmuster darstellen. Dieser Kern
des kommunikativen Geschehens wird auf seine Veränderbarkeit untersucht.
30 Theoretische Grundlagen
zieren konnten, die Regel waren 1:1- oder 1:2-Zuordnungen von Situations- und
Handlungstypen (Wahl et al. 1995, S. 68).
Das zweite Modell (Wahl et al. 1995, S. 65) verdeutlicht den Aspekt der be-
schränkten Wissensnutzung und belasteten Informationsverarbeitung beim
schnellen Handeln. Zwar verfügen die Akteure möglicherweise über umfangrei-
ches Theorie- und Erfahrungswissen zur Situation oder zum Handeln. Dabei
kann es sich um Wissensbestände über Verhaltensstörung, psychische Krisen,
Adoleszenz oder allein erziehende Mütter handeln, im Bereich des Handelns
auch um die bekannten Kommunikationstheorien und Modelle, die Gegenstand
aller Lehrveranstaltungen zu Kommunikation, Gesprächsführung usw. sind.
Möglicherweise haben die Akteure auch gefestigte und erinnerbare Wissensbe-
stände z.B. zu hilfreichem Fragen oder aktivem Zuhören in der Situation verfüg-
bar. Handlungssteuernd jedoch „sind nur jene hoch verdichteten Wissensbestän-
de, die in die momentane Informationsverarbeitung (hier: Situations- und Hand-
lungsauffassung) ‚hineinragen’“ (Wahl et al. 1995, S. 65). Das Modell fokussiert
sehr stark auf die kognitive Handlungsregulation; der Einfluss von Emotionen,
Körperempfindungen, tiefer liegenden Motiven wird dadurch nicht deutlich, aber
das Modell zeigt die Begrenztheit der Möglichkeiten der Wissensnutzung (be-
sonders von deklarativem Wissen) beim Handeln eindrücklich auf. Schon
appraisals – also bewertungsartige Gedankenfetzen zur Situation einer Klientin,
zu den Ursachen für ihr Verhalten – und Wissen zu möglichen Reaktionen
Kommunikatives Handeln – kommunikative Kompetenzen 33
Das dritte Modell, das für die hier verwendete Auffassung von kommunikativem
Handeln im Sinne eines Handelns unter Druck verwendet wird, nennt Wahl
SOAP-Modell (Wahl 2005, S. 26), womit er auf die sekundenschnelle Situati-
onsorientierung und Handlungsplanung beim spontanen kommunikativen Han-
deln aufmerksam macht.
Autoren an anderer Stelle auf ein umfassendes, offenes Konzept von Rationalität
abheben, das keine Dichotomie von Emotionen und Kognitionen behaupte: Das
FST sehe „Emotionen als konstitutiv dafür an, dass Subjektive Theorien hand-
lungsleitend werden (können)“ (Groeben et al. 1988, S. 216). Die Arbeiten von
Scheele (Scheele 1990, 1996) stellen hier keine geeignete Basis dar, da sie zu
sehr auf Emotionen als persönlichkeitszentrale Interpretationen und Werthaltun-
gen fokussiert und Verhaltensaspekte für Emotionen als randintentional bezeich-
net (Gröller 1994, S. 65).
ler & Prinz 2002, S. 357). Emotionen werden hier nicht in dieser direkt kommu-
nikativen Funktion untersucht, sondern in ihren Funktionen für die Handlungsre-
gulation der Personen, der Situationsbewertung und Handlungssteuerung
(Merten 2003, S. 123; Mitmansgruber 2003, S. 24). Die zurzeit einflussreichsten
Appraisal-Theorien der Emotion (Mitmansgruber 2003, S. 33) und hier beson-
ders die Emotionstheorie von Lazarus (Lazarus 2005; Lazarus 1991) konkretisie-
ren die Bewertungsfunktion von Emotionen beim Handeln von Menschen.
Primäre Bewertungen („primary appraisals“) schätzen die grundlegende Bedeu-
tung eines Geschehens für die Wertvorstellungen, Ziele und Überzeugungen
einer Person ein und beziehen sie auf das Potenzial des Ereignisses zu Schädi-
gung, Herausforderung oder Wohlbefinden der Person. Sekundäre Bewertungen
(„secondary appraisals“) fokussieren auf die Bewältigung des Ereignisses und
beurteilen das Verdienst oder die Schuld an einem Ereignis, das Bewältigungs-
potenzial und die Zukunftserwartungen, was nach Lazarus in der Konsequenz zu
negativ oder positiv getönten Emotionen führt, die das Handlungsergebnis
bewerten („reappraisal“) (Lazarus 2005, S. 252; Mitmansgruber 2003, S. 45).
In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass Emotionen
ebenso wie Kognitionen alle Phasen schnellen kommunikativen Handelns
begleiten: In Situationsorientierung und Handlungsplanung, -ausführung und -
bewertung werden Emotionen als situationsorientierende, steuernde oder bewer-
tende Komponenten des Handelns präsent sein. Beim kommunikativen Handeln
der Versuchspersonen werden Emotionen auftauchen, die als primary appraisal
fungieren (Angst oder Erschrecken bei unerwartetem Widerstand, drohendem
Gesprächsabbruch oder offener Aggression der Klientinnen). Weiter werden
Emotionen als secondary appraisals das Handeln der Versuchspersonen regulie-
ren (das Empfinden von Unbehagen, Angst oder Sicherheit zu einer anstehenden
Reaktion) und schließlich ein Handlungsergebnis, eventuell als reappraisal
(Merten 2003, S. 108), positiv oder negativ bewerten (Zufriedenheit, Stolz und
Freude oder Traurigkeit, Bedauern oder Ärger über eine Reaktion).
Positive Emotionen tragen zur Realisierung von Intentionen und damit zur
Selbststeuerung beim Handeln bei. Kuhl konstatiert für den Einfluss von Emoti-
onen auf das Handeln zwei Modulationshypothesen (Müsseler & Prinz 2002,
S. 301). Ohne im Detail auf das Modell der kognitiven Funktionssysteme im
Rahmen von Kuhls PSI-Theorie (Kuhl 2001) einzugehen, könnte man die beiden
Modulationshypothesen vereinfacht folgendermaßen formulieren: Positive
Emotionen aktivieren Reaktionsmuster in der Handlungsausführung, die die
Realisierung von Intentionen unterstützen, umgekehrt führen die Reduktion
positiver Emotionen oder negative Affekte dazu, dass die Realisierung von
Intentionen gehemmt wird. Im Gegensatz zur Hemmung der Intentionsausfüh-
rung bleibt unter negativen Emotionen die Aktivierung von Reaktionen auf
38 Theoretische Grundlagen
äußere Auslösereize hin intakt. „Positiver Affekt stellt (…) also gleichsam ein
Signal dafür dar, dass nichts gegen die Ausführung einer intendierten Handlung
spricht, während eine Reduktion positiven Affekts signalisiert, dass bei der
Zielverfolgung Probleme aufgetreten sind, sodass es sinnvoll ist, weitere Hand-
lungen zugunsten von Planungs- und Problemlöseprozessen zu hemmen“
(Müsseler & Prinz 2002, S. 301), was ebenfalls einen konstruktiven Bewälti-
gungsversuch einer misslungenen Handlung darstellt. Unter negativen Gefühlen
kann es allerdings auch geschehen, dass, statt Handlungsunterbrechung und
Neuorientierung zu vollziehen, Handeln durch auslösereizorientiertes Verhalten
ersetzt wird. In der Terminologie des FST würde dies bedeuten, dass positive
Emotionen gelingendes Handeln signalisieren und gleichzeitig unterstützen
(Integration von Kognition, Motivation, Emotion und Handlungsausführung als
Anforderung für Handeln). Unter negativen Emotionen wäre Handeln im Sinne
von Neuorientierungsprozessen und Strategiewechseln zwar möglich, aber auch
reizgesteuertes „Verhalten“ oder „Tun“. Das Auseinanderfallen von Überzeu-
gungs- und Motivrationalität könnte also auch eine Begleiterscheinung oder
Folge negativer Emotionen sein. Positive Emotionen beim Handeln könnten in
diesem Sinne als ein Indikator für die Entwicklung vom Verhalten zum Handeln
und für gelingende kommunikative Handlungen aufgefasst werden. Berking
unterstützt diese These, wenn er von negativen Emotionen wie Angst, Ärger,
Scham oder Traurigkeit als „potenziell schädlichen emotionalen Reaktionen“
(Berking 2010, S. 169) spricht und auf die Dysfunktionalität negativer Emotio-
nen in Situationen hinweist, die eher Gelassenheit und Ruhe erfordern würden
(Berking 2010, S. 49). Negative Emotionen in kommunikativen Situationen
weisen, so gesehen, auf Stress hin. Sie sind hilfreich, solange sie als Signal
verstanden werden, dass wesentliche Ziele der Person bedroht sind, und wenn sie
zu Handlungskorrekturen führen. Wenn negative Emotionen nicht konstruktiv
reguliert werden, können sie zu stressbedingten Kampf-Flucht-Vermeidungs-
reaktionen führen und einen Zerfall konstruktiver Handlungsmuster in Richtung
außenreizgesteuertes Verhalten zur Folge haben.
Ein letzter Aspekt ist für diese Untersuchung besonders bedeutsam – kom-
munikatives Handeln ist in hohem Maß habitualisiert und automatisiert, es ist
biografisch über Jahrzehnte erworben, dadurch besonders stabil und nur mit
hohem Aufwand zu verändern (Antos 1992, S. 52; Fiehler 2002). Dies zeigen die
ernüchternden Beispiele zu einer Vielzahl von Transfer- und Modifikationsprob-
lemen aus dem Bereich pädagogischer Aus- und Weiterbildung, die sich zwar
nicht explizit auf kommunikatives Handeln beziehen, deren Ergebnisse sich aber,
da pädagogisches Handeln immer auch Kommunikation ist, unschwer übertragen
lassen (Mutzeck 2005; Wahl 2005, S. 9). Die Expertiseforschung beschreibt dazu
zwei Perspektiven zur Veränderbarkeit von Handlungsmustern, die auch für
Kommunikatives Handeln – kommunikative Kompetenzen 39
kommunikatives Handeln gelten. Für das Erreichen von Expertise sind langjäh-
rige Beschäftigung und intensive und anspruchsvolle Praxis erforderlich, die
Expertiseforschung spricht von bis zu 10 000 Stunden bis zur höchsten Stufe
(Spitzer 2002, S. 272; Steiner 2003, S. 137). Im Bereich der Kommunikation
gälte dies für nichtalltägliche, spezifische Formen der beruflichen Kommunikati-
on wie in der Psychotherapie. Menschen verfügen aber bereits über eine biogra-
fisch gewachsene Expertise, sie bewältigen auch schwierige Situationen mithilfe
normalen Gesprächswissens, und das hochgradig automatisiert (Henninger &
Mandl 2003, S. 12). Dies führt zur Notwendigkeit vor allem des Ver- und Um-
lernens von kommunikativen Handlungsmustern, ein Thema, auf das in Kapitel
2.2.1 noch vertieft eingegangen wird.
– Strukturbedingungen von Gesprächen, die sich aus dem Kontext, der Vorge-
schichte, den Gesprächspartnern und ihren Beziehungen sowie ihren The-
men und Zielen ergeben, zu analysieren und für die Planung und Antizipati-
on von Gesprächen zu nutzen,
– aus dieser Analyse heraus Gesprächsformate angemessen zu wählen, Ge-
spräche methodisch vorzubereiten und zu reflektieren,
– aus dieser Vorbereitung angemessene, zielführende Gesprächsverläufe zu
arrangieren und übergreifende Gesprächsstrategien und Konzepte zu nutzen,
– um dann in der aktuellen Gesprächssituation Botschaften der Gesprächs-
partner adäquat wahrzunehmen und selbst verständigungs- und zielorientiert
handeln zu können.
Planungs- und reflexive Fähigkeiten sind für den Gesprächserfolg ebenso mit-
verantwortlich wie das direkte kommunikative Handeln. Planung, Metakognition
und Reflexion sind besonders für Gesprächsführung in den komplexen Problem-
konstellationen in der Sozialen Arbeit unerlässlich, auch wenn das sprachliche
Handeln der sichtbarste Ausdruck von Gesprächskompetenz ist. Gesprächskom-
petenz könnte auch als Veränderung der indirekt handlungsleitenden Modelle
und Wissensbestände untersucht werden, z.B. zu einem Beratungs- oder Kon-
fliktgespräch. Das Verständnis der Gesprächsstrukturen und -verläufe könnte
man als operative Abbildsysteme (Udris 1993) oder Subjektive Theorien größe-
rer oder mittlerer Reichweite (Groeben et al. 1988, S. 188ff.) beschreiben. Die
vorliegende Untersuchung fokussiert auf die am schwersten zu verändernden ST
kurzer Reichweite und die in ihnen vorfindbaren Kognitionen und Emotionen.
ST kurzer Reichweite werden auch über ST mittlerer und größerer Reichweite
erreichbar und der Veränderung zugänglich, wie z.B. die Internalisierung der
personzentrierten Basisvariablen (Weinberger 1996) und daraufhin veränderte
Muster der Gesprächsführung deutlich machen. Im Rahmen der Lernumgebung
wurden Subjektive Theorien größerer/mittlerer Reichweite durch Advance
Organizer, Strukturlegetechniken usw. genutzt, um auch die ST geringer Reich-
weite zu modifizieren.
Kommunikatives Handeln – kommunikative Kompetenzen 41
stimmige Botschaften (Schulz von Thun 2007c), sowie einen sensiblen Umgang
mit nonverbaler Kommunikation (Delhees 1994, S. 128ff.) fokussieren. Einen
zweiten Schwerpunkt bilden die folgenden sozialkommunikativen Fertigkeiten,
die im Anschluss an Wagner-Link (Wagner-Link 1998, S. 26ff.) vermittelt und
anhand beruflich relevanter Situationen der Sozialpädagogik und Sozialarbeit
trainiert wurden:
Vermittlung von Informationen und deren Nuancen sehr flüchtig und durch die
Interaktivität nur begrenzt planbar. Gespräche beziehen sich auf kulturell ver-
breitete und erwartete Verfahren und Normalformen, die personal und kulturell
in der Regel tief verwurzelt sind, und sie erfordern Aktivitäten der kommunika-
tiv Handelnden auf vielen Ebenen und in verschiedenen semiotischen Bereichen
wie Sprache, Stimme, Mimik, Gestik usw. (Deppermann 2004, S. 18). In der
Interaktion sind Menschen immer in einer Doppelfunktion als Sprecher und
Hörer – anders als in anderen Handlungsklassen sind Sprachrezeption und
Sprachproduktion zwei permanent parallel laufende Handlungsprozesse
(Henninger & Mandl 2003, S. 16).
Bedingt durch die langjährige, implizite und beiläufige Aneignung und Habi-
tualisierung kommunikativer Handlungsmuster, bedeutet Lernen gleichzeitig
Verlernen, Umlernen und Neulernen (Fittkau et al. 1994, S. 6f.). Dem Bearbeit-
bar machen oder Deautomatisieren bestehender kommunikativer Muster kommt
dabei eine besondere Bedeutung im Lernprozess zu (Henninger & Mandl 2003,
S. 54f.; Wahl 2005, S. 41ff.). Hohe Routinisierung stellt in dieser Hinsicht ein
Hindernis für das Lernen von Kommunikation dar, nämlich dann, wenn sie nicht
mit einer außergewöhnlichen Flexibilität verbunden ist. Routinen erleichtern
zwar das schnelle Anknüpfen und Verarbeiten von Informationen, aber sie
absorbieren oder negieren diskrepante Informationen oder irritierende Vorgänge
im bisherigen Handlungsmuster und verhindern damit Lernprozesse.
Der für professionelle Kommunikation verlangte höhere Auflösungs- und
Differenzierungsgrad des Verstehens oder Sprechens und bestimmte Techniken
professioneller Kommunikation sind häufig deutlich alltags- und intuitionswid-
rig. Studierende reagieren oft irritiert auf erste Versuche zu avancierten Zuhör-
techniken (Egan 2001, S. 116f.), zu konstruktivem Konfrontieren (Miller &
Rollnick 2009, S. 59ff.) oder zum Umgang mit Killerphrasen in Konfliktgesprä-
chen (Zuschlag & Thielke 1998, S. 201ff.), weil sie in den Übungen Erfahrungen
kognitiver und emotionaler Dissonanz machen (s.o.), die erhöhte Verunsicherung
oder Abwehr auslösen und die verarbeitet werden müssen. Lernen von Kommu-
nikation ist, wie die ambivalente Haltung vieler Studierender zu Kommunikati-
onstrainings zeigt, auch stressbesetzt.
Neues kommunikatives Handeln in Gang zu bringen, ist ein aufwendiger
Prozess (Wahl 2005, S. 213ff.). In Stresssituationen werden sich Vorsätze aus
Training und Unterricht nicht durchsetzen, wenn nicht entsprechende Hand-
lungsunterbrechungsstrategien und neue Handlungsmuster bereits trainiert und
gefestigt sind. Durch Erfahrungen und Erfolgserlebnisse, die als episodisches
Wissen wirken, könnte neues Handeln bestärkt werden.
Aus der Sicht der angewandten Gesprächsforschung beschreiben Fiehler &
Schmitt, „wodurch sich Vermittlungsprozesse, die Gesprächskompetenz zum
48 Theoretische Grundlagen
Gegenstand haben, von solchen unterscheiden, die sich hauptsächlich auf Wissen
oder auf Fähigkeiten anderer Art beziehen“ (Fiehler & Schmitt 2004, S. 113).
Gesprächskompetenz ist nach ihrer Auffassung eine hoch komplexe Fähigkeit,
die sich aus dem Zusammenspiel vieler, sehr unterschiedlicher Komponenten
ergibt: Situations- und Partnereinschätzung, Relationierung eigener Ziele und
derer von Gesprächspartnern, Planung und Handlungsausführung angemessener
Äußerungen, Verstehensleistungen und das permanente Monitoring des Ge-
sprächsprozesses müssen ineinander spielen. Sie ist ferner eine nur mehrdimen-
sional zu messende Fähigkeit, sie ist hochgradig kontextabhängig und realisiert
sich in unterschiedlichen Situationen nichtreproduktiv. Ihre Realisierung erfolgt
kooperativ, womit sie sich vom Schwimmen oder Klavierspielen, nicht aber von
Mannschaftssportarten unterscheidet. Die Art der Kooperation unterliegt nur zum
Teil festen Regeln und ist nur zum Teil antizipierbar. Weiter setzt Gesprächs-
kompetenz auf bereits vorhandene Fähigkeiten auf und beginnt nicht an einem
Nullpunkt. Und schließlich ist der Erwerb von Gesprächskompetenz (anders als
das Fahrradfahren- oder Schwimmenlernen) kein einmaliger Vorgang, der zu
einem dauerhaften Ergebnis führt, sondern etwas, das sich lebenslang und
gesteuert wie ungesteuert weiter verändert und immer wieder trainiert werden
muss, wenn man es nicht verlieren will.
des Handelns stellt eine allgemeine Gesprächskompetenz nur eine erste Basis für
weiterführende und spezifische Gesprächskompetenzen in den jeweiligen Fel-
dern und mit den entsprechenden Adressaten dar – das Spektrum an Gesprächs-
partnern reicht von Ärzten, Psychologen und Pflegenden in der interdisziplinären
Helferkonferenz in der Psychiatrie bis zu Menschen mit schweren kognitiven
Entwicklungsbeeinträchtigungen oder Klienten im Migrationsbereich, die nur
eingeschränkt die Landessprache sprechen und für Gespräche Dolmetscher
benötigen. Hochschulische Module können hier nur Basiskompetenzen zur
Verfügung stellen, da die feld- und adressatenspezifischen Kompetenzen hoch-
gradig situiert sind. Trainings hingegen fokussieren häufig auf sehr eng um-
grenzte Gesprächsformen oder -methoden, die dann auch spezifisch trainierbar
sind. Gleichzeitig wird die Vorstellung einer „allgemeinen Gesprächskompe-
tenz“ als unzulänglich und irreführend kritisiert: Die Situationsbedingungen in
Gesprächen seien so unterschiedlich und gegensätzlich, dass sie völlig unter-
schiedliche Handlungsanforderungen nach sich ziehen würden (Deppermann
2004).
Bolognastudiengänge in der Schweiz wurde von vorher sieben bis acht Semes-
tern per Beschluss der Konferenz der Fachhochschulen Schweiz (KFH) auf sechs
Semester gekürzt. Dies schafft einen erhöhten Druck auf die Ausbildungszeiten,
der auch Lehrveranstaltungen in sozialen Kompetenzen zunehmend unter Druck
setzt. Zwar werden die Beschäftigungsfähigkeit und in diesem Zusammenhang
auch soziale Kompetenzen für den Beruf sehr betont, in den Curricula zeigt sich
aber ein klarer Gegentrend. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit wird
über deren Akademisierung vorangetrieben, wobei das Fehlen universitärer
Studiengänge in Sozialer Arbeit in der Schweiz diesen Trend verschärft. Die
gestuften Studiengänge fordern mehr Zeit für wissenschaftliches Arbeiten und
Theorie, meist zulasten der sozialen Kompetenzentwicklung. Kommunikation
und Gesprächsführung verlieren an Gewicht oder sind unzureichend in die
Methodenausbildung integriert, häufig findet sich auch immer noch das be-
schriebene beliebige Nebeneinander von therapeutischen Ansätzen und wenig
systematischen Bezügen zu Adressaten, Praxisfeldern oder methodischem
Handeln (Engelke et al. 2005). Die Modularisierung der Studiengänge würde
zwar den Aufbau von konsistenten Kompetenzsträngen im Bereich der sozialen
Kompetenzen ermöglichen, das Baukastenprinzip schafft aber neue Zwänge: So
sind Vorbedingungen für den Modulbesuch schwer durchzusetzen, damit die
Wahlfreiheit der Studierenden möglichst wenig eingeschränkt wird. Semester-
übergreifende Lehrveranstaltungen, die beim sozialen Lernen erforderliche, eher
langfristige Prozesse unterstützen, werden erschwert, weil Lehrveranstaltungen
auf ein Semester begrenzt sind.
nommen. Auf diese Vorerfahrungen kann seit der Umsetzung der Bolognareform
nicht mehr gebaut werden, wie einige Folgemodule des hier untersuchten Studi-
enjahrgangs zeigten.
– Der Rekurs auf Handeln, nicht auf Verhalten: Menschliches Handeln ist
zielgerichtet und bedeutungsvoll, es ist reflexiv und selbstgesteuert. Beim
Training muss die Zielvorstellung „Handeln“ auch dann erkennbar sein,
wenn es um die Routinisierung von Handlungsmustern geht (Wahl 2002,
S. 230).
– Die Berücksichtigung der hierarchisch-sequenziellen Handlungsorganisati-
on: Praktische Übungen schaffen Routinen und sind notwendig für Kompe-
tenzerwerb. Man bleibt aber an ihnen kleben, wenn sie nicht in übergreifen-
de Werte, Ziele und Pläne eingebettet sind. Das höchste Selbstüberwa-
chungssystem der Person ist daher beim Training immer zu integrieren
(Wahl 2002, S. 231).
– Der handlungsleitende Charakter von Emotionen: Emotionen leiten
menschliches Handeln; emotionale Veränderungen müssen im Training also
unterstützt werden, damit neues Handeln nicht nur die Kluft zwischen Wis-
sen und Handeln (Gruber et al. 2000; Henninger & Mandl 2000; Mandl &
Gerstenmaier 2000) überwindet, sondern auch die zwischen Emotionen und
Handeln (Wahl 2002, S. 231). Das Ziel ist eine Integration von Kognition,
Emotion, Motivation und Handlungsausführung. Erst das macht menschli-
ches Handeln aus.
– Der Umweg über Reflexion und Erwerb von Wissen und neuen Problemlö-
sungen: Direktes Einwirken auf verdichtete und hoch automatisierte Proto-
typenstrukturen im kommunikativen Handeln ist nach Wahl wenig Erfolg
versprechend. Deshalb wird ein Umweg über die Bewusstmachung und Re-
flexion von Handlungsmustern, die Erarbeitung von Expertenwissen und
neuen Problemlösungen hin zum In-Gang-Setzen neuer handlungssteuernder
Prototypenstrukturen gewählt (Wahl 2002, S. 232).
– Die Schaffung von Veränderungsmotivation: Die Motivation zu menschli-
chem Wachstum und Entwicklung wird bei Wahl aufgrund der Annahmen
des epistemologischen Subjektmodells (Groeben et al. 1988, S. 32) als
selbstverständlich vorausgesetzt. Der „Gang über den Rubikon“
(Heckhausen & Heckhausen 2006, S. 278ff.; Wahl 2002) ist aber keines-
58 Theoretische Grundlagen
Therapie in den 40er- und 50er-Jahren führte Rogers neue Formen der Ausbil-
dung von Beratern und Therapeuten ein: Das Training von Beratungsfertigkeiten
in Übungsgesprächen, Lernende als Co-Therapeuten, Selbsterfahrungsgruppen
und erste Audio- und Filmaufzeichnungen fanden Eingang in die Ausbildung
(Sander & Ziebertz 2006). Die Verhaltenstherapie wurde in den 1960er-Jahren in
den Beratungsausbildungen aufgegriffen, in denen eine Vielzahl manualisierter
Ansätze zur Ausbildung beraterischer Kompetenzen aufkamen (McLeod 2004,
S. 461). Mit dem Aufkommen der systemischen Therapie verschob sich der
Fokus in den Therapie- und Beratungsausbildungen zunehmend auf komplexe
Lernumgebungen mit Theorieseminaren, Live-Inszenierungen, ausbildungsbe-
gleitender Beratungstätigkeit und deren Supervision (McLeod 2004, S. 461).
Einige Weiterentwicklungen bleiben in den oben beschriebenen Entwick-
lungslinien unerwähnt. Die Entwicklung der verhaltensorientierten Trainings
zum „Handlungstraining“ (Mönnich 2004, S. 103, 106) findet sich ebenso wenig
wie die Entwicklung konstruktivistischer Lernumgebungen (Henninger & Mandl
2003; Storch & Krause 2002; Tennstädt et al. 1995; Wahl 2005). Ignoriert wird
weiter der Trend, Kommunikation zunehmend unter Einbezug von E-Learning-
Tools zu trainieren (Drews & Hecht 2003; Henninger & Mandl 2003; Jacobs &
Redlich 1998; Kilburg et al. 2006). Und schließlich stellen die diskursanalytisch
orientierten Kommunikationstrainings (Becker-Mrotzek 2004; Becker-Mrotzek
& Brünner 2002, S. 36ff.) eine weitere neuere Entwicklung dar. Diese positionie-
ren sich vor allem jenseits der psychotherapeutischen Schulen. In ihnen könnte
einiges an Innovationspotenzial für Kommunikations- und Gesprächstrainings
vorhanden sein, das im therapeutisch orientierten Trainingsmainstream wenig
Beachtung findet.
Aus Sicht der hier vertretenen Lernumgebung fehlen dabei einige wesentliche
Elemente: Angesichts der langjährigen Habitualisierung kommunikativer Muster
sind Methoden zu deren Irritation unerlässlich, um bisherige Muster zu
deautomatisieren und der Bearbeitung zugänglich zu machen (Henninger &
Mandl 2003, S. 54f.; Wahl 2005, S. 26f.). In Pflichtveranstaltungen oder verord-
neten Weiterbildungen mit Teilnehmern eher unterdurchschnittlicher Freiwillig-
keitsgrade sind Methoden zum Aufbau von Änderungsmotivation und
Commitment unerlässlich, um die für die Bildung von persönlichen Verände-
rungszielen und die Erfahrungsbildung nötige subjektive Bedeutsamkeit zu
erzeugen (Gruber 1999a; Miller & Rollnick 2009). Zur Wissensvermittlung, die
in Kommunikationstrainings in den Hintergrund tritt, gibt es im Studium keine
Alternative. Und zuletzt sind nach den Erfahrungen des mangelnden bis ausblei-
benden Transfers aus Weiterbildungsveranstaltungen (Mutzeck 2005) soziale
und individuelle Stützsysteme erforderlich, die nachhaltige Veränderungen erst
ermöglichen.
Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die vorgestellten und einige
weitere bekannte Sozialkompetenz-, Kommunikations- und Gesprächstrainings
und deren wichtigste Merkmale.
64 Theoretische Grundlagen
ergibt ca. 84 Stunden Kontaktlektionen, dazu kommt die Lektüre und Nachberei-
tung der Studierenden, die das Wissen im Selbststudium erarbeiten. Heckt und
Jürgens machen leider keine Aussagen über die Gruppengrößen, sodass darauf
nur von den Rahmenbedingungen des GSK (acht bis zehn Teilnehmer bei zwei
Trainern) geschlossen werden kann. Ob der Traineraufwand allein mit studenti-
schen, in der Ausbildung befindlichen Trainern gedeckt wird oder ob immer
ausgebildete Trainer (studentische Co-Trainer) die Trainings leiten, bleibt offen.
Auch werden auf der Basisstufe keine lernwegbegleitenden Instrumente einge-
setzt; die Autoren setzen auf die direkte Wirkung der Trainings und weniger auf
längerfristige Modifikationsprozesse durch lernwegbegleitenden sozialen Sup-
port, individuelle Anwendungsverpflichtung oder Transferaufgaben.
Der personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers (Rogers 1985; Rogers &
Dorfman 1994) hat im Laufe seiner kaum zu überschätzenden Wirkungsge-
schichte auch ein breites Spektrum an Ausbildungskonzepten zur Kommunikati-
on, Gesprächsführung, Beratung und Psychotherapie hervorgebracht (Bachmair
2005; Egan 2001; Pallasch & Harmsen 1995; Sander & Ziebertz 2006; Seithe
2008; Weinberger 1996). Aus der Fülle der Ausbildungskonzepte im
personzentrierten Ansatz werden im Folgenden einige vorgestellt, die sich
explizit zur Trainingsdidaktik für pädagogische und psychosoziale Berufe
äußern.
Sander und Ziebertz setzen die Grundprinzipien des personzentrierten Ansat-
zes konsequent in ein erfahrungsorientiertes Ausbildungskonzept um (Sander &
Ziebertz 2006). Adressaten sind Studierende und Praktiker der Sozialen Arbeit,
die Kompetenzen in personzentrierter Beratung erwerben wollen. Trainingsin-
halte – die Autoren sprechen von „Lernbereichen“ – sind die Erfahrung der
eigenen Person (Selbsterfahrung), die Erfahrung anderer Menschen, die Erfah-
rung förderlicher Beziehungen (im Rahmen des Rogers’schen Beziehungskon-
zepts) und die Erfahrung methodisch kompetenter Vorgehensweisen (Methoden-
erfahrung und -anwendung der personzentrierten Beratungsmethoden) im Rah-
men eines gruppendynamisch und selbsterfahrungsorientierten Settings (Sander
& Ziebertz 2006, S. 19). Kognitives Lernen durch Lektüre setzen die Autoren im
Training voraus, sie halten es für unverzichtbar (Sander & Ziebertz 2006, S. 19),
verlagern es aber in einen Einführungskurs. Das hier beschriebene Beratungs-
training wird den Ausbildungsteilen „Praxis 1 und 2“ der Ausbildung zum
personzentrierten Berater zugeschrieben. Die Autoren arbeiten mit einem „Grup-
penerfahrungsangebot“ (Sander & Ziebertz 2006, S. 18), das offen und sehr
wenig strukturiert die personalen Wachstumspotenziale der Teilnehmer unter-
stützen soll. Ganz im Sinne der Rogers’schen Aktualisierungstendenz verstehen
sich die Lernprozesse als induktives Lernen – an echter menschlicher Erfahrung
und Begegnung mit sich selbst, den anderen Menschen in der Gruppe, den
Didaktik sozialkommunikativen Lehrens und Lernens 69
Beziehungen in der Gruppe und den Methoden der Beratung. Die Lehrenden
werden als „facilitators“ verstanden (Sander & Ziebertz 2006, S. 78), die nicht
instruieren, sondern offene Lernangebote machen, in denen die Gruppe und ihre
Mitglieder persönlich bedeutsame, „signifikante“ Lernprozesse eingehen, die
darum wirksam sind, weil sie eine persönliche Bedeutung für den Lernenden
besitzen. Die Person des Beraters wird als Kern aller Beratungsmethoden, -
werkzeuge und -strategien verstanden. Im Zentrum aller Ausbildungsbemühun-
gen steht die „Förderung der Person“ des Beraters (Sander & Ziebertz 2006,
S. 78). Dabei werden nicht interaktive Lernformen wie Beobachtungslernen,
sprachliche Formulierungsübungen und Wahrnehmungstrainings nicht ausge-
schlossen, aber sie stehen nicht im Zentrum des Konzepts. Neben der Gruppener-
fahrung in der Ausbildung wird die Notwendigkeit beraterischer Praxis und
zugeordneter Supervision betont (Sander & Ziebertz 2006, S. 18). Es wird zum
Beispiel Co-Beratung oder Beratungsarbeit mit einem erfahrenen Senior-Berater
gefordert. Ein technisch-funktionales Training, das auf Sprach-, Wahrnehmungs-
und Diskriminationsübungen, Arbeitsregeln und Standardlösungen setzt, wird als
ungeeignet beurteilt (Sander & Ziebertz 2006, S. 75). Sander und Ziebertz
benutzen in ihrem Ausbildungskonzept (den Begriff des Trainings verwenden sie
nicht, da es ihnen um echte personale Wachstumsprozesse gehen) neben grup-
pendynamischen Übungen aber auch Rollenspiele, Fallarbeit und Simulationen.
Die Gruppenübungen werden als Einstieg in die Lernarbeit verstanden, es wird
Wert darauf gelegt, dass im Anschluss an die Einstiegsübungen offene Lernpro-
zesse stattfinden, die sich nach Angaben der Autoren in einem offenen Plenum
der Gruppe abspielen (hier nehmen sie Bezug auf Prinzipien der Themenzen-
trierten Interaktion von Ruth Cohn). Wie diese im Rahmen der Gruppen verlau-
fen oder gesteuert werden, wird allerdings nicht deutlich. Auch zum Setting, zur
Dauer der beiden Praxiskurse und zu den Rahmenbedingungen machen die
Autoren keine Angaben, daher bleibt das Ausbildungssetting von didaktischer
Seite her sehr offen, unstrukturiert und vage. Auch wenn dies möglicherweise
der Anspruch eines offenen, erfahrungsorientierten Lernens ist: Wie der An-
spruch der „Förderung der Person“ zum kompetenten Berater von anderen
Personen als den Autoren geleistet werden kann, bleibt ungeklärt. Adaptierbar
sind immerhin die Übungen, die Sander und Ziebertz angeben.
Pallasch hat einen in zehn Jahren trainingspraktischer Arbeit gewachsenen
Ansatz eines Pädagogischen Gesprächstrainings (PGT) konzipiert (Pallasch &
Harmsen 1995, S. 12). Das Konzept präsentiert sich trotz Orientierung an der
personzentrierten Beratung deutlich instrumenteller, strukturierter und metho-
denorientierter: Pallasch fokussiert eher auf beraterische Handlungskompetenz
als Sander und Ziebertz, das Wachstum der Person tritt in den Hintergrund, auch
wenn die Akzeptanz des Menschenbildes und der Grundhaltungen gefordert und
70 Theoretische Grundlagen
ungeklärt bleibt die Frage des verpflichtenden Charakters beruflicher Praxis für
das Training.
Weisbach hat ein tutorielles, generatives Ausbildungsdesign konzipiert, das
von 1980 bis 1996 im Studium der Psychologie und Pädagogik an den Universi-
täten Hohenheim und Tübingen in der Beratungsausbildung Verwendung fand
(Weisbach 1982, 1990, 1992a, 1992b). Es wird heute nicht mehr angeboten, da
es allgemeinen Sparzwängen an den beiden Hochschulen zum Opfer fiel (münd-
liche Auskunft des Autors). Der viersemestrige Zyklus ermöglichte Studierenden
eine Intensivausbildung zu klientenzentrierter Gesprächsführung und Beratung
und gleichzeitig zur Leitung von Ausbildungsgruppen in klientenzentrierter
Beratung. Die Zielgruppe waren Studierende der Pädagogik und Psychologie.
Der Zyklus beinhaltete eine als Intensivkurs in den Semesterferien angelegte 80-
stündige Kompaktveranstaltung in klientenzentrierter Beratung, eine darauf
aufbauende Ausbildung zum Tutor und wiederum darauf aufbauend einen dritten
Kurs zur Instruktion der Tutoren. Der erste Teil zu den Basiskompetenzen in
klientenzentrierter Beratung wurde als Gruppentraining gestaltet, das maximal
36 Studierende in sechs Trainingsgruppen gliederte. In diesen arbeitete ein Tutor
mit den Lernenden an kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Bera-
tungskompetenzen. Folgende methodisch-didaktische Elemente wurden genutzt:
Theorieinputs zur Ausbildung des nötigen Fachwissens, Diskriminationsübungen
zur Wahrnehmung von Mikrostrukturen in Beratungssequenzen, Skills Training
mit beraterischen Techniken zum Training isolierter Techniken, Microteaching/
Microcounseling zu authentischen Beratungsanliegen von Mitstudierenden,
Videoaufzeichnungen mit Feedback und selbsterfahrungs- und reflexionsorien-
tierte Elemente zur Einstellungsbildung. Die Größe der Trainingsgruppen wurde
auf 6 Teilnehmer beschränkt, die Trainingsziele waren den Teilnehmern überlas-
sen. Eine höchstmögliche Transparenz der Lernmöglichkeiten wurde ebenso
angestrebt wie die Möglichkeit einer Selbstüberprüfung der Lernfortschritte
(Weisbach 1992a, S. 116f.). Der Bedeutung sozialen Modelllernens versuchte
man Rechnung zu tragen: Auf die Übereinstimmung von persönlicher Philoso-
phie und Handeln im Training wurde besonderer Wert gelegt, ein Grund für die
aufwendige Ausbildung der Tutoren und Trainer in den folgenden Stufen des
Ausbildungsdesigns. Weisbach berichtet, dass sich dieses tutorielle Konzept in
der Evaluation als erheblich erfolgreicher erwies als nicht tutoriell begleitete, auf
Selbsttraining angewiesene Kleingruppen (Weisbach 1985).
Die bisher beschriebenen Ausbildungskonzepte verstehen sich entweder ex-
plizit als Trainings oder als persönlichkeits- und erfahrungsorientierte Ausbil-
dungsmodelle. Sie lassen sich weitgehend in der Tradition psychotherapeutischer
Ansätze verorten: Verhaltens-, Gesprächs-, Psychodrama- oder systemische
Psychotherapie generieren dabei sowohl die Inhalte als auch die Leitlinien zur
72 Theoretische Grundlagen
Reaktion ein. Das Programm stellt im nächsten Schritt (4) mehrere alternative
Verhaltensmöglichkeiten des Protagonisten zur Verfügung, die die Studierenden
mit einer Aufgabenstellung beobachten. Anschließend (5) geben die Studieren-
den eine Situationsbeurteilung zu einer bestimmten Fragestellung ab (Passung
der Verhaltensoption zu einem theoretischen Modell, zur Person der Studieren-
den, zu den Anforderungen der Situation), darauf erfolgt ein differenziertes
Expertenfeedback der Autoren zu den Aufgaben und Antworten. Im letzten
Schritt (6) fordert eine weiterführende Reflexionsaufgabe z.B. zu einer weiteren
Optimierung des Verhaltens, einem theoretischen Bezug oder einer Integration
der Reaktion in ein persönlich stimmiges Verhaltensgesamt („inneres Team“)
auf. Rogmann und Redlich bewerten diese Form von Aufgaben und Feedback
höher als z.B. die bei Henninger (2003), der auf vorgegebene Arbeitsregeln
definierte Rückmeldungen gibt. Die Verarbeitung von „dosierten Diskrepanzen“
und die Integration neuer Wissensbestände und Handlungsmuster in das eigene
Selbstbild sei günstiger, meinen die Autoren (Rogmann & Redlich 2007, S. 383).
– Ein Selbsttest, der vor die Präsenzphase geschaltet wird, gibt den Studieren-
den die Möglichkeit zu überprüfen, ob sie die Voraussetzungen für das Prä-
senztraining mitbringen.
– Das Präsenztraining findet in Gruppen von je zehn Personen mit zwei
Tutoren statt. Auf theoretische Einführungen wird verzichtet, um mehr Zeit
für Übungen und Reflexion zu erhalten. Es wird mit standardisierten Übun-
gen und Fallsituationen aus dem eigenen Alltag gearbeitet. Videoaufnahmen
ermöglichen objektiviertes Feedback und Videoprotokolle, die modellhaftes
Handeln sichtbar machen.
– In der Nachbereitung des Präsenztrainings mit Auswertungsvorgaben
reflektieren die Studierenden günstige und ungünstige Verhaltensmuster und
ihre persönlichen Lernprozesse. Sie starten auch ein persönliches Entwick-
lungsprojekt, wobei ihnen die Einrichtung einer Lernpartnerschaft hierzu
freigestellt ist.
– Der Nachtest und Leistungsnachweis erfolgt in einem portfolioähnlichen
Dokument, es können auch Tests oder fähigkeitsorientierte „Performance
Assessments“ erfolgen.
rung anbietet. Da es der hier benutzten Lernumgebung sehr ähnlich ist, wird auf
die Darstellung verzichtet. Die Grundprinzipien der Lernumgebung nach Wahl
(Wahl 2005; Wahl et al. 1995), mit der in dieser Studie gearbeitet wurde, ist in
Kapitel 2.3.3 beschrieben, ihre Adaption für die Intervention in Kapitel 4.4.
Seminare gibt sie mit zwei bis vier Seminartagen mit einem bis zwei Tagen
Nachfolgeveranstaltung an (Wagner-Link 1998, S. 48). Für Kurse setzt sie ein
bis zwei Wochenenden oder sechs bis zwölf Abende pro Verhaltensbereich ein.
Als Materialien sind ein übliches Set an Moderations- und Präsentationsmitteln
für Erwachsenenbildung plus Videoausrüstung Standard (Wagner-Link 1998,
S. 48). Für eine Anwendung des Trainings nach Wagner-Link wären in hoch-
schulischen Curricula hohe personelle, räumliche und finanzielle Ressourcen
erforderlich. Weiter ist das Training auch zeitlich sehr ressourcenintensiv, für ein
Kommunikationstraining z.B. in einem dreijährigen Bachelor-Studium können
kaum derart hohe Zeitressourcen reserviert werden. Zum Vergleich: Für das in
dieser Arbeit untersuchte Modul „Kommunikation und Gesprächsführung“
standen innerhalb eines Jahres 60 Lektionen Kontaktunterricht zur Verfügung.
durch den Wechsel von Präsenzphasen und Praxis als auch die Präsenzphasen
durch den Wechsel von instruktionalen und aneignungsorientierten Lehr-Lern-
Methoden konsequent strukturiert. In der Übersicht lässt sich die Lernumgebung
folgendermaßen darstellen:
Der Lernumgebung liegen neben anderen Prinzipien der Lern- und Handlungs-
psychologie vier Eigenschaften wirkungsvoller Trainings zugrunde: schrittwei-
ses Verdichten des Gelernten, Flankieren des Lernprozesses durch Schutzschil-
de, zunehmende Individualisierung des Lernprozesses und Umstrukturierung erst
des Planungs- und anschließend des Interaktionshandelns (Wahl et al. 1995,
S. 72). Für das Kommunikations- und Gesprächstraining kann noch ein fünftes,
wesentliches Prinzip vorangestellt werden, das besonders für stark habitualisierte
Handlungsmuster von Bedeutung ist: Das Bearbeitbar machen von handlungslei-
tenden Strukturen – in der systemischen Therapie als „Verstörung“ (Schlippe &
Schweitzer 2002, S. 123f.) und bei Lewin mit „unfreeze“ (Lück & Lewin 2001)
80 Theoretische Grundlagen
Abb. 8: Neues Handeln in Gang bringen in fünf Schritten (Wahl 2005, S. 221; Widulle
2009, S. 144).
3.1 Forschungsfragen
1. Wie wirkt sich allgemein die zweisemestrige auf der Basis der Lehr-Lern-
Konzepte nach Wahl (2005) gestaltete Lernumgebung „Kommunikation und
Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit“ auf das kommunikative Handeln (vgl.
Operationalisierung von Kommunikations- bzw. Lernerfolg in Kapitel 3.2) von
Studierenden im Vollzeitstudium in Sozialer Arbeit aus?
3. Welcher Lernerfolg kann auf der Basis der unter 2. aufgeführten Variablenbe-
reiche qualitativ rekonstruiert werden? Lernerfolg wird hier als Kommunikati-
onserfolg und als konstruktive Modifikation von Handlungsmustern, begleiten-
den Kognitionen und Emotionen sowie als gestiegene Wissensnutzung beim
Handeln festgelegt und aus den oben genannten Variablenbereichen rekonstru-
iert.
4.1 Alter: Es wird angenommen, dass nicht das biologische Alter, aber die
vielfältigen Arbeits- und Lebenserfahrungen entlang der Ontogenese einen
günstigen Effekt auf die Entwicklung kommunikativer Kompetenzen ausüben.
Deshalb wird ein Trend zugunsten der eher älteren Versuchspersonen (26 bis 37
Jahre) erwartet. Dieser Effekt wird als eher klein angenommen, da der absolute
Unterschied in Jahren (21–23 Jahre vs. 26–37 Jahre) im Vergleich zu Personen
aus dem mittleren Erwachsenenalter gering ausfällt.
4.2 Schulische und berufliche Bildung: Es wird angenommen, dass vielfältige
berufliche und ausbildungsbezogene Erfahrungen (z.B. Lehre und Berufsmatura)
einen positiven Effekt auf den Lernerfolg haben und dass die Tendenzen zum
Lernerfolg zugunsten dieser Studierendengruppe ausfallen.
4.3 Praxiserfahrung: Es wird angenommen, dass eine größere Praxiserfahrung
durch genügend lange Vorpraktika (mehr als sechs Monate) oder entsprechende
Berufstätigkeit einen positiven Einfluss hat und dass die Trends zugunsten
praxiserfahrenerer Studierender ausfallen.
4.4 Geschlecht: Es wird angenommen, dass die männlichen und weiblichen
Versuchspersonen gleichermaßen positive Entwicklungstrends zeigen.
4.5 Orientierungsstil: Es wird angenommen, dass gewissheitsorientierte Stu-
dierende in ähnlichem Ausmaß profitieren wie ungewissheitsorientierte.
Bewertet werden diese Dimensionen nur bezogen auf das schnelle kommunikati-
ve Handeln in den bedeutsamen Episoden. Die einfacher zu modifizierenden
Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite, die als kognitive Landkarten von
Gesprächen oder Gesprächsstrategien in den subjektiven Wissensstrukturen der
Versuchspersonen existieren, sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Die
Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite haben einen deutlich geringeren
Einfluss auf das konkrete Handeln als die geringer Reichweite, insbesondere in
Situation, die sofortiges Handeln verlangen. Hierzu gehören die eingesetzten
Untersuchungssituationen. In dieser Untersuchung interessieren die Subjektiven
Theorien, die einen maximalen Effekt auf das konkrete Handeln haben. Die
Auswertung des Kompetenzzuwachses folgt so einem einerseits breiten, anderer-
seits engen Verständnis von Lernerfolg: Lernerfolg wird eng gefasst, weil das in
Kommunikationstrainings am schwersten zu verändernde schnelle kommunika-
tive Handeln fokussiert wird. Innerhalb der Subjektiven Theorien geringer
Reichweite wird es weit gefasst, weil nicht ausschließlich die Wirkung der
Kommunikation bei den Adressaten bewertet wird, sondern auch die an seiner
Entstehung beteiligten handlungsbezogenen Kategorien.
4 Forschungsdesign
Die vorliegende Untersuchung ist als qualitativ orientierte Interventionsstudie
auf der Basis des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben et al.
1988) angelegt. Sie bewegt sich zwischen pädagogischer Praxis- und erzie-
hungswissenschaftlicher Forschung und nutzt zur Erkenntnisgewinnung bewusst
das „Spannungsfeld von individualisierend-kasuistischen und generalisierend-
strukturbildenden Denkfiguren“ (Prengel 2003, S. 602). Die Untersuchung legt
Wert auf ökologische Validität im Untersuchungssetting und bietet den Ver-
suchspersonen, soweit arrangierbar, möglichst realitätsnahe Handlungsbedin-
gungen. Die teilnehmenden Studierenden werden, dem Menschenbild des FST
entsprechend, als prinzipiell gleichberechtigte Forschungspartnerinnen und -
partner betrachtet. Dies findet in der Transparenz von Forschungsanliegen und -
methoden, dem Verzicht auf verdeckte Ziele oder Strategien und im Aspekt der
kommunikativen Validierung (Lechler 1994, S. 243ff.) seinen Niederschlag.
Prozessverlauf Untersuchungsdesign
Vorbereitung der Untersuchung Entwicklung Fallszenarien und Rollenspielset
Planung Untersuchung / Lernumgebung Fallkonstruktion 2 Fälle (Erziehung + Beratung)
Vorbereitung Kooperation Hochschule Drehbuch und Regieanweisungen für Klientinnen
Suche Praxisorganisationen Fallinformationen für Versuchspersonen
Rekrutierung Versuchspersonen Räumliches Setting (ökologisch valider Kontext)
Ungelenkte
Videoauf- Introspektion UI
Stimulated
zeichnung Strukturierter
Recall
Dialog STD
Intervention 2 Studiensemester
Auswertung Ergebnisse
Rekonstruktion kommunikatives Handeln und subjektive
Theorien (Innen-Aussensicht)
– Tabellenanalyse Veränderungen overall
Schreibprozess
– Interpretation starke Tendenzen overall
– Implikantenanalyse zum Lernerfolg in AQUAD
– Einzelfallanalysen
– Qualitative Diskussion der Ergebnisse
Die Sicherung der Kooperation der Hochschule war essenziell für das Projekt.
Um diese Zustimmung zu erreichen, wurden Absprachen zur Rollentrennung des
Autors als Forscher und lehrender Dozent mit Beurteilungsfunktion getroffen.
Weiter konnten organisatorische Fragen und solche des Daten- und Persönlich-
keitsschutzes erfolgreich geklärt werden. Die Hochschule bewilligte daraufhin
das Projekt.
Ein Informationsschreiben des Autors und ein Begleitschreiben der Hoch-
schule machte die 57 Studierenden des Studienjahrgangs 2004–2008 vor Studi-
enbeginn auf das Forschungsprojekt aufmerksam (vgl. Anhang). In der obligato-
rischen Einführungswoche zum Studium vor Semesterbeginn wurde das For-
schungsprojekt in einer Informationsveranstaltung präsentiert. Durch diese
Bemühungen konnten 12 Studierende für das Forschungsprojekt gewonnen
werden.
Eher technische Aspekte der Vorbereitung betrafen das Interview- und Vi-
deosetting und die dazugehörende Aufnahmetechnik. Bei den Erhebungen
wurden mit einer Digitalkamera sowohl die Rollenspiele als auch die Interviews
aufgezeichnet (vgl. Kapitel 4.3).
Die Rollenspiele sollten unter möglichst realitätsnahen Bedingungen durch-
geführt werden, was nahe legte, für die Durchführung Praxisinstitutionen der
Sozialen Arbeit zu wählen, statt die nüchternen und wenig anregenden Hoch-
schulräume zu benützen. Für die Erhebungen wurden zwei Praxisinstitutionen
gewonnen. Eine Fachstelle für Pflegeplatzierungen im Kinder- und Jugendbe-
reich und ein sozialpädagogisches Jugendheim stellten ihre Räume und fachliche
Kooperation zur Verfügung. Die Rollenspiele und Interviews wurden in einem
Büro der Fachstelle und den Wohn- und Büroräumen des Jugendheims durchge-
führt. Die Rollenspielsituationen wurden in Kooperation mit den Fachkräften der
Institutionen typischen Problemstellungen dieser Praxisfelder entnommen. Die
Institutionen stellten sich selbst beim Informationsanlass vor, und die Versuchs-
personen wurden in Konzept und Arbeit der Institutionen eingeführt.
Unter dem Aspekt der ökologischen Validität schien es für die Rollenspiele
sinnvoll, nicht mit weiteren Studierenden, wie im Unterricht bei Rollenspielen
üblich, sondern mit Simulationsklientinnen zu arbeiten. Hierfür wurde eine
Schauspielerin und Theaterpädagogin engagiert, die die Klientin in der Bera-
tungssituation spielte, sowie zwei im Laientheater erfahrene Klientinnen des
sozialpädagogischen Jugendheims, in dem der sozialpädagogische Teil der
Erhebung durchgeführt wurde. Sie arbeiteten in der Erhebung als Rollenspiel-
partner, wie dies ähnlich in medizinischen Reformstudiengängen, der Ausbil-
dung zur Ergotherapie oder in Pflegeausbildungen seit einigen Jahren gängig ist
(Breucker 1995; Schäfer et al. 2007; Schultz et al. 2007; Wündrich et al. 2008).
Rahmenbedingungen und Vorbereitung der Untersuchung 93
Die Jugendlichen wurden durch den Autor und die Theaterpädagogin zur Fallsi-
tuation und zum Klientenverhalten trainiert.
Die organisatorischen Vorbereitungen zur Erhebung bestanden in der Set-
zung der Erhebungstermine, der Einrichtung der Räume, dem Bereitstellen der
Aufnahmetechnik und in der Vorbereitung von Simulationsklientinnen und
Versuchspersonen. Dabei wurde der Daten- und Personenschutz beachtet, die
Angehörigen der Jugendheimklientinnen wurden um ihr Einverständnis gebeten
und der Schutz der Videodaten zugesichert.
Die Konstruktion der Fallgeschichten und Rollenspielszenarien stellte ein
Schlüsselelement der Untersuchung dar (vgl. Kapitel 4.3). Die Geschichten
wurden von echten Klientenfällen, die von den kooperierenden Praxisinstitutio-
nen zur Verfügung gestellt wurden, abgeleitet und so verändert, dass sie sowohl
für Studienanfänger angemessene als auch für das Praxisfeld typische Ge-
sprächsanforderungen bereitstellten. Die Fallgeschichte bestand aus zwei Teilen,
einem für die Studierenden und einem für die Simulationsklientinnen. Der erste
Teil enthielt die Informationen zur Klientin und Personendaten, Angaben zu
ihrer persönlichen und sozialen Situation und Problemlage, zur Inanspruchnahme
der Hilfe durch die soziale Institution, außerdem die nähere Vorgeschichte und
den Hilfeverlauf bis zum Zeitpunkt des Rollenspiels. Der zweite Teil der Fall-
konstruktion, die Regieanweisung, wurde den Versuchspersonen vorenthalten,
um die Reaktionszeiten wie bei der Methode Szene-Stopp-Reaktion (Wahl 2005,
S. 224) möglichst an die Bedingungen realen Handelns anzugleichen. Sie bezog
sich auf Ereignisse, die, wie in der Begleitungs- und Betreuungsarbeit realistisch,
seit dem letzten Gespräch (im Zeitraum einiger Tage oder einer Woche), genauer
seit der letzten Begegnung stattfanden – also Informationen, wie sie auch Prakti-
ker der Sozialen Arbeit in Realsituationen erst im Betreuungs- und Beratungsge-
spräch erfahren. Diese Ereignisse wurden als Teil des Drehbuchs für die Simula-
tionsklientinnen gefasst und in Verhaltensanweisungen umgesetzt.
Instruktion und Training der Simulationsklientinnen wurden in zwei Vortref-
fen durchgeführt. Die Simulationsklientinnen wurden in die Fallgeschichte
eingeführt und für die Rollenspiele trainiert. Die Einführung beinhaltete eine
ausführliche Besprechung der Fallgeschichte, spielbedeutsame Konkretisierun-
gen von Klienteneigenschaften, Informationen aus dem Fall und Verhaltensmus-
ter, Verhaltensanweisungen für mögliche Varianten von Rollenspielverläufen,
darunter auch Verhaltensanweisungen für unerwartete oder Extremsituationen.
Die Rollenspiele wurden mit den Simulationsklientinnen geübt und
videografiert, die Verhaltensanweisungen wurden optimiert.
An einem Vortreffen wurden die Studierenden zur ersten Erhebung infor-
miert, dokumentiert und instruiert. Damit die Probanden die Simulationsklien-
tinnen bereits einmal kennen gelernt hatten, stellten diese sich bei dem Anlass
94 Forschungsdesign
vor. Die Studierenden erhielten Anweisungen und einen Auftrag für die Rollen-
spiele, so z.B., sich auf das Beratungsgespräch vorzubereiten, wie sie das,
gemessen am Stand ihrer momentanen Fähigkeiten, tun würden. In die Rollen-
spielsituation im Jugendheim sollten sie hingegen spontan und ohne Gesprächs-
vorbereitung hineingehen, da eine solche Situation auch in der Praxis nicht
vorbereitet werden kann, sondern im Alltagsgespräch gemeistert wird. In den
schriftlichen Informationen wie auch in der mündlichen Vorbesprechung wurden
die Studierenden auf die strikte Trennung von Forschungsprojekt und den
leistungsbezogenen Aspekten des Unterrichts hingewiesen.
Die Merkmale der Stichprobe interessieren vor dem Hintergrund der Einführung
der Fachhochschulen in der Schweiz 1995 und der Bolognareform. Alter, Ge-
schlecht, schulische Bildung und Praktikumserfahrung der Studierenden verän-
derten sich seit Einführung der Fachhochschulen für Soziale Arbeit in der
Schweiz gravierend. Die Verjüngung und Verweiblichung, der Anstieg der
schulischen Bildungsvoraussetzungen und der Mangel an Erfahrungen durch
Vorpraktika im Sozialbereich sind die Haupttrends bei den Studierendenpopula-
tionen seit Einführung der Fachhochschulen und der Reform zu
Bolognastudiengängen. Die Forschungsteilnehmer wurden daher in einem
zielorientierten („purposive“) Sampling (Patton 1990) ausgewählt und nach den
interessierenden Merkmalen in maximaler Kontrastierung gesplittet. Die Katego-
rien zu diesen Merkmalen wurden in AQUAD 6 (Huber & Gürtler 2003) so
codiert, dass sie später als sog. „Profilcodes“ der Versuchspersonen verwendet
werden konnten. Die Kategorien stellen die Voraussetzung für die Durchführung
der Matrizenanalysen (Miles & Huberman 1994) dar, mit der die Bedingungs-
konfigurationen von Lernerfolg ermittelt werden. Die folgende Beschreibung
Stichprobe und Dichotomisierung der Profilcodes 95
tuationen. Die korrekte Wiedergabe von deklarativem Wissen trug nur in gerin-
gem Umfang zur Note bei.
Die Intervention in der vorliegenden Untersuchung fand also im Rahmen ei-
nes Pflichtmoduls statt. Der Modulbesuch im ersten und zweiten Semester ist im
Studienverlauf gesetzt, die Teilnahme beruht nicht auf Freiwilligkeit. Anwesen-
heitspflicht im Unterricht und zwei Leistungsnachweise für die beiden Teile des
Moduls sind weitere Bedingungen. Der Studiengang setzt dabei auch inhaltliche
Themen, wobei die Stofffülle im Modul groß ist und die Zeitressourcen begrenzt
sind. Die geforderte Auseinandersetzung mit der eigenen Person ist aufgrund
dieser Ausgangsvoraussetzungen nicht von allen Studierenden in gleichem Maß
zu erwarten. Um eine wertschätzende und persönliche Lernprozesse fördernde
Unterrichtsatmosphäre und ein Origin-Lernklima (deCharms 1979) zu erzeugen,
wurden die Anregungen von Wahl (Wahl 2001b) beachtet und vielfältige An-
strengungen unternommen:
– Akzeptanz der Person durch Du-Kultur, Kenntnis aller Namen der Studie-
renden durch den Dozenten, nichtfrontale Sitzordnung im Modulraum, Be-
mühen um Wärme, Verständnis und Echtheit seitens des Dozenten,
– Transparenz durch Klarheit der Abläufe (Modulprogramm, Tagesprogram-
me), Klarheit der Inhalte (Arbeit mit Skript, Advance Organizern und klar
strukturierter Lernplattform) und Klarheit der Anforderungen (Rahmenbe-
dingungen, Informationen zum Leistungsnachweis),
– Eingehen auf Erwartungen und Interessen durch Arbeitsbündnis und Erwar-
tungsklärung am Anfang des Moduls, durch regelmäßige Zwischenevaluati-
on und Blitzlichter, durch Wahlmöglichkeiten im Unterricht,
– Einbringen von Nichtwissen durch Kontakt der KOPING-Gruppen, Tan-
dems und Dozenten sowie Fragerunden mit vorangehenden Murmelrunden,
– Wahl der Lernwege durch Wahlangebote in den Kontaktlektionen,
– persönlicher Lernzuwachs durch persönliches Feedback des Dozenten auf
Leistungsnachweise und Anfragen aus KOPING-Gruppen sowie bei Rollen-
spielen, soweit bei der Größe der Lerngruppe möglich,
– Selbstwirksamkeit des Erlebens durch hohe Teilnehmeraktivität in Klein-
gruppen, durch Sonderrollen im Training wie in der CBA-Technik (Heckt et
al. 2006b, S. 55) von Klient, Protagonist und Beobachter bei Rollenspielen,
– kollegiale Unterstützung in kleinen Netzen (Social Support) durch Einrich-
tung von KOPING-Gruppen und Tandems,
– geschütztes Setting für persönlichkeitsnahes Lernen durch kleine Gruppen,
Verzicht auf Großgruppeninszenierungen oder gruppendynamische Übun-
gen im Plenum,
102 Forschungsdesign
1
Der SPIEGEL beschreibt im Rahmen eines Artikels über Integrationsprobleme von Migranten in
Berlin eine dramatische Situation in Berlin-Neukölln: Ein erfahrener Sozialarbeiter klingelt bei einer
arabischen Familie, weil er mit dem Vater über das ständige Verprügeln der Tochter reden und den
Mann über die Rechte des Mädchens aufklären will. Schnell kommt es zum Streit. Der Vater bedroht
den Sozialarbeiter, und weil dieser einen biblischen Namen hat, beschimpft er ihn als „Du Judensau“.
Seinem Sohn befiehlt er „Schnapp ihn dir!“ Der Mann vom Amt rennt um sein Leben, die
Hermannstrasse entlang, hinter ihm ein wütender Verfolger mit dem gezückten Messer in der Hand.
Er rennt so lange, bis die Strasse wieder belebter ist. Erst dann fühlt er sich wieder sicher. Schockiert
lässt er sich in den Tagen darauf von seinen bisherigen Aufgaben entbinden (Berg et al. 2009, S. 35).
Lehrveranstaltung und Lernumgebung 103
4.4 Erhebung 1
Die erste Erhebung wurde im Oktober 2004 vor und bei Semesterbeginn durch-
geführt, um Lerneffekte aus dem Modul zu minimieren. Angesichts der Langfris-
tigkeit der Veränderung von Handlungsmustern und auch nach Aussagen der
Versuchspersonen spielte der beginnende Unterricht für die erste Erhebung keine
Rolle. Die Studierenden bekamen einige Tage vor der Erhebung die Fallge-
schichte zugeschickt. Sie wurden gebeten, sich untereinander nicht auszutau-
schen, um diesbezügliche Lern- und Veränderungseffekte auszuschließen. Die
Erhebungen fanden wie geplant und ohne Störungen in den beiden ausgewählten
Institutionen statt.
Die Erhebung selbst lief folgendermaßen ab: Die Versuchspersonen kannten
die Simulationsklientinnen bereits von einem Einführungstermin und stiegen
ohne vorherige Begrüßung (kein Gespräch neben der Klientenrolle) in die
Rollenspiele ein. Der Versuchsleiter verließ nach dem Start der Videoaufzeich-
nung und noch vor Beginn des Rollenspiels den Raum, um den sonst höheren
Handlungsdruck durch Live-Beobachtung zu vermeiden. Nach 10 Minuten
wurde das Rollenspiel unterbrochen. Die Studierenden hatten kurz Gelegenheit,
sich für das Interview zu sammeln, und sahen direkt nach dem Interview die
Videoaufzeichnung bis zu einer bedeutsamen Episode, zu der eine erste
ungelenkte Introspektion vorgenommen wurde. Diese wurde später als vierte
Episode dem Datenmaterial hinzugefügt. An die vollständige Sichtung der
Videoaufzeichnung zur Aktualisierung von Erleben und Handeln schloss sich der
Strukturierte Dialog an, der Fragen zum gesamten Gesprächsverlauf enthielt. Die
ungelenkte Introspektion wie auch der strukturierte Dialog wurden auf Video
aufgenommen und nach Abschluss der Erhebungen transkribiert. Zusätzlich
wurden beide Interviewteile durch eine kommunikative Validierung (Lechler
1994; Scheele & Groeben 1988) abgesichert. Nach jedem Interviewteil fasste der
Autor die mitnotierten Aussagen der Versuchspersonen zusammen, befragte sie
auf Ergänzungen oder Widersprüche und bemühte sich um einen Dialogkonsens
über die Aussagen der Versuchspersonen. Die Interviewnotizen dienten aus-
schließlich dem Zweck der kommunikativen Validierung. Für die Auswertung
der Interviews wurden die Originalaussagen der Versuchspersonen ins Hoch-
deutsche übersetzt und transkribiert. Die Ergänzungen aus den Abschnitten zur
kommunikativen Validierung wurden in die Transkripte eingefügt. Die folgende
Grafik zeigt die Struktur der Erhebung:
Erhebung 1 113
Zum Abschluss der Interviews erhielten die Versuchspersonen die CD-ROM mit
der Videoaufzeichnung des Rollenspiels. Zusätzlich wurde ihnen die Arbeitsan-
weisung zur WAL mitgegeben. Das Video wurde wie schon bei der ungelenkten
Introspektion als „Stimulated Recall“ (Wahl 1991, S. 76) zur Reaktivierung ihres
Erlebens und zur Episodenwahl benutzt. Aufzeichnungen und Abgabe der WAL
erfolgten plangemäß.
114 Forschungsdesign
4.5 Erhebung 2
Es gab während der Erhebungsphase keine Abbrüche von Versuchspersonen in
Studium oder Forschungsprojekt, sodass alle zwölf Versuchspersonen an der
zweiten Erhebung teilnahmen.
Struktur und Vorgehen der zweiten Erhebung waren dieselben wie bei Set 1. Die
Fallsituationen für die Rollenspiele der zweiten Erhebung waren identisch mit
denen der ersten Erhebung. Damit sollten identische Anforderungen an die
Kommunikation und Gesprächsführung der Versuchspersonen gesetzt werden.
Diese Anforderungen mit neuen Rollenspielszenarien etwa gleich hoch zu
halten, ist ähnlich fehlerbelastet, wie mit den gleichen Rollenspielen nochmals
zu arbeiten. Die Versuchspersonen wurden nach der ersten Erhebung gebeten,
mit den Rollenspielsituationen nicht weiter zu trainieren und sie auch sonst nicht
zu verwenden, um nicht zusätzliche Lerneffekte zu erzeugen: Einige Versuchs-
personen äußerten in den Interviews solche Lerneffekte bereits aus der ersten
Erhebung. Einige wenige bemerkten z.B. im Interview in Set 2, dass sie die
Erfahrungen aus den ersten Rollenspielen für das zweite Set benutzt, Verhaltens-
varianten gezielt ausprobiert hätten oder erfolgloses Verhalten nicht noch einmal
zeigen wollten. Auch nach einem Jahr waren einem Teil der Studierenden
bestimmte Episoden oder Schwierigkeiten im Gespräch deutlich vor Augen. Eine
Versuchsperson meinte zum Beratungsgespräch mit der Klientin „Frau Gabler“:
„Ich wollte ihr keine Vorwürfe machen, dass sie Joel eingeschlossen hat. Das
war letztes Jahr schon so, ich bin zu fest auf das eingestiegen, danach musste sie
sich dauernd verteidigen.“
Dennoch ist angesichts der Stabilität von Subjektiven Theorien geringer
Reichweite anzunehmen, dass die durch die Untersuchung induzierten Lernef-
fekte eher begrenzt gewesen sein dürften, weil für Lerneffekte andere Faktoren
maßgeblich sind als die einmalige Erfahrung aus dem Rollenspiel. Diese Stabili-
tät zeigen auch Wiederholungen von Handlungsmustern in Set 2 wie bspw. das
Festfahren der Diskussion um den Verdacht auf Simulieren der Jugendlichen.
Die zweite Erhebung wurde nach Semesterende ohne Beeinträchtigungen durch-
geführt, und das Material konnte nach Beendigung der Erhebung für die Auswer-
tung aufbereitet werden.
Die Auswertung der Ergebnisse wurde mit einer Matrizenanalyse (Miles &
Huberman 1994) der Ergebnishäufigkeiten über die ganze Stichprobe begonnen.
Daran schlossen sich weitere Matrizenanalysen an, bezogen auf die Merkmale
der Versuchspersonen und Handlungssituationen. Die Ergebnisse der Analysen
wurden anhand des Materials veranschaulicht und rekonstruiert, an Ankerbei-
spielen verdichtet und diskutiert. Durch Einzelfallanalysen und die Ermittlung
von Trends wurden die Ergebnisse konkretisiert. Schließlich wurden Schlussfol-
gerungen aus den Ergebnissen für den Lernerfolg einzelner Studierendengrup-
pen, für Lernumgebungen im Bereich Kommunikations- und Gesprächstrainings
und das Studium der Sozialen Arbeit gezogen, um die in Kapitel 3 ausformulier-
ten Forschungsfragen zu beantworten.
5 Forschungsmethodologie und -methodik
Im folgenden Kapitel werden die erkenntnistheoretischen und methodologischen
Grundlagen und die Forschungsmethodik der vorliegenden Untersuchung be-
schrieben und begründet. Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien, die
Basis der Untersuchung, wird hier nur in den für diese Arbeit relevanten Berei-
chen vorgestellt, da es im Kontext qualitativer Forschung hinreichend bekannt
und breit diskutiert ist. Weiter werden die Erhebungsmethoden, die bei der
computergestützten Analyse benutzten Instrumente und Auswertungsverfahren
expliziert.
Das FST ist auch anschlussfähig an zentrale Konzepte zum Handeln von Klien-
ten der Sozialen Arbeit. Beispielsweise könnte der Handlungsbegriff des FST
(Handeln, Tun, Verhalten, Motiv- und Überzeugungsrationalität) (Groeben et al.
1986) interessante Perspektiven für das Bewältigungsparadigma (Böhnisch 2001,
S. 1119; Böhnisch et al. 2005, S. 126) eröffnen. Böhnisch findet allerdings mit
seinem Begriff des Bewältigungshandelns in Lebenskrisen auch in abweichen-
dem Verhalten Sinnkonstruktionen und Formen von Handeln (und nicht Tun
oder Verhalten), was Groeben vom Geltungsbereich des FST wegen der fehlen-
den Mindestintegration von Kognition, Emotionen, Motiven und Agieren aus-
schließt (Groeben et al. 1988, S. 45ff.). So könnten sich auch Perspektiven zu
einer Öffnung des Geltungsbereichs des FST ergeben, auf die bereits Gürtler und
Lieb hingewiesen haben (Gürtler 2005, S. 63; Lieb 1995, S. 73). Warum im
klinischen Bereich wie im Bereich abweichenden Verhaltens das epistemologi-
sche Subjektmodell keine Geltung beanspruchen sollte, wie Groeben für das FST
konstatiert, wäre zu diskutieren.
Für das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit, das sich als reflexiv
(Dewe & Otto 2002, S. 187), dialogisch-kooperativ (von Spiegel 2002, S. 43ff.)
und wissensbasiert-rational (Heiner et al. 1998) beschreibt, stellt das FST mit
seinem Handlungsbegriff eine anschlussfähige Konzeption dar. Das Modell des
„Handelns unter Druck“ (Wahl 1991) könnte für die Handlungstheorie der
Sozialen Arbeit wertvolle Anregungen geben, zu denen bereits Bezüge existie-
ren, da z.B. Staub-Bernasconi, Heiner und von Spiegel (Heiner 2004; Heiner et
al. 1998; von Spiegel 2004; Staub-Bernasconi 2007) handlungstheoretische
Modelle aufnehmen. Die Notwendigkeit schnellen Handelns in der
Klientenarbeit und die Komplexität des Problemlösens angesichts der strukturel-
len Ungewissheiten von Problemfeldern und Handlungssituationen der Sozialen
Arbeit schaffen Gemeinsamkeiten, für die das Modell von Wahl zur Analyse und
Steuerung beruflichen Handelns wie zu dessen nachhaltiger Modifikation Theo-
rien und Verfahren bereithält, die in den Handlungstheorien der Sozialen Arbeit
bisher nicht in dieser Auflösung vorfindbar sind.
Das am Dialogkonsens und der regulativen Zielidee nichtverzerrender, herr-
schaftskritischer Kommunikation orientierte Wahrheitsverständnis im FST
(Groeben et al. 1988, S. 25ff.) ist sehr gut an das in der Sozialen Arbeit geteilte
Kommunikationsmodell von Koproduktion und dialogischer Verständigung
(Böhnisch et al. 2005, S. 123; von Spiegel 2004, S. 43ff.) anschlussfähig. Es
ermöglicht eine Selbstanwendung von Grundprinzipien professionellen Handelns
der Sozialen Arbeit im Forschungsprozess durch Partnerschaftlichkeit in der
Kooperation, Transparenz der Ziele und Methoden, Wertschätzung der Sichtwei-
sen der Versuchspersonen und kommunikative Validierung der Aussagen.
120 Forschungsmethodologie und -methodik
strukte von Kelly (1955) und Theoreme aus der Handlungs-, Kommunikations-,
Kognitions- und humanistischen Psychologie zum „epistemologischen Subjekt-
modell“ (EP-SM) (Groeben et al. 1988, S. 16). Mit ihm verbunden ist die An-
nahme einer Parallelität von Erkenntnisobjekten (EO) sozialwissenschaftlicher
und psychologischer Forschung und Erkenntnissubjekten (ES). Das Menschen-
bild fordert die prinzipielle Selbstanwendung der Merkmale, die Wissenschaftler
für sich beanspruchen, auch für die Objekte der Forschung, Forscher wie Be-
forschte seien als sprach- und kommunikationsfähig, reflexiv, (potenziell)
rational und handlungsfähig zu konzipieren (Groeben et al. 1986, S. 59). Abwei-
chungen von der Parallelitätsannahme und dem EP-SM, wie sie das FST für den
klinischen Bereich (z.B. Psychosen), für Verhaltensautomatismen (z.B. Reflexe
und Routinen) oder extremere Formen der Desintegration von Motiven, Emotio-
nen, Wissen und Handeln (z.B. Agieren in Panik) vorsieht, seien explizit zu
rechtfertigen (Groeben & Scheele 2010, S. 151; Groeben et al. 1988, S. 46f.).
Dies ist eine normative Setzung, wie sie auch im Menschenbild der humanisti-
schen Psychologie vorliegt (Rogers & Rosenberg 2005). Sie wird primär aus
moralischen Gründen getroffen, „weil es nicht gerechtfertigt ist, aus lediglich
methodologischen Zielsetzungen heraus dem EO grundlegend andere Merkmale,
insbesondere weniger Kompetenzen zuzuschreiben als dem ES“ (Groeben &
Scheele 2010, S. 151). Das Menschenbild des FST grenzt sich explizit gegen den
behavioristischen Ansatz und sein reduktionistisches Menschenbild ab, die den
Menschen primär als reaktiv konzipieren, ihn um höhere geistige Prozesse
reduzieren und damit kognitive Funktionen nicht erklären können (Groeben &
Scheele 2010, S. 151).
für das Individuum und von wissenschaftlichen Theorien für die Forschung –
beide dienten der Beschreibung, Erklärung, Prognose und Intervention zu Er-
kenntnis- oder Handlungsproblemen (Groeben & Scheele 2010, S. 153). Subjek-
tive Theorien werden in einer ersten weiteren Begriffsfassung definiert als
Abb. 13: Verhalten, Tun und Handeln, Motiv- und Wissensrationalität (Groeben 1988,
S. 77).
Für dieses Handeln unter Druck konzipiert Wahl ST geringer Reichweite als
handlungsleitende Strukturkomprimierungen, in denen Wissen in der Logik von
Situations- und Handlungsprototypen verdichtet und in komplexen Situationen
unter Druck zu blitzschnell abrufbarem Handeln modifiziert wird. Wesentlich
sind dabei aus dem Handlungsfluss herausragende bedeutsame Episoden, wie sie
in dieser Arbeit als Untersuchungseinheit fokussiert wurden. Das Modell ist für
kommunikatives Handeln, wie es in dieser Arbeit untersucht wird, überaus
gewinnbringend, da es als eines der wenigen Modelle (Kanning 2005) die
Handlungsregulation beim kommunikativen Handeln analysierbar macht (vgl.
auch Kapitel 2.1).
Voraussetzung für die Realisierung der Forschungsideale des FST ist eine
kommunikative Erhebungssituation, die die regulative Zielidee der „idealen
Sprechsituation“ nach Habermas (1973) verfolgt. Die Forschungspartner sollten
dabei willens und in der Lage sein, als gleichberechtigte Interaktionspartner zu
interagieren und ernsthaft an einer argumentativ erzielten Verständigung interes-
siert sein; Entscheidungen des Gegenübers sollten respektiert und nicht durch
diskursfremde Mittel beeinflusst werden, Auseinandersetzung und Überzeugung
müssen argumentativ erfolgen, und alle Akteure müssen sich darauf verpflichten,
gemäß ihrer Überzeugung und Einigung zu handeln (Groeben et al. 1986,
S. 179f.).
Das FST arbeitet mit einem bestimmten Set von Erhebungs- und Auswer-
tungstechniken. Es kann sich dabei um Beobachtungen von Handlungssituatio-
nen in ökologisch validen Umgebungen oder Simulationen handeln; meist folgen
Interviews, in denen die Subjektiven Theorien erhoben werden. Anschließend
werden sie durch aufwendige grafische Visualisierungen, so genannte Struktur-
legetechniken, zum Handeln der Forschungsteilnehmer rekonstruiert. Die gän-
gigsten Strukturlegeverfahren sind die Heidelberger Struktur-Lege-Technik
(Scheele & Groeben 1984), die in dieser Untersuchung verwendete Weingartener
126 Forschungsmethodologie und -methodik
Appraisal Legetechnik WAL (Wahl et al. 1983), die Interview- und Legetechnik
zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen ILKHA (Dann 1992; Krause
& Dann 1986) oder die Ziel-Mittel-Analyse ZMA (Scheele & Groeben 1988); es
kommen auch weitere Verfahren zum Einsatz (Scheele & Groeben 2010,
S. 511ff.).
5.2.4 Forschungsfelder
Das FST hat in einer Vielzahl von Forschungsfeldern der psychologischen
Grundlagenforschung (zur allgemeinen, Sozial-, Entwicklungs- und differenziel-
len Psychologie), in psychologischen Anwendungsfächern wie der pädagogi-
schen und klinischen Psychologie bis zu benachbarten Forschungsdisziplinen
wie der Fremdsprachenphilologie, den Wirtschaftswissenschaften oder der
Psychosomatik Anwendung gefunden (Groeben & Scheele 2010, S. 156). Das
bedeutsamste Forschungsfeld stellt dabei die pädagogisch-psychologische
Unterrichtsforschung dar (Groeben & Scheele 2010, S. 157). Übersichten zu den
Anwendungsfeldern des FST finden sich bei Groeben (Groeben & Scheele 2010,
S. 156ff.) bzw. Gürtler (2005, S. 60ff.). Im Weiteren wird nur auf für diese
Untersuchung bedeutsame Arbeiten eingegangen.
Das FST zeichnet sich durch einige praxisnahe und theoretisch begründete
Ansätze aus. Hierzu gehören insbesondere die Konzepte der kollegialen und
kooperativen Beratung nach Mutzeck (2008a, 2008b), Rotering-Steinberg (2005)
und Schlee (2004) oder die mittlerweile sehr verbreiteten Konzepte zum koope-
rativen Lernen (Huber 1999, 2007a; Schmidt 2001). Neueren Datums sind
Bemühungen um integrative Beratungsansätze, die psychosoziale Beratung aus
der Perspektive des FST konzipieren (Wagner 2004).
Für diese Arbeit besonders bedeutsam sind die Forschungs- und Entwick-
lungsarbeiten zu nachhaltigen Lernumgebungen von Wahl (Wahl 2005; Wahl et
al. 1995), die etliche weitere Untersuchungen zu innovativen Lernumgebungen
in der Berufsbildung (Schubiger 2009), EDV-Trainings (Gerbig & Gerbig-
Calcagni 1998), der Pflegedidaktik (Rosen 2010; Schwarz-Govaers 2005) und
weiteren Feldern hervorgebracht hat. Bedeutsam sind ebenfalls die Arbeiten zum
Transfer in pädagogischen Lehr-Lern-Prozessen (Mutzeck 1988) sowie Konzep-
te zum Lehrer- und Dozententraining (Humpert & Dann 2001; Mutzeck 1999b;
Pallasch et al. 2002; Tennstädt et al. 1995).
In der Sozialen Arbeit ist das FST nur mit sehr wenigen Forschungsarbeiten
vertreten, obwohl das qualitative Paradigma vorherrscht und zu lebenswelt- und
alltagsorientierten Perspektiven eine intensive Forschungstätigkeit existiert. Es
scheinen sich nur wenige Autoren mit dem FST auseinandergesetzt zu haben,
und besonders der am menschlichen Handeln orientierte Fokus des FST ist in der
Sozialen Arbeit mehr oder weniger unbekannt. Ansätze zur kooperativen Bera-
Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien 127
tung haben in der Sozialen Arbeit hingegen eine breite Rezeption erfahren.
Kooperative Beratung hat sich als Arbeitsmethode in sozialarbeiterischen und
sozialpädagogischen Teams fest etabliert. Es existieren einige Arbeiten aus dem
FST zur Beratungspsychologie (Kühnl 2000; Pallasch et al. 2002; Riedel 2003;
Schlee & Goll 2001; Vicini 1993; Wagner 2004), die für die Soziale Arbeit
relevant sind. Einige weitere Arbeiten liegen vor zu Subjektiven Theorien von
Heimerziehern (Müller 2006; Niemeyer 1986), zu subjektiven Erziehungstheo-
rien (Gröller 1994) oder zu Selbstkonzepten Jugendlicher (Marsal 1995), zur
Gesprächsführung (Lehmann 1995), zu autistischen Menschen (Krech 1996)
oder zur Bewältigung von Vergewaltigungserfahrungen (Heynen 2000) sowie
zur Erziehungs- und Förderplanung (Mutzeck 2000a; Schlee 2000b).
5.3 Erhebungsinstrumente
5.3.1 Fallkonstruktion und Fallsituationen für die Erhebung
Fallbezogenes Denken und Handeln und die dafür nötigen Fähigkeiten des
Fallverstehens sind wesentliche Voraussetzungen einer reflexiv verstandenen
Professionalität von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Sie bilden den Kern
der Logik klientenbezogenen professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit
(Dewe & Otto 1984, S. 1400). Reflexive Professionalität bewegt sich stets im
Spannungsfeld von allgemeiner Wissensapplikation und Fallverstehen. Die
Expertise von Fachkräften realisiert sich dann situativ in der Bearbeitung des
„Falles“ in diesem Spannungsfeld (Dewe & Otto 2001, S. 1400). Der Fallbegriff
in der Sozialen Arbeit ist wie viele andere Kernbegriffe vielfältig besetzt
(Kraimer 2000; Müller 1993a). Er kann als klinischer Einzelfall im Rahmen von
Case Work oder klinischer Sozialarbeit, als sozialwissenschaftlich-
rekonstruktiver Fall (in der qualitativ-rekonstruktiven Forschung) (Dewe & Otto
2001, S. 1413) oder als in einem „kasuistischen Raum“ (Team, Supervision oder
Fallberatung) zum Fall gewordene Geschichte von Personen oder Ereignissen
(multiperspektivische Fallarbeit) interpretiert werden (Müller 2006, S. 34).
Die Curricula in Sozialer Arbeit nehmen diese berufliche Anforderung auf. In
einer großen Vielfalt methodischer Lehr-Lern-Arrangements wird an Fällen
gelehrt und gelernt: Problem-based Learning, Fallstudien und Fallrekonstruktio-
nen, Training an Fallgeschichten, Fallsupervision, Praxisberatung oder Fallwerk-
stätten im Praktikum arbeiten zum Beispiel kasuistisch. Die Arbeit mit Fällen hat
unterschiedliche didaktische Funktionen: Fälle dienen zur Veranschaulichung
von Theorien, zur Erarbeitung von Fachwissen, zur Übung von Problemlösever-
fahren oder Methoden (Widulle 2009, S. 126f.) oder für praxisnahe, fallbasierte
Prüfungen (Widulle 2009, S. 139f.). Auch die vorliegende Lehrveranstaltung
arbeitete mit einer Vielzahl von Fällen zu typischen Problemsituationen oder
Gesprächstypen (Widulle 2011). Sie stammen aus der beruflichen Praxis des
128 Forschungsmethodologie und -methodik
„Ich bin nicht mit dem Anspruch ins Gespräch, schon weiß nicht was zu
können. Ich habe den Fall gelesen, war aber nicht in der Lage, mir groß
einen Plan zurechtzulegen, weil ich nicht wusste, wo ansetzen, weil ich
noch gar nicht die Fähigkeiten dazu habe. Ich bin mit dem Gedanken ge-
kommen, du musst/kannst nicht alles wissen, es war nicht der Anspruch –
in einem Jahr ist das anders, da erwarte ich dann anderes von mir, jetzt
ist das noch entschuldbar.“
Erhebungsinstrumente 129
Diese Aussage war insofern erwartbar, als den Versuchspersonen in der Instruk-
tion zur Erhebung mitgeteilt wurde, dass es im Rollenspiel nicht darum ginge,
über den momentanen Wissens- und Fähigkeitsstand hinaus außergewöhnliche
Anstrengungen zur Bewältigung zu machen. Die Versuchspersonen sollten sich
so einbringen, wie es ihrem aktuellen Können und Wissen entsprach.
Für die vorliegende Untersuchung wurden zwei Fallsituationen aus unterschied-
lichen Feldern der Sozialen Arbeit gewählt, da die große Heterogenität der
Praxisfelder auch entsprechend divergente Anforderungen an die psychosoziale
Arbeit mit sich bringt. Die Fallsituationen, die Gründe für deren Auswahl, die
Anforderungen und Rahmenbedingungen werden im Folgenden vorgestellt. Die
Originalfallbeschreibungen, die den Versuchspersonen und den Simulationskli-
entinnen abgegeben wurden, finden sich im Anhang.
Frau Gabler, Jg. 1967, ist 37-jährig und geschieden. Sie hat eine Ausbil-
dung als musikalische Früherzieherin und arbeitete bis 25 in ihrem Beruf.
Nach der Heirat 1991 blieb sie zu Hause als Mutter und Hausfrau. Sie
wurde Mutter von drei Kindern: Isa, heute 11, Noemi, 9, und Joel, 6.
Kurz nach der Geburt von Joel trennte sie sich von ihrem Mann: Er war
schon längere Zeit arbeitslos und hatte Alkoholprobleme, die Ehe war
konflikthaft und die Beziehung litt massiv unter Spannungen. Der Ex-
Mann hat keinen Kontakt mehr, weder zu ihr noch zu den Kindern. Sie
130 Forschungsmethodologie und -methodik
Das Gespräch findet nach einem Wochenende statt, an dem Joel wieder bei Frau
Gabler war. Diese kommt nach dem Wochenende zum Beratungsgespräch in die
Fachstelle. Über die aktuellen Entwicklungen, die Vorkommnisse vom letzten
Wochenende, weiß die Versuchsperson nichts, wie das auch im beraterischen
Alltag häufig der Fall ist. Frau Gabler bringt den Bericht über die letzten Ereig-
Erhebungsinstrumente 131
nisse ins Beratungsgespräch mit. Es geht darum zu besprechen, wie es mit Joel
am letzten Wochenende ging, wie die Wochenenden künftig gestaltet werden
sollen und wie der Kontakt weitergeführt werden soll, vielleicht auch um die
Frage, wie es ihr selbst geht. Die Situation am letzten Wochenende ist nun aber
ziemlich eskaliert. Frau Gabler berichtet deprimiert und erschöpft von dem
Wochenende.
Nora Schmidig ist 15-jährig. Die Mutter, gelernte Schneiderin, war die
ersten drei Jahre von Noras Leben allein erziehend. Der leibliche Vater
trennte sich kurz nach Noras Geburt von der Mutter, seither besteht kein
Kontakt. Die Mutter lernte ihren heutigen Mann kennen, als Nora 3-
jährig war. Die beiden heirateten, und Herr Schmidig adoptierte Nora.
Sie betrachtet ihn als ihren Vater. Den leiblichen Vater kennt sie nicht.
Nora hat einen 2 Jahre jüngeren (Halb-)Bruder, Manuel, der bei den El-
tern lebt und gerade auf die Kantonsschule gewechselt hat.
Seit rund zwei Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zu den El-
tern und wurden sehr schwierig. Besonders der Stiefvater hatte mit Nora
massive Konflikte: um Ausgang, den ersten Freund, die abnehmenden
Schulleistungen und den Umgang mit ihren Freundinnen. Die Mutter
nahm sie in Schutz, stand dann aber schließlich doch immer hinter ihrem
Partner. Nora fühlt sich von den Eltern in den letzten 4 Jahren wenig un-
terstützt, vielmehr gering geschätzt, kontrolliert, nicht ernst genommen
132 Forschungsmethodologie und -methodik
und als Sündenbock. Sie fühlt sich ihrem Bruder gegenüber zurückgesetzt.
Mit der Zeit wurden ihre Schulleistungen immer schlechter, sie setzte sich
von zu Hause ab, schwänzte die Schule und hatte Freunde, die ihr die El-
tern verboten. Im sechsten Schuljahr waren ihre Leistungen so schlecht,
dass sie nicht versetzt wurde. Ihre Konflikte mit daheim wurden umso
schlimmer, je mehr sie sich abschottete, schwänzte und auf Kurve ging. In
der Familie herrschte ein Klima von Streit und Entwertung.
Schließlich gingen die Eltern in eine Beratungsstelle, der schulpsycholo-
gische Dienst wurde eingeschaltet. Dieser plädierte nach einigen Ge-
sprächen mit Nora und den Eltern für eine zeitweilige Trennung. Nun lebt
sie seit 2 Monaten im Wohnheim A. Sie ist noch in der Probezeit. In die-
ser Zeit hat sie sich gut im Wohnheim eingelebt und bemüht, Kontakt zu
finden, die Regeln einzuhalten, auch wenn sie gelegentliche Motivations-
krisen hat. Von zu Hause will sie nicht viel wissen. Sie hat neu einen
Freund, André 17 und ist aktuell ziemlich verliebt. Er wohnt in einer Ju-
gendwohngruppe, sie lernte ihn im städtischen Jugendzentrum kennen.
Nora hat mit Drogen keine Probleme, aber sie fühlt sich immer wieder
unwohl, ist öfter krank, fühlt sich schwach. Sie weiß selbst nicht genau,
warum. Medizinisch ist unklar, ob etwas zu Behandelndes vorliegt.
Ihre Schulleistungen sind nach wie vor mäßig, und die neue Klasse ist ihr
noch fremd, sie fehlt gelegentlich und fühlt sich in der Klasse mäßig wohl,
weil sie die einzige neue Schülerin in diesem Jahr ist. Im Wohnheim hat
sie ersten Kontakt mit den anderen Jugendlichen, sie kann nicht alle lei-
den, hat sich aber gut integriert.
Die aktuelle Situation spielt an einem Wochentag tagsüber auf der Wohngruppe
– die Sozialpädagogin kommt vom Lebensmitteleinkauf zurück. Nora ist nicht
zur Schule gegangen, sondern zu Hause geblieben; sie sitzt im Wohnzimmer des
Jugendheims bei geöffneter Türe und liest Zeitung. Sie hätte Unterricht und
sollte in der Schule sein. Das Rollenspiel startet mit einem Gesprächsimpuls von
Nora, als die Versuchsperson das Wohnzimmer betritt (die Aufnahmen wurden
im Wohnraum des Wohnheims gemacht):
Nora teilt kurz und eher desinteressiert mit, dass sie, während die Ver-
suchsperson beim Einkaufen war, doch nicht zur Schule gegangen sei. Sie
äußert diffuse körperliche Beschwerden, Unwohlsein, und meint, sie habe
mit der Schule Mühe. Sie sei auch ziemlich am Anschlag mit den Aufga-
ben und der neuen Situation im Wohnheim, und sie habe Bauchschmer-
zen. Beim Lehrer hat sie sich nicht abgemeldet, und eine Prüfung, die am
Erhebungsinstrumente 133
entsprechenden Tag stattfand, hat sie verpasst. Sie blättert dabei gela-
ngweilt bis desinteressiert in einer Zeitschrift.
Kontext, Anforderungen, potenzielle Themen und Ziele des Gesprächs sind also
ebenso verschieden wie das Alter, die Persönlichkeit und das Verhalten der
beiden Klientinnen. Statt auf die fallbezogenen Dimensionen der Rollenspiele im
Detail einzugehen, werden sie in der folgenden Übersicht in den Dimensionen
Kontext, Problemsituation, typisches Verhalten der Klientin, mögliche Ge-
sprächsthemen und Klientenanliegen, mögliche Ziele der Fachkräfte und denkba-
re Szenarien des Gesprächsverlaufs zusammengefasst.
134 Forschungsmethodologie und -methodik
eine Kameraführung nicht notwendig war. Der Verfasser verließ zudem nach
dem Einschalten der Videokamera den Raum, um die Störungen des Gesprächs
zu minimieren (und betrat ihn erst zur Beendigung des Rollenspiels nach zehn
Minuten wieder).
Rollenspiele für das Training oder die Untersuchung von Ausnahmesituatio-
nen, z.B. zu extremen Gefühlen von Klienten, Suizidalität oder körperlicher
Gewalt, bedürfen sorgfältiger Rahmung, Planung und Verarbeitung, um destruk-
tive Effekte zu vermeiden. Der Überforderung durch ungeeignete Themen oder
Settings sollte vorgebeugt werden. Dabei sollten gleichzeitig die Spiel- und
Ausdrucksmöglichkeiten von Simulationsklienten wie Rollenspielern so wenig
wie möglich eingeschränkt werden (Stahlke 2010, S. 544). Dies erfordert größt-
mögliche Realitätsnähe, aber auch eine Verfremdung der Inhalte und Rollen, um
durch „Ausbalancieren von Nähe und Distanz der Spielenden zu ihren Erfahrun-
gen die Erkenntnis fördernden Möglichkeiten des Rollenspiels in ihrer ganzen
Vielfalt nutzen zu können“ (Stahlke 2010, S. 544). Der Realitätscharakter der
Rollenspiele wurde durch zwei reale Fallgeschichten, die Arbeit mit Simulati-
onsklienten und die Inszenierung der Rollenspiele in zwei Sozialeinrichtungen
gewährleistet, die notwendige Verfremdung durch gezielte Anpassungen der
Fallszenarien und entsprechende Verhaltensinstruktionen an die Simulationskli-
entinnen. Zum Beispiel wurde vereinbart, dass die Jugendlichen keine extremen
Verhaltensweisen an den Tag legen sollten, wie sie tatsächlich in der Arbeit mit
Jugendlichen in schweren Entwicklungskrisen und mit psychischen Störungen
immer wieder vorkommen (Davonlaufen, Beschimpfungen, Entwertungen,
massives Blockieren jeder Form von Kommunikation usw.). In der Beratungssi-
tuation wurde die Simulationsklientin instruiert, extreme Emotionen wie Wei-
nen, lang anhaltendes Schweigen, Ausbrüche von Wut oder Angstattacken nicht
zu zeigen, da dies eine Überforderung der Versuchspersonen dargestellt hätte.
Handeln keine ernsthaften Konsequenzen nach sich zieht, bietet die Mög-
lichkeit des Erwerbs von Handlungssicherheit, bevor Studierende in realen
Situationen ihren Klienten gegenüberstehen (Schultz et al. 2007, S. 9).
5.4 Datenauswertungsverfahren
In diesem Kapitel werden die in dieser Untersuchung benutzten Auswertungsver-
fahren beschrieben. Kuckartz moniert, dass sich die Methodenliteratur in der
qualitativen Forschung überwiegend auf Fragen der Datenerhebung konzentriert,
Literatur zur Datenauswertung bislang aber eher spärlich blieb (Kuckartz 2007,
S. 7). Er stellt die Forderung einer differenzierten Beschreibung von Analyse-
und Auswertungsprozessen, der im folgenden Kapitel Rechnung getragen wird.
Die hier verwendeten Auswertungsverfahren stützen sich auf die Forschungsstra-
tegie von Wahl zur Untersuchung von Subjektiven Theorien kurzer Reichweite
(Wahl 1991) und auf die Arbeiten von Huber (Huber & Mandl 1994; Huber &
Gürtler 2003) zur qualitativen computergestützten Analyse. Für die Auswertung
wurde das Programm AQUAD 6 (Huber & Gürtler 2003) benutzt, da es für diese
Untersuchung wichtige Programmkomponenten (wie die Matrizenanalyse)
bereitstellt und der Forderung von Kuckartz entspricht, über QDA-Software auch
Datenauswertungsverfahren 147
Wie schon ausgeführt, verfolgt die vorliegende Arbeit mit der Rekonstruktion
der Wirkungen der hier benutzten Lernumgebung auch ein evaluatives For-
schungsinteresse. Qualitative Evaluationsforschung steht im deutschsprachigen
Raum bislang auf einer methodisch und methodologisch noch eher unsicheren
Basis (Bohnsack et al. 2010, S. 55). Sie sucht in ihren Forschungsprojekten, wie
diese Arbeit es auch tut, nach pragmatischen Wegen, wissenschaftliche Strenge
und Erfordernisse der Praxis, Kontextsensibilität mit generalisierbaren Elemen-
ten und wissenschaftliche Deutungen mit alltagsweltlichen Sichtweisen zu
verbinden (Kardorff & Schönberger 2010, S. 369). Kardorff nennt besondere
Merkmale qualitativer Evaluationsforschung (Kardorff & Schönberger 2010,
S. 370): Ihr Wirklichkeitsverständnis sei von kontextbezogenen Sinndeutungen,
sozialen Konstruktionsprozessen, der Responsivität des Feldes und der Reflexi-
vität der in ihm agierenden Personen bestimmt. Sie sieht den Menschen als aktiv
handelnden, empfindenden, reflektierenden und auf andere Menschen bezogene
Person, dieses Menschenbild entspricht dem hier vertretenen epistemologischen
Subjektmodell des FST. Qualitative Evaluationsforschung müsse von theoriege-
leiteten Annahmen ausgehen, was diese Forschungsarbeit in ihrem expliziten
Bezug zur Kommunikationspsychologie, psychologischen Handlungstheorie und
Pädagogischen Psychologie starker Lernumgebungen ausführlich tut (vgl.
Kapitel 2). Zum Praxisbezug und zur Rolle der Forschenden konstatieren Kar-
dorff und Schönberger, dass Forschende „unvermeidlich in den Verlauf der
Implementation, in Erfolge und Stagnation, in Interessenkonflikte und externe
Einwirkungen“ verwickelt würden (Kardorff & Schönberger 2010, S. 372), was
hier beachtet wurde: Die Rollen des Verfassers in dieser Untersuchung wurden
sorgfältig geklärt und getrennt. Die Gütekriterien qualitativer Evaluationsfor-
schung schließlich orientieren sich an der qualitativen Sozialforschung, Kardorff
& Schönberger beziehen sich dabei auf Flick (Flick 2010). Hier wurden die
Gütekriterien nach Mayring (Mayring 2002) angewandt. Mit der Explikation
dieser Merkmale und dem Verweis auf die (in diesem Kapitel) ebenfalls ausführ-
lich dargelegten Forschungsmethoden darf die vorliegende Studie beanspruchen,
den Anforderungen an Evaluationsforschung ausreichend zu entsprechen.
Die oben explizierten Rahmenbedingungen, methodologischen Standards und
methodischen Vorgehensweisen stellen sicher, dass die vorliegende Studie den
Gütekriterien und Standards qualitativer Forschung im Allgemeinen und des
FST im Besonderen hinreichend entspricht. Auf dieser methodologischen Basis
werden im folgenden Hauptteil die empirischen Ergebnisse der Untersuchung
beschrieben und interpretiert.
150 Forschungsmethodologie und -methodik
– Grundlegendes Design: Die WAL wurden mit einem Kopf versehen, der
eine eindeutige Identifizierung der Versuchsperson und der relevanten Pro-
filcodes, der Erhebung (Set 1/2) und Rollenspielsituation (Beratung oder Er-
ziehung) ermöglichte. Die Versuchspersonen waren aufgefordert, die Start-
zeit der Episode im Video (00:10:10 Std:Min:Sek) anzugeben, die zur Epi-
Datenauswertungsverfahren 151
Schweizer aus nichtalpinen Regionen nicht einfach (und für den Verfasser nur
durch wiederholtes Hören) zu verstehen ist.
Vp06
Episode: 00:05:20 „Sie kennen ihn besser“ Episode: 00:05:20 „Sie kennen ihn besser“
S:- Ich ha uberhäüpt nit gwüsst, was säggä S:- Also ich habe überhaupt nicht gewusst, was
äigentlich … vore han i das gsäit mit d’m sagen. Vorher hab ich das gesagt mit dem
Muscht’r, dass’s käi Muscht’rleesig git, das Muster … das es keine Musterlösung gibt, das
han i no so vorberäitet gha. Ab’r was i dä hab ich noch bisschen vorbereitet gehabt, aber
nach’r würkli will säggä konkret, han i m’r was ich danach wirklich konkret sagen will, hab
äbba nit gross vorberäitet und dä han i das da ich mir eben nicht groß vorbereitet, und dann
gsäit mit „Ihr misstit uf nä iigoo“ und ich ha’ hab ich das gesagt mit „Sie müssen auf ihn
d’s Gfiel gha, wenn i’s gsäit ha, das ’sch eingehen“, und ich hab’s Gefühl gehabt, als ich
sich’r s letschtä, wo sie etzt will gheerä, will’s es gesagt hab, das ist jetzt das Letzte, was sie
hett’s sich’r scho gnueg probeert, wiesch vori hören will, weil das hat sie sicher schon genug
v’rzellt het. Ich ha wirklich ’s Gfiel gha, ich probiert, wie sie vorher erzählt hat. Ich hab
sägg etz derre da so … ja eifach so nix wirklich das Gefühl gehabt, ich sage ihr jetzt so
konkrets, und so eppis dumm’s, ja. Ab’r ich … ja, einfach so nichts Konkretes, und so etwas
ha ei’fach grad’s Blackout gha, oder, chei Dummes, ja. Aber ich hab einfach grad ein
Ahnig, nit gwisst, was sell säggä. Blackout gehabt oder, keine Ahnung, nicht
gewusst, was ich sagen soll.
Tab. 4: Transkriptionsbeispiel Schweizerdeutsch – Hochdeutsch
codiert, dass sie später den Metacodes eindeutig zuordenbar sind. So werden
Ratschläge im Sinne einer Alltagsberatung als negativ codiert (HA Rat-
Instruktion = MC HA-), auch wenn sie im Beratungskontext nicht grundsätzlich
zu verurteilen sind. Wenn die Versuchspersonen, an Konzepten der Alltagsbera-
tung orientiert, z.B. raten, „einfach ein wenig abzuwarten“, „nicht gleich zu
reagieren“ oder „nicht so große Erwartungen in die Wochenenden zu stecken“,
wird dies als Rat-Instruktion codiert. Sind Ratschläge oder Instruktionen hinge-
gen konstruktiv konnotiert – in der Regel drückt sich dies durch fragende Anteile
in der Reaktion aus, die die Tauglichkeit des Vorschlags für die Klientinnen zu
verifizieren suchen –, werden sie als Lösungsvorschlag der Versuchsperson
codiert (MC HA+). Andere Handlungsprototypen werden analog primärcodiert.
Zwei Beispiele für eine eindeutige, an Arbeitsregeln orientierte Codierung
und eine mehrdeutige, an der Ergebnisbewertung orientierte Bewertung des
Reaktionstyps sollen die Codierpraxis verdeutlichen: Vp07 beginnt das Gespräch
mit Nora in Set 2 „mit einem Kreuzverhör“, wie sie in der WAL zum Kontext
der Episode beschreibt. Das Schweigen Noras nimmt sie zum Anlass, ihre
Gesprächsstrategie zu ändern. Als sie bemerkt, dass das „Verhör“ Nora nicht
gerade zum freien Erzählen animiert, beginnt sie, „offene Fragen zu stellen“, was
mit „HA Frage-offen“ (und damit später als „MC HA+“) codiert wird. Dies stellt
eine in der klientenzentrierten Gesprächsführung etablierte Eröffnung von
Beratungsgesprächen dar, die beim Beginn einer Situationsschilderung der
Klientin angemessen ist.
Eine konfrontierende Reaktion gegenüber der Klientin ist hingegen in ihrer
Wirkung sehr viel kontextabhängiger. Im Material zeigen sich immer wieder
verhörartige Konfrontationen, die entsprechenden Widerstand der Klientin
auslösen. Konfrontationen, die als Verdächtigungen oder Vorwürfe erkennbar
waren, wurden als Gesprächsstörer (HA Vorwurf) und damit als nichtkonstrukti-
ves Handeln (MC HA-) codiert; damit eine Konfrontation hingegen als konstruk-
tiv bewertet werden kann, muss ihre Wirkung überprüft werden. Als Nora
gegenüber Vp01 meint, es sei vor allem die Schuld ihres Stiefvaters, der sie ins
Jugendheim abgeschoben habe, reagiert diese mit einer konstruktiven Konfronta-
tion (HA Konfrontieren, MC HA+): Sie erinnert Nora, wie sie selbst (aus der
Fallbeschreibung oder spontan produziert) die Heimeinweisung in der Erinne-
rung hat, und spiegelt der Jugendlichen, dass sie ihr eigenes Verhalten vor der
Platzierung völlig ausblendet. In der Folge stimmt diese zu, dass sie mit der
Platzierung im Jugendheim einverstanden gewesen sei.
Im dritten Durchgang werden die Primärcodes wieder innerhalb der lage- und
handlungsorientierten Kognitionen aus den Primärcodes geclustert, um qualitati-
ve Aussagen und einen Bezug zum im Modul erworbenen Wissen zu ermögli-
chen. Die handlungsorientierten Kognitionen, die einen deutlichen Bezug zur
helfenden Gesprächsführung aufweisen, wie die Codebeispiele oben zeigen,
können analog zu den konstruktiven Handlungsprototypen in die drei Bereiche
der Gesprächsführung nach Redlich (verstehensorientierte, aktiv Einfluss neh-
mende und beziehungsorientierte Kognitionen) geclustert werden. Dies stellt
Datenauswertungsverfahren 159
eine heuristische und nicht immer trennscharfe Zuordnung dar, da sich z.B. in
Primärcodes zu verstehensorientierten Kognitionen immer auch eine Bezie-
hungsdimension zeigt. Wie das Modell der vier Seiten einer Nachricht (Schulz
von Thun 2007a) konstatiert, wäre in jeder Botschaft eines Senders eine Sach-,
Selbstoffenbarungs-, Appell- und Beziehungsbotschaft enthalten. Geclustert
werden die Primärcodes nach dem expliziten Teil des Gedankens, also ein
Primärcode „GG Offen fragen“ bei den verstehensorientierten Gedanken, der
Code „GG Grenze setzen“ bei den aktiv Einfluss nehmenden und der Code „GG
Störung beseitigen“ bei den beziehungsorientierten Codes.
Bei den lageorientierten Kognitionen wird der Frage nachgegangen, was Ge-
genstand der Präokkupation der Versuchspersonen ist. Kuhl nennt hierzu als
Beispiele das Grübeln über Misserfolge, die reduzierte Bewältigung negativer
Affekte und Selbsthemmung des Handelns (Müsseler & Prinz 2002, S. 299). Bei
den prospektiv-lageorientierten Kognitionen stellt sich die Frage, was zur Aus-
führungshemmung, übermäßigen Aufrechterhaltung von Intentionen oder zu
reduzierten Affekten führt. Dies können z.B. Dilemmata der Versuchspersonen
sein, die sie am Handeln hindern (zwischen Konfrontation und Harmonie,
direktivem und personzentriertem Verhalten u.a.) und die nach Kuhl als situati-
onsgemäße Deaktivierung von nicht situationsgemäßen Absichten gedeutet
werden können (Bewertungen, Defizitorientierung oder Ratschläge vermeiden).
Die Ergebnisse dieser Cluster werden anschließend anhand des Materials be-
schrieben, was Schlussfolgerungen für das Training der kognitiven Handlungs-
regulation ermöglicht.
Zur Differenz von handlungsbegleitenden Kognitionen und Nutzung modul-
bezogenen Wissens ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Handlungsbegleitende
Kognitionen können auch als eine Form der Wissensnutzung dargestellt werden,
je nachdem, wie präzise und wie explizit sie sich auf das in Unterricht und
Training gelernte und prozeduralisierte Wissen beziehen. In der Regel wird das
Wissen eher als implizites Wissen oder „Reflection in action“ bezeichnet (Schön
2006), mit unterschiedlich großer Nähe zum wissenschaftlichen Wissen aus dem
Modul und unterschiedlich präziser Repräsentation des Wissensbestands. Als
handlungsbegleitende Kognitionen codiert werden alle Formen von Gedanken,
die sich auf das Handeln der Versuchspersonen beziehen. Die Wissensnutzung
wird davon getrennt erfasst, wenn sich in den WAL explizite Stichworte finden,
die auf Wissensverwendung aus dem Unterricht hinweisen (vgl. Kapitel 6.7).
codes positiver und negativer Emotionen zugeordnet und im dritten Schritt nach
der Systematik hilfreicher und potenziell schädlicher Emotionen nach Berking
(Berking 2010) zusammengefasst. Auf eine mögliche Codierung der Emotionen
nach Handlungsphasen (Situationsorientierung, Aktionsplanung, Handlungsaus-
führung und -bewertung) wird verzichtet, da auf den Emotionsgehalt und nicht
auf die Funktion der Emotion im Handlungsprozess fokussiert wird.
Eindeutig positive Emotionen wie Freude, Zufriedenheit oder Mitgefühl wer-
den als positive Emotionen codiert. Eindeutig negative Emotionen wie Misstrau-
en, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Unzufriedenheit werden als negative Emotionen
codiert. Nennungen emotional uneindeutiger Wahrnehmungen mit negativer
Ausrichtung (z.B. ein emotionaler Zwiespalt wie („ich habe das Gefühl, Nora
macht Show“) werden aus dem Kontext heraus negativen Emotionen zugeordnet,
dasselbe erfolgt bei positiven Tendenzen. Codiert werden negative Emotionen
auch, wenn Ambivalenz im Kontext unklarer Zuschreibungen und Handlungsab-
sichten geäußert wird. Im Folgenden einige Codebeispiele zu weniger eindeuti-
gen Emotionsäußerungen: Das „Amüsiertsein“ von Vp01, als Nora von ihren
Bauchschmerzen berichtet, wird den negativen Emotionen zugeordnet, da die
Versuchsperson sich in einem emotionalen Zwiespalt befindet: Sie „spürt“, dass
hier etwas nicht stimmt, weiß aber nicht, wie sie es anpacken soll: „Ich habe
einfach das Gefühl gehabt, das ist Show, sie ist nicht wirklich krank, sondern sie
verarscht mich. Drum konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen, weil es schon
zu offensichtlich war.“ Vp11 zeigt ein nur aus dem Kontext zuordenbares Gefühl
von „Geschmeicheltsein“, als Nora ihr ein zweifelhaftes Kompliment macht:
„Du bist eine easy Pädagogin, mit den anderen (vom Team, ww) kann man nicht
reden“. Die Versuchsperson äußert sich in der WAL: „Fühle mich schon etwas
geschmeichelt. Will sie die Strafe umgehen oder mildern? Bin unsicher …“ Das
„Gefühl des Geschmeicheltseins“ wurde den negativen Emotionen zugeordnet.
Die Klassifikation von Emotionen nach Berking wird in einer etwas reduzier-
ten Version verwendet. Sie wird ergänzt um Mitleid, das zwar eine prosoziale
Emotion darstellt, aber als „verharrendes Miterleiden bzw. Erleben von Leid,
Schmerz oder Not anderer“ (Kreft & Mielenz 2005, S. 597) dennoch den negati-
ven Emotionen zugeordnet wird. Es ist – anders als Mitgefühl mit den Klientin-
nen – meist mit wenig hilfreichem Bedauern, Tröstungsversuchen usw. verbun-
den und verfehlt ein modernes Selbstverständnis professioneller Helferrollen
(Lob-Hüdepohl & Bohmeyer 2007, S. 148). Im Folgenden die Aufstellung
potenziell schädlicher und in der Regel hilfreicher Emotionen nach Berking; die
Ausführungen zu den Entstehungsbedingungen und Funktionen wurden gekürzt.
Datenauswertungsverfahren 161
Cluster sind auf das Handeln der Versuchsperson bezogene Bewertungen und
auf Emotionen und Reaktionen der Klientin bezogene Bewertungen.
In der Expertenbeurteilung werden die Reaktionen der Klientinnen in den Vi-
deoaufzeichnungen der Rollenspiele beobachtet und als Bewertungsmaßstab des
Interaktionserfolgs herangezogen: Öffnende, zustimmende, den Problemlösepro-
zess vorantreibende oder positive emotionale Reaktionen der Simulationsklien-
tinnen, d.h. ein konstruktiver Gesprächsverlauf innerhalb der nächsten ein bis
drei Interaktionen, werden als Zeichen für Kommunikationserfolg behandelt.
Abwehrende, irritierte oder negative emotionale Reaktionen gelten als Kriterium
für den Misserfolg des Handelns der Versuchsperson. Das Expertenrating lehnt
sich in der Formulierung der Primärcodes aus der Außensicht an die Versuchs-
personen an, eigene Codenamen werden dann formuliert, wenn es zu Diskrepan-
zen in der Bewertung kommt. Die folgenden vier Codierungsbeispiele zeigen
kongruente und nichtkongruente Bewertungen in der Innen- und der Außensicht.
Sie verdeutlichen, wie die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbewertung
zustande kommen.
164 Forschungsmethodologie und -methodik
MC AEB-
angespannt. Das Gespräch dreht sich er sagt, ich geb dir eine Strafe?“
MC EB-
danach im Kreis um Schwänzen oder Vp: Dann ist das halt auch eine Konse-
Bauchweh. quenz.“
EB+ Ermutigung Kl AEB- Skepsis-Argumentieren Kl
Meine Ermunterungen in dieser Ge- „Ja, aber ich weiß gar nicht, ob sie das
sprächsphase finde ich ziemlich gut, da will“ (ob die Mutter ein Telefonat von
MC AEB-
MC EB+
Zweifel. Ich bin unzufrieden mit meiner wirklich nicht. Mein Ziel ist, ich möchte
MC EB-
Reaktion, von der ich selbst nicht ihn so gern wieder zu Hause haben!“
wirklich überzeugt war.“
EB+ Einstieg-Struktur AEB+ Zustimmung Kl
„Ich bin im Großen und Ganzen „Wenn Sie mich fragen, was ich
zufrieden mit dem Einstieg. Durch die besprechen möchte, ich möchte eine
gemeinsame Themenfindung war Frau Veränderung (…) wir drehen uns im
Gabler und mir klar, was der rote Faden Kreis (…), ich bräuchte Entlastung,
MC AEB+
MC EB+
des Gesprächs sein sollte. Das Gespräch vielleicht mal ein Wochenende frei (…)
hat dadurch eine Struktur erhalten.“ oder vielleicht, was es sonst an anderen
Lösungen gäbe.“
Tab. 9: Codierungsbeispiele für kongruente und abweichende Ergebnisbewertungen in Innen- und
Außensicht
Der Fokus der Bewertung kann Aufschluss über Aufmerksamkeits- und Bewer-
tungsverschiebungen vom eigenen Handeln auf dessen Effekte deutlich machen
und damit auch Hinweise für die Reflexion erfolgreichen Handelns im Kommu-
nikationstraining geben. Die Expertenbewertungen werden nicht anhand dieses
Clusters getrennt, da die Bewertung aufgrund der Klientenreaktionen validere
Ergebnisse zum Kommunikationserfolg ergibt. Die folgende Tabelle zeigt die
Metacodes, die Cluster und ausgewählte Codierungsbeispiele zur Bewertung des
Kommunikationserfolgs aus der Innen- und der Außensicht.
„Bin der gleichen Meinung wie die Mutter, möchte sie WN Unterstützung
unterstützen.“
„Ich hätte nicht so schnell Kritik äußern sollen, war nicht WN Kritik äußern
gerade fördernd für das Gespräch.“
Titel der WAL: Aufforderung zum Erzählen“: „Ich frage sie, WN Erzählstimulus offen
wie es die letzten Wochenenden mit Joel lief (…). Ich ermunte-
re sie, mir von den Erlebnissen zu erzählen.“
„Ich gebe mir Mühe, Frau Gabler gut zuzuhören und meine WN Aktiv zuhören
eigene Meinung nicht ins Gespräch einfließen zu lassen.“
„… überlegt, du musst ein bisschen weniger direkt fragen, so WN Frage hilfreich
offen lassen die Antwort, und halt dann offen fragen.“
„Ich war nicht bereit, auf die Gefühlsebene einzusteigen. Ich WN Sach-Beziehungsebene
bin reaktiv auf der Sachebene weitergefahren. Ich finde es WN Empathie
schade, kein Mitgefühl ausgedrückt zu haben.“
„Ich bin nicht unbedingt zufrieden mit mir selbst. Was als WN Wissen modulfremd
lockerer Gesprächseinstieg geplant war, zeigt eher, wie
schlecht ich die Lebenswelt meiner Klientin kenne.“
Tab. 11: Textbeispiele und Primärcodes zur Wissensnutzung beim Handeln
5.4.6 Matrizenanalyse
Darüber hinaus ist AQUAD für die Forschungsziele dieser Arbeit besonders
hilfreich, da es Tabellen- bzw. Matrizenanalysen (Miles & Huberman 1994)
ermöglicht (die Begriffe werden deckungsgleich benutzt). Solche Analysen
werden in der vorliegenden Arbeit verwendet, um eine Evaluation des Lerner-
folgs im Kommunikations- und Gesprächstraining vorzunehmen. Die Verände-
rungen der Codehäufigkeiten und Codearten geben dabei Hinweise auf veränder-
Datenauswertungsverfahren 167
Wie die Tabelle zeigt, bleibt die Anzahl der bedeutsamen Episoden über die Zeit
relativ stabil, auch die Verteilung von Standard- und Störungssituationen verän-
W. Widulle, „Ich hab‘ mehr das Gespräch gesucht“,
DOI 10.1007/978-3-531-19147-8_6,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
170 Empirische Ergebnisse
dert sich nur unwesentlich. Bei den Handlungsprototypen zeigt sich eine deutli-
che, aber keine drastische Abnahme der ungünstigen Reaktionsformen. Be-
stimmte wenig hilfreiche Reaktionstypen scheinen sehr stabil zu sein. Die
konstruktiven Handlungstypen verdoppeln sich, die Zunahme der Gesamtzahl
der Handlungsprototypen ist dabei bedingt durch Mehrfachcodierung bei ent-
sprechend komplexen Reaktionen der Versuchspersonen. Die Veränderungen der
Handlungstypen geben erste Hinweise auf konstruktive Wirkungen des Moduls.
Bei den handlungsbegleitenden Kognitionen zeigt sich ein anderes Bild: Die als
lageorientierte Kognitionen (Kuhl 1994) zusammengefassten Primärcodes sind
hochgradig stabil und in Set 1 und 2 etwa gleich häufig zu finden. Handlungsori-
entierte Kognitionen sind bereits in Set 1 häufig und nehmen in Set 2 etwa um
50 % zu. Bei den handlungsbegleitenden Emotionen zeigt sich ein ähnliches
Bild: Negative Emotionen sind relativ persistent und nehmen nicht im ge-
wünschten Maß ab, auch wenn sich die Nennungen positiver Emotionen verdop-
peln, was einen gewissen Erfolg darstellt. Bei den Ergebnisbewertungen des
Handelns der Versuchspersonen aus der Innensicht reduzieren sich die negativen
Bewertungen von 3/5 auf 1/3 der Interaktionen, im selben Maß nehmen die als
erfolgreich bewerteten Interaktionen von 2/5 auf 2/3 aller Interaktionen zu.
Die Bewertungen des Kommunikationserfolgs aus Expertensicht wurden an-
hand der in der WAL niedergeschriebenen und in der Videoaufzeichnung sicht-
baren Klientenreaktionen vorgenommen. In der Bewertung des Interaktionser-
folgs aus der Außensicht zeigt sich ein noch günstigeres Bild: In Set 1 ist die
Expertensicht kritischer – 2/3 aller Interaktionen werden als nicht hilfreich
eingeschätzt, während die Bewertung in Set 2 günstiger als in der Selbstbewer-
tung des Interaktionserfolgs ausfällt. In der Außensicht werden etwa 3/4 aller
Reaktionen als erfolgreich bewertet. Die Wissensnutzung beim Handeln nimmt
erheblich zu. In Set 1, vor Studienbeginn, ist sie gering, was angesichts des noch
fehlenden Wissens nicht erstaunt (24 Nennungen), in Set 2 findet sich eine
wesentliche Vermehrung der wissensbasierten Kognitionen beim Handeln: Bei
146 Nennungen und 77 reflektierten Handlungsepisoden greifen die Versuchs-
personen im Schnitt pro Episode zweimal auf modulbezogenes Wissen beim
Handeln zurück.
Vp01 Vp02 Vp03 Vp04 Vp05 Vp06 Vp07 Vp08 Vp09 Vp10 Vp11 Vp12 Alle
Set 1 8 6 6 6 6 5 6 6 6 6 8 8 77
Set 2 8 6 7 7 7 7 6 6 8 4 6 7 79
Tab. 13: Anzahl der eingereichten WAL pro Versuchsperson und Summen
Für die Ermittlung zu den Trends bei den Codehäufigkeiten über die ganze
Untersuchungsgruppe ist eine Mindestkonstanz der Anzahl reflektierter Episoden
Voraussetzung. Die folgenden zwei Tabellen zeigen die Anzahl eingereichter
Episoden, zuerst differenziert nach den Versuchspersonen, danach differenziert
nach Erhebungszeitpunkten und Profilcodes.
Die Gesamtzahl der WAL steigt von Set 1 zu Set 2 von 77 auf 79 Episoden
und bleibt damit quasi stabil. Dies wird als ausreichend stabil zur Ermittlung von
Veränderungstrends angesehen. Die Differenzen bei den alters-, geschlechts- und
orientierungsstilbezogenen Profilcodes erklären sich durch die unterschiedlich
große Anzahl von Versuchspersonen. Die Differenzen zwischen Set 1 und Set 2
innerhalb der jeweiligen Kategorien erklären sich durch die unterschiedliche
Anzahl eingereichter WAL.
erholen.“ Auch fragt sie nach Rat der Versuchsperson zu günstigerem Erzie-
hungsverhalten: „Was könnte ich machen, damit am nächsten Wochenende nicht
wieder dasselbe mit Joel passiert?“ Nora Schmidig bittet um die Meinung der
Versuchsperson („Ist doch megakomisch, dass sich mein Freund schon seit
Tagen nicht mehr gemeldet hat“) oder um Rat zur Kontaktaufnahme mit der
Mutter („und was ist, wenn sie sich nicht freut, wenn ich anrufe?“).
Störungssituationen heben sich in den Anforderungen für die Versuchsperso-
nen ab. Sie sind weniger erwartbar, fallen aus dem geplanten Gesprächsverlauf
heraus und fordern durch Passivität, selbstbezogene negative Emotionen oder
auch aversiv-aggressives Verhalten gegen die Versuchsperson. Folgende Situati-
onsprototypen (Primärcodes) wurden zum Metacode Störungssituation zusam-
mengefasst:
Tab. 16: Häufigkeiten von Standard- und Störungssituationen bei Set 1 und Set 2
Situation oder macht sich Selbstvorwürfe: „Mir geht dann viel durch den Kopf,
ob ich was falsch machen, was ich falsch mache …“
Nora Schmidig zeigt eher defensiv-abwehrendes, reaktantes, potenziell feind-
seliges und manipulatives Verhalten. Sie blättert demonstrativ desinteressiert in
der Zeitschrift oder macht der Versuchsperson Vorwürfe wie: „Ihr steht ja eh auf
der Seite meiner Eltern.“ Sie manipuliert mit Spaltungsversuchen wie: „Du bist
eine easy Pädagogin, mit den anderen kann man nicht reden.“ Nora versucht, die
Entschuldigung beim Lehrer an die Versuchsperson zu delegieren, oder kündigt
an, dass sie trotz Bauchschmerzen in den Ausgang gehen werde. Bei Skepsis
oder Misstrauen verteidigt sie ihr Kranksein heftig, weiter macht sie vage An-
deutungen über ihre Probleme, zu potenzieller Gewalt des Stiefvaters („… dass
er dann plötzlich irgendwie meine Mutter schlägt oder irgendetwas“) oder dass
der Stiefvater sie ins Heim abgeschoben hat („Es ist die Schuld meines Stiefva-
ters, dass ich hier bin“).
Das vordringlichste Thema im Gespräch mit Frau Gabler stellt sicher das eben
vergangene Wochenende und die Eskalation im Konflikt mit ihrem Sohn dar.
Frau Gabler berichtet vom Wochenende, beschreibt den Konflikt mit ihrem Sohn
und die Folgen; sie möchte Joel ein oder zwei Wochenenden bei der Pflegefami-
lie lassen, um sich zu erholen. Dieses Thema nimmt in Set 1 wie in Set 2 breiten
Raum ein, was auch angemessen ist, da es zu den Anliegen von Frau Gabler
gehört, sich über die Eskalation aussprechen zu können und Entlastung für einige
Wochenenden zu erfahren. Die emotionale Entlastung für Frau Gabler – indem
sie sich aussprechen kann und indem mit ihr erarbeitet wird, wie sie ein oder
mehrere Wochenenden frei haben kann, um wieder zu Kräften zu kommen – ist
die oberste Ebene des Gesprächs: Aktiv zuhören, Verständnis für die Klientin
zeigen und die Organisation eines oder zweier freier Wochenenden, das sind die
vermutlich am einfachsten zu bewältigenden Herausforderungen im Gespräch.
Ein zweiter Themenbereich zu Joel als Person und zu seinem Verhalten ist
erkennbar, meist im Kontext von Versuchen, die Eskalation des Konflikts am
176 Empirische Ergebnisse
nen beschäftigten sich häufiger mit den Bauchschmerzen oder der Schulabsenz
und den nötigen Maßnahmen, sie drangen eher wenig bis zu Noras zentralen
Problemen und Anliegen durch. In Set 2 hingegen scheinen die ersten beiden
Themen für die Versuchspersonen eher wenig relevant zu sein. Die Bauch-
schmerzen werden kaum mehr thematisiert, und auch über die Schulabsenz
scheinen die Versuchspersonen sich nur mehr wenig auseinandersetzen zu
wollen. Ebenfalls kein Thema mehr ist das anfängliche Desinteresse und der
Widerstand von Nora, die sich bei Gesprächsbeginn eher defensiv-gelangweilt
verhält. Die Versuchspersonen geraten hier auch weniger in die in Set 1 häufige
Reaktanzfalle, die Nora umso passiver und widerständiger werden lässt, je mehr
die Versuchspersonen in sie dringen, sie konfrontieren oder Druck auf sie aus-
üben.
Große Attraktivität als Thema üben in Set 2 Noras Kernprobleme mit ihrer
Mutter, ihrem Freund und ihrem Befinden im Jugendheim aus. Damit zeigen die
Versuchspersonen die gestiegene subjektive Bedeutung psychosozialer Bera-
tungsthemen mit Nora gegenüber eher fürsorglich-versorgendem oder erziehe-
risch-regelorientiertem Handeln im Gespräch. Bauchschmerzen, die verpasste
Prüfung und Noras unentschuldigtes Fehlen in der Schule gehörten im realen
Gespräch einer Praxissituation natürlich ebenfalls geklärt, sie treffen Noras
Kernanliegen und Probleme aber weniger als die Kontaktabbrüche von Mutter
und Freund, die Platzierung im Wohnheim und die Übergangssituation der
Probephase oder die Familienbeziehungen von Nora. Die Veränderungen in den
Themen des Gesprächs mit Nora lassen in der diffuseren, konfliktbeladeneren
und offeneren Gesprächssituation eine verstärkte Beratungsorientierung ebenso
erkennen wie ein gesteigertes Interesse an Noras sozial-emotionalen Themen,
was als Lernerfolg beurteilt wird.
nicht gleich, wechseln Sie mal die Situation und stecken Sie nicht so große
Erwartungen in das Wochenende.“ Frau Gablers Wunsch, ein oder zwei Wo-
chenenden Entlastung zu erfahren, eines ihrer Kernanliegen im Gespräch, wird
von etlichen Versuchspersonen in Set 1 nicht ernst genommen: „Sie sollten das
Wochenende ohne Joel vielleicht noch etwas hinausschieben.“ Eine andere
Versuchsperson zeigt Pseudoverständnis und macht fragwürdige Deutungen, die
die Schuldgefühle von Frau Gabler vermutlich noch verschärfen. Sie lehnt
gleichzeitig eine selbst zeitweilige Entlastung für Frau Gabler ab und gibt dann
noch Erziehungstipps: Joel nicht nach Hause zu nehmen, „wäre wie eine Bestra-
fung, wir hatten’s nicht schön mit dir, jetzt komm nicht heim, (…) ich kann Sie
auch verstehen, aber probieren Sie’s doch mit bisschen mehr Struktur.“ Auch im
Gespräch mit Nora finden sich Ratschläge, wenn das Gespräch nach der Behand-
lung des Einstiegsthemas Bauchschmerzen und Schulabsenz zu ihren eigentli-
chen Problemen kommt, dem Kontaktabbruch der Mutter und des Freunds.
Ratschläge gehen von Zerstreuung und Abwarten, weil der Freund auf Telefon
und SMS nicht reagiert („abwarten, einfach abschalten und was mit den Freun-
den machen“), über Briefe („man sollte mal ein positives Signal setzen, mal
einen Brief schreiben“) bis zum Fokussieren auf die Kontakte im Wohnheim
(„aber du bist jetzt ja hier im Wohnheim, du hast hier ja auch Kontakte“). Auch
konstruktivere Ratschläge finden sich, wie das Gespräch mit der Mutter zu
suchen („Ich fände es gut, ihr würdet einmal darüber reden. Wir könnten das
arrangieren, wenn du willst“) oder die Aufforderung, auf die Mutter zuzugehen
(„Ich glaube nicht, dass sie sich nicht freut, wenn du dich meldest: Mach den
ersten Schritt“). Auffallend ist aber auch, dass in keiner der Reaktionen die
Verantwortung an die Klientin abgegeben wird („das musst natürlich du ent-
scheiden…“) oder ihre Sichtweise erfragt wird („was denkst du, und was würde
das verändern, wenn du das tust?“).
Vermeidungsreaktionen wie Themenwechsel, Ignorieren oder beschwichti-
gende Reaktionen lassen sich gehäuft beobachten (26 Codierungen), wenn die
Versuchspersonen nicht weiterwissen oder wenn die Emotionalität der Themen
zu eindringlich wird. Diese vermeidenden und bagatellisierenden Reaktionen
nehmen in Set 2 nicht im gewünschten Maß ab und werden noch 18 Mal als
bedeutsam beschrieben. Wenn Frau Gabler z.B. emotional eindringlich die
Eskalationssituation am Wochenende mit Joel beschreibt, wird häufig das Thema
oder die Gesprächsebene gewechselt und werden wichtige Klientenaussagen
ignoriert. Eine Versuchsperson übergeht diese Beschreibung der schwierigen
Wochenendsituation und forciert das Gespräch: „Gut, jetzt geht es ja darum, wie
wir weiterfahren mit Joel …“ Eine zweite ignoriert die explizit genannten Vor-
behalte Frau Gablers der Pflegefamilie gegenüber und bleibt bei ihrem vorge-
fassten Ziel, ein Gespräch mit der Pflegefamilie zu arrangieren: „Ich nehm’ mir
182 Empirische Ergebnisse
dann gern Zeit für ein Gespräch mit der Familie“, worauf die Klientin zögerlich
zustimmt und anschließend sichtlich resigniert verstummt. Sie antwortet, „…
dass alle an einem Strick ziehen“, was ins Konzept der Versuchsperson passt:
„Genau, darum geht’s ja …“. Beschwichtigungen sind ebenfalls häufig. Ein
Muster ist dabei die „Normalität von Gefühlen“. Wenn Frau Gabler z.B. meint:
„Ich hab dann auch so Schuldgefühle, dass er nicht mehr daheim sein kann, ich
hab ihn gern, und es tut mir weh, dass ich das nicht schaffe, irgendwie“, ringt die
Versuchsperson um eine Antwort: „Also … so Gefühle, das tritt ja bei allen auf,
oder ich denke mal, bei vielen… und das, so Gefühle, ich denke, das ist ein Teil
… ich will das nicht verharmlosen, muss das so sagen, weil schlussendlich ist
der Joel ja Ihr Sohn, und es geht ja nicht darum, dass Ihnen jemand den Joel
fortnimmt, in erster Linie geht’s ja drum, dass Sie wieder Kraft tanken können,
von daher sind die Schuldgefühle schon nicht so gut. Wichtig für Sie ist einfach,
wirklich zu wissen, Sie müssen keine Schuldgefühle haben.“ Die Versuchsper-
son merkt noch, dass sie mit dieser Normalität von Schuldgefühlen an der
Klientin vorbeiargumentiert, sie korrigiert sich in der ausführlichen Antwort und
landet schließlich doch beim Ausreden und Bagatellisieren des Schuldgefühls,
statt Frau Gabler z.B. ein Kompliment für ihr inneres Engagement und ihre
große Sorge um den Sohn zu machen und so das Schuldgefühl in Sorge und
Verantwortungsgefühl umzudeuten, wie es ein routinierter Berater aus einer
solchen Äußerung der Mutter unschwer machen könnte. Im Rollenspiel mit Nora
finden z.T. finden gewagte Interpretationen des Verhaltens von Noras Mutter
statt, die eine beruhigende Wirkung auf Nora ausüben sollen (in der Fallge-
schichte finden diese keine Entsprechung): In der ungelenkten Introspektion sagt
die Versuchsperson: „Ich berichtete von Telefonaten mit der Mutter, die sich
Sorgen macht, ihr vielleicht Zeit zum Einleben lassen will und vielleicht auch
selbst überfordert ist …, dass ich sie irgendwie beruhigen will, ihr die Angst
nehmen, dass sich ihre Mutter nicht mehr um sie kümmert, weil ich mir nicht
vorstellen kann, dass das wirklich so ist.“ Noras Skepsis in dieser Situation löst
sich mit dieser Intervention nicht auf. Auch erfährt Nora, die eindringlich die
unbeantworteten Kontaktversuche mit ihrer Mutter beschreibt, nicht immer
Aufmerksamkeit mit dem Thema, nach dem eher hilflosen Ratschlag einer
Versuchsperson folgt ein Themenwechsel: „ruf doch einfach mal an, dann weißt
du, woran du bist … und sonst, geht’s dir gut?“ Diese eher hilflos-suchenden
Reaktionen könnten auf ein anhaltendes Maß an Unsicherheit im Umgang mit
Emotionen oder Problemschilderungen, auf darauf folgendes Vagabundieren in
den Problemlösestrategien oder auf die Vermeidung allzu heftiger Emotionen der
Klienten hinweisen.
Der dritte Reaktionstyp setzt sich aus wenig hilfreichen Formen von Fragen
zusammen. Dies betrifft Mehrfach-, Ursachen-, Suggestiv- und geschlossene
Veränderungen der Handlungsprototypen 183
Vp: (von Anfang an in erkennbar skeptischem Ton): „Wieso bist du nicht in der
Schule?“
Nora: „Weil’s mir nicht gut geht.“
Vp: „Was hast du denn?“
Nora: „Bauchweh.“
Vp: „Nur Bauchweh, sonst nix?“
Nora: „Nein, nur Bauchweh.“
Vp: „Und wie kommt das, woher hast du das, weißt du das?“
Nora: „Ich weiß nicht, keine Ahnung.“
Vp: „Und so schlimm, dass du nicht in die Schule gehen kannst?“
Nora: „Ja, sicher.“
Vp: „Aber, wenn’s so schlimm wär', würdest du sicher im Bett liegen und dich
krümmen vor Schmerzen oder so, nicht?“
Nora: „Ja, ja, eigentlich schon.“
Vp: „Dann geht’s dir jetzt besser?“
Nora: „Es geht, ich hab schon immer noch Schmerzen, aber es geht.“
Vp: „Dann meinst du, du könntest jetzt wieder gehen? (in die Schule, ww.).
Dann würdest du nicht so viel verpassen.“
Nora: „Nein.“
Vp: „Wieso meinst du, nicht?“
Nora: „Ja, weil ich dir ja gesagt hab, dass ich krank bin.“
Vp: „Aber die hätten sicher nichts dagegen, wenn du jetzt wieder kämst.“
Nora: „Nein, ich habe Bauchweh.“
Vp: „Meinst du nicht, es sei sonst auch etwas, was dir nicht gefällt?“
Nora: „Nein, ich hab nur Bauchweh.“
Vp: „Ich hab gemeint, dir geht’s gut in der Schule, du hättest dich dort schon
bisschen akklimatisiert in der Klasse und so.“
Nora: „Ja, ich hab eigentlich kein Problem mit der Schule selber.“
Vp: „Oder mit den Mitschülern was nicht in Ordnung?“
Nora: „Nein, auch nicht.“
Vp: „Weil, du siehst nicht so aus, als wenn du so Bauchweh hättest, dass du
wirklich nicht in die Schule gehen könntest.“
Nora: „Ja, wie sollte ich denn aussehen, wenn ich Bauchweh hätte?“
Vp: „Ja also, wenn ich so Bauchweh hatte, dann bin ich nicht so gemütlich
dagesessen und hab Heftli gelesen, dann ist’s mir wirklich schlecht gegangen.“
Nach diesen ersten zwei Minuten kämpfen die beiden weiter um das Bauchweh,
den Verdacht auf Simulation und die Schulpflicht, es folgen Konfrontationen
und offene Verdächtigungen der Versuchsperson, worauf Nora mit Verteidigung
und Widerstand reagiert („du glaubst mir eh nicht“). Die beiden drehen sich bis
Veränderungen der Handlungsprototypen 185
zum Ende des Rollenspiels im Kreis, und das Gespräch eskaliert zu einem
destruktiven Streit. Zwischenzeitliche Versuche, auf andere Themen zu kommen
(Eltern, Freund, Befinden im Wohnheim) bleiben ergebnislos, da Nora schon zu
sehr in Trotz und Widerstand gefangen ist.
könne sie das wirklich erfahren. Bei der Lösungssuche fragt Vp06, was sie und
Nora nun unternehmen könnten. Insgesamt lässt sich bei den Fragen feststellen,
dass die subjektive Sichtweise und der Beitrag der Klientinnen deutlich besser
berücksichtigt wird als im ersten Set, wo eine große Zahl der Fragen dazu dient,
eigene Hypothesen zu bestätigen und die Klientinnen deutlich weniger als
Partnerinnen in der Problemlösung verstanden werden.
Ein zweiter Cluster lässt sich für Einfluss nehmende Gesprächsreaktionen
feststellen – Redlich nennt das Entwickeln von kreativen Vorschlägen, Stellung-
nahmen und strukturierende Reaktionen als Interaktionsformen (Redlich 2009,
S. 54ff.). Thomann und Schulz von Thun verweisen auf die Schwierigkeiten von
Anfängern der Gesprächsführung im Verhaltensbereich, Gespräche zu strukturie-
ren und zu ordnen (Thomann & Schulz von Thun 2003, S. 28). Weiter betonen
die Autoren, dass die Moderation der inhaltlichen Klärungsarbeit vorgeordnet
ist: Strukturierung und Oberhandsicherung im Gespräch sind wesentliche Vo-
raussetzungen gelingender inhaltlicher Klärung (Thomann & Schulz von Thun
2003, S. 51).
Ein starker Trend innerhalb der aktiv Einfluss nehmenden Gesprächsbeiträge,
die sich von 29 auf 55 Nennungen quasi verdoppeln, ist erkennbar: Die Ver-
suchspersonen reagieren, wenn auch deutlich konstruktiver als in Set 1, überwie-
gend auf der Ebene der Gesprächsinhalte. Sie handeln also als aktiv Einfluss
nehmende Gesprächspartner und deutlich seltener in der Rolle als Moderatoren
von Klärungsgesprächen. Die Mehrzahl der aktiv Einfluss nehmenden Reaktio-
nen bezieht sich auf diese Ebene: konstruktive Deutungen (19), Konfrontation
(6), Lösungsvorschläge der Versuchsperson (13) oder kooperativ lösungssu-
chende Beiträge (7). Nur wenige Reaktionstypen drücken ein explizites Modera-
tionsverhalten aus: Dazu gehören Zusammenfassungen (5), die Explikation von
Vereinbarungen (2) oder der Gesprächsabschluss (1). Obwohl Moderation und
Gesprächssteuerung im Unterricht ausführlich behandelt und geübt wurden,
scheint es einen Sog der Gesprächsinhalte zu geben, der die Versuchspersonen
von der eigentlichen Moderation entweder abhält oder diese in der vorbewussten
Handlungsregulation belässt. Die zur Etablierung neuer moderierender Ge-
sprächstechniken nötige Bewusstheit des Handelns, die im Verständnis von
Wahl auch durch die Irritation alter Handlungsmuster hergestellt werden soll, ist
hier nicht vorfindbar. Dem Sog der Inhaltsebene steht ein Defizit an Moderation
gegenüber, das sich auch auf der Ebene der handlungsleitenden Kognitionen
noch bestätigen wird (vgl. Kapitel 6.4). Einige Beispiele sollen im Folgenden die
gefundenen moderationsbezogenen Aktivitäten der Versuchspersonen verdeutli-
chen.
Zusammenfassungen werden in Set 1 nicht genannt, in Set 2 werden einige
Klientenaussagen oder Gesprächsabschnitte mit Zusammenfassungen beantwor-
188 Empirische Ergebnisse
tet. Vp07 fasst z.B. die Anliegen und Themen von Frau Gabler vor dem Einstieg
ins Gespräch nochmals zusammen. Sie schreibt dazu in der WAL als Kommen-
tar: „Nachdem Frau Gabler ihre Themen und Anliegen eingebracht hat, mache
ich eine kurze Zusammenfassung und lege dadurch den Inhalt dieses Gesprächs
fest.“ Später im Gespräch benutzt sie Zusammenfassungen, um „dem Kern des
Themas, des Problems näher zu kommen und das Thema zu vertiefen“. Auch
Vp11 resümiert das Ergebnis des Gesprächs mit Frau Gabler: „Also, dann würde
ich sagen, dass wir mal vorerst so verbleiben, (resümiert die Ergebnisse) – ist das
für Sie so in Ordnung?“ Mit Nora zieht Vp11 ein explizites Resümee des Ge-
sprächs, wenn auch nicht ganz ohne den Unterton von Bewertungen („Unlust“),
moralisierenden Appellen („Hilfe suchen“) und fürsorglicher „Belagerung“ („wir
helfen dir immer“). Auch hier erfragt sie explizit das Einverständnis von Nora:
„Also, dann können wir so verbleiben, dass du in Zukunft versuchst, viel-
leicht, wenn du merkst, dass die Unlust kommt, dass du zu uns kommst und
Hilfe suchst und mit uns redest, dafür sind wir da, wir helfen dir immer und dass
du jetzt den Lehrer anrufst und dann deine Mami vielleicht mal heute Abend, um
mal abzumachen mit ihr, bist du einverstanden?“ (Nora nickt) „Also, dann gehst
du jetzt den Lehrer anrufen?“ (Nora geht, Ende des Gesprächs).
Weitere Aktivitäten, wie sie z.B. Thomann und Schulz von Thun oder Red-
lich für die Moderation fordern, sind nicht auffindbar: So fehlen metakommuni-
kative Einleitungen zu Gesprächsabschnitten („Jetzt hab ich Ihre Situation und
Anliegen gehört, ich würde gern im nächsten Teil auf … fokussieren“) oder
ordnende Reaktionen („ich würde im Moment gern beim Thema … bleiben“).
Auffordernde Reaktionen („bitte berichten Sie mir doch von …“) sind meist
unspezifisch und lenken die Exploration nur selten, und auch Überleitungen zu
nächsten Abschnitten oder Zusammenfassungen sind in den WAL, gemessen an
den Gesamtaktivitäten, weit unterrepräsentiert.
Deutlich konstruktiver zeigen sich aber die Reaktionstypen, wenn die Ver-
suchspersonen inhaltlich auf das Gespräch Einfluss nehmen, also Stellung
beziehen, Deutungen wagen oder Lösungsvorschläge machen oder erfragen.
Wenn in Set 1 die Versuchspersonen tendenziell bei den Berichten der Klientin-
nen zur Problemsituation stehen bleiben, so versuchen sie in Set 2 häufiger zu
Lösungen mit den Klientinnen zu kommen. Die gehäuften Vorschläge, Fragen
oder Anregungen zu Lösungen machen dies ebenso deutlich wie die (in Set 1
nicht erwähnte) Suche nach Ressourcen der Klientinnen. Weiter sind konstrukti-
ve Stellungnahmen der Versuchspersonen häufiger als in Set 1. Wiederum sollen
einige Beispiele aus den WAL diesen Trend erläutern: Der ressourcenorientierte
Blickwinkel scheint bei drei Versuchspersonen auf. Vp01 bezeichnet Frau
Gabler explizit als Expertin für ihren Sohn und betont, dass sie mit deren Wissen
Lösungen erarbeiten möchte. Vp02 und Vp07 suchen nach bereits erfolgten
Veränderungen der Handlungsprototypen 189
positiven Veränderungen und den Kraftquellen von Frau Gabler. Vp07 schreibt
in der WAL:
„Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich sehe, was für eine schwierige und belas-
tende Situation das für sie sein muss. Ich frage sie, ob sich seit der Fremdplatzie-
rung für sie schon etwas verbessert habe. Ich will, dass sie sich verstanden fühlt,
und gleichzeitig möchte ich erfahren, wo sie im Moment Kraft schöpft.“
Typische Lösungsvorschläge für Frau Gabler sind Entlastung für sie an den
Wochenenden, ein Gespräch mit Joel, um die Wochenenden anders zu gestalten,
ein Wochenende allein mit Joel, um ihm die vielleicht vermisste Aufmerksam-
keit zu geben, oder Freizeitvorschläge für die Wochenenden. In Bezug auf die
Pflegefamilie werden Gespräche oder bessere gegenseitige Information vorge-
schlagen. Auch im Gespräch mit Nora werden Gespräche und aktive Kontakt-
aufnahme vorgeschlagen, mit der Mutter und dem Freund, um die Funkstille
zwischen diesen und Nora aufzulösen. Zu den Bauchschmerzen wird häufiger
fürsorgliches statt sanktionierendes Verhalten gezeigt: „Möchtest du einen Tee
oder eine Wärmflasche?“, statt „Was machst du denn da, du solltest doch in der
Schule sein?“ Zur Schulabsenz und zu einem allfälligen Arztbesuch werden
häufiger Vereinbarungen getroffen: Nora soll auf die Sozialpädagogen zugehen,
wenn sie krank ist, den Lehrer anrufen und sich von der Schule abmelden und
wenn nötig zum Arzt gehen, um die Bauchschmerzen zu behandeln. Dabei fällt
die durchweg kooperativere Lösungssuche auf, es finden sich auch vermehrt
absichernde Fragen, ob die Lösung auch für Nora in Ordnung ist. In Set 1 wurde
an diesen Stellen noch sehr viel häufiger direktiv reagiert, was auch die vermehrt
getroffenen Vereinbarungen am Ende des Gesprächs deutlich machen.
Der dritte Verhaltensbereich in der kooperativen Gesprächsführung betrifft
die Gestaltung der Beziehung zwischen den Versuchspersonen (Redlich 2009,
S. 96ff.). Redlich unterscheidet zwei Bereiche beziehungsorientierter Kommuni-
kation – beziehungssensible Botschaften, die Wertschätzung zeigen und die
Selbstbilder und Selbstbestimmung der Gesprächspartner respektieren, und
Metakommunikation im Falle von Störungen, nichtkonstruktiven Interaktions-
mustern, Kritik oder Widerstand. Bei den Codehäufigkeiten zeigt sich eine starke
Zunahme (22 auf 52) wertschätzender und respektvoller Reaktionen. Metakom-
munikation und beziehungssensible Kommunikation hingegen taucht, obwohl
besonders in der Situation mit Nora dringend nötig, in den WAL nicht als be-
deutsam auf (5 auf 13). Im Unterricht wurde das Thema Metakommunikation
ausführlich behandelt, wie dies in Kommunikationstrainings Standard ist. Und
doch unterbrechen nur zwei Versuchspersonen Nora beim gelangweilten Blättern
in der Zeitung, auch das deutliche Anfangsdesinteresse von Nora am Gespräch
wird nicht thematisiert. Noras passiv-widerständiges Verhalten (Zögern,
Schweigen, kleinere Provokationen) wird ebenfalls von kaum einer Versuchsper-
190 Empirische Ergebnisse
Vp06, in Set 2 mit derselben Situation mit Nora konfrontiert, hat ihre Gesprächs-
strategie nun grundlegend geändert: Der Vorsatz, empathisch auf die Jugendliche
zu reagieren, wird bereits am Anfang deutlich. Die Versuchsperson fragt offen
und verdächtigt Nora nicht gleich , die Schule zu schwänzen. Vielmehr nimmt
sie die Jugendliche ernst und ergreift die Gelegenheit der Situation, Fürsorglich-
keit zu zeigen. Sie macht Nora eine Wärmflasche (im Rollenspiel mit einem
Kissen improvisiert) und fragt offen nach Ursachen und Behandlungsbedarf für
das Bauchweh. Sie insistiert allerdings auch auf einer Anmeldung beim Arzt;
hier reagiert sie direktiv, worauf die Jugendliche leicht in die Defensive geht.
Direktives Verhalten mildert sie aber durch häufige verständigungsorientierte
Kommentare ab („… meinst du nicht?“) und fährt so mit ihrer Aufforderung
192 Empirische Ergebnisse
nicht in einer Widerstandssituation fest. Auf die Frage der Versuchsperson, was
ihr denn helfen würde, provoziert Nora („mehr Ausgang“). Die Probandin lässt
sich aber nicht provozieren, sondern nimmt die Aussage als Wunsch ernst und
paraphrasiert („Du hast das Gefühl, du hast zu wenig Ausgang“). Der Um-
schwung im Gespräch ist deutlich, erst nach dieser Sequenz öffnet sich die
Jugendliche wirklich, wirkt kooperativer und berichtet von ihren Schwierigkeiten
mit der Probephase im Wohnheim, ihren Eltern und ihrem Freund. Bezeichnend
ist, dass sie erst mit Beginn dieser Sequenz die Zeitschrift auf die Seite legt, ein
Zeichen, dass sie im Gespräch wirklich angekommen ist.
Bei den hilfreichen Reaktionen zeigt sich in der Differenzierung der beiden
Rollenspielsituationen folgendes Bild: In der Beratungssituation steigen die
konstruktiven Handlungsprototypen von 30 auf 65, diese Verdoppelung stellt
ebenfalls eine erfreuliche Zunahme dar. Die Veränderungen umfassen die
folgenden konstruktiven Handlungsprototypen: Aktives Zuhören, Ermutigungen,
verstehensorientierte Fragen, unterstützende Äußerungen, die Suche nach Res-
sourcen, Zusammenfassungen und zustimmende Äußerungen zu
Klientenaussagen werden deutlich häufiger als bedeutsam ausgewählt. Mehr
noch als die verstehensorientierten Reaktionen werden strukturierende Hand-
lungsprototypen und explizit beziehungsorientierte Äußerungen häufiger.
In der sozialpädagogischen Situation verdoppeln sich günstige Reaktionen
(26 auf 55 Nennungen.
Der ganze Bereich verstehensorientierter Reaktionen (aktiv zuhören, Ver-
ständnis und Empathie zeigen) zeigt eine markante Zunahme (von 3 auf 22), es
gelingt den Versuchspersonen sehr viel besser, personzentriert zu kommunizie-
ren. Strukturierende und aktiv Einfluss nehmende Handlungstypen wie Vor-
schläge zur Problemlösung oder Stellungnahmen nehmen ebenfalls zu. Bezie-
hungsgestaltende Botschaften tauchen in der Beratungssituation etwas häufiger
auf (11 und 10), in der Erziehungssituation sind sie sehr selten (4 und 2). Die
direkte Thematisierung der Beziehung zu Nora findet trotz deutlich abweisenden
Beziehungsverhaltens (desinteressiertes Blättern in einer Zeitschrift, anfänglich
abweisende Reaktionen, kleinere Provokationen) nicht statt. Noras abweisendes
Verhalten stellt auf der Beziehungsebene eine Störung des Gesprächs
(Langmaack 1996, S. 86ff.) dar, die den Versuchspersonen mindestens in Set 2
bewusst sein sollte. Die Situationen werden von den Versuchspersonen aber auch
194 Empirische Ergebnisse
in Set 2 nicht als bedeutsam erlebt. Die Thematisierung der latenten Störung der
Beziehung mit Nora ist für den Gesprächserfolg sehr relevant. Die Versuchsper-
sonen bemühen sich jedoch eher, durch Wertschätzung und Empathie diese
Störungen zu „glätten“. Die unten stehende Tabelle zeigt die nach Redlich (1987,
2009) zusammengefassten Primärcodes.
Beratung Erziehung
Bezogen auf diesen Situationstyp, bestätigt sich das Bild, dass nichtkonstruktive
Reaktionstypen abnehmen – hier auf die Hälfte: Nicht hilfreiche Fragen nehmen
ab, und die groben Gesprächsstörer wie Ironie oder Vorwürfe verschwinden
ganz. Themenwechsel oder Beschwichtigungen bleiben hingegen auch für diesen
Situationstyp in Set 2 bedeutsam.
Für konstruktive Reaktionsprototypen zum Klientenbericht zeigt sich eben-
falls eine positive Entwicklung: Auch hier sind es, wie schon für die Handlungs-
prototypen generell gezeigt wurde, verstehensorientierte und konstruktiv Ein-
fluss nehmende Reaktionen, die deutlich zunehmen.
196 Empirische Ergebnisse
Auffällig für Reaktionen auf Klientenberichte in Set 1 ist Folgendes: Die ein-
fachste Reaktion, das aktive Zuhören, wird in Set 1 nicht genannt, die Reaktio-
nen in Set 1 sind wenig verstehensorientiert und deuten auf ein Verständnis von
Alltagsberatung hin: Beschwichtigungen, Themenwechsel, wenig hilfreiche
Fragen, Gesprächsstörer, die als Notfallreaktionen interpretiert werden können,
und vereinzelte Ratschläge dominieren. Dies ändert sich deutlich in Set 2, wo
wesentlich mehr verstehens- und lösungsorientierte Reaktionen genannt werden.
Einige typische Beispiele für konstruktive Reaktionen auf Klientenberichte
sollen die Veränderungen konkretisieren. In Set 1 bagatellisiert Vp03 einen
Bericht von Frau Gabler. Als diese von Schuldgefühlen berichtet, beschwichtigt
sie mit: „So Gefühle treten bei allen auf, … mindestens bei vielen“, was für Frau
Gabler kaum ein Trost sein dürfte. In Set 2 berichtet Frau Gabler Vp03 über das
Wochenende. Diese beschreibt die eigenen Reaktionen als „Erzählen lassen“ und
kommentiert sie in der WAL folgendermaßen: „Ich gebe mir Mühe, Frau Gabler
gut zuzuhören und meine eigene Meinung nicht ins Gespräch einfließen zu
lassen.“ Auf diese Reaktion öffnet sich Frau Gabler und berichtet vom Wochen-
ende. In der sozialpädagogischen Situation berichtet Nora vom Bauchweh und
Veränderungen der Handlungsprototypen 197
der Schulabsenz, woraufhin Vp03 sie kritisiert und entwertet: „Ich sage ihr, dass
ich ihre Haltung doof finde, da der Ruf des Wohnheims darunter leidet.“ Den
Ruf des Jugendheims hier in Betracht zu ziehen, ist weit hergeholt, Vp03 nimmt
später in der ungelenkten Introspektion dazu Stellung. Sie habe das im Vorprak-
tikum immer wieder erlebt, dass Heimjugendliche in den öffentlichen Schulen
wegen erhöhter Absenzen einen schlechten Ruf hätten. Sie bezieht sich also auf
Praxiswissen, das hier situationsinadäquat ist und nicht zur Klärung mit Nora
beiträgt. In Set 2 deutet Nora nach einem von Vp03 als „harzig“ beschriebenen
Gesprächsbeginn an, dass sie im Moment andere Probleme habe, als den Lehrer
wegen der Absenz anzurufen. Vp03 reagiert paraphrasierend-fragend mit
„…andere Probleme?“ und hört Nora aufmerksam zu. Diese berichtet nun von
den Dingen, die sie so sehr beschäftigen. Vp03 kommentiert dies in der WAL bei
den handlungsbegleitenden Gedanken wie folgt: „Ich will diese Situation nutzen,
um das Problem richtig anzugehen. Wichtig für mich ist, dass ich jetzt vor allem
sie sprechen lasse und vor allem zuhöre (…). Längere Gesprächspausen nehme
ich bewusst in Kauf. Ich will, dass jetzt vor allem sie spricht.“ Nora fühlt sich
ernst genommen, öffnet sich, und das Gespräch entwickelt sich positiv. Die
Lernprozesse in die Richtung einer personzentrierten Kommunikation lassen sich
an diesen Beispielen gut erkennen. Sie spiegeln sich sowohl im Handlungsproto-
typ als auch in den handlungsbegleitenden Gedanken.
Die Fragen, die die Klientinnen stellen, sind dabei von sehr unterschiedlichem
Charakter. Sie beginnen mit der einfachen Frage Frau Gablers zu Gesprächsbe-
ginn, wo sie denn anfangen solle zu berichten, und reichen bis zur Frage nach
möglichem Verhalten gegenüber Joel oder nach der Berechtigung einer Auszeit
zu ihrer Erholung. Frau Gabler fragt auch nach der Meinung der Versuchsperson
zur Eskalation am Wochenende („Wie finden Sie denn das?“) oder danach, ob
sich Joel in der Pflegefamilie wohl abgeschoben fühlt. Nora fragt häufig, warum
sich wohl ihre Mutter und ihr Freund nicht melden oder was sie zur Kontaktauf-
nahme mit ihrer Mutter und ihrem Freund tun soll („Was würdest du als Sozi
denn machen?“). Die Veränderungen der Handlungsprototypen zeigen vermehrt
klientenzentrierte und unterstützende Reaktionen. Vor allem bleiben Ratschläge,
wie sie in der Alltagsberatung gängig sind, in Set 2 aus. Die Entwicklung scheint
zu diesem Situationstyp nicht so eindeutig. Einige Beispiele sollen das verdeutli-
chen.
Nora fragt Vp02 in Set 1, warum sich die Mutter nie bei ihr meldet, und die
Versuchsperson antwortet ihr ziemlich aus der Luft gegriffen: „Sie möchte dir
Zeit geben, dich hier einzugewöhnen, und dir ein wenig Distanz geben, damit du
nicht hin und her gerissen bist“, was Noras Sorgen, abgeschoben zu werden,
noch verstärkt: „Ja will sie denn, dass ich mich ganz von ihr löse?“ Vp02 ist
denn auch mit ihrer Reaktion unzufrieden. Später im Gespräch antwortet Vp02
auf die Frage Noras, ob sie sich bei ihrer Mutter selbst melden solle, sie solle ihr
doch einen Brief schreiben, was Nora gerne annimmt. In Set 2 wiederholt sich
Veränderungen der Handlungsprototypen 199
die erste Sequenz mit Nuancen, Vp02 versucht mit mäßigem Erfolg, Nora davon
zu überzeugen, dass die Mutter besorgt um sie sei, dass sie vielleicht selbst
überfordert sei oder ihr eventuell Zeit zur Eingewöhnung ins Wohnheim geben
wolle. Auch hier bleibt Nora skeptisch. Bezüglich des Kontaktabbruchs ihres
Freundes André zeigt die Probandin Verständnis für Nora, sie sucht mit ihr nach
möglichen Gründen für Andrés Verhalten und empfiehlt ihr, ihn in Begleitung
einer Freundin beim nächsten Abendausgang zu treffen und sich der Situation zu
stellen, worauf Nora zustimmend reagiert. Hier sind die Lösungsvorschläge in
Set 2 angemessener formuliert.
Frau Gabler fragt Vp08 in Set 1, was sie tun könne, damit am nächsten Wo-
chenende nicht wieder dasselbe passiert. Die Probandin reagiert mit Tipps:
„Nicht gleich reagieren, Situationswechsel, nicht so große Erwartungen in die
Wochenenden haben.“ Frau Gabler stimmt vordergründig zu, bleibt aber skep-
tisch. In Set 2 reagiert Vp08 auf Frau Gablers Frage, ob Joel sich nicht abge-
schoben fühle, wenn er nicht mehr am Wochenende heim dürfe, mit einer Beru-
higung, bietet aber ein Gespräch mit Joel an: Nein, sie denke nicht, dass er sich
abgeschoben fühle, wenn man ihm das wirklich zu erklären versuche. Man
könne Joel beim nächsten Gespräch mit einbeziehen und ihm die Situation zu
erklären versuchen.
Vp07 reagiert bei der Frage Frau Gablers in Set 1, ob Joel „das nicht in den
falschen Hals bekäme“, wenn er ein Wochenende nicht nach Hause dürfe, mit
einer Ermutigung („Nehmen Sie sich diese Auszeit“) und gleichzeitig be-
schwichtigend („Joel wird das schon verstehen“), was Frau Gabler ebenso wie
die Versuchsperson selbst nicht überzeugt. In Set 2 hält sich Vp07 mit solchen
Beschwichtigungen zurück, andererseits meint sie, gar keine Ratschläge mehr
geben zu dürfen, und wechselt das Thema bei einer entsprechenden Frage.
Auch in Set 2 tauchen noch hilflose Reaktionen auf: Vp10 beschwichtigt Nora.
Zu deren Ratlosigkeit wegen der Funkstille von Mutter und Freund meint sie:
„Ich würde dir schon gern dabei helfen, aber du bist jetzt ja hier im Wohnheim,
du hast ja hier auch Kontakte“, was als grobe Bagatellisierung und wenig ge-
sprächsfördernd gelten kann.
Insgesamt zeigen die Veränderungen zu den Fragen um Rat keine klar positi-
ve Entwicklung. Auch wenn die Versuchspersonen insgesamt konstruktivere
Reaktionen zeigen und sich ein Trend zu kooperativen und personenzentrierten
Reaktionen andeutet, bleibt bei der Prüfung der Antworten der Versuchsperso-
nen ein vages Bild. Sie wirken häufig nicht wirklich überzeugend, sicher auch,
weil den Studierenden noch das notwendige Expertenwissen fehlt.
200 Empirische Ergebnisse
Mutter abzugeben oder Joel nur noch jedes zweite Wochenende nach Hause zu
nehmen – ist angesichts der in der Fallgeschichte beschriebenen Belastung der
Klientin ein legitimes, auch für Studienanfänger nachvollziehbares Bedürfnis.
Dennoch gehen die Versuchspersonen mit diesem Hauptwunsch Frau Gablers in
Set 1 sehr unterschiedlich um. Ein Teil der Versuchspersonen geht darauf ein:
„Ich könnte mit der Pflegefamilie selbstverständlich abklären, ob das möglich
wäre. Man müsste ein Datum finden, das allen organisatorisch gut geht. Damit
Sie mehr Zeit für sich haben.“ Frau Gabler reagiert verständlicherweise erleich-
tert, und die Versuchsperson zeigt sich zufrieden. Eine weitere Versuchsperson
reagiert ambivalent. Sie sagt Frau Gabler, dass das grundsätzlich schon möglich
sei, ermahnt sie aber, dass der Kontakt zum Kind sehr wichtig sei – was latent
eine Abgabementalität unterstellt, die in der Fallgeschichte und im Verhalten der
Simulationsklientin nicht angelegt ist. Frau Gabler schweigt daraufhin ent-
täuscht. Eine dritte Versuchsperson hingegen reagiert ablehnend und bewertend
auf den Entlastungswunsch . Die Entlastung sei nicht sinnvoll, das Kind gehöre
zur Mutter, was bei Frau Gabler Schuldgefühle auslöst. Sie hat durch Joels
Fremdplatzierung bereits gegen den Grundsatz, der ihr selbst wichtig ist, versto-
ßen. Auf die Antwort der Versuchsperson reagiert sie deprimiert. Eine vierte
Versuchsperson reagiert schließlich mit einer bewertenden Frage und der laten-
ten Unterstellung, Frau Gabler schiebe Joel in die Pflegefamilie ab: „Ist es für
Sie denn dann schöner unter der Woche?“, was die Klientin unter Druck bringt.
Der größere Teil der Antworten ist nicht ausreichend unterstützend und respek-
tiert Frau Gablers Wünsche zu wenig.
Nora zeigt heterogenere, teils unrealistische oder inadäquate Wünsche an die
Versuchsperson. Sie will, dass die Versuchsperson wegen der Schulabsenz den
Lehrer anruft. Und sie äußert den Wunsch, zu dritt ein Gespräch mit der Mutter
zu führen (mit der Sozialpädagogin, aber ohne den Stiefvater, gegen den sie
sichtlich Aversionen hegt, und möglichst, ohne ihn zu informieren). In Set 1
wird nur von einer Versuchsperson ein Wunsch Noras reflektiert: Nora möchte,
dass die Probandin den Lehrer anruft, um sie zu entschuldigen. Der Wunsch ist
je nach Befinden der Jugendlichen nicht inadäquat. Pädagogisch legitim ist es
aber auch, von der Jugendlichen zu verlangen, dass sie selbst in der Schule anruft
und sich entschuldigt. Mit Hinweis auf die Selbstverantwortung der Jugendli-
chen lehnt es die Versuchsperson ab anzurufen. Nora müsse ja später in Lehre
und Beruf auch selbst Verantwortung für Fehlzeiten übernehmen.
In Set 2 finden sich vermehrt Wünsche von Nora. Dies ist ein Indiz dafür,
dass die Versuchspersonen überhaupt so weit kommen, über Noras Anliegen und
Wünsche zu sprechen. Diese berichtet z.B., dass es ihr am liebsten wäre, wenn
sich die Mutter vom Stiefvater trennen würde, was Anlass zur Klärung der
Familienbeziehungen sein könnte. Die Versuchsperson beschränkt sich aber
202 Empirische Ergebnisse
darauf, mit einer geschlossenen Sachfrage implizit danach zu fragen, wie realis-
tisch das sei: „Aber sie sind schon ziemlich lange zusammen, nicht?“ Bei den
begleitenden Gedanken beschreibt die Versuchsperson genau dies, dass sie die
Trennung für unwahrscheinlich hält. Sie äußert zwar noch das implizite Hand-
lungsziel, „Noras Wunsch einer Trennung der Eltern in einen Wunsch nach
besserem Verhältnis zu ihnen zu verwandeln“, verfolgt das aber nicht weiter und
bleibt etwa enttäuscht über den Misserfolg. Nora beschreibt in mehreren Rollen-
spielen ihre Angst, mit der Mutter nach längerer Funkstille wieder Kontakt
aufzunehmen („Was ist, wenn sie mich ablehnt oder das Telefon einhängt?“).
Nora bittet auch eine Versuchsperson, für sie Kontakt aufzunehmen und ein
Gespräch zu vereinbaren. Diese bleibt unsicher und ambivalent in ihrer Reakti-
on: Sie versichert Nora, dass die Mutter sie nicht zurückweisen würde, dass sie
sich um Nora Sorgen mache, sie gern habe und sicher auch erfreut wäre, mal
wieder mit ihr zu sprechen, was Nora nur wenig überzeugt. Eine Variante dieser
Bitte ist, dass Nora ein Gespräch mit der Mutter vorschlägt, aber ohne den
Stiefvater und am besten, ohne dass er davon erführe. Die Versuchsperson gerät
ins Argumentieren und versucht Nora aufzuzeigen, dass es auch positiv sein
könne, wenn der Stiefvater doch zum Gespräch käme. Weiter fragt sie, warum
Nora denn den Vater nicht dabeihaben wolle. Ihr Ziel ist, die (in Set 2 mit Mühe
erreichte) Gesprächsharmonie aufrechtzuerhalten. So verzichtet sie auf eine
konsequente Klärung von Noras Wunsch und bleibt beim Argumentieren für den
Einbezug des Vaters, worauf sich ein Spiel von Argumentationen für und gegen
den Einbezug des Vaters entwickelt. Noras Wünsche sind in ihrer Berechtigung
schwieriger einzuschätzen und hinterlassen die Versuchspersonen mit mehr
Unsicherheiten.
Die Summen der Metacodes zeigen, dass lageorientierte Gedanken von Set 1 zu
Set 2 leicht und handlungsorientierte Kognitionen stärker, nämlich etwa um die
Hälfte, zunehmen. Differenziert man die explizierten Primärcodes zu den Kogni-
tionen in misserfolgsbezogene vs. prospektive Kognitionen (Müsseler & Prinz
2002, S. 299) und fasst man die handlungsorientierten Kognitionen wieder nach
Redlich (1987) zusammen, so zeigen sich weitere Tendenzen:
dar. Die Zahlen zu den beiden Primärcodes steigen von 4 auf 20 Nennungen:
Äußerungen wie: „Ich will Frau G. im Zentrum des Gesprächs lassen und mich
nicht ins Zentrum stellen. Das bringt sicher mehr“ (Vp03), oder: „Frau Gabler
hat ein Recht, ihre Gefühle bzw. ihr Misstrauen (gegenüber der Pflegefamilie,
Anm. ww) anzusprechen“ (Vp10), zeigen eine deutliche Betonung der
Klientensicht.
Ursachenforschung
Die Suche nach Ursachen von Klientenproblemen ist ein weiteres öfter beschrie-
benes Thema, das die Versuchspersonen beschäftigt. Die Versuchspersonen
wissen z.B. bei Gesprächsbeginn nichts von der Eskalation zwischen Frau
Gabler und ihrem Sohn Joel am Wochenende. Sie antizipieren bestimmte Anfor-
derungen des Gesprächs und werden von der Eigendynamik und Dramatik von
Frau Gablers Schilderungen überrascht. Nicht ganz unerwartet beschäftigt sie
deshalb die Suche nach Ursachen sowohl in Set 1 (8) als auch in Set 2 (10). Die
Ursachensuche wurde als nichtkonstruktive Kognition unter die lageorientiert-
prospektiven Kognitionen subsumiert, da diese Art von unterkomplexer Beschäf-
tigung mit Problemursachen in helfenden Gesprächen nur selten hilfreich ist.
Diese Sicht bestätigt sich auch bei der genaueren Sichtung des Materials in den
Videoaufzeichnungen und WAL.
Mit der Ursachensuche verbinden die Versuchspersonen in Set 1 die Vorstel-
lung, es gebe versteckte Gründe, die auf einfache Weise eine Problemklärung
oder -lösung ermöglichen. Weiter setzen sie auf einfache Hypothesen, die für
plausible Erklärungen sorgen. Vp01 fragt sich am Ende des Berichts von Frau
Gabler, was in Joel bei der Eskalation vorging: „Es muss doch einen Grund für
sein Verhalten geben.“ Der Gedanke wird jedoch nicht direkt geäußert, sondern
versteckt sich in der geschlossenen Frage „Sie hatten dann nie mehr die Mög-
lichkeit, ihn im Verlauf des Sonntags in einer ruhigen Minute darauf anzuspre-
chen?“ Unausgesprochen bleibt dabei der zweite Teil der Frage, der sich im
Gedanken ausdrückt: „… um die Gründe für sein Verhalten mit ihm zu bespre-
chen?“ Die Klientin gibt in der Folge Auskunft, dass dies nicht möglich gewesen
sei. Joel habe nicht reden wollen. Sie rechtfertigt sich anschließend dafür, was
das Gespräch nicht voranbringt. Später kommt Vp01 auf die Ursachensuche
zurück und fragt Frau Gabler direkt nach Gründen für Joels Verhalten: „Wo
sehen Sie denn Gründe?“, und liefert ihre Hypothesen gleich mit (Schulproble-
me, Konflikte mit den Schwestern). Daraufhin mutet Frau Gabler ihr in wenigen
Sätzen die ganze Komplexität ihrer Problemsituation zu. Bei dieser Schilderung
endet das Rollenspiel. Es ist nachvollziehbar, dass die Komplexität der Problem-
situation mit der Erwartung einfacher Erklärungen im Denken der Versuchsper-
son erheblich kollidieren wird. Vergleichbare Muster lassen sich auch im Ge-
spräch mit Nora feststellen. Hier kreist die Ursachensuche z.B. um Gründe für
Veränderungen handlungsbegleitender Kognitionen 209
Klientenbilder
Bei den handlungsbegleitenden Kognitionen tauchen häufig Äußerungen der
Versuchspersonen zu den Klientinnen auf. Dies sind Zuschreibungen zur Person,
zu deren Problemen und Verhaltensweisen. In diesem Kontext stellt sich die
Frage nach dem Klientenbild, mit dem die Versuchspersonen ihren Klienten
gegenübertreten.
Explizit positive Klientinnenbewertungen sind selten und nehmen zu Set 2
nicht zu (3 – 3). Die positiven Klientenbewertungen drehen sich bei Frau Gabler
um ihr Verhalten in ihrer Lebenssituation. Vp02 zeigt Respekt für die schwierige
Situation und Bewunderung, wie Frau Gabler damit umgeht. Sie stützt die
Berechtigung einer Auszeit für Frau Gabler und ist überzeugt, dass diese „keine
schlechte Mutter ist“. In der Diskussion um Frau Gablers Skepsis zur Pflegefa-
milie betont Vp09 deren Bereitschaft, die Pflegefamilie nicht einfach schlecht
210 Empirische Ergebnisse
auffassen wird. Sie weiß nicht, wie sie reagieren soll. Auch Vp02 möchte Frau
Gabler zum gleichen Thema Verständnis entgegenbringen und gleichzeitig nach
der besten Lösung für ihr Kind suchen: „Nur, welche ist das?“ Die in diesen
Dilemmasituationen erforderliche Metakommunikation, die eine gemeinsame
Lösung ermöglichen würde, ist bei den Versuchspersonen nicht erkennbar. Sie
würde bedeuten, das Dilemma deutlich zu machen, die Ambivalenz von Frau
Gabler zu thematisieren und dann kooperativ auf eine Lösung hinzusteuern.
Diese könnte sowohl Frau Gablers Befürchtungen als auch ihre Entlastungsbe-
dürfnisse ernst nehmen.
Eine zweite Form von Dilemmata bezieht sich auf die Gestaltung der Ge-
sprächsatmosphäre, die besonders im Gespräch mit Nora ein Problem darstellt.
Die Versuchspersonen sind im Gespräch gefordert, die Einhaltung der Wohn-
heimregeln anzumahnen, die Bauchschmerzen abzuklären und auf Noras Bezie-
hungsprobleme mit Mutter und Freund einzugehen.
Vp06 gerät in dieses Dilemma, als Nora vom Kontaktabbruch ihres Freundes
erzählt. Die Schulabsenz und Noras Umgang damit sind für Vp06 ein Problem,
das sie thematisieren möchte, auch auf das Risiko hin, die Gesprächsatmosphäre
durch Konfrontation zu stören.
Nora: „Wir haben uns jetzt jeden Tag gesehen, und jetzt ist einfach nix mehr,
und ich weiß nicht, was los ist.“
Vp06: „Und das beschäftigt dich jetzt, und jetzt bist du wohl auch noch bisschen
enttäuscht.“
Nora: „Mhm.“
Vp06: „Und hast du denn eine Idee, was du jetzt machst?“
Nora (theatralisch): „Aus dem Fenster rausspringen.“
Vp06: „So verzweifelt bist du wegen dem?“
Nora (noch theatralischer, mit klagend-singendem Ton): „Jaaaaaaa … ja, ich
kann eigentlich nichts groß machen außer warten, vielleicht kommt irgendwann
mal was zurück.“
Vp06: „Ja, da kann ich dir leider auch keinen Rat geben, was du da am besten
machen kannst. Ja, jetzt noch wegen dem Nicht-in-die-Schule-Gehen, das
möchte ich mit dir auch noch schnell anschauen. Ich kann verstehen, dass du
Bauchweh hast wegen dem, wenn dich so viele Sachen beschäftigen, dass du
wegen dem vielleicht auch nicht in die Schule gehen magst. Du hast in letzter
Zeit ja so öfter Bauchweh und fühlst dich nicht so gut, und trotzdem wär’s mir
sehr wichtig, dass du mir das einfach sagst. Also, dass du mir vielleicht am
Morgen, wenn's nicht gut geht, auf mich zukommst und mir das sagst, dass wir
das dann ansehen können.“
214 Empirische Ergebnisse
Die dritte Form von Dilemmata ist eher methodischer Art. Die Versuchspersonen
überlegen, ob sie selbst die Initiative zu einem Thema ergreifen oder sie der
Klientin überlassen sollen. Sie möchten das Gespräch lenken oder weiter auf die
Klientin eingehen, auf eine Klientenäußerung reagieren oder sie ignorieren usw.
Die Dilemmata beziehen sich auf die Balance zwischen Verstehensorientierung
und strukturierender Einflussnahme. Das in diesem Bereich am häufigsten
genannte strukturelle Dilemma „Eingehen auf die Klientin vs. Lenken des
Gesprächs“ beschäftigt die Versuchspersonen in Set 1 und 2 häufig.
Vp06 ist in Set 2 mit der unerwarteten Offenheit von Nora überfordert. Nach
einer heiklen Einstiegssequenz um die Bauchschmerzen, Ausgehregeln und
kleinere Provokationen von Nora, die Vp06 im Unterschied zu Set 1 gut bewäl-
tigt, öffnet sich Nora.
Die Sequenz, in der Vp06 das Dilemma von Eingehen vs. Lenken thematisiert,
beginnt mit Noras Aufzählung der ganzen Palette ihrer Probleme mit den Wohn-
heimregeln, den Eltern und dem Freund. Vp06 weiß daraufhin nicht, was sie jetzt
mit dieser Offenheit und all den Problemen anfangen soll. Sie fragt etwas ziellos,
stellt eine geschlossene und eine Suggestivfrage und wird affirmativ („wird
schon besser“), bevor sie nach den Eltern fragt. In der ungelenkten Introspektion
beschreibt sie das Dilemma, worauf sie nun eingehen solle.
Vp03 nutzt eine vergleichbare Situation zur Neuausrichtung des Gesprächs.
Frau Gabler berichtet in Set 2 von ihrer Ambivalenz den freien Wochenenden
gegenüber und fragt Vp03 nach deren Sichtweise: „Ich möchte ja nicht, dass er
das Gefühl hat, ich würde ihn noch mehr abschieben, und das weiß ich eben
nicht, ob er das Gefühl hat – was glauben Sie, aus Ihrer Erfahrung?“ Vp03 sieht
sich nun gefordert, Frau Gabler eine (Experten-)Antwort zu geben, entscheidet
sich aber nach einer sechs Sekunden langen Pause dazu, ihr die Frage zurückzu-
geben: „Ja … , äh … , wenn ich … (Pause) …, haben Sie im Moment das Ge-
Veränderungen handlungsbegleitender Kognitionen 215
fühl, der Joel, so wie er sich verhält, hat das Gefühl, er werde abgeschoben von
Ihnen?“, worauf Frau Gabler mit einigem Erkenntnisgewinn und ausführlich
über Vor- und Nachteile eines freien Wochenendes nachzudenken beginnt und
ihre Ambivalenzen exploriert. Hier deutet sich ein neues Handlungsmuster an,
das Vp03 eine harte Handlungsunterbrechung und sichtliche Verstörung der
bekannten Routinen, die bereits zu laufen beginnen, kostet. Die alte Reaktion
wird gerade noch unterdrückt: „… wenn ich…“ (… Ihnen einen Rat geben
soll“). Im der ungelenkten Introspektion reflektiert sie ihr Dilemma zwischen
dem bekannten „Rat geben“ und neuen Alternativen, wie einer Frage, zu der „sie
sich wie die Antwort dann selbst gibt“. Hier deutet sich ein neues, nicht einfach
gewohnheitskonformes Reagieren im Dilemma zwischen Eingehen und Lenken
an. Die Mehrheit der Dilemmasituationen bleibt allerdings auch in Set 2 deutlich
unsicherheitsbesetzt.
MC GG HO handlungsorientiert-prospektiv: beziehungsbezogen 16 16 0
Summen 97 154 57
die Ohren, hat es nicht leicht“, Vp03 merkt, „dass es ihr nicht gut geht, und dass
es (Joel, Anm. ww) sie extrem beschäftigt“. Einzelne Versuchspersonen benut-
zen dazu auch die Informationen aus der Fallbeschreibung. Vp09 thematisiert als
Kognition „Verständnis zum Ausdruck bringen“ und hängt daran den Gedanken:
„… es stand ja in der Fallbeschreibung, Frau Gabler sei überarbeitet, es sei ihr
einfach zu viel mit ihrem Kind.“ Ähnliche Beispiele für konstruktive Kognitio-
nen in Set 1 finden sich in Codes wie „Einfühlsam sein“, „Klientin entlasten“,
„Ermutigen-Zuversicht schaffen“ oder „Explorationsbedarf“.
Die Namen für die Primärcodes sind den Formulierungen der Versuchsper-
sonen in den WAL entlehnt, um eine Art Kurzfassung des Gedankens der Ver-
suchsperson zu erhalten und den Appraisal-Charakter beim schnellen Handeln zu
erhalten. Deutlich wird in den Primärcodes, dass die handlungsorientierten
Kognitionen den Charakter von Selbstinstruktionen mit starkem Appellcharakter
tragen: „Ernst nehmen“, „Interesse signalisieren“, „einfühlsam sein“. Stoppcodes
zur Vermeidung nichtkonstruktiver Reaktionen wie „Ratschläge vermeiden“
oder „Sichtweise Versuchsperson zurückhalten“ deuten darauf hin, dass die
handlungsorientierten Kognitionen die Realisierung konstruktiven Handeln
unterstützen.
tin“ wieder. Die Äußerungen der Versuchspersonen sind in Set 1 häufig noch
ambivalent oder unterlegt mit kontrastierenden Gedanken, die das Verständnis
für die Klientin wieder brechen oder zum Pseudoverständnis gerinnen lassen.
Frau Gabler schildert z.B. in Set 1 Vp03 gegenüber Schuldgefühle, Joel bei der
Pflegefamilie platziert zu haben. Dort beschwichtigt Vp03 noch mit „so Gefühle
treten ja bei allen auf, mal bei vielen …“ In der WAL beschreibt Vp03 ihre
Gedanken mit: „Ich kann sie gut verstehen, möchte aber nicht darauf eingehen,
evtl. weil ich nicht wusste, wie dabei auf sie eingehen, so wich ich ihr aus.“ In
Set 2 werden diese Formulierungen zum Verständnis der Klientinnen ausführli-
cher, substanzieller und weniger gebrochen durch Relativierungen.
In der zweiten Erhebung thematisieren die Versuchspersonen in ihren Ge-
danken wiederholt die Wichtigkeit der Sicht der Klientinnen, das Ernstnehmen
der Klientinnen und das Vermeiden von Ratschlägen, was in Set 1 sehr selten ist
(5 – 28). Vp07 hat in Set 2 z.B. das Gefühl, keine Ratschläge geben zu dürfen,
womit sie die Arbeitsregel der Zurückhaltung eher starr interpretiert, aber zu
kooperativen Lösungen mit Frau Gabler kommt. Vp06 konzentriert sich im
Gespräch ebenfalls darauf, Frau Gabler nichts vorzuschreiben. Vp03 gibt sich
Mühe, „Frau Gabler nur gut zuzuhören und meine eigene Meinung nicht ins
Gespräch einfließen zu lassen“. Es finden sich viele solche Äußerungen, die die
Wichtigkeit der Klientensicht betonen. Sie zeigen sich auch im Code „Ernstneh-
men der Klientin“, zu dem nur noch ein Beispiel gegeben werden soll: Vp11 hält
sich mit Bewertungen auch bei der folgenden problematischen Sequenz zurück:
„Wo sie dann gesagt hat‚ ‚ich hab Joel ins Zimmer gesperrt’, hab ich gedacht, tu
nicht werten.“
da weiter vorgehen, dass ich da nicht im Kreis drehe.“ Auch wenn Vp12 noch
darum ringt, wie sie das Klagen von Nora vermeiden soll: Nach theatralischem
Insistieren von Nora („mein Leben ist zu Ende ohne ihn“) schafft es Vp12, sie an
ihr eigenes Leben zu erinnern: „Wann hast du denn zum letzten Mal wirklich
was mit deinen Freunden gemacht?“ Nora lässt sich darauf ein und gesteht
ernsthaft, das sei schon Wochen her, denn sie habe sich halt schon extrem auf
André fixiert. Der Wechsel im Gesprächsfokus geht dabei eher zögerlich und
noch wenig sicher vor sich, und er lässt wiederum Metakommunikation („jetzt
lassen wir mal den Freund, ich möchte was anderes mit dir besprechen“) vermis-
sen, aber es sind hier erste Ansätze zu bewusst moderierendem Verhalten er-
kennbar. Weitere Kognitionen zur Moderation beziehen sich darauf, den Ge-
sprächsfaden zu halten, konkret zu sein, Prioritäten zu setzen, Problembezug zu
schaffen und zu strukturieren.
Zieht man ein Fazit zu den aktiv Einfluss nehmenden Kognitionen, so lässt
sich bei den Versuchspersonen ein deutlich personzentriertes Denken sowie
Kognitionen zur konstruktiven inhaltlichen Einflussnahme feststellen. Das
Bewusstsein für Moderation ist noch eher wenig ausgeprägt, es zeigt sich in
Ansätzen zur Vermeidung destruktiver Entwicklungen und in einigen Gedanken
zur bewussten Gesprächssteuerung.
Grundsätzlich spricht nichts gegen diese Art „negatives Wissen“ (Oser &
Spychiger 2005). Wenn der Fokus beim Handeln jedoch zu sehr darauf gerichtet
220 Empirische Ergebnisse
angenommen werden, dass die Realität der beiden Institutionen, die Fallsituatio-
nen und die Simulationsklientinnen die erwünschte ökologische Validität erziel-
ten. Rollenspiele verlieren nach sehr kurzer Zeit ihren Spielcharakter und werden
zu Ernstsituationen, was die Studierenden am Ende des strukturierten Dialogs in
der Regel auch bestätigten. Angesichts der für Studienanfänger großen Unge-
wissheiten, der Anforderungen, der ökologischen Validität und der potenziell als
Prüfungssituation erlebten Rollenspiele sind negative Emotionen wie Unsicher-
heit, Besorgtheit, Scham oder Hilflosigkeit normale emotionale Reaktionen. Die
Gesamthäufigkeiten der Emotionen sehen wie folgt aus:
Set 1 ist von negativen Emotionen besetzt, sie beherrschen das emotionale
Erleben der Versuchspersonen deutlich. Diese reduzieren sich in Set 2 von 97
auf 75 Codestellen, was auf anhaltendes negatives Befinden der Versuchsperso-
nen auch in Set 2 hinweist. Die positiven Emotionsnennungen nehmen deutlich
zu, was auf erste Auswirkungen des Lernzuwachses auch auf die emotionalen
Reaktionen hindeutet. Ratlosigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit (hier als
Stress zusammengefasst) sind sowohl in Set 1 als auch in Set 2 die am häufigsten
genannten Emotionen. Bei den positiven Emotionen fallen vor allem in Set 2 die
Zunahme der Freude und Zufriedenheit mit den eigenen Reaktionen und deren
Ergebnis und die Zunahme von Zuneigung und Mitgefühl mit der Klientin auf.
Auffallend ist auch, dass im Bereich der positiven Emotionen viele selbstbezo-
gene Gefühle auftauchen („Erleichterung, Freude, Motivation, Zufriedenheit“)
und eher wenige klientenbezogene positive Emotionen wie Verständnis, Mitge-
fühl, Zuneigung oder Neugier auf deren Situation. Die folgenden zwei Tabellen
zeigen die Codehäufigkeiten der explizierten Emotionen. Die häufiger genannten
Emotionen werden im Anschluss detailliert beschrieben und diskutiert.
222 Empirische Ergebnisse
Unbehagen („mir ist unwohl“), als Frau Gabler berichtet, wie sie Joel ins Zim-
mer gesperrt hat. Sie sorgt sich, dass Frau Gabler die Kinder vielleicht schlage,
und fragt sich, wie sie darauf reagieren könnte. In der Situation mit Nora ist es
deren Schweigen, das die Versuchspersonen häufig als drohendes Abreißen des
Gesprächsflusses unter Stress setzt: Vp07 stellt am Anfang des Gesprächs
„kreuzverhörähnliche Fragen“, auf die Nora zunehmend wortkarg und mit
Schweigen reagiert. Die Versuchsperson nimmt den Druck zum Anlass, die
Strategie zu verändern, um mit Nora ins Gespräch zu kommen. Weiter sind
Noras offene Misstrauensäußerungen und Provokationen Anlass für Stress. Sätze
wie: „Am Anfang seid ihr Sozialpädagogen nett, nachher dann nicht mehr“,
oder: „Ich kann mit euch einfach nicht gut reden“, bringen die Versuchspersonen
erheblich unter Druck, weil sie ihr Ziel, mit den Versuchspersonen in ein einver-
nehmliches Gespräch oder überhaupt ins Gespräch zu kommen, gefährden.
Reaktionen von anderen zu erfahren (Berking 2010, S. 169; Ulich & Mayring
2003, S. 182). Scham als handlungsbegleitende Emotion wurde im Datenmateri-
al nur zweimal codiert. Der Gesprächseinstieg mit der Frage, ob die Klientin
einen Parkplatz gefunden habe, wurde bereits beschrieben. Vp03 reagiert mit
Scham, kritisiert sich und lenkt im weiteren Verlauf ab, die Beratungsstelle sei ja
auch mit Bus gut erreichbar, womit sie den Gesprächseinstieg einigermaßen
rettet.
Schuldgefühle sind bei Anfängern nicht zu erwarten, obwohl es in einigen
Situationen dazu Anlass gegeben hätte: Geringschätzende und entwertende
Kommentare gegenüber Nora oder unempathisches Verweigern von Entlastung
für Frau Gabler könnten Schuldgefühle erzeugen. Vp04 reagiert auf Noras
Bauchweh mit Vorwürfen und bewertet dies als schlechten Einstieg ins Ge-
spräch. Ihr Ziel, Nora zum eigentlichen Thema ihres Befindens und ihrer Fami-
lienprobleme zu führen, erreicht sie nicht. Sie kritisiert sich danach dafür, „dass
ich auf ihr rumgehackt habe (…) und sie schon fast wieder bisschen angegriffen
habe, unnötig, weil ich eigentlich hätte wissen sollen, dass das Problem bei den
Eltern liegt“. Nora reagiert verhalten: „Ich weiß schon, dass es wichtig ist, aber
es geht mir einfach nicht gut“, worauf Vp04 sich korrigiert und ernsthaft und
beharrlich nach Noras Befinden fragt. Drei Interaktionen später legt Nora die
Zeitung auf die Seite und signalisiert Interesse am Gespräch.
negativer und der Zunahme positiver emotionaler Reaktionen und auch in deren
Qualität, wie z.B. am Verhältnis von generalisierter Hilflosigkeit in der Gesamt-
situation und eher spezifischer Ratlosigkeit zu einzelnen Fragen im Gespräch zu
sehen ist. Aber Entspanntheit, Sicherheit und Gelassenheit im kommunikativen
Handeln fehlt den Versuchspersonen zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung noch
in hohem Maß.
Die einzige Nennung zum Gefühl der Entspanntheit findet sich bei Vp06, die
mit 12 Nennungen von Anspannung, Hilflosigkeit und Überforderung in den
WAL sehr viele negative Emotionen expliziert. Als sie Frau Gabler auf ihre
Bedürfnisse zu den Wochenenden mit Joel lenken kann und diese ihre Bedürf-
nisse frei und ausführlich beschreibt, findet Vp06: „An diesem Punkt fangen wir
an, zusammen nach Lösungen zu suchen und die Vor- und Nachteile der Mög-
lichkeiten abzuwägen. (…) Dieses gemeinsame Aushandeln geschieht von
meiner Seite gar nicht bewusst. Ich konzentriere mich nur darauf, Frau Gabler
nichts vorzuschreiben. Ich fühle mich sehr gut und entspannt. Die Atmosphäre
ist locker, und die Zusammenarbeit klappt super.“ Die wenigen Fundstellen zu
„Sicherheit“ beziehen sich auf das Gefühl, im Gespräch auf dem richtigen Weg
zu sein: Vp07 äußert z.B. im Gespräch mit Frau Gabler in Set 2: „Ich fühlte mich
zu Beginn des Gesprächs etwas unter Druck, fühle mich dann etwas sicherer und
wohler, als ich zu den offenen Fragen wechselte“; oder Vp04, die mit Nora
mögliche Wege zur Kontaktaufnahme mit der Mutter erarbeitet und in der WAL
kommentiert: „Ich fühle mich im Gespräch auf dem richtigen Weg.“
Auch im Gespräch mit Nora richtet sich die Zufriedenheit von Vp07 auf ihr
Handeln: „Nora erzählt mir von den Problemen, die sie mit Mutter und Freund
hat. Ich höre ihr aktiv zu, versichere mich, indem ich versuche, ihre Gedanken
und Gefühle wiederzugeben. Ich frage mich, wie sie sich fühlt in dieser Situati-
on, konzentriere mich eigentlich nur auf das, was sie sagt. Ich habe das Gefühl,
sie verstehen und nachvollziehen zu können, was sie sagt. Ich bin ziemlich
zufrieden mit dem Ergebnis. Im Nachhinein kommt mir dieses ‚versteh-ich-
richtig-dass …´ zum Teil etwas überflüssig vor.“ Die Zufriedenheit von Vp07
mit ihrem Handeln ist jedoch eher die Ausnahme, meist sind die Versuchsperso-
nen zufrieden darüber, dass
Erfolg
Misserfolg Set1 Set2 Set1 Set1
MC AEB- 31 9 20 6
MC AEB+ 17 42 9 22
Tab. 38: Situationsprototypen und Interaktionserfolg von Set 1 zu Set 2
Unter der Annahme, dass viele Prozesse beim kommunikativen Handeln nicht
bewusstseinspflichtig, aber bewusstseinsfähig sind, werden die Nennungen als
„knowledge in action“ (Altrichter 2000, S. 204f.) und Wissen beim Handeln
unter Druck interpretiert (Wahl et al. 1995, S. 64f.). Angesichts der limitierten
Repräsentations- und Aufmerksamkeitskapazitäten stellt die Zunahme der
genutzten Wissensbestände einen deutlichen Lernzuwachs dar.
Die Versuchspersonen zeigen Fachwissen besonders aus drei Bereichen der
Lehrveranstaltung. Sehr verbreitet findet sich Wissen aus dem Bereich der
klientenzentrierten Gesprächsführung und Beratung, wie einige Beispiele von
Primärcodes in Set 2 deutlich machen: Die Nennungen reichen von „aktiv
zuhören“, über „Exploration“, „hilfreich fragen“, „Klientenperspektive berück-
sichtigen“ bis zu „Verstehen absichern“. Ein zweiter Wissensbereich, der breit
aufgenommen wurde, stammt aus den Grundlagen der Kommunikationspsycho-
logie, die nach der Hamburger Schule (Schulz von Thun 2007a) vermittelt
wurden. Expliziert wurde z.B. „Appell“, „Feedback geben“, „nonverbale Kom-
munikation beachten“, „Sach- und Beziehungsebene“, „Störungen“ und weitere
Begriffe aus diesem Themenbereich. Einen dritten Bereich bilden Nennungen
aus methodischen Ansätzen zur Gesprächsführung (Benien 2004; Flammer 2001;
Redlich 1987; Weisbach 2003), was auf eine Repräsentation von Gesprächen als
Problemlöseprozesse verweist. Die Versuchspersonen nennen „systematisches
Problemlösen“, „Gesprächsprioritäten setzen“, „Themenklärung“, „Klärung
schaffen“, „Ergebnisse sichern“, „Vereinbarungen treffen“ oder „Zusammenfas-
sen“, Stichwörter, die den Gesprächsprozess und das in ihm verfolgte Problem-
löseverfahren zeigen.
Bedeutsam, aber schwer zu erfassen sind fehlende oder nicht genutzte Wis-
sensbestände. Ein Vergleich der genannten Wissensbestände mit den Themenbe-
reichen im Modul zeigt, dass vor allem das Wissen zu so genannt „schwierigen
Gesprächen“ (Benien 2004) wie Konflikt-, Kritik- und Krisengespräche,
Schlechte-Nachrichten-Gespräche und Gespräche im Zwangskontext nur wenig
repräsentiert ist. Die Versuchspersonen nutzen vor allem die personzentrierte
Gesprächsführung, mit einem deutlichen Interesse an beratungsorientierter
Kommunikation.
Veränderungen der Wissensnutzung beim Handeln 243
Eher erzieherische, direktive und Grenzen setzende oder die Klientin herausfor-
dernde Handlungsformen, wie sie von der Fallanlage her verlangt wären, schei-
nen den Studierenden weniger bedeutsam. Und wenn sie bedeutsam werden, sind
sie weniger mit Wissen verknüpft, obwohl die Fallsituation und das Verhalten
Noras das erfordern würden. Einige exemplarische Fundstellen werden im
Folgenden beschrieben: Nur eine Versuchsperson thematisiert z.B. das störende
Blättern von Nora Schmidig in der Zeitschrift: Vp09 bittet Nora, die Zeitschrift
wegzulegen, sie beschreibt als handlungsbegleitende Gedanken: „Störquellen,
Ablenkungen und Gesprächsblocker beseitigen.“ Dies sind nur zwei Nennungen
zum Thema „Störungen der Kommunikation“, was besonders angesichts des
Verhaltens von Nora Schmidig (gelangweiltes Blättern in einer Zeitschrift,
nonverbale Signale eines Desinteresses am Gespräch, Widerstand, Schweigen,
Vorwürfe an die Fachkraft usw.) doch sehr erstaunt. Zu weiteren herausfordern-
den Situationstypen wie „angemessene Kritik äußern“, „Konflikte bearbeiten“,
„Grenzen setzen“, „angemessen Konfrontieren“ finden sich keine Nennungen.
Ein Beispiel aus der Beratungssituation zeigt eine deutliche und explizite
Nutzung von Wissen aus dem Modul: Vp07 beschreibt die Episode als „Explora-
tion des Problembereichs“, benutzt die Perspektive der Problem- und Ressour-
cenzentrierung („möchte mich nicht nur auf das Problem konzentrieren“), sie
möchte „eine Unterstützung sein“ und „neue Perspektiven mit Frau Gabler
entwickeln“.
weist. Bei etwa der Hälfte der Versuchspersonen ist eine markante Steigerung
der Wissensnutzung zu beobachten, die andere Hälfte der Versuchspersonen
hingegen zeigt sich in dieser Hinsicht nur wenig oder nicht verbessert, wie z.B.
Vp10 oder 12, die kaum explizite Wissensbezüge zu den Modulinhalten machen.
Selbst eine Reduktion der Wissensnutzung scheint möglich (Vp05 und 12).
Vp Vp01 Vp02 Vp03 Vp04 Vp05 Vp06 Vp07 Vp08 Vp09 Vp10 Vp11 Vp12
MC WN Set 1 0 0 1 0 10 0 3 1 4 1 0 4
MC WN Set 2 20 13 24 17 7 9 20 7 11 1 14 3
Tab. 42: Nennungen modulbezogenes Wissen in Set 1 und Set 2 pro Versuchsperson
Gutes deklaratives Wissen stellt die Basis kompetenten Handelns dar (Gruber
1999a, S. 51f.; Strasser 2006, S. 301), und dieses Basiswissen scheint sich hier
beim Handeln nur eines Teils der Versuchspersonen zu zeigen. Beim erfolgrei-
cheren Teil der Versuchspersonen zeigen sich doch zwischen zwei und vier
Bezügen zum im Modul vermittelten Wissen in den ca. sechs erstellten WAL in
Set 2.
Diese Häufigkeiten geben auch Hinweise darauf, wie begrenzt die Kapazitä-
ten der Informationsverarbeitung in Handlungssituationen sind (Wahl et al.
1995, S. 65f.) und wie wenige Informationseinheiten der bewussten Verarbei-
tung (hier im Durchschnitt der bedeutsamen Episoden zwei und im Maximum
vier Nennungen pro Episode) zugänglich sind. Diese Nennungen zum Wissen
zeigen sich häufig als Gedankenfetzen, kurze Appelle oder fachbezogene
Schlagwörter, was die Bedeutung der Prozeduralisierung von deklarativem
Wissen in Handlungsinstruktionen und Arbeitsregeln unterstreicht. Die Ergeb-
nisse verweisen aber doch auf die prinzipielle Möglichkeit der Wissensnutzung
beim Handeln auch in kommunikativen Situationen. Neben der automatisierten
Handlungsregulation gelingt den Versuchspersonen der Zugriff auf bewusste
Wahrnehmung und Begrifflichkeiten (perzeptiv-begriffliche Ebene der Hand-
lungsregulation) grundsätzlich doch (Cranach & Bangerter 2000, S. 240). Aller-
dings fällt die alltagssprachliche Transformation der Begriffe auf: In den WAL
finden sich nur wenige wirklich präzise genutzte Fachbegriffe, obwohl das
Theoriewissen präzise Fachlichkeit anbot. Ob die Alltagssprachlichkeit ein
Zeichen wenig präzisen Lernens sind oder für die Transformation der
Fachlichkeit in ST sprechen, wird in Kapitel 7.5 diskutiert.
Bedingungskonfigurationen von Lernerfolg 245
– den Absolventen der gymnasialer Matura (400 % des Werts von Set 1, d.h.
Vervierfachung) besser als denen mit Lehre und Berufsmatura (177 % von
Set 1),
Bedingungskonfigurationen von Lernerfolg 247
– den jüngeren Versuchspersonen (314 % des Werts von Set 1, d.h. Verdreifa-
chung der positiven Ergebnisbewertungen) besser als den älteren (166 %),
– den Studierenden mit weniger Praxiserfahrung (300 % des Werts von Set 1)
besser als den praxiserfahreneren (200 %),
– den Ungewissheitsorientierten etwas besser (300 % des Werts von Set 1) als
den Gewissheitsorientierten (220 %),
– den Frauen (271 % des Werts von Set 1) ebenfalls etwas besser als den
Männern (216 % des Werts von Set 1).
Diese Ergebnisse werden in Kapitel 7.7 gemeinsam mit den anderen Auswertun-
gen zu den Bedingungen von Kommunikationserfolg interpretiert und diskutiert.
7 Diskussion der Ergebnisse
Ausgangslage der vorliegenden Arbeit waren die kritischen Bewertungen profes-
sioneller Handlungskompetenz von Fachkräften der Sozialen Arbeit (Ackermann
& Seeck 1999; Müller 2006), der unbefriedigende Stand der Ausbildungsfor-
schung zum Studium der Sozialen Arbeit und die verbreitete Skepsis gegenüber
dem Beitrag der Studiengänge zur Handlungskompetenz der Studierenden, trotz
aller Beteuerungen, dass die Ausbildungen sich am Aufbau von Kompetenzen
orientieren. Ausgehend von dieser Situation, rekonstruierte die Untersuchung im
Rahmen einer Modifikationsstudie die Wirkungen einer gemäßigt-
konstruktivistischen Lernumgebung „Kommunikation und Gesprächsführung in
der Sozialen Arbeit“ auf eine Gruppe von zwölf Studierenden. Sie wollte so
einen empirischen Beitrag zum Nachweis und einen fachdidaktischen Beitrag zur
Möglichkeit der Kompetenzförderung im Studium der Sozialen Arbeit leisten.
Mit der Modifikationsstudie sollten im Anschluss an die Arbeit von Wahl (Wahl
2005; Wahl et al. 1995) „nachhaltige Wege vom Wissen zum Handeln“ (Wahl
2001a) – hier zum kommunikativen Handeln – von Studierenden der Sozialen
Arbeit aufgezeigt werden. Die Studie fokussierte dabei auf die am schwersten zu
modifizierenden kommunikativen Situations-Handlungsmuster oder Subjektiven
Theorien geringer Reichweite beim „Handeln unter Druck“ (Wahl 1991).
Im folgenden Kapitel werden die in Kapitel 6 beschriebenen empirischen Er-
gebnisse interpretiert und diskutiert; der Kompetenzzuwachs der Versuchsperso-
nen wird vor dem Hintergrund der theoretischen Orientierung sowie der empiri-
schen Erkenntnisse, die zur gemäßigt-konstruktivistischen Lernumgebung
bereits vorliegen, bewertet. Da die untersuchte Stichprobe in einem zielorientier-
ten Sampling mit der Idee der maximalen Kontrastierung von Merkmalen der
Studierenden ausgewählt wurde und keine repräsentative oder durchschnittliche
Stichprobe darstellt, ist die Reichweite der Aussagen begrenzt. Die Bewertung
des Erfolgs der Lernumgebung bezieht sich auf die ausgewählte Untersuchungs-
gruppe und fokussiert auf die Profilmerkmale der untersuchten Studierenden vor
dem Hintergrund der in Kapitel 4.2 angestellten Überlegungen. Angesichts der
Tatsache, dass sich in traditionellen Lehr-Lern-Umgebungen langjährig erwor-
bene Kommunikationsmuster nur schwer modifizieren lassen, und auch auf der
Basis bereits bestehender empirischer Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit
der hier angewandten Lernumgebung sind dennoch Aussagen zu deren Wirkun-
gen auf das kommunikative Handeln der Versuchspersonen möglich.
wird, sondern wenn sie sich als Kompetenz zur ‚Einbeziehung des Anderen’
(Habermas 1996) (…) bewährt“ (Treptow 2011, S. 603f.). Diese Tendenz zu
deutlich verstärktem personzentriertem und verständigungsorientiertem Handeln
wird als die übergreifende Entwicklungstendenz im kommunikativen Handeln
der Versuchspersonen interpretiert. In den Veränderungen der Handlungsproto-
typen, der handlungsbegleitenden Gedanken und in den Selbstbewertungen der
Ergebnisse der Episoden wird durchgängig deutlich, dass die Versuchspersonen
sich um ein verständigungsorientiertes, an einer personzentrierten Perspektive
ausgerichtetes Handeln mit den Simulationsklientinnen bemühen und dies auch
häufig erfolgreich realisieren. Besonders zu bewerten ist dabei die Veränderung
im Rollenspiel mit der Jugendlichen Nora, in dem in Set 1 häufig reaktante
Verhaltensmuster, Blockaden oder latente, zum Teil auch offene Feindseligkei-
ten der Klientin beobachtbar waren. Diese verschwinden in Set 2. Stattdessen
zeigen sich vorsichtige, um Kontakt und Kooperation bemühte Versuche, ins
Gespräch zu kommen und Nora für das Gespräch zu gewinnen. Das
personzentrierte Handeln geht z.T. sogar so weit, dass die ebenfalls nötigen, eher
erzieherischen Anforderungen des Gesprächs in den Hintergrund treten. Dass die
negativen Klientenbilder (Frau Gabler als überfordert und verantwortungslos,
Nora als faule Simulantin, die nicht zur Schule will) in Set 2 weitgehend ver-
schwunden sind, unterstützt diese Tendenz, auch wenn explizite Zeichen der
Wertschätzung und des Respekts vor den Kompetenzen z.B. von Frau Gabler,
die ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein für ihre Kinder zeigt, noch zu
wenig explizit sind. In diesem Zusammenhang als großer Erfolg bewertet wird
z.B. das weitgehende Verschwinden von sog. Gesprächsstörern wie Vorwürfen,
unerbetenen Ratschlägen, Verboten oder feindseligen Misstrauensäußerungen.
Beziehungsgestaltung im Gespräch:
Bei den Kognitionen, Emotionen und Reaktionstypen wurden auch beziehungs-
bezogene Äußerungen codiert. Dabei sind folgende Trends zu beobachten: Die
Versuchspersonen bemühen sich mehr um Verständigung; dies zeigen die
Gedanken und Reaktionen, die sich stark an den personzentrierten Haltungen
und Methoden orientieren. Kommunikative Handlungen, die die Beziehung
explizit zum Thema machen, finden sich nur wenige. Trotz des großen Bedarfs
an Metakommunikation vor allem im sozialpädagogischen Alltagsgespräch ist
den Versuchspersonen diese Dimension wenig bewusst. Auch die bewusste
Gestaltung einer konstruktiven Machtbeziehung, z.B. bei der Einforderung von
Regeln oder der legitimen Durchsetzung von Forderungen oder Konfliktlösestra-
tegien im Umgang mit Nora, sind nicht erkennbar. Störungsbehandlung, Meta-
kommunikation oder die direkt beziehungsbezogene Kommunikation müssten
vermehrt und expliziter praktiziert werden. Es ist zweifelhaft, ob dies ein Arte-
fakt ist, denn real erlebte Beziehung lässt sich vermutlich nicht in der gleichen
Weise simulieren wie Gesprächsmethodik. Dies hängt vor allem davon ab, wie
Allgemeine Wirkung der Lernumgebung 253
bar. Die Ergebnisse stehen in deutlichem Gegensatz z.B. zu den Aussagen von
Müller oder Ackermann (Ackermann & Seeck 1999; Müller 2006), die kaum
eine ausgewiesene Fachlichkeit bei den von ihnen untersuchten Sozialpädagogen
erkennen können.
stände zur Beratung besser nutzbar und die Alltagsnähe der sozialpädagogischen
Situation führt die Versuchspersonen auch zu eher alltagsorientierten Denkmus-
tern.
selten. Dasselbe gilt für Äußerungen konstruktiver Kritik, zur Einhaltung von
Regeln, hilfreiche Konfrontationen oder Interventionen zur Konfliktlösung und
Deeskalation, die sicher explizites Training und ein Mehr an Aufmerksamkeit im
Modul erfordern, als dies hier möglich war.
Lageorientierte Kognitionen
Die Veränderungen bei den als „lageorientierte Kognitionen“ codierten hand-
lungsbegleitenden Gedanken zeigen eine geringe Wirkung des Moduls auf den
kognitiv-bewältigungsorientierten Umgang der Versuchspersonen mit Misser-
folgen und Unsicherheiten in der Handlungsausführung. Diese Kognitionen
nehmen in der Häu