Rolf Mahnken
Lehrbuch der
Technischen Mechanik –
Statik
Grundlagen und Anwendungen
123
Prof. Dr.-Ing. Rolf Mahnken, M.Sc.
Universität Paderborn
Fakultät für Maschinenbau
Lehrstuhl für Technische Mechanik
Warburger Straße 100
33098 Paderborn
Deutschland
rolf.mahnken@ltm.upb.de
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c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne beson-
dere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung
als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Statik ist die Lehre vom Gleichgewicht von Körpern, die unter dem Einfluß von Kräften
stehen. Dabei denkt man zunächst an ruhende Körper - so wie die Baumeister der An-
tike, die bei der Errichtung monumentaler Gebäude großen Herausforderungen gegenüber-
standen. Während damals die Bauausführungen vorwiegend auf Erfahrungen beruhten, sind
im heutigen Ingenieuralltag außerdem zuverlässige und effiziente Berechnungsverfahren
unerlässlich. Damit wird es möglich, immer höhere Gebäude und Brücken mit immer
weiteren Spannweiten zu bauen. Jedoch weisen uns aktuelle Nachrichten, etwa über ein-
sturzgefährdete Brücken und U-Bahnbaustellen oder auf Grund von Eis- und Schneelast
umgestürzte Strommasten und Eissporthallen, immer wieder auf das Gefahrenpotenzial von
Ingenieurkonstruktionen hin.
Berücksichtigt man, dass sich nicht nur ruhende, sondern auch nicht beschleunigte Kör-
per im Gleichgewicht befinden, dann sind die Angabe des Übersetzungsverhältnisses für ein
PKW-Getriebe oder die Berechnung von Kräften in Zahnradgetrieben bei konstanter Drehge-
schwindigkeit ebenfalls Fragestellungen, die mit Methoden der Statik beantwortet werden
können.
Für Studierende vieler Ingenieurbereiche ist eine eingehende Beschäftigung mit der
Statik also von grundsätzlicher Bedeutung, um auch im späteren Berufsleben den An-
forderungen an sichere Bauten und Maschinen unter wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
gerecht zu werden. Das vorliegende Buch richtet sich somit vorrangig an Studentinnen und
Studenten der Fachrichtungen Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Geologie, Elektrotech-
nik, Wirtschaftsingenieurwesen, Technomathematik, Ingenieurinformatik, Mechatronik, Ver-
fahrenstechnik und Lehramt sowie an Ingenieure in der beruflichen Praxis. Entsprechend
wird die Statik starrer Körper umfassend behandelt. Zum Verständnis des Buches werden
Kenntnisse über Physik und Mathematik auf Abiturniveau vorausgesetzt.
Das Buch ist aus gleichnamigen Vorlesungen entstanden, die der Autor in den Win-
tersemestern 1997/98 und 1998/99 an der Universität Hannover für Studenten des Bauinge-
nieurwesens gehalten hat und seit dem Wintersemester 2004/05 an der Universität Paderborn
für Studenten des Maschinenbaus und des Wirtschaftsingenieurwesens hält. Dabei wurden
und werden auch weiterhin die unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkte der verschiede-
nen Hörerkreise berücksichtigt. Sie sind in dieses Buch eingegangen und tragen zu der um-
fassenden Darstellung der Statik starrer Körper bei.
Besonders bedanken möchte ich mich bei ehemaligen und jetzigen Mitarbeitern des
Lehrstuhls für Technische Mechanik, Universität Paderborn, Dr.-Ing. Franz-Barthold Gockel,
Dr.-Ing. Stefan Wilmanns, Dipl.-Ing. Kim Sauerland, Dr.-Ing. Ismael Caylak, Dipl.-Ing.
Frederik Hankeln für die Unterstützung bei der Erstellung der Übungsaufgaben. Des Wei-
teren sei den Hilfsassistenten Martin Kage und Sebastian Heibel für die Bearbeitung der
Übungsaufgaben sowie Herrn Kohlstedt für die Programmierung mit MATLAB gedankt. Den
Hilfsassistenten Dominik Stümpel und Simon Maike sowie Herrn Kai Yang danke ich für die
sorgfältige Anfertigung der anschaulichen Abbildungen. Dem Springer Verlag und insbeson-
dere Frau Eva Hestermann-Beyerle möchte ich für die gute Zusammenarbeit danken.
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.1 Was ist Mechanik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Einige Meilensteine in der Geschichte der Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3 Einteilung der Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Einteilung und Inhalte des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.5 Ziele des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1 Die Newtonsche Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1.1 Definition Betrag einer Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1.2 Definition des Kraftvektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.1.3 Flächen- und Volumenkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.1.4 Lastermittlung für Ingenieurkonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.1.5 Freischneiden und Freikörperbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.1.6 Einteilung von Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.7 Aufgaben zu Abschnitt 2.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.2 Der Starrkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.3 Der Freiheitsgrad eines Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.4 Lager- und Reaktionskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.4.2 Lagerarten für ebene Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.4.3 Lagerarten für räumliche Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.4.4 Zwischenlagerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.4.5 Aufgaben zu Abschnitt 2.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
8 Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
8.1 Der Schwerpunkt einer Körpergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
8.1.1 Definition und Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
8.1.2 Aufgaben zu Abschnitt 8.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
8.2 Der Schwerpunkt eines inhomogenen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
X Inhaltsverzeichnis
12 Schnittgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
12.1 Definition von Schnittgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
12.2 Gleichgewichtsmethode für einteilige Balkentragwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
12.3 Zusammenhang zwischen Belastungen und Schnittgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . 337
12.4 Praktische Berechnung von Schnittgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
12.5 Berechnen der Schnittgrößen durch Lösen der Differenzialgleichungen . . . . . 350
12.6 Schnittgrößen in räumlichen Tragwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
12.7 Schnittgrößen in Werkzeugen und Maschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
12.8 Aufgaben zu Kapitel 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
13 Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
13.1 Grundlagen zur Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
13.2 Reibungsgesetze für Haft- und Gleitreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
13.2.1 Vier Zustände eines Körpers bei Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
13.2.2 Haftreibung für Gleichgewicht im Zustand I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
13.2.3 Das Haftreibungsgesetz im Grenzzustand II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
13.2.4 Die beschleunigte Bewegung im Zustand III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
13.2.5 Das Gleitreibungsgesetz im Zustand IV mit gleichförmiger Bewegung 372
13.3 Praktische Berechnung von Systemen mit Reibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
13.4 Haftreibungswinkel, Haftreibungskegel und Selbsthemmung . . . . . . . . . . . . . . 376
13.5 Reibung in Keilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
13.6 Reibung in Schrauben und Gewinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
13.6.1 Schrauben mit Flachgewinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
13.6.2 Schrauben mit Spitzgewinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
13.6.3 Schrauben mit Vorspannkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
13.7 Seilreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
13.8 Wirkungsgrad für allgemeine Reibungsverluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
13.9 Aufgaben zu Kapitel 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
XII Inhaltsverzeichnis
15 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
A Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
B Notwendige und hinreichende Bedingungen in der Statik . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
C Grundlagen der Vektorrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
C.1 Rechenoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
C.2 Vektorbasis und Basisdarstellung von Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
D Grundlagen der Matrixrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
E Anhang zu Kraftsystemen in der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
E.1 Beweis des Reduktionsgesetzes (5.9) für Drehmomente in der Ebene . 444
E.2 Beweis der Gleichgewichtsbedingungen (5.10) für Drehmomente in
der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
E.3 Beweis der statisch äquivalenten Gleichgewichtsbedingungen (5.27) . 445
F Anhang zu Kraftsystemen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
F.1 Beweis des Verschiebungsgesetzes (6.18.1) für Drehmomentenvektoren446
F.2 Beweis des Reduktionsgesetzes (6.18.2) für Drehmomentenvektoren . 446
F.3 Beweise zu den Regeln (6.29) des axialen Momentenvektors . . . . . . . . 447
Inhaltsverzeichnis XIII
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
1
Einleitung
Stellt man mehreren Personen in Familie, Beruf und Freizeit die Frage „Was ist Mechanik?”,
erhält man vielfältige Antworten: Der eine denkt zuerst an den Kfz-Mechaniker anlässlich
der gerade durchgeführten PKW-Inspektion oder an den Fein-Mechaniker, der eine Uhr repa-
riert. Bei anderen werden Erinnerungen an das Zahnradwerk in Abb. 1.1 geweckt, das Charly
Chaplin in dem Film Moderne Zeiten vor schwer lösbare Aufgaben stellte, oder man wird in
die virtuelle Welt von Jim Knopf mit dem „Perpetumobil” in Abb. 1.1 versetzt. Weiter findet
man folgende Antworten auf die Frage „Was ist Mechanik?”:
1. „Die Kunst, die Natur zu überlisten” (Klassische Antike).
2. „Die Kunst, “Maschinen zu bauen” (Mechanike, Übersetzung aus dem Griechischen).
3. „Teilgebiet der Physik, beschäftigt sich mit den Bewegungen, den sie verursachenden
Kräften, mit der Zusammensetzung und dem Gleichgewicht von Kräften...” (Meyer’s
Lexikon, [23]).
4. „Die Mechanik ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn in ihr zeitigt
man die Früchte der Mathematik” (Leonardo da Vinci, 1452-1519).
5. „Theoretisch, unpraktisch, überflüssig” (Student).
6. „...hätte ich als Student gewusst, dass diese Dinge heute für unsere Firma wichtig werden,
dann hätte ich mich damals mehr für die Mechanik interessiert” (Diplom-Ingenieur einer
Dienstleistungsfirma).
c Roy Export SAS, Paris Gezeichnet von F.J. Tripp
c Thienemann Verlag
Abb. 1.1. Links: Zahnradwerk mit Charlie Chaplin in Moderne Zeiten, (1936). Rechts: "Perpetumobil" aus
Michael Endes "Jim Knopf und die Wilde 13" [41].
„Die Natur zu überlisten” in Antwort 1 war in der klassischen Antike ein Grundsatz
bei der Erfindung und Konstruktion von Kriegsgeräten, Räder- und Hebewerken. Heute hat
dieser Grundsatz allenfalls noch in virtuellen Welten, wie in Zeichentrickfilmen oder der
Darstellung in Abb. 1.1 von Jim Knopf bei der Konstruktion des „Perpetumobils”, Bestand.
Nach dem aktuellen Stand der Technik gründet sich die Mechanik auf Axiome. Dieses sind
Naturgesetze, die nicht beweisbar sind, sondern aus Experimenten oder aus der Beobachtung
und Analyse von Naturerscheinungen abgeleitet werden. Eines der bekanntesten Axiome ist
das zweite Axiom (oder: das dynamische Grundgesetz) von Sir Isaac Newton (1642-1727),
welches er 1686 in seiner Arbeit Principia Mathematica Philosophia Naturalis (Die mathe-
matischen Grundsätze der Naturphilosophie) formuliert hat.1
Im heutigen Ingenieuralltag wird bei der Berechnung von Standsicherheit und Funktion-
stüchtigkeit einer technischen Konstruktion, wie z.B. der Hebebühne oder der Gasturbine
in Abb. 1.3, das reale technische System auf der Grundlage der bereits erwähnten mechani-
schen Axiome auf mathematische Modellgleichungen zurückgeführt. Damit ist „Maschinen
zu bauen” heute nicht nur eine „Kunst” wie in Antwort 2, sondern ebenso eine ständige
Herausforderung an zuverlässige Modellbeschreibungen von „den Bewegungen, den sie
verursachenden Kräften” und „dem Gleichgewicht von Kräften” aus Antwort 3.
Die axiomatisch begründeten mathematischen Modellglei-
chungen sind i.d.R. lineare oder nichtlineare algebraische Glei-
chungssysteme oder Differentialgleichungen. Damit ist die
Mathematik die Sprache der Mechanik oder, wie es Leonardo
da Vinci begeistert in Antwort 4 formulierte, „das Paradies der
mathematischen Wissenschaften”. Die Lösungen der mathema-
tischen Gleichungen sind im Einzelfall sehr komplex und wer-
den daher im Ingenieuralltag mit Hilfe numerischer Metho-
den gelöst. Während des Studiums ist es für das Verständnis
eines Studenten jedoch unerlässlich, mathematische Operatio-
nen auch durch Handrechnungen durchzuführen, was Übung,
Abb. 1.2. Leonardo Da Vinci
Fleiß und Geduld erfordert, aber auch gelegentlich zu Verdruss (1452-1519)
führen kann, wie bei dem Studenten in Antwort 5.
Die Lösung von Ingenieurproblemen ist ohne den Einsatz der Mechanik also heute kaum
möglich. Weitere aktuelle Aufgabenstellungen bei ruhenden Konstruktionen sind z.B. die
Gewährleistung der Standsicherheit
• einer Stahlbeton-Geschossdecke unter Eigengewicht und Nutzlasten
• des Dachstuhls eines Wohnhauses unter Eigengewicht, Wind- und Schneelasten
• einer Eissporthalle unter Eigengewicht, Wind- und Schneelasten
• einer Staumauer unter Wasserdruck
• einer Eisenbahnbrücke unter Eigengewicht und Nutzlasten.
Aufgabenstellungen bei technischen Konstruktionen, die sich bewegen oder bei denen die
Bewegungen weiterer Medien einen Einfluss haben, sind z.B. die
• Vorhersage der Durchbiegung einer Eisenbahnbrücke infolge eines fahrenden Zuges
1
Diese Arbeit ist vollständig in [17] in deutscher Sprache abgedruckt.
1.2 Einige Meilensteine in der Geschichte der Mechanik 3
Quelle: LoryLift Lödige Fördertechnik Quelle: ALSTOM (Schweiz) AG, Baden, Schweiz
Die Geschichte der Mechanik reicht bis in die Antike. Die Wortprägungen „mechanae, tech-
nae” stammen von dem Philosophen Aristoteles (384-322 v. C.). Die Lehren von Aristoteles
haben für die heutige Mechanik jedoch kaum Bestand. Beispielsweise erklärte er die Ur-
sache der ersten Phase des schrägen Wurfes mit einer vis viva, einer „lebendigen Kraft”,
die schließlich „erlischt”, so dass der Körper in einer Kurve zu Boden fällt. Die aus dem
Altertum und dem frühen Mittelalter gesammelten Erkenntnisse sind bestenfalls für die Ent-
wicklung der Mechanik von Bedeutung, für den heutigen Wissensstand der Mechanik wie
für die gesamte heutige Naturwissenschaft sind sie jedoch gering. Einige Ausnahmen sind
die Erkenntnisse von Archimedes (227-212) über Hebel, Flaschenzug, Schwerpunkt und
Auftrieb. Von ihm stammt auch die bereits erwähnte Aussage, die Mechanik ist eine „Kunst,
„die Natur zu überlisten”. Erst gegen Ende des Mittelalters, also fast 2000 Jahre nach den
4 1 Einleitung
Lehren von Aristoteles, erreichte das Wissen über die Mechanik einen Stand, der die heutige
Naturwissenschaft begründete.
Von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung hin zur modernen Naturwissenschaft
war zum Einen die Berücksichtigung von Beobachtungen, wie z.B. der Planetenbewegungen
durch Tycho de Brahe (1546-1601). Zum Anderen wurden Experimente zu Naturerschei-
nungen durchgeführt und daraus Gesetzmäßigkeiten abgeleitetet, wie z.B. Leonardo Da
Vinci (1452-1519) mit Erkenntnissen über das Gleichgewicht auf der schiefen Ebene und
Simon Stevin (1548-1620) mit Erkenntnissen über den Hebel, die schiefe Ebene und die
Kräftezusammensetzung.
a) b)
Galileo Galilei
(1564 - 1642)
Abb. 1.4. Beispiele für eingespannten Balken mit Belastung: a) Holzbalken nach Galilei mit Belastung durch
Steinblock, b) Tragflügel eines Flugzeuges mit Belastung durch Turbine
Für die Entwicklung der Festkörpermechanik hat Galileo Galilei (1564 - 1642) grundle-
gende Ergebnisse erarbeitet [17]. Insbesondere hat er erste mathematische Ansätze für die
Materialbeanspruchung eines eingespannten Balkens mit Belastung durch einen Steinblock
formuliert, wie in Abb. 1.4.a dargestellt. Diese finden auch heute noch Anwendung, z.B.
auf den Tragflügel eines Flugzeuges mit Belastung durch eine Turbine, wie in Abb. 1.4.b
dargestellt. Wichtige theoretische Beiträge haben ferner die Mitglieder der Familie Bernoulli
im 18. Jahrhundert z.B. zur Balkenbiegung und Leonhard Euler (1707-1783) u.A. zur Sta-
bilität (Knicken) und zum Freischnitt geleistet. Gleichzeitig entwickelte Charles Augustin
de Coulomb (1736-1806) Grundlagen der Reibungslehre, die u.A. zum Verständnis von
Bremsvorgängen wesentlich sind.
Die Bewegungen von Körpern haben Johannes Kepler (1571-1630) für Planeten und Ga-
lilei, anhand von Versuchen zu Fallbewegungen [17], beschrieben. Beide Wissenschaftler
waren jedoch nicht in der Lage, die Ursachen der Bewegungen erklären, was Sir Isaac New-
ton (1642-1727) im Jahr 1686 mit dem zweiten Axiom und dem Gravitationsgesetz in seinem
Werk Principia gelang, siehe auch [17]. Eine wichtige Ergänzung gelang Leonhard Euler
(1707-1783) mit der Formulierung eines Zusammenhanges von Drehbewegungen und den
sie verursachenden Kräften und Momenten.
Das erste Lehrbuch über Technische Mechanik wurde im Jahre 1832 von dem französi-
schen Physiker L. Navier von an der École Polytechnique in Paris verfaßt.
1.4 Einteilung und Inhalte des Buches 5
Die Sicherstellung des Gleichgewichtes von Tragwerken ist eines der ältesten und nach
wie vor wichtigsten Herausforderungen im Ingenieurwesen. Dazu werden in Kapitel 9 zwei
Aufgaben behandelt: 1. Untersuchung der statischen Bestimmtheit und 2. Berechnung der
Lagerreaktionen. In beiden Fällen werden einteilige und mehrteilige Balkentragwerke in der
Ebene und im Raum untersucht.
In Kapitel 10 werden nach einer Übersicht über mögliche Bauarten von Fachwerken die
notwendige und die hinreichende Bedingung für statische Bestimmtheit behandelt. Es wird
gezeigt, wie diese Bedingungen mit den drei Bildungsgesetzen überprüft werden können.
Anschließend werden zwei Methoden zur Ermittlung der Stabkräfte – das Knotenpunktver-
fahren und das Rittersche Schnittverfahren – behandelt. Beim Knotenpunktverfahren unter-
scheiden wir zusätzlich drei Möglichkeiten: die zeichnerische, die rechnerische und die nu-
merische Lösung. Die Programmierung mit dem Computerprogramm MATLAB verdeutlicht
die Effizienz numerischer Methoden, die im heutigen Ingenieuralltag unverzichtbar sind.
Werkzeuge und Maschinen sind allgegenwärtig. Sie erleichtern die tägliche Arbeit, sie
produzieren und sie transportieren. Eine wesentliche Aufgabe von Werkzeugen und Maschi-
nen ist die Übertragung und Wandlung von Kräften und Verschiebungen, wofür der Hebel,
die Zange oder der Flaschenzug häufig auftretende Beispiele sind. Bei rotierenden Systemen
wie z.B. Getrieben ist man zusätzlich an der Übertragung und Wandlung von Momenten
und Verdrehungen interessiert. Das wesentliche Ziel in Kapitel 11 ist daher die Berechnung
von Übertragungsfaktoren für Kraft- und Bewegungsgrößen als wichtigen Kenngrößen für
Werkzeuge und Maschinen. Ein weiterer Abschnitt behandelt Kräfte in Zahnradgetrieben.
Bei der Berechnung von Schnittgrößen in Kapitel 12 beschränken wir uns auf Balken-
tragwerke. Wir behandeln zunächst 2-dimensionale Strukturen, wobei zwei Methoden, das
Gleichgewicht am Teilsystem und die Lösung von Differenzialgleichungen, für geradlinige
Balken behandelt werden. Weitere Anwendungen erfolgen für Bogenträger, Balkentragwer-
ke im Raum sowie Werkzeuge und Maschinen.
In Kapitel 13 über Reibung wird nach einer Beschreibung der Reibungsarten - Haftrei-
bung und Gleitreibung - das Coulombsche Gesetz zur Modellierung eingeführt. Auf der
Grundlage dieses Ansatzes wird die Reibung bei Keilen, Schrauben und Seilen in den An-
wendungen behandelt.
Aufgaben der Statik starrer Körper können grundsätzlich mit den Gleichgewichtsbedin-
gungen aus Teil I dieses Buches bearbeitet werden. Dabei kann der Rechenaufwand zur Lö-
sung der Gleichungen recht umfangreich werden. In Kapitel 14 wird daher das Prinzip der
virtuellen Arbeiten hergeleitet, welches in einigen Fällen zur Vereinfachung der Lösungs-
schritte beiträgt. Darüber hinaus ist das Prinzip der Ausgangspunkt effizienter numerischer
Methoden des Ingenieuralltages. In weiteren Abschnitten lernen wir Potenzialkräfte kennen,
und wir behandeln die Stabilität von Starrkörpern.
Die Axiome der Starrkörperstatik und die daraus abgeleiteten Gesetze können grundsätz-
lich in einer koordinatenfreien Vektorschreibweise mathematisch beschrieben werden. Für
die rechnerische Lösung von praktischen Aufgabenstellungen sind die Gesetze jedoch in
geeigneten Koordinatensystemen darzustellen. Wir verwenden dazu ausschließlich kartesi-
sche Koordinaten. Da das Aufstellen der Gleichgewichtsbedingungen und deren Lösungen
den Studierenden anfänglich häufig Schwierigkeiten bereiten, werden die einzelnen Schritte
ausführlich in zahlreichen Praxisbeispielen erläutert.
8 1 Einleitung
Das Studienfach „Technische Mechanik - Statik” ist ein Grundlagenfach der Ingenieurwis-
senschaften an deutschen Universitäten, Fachhochschulen und Ingenieurhochschulen. Für die
verschiedenen Studienrichtungen, wie z.B. Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Geologie,
Elektrotechnik, Wirtschaftsingenieurwesen, Technomathematik, Ingenieurinformatik, Me-
chatronik, Verfahrenstechnik und Lehramt ergeben sich dabei unterschiedliche Anforderun-
gen an die Lehrinhalte und den Lehrumfang. Während beispielsweise für den Maschinen-
bauingenieur die Auslegung eines Rotors mit Drehung um eine feste Achse im Vorder-
grund steht, ist für den Bauingenieur die Auslegung des den Rotor tragenden Fundamentes
aus Stahlbeton vorrangig. Die parallel laufenden Studiengänge zum Diplom- und Bache-
lor/Masterabschluss an Fachhochschulen und Universitäten haben weitere unterschiedliche
Situationen insbesondere im Hinblick auf den Lehrumfang geschaffen.
Mit der im vorherigen Abschnitt beschriebenen Einteilung des Buches ist eine gegliederte
Struktur der Themen gegeben. Damit kann verschiedenen Anforderungen von Studierenden
und Lehrenden begegnet werden.
Es wurde bereits erwähnt, dass im modernen Ingenieuralltag computergestützte Pro-
gramme auf der Grundlage numerischer Methoden unverzichtbar geworden sind. Der An-
wender erwartet Effizienz, ein hohes Prognosepotenzial und Zuverlässigkeit der Simulations-
ergebnisse. Numerische Methoden erleichtern somit die Ingenieurarbeit erheblich, sie bergen
jedoch auch die Gefahr der Fehlinterpretationen in sich. Dazu ist festzustellen, dass sie in der
Grundlagenausbildung zur Mechanik an den meisten deutschen Universitäten aktuell kaum
berücksichtigt werden. In dem vorliegenden Buch werden daher einige Anwendungen nu-
merischer Methoden erklärt, um damit z.B. den Ausnahmefall der Statik erkennen zu kön-
nen. Im Gegenzug wird auf eine ausführliche Darstellung zeichnerischer Methoden durch
Beschränkung auf die Thematik in Kapitel 4 über zentrale Kraftsysteme verzichtet.
Jedes Kapitel beschreibt jeweils ausführlich die theoretischen Gesetzmäßigkeiten. Zur
weiteren Veranschaulichung werden alle Themen in über 120 vollständig durchgerechneten
Beispielen behandelt. Das solide Verständnis für die Gesetze der Technischen Mechanik kann
jedoch nur durch selbständige Bearbeitung von Aufgaben erhalten werden. Zu diesem Zweck
werden zusätzlich ca. 230 Übungsaufgaben zum Rechnen angeboten. Bei deren Auswahl
sind sowohl didaktische Gesichtspunkte als auch praktische Problemstellungen berück-
sichtigt worden. Dazu wechseln sich Aufgaben, in denen das Verständnis einzelner The-
men kurz abgefragt wird, mit Aufgaben ab, in denen komplexe Zusammenhänge und somit
auch mehrere Themengebiete abgedeckt werden. Alle Aufgaben sind mit unterschiedlichen
Schwierigkeitsgraden von SG=1 (leicht) bis SG=3 (schwer) versehen. Die Aufgaben mit der
Kennung SG = 3 haben zudem das Niveau einer Semesterabschlussklausur. Mit den Kennun-
gen SG = 3* bzw. SG = 2* oder SG = 1* sind Aufgaben versehen, die besonders schwierig
sind bzw., die mit den üblichen Hilfsmitteln unter Klausurbedingungen nicht zu lösen sind,
bei denen also zum Beispiel numerische Verfahren eingesetzt werden müssen.
Um nicht nur die „Kunst, Maschinen zu bauen”, sondern auch andere Ingenieuraufgaben
erfolgreich im Studium und später im Berufsleben umsetzen zu können, wird den Leserinnen
und Lesern viel Erfolg beim Erlernen und Anwenden der Inhalte dieses Buches gewünscht.
Teil I
Gewicht
Ein allgegenwärtiges Beispiel für Kräfte ist die Schwerkraft: Sie wirkt auf den vom Baum fallenden Apfel
genauso wie auf den Fallschirmspringer, der in der Abbildung dargestellt wird. Bei alleiniger Wirkung der
Schwerkraft würde er eine immer größere Geschwindigkeit erhalten und hätte beim Aufprall auf den Erdbo-
den kaum eine Überlebenschance. Der Bewegung wirkt jedoch eine zweite Kraft, der Luftwiderstand, entgegen.
Ab einer bestimmten Geschwindigkeit heben sich beide Kräfte auf, so dass die Geschwindigkeit nicht weiter
ansteigt. Der Fallschirmspringer kann sicher auf der Erde landen.
Kräfte treten also bei ruhenden und bewegten Körpern auf und können verschiedene Ursachen haben. Weitere
Kräftearten sind die Dampfkraft, die magnetische Kraft, die elektrische Kraft oder die Federkraft. Um diese
verschiedenartigen Kräfte vergleichen zu können, ist eine allgemeingültige Definition der Kraft erforderlich, die
auf Newton zurückgeht.
2
Grundbegriffe
In diesem Kapitel wird zunächst, auf der Grundlage einer „Erklärung” von Newton, der
Kraftvektor definiert. Weitere Themen sind Flächen- und Volumenkräfte, die Lastermittlung
durch Idealisierung von Kräften, das Schnittprinzip, der Starrkörper, der Freiheitsgrad eines
Starrkörpers sowie verschiedene Lagerarten.
„Erklärung
E INE ANGEBRACHTE K RAFT IST DAS GEGEN
EINEN K ÖRPER AUSGEÜBTE B ESTREBEN , SEINEN (2.1)
Z USTAND ZU ÄNDERN , ENTWEDER DEN DER
RUHE ODER DER GLEICHFÖRMIGEN B EWE -
GUNG .” Sir Isaac Newton
(1642-1727)
Man kann eine Kraft also nicht direkt beobachten, sondern nur aus deren Wirkung auf
den Bewegungszustand des Körpers auf ihre Existenz schließen. Auf der Grundlage der
„Erklärung” (2.1) formuliert Newton in der Principia sein zweites Axiom, woraus für eine
zeitlich konstante Masse folgende Definition abgeleitet wird, siehe z.B. [14, 21, 34]):
Bemerkungen 2.1
1. In der Definition (2.2) ist m die Masse auf welche die Beschleunigung a einwirkt. Das
Symbol F (engl. force) kennzeichnet die Kraft. Im Folgenden werden wir für die Kraft
auch andere nichtfette lateinische Buchstaben wie z.B. G oder H verwenden.
2. Mit den Einheiten kg für die Masse m eines Körpers und m/s2 für die Beschleunigung a
erhält man die Einheit Newton mit dem Zeichen „N” einer Kraft F , vgl. Anhang A:
m kg m
[F ] = 1 N = 1 kg · 1 2 = 1 2 . (2.3)
s s
Somit ist das Newton N eine aus den SI-Einheiten s, m und kg abgeleitete Einheit, und
es gilt: 1 N ist die Kraft, die der Masse 1 kg die Beschleunigung 1 m/s2 erteilt.
3. Früher benutzte man das Pond als Einheit einer Kraft. Das Tausendfache davon, das Kilo-
pond, entsprach dem Normgewicht der Masse 1 Kilogramm, die in Anhang A definiert
ist. Diese Festlegung orientiert sich somit lediglich an dem Gewicht eines Körpers, je-
doch nicht wie in der „Erklärung” (2.1) von Newton an der Änderung des Bewegungszu-
standes”.
Bemerkung: Im Jahre 1638 hat Galileo Galilei (1564-1642) erkannt, dass alle Köper bei
Vernachlässigung des Luftwiderstandes mit der gleichen Beschleunigung, der Erdbeschleu-
nigung, fallen. Damit hat er wesentlich zur Abkehr von der fast 2000 Jahre gültigen Lehre
2.1 Die Newtonsche Kraft 15
von Aristoteles beigetragen, nach der schwere Massen schneller als leichte Massen fallen. Ob
Galilei die Fallversuche vom schiefen Turm von Pisa, wie in Abb. 2.2 dargestellt, tatsächlich
durchgeführt hat, ist angesichts der Bedeutung seiner Erkenntnis eher nebensächlich.
Abb. 2.3. Verschiedene Angriffspunkte und Richtungen einer Kraft an einem Buch
Bemerkungen 2.2
1. In der Darstellung in Abb. 2.4 wird der Kraftvektor durch einen Pfeil gekennzeichnet.
2. Der Pfeilanfang des Kraftvektors kennzeichnet den Angriffspunkt der Kraft.
3. Die Richtung des Kraftvektors wird in
der Ebene z.B. durch den Richtungs- Richtungssinn ie w
winkel α, der von einer Bezugslinie aus n g slin
ku
entgegen dem Uhrzeigersinn gemessen Richtungswinkel α Wir
wird, und den Richtungssinn, dargestellt F
Angriffspunkt
durch eine Pfeilspitze, festgelegt. Im
Raum sind drei Winkel notwendig.
4. Die Länge des Pfeiles legt unter Ver-
Bezugslinie
wendung eines gewählten Maßstabes ag
Betr
(z.B. 1 cm=1
ˆ N) den bereits in Defini-
tion 2.2 eingeführten Betrag der Kraft Abb.2.4. Bestimmungsstücke einer Kraft
fest.
16 2 Grundbegriffe
5. Der Richtungswinkel und der Angriffspunkt einer Kraft legen deren Wirkungslinie w fest.
6. Die mathematische Beschreibung von Kräften geschieht mit den Methoden der Vektor-
rechnung, deren wichtigste Regeln in Anhang C zusammengefasst sind. Als Symbole für
Vektoren dienen fett gedruckte Buchstaben. Damit wird ein Kraftvektor z.B. mit dem
Symbol F gekennzeichnet, für die Gewichtskraft wird häufig das Symbol G verwendet.
In Abb. C.1 sind Vektoren mit verschiedenen Eigenschaften dargestellt.
7. In den vektoriellen Gleichungen sind Vektorsymbole wie z.B. F oder G notwendig. In
den Abbildungen, in denen die Vektoreigenschaften der Kräfte durch die Darstellung mit
einem Pfeil hervorgehen, genügt dagegen die Angabe ihrer Beträge, wie z.B. F oder
G. Auch beim textlichen Hinweis auf die Abbildungen werden wir, soweit ausreichend,
Kräfte im Folgenden durch Angabe der Beträge kennzeichnen.
In Abb. 2.5 wird für drei verschiedene Fälle, die der Leser selbst nachvollziehen möge, mit
einem Buch und einem weiteren Körper eine Kraft an der Berührungstelle beider Körper
übertragen. Dabei wird im Fall a die Berührfläche durch die Größe einer Vasenunterseite
festgelegt. In den Fällen b und c definieren die Kontaktbereiche zwischen dem Buch und
einem Zeichendreieck bzw. einem Zeichenstift die Berührflächen. Obwohl die Fläche im
Fall c im Vergleich zur Oberfläche des Buches sehr klein ist, hat sie einen endlichen Wert.
a) b) c)
q F
p
Abb. 2.5. Flächenkräfte und deren Idealisierungen a) Flächenkraft, b) Streckenkraft, c) Einzelkraft. Oben: Reale
Systeme, unten: Idealisierte Kräfte
Allgemein gilt, dass Kräfte verteilt auftreten, so dass die bisherige Darstellung einer
Einzelkraft als Vektor mit den Bestimmungsstücken Betrag, Angriffspunkt und Richtung eine
Vereinfachung darstellt. Zusammenfassend gelten folgende
Flächenkräfte treten in der Berührfläche zweier Körper auf, wie z.B. der Vase und dem Buch
in Abb. 2.5.a. Drei technische Beispiele mit Flächenkräften von Fluiden sind in Abb. 2.6
dargestellt. Dabei treffen wir jeweils die Annahme, dass die Kraftrichtungen senkrecht zur
Berührfläche sind. Für den Kolben eines Verbrennungsmotors in Abb. 2.6.a nehmen wir einen
konstanten Luftdruck mit dem Symbol p an. Der Wasserdruck p auf die Staumauer ist: linear
veränderlich bei konstanter Richtung entlang der geraden Fläche in Abb. 2.6.b und nichtli-
near veränderlich bei veränderlicher Richtung entlang der gekrümmten Fläche in Abb. 2.6.c.
Weitere Beispiele für Flächenkräfte sind die Schneelast und die Windlast auf einem Gebäude,
wobei noch zwischen Winddruck und Windsog unterschieden wird, siehe z.B. [28].
a) b) p c) p
L
C
B β B
A
r dϕP
Abb. 2.6. Flächenkräfte: a) Luftdruck auf Kolben eines Verbrennungsmotors, b) und c) Wasserdruck auf Stau-
mauer mit gerader und gekrümmter Fläche
Die auf eine Ingenieurkonstruktion einwirkenden Kräfte bestimmt deren sogenannte Belas-
tung. Entsprechend der Einteilung des vorherigen Abschnittes unterscheidet man Einzel-,
18 2 Grundbegriffe
a) b) c)
G q2 G
dV q1
p
dG
G
Abb. 2.8. Volumenkräfte und deren Idealisierungen: a) Betonkübel mit Einzelkraft, b) Tragflügel eines Flugzeu-
ges mit Strecken- und Einzelkraft, c) Balkon mit Person mit Flächen- und Einzelkraft, Oben: Reale Systeme,
unten: Idealisierte Kräfte
Flächen- und Volumenlasten. Zusätzlich erweist sich die Streckenlast als nützliche Rechen-
größe. Da die Lastermittlung dieser Kräftearten im Allgemeinen nicht exakt möglich ist, sind
Idealisierungen erforderlich. Bei einer Idealisierung handelt es sich um eine Vereinfachung
der realen physikalischen Vorgänge auf das Wesentliche nach dem Grundsatz:
möglichst einfach und genügend genau.
Zur Veranschaulichung von Idealisierungen betrachten wir einige Beispiele: Für das Buch
in Abb. 2.5.a (unten) nehmen wir an, dass sich die Gewichtskraft der Vase gleichmäßig in
der Berührzone verteilt und die zugehörige Flächenlast p einen konstanten Wert annimmt.
In Abb. 2.5.b (unten) wird die kurze Seite in der Berührfläche als vernachlässigbar klein
angenommen, so dass eine Streckenlast (oder: Linienlast, Schneidenlast) entsteht. Die phy-
sikalische Größe Kraft durch Länge mit dem Symbol q hat die Einheit [q] = 1 N/m. Als
weitere Vereinfachung können wir häufig einen konstanten Wert für q annehmen. Erst wenn
die Berührfläche im Vergleich zur Gesamtfläche des Buches vernachlässigbar klein wird, ist
die Annahme einer Einzellast genügend genau, vgl Abb. 2.5.c (unten).
In Abb. 2.8.a (unten) werden die kontinuierlich verteilten Kräfte dG in Abb. 2.8.a (oben)
durch die Einzellast G ersetzt. Bei dem Tragflügel in Abb. 2.8.b wird das Eigengewicht über
die Tragflügellänge als Streckenlast mit unterschiedlichen Randwerten q1 und q2 angenom-
men. Das Gewicht der Turbine wird durch eine zusätzliche Einzellast G berücksichtigt. Bei
dem Balkon in Abb. 2.8.c wird das Eigengewicht der Betonplatte als Flächenlast mit dem
konstanten Wert p angenommen. Das Gewicht der Person wird durch eine zusätzliche Einzel-
last G berücksichtigt.
Neben den Regeln (2.5) lautet somit eine wichtige
a = 8,00
Multiplikation mit dem Abstand a der Binder
und Berücksichtigung des Eigengewichtes er-
hält man die Auflast als Streckenlast für jeden
Dachbinder (in kN/m).
Dachbinder
Lösung: Wir fassen zunächst die Auflasten als 4x5,00 = 20,00
Flächenlast zusammen:
EG Dachhaut gDa = 0, 5 kN/m2 Abb.2.9. Dachbinder mit Belastungen
EG Sparrenpfetten gSp = 0, 1 kN/m2
Schnee s = 0, 7 kN/m2
Summe Auflasten g = 1, 3 kN/m2 . q
Die Auflast als Streckenlast für jeden Binder ist
dann
Wir betrachten in Abb. 2.10 und Abb. 2.11 zwei durch Eigengewicht beanspruchte Systeme.
Die Gewichtskraft G der Lampe in Abb. 2.10 beansprucht die Ringschraube, welche die kine-
matische Bindung zur Decke – also die Lagerung – herstellt. Außerdem wird das die Lampe
tragende Seil auf seiner gesamten Länge beansprucht. Kommnt es zum Versagen eines dieser
Teilkörper, fällt die Lampe zum Boden. In Abb. 2.11 entstehen infolge der Gewichtskraft G
der Brücke und den Verkehrslasten G1 , G2 , G3 Kräfte an den Auflagern A und B. Zusätzlich
entstehen Kräfte im Inneren der Brücke, wie z.B. Zugkräfte innerhalb der Vertikalen zwi-
schen Ober- und Untergurt, vgl. auch Kapitel 10. Infolge der Wirkung von äußeren Lasten
entstehen also immer zwei Kräftearten: 1. Kräfte an den Auflagern des Systems und 2. Kräfte
im Inneren des Systems. Im Folgenden wird der Zugang zu beiden Kräftearten erläutert.
Kräfte an den Auflagern eines Systems: Um die Beanspruchungen an Auflagern einer
Berechnung zugänglich zu machen, werden zwei Schritte durchgeführt:
1. Eintragen einer Systemgrenze: Das System, dass der Berechnung zu Grunde gelegt
werden soll, wird von der Umgebung abgegrenzt. Dazu wird, wie in Abb. 2.10 oder in
Abb. 2.11, eine geschlossene Linie – die Systemgrenze – mit einem Stift in die Zeichnung
der realen Struktur eingetragen.
3. Zeichnen des Freikörperbildes: Es wird eine Skizze – das Freikörperbild – mit allen
an dem abgegrenzten System angreifenden Kräften erstellt. Diese bestehen aus zwei An-
teilen:
1) Eingeprägte Kräfte: Hier handelt es sich um Kräfte mit physikalischer Ursache. Ein
allgegenwärtiges Beispiel ist die Gewichtskraft, deren Ursache die Gravitation ist. Sie
wird in Abb. 2.10 und in Abb. 2.11 jeweils mit G bezeichnet. Andere Beispiele für
eingeprägte Kräfte sind der Winddruck oder die Schneelast.
2) Reaktionskräfte: Hier handelt es sich um Kräfte, die durch die Einschränkung der
Bewegungsmöglichkeiten des Systems verursacht werden. Sie werden durch das so-
genannte Freischneiden der Auflagerkräfte sichtbar gemacht: Dazu wird der Kör-
a) b) c) d)
F
F F
S'
S
G G G Leonhard Euler
G (1707-1783)
Systemgrenze
Abb. 2.10. Erläuterungen zum Freischneiden am Beispiel einer Lampe: a) Ausgangssystem mit Schnitt an der
Systemgrenze, b) Freikörperbild des abgegrenzten Systems, c) innerer Schnitt, d) Freikörperbild der Teilsysteme
2.1 Die Newtonsche Kraft 21
per an seinen Bindungen entlang der Systemgrenze gedanklich geschnitten, und an-
schließend werden die auf den Körper wirkenden unbekannten Reaktionskräfte (oder:
Lagerkräfte, Bindungskräfte) als äußere Kräfte eingetragen. Als Beispiel wird in
Abb. 2.10.b das Seil von der Ringschraube gelöst und mit der Kraft F belastet. In
Abb. 2.11.b wird die Brücke von den Auflagern gelöst und mit den Kräften AV , AH
und BV belastet.
Kräfte im Inneren eines Systems: Der Zugang zur Beanspruchung an einer beliebigen
Stelle im Inneren des Systems erfolgt durch Freischneiden der inneren Kräfte, was auch
als Eulersches Schnittprinzip bekannt ist: Dabei wird der Körper an der betreffenden Stelle
innerlich gedanklich geschnitten, wie z.B. in Abb. 2.10.c. An den dadurch freigewordenen
zwei Schnittufern werden die inneren Kräfte eingetragen. Wie in Abb. 2.10.d für die Kräfte S
und S erkennbar, sind im Unterschied zum Freischneiden der Auflagerkräfte in Abb. 2.10.b
innere Kräfte also immer paarweise einzutragen. (Später werden wir sehen, dass sie entge-
gengesetzt gerichtet gleich groß sind.) Die so entstandene Skizze mit eingeprägten Kräften,
Reaktionskräften und inneren Kräften in Abb. 2.10.d bezeichnet man als Freikörperbild der
Teilsysteme.
Bemerkungen 2.3
1. Die Unterteilung in äußere und innere Kräfte ist relativ, da diese von der Wahl der Sys-
temgrenze abhängen. Führen wir z.B. in Abb. 2.11 eine Systemgrenze 1 zur Berech-
nung des Brückenaufbaus ein, so sind die durch die Schnitte freigelegten Lagerkräfte
AV , AH , BV äußere Kräfte. Mit der Systemgrenze 2 werden dagegen der Brückenaufbau
und beide Fundamente als System betrachtet, so dass die durch die Schnitte freigelegten
Kräfte AV , AV , AH , AH , BV , BV zwischen den Bauteilen innere Kräfte sind.
2. Durch das Freischneiden an den Lagern oder im Inneren des Systems werden die so
entstandenen Teilssysteme verschieblich. Um sie einer Berechnung mit den Gleichge-
wichtsmethoden der nachfolgenden Kapitel zugänglich zu machen, denkt man sie sich in
der gegebenen Lage als „erstarrt” (Erstarrungsprinzip).
3. Innere Kräfte haben große Bedeutung in der Statik, da sie ein Maß für die Material-
beanspruchung sind. Deren Berechnung wird ausführlich im späteren Kapitel 12 über
Schnittgrößen behandelt.
a) b) G2 GBrücke
Systemgrenze 1 Systemgrenze 2 G1 G3
AH
G2 G Brücke
G1 G3 AV BV
A'V A'H B 'V
A B
Abb. 2.11. Erläuterungen zum Freischneiden an den Auflagern einer Brücke: a) Ausgangssystem mit System-
grenzen 1 und 2, b) Freikörperbild mit Gewichtskräften und Kräften an den Auflagern
22 2 Grundbegriffe
Merkmal Herkunft
a) Eingeprägte Kräfte: Kräfte mit physikalischer Ursache, z.B. Gewicht
b) Reaktionskräfte: ergeben sich durch Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten, z.B.
Lagerkräfte.
Merkmal System
a) Äußere Kräfte: Belastungen auf das System und Reaktionskräfte an der Systemgrenze
b) Innere Kräfte: Kräfte, die im Inneren eines Systems mit dem Schnittprinzip sichtbar
gemacht werden.
Im Allgemeinen sind reale Körper deformierbar. Kommt es z.B. für den PKW in Abb. 2.12.a
zum Aufprall auf ein Hindernis, so verändert sich der Abstand zweier beliebiger Punkte
in dem Aufprallbereich erheblich. Für die Billiardkugel in Abb. 2.12.b dagegen ist die Ab-
standsänderung von zwei Punkten A und B beim Aufprall unwesentlich. Sie sind eine gute
Näherung für die
Definition Starrkörper
Ein Körper, der sich unter der Wirkung von Kräften nicht verformt, wird Star- (2.8)
rkörper genannt. In ihm sind die Abstände beliebiger Punkte immer gleich.
In der Wirklichkeit gibt es den Starrkörper (oder: starren Körper) nicht, so dass Definition
(2.8) eine Idealisierung ist. Im Ingenieurwesen sind die Deformationen der Körper im Ver-
gleich zu deren Abmessungen jedoch häufig so klein, dass wir sie mit guter Näherung ver-
nachlässigen können. In einigen Fällen, wie z.B. bei der Berechnung einer Rahmenkonstruk-
tion, ist die Deformation zu berücksichtigen, was jedoch nicht Thema dieses Buches ist.
a) b) Bewegung
A ..
B
Abb. 2.12. a) PKW als deformierbarer Körper, b) zwei Billiardkugeln als nahezu starre Körper
Es ist nicht möglich, durch ein Vielfaches der Verschiebungen u und v die gedrehte Lage
C zu erreichen. Durch ein Vielfaches der Bewegungen u, v und ϕ kann dagegen die Lage
D und jede weitere Lage in der Ebene erreicht werden. Damit gibt es für einen Körper in
der Ebene drei unabhängige Bewegungen. Für einen Körper im Raum beträgt deren Anzahl
sechs: drei Verschiebungen und drei Verdrehungen. Wir bezeichnen die Anzahl der unab-
hängigen Bewegungen als Freiheitsgrade. Es gelten folgende
Regeln zu Freiheitsgraden
1. In der Ebene hat ein Körper maximal drei unabhängige Freiheitsgrade. (2.9)
2. Im Raum hat ein Körper maximal sechs unabhängige Freiheitsgrade.
2.4.1 Allgemeines
In vielen Fällen wird die Bewegungsmöglichkeit von Körpern durch Kontakt oder Verbund
mit anderen Körpern behindert. Man bezeichnet diese kinematischen Bindungen [6]
• in der Statik als Auflager (Lager, Stütze, ...) und
• in der Dynamik als Führung (Lager, Gleitband, Schiene ...).
Zwei Beispiele für kinematische Bindungen (kurz: Lager) sind in Abb. 2.14 das Loslager
einer Brücke und die Trasse einer Magnetschnellbahn. Die zwei Mauerwerke in Abb. 2.15
sichern z.B. eine Stützung des Dachbinders in vertikaler Richtung. Nach Regel (2.9.1) beträgt
die Anzahl der unabhängigen Freiheitsgrade für einen Körper in der Ebene jedoch f = 3.
Um ein Abgleiten des Dachbinders in horizontaler Richtung zu verhindern, ist eine dritte
Halterung notwendig, die z.B. durch einen Anker realisiert wird. Kennzeichnen wir mit r die
Anzahl der kinematischen Bindungen, wird die Anzahl der Freiheitsgrade f in (2.9.1) für
einen Körper in der Ebene also gemäß f = 3 − r verringert. Damit gilt auch der Zusammen-
hang f + r = 3. Für einen Körper im Raum gilt entsprechend f = 6 − r bzw. f + r = 6.
Kinematische Bindungen haben zusätzliche Kraftwirkungen auf den gestützen Körper zur
Folge. Man bezeichnet diese Kräfte
a) b)
Abb. 2.14. Beispiele für kinematische Bindungen: a) Loslager einer Brücke, b) Trasse einer Magnetschnellbahn
28 2 Grundbegriffe
a) b) F F
q0
AH
F F
q0 AV B
A'V A'H B'
Anker
Abb. 2.15. Dachbinder auf Mauerwerk: a) System mit Belastung, b) Lagerreaktionen im Freikörperbild
• in der Statik als Auflager- (Lager-, Stütz-, Reaktions-, ...) kräfte und
• in der Dynamik als Führungs- (Lager-, Gleitband-, Schienen-, Reaktions-, ...) kräfte.
Für den Dachbinder auf Mauerwerk in Abb. 2.15 erhält man nach dem Eulerschen Schnitt-
prinzip in Abschnitt 2.1.5 die vertikalen Reaktionskräfte AV , BV und eine horizontale
Reaktionskraft AH . Die auf die Mauerwerke entgegengesetzt wirkenden Kräfte werden mit
AV , BV und AH bezeichnet. Zusammenfassend gelten folgende
Es sei bemerkt, dass es sogenannte Ausnahmefälle zu den Regeln (2.10.1) gibt. Damit sind
diese nicht hinreichend zur Bewertung von gestützten Systemen, worauf wir ausführlich in
den nachfolgenden Kapiteln 7, 9 und 11 eingehen werden.
Die drei wichtigsten Lagerungsarten für ein ebenes Tragwerk sind 1. das verschiebliche
Gelenklager (Loslager), 2. das feste Gelenklager (Festlager) und 3. die feste Einspannung.
a) b) c) d) e)
u ϕ
AV
Dabei wird stets angenommen, dass die Gelenke der Lager ideal reibungsfrei sind und auch
die Verschiebung ohne jede Reibung möglich ist.
Das verschiebliche Gelenklager (Loslager): Bei diesem Lager ist wie in Abb. 2.16 eine
Bewegung u des Körpers parallel zur Lagerungsebene und eine Verdrehung ϕ des Körpers
um einen Punkt möglich. Dagegen ist die Bewegung des Körpers senkrecht zur Lagerebene
behindert, so dass er, ohne weitere Lagerung, den Freiheitsgrad f = 2 hat. Da wir die
Reibung in diesen Lagern stets vernachlässigen, tritt eine Reaktionskraft AV senkrecht zur
möglichen Bewegungsrichtung auf, so dass die Anzahl der Lagerreaktionen r = 1 ist. Man
spricht dann von einer einwertigen Lagerung. Die Ausführung kann verschiedenartig sein. In
Abb. 2.16.a-c sind als Beispiele das Rollenlager, die Pendelstütze und das Rollenkipplager
dargestellt. In Abb. 2.16.d wird die Lagerform für das Loslager durch eine Symbolskizze
dargestellt. Abb. 2.17.e zeigt die möglichen Bewegungsformen: die horizontale Verschiebung
u und die Verdrehung ϕ sowie die auftretende Reaktionskraft AV . Der Index V steht dabei
für vertikal zur Lagerführung.
Das feste Gelenklager (Festlager): Bei diesem Lager ist wie in Abb. 2.17 nur eine Ver-
drehung ϕ des Körpers um einen Punkt möglich, so dass der Freiheitsgrad f = 1 ist. Be-
wegungen des Körpers parallel und senkrecht zur Lagerungsebene sind behindert, so dass
eine zweiwertige Lagerung mit r = 2 vorliegt. Auch hier kann die wirkliche Ausführung
verschiedenartig sein. Als Beispiele sind das Kugellager in Abb. 2.17.a, die Doppelstütze in
Abb. 2.17.b oder das Kipplager in Abb. 2.17.c dargestellt. In Abb. 2.17.d wird die Lagerform
durch eine Symbolskizze veranschaulicht. Abb. 2.17.e zeigt die Verdrehung ϕ als mögliche
Bewegungsform und die auftretenden Reaktionskräfte AH und AV . Die Indices V und H
stehen dabei für vertikal und horizontal zur Lagerführung.
a) b) c) d) e)
ϕ
AH
AV
Die feste Einspannung: Bei diesem Lager sind wie in Abb. 2.18 beide Verschiebungen und
die Verdrehung behindert, so dass eine dreiwertige Lagerung vorliegt. Damit gilt f = 0
für den Freiheitsgrad und r = 3 für die Anzahl der Reaktionen. Auch hier sind die Aus-
führungen verschiedenartig. Bei dem Kragbalken in Abb. 2.18.a liegt ein vollständiger Ver-
bund des gelagerten Körpers mit einem anderen Körper vor, während in Abb. 2.18.b die
feste Lagerung durch Pendelstützen realisiert wird. Abb. 2.18.c zeigt die zugehörige Sym-
bolskizze. Während in Abb. 2.18.d keine Bewegungsformen auftreten, sind dort zwei Reak-
tionskräfte AH , AV eingetragen. Zusätzlich entsteht ein sogenanntes Einspannmoment (kurz:
Moment MA ), welches im späteren Abschnitt 5.3 erklärt wird.
30 2 Grundbegriffe
a) b) c) d) MA
AH
AV
Abb. 2.18. Feste Einspannung: a) Kragbalken, b) Pendelstützen, c) Symbolskizze, d) keine Bewegungen, Reak-
tionskraftgrößen AH , AV , MA
verschiebliches u ϕ
Gelenklager,
Loslager, 2 1
AV
Rollenlager
ϕ
festes AH
Gelenklager, 1 2
Festlager AV
MA
(feste) AH
0 3
Einspannung
AV
längs u MA
verschiebliche 1 2
Einspannung
(Schiebehülse) AV
quer MA
verschiebliche AH
1 2
Einspannung v
(Parallelführung)
u
freies Ende 3 0
v ϕ
f +r = 3
Tabelle 2.1. Lagerbezeichnungen, Lagersymbole, Freiheitsgrade und Lagerreaktionen für ebene Systeme
2.4 Lager- und Reaktionskräfte 31
Lagerungsarten für räumliche Systeme sind in der Technik sehr vielfältig. Zwei häufig auftre-
tende Beispiele sind das Punktlager und das Kugelgelenk. Auch hier wird angenommen, dass
die Gelenke der Lager ideal reibungsfrei sind und die Verschiebungen ohne Reibung erfolgen.
Das Punktlager: Hier ist nur ein Verschiebungsfreiheitsgrad behindert, wie z.B. bei dem
Elastomerlager einer Brücke in Abb. 2.19.a. In Abb. 2.19.c ist das die Verschiebung in z-
Richtung, so dass zwei Verschiebungen u und v verbleiben. Weiter sind drei Drehfreiheits-
grade ϕx , ϕy , ϕz um die drei Achsen x, y, z möglich, die in Abb. 2.19.c jeweils mit einem
Doppelpfeil gekennzeichet sind. Damit erhält man f = 5 für die Anzahl der Freiheitsgrade.
Als Reaktionskraft stellt sich wie in Abb. 2.19.d eine Kraft Az ein, so dass die Anzahl der
Lagerreaktionen r = 1 beträgt.
a) b) c) d)
z ϕz
y ϕy Az
x
v
u ϕx
Abb. 2.19. Punktlager: a) Elastomerlager einer Brücke, b) Skizze, c) mögliche Bewegungen, d) Reaktionskraft
Das Kugellager: Hier sind drei Verschiebungsfreiheitsgrade behindert, wie z.B. bei dem
Lager eines Parallelroboters in Abb. 2.20.a. Damit verbleiben in Abb. 2.20.c alle drei Drehfrei-
heitsgrade ϕx , ϕy , ϕz , und die Anzahl der Freiheitsgrade ist f = 3. Als Reaktionskräfte er-
a) b) c) d)
ϕz Az Ay
ϕy
Ax
ϕx
Quelle: Institut für Regelungstechnik und Mechatronik, Universität Paderborn
Abb. 2.20. Kugellager: a) Lager Parallelroboter „TriPlanar“ (Trächtler), b) Skizze, c) mögliche Bewegungen,
d) Reaktionskräfte
32 2 Grundbegriffe
ϕz
Punktlager z ϕy 5 1
v Az
x
u ϕx
Kugellager ϕz Az 3 3
ϕy Ay
ϕx Ax
Kippgelenk- Mz
lager ϕy 2 4
Az Mx
u Ay
längsverschieb- Mz
liches Achslager y y 4 2
My
x z
z x u ϕx Az Ay
festes Mz
Achslager 1 5
My
u Az Ay
Mx
längsverschieb- Mz
liches Lager 1 5
ϕy
Az Ay
Ax Mx
Einspannung Mz
0 6
My
Az Ay
Ax Mx
f +r = 6
Tabelle 2.2. Lagerbezeichnungen, Lagerskizzen, Freiheitsgrade und Lagerreaktionen für räumliche Systeme
hält man in Abb. 2.20.d die Kräfte Ax , Ay und Az , so dass die Anzahl der Lagerreaktionen
r = 3 beträgt.
2.4 Lager- und Reaktionskräfte 33
In Tabelle 2.2 sind die Lagerbezeichnungen, Skizzen, Freiheitsgrade und Reaktionen für
die wichtigsten Lager räumlicher Systeme zusammengefasst. Zusätzlich sind die jeweiligen
Freiheitsgrade und die Auflagerreaktionen angegeben. Da allgemeingültige Symbole, wie
z.B. für ebene Systeme in Tabelle 2.1, nicht verbreitet sind, beschränken wir uns hier und im
Folgenden auf die Angaben von Skizzen.
Nach Regel (2.9.2) gibt es für einen Körper im Raum sechs unabhängige Freiheitsgrade:
Dieses sind drei Verschiebungen, die in Tabelle 2.2 mit u, v und w bezeichnet werden und
die drei Verdrehungen ϕx , ϕy und ϕz , die jeweils durch einen Doppelpfeil dargestellt sind.
Ist eine der drei Verschiebungen durch eine kinematische Bindung behindert, entsteht in
deren Richtung eine der Kräfte Ax , Ay oder Az . Wird eine der drei Verdrehungen behindert,
entsteht in deren Richtung eines der Momente Mx , My , Mz , die ausführlich im späteren
Kapitel 6 behandelt werden.
2.4.4 Zwischenlagerungen
Technische Konstruktionen wie Bauwerke, Werkzeuge und Maschinen werden häufig aus
mehreren Körpern zusammengesetzt. Dabei schränken die kinematischen Bindungen zwi-
schen den Körpern (kurz: Zwischenlagerungen) ihre relativen Bewegungen zueinander ein.
Gelenk: Das am häufigsten vorkommende Zwischenlager ist das Momentengelenk (kurz:
Gelenk) in Abb. 2.21. Das Gelenk verhindert eine relative Verschiebung in beide Koordi-
natenrichtungen und damit in alle Richtungen in der Ebene. Dafür können zwei Kräfte GH
und GV in beide Koordinatenrichtungen übertragen werden. Zusätzlich ist eine gegenseitige
Verdrehung der beiden angeschlossenen Teilkörper möglich. Damit kann kein Moment über-
tragen werden (Erklärung im nachfolgenden Abschnitt 5.3). Bezeichnen wir in Ergänzung
zur Anzahl der Lagerreaktionen r die Anzahl der Zwischenreaktionen mit z, so gilt hier
z = 2.
a) b) c) d) e)
Δϕ
GH GH
GV GV
In Tabelle 2.3 sind außer für das Gelenk Lagerbezeichnungen, Lagersymbole, Frei-
heitsgrade und Zwischenreaktionen für weitere Zwischenlager zusammengefasst: Das Nor-
malkraftgelenk verhindert sowohl eine gegenseitige Verdrehung der beiden angeschlossenen
Teilkörper als auch eine gegenseitige Querverschiebung. Damit werden eine senkrecht zur
Stabachse auftretende GV und ein Moment M übertragen, so dass die Anzahl der Zwi-
schenreaktionen z = 2 ist. Das Querkraftgelenk (Parallelführung) verhindert sowohl eine
gegenseitige Verdrehung der beiden angeschlossenen Teilkörper als auch eine gegenseitige
Transversalverschiebung. Damit wird eine horizontale Kraft GH und ein Moment M über-
tragen, so dass hier z = 2 gilt. Beim Pendelstab ist die relative Verschiebung in Richtung des
34 2 Grundbegriffe
Δϕ
(Momenten-) GH GH
Gelenk 1 2
GV GV
Δu
M M
Normalkraft- 1 2
gelenk
GV GV
M M
Querkraft- 1 2
gelenk Δv GH GH
Δϕ
Pendelstab Δv GH GH
2 1
M M
vollständige GV GV 0 3
Verbindung
GH GH
f +z = 3
Tabelle 2.3. Lagerbezeichnungen, Lagersymbole, Freiheitsgrade und Zwischenreaktionen für ebene Systeme
Stabes behindert. Dadurch entsteht eine Kraft S in seiner Längsrichtung, und es gilt z = 1.
Die vollständige Verbindung in Tabelle 2.3 überträgt alle drei Bewegungen u, v und ϕ, so
dass z = 3 gilt. Damit entstehen drei Zwischenreaktionen GH , GV sowie M .
Wir bemerken noch, dass die Gleichheit der horizontalen und vertikalen Kräfte GH und
GV sowie des Momentes M an jeweils zwei gegenüberliegenden Schnittufern in Tabelle 2.3
aus dem Wechselwirkungsaxiom („actio gleich reactio“) folgt, worauf wir im nachfolgenden
Abschnitt 3.2 eingehen werden.
2.4 Lager- und Reaktionskräfte 35
z y
z
y
z y x
x
x
z
y
x z
y
x z y
z
y
z
x y
x
Aufbau eines Bogens aus Kunststoffbausteinen im Technik Museum, Phaeno, Wolfsburg.
„Die Natur zu überlisten” war in der klassischen Antike ein Grundsatz bei der Erfindung und Konstruktion von
Räder- und Hebewerken, Kriegsgeräten und Bauwerken. Nach dem heutigen Stand der Technik gründet sich die
Mechanik auf Axiome. Dieses sind Naturgesetze, die aus Experimenten oder aus der Beobachtung und Analyse
von Naturerscheinungen abgeleitet werden. Sie spielen in der Statik bei der Untersuchung ruhender Körper eine
wichtige Rolle. Auf der Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten ist es z.B. möglich, das Gleichgewicht für den
Bogen aus Kunststoffbausteinen und die Bogenbrücke in den Abbildungen mit Hilfe mathematischer Methoden
zu erklären – ohne „die Natur überlisten” zu müssen.
3
Axiome, Gesetze und Idealisierungen
Das vorliegende Kapitel stellt drei grundlegende Axiome der Mechanik vor: 1. Das Gleichge-
wichtsaxiom zweier Kräfte am Starrkörper, 2. das Wechselwirkungsaxiom und 3. das Axiom
vom Kräfteparallelogramm. Wir zeigen, wie mit dem ersten Axiom das Verschiebungsgesetz
für eine Kraft am Starrkörper und das Wechselwirkungsgesetz für Nahkräfte begründet wer-
den. Mit den Axiomen und den daraus abgeleiteten Gesetzen werden anschließend einige
Regeln zur Berechnung idealisierter Körper aufgestellt.
F, F -F, F
F, F -F, F
w
Bemerkungen 3.1
1. Da die Gestalt des Körpers in Axiom (3.1) keinen Einfluss hat, ist es grundsätzlich ausrei-
chend, nur die Kräfte zu betrachten und sich den starren Körper hinzuzudenken. Statt der
Aussage „Ein Starrkörper ist unter der Wirkung von zwei Kräften im Gleichgewicht”,
kann man dann auch die (nicht ganz korrekte) Aussage „Zwei Kräfte sind im Gleichge-
wicht“ verwenden, vgl. z.B. [8].
2. Wir bezeichnen zwei Kräfte, die nach dem Axiom (3.1) im Gleichgewicht sind, als
Gleichgewichtsgruppe. Damit bleibt ein ursprünglich ruhender Körper wie in Abb. 3.2.a
unter dem Einfluss einer oder mehrerer Gleichgewichtsgruppen weiterhin in Ruhe.
3. Erfüllen wie in Abb. 3.2.b zwei Kräfte nur den 1. und 2. Axiomsteil - entgegenge-
setzt gerichtet und gleich groß -, jedoch nicht den 3. Axiomsteil - auf der gleichen
Wirkungslinie, dann verdreht sich der Körper und ist somit nicht im Gleichgewicht.
4. In Abb. 3.2.c erfüllen zwei Kräfte zwar alle drei Axiomsteile. Da der Körper - die offene
Schere - jedoch nicht starr ist, bewegt er sich, so dass kein Gleichgewicht vorliegt.
5. Wir bezeichnen mit F und −F zwei Kräfte auf parallelen Wirkungslinien mit Abstand a.
Damit lassen sich die drei Axiomsteile in (3.1) durch zwei Gleichungen beschreiben:
1. R = F + (−F) = 0 2. a = 0. (3.2)
Hierbei kennzeichnet 0 den Nullvektor. Mit Gl.(3.2.1) werden der 1. und der 2. Axioms-
teil in (3.1) erfasst, und Gl.(3.2.2) erzwingt den 3. Axiomsteil.
6. Die Gleichungen (3.2) sind notwendige und hinreichende Bedingungen für Gleichgewicht
eines starren Körpers. Wie weiter in Anhang B erläutert wird, folgt mit der symbolischen
Schreibweise nach (B.1): Ein Starrkörper ist unter der Wirkung von zwei Kräften im
Gleichgewicht ⇐⇒ Die Bedingungen (3.2) sind erfüllt.
7. Auf der Grundlage des Trägheitsgesetzes von Newton aus dem Jahre 1638 kann die Aus-
sage von Axiom (3.1) erweitert werden: Eine Gleichgewichtsgruppe von zwei Kräften
erhält nicht nur den Ruhezustand eines Körpers, sondern auch einen Zustand konstanter,
geradliniger Geschwindigkeit, siehe z.B. [21]. Damit gelten die Gleichgewichtsbedin-
gungen (3.2) auch für nicht beschleunigte Körper. Z.B. sind bei dem Fallschirmspringer
im Titelbild zu Kapitel 2 Gewichts- und Luftwiderstandskraft bei konstanter Geschwin-
digkeit im Gleichgewicht. Gleichgewicht in bewegten Systemen wird z.B. in Kapitel 11
über Werkzeuge und Maschinen oder in Kapitel 13 über Gleitreibung behandelt.
a) in Ruhe F2 b) c)
Bewegung
Verdrehung
-F, F
F1 F1 w2
F F
a F, F w1
F2
Abb. 3.2. Erläuterungen zum Gleichgewichtsaxiom: a) Körper mit zwei Gleichgewichtsgruppen, b) Kräfte auf
verschiedenen Wirkungslinien, c) nichtstarrer Körper
3.1 Das Gleichgewichtsaxiom zweier Kräfte am Starrkörper 39
F, F F, F -F, F F, F F, F
A B
= A B = A B
Zum Beweis betrachten wir in Abb. 3.3 einen starren Körper mit zwei Punkten A und B. Im
Punkt A greift eine Kraft F an, deren Richtung durch die Verbindungslinie von A nach B
festgelegt ist. Im Punkt A fügen wir die Kraft −F und im Punkt B die Kraft F hinzu. Diese
zusätzlichen Kräfte bilden nach dem Axiom (3.1) eine Gleichgewichtsgruppe, so dass sich
an der Wirkung auf den Starrkörper nichts ändert. vgl. Bemerkung 3.1.2. Andererseits bilden
auch die beiden in A angreifenden Kräfte (F, −F) nach dem Axiom (3.1) eine Gleichge-
wichtsgruppe, die entfernt werden kann, ohne die Wirkung auf den Starrkörper zu ändern.
Damit verbleibt die Kraft F im Punkt B, womit das Verschiebungsgesetz (3.3) bewiesen ist.
Wegen des Verschiebungsgesetzes (3.3) ist eine Beschränkung auf punktgebundene Kraft-
vektoren nach Definition (2.4) für Starrkörper nicht erforderlich. Wir formulieren daher die
Bemerkungen 3.2
1. Wird wie in Abb. 3.4 die Kraft F w2
in eine parallele Wirkungslinie
F w1
verschoben, dann ändert sich
auch die Wirkung auf den Star-
rkörper.
2. Ein liniengebundener Vektor ist
Abb. 3.4. Parallelverschiebung einer Kraft
in Abb. C.1 in Anhang C erklärt.
3. Treten bei einem Körper infolge der Belastung vergleichsweise große Deformationen
auf, dann ist die Annahme eines Starrkörpers nach Definition (2.8) nicht mehr gültig.
Da somit eine wesentliche Voraussetzung des Verschiebungsgesetzes (3.3) verletzt ist,
ist auch eine Verschiebung der Kraft auf ihrer Wirkungslinie nicht mehr in jedem Fall
möglich.
40 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
a) Bälle in Ruhelage
b) Kraft wirkt von Kraft wirkt von c)
Hand auf Ball A Wand auf Ball B
F F W=F F SA=F SB=F W=F
A B A Schnitt B A B
Schnitt
Abb. 3.6. Zur Herleitung des Wechselwirkungsgesetzes (actio gleich reactio) für Nahkräfte
Wir können das Wechselwirkungsgesetz (3.5) auf die paarweise auftretenden Schnittkräf-
te einer ruhenden Brücke in Abb. 3.7.a anwenden: Damit sind die auf den Aufbau der Brücke
aufwärts gerichteten Lagerkräfte AV , BV gleich den auf die Fundamente abwärts gerichteten
Kräften. Ebenso sind die am linken Lager auftretenden horizontalen Schnittkräfte AH entge-
gengesetzt gleich groß.
3.3 Das Axiom vom Kräfteparallelogramm 41
a) G b)
AH F
AV BV
AV AH BV F
Abb. 3.7. Wechselwirkung zwischen zwei Kräften: a) Schnittkräfte (Nahkräfte) an einer Brücke, b) Gravitations-
kräfte (Fernkräfte) zwischen zwei Planeten
Bezeichnen wir Kräfte in der Berührfläche von zwei Körpern auch als Nahkräfte, dann
sind im Gegensatz dazu die zwei Gravitationskräfte zwischen zwei Planeten in Abb. 3.7.b
Fernkräfte. Für diese Kräfte ist es nicht möglich, die Wechselwirkung durch Anwendung der
bisher eingeführten Axiome und Gesetze zu begründen. Jedoch bestätigt die Erfahrung
Das Wechselwirkungsgesetz (3.5) ist somit ein Sonderfall des Wechselwirkungsaxioms (3.6).
Während das Gleichgewichtsaxiom (3.1) für den gesamten Starrköper gilt, bezieht sich das
Axiom (3.7) lediglich auf einen Punkt des Starrkörpers. Für die zeichnerische Ermittlung
der Resultierenden gibt es zwei Darstellungsmöglichkeiten: 1. den Lageplan und 2. den
Kräfteplan.
42 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
Q F2 cos α
180 0- α α 180 0- α B
α F2
F1 F1 E
w2 P E γ
β β R
α γ R A R A F1
S α
w1 F2 T F2
C
180 0-α F cos α
1
Abb. 3.8. Das Axiom vom Kräfteparallelogramm: Bestimmung der Resultierenden mit a) dem Kräfteparal-
lelogramm im Lageplan (LP), b) dem Kräftedreieck im Kräfteplan (KP). c) Zweites Kräftedreieck
Grafo-analytische Berechnung der Resultierenden: Eine höhere Genauigkeit als mit dem
zeichnerischen Verfahren wird grafo-analytisch (zeichnerisch und rechnerisch) erhalten. Zur
Berechnung des Betrages R = |R| der Resultierenden R wenden wir mit dem Winkel α, den
F1 und F2 in Abb. 3.8.a einschließen, den Kosinussatz der ebenen Trigonometrie an. Aus
dem Dreieck SP Q in Abb. 3.8.a folgt wegen cos(180o − α) = − cos α:
R = F12 + F22 − 2F1 F2 cos(180o − α) = F12 + F22 + 2F1 F2 cos α, (3.10)
wobei F1 und F2 die Beträge der beiden Kräfte sind. Die Wurzel ist stets positiv zu nehmen.
Die Richtung von R wird wahlweise durch die Winkel β oder γ festgelegt. Mit dem
Sinussatz gilt für die Dreiecke SP Q und SP T in Abb. 3.8.a wegen sin(180 − α) = sin α:
F2 sin α F1 sin α
1. sin β = 2. sin γ = , (3.11)
R R
wobei R nach Gl.(3.10) einzusetzen ist. Da α nur Werte zwischen 0o und 180o annimmt,
ist sin α ≥ 0. Damit folgt aus Gl.(3.11.1) stets sin β ≥ 0, womit jedoch nicht unmittelbar
erkennbar wird, ob β spitz (im ersten Quadranten) oder stumpf (im zweiten Quadranten) ist.
Diese Überprüfung gelingt durch Fallunterscheidung: Für α ≤ 900 sind wegen α = β + γ
beide Winkel β und γ auf jeden Fall spitz. Für α > 90o bestimmt man beide Winkel aus den
Dreiecken AEB in Abb. 3.8.b bzw. AEC in Abb. 3.8.c mit den Beziehungen
F1 + F2 cos α F2 + F1 cos α
1. cos β = 2. cos γ = . (3.12)
R R
Ist cos β (bzw. cos γ) positiv, dann ist β (bzw. γ) spitz (im ersten Quadranten), sonst stumpf
(im zweiten Quadranten).
Regel zu Kräften: Jede physikalische Größe, die mit der Gewichtskraft ins (3.13)
Gleichgewicht gebracht werden kann, ist eine Kraft nach Definition 2.4.
Im Folgenden wollen wir kurz auf einige Kräftearten eingehen, die aus der Schule bekannt
sind, siehe z.B. [14], und in der Technik eine wichtige Rolle spielen:
1. die Gravitationskraft
2. die Coulombsche Kraft für elektrische Ladungen
3. die Magnetkraft auf einen stromdurchflossenen Leiter
4. die Federkraft.
m1 m2 m3
1. F = Γ , wobei 2. Γ = 6.6742 · 10−11 . (3.14)
r2 kg s2
Damit ist F proportional dem Produkt beider Massen m1 und m2 (in kg) und umgekehrt
proportional zum Quadrat ihres Abstandes r (in m). Γ = ist die universelle Gravitations-
konstante.
2. Die Gravitationskraft tritt paarweise für beide Körper auf. Der Angriffspunkt jeder Kraft
ist der jeweilige Schwerpunkt des Körpers.
3. Die Richtung jeder Kraft verläuft vom Schwerpunkt des eigenen Körpers zum Schwer-
punkt des gegenüberliegenden Körpers.
4. Mit dem von m1 auf m2 gerichteten Einheitsvektor e werden in einer vektoriellen
Schreibweise die Richtungen beider Kräfte erfasst:
m1 m2
F1 = F e = Γ e = −F2 . (3.15)
r2
Da die beiden Kräfte entgegengesetzt gleich groß sind, ist das Gravitationsgesetz ein Beispiel
für das Wechselwirkungsaxiom (3.6).
Gegeben sind zwei Massen m1 = m2 = m = 1000 kg mit dem Abstand r=10 cm.
1. Bestimmen Sie den Betrag der Gravitationskraft.
2. Vergleichen Sie die Gravitationskraft mit der Gewichtskraft.
Lösung: 1. Aus dem Gravitationsgesetz (3.14) folgt für den Betrag der Gravitationskraft
3 3 3 2
m1 m2 −11 m 1, 0 · 10 · 1, 0 · 10 kg
F=Γ = 6, 6742 · 10 = 6, 67 · 10−3 N.
r2 kg s2 (0, 1)2 m2
Durch Versuche mit einer Torsionswaage stellte Charles Augustin de Coulomb (1736-1806)
im Jahr 1785 fest, dass zwischen zwei Kugeln mit den elektrischen Ladungen Q1 und Q2
eine Kraft auftritt, die entgegengesetzt gleich groß auf beide Ladungen wirkt.
46 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
Hierbei gehen die Ladungen Q1 und Q2 mit Vorzeichen in die Gleichung ein.
Das Coulombsche Gesetz (3.16) hat die gleiche mathematische Struktur wie das Gravita-
tionsgesetz (3.14) und ist ein weiteres Beispiel für das Wechselwirkungsaxiom (3.6).
Beispiel 3.3 Das Coulombsche Gesetz zwischen zwei Ladungen (aus [14])
Der Abstand zwischen Proton (mp =1, 7 · 10−27 kg) und Elektron (me =9, 1 · 10−31 kg) im
Wasserstoffatom ist d = 10−10 . Beide Ladungen sind positiv mit Q = 1, 6 · 10−19 C.
1. Bestimmen Sie den Betrag der Coulombschen Kraft.
2. Vergleichen Sie die Coulombsche Kraft mit der Gravitationskraft.
Lösung: a) Aus (3.16) folgt für den Betrag der Coulombschen Kraft
ist das Verhältnis zur Coulombschen Kraft G/F = 1, 032·10−47 / 2, 30·10−8 = 4, 49·10−40 .
Somit sind Gravitationskräfte für dieses Beispiel vernachlässigbar klein.
3.4 Gleichgewicht verschiedenartiger Kräfte 47
In Abb. 3.13.a ist ein zylindrischer Metallstab auf zwei Schienen dargestellt [14]. Durch An-
legen einer elektrischen Spannung fließt ein elektrischer Strom I durch den Stab. Außerdem
befindet sich der Stab in dem magnetischen Feld eines Hufeisenmagneten. Man beobachtet,
dass der Stab zu rollen beginnt. Dreht man den Hufeisenmagneten um (Abb. 3.13.b) oder
polt man den Strom um (Abb. 3.13.c), so rollt der Stab in die entgegengesetzte Richtung. Die
einsetzende Bewegung des Stabes ist nach der Erklärung (2.1) von Newton ein Hinweis auf
eine Kraftwirkung. Auf Grund der Versuchsaufbauten in Abb. 3.13 ist diese sowohl senkrecht
zum Stromleiter als auch senkrecht zur Richtung des Magnetfeldes gerichtet.
a) b) c)
N S B N
I I
_ _ +
F
S F S
+ l N + _F
B I
B
Abb. 3.13. Stromdurchflossener Stab im Magnetfeld: Die Richtung der Kraft ist sowohl senkrecht zur Richtung
des Stroms als auch senkrecht zur Richtung der magnetischen Feldlinien.
a) b)
Rotationsachse
magnetische Feldlinie
magnetische Achse
N geografischer Nordpol
S
magnetischer Südpol
magnetischer Nordpol
N
Abb. 3.15. a) Freileitung im Erdmagnetfeld, b) Neigung des Erdmagneten gegenüber der Erdachse
Lösungen:
1. Mit dem Winkel α = 90o in Abb. 3.15.c Strommasten Stromkabel
folgt aus Gl.(3.18.2) für den Betrag der Mag-
netkraft B
Iα F O
F = aIB sin α W
NmA
= 150 · 100 · 19 · 10−6 = 0, 285 N.
Am
a=150 m
Nach der „Rechte-Hand-Regel” in
Abb. C.2.d ist der Vektor F wie die Ge- Abb. 3.15.c. Richtungen von I, B und F
wichtskraft zum Erdmittelpunkt gerichtet.
2. Für das Gewicht der sieben Stromkabel G = 7V γ = 7πr 2 aγ = 7π0, 042 · 150 · 70 =
369, 5 kN ist das Verhältnis zur Magnetkraft
G 369, 5 · 103 N
= = 1, 30 · 106 .
F 0, 285 N
Somit sind Magnetkräfte für dieses Beispiel vernachlässigbar klein.
3.4 Gleichgewicht verschiedenartiger Kräfte 49
Im Jahr 1678 entdeckte Sir Robert Hooke (1635 - 1703) einen einfachen Zusammenhang zur
Beschreibung des elastischen Verhaltens von Festkörpern. Das nach ihm benannte Hookesche
Gesetz ist eines der Fundamentalgesetze der Festkörpermechanik.
Bei der Belastung einer Schraubenfeder (kurz: Feder) in Abb. 3.16 erhält man einen line-
aren Zusammenhang zwischen dem Betrag der Kraft F und der Auslenkung Δl. Damit gibt
es eine Proportionalitätskon-
stante c, so dass a) b)
F
F =0
F = cΔl. (3.19)
l Δl c
Die Konstante c wird als Feder-
konstante bezeichnet. Für deren 1
Einheit gilt [c] = 1 N/mm. F>0 Δl
Berechnen wir mit der Erdbeschleunigung g die Abb.3.17. Kugel an einer Feder:
Gewichtskraft nach Gl.(2.2) und die Federkraft nach a) Ausgelenkte Lage, b) Gleich-
gewicht im Freikörperbild
Gl.(3.19), erhält man
G = mg = F = cΔl.
Durch Auflösen nach der gesuchten Federkonstante ergibt sich
mg 12 · 9, 81 kg m N
c= = = 39, 24 .
Δl 3 cm s2 cm
50 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
In dem Axiom vom Kräfteparallelogramm (3.7) haben wir zwei Kräfte durch eine Resul-
tierende ersetzt, ohne die Kraftwirkung zu ändern. Ebenso kann nach dem Verschiebungs-
gesetz (3.3) - welches mit dem Gleichgewichtsaxiom (3.1) bewiesen wurde - eine Kraft an
verschiedenen Punkten entlang ihrer Wirkungslinie angreifen, ohne dass sich die Kraftwir-
kung ändert. Wir werden in den nachfolgenden Kapiteln in gleicher Weise Kraftsysteme
durch Anwendung der Axiome (3.1), (3.6) und (3.7) verändern und formulieren dazu die
F2 -F2
F3 -F3
+ =
F1 -F1
Zum Beweis des Gleichgewichtsgesetzes (3.21) betrachten wir in Abb. 3.18 zwei Kraftsys-
teme, wobei sich die Kraftgruppen F1 , F2 , F3 , ... und −F1 , −F2 , −F3 , ... nur in den Vor-
zeichen unterscheiden. Nach dem Gleichgewichtsaxiom (3.1) heben sich alle Kräfte paar-
weise auf, so dass der Körper unter Wirkung von beiden Kraftsystemen nach Axiom (3.1)
im Gleichgewicht ist. Wird jetzt eines der Kraftsysteme mit den Axiomen (3.1), (3.6) oder
(3.7) in ein statisch äquivalentes Kraftsystem überführt, dann bleibt die Kräftewirkung nach
Definition (3.20) unverändert. Da beide Kraftsysteme vor der Überführung im Gleichgewicht
sind, gilt dieses auch nach der Überführung.
3.6 Anwendung der Axiome auf idealisierte Körper 51
Für den Bau technischer Konstruktionen werden häufig Körper verwendet, die auf Grund
ihrer Beanspruchungen und ihrer einfachen Geometrie mit Hilfe von Idealisierungen in den
mechanischen Berechnungen vereinfacht werden. Einige der in der Mechanik üblichen Be-
griffe für idealisierte Körper werden im Folgenden erläutert. Damit können unter Berück-
sichtigung der Axiome und Gesetze der vorherigen Abschnitte dieses Kapitels einige Regeln
für Kräfte bei idealisierten Körpern zusammengefasst werden.
Als Beispiel betrachten wir in Abb. 3.19 einen Kran, der eine Last befördert und sich dabei
auf Rädern über einen Schienenabschnitt bewegt. Die Erklärung der Begriffe Massenpunkt,
Zweigelenkstab, Seil, Rolle und Rad erfolgt in Tabelle 3.1.
Die Gleichheit der Kräfte an den Schnitten für den Zugstab, den Druckstab in Abb. 3.19.b
und das Seil in Abb. 3.19.c folgt sofort aus dem Gleichgewichtsaxiom (3.1). Für die Rolle in
Abb. 3.19.e wird die Gleichheit der Kräfte an den Seilenden im nachfolgenden Beispiel 3.6
gezeigt. Die Kontaktkräfte K in der Berührfläche zwischen Rad und Schiene in Abb. 3.19.e
werden mit dem Schnittprinzip aus Abschnitt 2.1.5 sichtbar gemacht. Sie wirken nach dem
Wechselwirkungsgesetz (3.5) entgegengesetzt gleich groß auf beide Körper. Mit dem Axiom
vom Kräfteparallelogramm (3.7) können sie in die beiden Komponenten T und N zerlegt
werden. Hierbei wirkt die Tangentialkraft T in der Kontaktfläche, und die Normalkraft N
wirkt normal zur Kontaktfläche. Die Tangentialkraft wird z.B. durch Reibung oder einen
Rollwiderstand verursacht.
a) e)
B Druckstab
Massenpunkt
Zugstab
A
T N
Rolle b) Zugstab K
Z Z
Seil
N K T
Stabachse
Druckstab
D D
c) S Seil S
S S
Rad d)
Rolle
Abb. 3.19. Kran mit idealisierten Körpern: a) Massenpunkt, b) Zweigelenkstab (Zug und Druckstab), c) Seil,
d) Rolle, e) Rad
52 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
Lösung: Wir verschieben in Abb. 3.21 die Kräfte S1 und S2 in den Schnittpunkt M . Die
Seilkraft S1 ist nach Betrag und Richtung bekannt, während von S2 nur die Richtung bekannt
ist. Von der Resultierenden R wissen wir aus Regel (3.8.3) zum Kräfteparallelogramm
zunächst nur, dass sie durch den gemeinsamen Schnittpunkt M verlaufen muss.
Durch einen Freischnitt machen wir die Reaktionskraft A sichtbar. Für Gleichgewicht
muss A nach dem Axiom (3.1) entgegengesetzt gleich groß zu R sein, d.h. nach Gl.(3.2.1)
gilt A = −R. Um auch Gl.(3.2.2) zu erfüllen, muss A durch den gemeinsamen Schnittpunkt
M verlaufen. Da A ebenso durch den Gelenkpunkt A verläuft, ist die Verbindungsstrecke
M A die Wirkungslinie wA von A und damit auch von R. Dieses ist gleichzeitig die Winkel-
halbierende des von S1 und S2 eingeschlossenen Winkels. Zeichnet man jetzt unter Berück-
sichtigung von A = −R das Kräfteparallelogramm in den Lageplan in Abb. 3.21, erhält
man S1 = S2 . Damit gilt: Bei reibungsfreier Rollenlagerung werden Seilkräfte durch die
Umlenkung nicht verändert. Wir fassen die Lösungsschritte wie folgt zusammen:
Lösungschritte:
wA
• Konstruktion des Schnittpunktes M
der Wirkungslinien von S1 und S2 .
• Konstruktion der Wirkungslinie wA A
β R
der Reaktionskraft A als Verbindungs- γ=β
S1
linie AM . A
• Zeichnen des Kräfteparallelogramms δ ε S 2 =S1
mit den Winkeln γ = β und dem M
Ergebnis S2 = S1 .
Die symbolischen Darstellungen für die Lagerarten in Abschnitt 2.4 und die Idealisierung
für den Stab aus Tabelle 3.1 werden in der Ingenieurpraxis zur vereinfachten Darstellung
54 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
der realen Systeme verwendet. Als Beispiel betrachten wir in Abb. 3.22 einen Balken mit
zwei Lagern. Die Bewegung des Lagers A ist horizontal und vertikal und die des Lagers B
vertikal behindert. Als Schwerachse bezeichnen wir die Verbindungslinie der Flächenschw-
erpunkte entlang der Trägerlängsachse. Mit den Lagersymbolen in Tabelle 2.1 erhält man das
vereinfachte statische System in Abb. 3.22.b.
a) F b)
F
A B b
A B
h
S
Schwerlinie
l l
Abb. 3.22. Idealisierung eines Balkens: a) Reales System, b) statisches System
Die Begriffe Axiom, Gesetz und Idealisierung werden gelegentlich unterschiedlich inter-
pretiert. In diesem Buch unterscheiden wir
Den Begriff Regel verwenden wir, um wichtige Ergebnisse oder Erkenntnisse übersichtlich
darzustellen. Damit können weitere Ableitungen aus den Gesetzen, praktische Hinweise zur
Berechnung von Aufgaben, Zusammenfassungen usw. gemeint sein.
mK
..
..
..
..
....
..
..
56 3 Axiome, Gesetze und Idealisierungen
Wir behandeln drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik für zentrale Kraftsysteme in der
Ebene: 1. Reduktion auf eine Einzelkraft, 2. Bedingungen für Gleichgewicht und 3. Zerlegung
einer Kraft. Die Lösungen werden mit Hilfe der Axiome des vorherigen Kapitels 3 zeich-
nerisch und rechnerisch erhalten. Im Zusammenhang mit der rechnerischen Lösung wird
die Systemmatrix eingeführt, die für die Untersuchung der statischen Bestimmtheit und für
numerische Methoden besondere Bedeutung hat.
a) b) w1 wG w2
F1 F2
Systemgrenze
M .
G
Abb. 4.1. Lampe unter Eigengewicht: a) Reales System, b) Freikörperbild mit zentralem Kraftsystem
Zentrale Kraftsysteme können mit Hilfe der Axiome und Gesetze in Kapitel 3 zeichnerisch
und rechnerisch untersucht werden. Dabei unterscheiden wir, vgl. z.B. [3, 30],
Die drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik für zentrale Kraftsysteme
1. Reduktion auf eine Einzelkraft (4.2)
2. Bedingungen für Gleichgewicht
3. Zerlegung einer Kraft.
a) LP b) KP
F2 F3 1. Teilresultierende 2. Teilresultierende
wR w3
.
R F3
M F2 F2
w1 E
1m
w1
F1
A
. R12
F1
R=R 123
1N
A
. R12
F1
Abb. 4.2. Zeichnerische Lösung zur Reduktion von Kräften: a) Lageplan (LP), b) Kräfteplan (KP)
Lösung: In Abb. 4.2.b wird ein Kräfteplan (KP) eingeführt, der mit einem Kräftemaßstab
z.B. 1 cm =
ˆ 1 N, versehen ist. Mit dem Axiom vom Kräfteparallelogramm (3.7) gelingt die
Bestimmung der Resultierenden R in drei Schritten:
1. Die Vektoren F1 und F2 werden wie in Abschnitt 3.3 beschrieben nach Betrag und Rich-
tung vom Lageplan in den Kräfteplan übertragen und dort beginnend bei einem Punkt A
als Kräftepolygon angeordnet. Durch Verbinden von A mit dem Endpunkt der Kraft F2
erhält man nach Regel (3.9.2) die erste Teilresultierende R12 . Den Betrag R12 bestimmt
man durch Messen der Länge von R12 .
2. Wir wiederholen Schritt 1 mit den Kräften R12 und F3 , indem wir an den Endpunkt
der Kraft R12 den Anfangspunkt der Kraft F3 legen. Bezeichnen wir den Endpunkt der
Kraft F3 mit E, dann legt die Verbindungslinie von A nach E die Richtung der zweiten
Teilresultierenden R123 fest, welche gleichzeitig die gesuchte Resultierende ist, d.h. R =
R123 . Deren Betrag R erhalten wir durch Messen der Länge von R.
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 61
3. Der Vektor R wird nach Betrag und Richtung vom Kräfteplan in den Lageplan übertra-
gen. Da ein zentrales Kraftsystem vorliegt, verläuft nach Regel (3.9.4) die Wirkungslinie
von R12 und damit auch die Wirkungslinie von R durch den Punkt M .
Wie in Gl.(3.9.2) können wir Schritt 1 mathematisch als Vektorgleichung beschreiben:
R12 = F1 + F2 . (4.3)
Die zum Schritt 2 gehörige Vektoraddition liefert unter Berücksichtigung von Gl.(4.3)
3
R = R123 = R12 + F3 = F1 + F2 + F3 = Fi . (4.4)
i=1
Für den Fall mit n Kräften wird Gl.(4.4) entsprechend erweitert. Zusammenfassend er-
halten wir folgende
Eine Ringschraube wird durch drei Kräfte F1 , F2 , F3 belastet. Ermitteln Sie die Kraftresul-
tierende R sowie deren Richtungswinkel αR mit einer zeichnerischen Methode.
F1 = 15 N, F2 = 30 N, F3 = 82 N,
α1 = 48o , α2 = 342o , α3 = 142o .
a) LP y a) KP
R α3
F3 E
αR
F F3
α2 α1 1 R
x αR
20 N
F2 A F1 F2
Lösung: Wir zeichnen in Abb. 4.4.b einen Kräfteplan mit dem Maßstab 1 cm = ˆ 20 N. Aus-
gehend von einem Anfangspunkt A werden die Kräfte F1 , F2 , F3 nach Größe und Richtung
zu einem Kräftepolygon mit Endpunkt E aneinandergefügt. Nach Regel (4.5.3) ist der resul-
tierende Kraftvektor R ein Pfeil von A nach E. Wir lesen R ≈ 58 N für den Betrag und αR
≈ 116, 5o für den Richtungswinkel ab. Nach Regel (4.5.5) verläuft R im Lageplan durch den
Punkt M .
Abb. 4.5. Zeichnerische Lösung zum Gleichgewicht von Kräften: a) Lageplan (LP), b) Kräfteplan (KP)
Lösung: Die zeichnerische Lösung geschieht in dem Kräfteplan in Abb. 4.5.b. Wir teilen die
gesamte Kräftegruppe in zwei Kräftegruppen F1 , F2 und F3 , F4 auf. Analog zum Vorgehen
in Abb. 4.2.b werden in dem Kräfteplan in Abb. 4.5.b für beide Kräftegruppen die Resultie-
renden R12 und R34 eingezeichnet. Die zugehörigen Vektoradditionen lauten nach Gl.(3.9)
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 63
Welchen Betrag F4 und welchen Richtungswinkel α4 hat eine vierte Kraft für das Kraftsys-
tem aus Beispiel 4.1, damit Gleichgewicht vorliegt?
a) LP y a) KP
E' E ' α4
F3 α3
F2 F3 F3
F4
α2 α1
x
F1 F1
A F2 A=E F2
α4 F4 F2 20 N
Abb. 4.6. Kraftsystem im Gleichgewicht an einer Ringschraube: a) Lageplan (LP), b) Kräfteplan (KP)
Lösung: Wir übertragen zunächst das Kräftepolygon der Kräfte F1 , F2 , F3 aus Abb. 4.4.b
in den Kräfteplan in Abb. 4.6.b. Dessen Endpunkt benennen wir mit E . Nach Regel (4.8.3)
muss das Kräftepolygon für Gleichgewicht geschlossen sein. Dazu tragen wir eine vierte
Kraft F4 als Pfeil von E nach A ein, so dass A = E. Wir lesen F4 = 58 N für den Betrag
und α4 = 296, 5o für den Richtungswinkel ab.
64 4 Zentrale Kraftsysteme in der Ebene
Tabelle 4.2. Lösungsschritte für Gleichgewichtsaufgaben mit bekannten Beträgen aller Kräfte
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 65
a) LP b) KP
w1 w1 A=E
A A=E
w2
M S1=0,35 G
S1 S2 G S2
G S =1,05 G w1 G
2
W E' E' w2 E'
w2 S1
W W W
G
Abb. 4.8. a) Lageplan mit Freikörperbild, b) Kräfteplan
2. Kräftepolygon: Ausgehend von dem Punkt A werden die bekannten Kräfte G und W
eingetragen, linke Skizze in Abb. 4.8.b. Der Endpunkt ist E .
3. Bekannte Wirkungslinien: Aus dem Lageplan werden die Wirkungslinie w1 der einen un-
bekannten Kraft S1 in den Punkt E des Kräfteplans und die Wirkungslinie w2 der zweiten
unbekannten Kraft S2 in den Punkt A parallel verschoben, mittlere Skizze in Abb. 4.8.b.
4. Schließen des Kräftepolygons: Die Bedingung A = E und die Beibehaltung des Umlauf-
sinns aus Schritt 2 legen jeweils den Richtungssinn von S1 und S2 fest.
5. Unbekannte Beträge: Durch Ablesen erhält man die Werte S1 ≈ 0, 35 G, S2 ≈ 1, 05 G.
6. Übertragen: Kräfte S1 und S2 nach Betrag und Richtung in den Lageplan übertragen.
Bemerkung: Die rechte Skizze in Abb. 4.8.b verdeutlicht, dass das Vertauschen der Wir-
kungslinien w1 und w2 in Schritt 3 zu dem gleichen Ergebnis für S1 und S2 führt.
Wie das folgende Beispiel zeigt, ist die Lösung von Gleichgewichtsaufgaben nicht immer
möglich.
66 4 Zentrale Kraftsysteme in der Ebene
Lösungen:
1. In dem Lageplan in Abb. 4.10.a werden die a) LP b) KP
.
senkrechte Gewichtskraft G sowie die horizontale Kraft
W eingetragen. Durch einen Freischnitt wird zusätzlich S A
M
die Kettenkraft S sichtbar gemacht. Die vertikale Lage
der Kette legt nach Regel (3.22.2) die Wirkungslinie
G
.
der Kettenkraft fest. In dem Kräfteplan in Abb. 4.10.b W S
werden anschließend ausgehend von dem Punkt A die
G E'
Kräfte G und W eingetragen. Versucht man weiter mit
W
einer vertikal gerichteten Kettenkraft S den Polygonzug
Abb. 4.10. a) Lageplan, b) Kräfteplan
zu schließen, erkennt man, dass dies nicht möglich ist.
Bemerkungen: Für die gegebenen Kräfte G, W ist mit einer vertikal gerichteten Kettenkraft
S kein Gleichgewicht möglich. Man bezeichnet das System dann als statisch unbrauchbar,
worauf wir weiter in Kapitel 9 eingehen werden. Mathematisch sagt man: Für Kräftegle-
ichgewicht existiert keine Lösung. Der Grund dafür ist sofort einsehbar, da sich der untere
Kettenpunkt infolge der Kraft W auf einer Kreisbahn im Uhrzeigersinn bewegen wird. Man
sagt: Das System ist verschieblich, worauf wir ausführlich in Kapitel 7 eingehen werden.
2. Um die tatsächliche Position der Lampe zu erhal-
ten, bestimmen wir die Wirkungslinie und den Betrag a) LP b) KP
der Kettenkraft. Damit liegt Aufgabenart 3 in Abschnitt
4.2.3 vor. Dazu schließen wir in dem Kräfteplan in
Abb. 4.11.b nach Regel (4.8.3) das Kräftepolygon (A
= E) und erhalten sofort die Richtung der Kettenkraft S α
S=1,13 G
A=E
.
α G
S. Deren Betrag ist S ≈ 1, 13G. Der Richtungspfeil
und der Winkel α ≈ 26, 6o definieren die Richtung M
der Seilkraft. Wir verschieben diese in den Lageplan in
Abb. 4.11.a und erhalten unter Berücksichtigung, dass wS
W=0,5 G
E'
W
.
der Aufhängepunkt der Kette unverschiebbar ist und die G
Kette ihre Länge nicht ändert die Wirkungslinie wS und Abb. 4.11. a) Lageplan, b) Kräfteplan
die endgültige Position der Lampe.
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 67
..
..
..
..
die Kontaktkraft zwischen Ebene und Rolle sowie den Nei-
gungswinkel α des Seiles. mR
....
..
..
mK
Bekannt: GR , GK = 0,6 · GR , β = 30o .
Vorüberlegungen: Da die Wirkungslinie der Seilkraft und β
die Größe der Kontaktkraft unbekannt sind, liegt der Aufga-
bentyp 4 in Abschnitt 4.2.3 vor. Wir gehen nach den Tabellen
4.1 und 4.2 vor und kombinieren dabei die Schritte 3 bis 6. Abb. 4.12. Rolle auf schiefer Ebene
Lösung:
1. Freikörperbild: Wir schneiden das Seil frei, trennen die Rolle von der Ebene und tragen
an den Schnittstellen die Seilkraft S und die Kontaktkraft N ein. Wegen Regel (3.22.4)
gilt S = GK , d.h. der Betrag der Seilkraft ist bekannt. Da die Fläche glatt ist, hat die
Kontaktkraft nach Regel (3.22.3) nur einen normal zur schiefen Ebene gerichteten Anteil
N . Damit ist deren Wirkungslinie wN bekannt, was für die Seilkraft S nicht zutrifft.
a) LP b) KP
S=GK r = GK r = GK
S=GK A A=E
..
..
..
..
α
wN S
....
..
..
α
GR GK P P
β GR GR
Schnittpunkt
β N
E' E'
N wN wN
Abb. 4.13. Rolle auf schiefer Ebene: a) Lageplan mit Freikörperbild, b) Kräfteplan
a) LP b) KP
F2
F1 F1
F2 F2
R12 A F3
F1 M F3
R12 A=E R12
w1 w3 E'
w2
Abb. 4.14. Gleichgewicht von drei Kräften: a) Lageplan, b) Kräfteplan
Bemerkung 4.1
1. Bedingung (4.9.1) ist nur notwendig, (4.9.2) dagegen hinreichend für Gleichgewicht.
2. Liegt der Schnittpunkt der drei Wirkungslinien im Unendlichen, dann sind die Kräfte
nicht parallel, und die Bedingungen (4.8.3) für Gleichgewicht eines zentralen Kraftsys-
tems gelten nicht. Derartige Aufgabenstellungen werden in Kapitel 5 behandelt.
System wirken, müssen diese nach Regel (4.9.1) für Gleichgewicht ein zentrales Kräftesys-
tem bilden. Gleichzeitig müssen die Wirkungslinien der Kräfte A und B die vorgegebenen
Lagerbedingungen berücksichtigen.
Lösung: Wir tragen in dem Freikörperbild in Abb. 4.16.a die gegebene Kraft G ein und
machen mit einem Freischnitt die Lagerkräfte A und B sichtbar. Dazu beachten wir, dass
der Zweigelenkstab (oder: Pendelstab) BC nach Regel (3.22.1) nur eine Kraft in Richtung
der Stabachse aufnehmen kann, womit die Wirkungslinien wB und wG den Schnittpunkt
M festlegen. Die Bewegung des Lagers A ist horizontal und vertikal behindert, so dass die
Richtung der Wirkungslinie wA allein aus der Lagerbedingung nicht festgelegt werden kann.
Nach Regel (4.9.1) muss wA jedoch ebenfalls durch den Punkt M verlaufen, damit Gleichge-
gewicht aller drei Kräfte vor-
a) LP G b) KP
liegen kann. In dem Kräfteplan 1kN
in Abb. 4.16.b zeichnen wir mit
der bekannten Kraft G und M A=E
den bekannten Wirkungslinien w B B
wA wA
wA und wB ein geschlossenes C G
Kräftepolygon, so dass A =
E. Dabei legt die Beibehal- B A
wG wB
tung des von G eingeführten A E'
Umlaufsinns den Richtungs- B wG
sinn von A und B fest. Für die
Abb. 4.16. a) Freikörperbild im Lageplan, b) Kräfteplan
Beträge der gesuchten Lager-
kräfte erhält man A = B = 3, 05 kN. Abschließend werden die Kräfte A und B nach Betrag
und Richtung in den Lageplan durch M verlaufend übertragen.
Lösung: In dem Freikörperbild in Abb. 4.18.a machen wir die Lagerkräfte A und B sowie
die Gelenkkräfte G an beiden Teilsystemen durch Freischnitte sichtbar. Am Teilsystem 2
müssen die zwei Kräfte B und G nach Axiom (3.1) für Gleichgewicht auf der gleichen
Wirkungslinie verlaufen. Damit sind die Wirkungslinien von G und von B bekannt. Am
Teilsystem 1 müssen die drei Kräfte A, F und G nach der „Drei-Kräfte-Regel” (4.9) für
Gleichgewicht durch einen Punkt verlaufen. Damit ist die Wirkungslinie von A bekannt.
a) F b) F
c)
l l 2l l l 2l A=E
G
+ = A F
1 G 2 1 2 αA
βB
A B A B
B
A αA B
A βB
B
Abb. 4.18. a) Freikörperbild für beide Teilsysteme, b) Freikörperbild für Gesamtsystem, c) Kräfteplan
Das Superpositionsgesetz
Erfüllen zwei oder mehr Kräftegruppen bestehend aus jeweils drei Kräften die (4.10)
„Drei-Kräfte-Regel” (4.9), dann verschwindet die Gesamtresultierende.
a) b)
F5 F6
F2 F5
M2 F1 F2
F4 F4
F1 A1= E1 F F6
M1 F3 3
w3 A 2 =E 2
w1 w2
Abb. 4.19. Das Superpositionsgesetz: a) Lageplan, b) Kräfteplan
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 71
a) b) c) d)
2l 4l LP LP
S1 S1 S1
A1= 2F E
S2
F S2 A = 3F
S2 4l = + 2
KP A
S2 = 2 F A 2 = 1,118 F
A
B A2
F B2
wB A1 KP B1 F
KP B2 = 2
B1 =F
S1 =F S1 =F A 2 = 1,118 F A F
B=
B1 =F 2
E
A1 = 2 F S2 = 2 F B2 = F
2
Abb. 4.21. a) Freischnitt der Pendelstäbe, b) Belastung S1 , c) Belastung S2 , d) Superpositionsgesetz
Die Kräfte S1 und S2 werden dann in Abb. 4.21.b und Abb. 4.21.c entgegengesetzt gleich
gross als Belastung getrennt auf den Rahmen aufgebracht. Entsprechend der „Drei-Kräfte-
Regel” (4.9) erhält man aus den zugehörigen Lageplänen√die Wirkungslinien der Auflager-
√
kräfte und aus den Kräfteplänen deren Beträge: A1 = F 2, B1 = F bzw. A2 = F 2, B2
= 1, 118F . Die Beibehaltung des von S1 bzw. S2 eingeführten Umlaufsinns legt jeweils den
Richtungssinn von A1 , B1 bzw. A2 , B2 in dem Kräfteplan fest. Nach dem Superpositions-
gesetz (4.10) werden aus dem Kräfteplan in Abb. 4.21.d die gesamten Lagerkräfte durch
Vektoraddition erhalten: A = 3F/2, ↑, bzw. B = F/2, ↓.
72 4 Zentrale Kraftsysteme in der Ebene
a) LP b) KP
w2 w2
w1
w2 F1'
E
E R F2'
M
R F2 A R
w1 F1 A
w1
Abb. 4.22. Zerlegung einer Kraft in zwei unabhängige Richtungen: a) Lageplan, b) Kräfteplan
Lösung: Wir kennzeichnen in dem Kräfteplan in Abb. 4.22.b mit A und E Anfangs- und
Endpunkt des Vektors R. Nach dem Axiom vom Kräfteparallelogramm (3.1) wird R in die
beiden Richtungen von w1 und w2 zerlegt. Wir erkennen dabei für die Kraftvektoren F1 , F2
und F1 , F2 zwei Verbindungsmöglichkeiten von A nach E, wobei jedoch der Zusammen-
hang F1 = F1 , F2 = F2 besteht. Damit ist die Lösung eindeutig und lautet in Übereinstim-
mung mit dem Kommutativgesetz in Gl.(3.9):
1. R = F1 + F2 = F2 + F1 ⇐⇒ 2. F1 = F1 , F2 = F2 . (4.11)
Die Kräfte F1 und F2 in Abb. 4.22.a bezeichnet man auch als Komponenten der Kraft R in
den Richtungen von w1 und w2 .
a) LP b) KP
w 2 w3
w1 E F 3'
R
F3 A E R
M R A
F1 F 2'
F2 F 1'
Abb. 4.23. Zerlegung einer Kraft in drei unabhängige Richtungen: a) Lageplan, b) Kräfteplan
Für eine Zerlegung von R in die drei Richtungen von w1 , w2 und w3 findet man in dem
Kräfteplan in Abb. 4.23.b z.B. zwei Lösungen mit den Eigenschaften
1. R = F1 + F2 + F3 = F2 + F1 + F3 , wobei 2. F1
= F1 , F2
= F2 , F3
= F3 . (4.12)
Damit ist im Unterschied zu den Gleichungen (4.11) die Lösung in den Gleichungen (4.12)
nicht eindeutig. Zusammenfassend erhalten wir folgende
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 73
In Abb.4.24 führen wir noch den Richtungswinkel αi ein. Er zählt von der positiven x-Achse
aus im Gegenuhrzeigersinn. Aus Gl.(4.14) und Gl.(4.15) sowie Anwendung der Sinus- und
Kosinusfunktionen erhält man zusammenfassend folgende Gleichungen zur
Bemerkungen 4.2
1. Die Basisdarstellung eines Kraftvektors in (4.16.2) wird auch als Spaltenmatrix
Fix T
Fi = Fix ex + Fiy ey = = Fix , Fiy (4.17)
Fiy
geschrieben. Diese Darstellung für Vektoren mit runden Klammern ist mathematisch von
T
der Spaltenmatrix F = Fix , Fiy mit rechteckigen Klammern zu unterscheiden, die
insbesondere Grundlage numerischer Methoden ist, vgl. die Erläuterungen in Anhang D.
2. Durch Angabe des Betrages Fi und des Richtungswinkels αi sind beide Koeffizienten
Fix und Fiy mit Gl.(4.16.3) eindeutig bestimmbar.
3. Umgekehrt kann durch Angabe der beiden Koeffizienten Fix und Fiy der Richtungswinkel
αi allein mit Gl.(4.16.5) nicht direkt berechnet werden, da die Tangensfunktion zwischen
0o und 360o nicht eindeutig ist. Mit Hilfe des spitzen Winkels
|Fiy |
βi = arctan (4.18)
|Fix |
sowie den Fallunterscheidungen in Abb. 4.25 kann jedoch eine eindeutige Zuordnung
gefunden werden. Den Betrag Fi der Kraft Fi berechnet man mit Gl.(4.16.4).
y y y y
Fiy
Fi Fi
αi αi
Fiy α i= β i αi
βi Fix Fix
x x x βi x
F ix Fix βi Fiy
Fi Fiy Fi
Abb. 4.25. Vier Fälle zur Bestimmung des Richtungswinkels αi der Kraft Fi
Beispiel 4.9 Zerlegung der Auflagerkräfte für Rahmen auf zwei Stützen
Für die in Beispiel 4.7 berechneten Lagerkräfte A und B eines Rahmens sind die Koeffizien-
ten bezogen auf das x, y Koordinatensystem in Abb. 4.26.a gesucht.
Lösung: In Abb. 4.26.b bzw. c sind die a) b) c)
berechneten Kräfte A = 0, 69 F bzw. B
= 0, 38 F eingetragen. Mit dem Rich-
tungswinkel αA = 76, 5o erhält man aus Ay
Gl.(4.16.3) die Koeffizienten der Kraft A A
α A=βA By B αB
y βB
Ax = 0, 69 F cos 76, 5o = 0, 16 F x
Ay = 0, 69 F sin 76, 5o = 0, 67 F. Ax Bx
Abb. 4.26. Zerlegung der Auflagerkräfte:
a) Koordinatensystem, b) Lager A, c) Lager B
4.2 Zeichnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 75
Für die Koeffizienten der Kraft B in Abb. 4.26.c erhält man aus Gl.(4.16.3) mit dem Rich-
tungswinkel αB = 180−βB = 180−63, 5o = 116, 5o
8a
C D
A G 2a
B
7a 5a
..
..
..
..
die Resultierende der Seilkräfte wie in Auf-
gabe 3.2 ermittelt.
....
..
..
Aufgabe 4.9 (SG = 1, BZ = 5 min)
y
Ein PKW der Masse m steht an einem Hang
mit der Neigung β. Bestimmen Sie für die ey G
Gewichtskraft G bezogen auf die beiden Ko- ex x
ordinatensysteme X, Y und x, y jeweils eine
Basisdarstellung. Y β
Bekannt: m = 1500 kg, β = 300 . eY
Bemerkung: Die Komponente der Gewichts- eX X
kraft in x-Richtung bezeichnet man auch als
Hangabtriebskraft.
Bekannt: F , α = 30o .
....
..
..
mH
den Neigungswinkel α des Seiles.
mK
....
..
..
Aufgabe 4.16
(SG = 1, BZ = 5 min)
Die Arbeitsbühne einer Um- g
F
zugsfirma wird durch das 1 2a
dargestellte statische System
vereinfacht. Bestimmen Sie C
zeichnerisch die Kräfte in
2a
den Lagern A und B. A 3a
Bekannt: F1 = 1000 N, a =
5 m. B
1,5a
80 4 Zentrale Kraftsysteme in der Ebene
..
..
..
..
4a
Bekannt: GK , a. g
mK
....
..
..
A
g D
6a 4a
K1 K2
C
_
G _
G 2a
A 2 2
B
1,5a 1,5a
5a 6a
4.3 Rechnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 81
Bemerkungen 4.3
1. Die Gleichungen (4.20.1) und (4.20.2) besagen: Die Koeffizienten Rx und Ry der Kraftre-
sultierenden sind die algebraischen Summen der Koeffizienten (Summe aus positiven und
negativen Summanden) der einzelnen Kräfte.
2. Hat man mit Gl.(4.20.1) und Gl.(4.20.2) die Koeffizienten Rx und Ry berechnet, be-
stimmt man mit Gl.(4.20.4) und Gl.(4.20.5) Betrag und Richtungswinkel der Resultieren-
den. Zur Ermittlung des Quadranten für den Winkel αR sind zusätzlich Fallunterschei-
dungen entsprechend Abb. 4.25 durchzuführen. Dazu verwendet man den spitzen Winkel
|Ry |
βR = arctan . (4.21)
|Rx |
82 4 Zentrale Kraftsysteme in der Ebene
|Ry | 52, 36
tanβR = = = 2, 010 =⇒ βR = 63, 54o =⇒ αR = 180o − βR = 116, 46o .
|Rx | 26, 05
Bemerkung: Gelegentlich ist eine Berechnung mit be- y
tragsmäßig positiven Koeffizienten zweckmäßig. Die R
F3 αR
richtigen Vorzeichen der Kraftkoeffizienten in Gl.(4.20.1) β3 F1
und Gl.(4.20.2) müssen dann aus der Anschauung fest- β1
gelegt werden. Führen wir wie in Abb. 4.27.b die Winkel x
β1 = α1 = 48o , β2 = 360o − α2 = 18o , β2 F
2
β3 = α3 − 90o = 52o Abb. 4.27.b Betragsmäßig positive
Koeffizienten
ein, berechnet man
Rx = (15 · cos 48o + 30 · cos 18o − 82 · sin 52o ) N = −26, 05 N
Ry = (15 · sin 48o − 30 · sin 18o + 82 · cos 52o ) N = 52, 36 N .
Der Richtungswinkel αR wird wie oben beschrieben berechnet.
Bemerkungen 4.4
1. Die Bedingungen (4.22) besagen: Ein starrer Körper ist unter der Wirkung eines zen-
tralen ebenen Kraftsystems im Gleichgewicht, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Die
Summe aller Kräfte in x-Richtung ist gleich Null; 2. Die Summe aller Kräfte in y-
Richtung ist gleich Null. (Wie noch gezeigt wird, sind es im Raum drei Bedingungen.)
2. In der praktischen Rechnung verwendet man als symbolische Kennungen der Gleichge-
wichtsbedingungen (4.22) häufig einen horizontalen Pfeil → und einen vertikalen Pfeil ↑.
3. Die Koordinatenrichtungen x, y müssen nicht unbedingt horizontal und vertikal gerichtet
sein. Gelegentlich sind auch geneigte, zueinander orthogonale Koordinatenrichtungen
x, y, zweckmäßig. In der praktischen Rechnung geben dann z.B. die Symbole ( oder
) bzw. ( oder ) die Richtungen für positive Kräfte an.
4. Nach Multiplikation von Gl.(4.22.1) bzw. Gl.(4.22.2) mit −1 gelten diese Gleichungen
auch für negative Koordinatenrichtungen. In der praktischen Rechnung geben dann z.B.
die Symbole ← bzw. ↓ die Richtungen für positive Kräfte an.
1. w1
= w2
= wR , w1
= wR 2. w1 = w2
= wR
F2= 0 R
w1 R w1 F1 oo
w2 F2 oo
F1= 0 wR
wR
w2 4. w1
= w2
= w3
= wR
3. w1
= wR R F2= 0
w1 R
w1 F1 oo F3= 0
w3
F1= 0
wR
wR
w2
Abb. 4.30. Zerlegung einer Kraft R für vier Sonderfälle
4.3 Rechnerische Lösungen der drei Grundaufgaben 85
1. Für den Fall, dass, wie in Abb. 4.30.1, alle drei Winkel α1 , α2 und αR unterschiedlich
sind, liefern die Gleichungen (4.24) eindeutige Lösungen für F1 und F2 .
2. Für den Sonderfall gleicher Winkel α1 = α2
= αR in Abb. 4.30.2 werden die Nennerter-
me in den Gleichungen (4.24) zu Null. Damit existiert keine Lösung für die Zerlegung.
3. In Abb. 4.30.3 betrachten wir den Fall mit einer Wirkungslinie w1
=wR . Es ist nicht
möglich, die Resultierende R auf der Wirkungslinie wR durch eine Kraft F1 auf der
Wirkungslinie w1 darzustellen. Dieses würde dem Gesetz (C.2) im Anhang widersprechen.
4. Für den Fall mit vier verschiedenen Wirkungslinien w1 , w2 , w3 und wR in Abb. 4.30.4
wissen wir bereits für die zeichnerische Lösung aus Regel (4.13.2), dass diese nicht ein-
deutig ist. Für die rechnerische Lösung müssen die beiden Gleichungen (4.23) jeweils
um einen dritten Term erweitert werden. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, kann
gezeigt werden, dass für diese zwei Gleichungen mit drei Unbekannten F1 , F2 , F3 eine
Lösung zwar existiert, diese jedoch nicht eindeutig ist.
Wir betrachten in Abb. 4.31 einen Körper, der als Massenpunkt (vgl. Tabelle 3.1) idealisiert
wird und für vier verschiedene Fälle mit Pendelstäben gelagert ist. Infolge der Belastung R
entstehen in den Stäben jeweils Reaktionskräfte S1 , S2 , ..., die mit R ein zentrales Kraftsys-
tem bilden. Zu deren Berechnung stehen in allen vier Fällen die zwei Gleichgewichtsbedin-
gungen (4.22) zur Verfügung. Wir untersuchen die Eignung der verschiedenen Lagerungen
gemäß der
Zur Klärung, ob ein Massenpunkt statisch bestimmt gelagert ist, verwenden wir die Ergeb-
nisse zur dritten Grundaufgabe im vorherigen Abschnitt 4.3.3. Dabei berücksichtigen wir,
dass die beiden Kraftsysteme R und, sofern existent, F1 , F2 , ... für die verschiedenen Fälle
in Abb. 4.30 jeweils statisch äquivalent sind. Kehren wir die Richtungen der Kräfte F1 , F2 , ...
um, so werden diese zu Reaktionskräften S1 , S2 , ... und sind nach dem Gleichgewichtsge-
setz für zwei Kraftsysteme (3.21) mit der Kraft R im Gleichgewicht. Aus den vier Fällen in
Abb. 4.30 für die Zerlegung einer Kraft R ergeben sich in Abb. 4.31 vier Fälle für Gleichge-
wicht von R mit den Reaktionskräften S1 , S2 , .... . Zusammenfassend erhält man folgende
1. w1
= w2
= wR , w1
= wR 2. w1 = w2
= wR
R
S 2= 0
w2
R S1 oo w1
S2 oo w2
w1
wR
wR
S1 = 0 4. w1
= w2
= w3
= wR
3. w1
= wR w2
S1= 0
R R
S1 oo
S3 = 0 w3
w1
w1
wR wR
S2= 0
Abb. 4.31. Vier Fälle zur Untersuchung von Gleichgewicht eines Massenpunktes
4.4 Statische Bestimmtheit eines Massenpunktes in der Ebene 87
1. 2 w1
= w2
= wR , w1
= wR
= 0 existiert eindeutig (4.30)
2. 2 w1 = w2
= wR =0 existiert nicht
3. 1 w1
= wR − existiert nicht
4. 3 w1
= w2
= w3
= wR − existiert, jedoch nicht eindeutig.
Der Fall (4.30.2) zeigt, dass allein das Anbringen von r=2 kinematischen Bindungen das
Gleichgewicht des Massenpunktes nicht sichert. Zusätzlich fordern wir, dass die Anord-
nung der zwei Bindungen wie in (4.30.1) zu einer regulären Systemmatrix führt (det A
=0).
Der Fall (4.30.3) sowie Abb. 4.30.3 zeigen, dass eine Bindung mit r=1 zur Aufnahme einer
beliebigen Kraft R nicht ausreichend ist. Die Aussage von Fall (4.30.4) sowie Abb. 4.30.4 ist,
dass eine beliebige Kraft mit r=3 Bindungen aufgenommen werden kann, die Berechnung
der Kräfte S1 , S2 , S3 jedoch nicht eindeutig möglich ist. Einzig der Fall (4.30.1) erfüllt die
Bemerkung 4.5
1. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die statische Bestimmtheit nur von der
Lagerung und nicht von der Belastung des Systems abhängt.
2. Bedingung (4.31.2) für die Systemmatrix kann erst überprüft werden, wenn Bedingung
(4.31.1) erfüllt ist. Daher ist (4.31.1) notwendig, während (4.31.2) hinreichend für stati-
sche Bestimmtheit des Massenpunktes in der Ebene ist, vgl. Anhang B.
3. Den Fall det A = 0 bezeichnet man als Ausnahmefall der Statik (kurz: Ausnahmefall).
Lösungen:
1. In dem Freikörperbild in Abb. 4.33.a werden die senkrechte Gewichtskraft G sowie die
horizontale Kraft W eingetragen. Durch einen Freischnitt werden zusätzlich die Kettenkräfte
S1 und S2 sichtbar gemacht. Die Zerlegung der Kettenkräfte S1 und S2 in die zwei Koordi-
natenrichtungen x, y geschieht in Abb. 4.33.b.
a) M
b)
S1 S2
S1 S1 S2 S2
y
W 2 2
x S1 45 o 45 o S2
G 2 2
1. 2. 3.
S1
S1 w1= wR
w1 R R
α1 αR w1 αR α1 α R= α 1
S1 α2
wR α2 wR R
w2 w2
w2
S2 S2 S2
4. 5. 6.
S1
R w1 R
w1= w 2 = wR w1= w 2 αR
S1 R S1 αR w3 α 1
S2 S2 S 3 wR α2
wR
w2 S
2
4.6 Aufgaben zu den Abschnitten 4.3 bis 4.5 93
Zusätzlich zur Kraft werden das Drehmoment und das polare Moment eingeführt. Entspre-
chend dem Vorgehen in Kapitel 4 können damit für nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
die drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik 1. Reduktion, 2. Gleichgewicht und 3. Zer-
legung einer Kraft auf der Grundlage der Axiome in Kapitel 3 behandelt werden. Ein weiteres
Thema ist die Systemmatrix, die in den weiteren Abschnitten über statische Bestimmtheit und
numerische Methoden eine wichtige Rolle annimmt.
a) Systemgrenze b) c)
G G
mW=0 S A B AH
mS
AV BV
l l l l l l
2 2 2 2 2 2
Abb. 5.1. Welle mit Scheibe: a) Reales System, a) statisches System mit Belastung, c) Freikörperbild mit
nichtzentralem Kraftsystem
Wir untersuchen zunächst zwei Sonderfälle mit jeweils zwei parallelen Kräften: 1. mit
gleicher und 2. mit entgegengesetzter Richtung.
Bemerkungen 5.1
1. Gl.(5.1.3.γ) ist als Hebelgesetz von Archimedes bekannt und besagt: Die Kräfte F1 und
F2 verhalten sich umgekehrt wie die Abstände von der Resultierenden a1 und a2 .
2. Für den Sonderfall gleich großer Kräfte F = F1 = F2 ist die Richtung der Resultierenden
ebenfalls parallel zu F. Für deren Betrag und Lage erhält man aus (5.1)
1. R = 2F 2. a1 = a2 = a/2. (5.2)
3. Die Resultierende R ist den Kräften F1 , F2 nach Defintion (3.20) statisch äquivalent.
5.3 Das Kräftepaar und dessen Moment 97
Definition Kräftepaar
Zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte F, −F gleichen Betrages und dem Ab- (5.3)
stand a ihrer Wirkungslinien bezeichnet man als Kräftepaar (F, a, −F).
Zwei Beispiele in Abb. 5.4 veranschaulichen die kinematische Wirkung von Kräftepaaren:
Im Fall a verdreht sich ein Buch auf einer Ebene, sofern nicht weitere kinematische Bindun-
gen dieses behindern. Bei dem technischen Beispiel in Abb. 5.4.b entsteht ein Kräftepaar
durch eine Kraft F an einer Zahnstange, die eine Reaktionskraft F im Zentrum eines Zahn-
rades verursacht. Als Folge dieses Kräftepaares verdreht sich das Zahnrad.
a) b)
F
a
F
Verdrehen
Bemerkungen 5.2
1. Im Folgenden werden häufig die Kurzbezeichnungen Drehmoment oder, falls Verwechs-
lungen ausgeschlossen sind, Moment anstatt Moment eines Kräftepaares verwendet.
2. Das Drehmoment ist das Produkt aus dem Kraftbetrag F und dem senkrechten Abstand
a beider Wirkungslinien. Die Notation ± in Gl.(5.5.1) definiert ein positives Vorzeichen
für den Skalar von M , wenn das Kräftepaar wie in Definition (5.5.2) im Gegenuhrzeiger-
sinn dreht; andernfalls ist der Skalar negativ. Somit fasst allein der Skalar in Gl.(5.5.1)
die zwei Bestimmungsstücke des Momentes - Betrag |M | und Drehsinn - zusammen.
3. Die Einheit des Drehmomentes M ist „Kraft × Länge”, so dass [M] = 1 Nm.
4. In Abweichung von Definition (5.5) werden wir im Folgenden ein Moment auch gele-
gentlich mit dem Betrag (z.B. 5 Nm) und einem Drehpfeil ( oder ) kennzeichnen.
Abb. 5.5 veranschaulicht die Definition (5.5) für drei Kräftepaare an einem Steuerrad. Im
Fall a ist der Abstand a gleich Null, so dass eine Kraft F > 0 keine Drehwirkung erzeugt. Die
Fälle b und c bestätigen die Erfahrung, dass durch Vergrößerung des Abstandes (a2 > a1 )
der Kraftaufwand zum Erzielen der gleichen Drehwirkung reduziert wird (F2 < F1 ). Für
a1 F1 = a2 F2 sind die Drehmomente der beiden Fälle - nach Betrag und Drehsinn - gleich.
a) b) c)
F2
F1
F F
a1 a2
F1
F2
Abb. 5.5. Momente an einem Steuerrad: a) M = 0, b) M1 = F1 a1 , c) M2 = F2 a2
5.3 Das Kräftepaar und dessen Moment 99
Bemerkungen 5.3
1. Aus den Verschiebungsgesetzen (3.3) und (5.6) folgt vergleichend: Eine Kraft darf ent-
lang ihrer Wirkungslinie und ein Kräftepaar darf in seiner Wirkungsebene verschoben
werden, ohne dass sich jeweils die Wirkung auf den Starrkörper ändert.
2. In der Darstellung wird ein Kräftepaar häufig nicht durch Kräfte, sondern zweckmäßig
durch sein Moment M mit Drehpfeil ( ) gekennzeichnet. Wegen des Verschiebungs-
gesetzes (5.6) gilt: Der Ort der Darstellung an dem Starrkörper ist gleichgültig.
3. Das Äquivalenzgesetz (5.8) macht nur eine Aussage über die Kräftewirkung auf einen
Körper, jedoch nicht über die kinematische Wirkung, was gelegentlich zu Verständnis-
schwierigkeiten führt. Wie die folgenden Beispiele zeigen, ist die kinematische Wirkung
von den kinematischen Bindungen abhängig.
In Abb. 5.8 wirken zwei Kräftepaa- a) b)
re auf ein Steuerrad. Im Fall a wird F1 F2 = 2F1
es mit zwei Händen mit jeweils der
R
Kraft F1 gedreht. Mit dem Abstand
a1 = 2R entsteht das Drehmoment 2R
F2
M1 = F1 · 2R. Dreht man im Fall b
das Steuerrad mit einer Hand und der F1
Kraft F2 = 2F1 , entsteht die zweite Abb. 5.8. Äquivalente Drehmomente an einem Steuerrad
Kraft des Kräftepaares im Abstand a2 mit gleichen kinematischen Wirkungen:
= R als Auflagerkraft an der Steuer- a) Verdrehen mit zwei Händen, b) Verdrehen mit einer Hand
radsäule. Damit ist M2 =F2 a2 =2F1 ·R
= M1 , d.h. beide Drehmomente sind nach dem Äquivalenzgesetz (5.8) gleich, obwohl deren
Kräftepaare unterschiedlich sind. Da sich das Steuerrad nur um die Mittelachse drehen kann,
sind die kinematischen Wirkungen infolge der gleichen Drehmomente gleich.
In Abb. 5.9 wirken zwei Kräf-
tepaare mit gleichen Drehmomenten a) b)
Verdrehung um B
F a an den Eckpunkten A und B
F
eines Buches, das ohne Bewegungs- B
einschränkung auf einer glatten Ebene F
a a
liegt. Im Fall a erfolgt eine Ver- F
drehung um den Punkt A und im A F
Fall b um den Punkt B. Damit sind Verdrehung um A
die kinematischen Wirkungen infolge
Abb. 5.9. Äquivalente Drehmomente an einem Buch
gleicher Drehmomente, im Gegensatz auf einer glatten Ebene mit unterschiedlichen
zum vorherigen Beispiel, hier unter- kinematischen Wirkungen
schiedlich.
5.3 Das Kräftepaar und dessen Moment 101
Das Verschiebungsgesetz (5.6) und das Reduktionsgesetz (5.9) werden in Abb. 5.10 für zwei
Kräftepaare mit den Drehmomenten M1 = F1 a1 und M2 = F2 a2 veranschaulicht. Das
resultierende Drehmoment ist MR = M1 + M2 . Es kann wieder durch ein Kräftepaar (FR ,
aR , −FR ) ersetzt werden, wobei die Kraft FR und der Abstand aR die Bedingung FR aR =
MR erfüllen müssen, ansonsten sind beide Größen beliebig. Gemäß Bemerkung 5.3.2 ist der
Ort der Darstellung der Kräftepaare und der Momente an dem Starrkörper gleichgültig.
a1 M1
F1 M1 aR
MR =M1 +M2 FR
F1 = = = =
a2 M2 M2
FR
F2 F2
Verschiebungsgesetz Reduktionsgesetz
Abb. 5.10. Das Verschiebungs- und das Reduktionsgesetz für zwei Kräftepaare
Reduzieren Sie das Drehmoment und die zwei Kräftepaare in Abb. 5.11 auf ein Kräftepaar.
Bekannt: _
M
F1 = 60 N, a1 = 0, 4 m
FR
F2 = 45 N, a2 = 0, 8 m, M̄ = 16 Nm. F1
= FR
Lösung: Unter Beachtung eines positiven F1 a1
F2 aR
Drehsinns im Gegenuhrzeigersinn ( )
folgt aus dem Reduktionsgesetz (5.9): F2
a2
M1 = − 60 · 0, 4 = −24 Nm
M2 = + 45 · 0, 8 = 36 Nm
M3 = −M̄ = −16 Nm
Abb. 5.11. Reduktion von zwei Kräftepaaren
MR = −4 Nm und einem Drehmoment
Der Drehsinn des resultierenden Drehmomentes MR ist wegen des Minuszeichens tatsäch-
lich im Uhrzeigersinn, d.h. . Von den unendlich vielen Möglichkeiten wird das Moment
in Abb. 5.11 als Kräftepaar (FR = 2 N, aR = 0, 2 m) gewählt. Der Ort der Darstellung ist
wegen des Verschiebungsgesetzes (5.6) beliebig.
102 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
Bemerkungen 5.4
1. Die Aussage der Gleichgewichtsbedingung (5.10) ist wie folgt: m Kräftepaare mit den
Drehmomenten Mi , i = 1, ..., m sind dann und nur dann im Gleichgewicht, wenn das
resultierende Drehmoment MR verschwindet.
2. Die Gleichgewichtsbedingung (5.10) ist notwendig und hinreichend für Gleichgewicht
von Kräftepaaren. Eine Herleitung erfolgt in Anhang E.2.
3. Die Gleichgewichtsbedingung (5.10) bezieht sich nur auf Kräftepaare. Allgemeine nicht-
zentrale Kraftsysteme werden im folgenden Abschnitt 5.7.2 behandelt.
4. Wir wiederholen nochmals, dass bei der Berechnung von MR der Drehsinn der einzelnen
Drehmomente Mi zu beachten ist.
Welche Lagerkräfte C und B müssen bei dem Rahmen in Abb. 5.12 auftreten, damit unter
der Belastung der Kräftepaare in Beispiel 5.2 Gleichgewicht vorliegt?
Bekannt : F1 = 60 N, a1 = 0, 4 m _
F2 = 45 N, a2 = 0, 8 m M
M̄ = 16 Nm, l = 1 m.
F1
Vorüberlegungen: Zusätzlich zu dem resultierenden Dreh-
moment MR = −4 Nm aus Beispiel 5.2 wird ein Kräf- a1
tepaar infolge der Lagerkräfte B und C auf den Rahmen F2
aufgebracht. Dabei werden die kinematischen Bindungen C
des Systems sowie die Gleichgewichtsbedingung für Mo- a2
mente (5.10) beachtet. B
Lösung: Für das Kräftepaar der Lagerkräfte C und B gilt:
1. Da das Lager B horizontal verschieblich ist, muss die C 2l B
Kraft B vertikal gerichtet sein. In Abb. 5.12 nehmen
wir vorläufig den Richtungssinn nach oben an.
2. Die Lagerkräfte bilden ein Kräftepaar, wenn sie entge- Abb. 5.12. Momentengleich-
gewicht am Rahmen
gengesetzt gleich groß sind. Damit ist die Kraft C ver-
tikal nach unten gerichtet und hat den Wert C = B.
3. Mit dem Abstand 2l der Lagerkräfte hat das Drehmoment der Lagerkräfte den Wert B ·2l.
4. Für Momentengleichgewicht folgt aus dem Gesetz (5.10):
MR −4
MR + B · 2l = 0 =⇒ B = C = − =− = 2 N.
2l 2
Da wir positive Werte für B und C erhalten, war die Annahme für den Richtungssinn von
B im Schritt 1 richtig. Anschaulich ist das Drehmoment |MR | = 4 Nm, , infolge der
Belastung im Gleichgewicht mit dem Drehmoment der Lagerkräfte B · 2l = 4 Nm, .
5.5 Das polare Moment einer Kraft 103
a a
= = a
F A F
A A
w F MA
F
Abb. 5.13. Parallelverschiebung einer Einzelkraft in der Ebene
Lösung: Nach Axiom (3.1) wird eine Gleichgewichtsgruppe (F, −F) in den Punkt A gelegt,
ohne die Kräftewirkung zu ändern. Es entsteht ein Kräftepaar (F, a, −F) mit dem Drehmo-
ment M A = aF nach Definition (5.5). Damit gilt
Das Parallelverschiebungsgesetz für eine Kraft
Verschiebt man eine Kraft F in eine parallele Wirkungslinie im Abstand a, (5.11)
dann ist für eine äquivalente Kräftewirkung zusätzlich ein Kräftepaar mit dem
Drehmoment M A = F a erforderlich.
Bemerkung 5.5
1. Der hochgestellte Index A in dem Symbol M A kennzeichnet einen Bezugspunkt A auf
der neuen Wirkungslinie von F .
2. Das Drehmoment M A = aF ist nach dem Verschiebungsgesetz (5.6) in der Ebene frei.
Es ist jedoch zweckmäßig, den Drehpfeil in der Nähe des Punktes A einzutragen.
3. Alle drei Kraftsysteme in Abb. 5.13 sind nach Definition (3.20) statisch äquivalent.
4. Der Drehsinn von M A und damit das Vorzeichen des Skalars F a ist durch den Drehsinn
der Kraft F um den Punkt A festgelegt.
Bemerkungen 5.6
1. Für das Moment M (A) wird oft die Bezeichnung „Das Moment der Kraft F bezüglich
des Punktes A” (oder kurz: „Das polare Moment”) verwendet.
2. Das polare Moment M (A) ist das Produkt aus dem Kraftbetrag F und dem senkrechten
Abstand a der Kraftwirkungslinie von dem Bezugspunkt A. Die Notation ± in Gl.(5.12.1)
definiert ein positives Vorzeichen für den Skalar von M (A) , wenn die Kraft um den
Bezugspunkt im Gegenuhrzeigersinn wie in Definition (5.12.2) dreht; andernfalls ist der
Skalar negativ. Somit fasst allein der Skalar in Gl.(5.12.1) die zwei Bestimmungsstücke
des polaren Momentes - Betrag |M (A) | und Drehsinn - zusammen.
3. Der hochgestellte Index (A) in dem Symbol M (A) kennzeichnet den Bezugspunkt.
4. Den Abstand a in Abb. 5.14 nennt man Hebelarm der Kraft F .
5. Das polare Moment ist Null, wenn der Bezugspunkt auf der Wirkungslinie der Kraft liegt.
Es verändert sich nicht, wenn die Kraft entlang ihrer Wirkungslinie verschoben wird.
6. In Abweichung von Definition (5.12) werden wir im Folgenden ein polares Moment gele-
gentlich mit dem Betrag (z.B. 5 Nm) und einem Drehpfeil ( oder ) kennzeichnen.
7. Das polare Moment M (A) einer Kraft hat keine kinematische Drehwirkung wie das Mo-
ment eines Kräftepaares M in (5.5), vgl. Regel (5.4.4). M (A) ist jedoch eine zweck-
mäßige Rechengröße zur Auswertung von M A in Gl.(5.11), da der Skalar F a gleich ist.
Wir bestimmen die polaren Momente der Kraft F bezüglich der Punkte A und B in Abb.5.14:
a a b b
Aufgabe 5.10 (SG = 1, BZ = 5 min)
W G1 G2
Ein Hochhaus wird wie dargestellt mit
einem Betonkern erbaut. Bestimmen Sie die W G1 G2 h
polaren Momente bezüglich der Punkte A h
W G1 G2
und B infolge der Gewichtskräfte G1 und
G2 sowie der Windkräfte W . W G1 G2 h
Bekannt: W = 20 kN, G1 = 100 kN, G2 = h
W G1 G2
120 kN, a = 5 m, b = 6 m, h = 3 m.
W G1 B G2 h
A h
Bekannt : F1 = 20 N, a1 = 0, 2 m
F2 = 25 N, a2 = 0, 9 m
|M̄ | = 26 Nm, l = 12 m.
5.7 Die drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik 109
Wie bei zentralen Kraftsystemen werden auch bei nichtzentralen Kraftsystemen drei Grund-
aufgaben unterschieden: 1. Reduktion, 2. Bedingungen für Gleichgewicht, 3. Zerlegung
einer Kraft. Da zeichnerische Lösungen für praktische Problemstellungen heute kaum noch
angewendet werden, beschränken wir uns im Folgenden auf rechnerische Lösungen.
Bei der Reduktion eines ebenen nichtzentralen Kraftsystems bestehen zwei Möglichkeiten:
1. Reduktion auf eine Dyname (Einzelkraft und Einzelmoment)
2. Reduktion auf eine Totalresultierende (Einzelkraft).
a) b) c)
y F1 wi y y
Fi
αi
yi = = R
F1 Fi
Fn A αR
A A Fn
yA yA M1A yA
M Ai M RA=M R(A)
MnA
xA xi x xA x xA x
Abb. 5.19. Erste Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems auf eine Dyname
Wir verwenden die Ergebnisse (4.20) für die Kraftresultierende in kartesischen Koordinaten
und berechnen die Momente der Kräftepaare MiA gemäß Bemerkung 5.6.7 als polare Mo-
(A)
mente Mi für jede Kraft nach Gl.(5.17). Zusammenfassend erhält man die
110 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
Bemerkungen 5.7
1. Die Dyname in Abb. 5.19.c hat die gleiche Kraftwirkung wie die Kraftsysteme in
Abb. 5.19.a und b. Damit sind alle Kraftsysteme nach Definition (3.20) statisch äquiv-
alent.
2. Zur eindeutigen Bestimmung des Richtungswinkels αR kann wie in den Bemerkungen
4.2.3 oder 4.3.2 beschrieben vorgegangen werden.
3. Die Anwendung von Gl.(5.20.6) liefert ein resultierendes Drehmoment MRA mit Drehsinn
( ) im Gegenuhrzeigersinn.
4. Häufig werden, im Gegensatz zu Abb. 5.19.a, die Richtungen der Kräfte Fi nicht mit dem
Winkel αi festgelegt. Es ist dann zweckmäßig, mit betragsmäßig positiven Koeffizienten
Fix und Fiy zu rechnen und die Vorzeichen in den Gleichungen (5.20.1) und (5.20.2) aus
der Anschauung festzulegen, vgl. hierzu auch die Bemerkung in Beispiel 4.10. In gleicher
(A)
Weise können die polaren Momente Mi der Kräfte Fix und Fiy ermittelt werden, wobei
das Vorzeichen für den Drehsinn jeweils aus der Anschauung festgelegt wird.
a) y b) y c) y
R R aR aR R
yi = R =
A B A B
A yA
yA yA
A R
MRA MR
Zentrallinie
wZ wZ
xA xi x xA x xA x
Abb. 5.20. Zweite Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems auf eine Totalresultierende
Wir übertragen dieses Ergebnis auf kartesische Koordinaten: Mit Anwendung von Gl.(5.16)
auf den Hebelarm aR in Gl.(5.21.2) erhält man mit den Gleichungen (5.20.3)
Ry Rx MA
−y
aR = x sin αR − y cos αR = x = R. (5.22)
R R R
Wir lösen diese Beziehung nach der Koordinate y auf und erhalten zusammenfassend die
Bemerkungen 5.8
1. Die durch die Geradengleichung (5.23.3) definierte Linie bezeichnen wir als Zentrallinie
wZ und die auf ihr liegende Resultierende R als Totalresultierende. Sie ist allen Kraft-
systemen in Abb. 5.19 und Abb. 5.20 nach Definition (3.20) statisch äquivalent.
2. Zur Berechnung der Zentrallinie nach Gl.(5.23.3) muss das Vorzeichen für MRA nach
Definition (5.5) berücksichtigt werden.
Mit den Gleichungen (5.21) und (5.23) zur ersten und zweiten Rekuktion unterscheiden wir
1.
= 0
= 0 Dyname nach (5.20): Die Reduktion (5.21) auf eine Total-
resultierende ist eindeutig möglich.
2.
= 0 =0 Totalresultierende: Aus Gl. (5.21.2) folgt aR = 0, d.h. die
Wirkungslinie von R verläuft durch A. (5.24)
3. =0
= 0 Resultierendes Kräftepaar: Aus R = 0 folgt aR → ∞
(bzw. aus Rx = 0 folgt y → ∞). Damit ist MRA = MR
vom Bezugspunkt A unabhängig. (Der obere Index A kann
entfallen.) Nach Regel (5.4.1) ist keine weitere Reduktion
möglich.
4. =0 =0 Gleichgewicht: keine weitere Reduktion möglich.
112 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
Bemerkungen:
1. Der Leser überzeuge sich, dass das Ergebnis MRB = 21 Nm auch für beliebige andere
Bezugspunkte B erhalten wird. (Wie lautet die Begründung dazu?)
2. Aus dem Ergebnis R = 0 für den resultierenden Kraftvektor allein kann nicht Gleich-
gewicht gefolgert werden. Das wäre nur bei einem zentralen Kraftsystem der Fall, was
hier nicht vorliegt. Nach Fall 4 in (5.24) muss bei einem nichtzentralen Kraftsystem für
Gleichgewicht zusätzlich das resultierende Moment MR verschwinden.
5.7 Die drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik 113
= −60, 47 Nm. y R
αR =34,87 o
2. Für die Zentrallinie wZ der Totalresultierenden
gilt nach Gl.(5.23.3) C x
Dyname
Ry MC 23, 51 −60, 47 MRC
y= x− R = x− B
Rx Rx 33, 74 33, 74
= 0, 70 x + 1, 79 m. Abb. 5.22.b. Dyname und Totalresultierende
In Abb. 5.22.b sind die Dyname bzgl. C (Resultierende R und resultierendes Drehmoment
MRC ) und die Totalresultierende R auf der Zentrallinie wZ dargestellt.
114 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
Bemerkungen 5.9
1. Die Aussage der Gleichgewichtsbedingungen (5.25) ist: Ein starrer Körper ist unter der
Wirkung eines allgemeinen ebenen Kraftsystems dann und nur dann im Gleichgewicht,
wenn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind: 1. Die Summe aller Kräfte in x-
Richtung ist gleich Null; 2. Die Summe aller Kräfte in y-Richtung ist gleich Null; 3. Die
Summe der polaren Momente aller Kräfte bezüglich eines Bezugspunktes ist gleich Null.
2. Die drei Bedingungen (5.25) sind notwendig und hinreichend für Gleichgewicht eines
Starrkörpers in der Ebene. In Abschnitt 5.7.3 zeigen wir, unter welchen Voraussetzungen
sie durch drei andere - statisch äquivalente - Bedingungen ersetzt werden können.
3. Die Koordinatenrichtungen x, y müssen nicht unbedingt horizontal und vertikal gerichtet
sein. Gelegentlich sind auch geneigte Koordinatenrichtungen x, y, die orthogonal zueinan-
der sind, zweckmäßig.
4. Wie in Bemerkung 4.4.5 bereits erwähnt, gelten die Gleichungen (5.25) auch für nega-
tive Koordinatenrichtungen. Bei Anwendung der Gleichgewichtsbedingungen geben die
Symbole (→ oder ←) bzw. (↑ oder ↓) die gewählten Richtungen für positive Kräfte an,
und bei Anwendung einer Momentengleichgewichtsbedingung geben die Symbole (A
oder A) sowohl den gewählten Drehsinn als auch den gewählten Bezugspunkt an.
(A)
5. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass das polare Moment MR in Gl.(5.25.3) gemäß
Bemerkung 5.6.7 als zweckmäßige Rechengröße zur Berechnung des Drehmomentes
MRA verwendet wird, welches nach dem Gleichgewichtsgesetz für Momente (5.10) ver-
schwinden muss.
5.7 Die drei Grundaufgaben der Starrkörperstatik 115
l−a 1
AV = F − BV + G = F +G .
l 2
116 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
Für Starrkörper mit drei einteiligen Lagern gelingt die direkte Berechnung einer unbekan-
nten Kraftgröße immer (sofern kein Ausnahmefall vorliegt, siehe Abschnitt 5.8). Allerdings
kann die Verwendung von mehr als einer Momentengleichgewichtsbedingung dazu führen,
dass das Gleichungssystem keine Lösung liefert. Wir untersuchen daher im Folgenden, unter
welchen Voraussetzungen die drei Bedingungen (5.25) durch drei andere – statisch äquiva-
lente – Gleichgewichtsbedingungen ersetzt werden können.
In Abb. 5.25 greifen Kräfte F1 , ..., Fi , y
... ,Fn eines nichtzentralen Kraftsystems F2
an. Außer dem Punkt A sind die Punkte F1 Fiy Fi
B und C mögliche Bezugspunkte zum yi
Fix
yi -y B
1. Der Fall 1 in Abb. 5.27.1 wiederholt die Darstellung aus Abb. 5.26. Dabei kennzeichnet
„Kein GP (w1 , w2 , w3 )”, dass es keinen gemeinsamen Schnittpunkt der drei Wirkungsli-
nien w1 , w2 , w3 gibt. Wir bemerken nochmals ausdrücklich, dass die Gleichungen (5.32)
nicht für den Sonderfall mit zwei parallelen Wirkungslinien w1 und w2 gelten, da bei der
Aufstellung der Gleichungen (5.30) ein Schnittpunkt beider Linien vorausgesetzt wurde.
2. Für den Sonderfall mit zwei parallelen Wirkungslinien w1 w2 verwenden wir in
Abb. 5.27.2 zweckmäßig in einem neuen Ansatz ein Koordinatensystem, bei dem die
x-Achse parallel zu den Wirkungslinien w1 und w2 ist. Mit einem Bezugspunkt A für die
Momentengleichung im Angriffspunkt der Kraft F3 lauten die Äquivalenzbedingungen
: F3 sin α3 = R sin αR
: F1 + F2 + F3 cos α3 = R cos αR (5.33)
A : F1 y1 + F2 y2 = R cos αR yR .
Gl.(5.33.1) liefert sofort die Kraft F3 . Für alle drei Kräfte erhält man nach weiterer Au-
flösung (vgl. Aufgabe 5.22)
1. Kein GP (w1 , w2 , w3 ) 2. w1 w2
= w3 3. GP (w1 , w2 , w3 ) = A
R R R
y
Ry
wR αR F x y Ry
w1 αR Rx
2 w1 αR
yR w3 Ry yR
Rx xR Rx
F1 α3 F1 wR
F3 w2
α1 F2 w2 F3 Fx w1 α1 F2
α2 wR F1 α2
w3 Fy w3
F3y F3 F3y F3
y3 y3
α 3 F3x w2 F3x α3
A xR y y3 y
x3 x xR x3 x
R y2
A GP =A
4. w1 w2 w3 5. w1
= w2 6. Kein GP (w1 , w2 , w3 , w4 )
R R wR
αR y R wR y
F4
w3 Rx F 2 x w1
αR αR
Ry w4
F3 xR F1
F1
w1 α1 α1 F2 w2
wR α2
F3 w w3
w2 F1 3
F3y F3y F3
y3 y3 w
α3 F 1 α3 F3x
3x
y y x3 x
3 yR y x3 x
2
Abb. 5.27. Zerlegung einer Kraft R für sechs Fälle (GP kennzeichnet einen gemeinsamen Schnittpunkt)
120 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
sin αR
1. F3 = R
sin α3
R sin αR cos α3
2. F1 = y1 cos αR − y1 − yR cos αR + xR sin αR (5.34)
y1 − y2 sin α3
R sin αR cos α3
3. F2 = y2 cos αR − y2 − yR cos αR + xR sin αR .
y2 − y1 sin α3
3. Verlaufen wie in Abb. 5.27.3 alle drei Wirkungslinien durch einen Schnittpunkt A, dann
gilt für die Koordinaten (x3 , y3 ) des Angriffspunktes der Kraft F3 in Gl.(5.34.1)
y3 sin α3
1. = tan α3 = =⇒ 2. y3 cos α3 − x3 sin α3 = 0. (5.35)
x3 cos α3
Damit wird der Nennerterm in Gl.(5.31) gleich Null, so dass keine Lösungen für F3 in
Gl.(5.31) und somit auch nicht für F1 und F2 in Gl.(5.32) existieren.
4. Den Fall 4 mit drei parallelen Wirkungslinien w1 w2 w3 in Abb. 5.27.4 können wir mit
α3 = 0 als Sonderfall der Gleichungen (5.33) behandeln. Wegen sin α3 = 0 wird der
Nennerterm allerdings zu Null, so dass eine Lösung nach den Gleichungen (5.34) nicht
existiert.
5. In Abb. 5.27.5 betrachten wir zusätzlich den Fall mit zwei Wirkungslinien w1
= w2
und einer Wirkungslinie wR , die nicht durch deren Schnittpunkt verläuft. Es ist nicht
möglich, die Resultierende R auf der Wirkungslinie wR durch zwei Kräfte F1 und F2
auf deren Wirkungslinien w1 und w1 gleichwertig zu ersetzen. Dieses würde dem Axiom
vom Kräfteparallelogramm (3.7) widersprechen. Es sei auch bemerkt, dass dieser Fall
dem Sonderfall mit zwei gleichen Wirkungslinien w1 = w2 in Abb. 5.27.4 entspricht,
wofür wegen y1 = y2 keine Lösung der Gleichungen (5.34) existiert.
6. Für den Fall mit vier Wirkungslinien w1
= w2
= w3
= w4 in Abb. 5.27.6 müssen die
drei Gleichungen (5.30 jeweils um einen vierten Term erweitert werden. Ohne hier auf
Einzelheiten einzugehen, kann gezeigt werden, dass für diese drei Gleichungen mit vier
Unbekannten F1 , F2 , F3 , F4 zwar eine Lösung existiert, jedoch ist diese nicht eindeutig.
Zur Klärung, welcher der Rahmen in Abb. 5.28 statisch bestimmt gelagert ist, verwenden
wir die Ergebnisse zur dritten Grundaufgabe im vorherigen Abschnitt 5.7.4. Dazu berück-
122 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
sichtigen wir, dass die beiden Kraftsysteme R und, sofern existent, F1 , F2 , ... für die ver-
schiedenen Fälle in Abb. 5.27 jeweils statisch äquivalent sind. Kehren wir die Richtungen
der Kräfte F1 , F2 , ... um, so werden diese zu Reaktionskräften S1 , S2 , ... und sind nach dem
Gleichgewichtsgesetz für zwei Kraftsysteme (3.21) mit der Kraft R im Gleichgewicht. Mit
der Bezeichnung GP (w1 , w2 , ...) für den gemeinsamen Schnittpunkt der Wirkungslinien w1 ,
w2 , ... erhält man zusammenfassend folgende
1. 3 Kein GP (w1 , w2 , w3 )
= 0 existiert eindeutig
2. 3 w1 w2
= w3
= 0 existiert eindeutig (5.41)
3. 3 GP (w1 , w2 , w3 ) =0 existiert nicht
4. 3 w1 w2 w3 =0 existiert nicht
5. 2 w1
= w2 − existiert nicht
6. 4 Kein GP (w1 , w2 , w3 , w4 ) − existiert, jedoch nicht eindeutig.
1. Kein GP (w1 , w2 , w3 ) 2. w1 w2
= w3 3. GP (w1 , w2 , w3 ) = A
y R w R αR R
x y
Ry αR
R
Rx Ry αR
yR yR
Rx w3 Ry xR R
w1
w2 w1 wR x
F3 w2
α1 w1 α1
α2 wR α2
w3 S2
S2 w2 S1 S2 w3
y3 S1 y3
α3 S3 α3
A xR yy S3
x3 x 3 yR y xR x3 x
S3 2 A GP=A
S1
4. w1 w2 w3 5. w1
= w2 6. Kein GP (w1 , w2 , w3 , w4 )
R
αR y R wR y R wR
w3 x w4
Rx αR αR
Ry xR w1 S4 w1
α1 α1 w2
w1
wR S α2
2
w2 w3
S2
S3 y2 y3
w2 S1 α2 S1 α3
yy
3 yR S2 x2 x S3 x3 x
y2
S1
Abb. 5.28. Sechs Fälle zur Untersuchung von Gleichgewicht eines Starrkörpers (GP kennzeichnet einen gemein-
samen Schnittpunkt)
5.8 Statische Bestimmtheit eines Starrkörpers in der Ebene 123
Die Fälle (5.41.3) und (5.41.4) zeigen, dass allein das Anbringen von r = 3 kinematischen
Bindungen das Gleichgewicht des Starrkörpers nicht sichert. Zusätzlich muss die Anord-
nung der drei Bindungen zu einer regulären Systemmatrix führen. Der Fall (5.41.5) sowie
Abb. 5.28.5 zeigen, dass zwei Bindungen mit r = 2 zur Aufnahme einer beliebigen Kraft
R nicht ausreichend sind. Die Aussage von Fall (5.41.6) sowie Abb. 5.28.6 ist, dass eine
beliebige Kraft mit r = 4 Bindungen, deren Achsen sich nicht in einem Punkt schneiden,
aufgenommen werden kann, die Berechnung der Kräfte S1 , S2 , S3 , S4 jedoch nicht eindeutig
möglich ist. Einzig die Fälle (5.41.1) und (5.41.2) erfüllen die
Bemerkung 5.10
1. Es sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die statische Bestimmtheit nur
von der Lagerung und nicht von der Belastung des Systems abhängt.
2. Bedingung (5.42.2) für die Systemmatrix kann erst überprüft werden, wenn Bedin-
gung (5.42.1) für die kinematischen Bindungen erfüllt ist. Daher ist (5.42.1) notwendig,
während (5.42.2) hinreichend für statische Bestimmtheit ist, vgl. Anhang B.
3. Den Fall det A = 0 bezeichnet man als Ausnahmefall der Statik (kurz: Ausnahmefall).
4. Die statische Bestimmtheit mehrteiliger Systeme wird im nachfolgenden Abschnitt 9.4
behandelt.
C sinα
a
A: F − C cos α a + C sin α a = 0
2 B C
F C cos α α
=⇒ C =
2(cos α − sin α)
→: A − C sin α = 0 Abb. 5.29.b. Freikörperbild
F
=⇒ A = C sin α =
2(cot α − 1)
1
↑: B + C cos α − F = 0 =⇒ B = F − C cos α = F 1− .
2(1 − tan α)
2. Mit den Zahlwerten a = 2 m, F = 3 N, α = 0o erhält man die Stabkräfte:
3 3
A = 0, B = N, C = N.
2 2
3. Die Lösungen für die Lagerreaktionen aus Schritt 1 F
sind nicht auswertbar, wenn jeweils die Nennerterme ver- a a
2 2
schwinden, d.h. wenn A
Die Determinante verschwindet für sin α = cos α, so dass, wie oben bereits festgestellt, für
α = 45o Lösungen für die Lagerkräfte nicht existieren.
5. Die numerische Lösung des Gleichungssystems erfolgt mit dem Computeralgebra-System
MATLAB. Dazu betrachten wir zunächst den Fall α = 0. Mit den Konstanten ca = cos(α)
und sa = sin(α) werden die Matrizen A und b initialisiert.
a=2; F=3; alpha = 0;
alpha = alpha*pi/180, ca = cos(alpha), sa = sin(alpha)
Amat = [ 0 0 a*(sa-ca) ;
10 -sa ;
01 ca ];
bmat = [-F*a/2; 0 ; F;];
Mit dem Befehl detA = det(Amat) berechnen wir die Determinante und erhalten
detA = -2.0000
Damit ist die Matrix regulär, und wir können mit dem Befehl
xmat = inv(Amat)*bmat
die Ergebnismatrix berechnen:
xmat = 0
1.5000
1.5000
Damit werden für α = 0 die Ergebnisse aus dem Aufgabenteil 2 bestätigt.
6. Für den Fall α = 450 wird die Matrix A neu initialisiert:
a=2; F=3; alpha = 45;
alpha = alpha*pi/180, ca = cos(alpha), sa = sin(alpha)
Amat = [ 0 0 a*(sa-ca) ;
10 -sa ;
01 ca ];
bmat = [-F*a/2; 0 ; F;];
Mit dem Befehl detA = det(Amat) berechnen wir wieder die Determinante und erhalten
detA = -2.2204e-016
Aus den Lösungen in Aufgabe 4 hätten wir den Wert 0 erwartet. Im Gegensatz zum Beispiel
4.13 hat MATLAB diesen Wert diesmal nicht exakt erkannt. Dieses ist eine Folge von nu-
merischen Rundungsfehlern. Da der Wert detA = −2.2204e − 016 eine deutlich andere
Größenordnung als die betragsmäßig größten Elemente der Matrix A hat, ist die mathema-
tische Interpretation, dass die Matrix singulär ist. Die mechanische Interpretation besagt, dass
der Ausnahmefall vorliegt. Mit dem Befehl
xmat = inv(Amat)*bmat
erhalten wir weiter
Warning: Matrix is close to singular or badly scaled.
Results may be inaccurate. RCOND = 3.061617e-017.
xmat = 1.0e+016 *
0.9554
-0.9554
1.3511
Man erhält also unrealistisch große Werte für die Lagerreaktionen, was eine Folge des Aus-
nahmefalls ist.
126 5 Nichtzentrale Kraftsysteme in der Ebene
a) b) F2
F1 F3 F1 F3
A A
45 o 45o 45 o
F2
a a
b b
c
Die Köhlbrandbrücke ist auf Grund ihrer markanten Konstruktion ein Wahrzeichen der Stadt Hamburg. Sie
verbindet seit dem 23. September 1974 auf einer Länge von 3,94 km die westlichen und die östlichen Hafen-
teile über den 300 Meter breiten Wasserarm „Köhlbrand". Das 520 Meter lange Kernstück der Stahlbrücke ist
an zwei 135 Meter hohen Pylonen mit 88 Stahlseilen aufgehängt und erreicht dabei eine Höhe von 55 Metern
über dem Wasser. Die westliche Rampenbrücke in Waltershof ist im Grundriss S-förmig mit Radien bis zu 175
m gekrümmt, so dass bei der Konstruktion auch die räumliche Wirkung von Kräften zu berücksichtigen war. Die
Köhlbrandbrücke stellt damit nicht nur optisch, sondern auch technisch eine Meisterleistung der Brückenkon-
strukteure hinsichtlich räumlicher Tragwirkungen dar.
6
Kraftsysteme im Raum
Eine Gruppe von Kräften, die nicht alle in derselben Wirkungsebene liegen, bildet ein räum-
liches Kraftsystem. Greifen alle Kräfte an demselben Punkt an, liegt ein zentrales räumliches
Kraftsystem ansonsten ein nichtzentrales räumliches Kraftsystem vor. Wie bei den ebenen
Kraftsystemen in den Kapiteln 4 und 5 behandeln wir in beiden Fällen drei Grundaufgaben:
1. Reduktion, 2. Bedingungen für Gleichgewicht und 3. Zerlegung einer Kraft. Da zeichne-
rische Lösungen heute kaum noch Bedeutung haben, beschränken wir uns auf rechnerische
Lösungen und gehen dabei auch auf numerische Methoden ein.
Zur Festlegung der Richtung des Kraftvektors F im Raum sind im Gegensatz zum ebenen
Fall drei Richtungswinkel notwendig. In Abb.6.1 sind das die Winkel αi , βi , γi , die der
Vektor Fi mit den Koordinatenachsen einschließt. Der Betrag von Fi ist nach Gl.(C.13) in
Anhang C die Länge der Diagonalen des Quaders in Abb. 6.1. Aus Gl.(6.1) und Gl.(6.2)
sowie Anwendung der Kosinusfunktionen erhält man zusammenfassend für den
Bemerkungen 6.1
1. Die Basisdarstellung eines Kraftvektors (6.3.2) wird auch als Spaltenmatrix
⎛ ⎞
Fix T
Fi = Fix ex + Fiy ey + Fiz ez = ⎝ Fiy ⎠ = Fix , Fiy , Fiz (6.4)
Fiz
geschrieben. Diese Darstellung für Vektoren mit runden Klammern ist mathematisch von
T
der Spaltenmatrix F = Fix , Fiy , Fiz mit rechteckigen Klammern zu unterscheiden,
die nur eine Anordnung von Skalaren kennzeichnet, vgl. die Erläuterungen in Anhang D.
2. Mit der Resultierenden Fi und den Richtungswinkeln αi , βi , γi sind die Koeffizienten Fix ,
Fiy und Fiz mit Gl.(6.3.3) eindeutig bestimmbar. Dabei ist Fi stets positiv einzusetzen.
3. Umgekehrt können durch Angabe der drei Koeffizienten Fix , Fiy und Fiz die Rich-
tungswinkel αi , βi , γi durch Umstellung von Gl.(6.3.3) berechnet werden:
Fix Fiy Fiz
cos αi = , cos βi = , cos γi = . (6.5)
Fi Fi Fi
Hierbei ist Fi stets positiv, und die Koeffizienten Fix , Fiy und Fiz sind mit ihren Vor-
zeichen einzusetzen. Ist z.B. cos αi positiv, schließt Fix mit der positiven x-Achse einen
spitzen Winkel ein; ist cos αi dagegen negativ, dann liegt ein stumpfer Winkel vor. Wei-
tere Möglichkeiten treten nicht auf.
4. Durch Quadrieren und Addieren der drei Gleichungen (6.5) folgt unter Berücksichtigung
von Gl.(6.3.4)
cos2 αi + cos2 βi + cos2 γi = 1. (6.6)
Damit sind die drei Richtungskosinus und folglich auch die drei Richtungswinkel nicht
unabhängig voneinander.
a) LP b) KP
F2 F3 w3
R
M w1 E . F3
F2
z y
x
w1
F1
z y
R
A
. F1
x
Abb. 6.2. Reduktion eines räumlichen zentralen Kraftsystems: a) Lageplan (LP), b) Kräfteplan (KP)
die aufeinanderfolgende Anwendung des Axioms vom Kräfteparallelogramm (3.7) und somit
durch Addition aller Vektoren in dem Kräfteplan in Abb. 6.2.b erhalten. Dabei ist auch hier
die Reihenfolge beliebig. Die Verbindungsstrecke vom Anfangspunkt A des zuerst gezeich-
neten Vektors zum Endpunkt E des zuletzt gezeichneten Vektors in dem so entstandenen
Kräftepolygon ist die Resultierende R. Wie beim ebenen Kraftsystem verläuft sie im Lage-
plan durch den gemeinsamen Schnittpunkt M . Für den Fall mit n Kräften erhalten wir die
Die Regeln (4.5) des zentralen ebenen Kraftsystems gelten auch für das zentrale räumliche
Kraftsystem. Da die zeichnerische Lösung für räumliche Kraftsysteme nicht sehr anschaulich
ist, wird sie im Folgenden nicht weiter verfolgt.
Mit der Basisdarstellung (6.3.2) für jeden Kraftvektor Fi in Gl.(6.7) folgt entsprechend
der Herleitung für das ebene zentrale Kraftsystem in Gl.(4.19)
n
n
n
R= Fix ex + Fiy ey + Fiz ez = Rx ex + Ry ey + Rz ez . (6.8)
i=1 i=1 i=1
Damit ist eine Basisdarstellung für die Resultierende analog zu Gl.(6.3.2) gefunden. Übertra-
gen wir zusätzlich die Gleichungen (6.3.3) für die Koeffizienten, Gl.(6.3.4) für den Betrag,
sowie die Gleichungen (6.5) für die Richtungen, dann gilt zusammenfassend für die
Mit den Koeffizienten für die Resultierende in (6.9) erhält man drei zu (6.10) gleichwertige
Bemerkungen 6.2
1. Die Bedingungen (6.11) besagen: Ein starrer Körper ist unter der Wirkung eines zen-
tralen räumlichen Kraftsystems im Gleichgewicht, wenn die Summe aller Kräfte in den
drei Koordinatenrichungen x, y und z jeweils gleich Null ist.
2. Damit sind drei skalare Gleichungen notwendig und hinreichend für Gleichgewicht eines
räumlichen zentralen Kraftsystems. (Nach Bemerkung 4.4.1 sind es zwei Gleichungen für
ein ebenes zentrales Kraftsystem.)
a) z F2 b) c)
y S2x S3y
P F1 z z
x S1 S3 S2z S2 S3z S3
S2 x γ y β
Lösung: Für die Richtungswinkel β und γ in Abb. 6.4 gilt mit den Abständen a, b, h
a b
tan γ = , tan β = .
h h
Abb. 6.5 zeigt ein Freikörperbild in der Nähe des Punktes P mit den Pfahlkräften S1 , S2 und
S3 und den Belastungen F1 und F2 . Bezogen auf das dargestellte Koordinatensystem erhält
man nach der Zerlegung von S2 und S3 die Kraftkoeffizienten
S2z = S2 cos γ, S2x = S2 sin γ,
S3z = S3 cos β, S3y = S3 sin β.
136 6 Kraftsysteme im Raum
Die Kraft S1 muss nicht zerlegt werden, da diese in z-Richtung wirkt. Damit lauten die
Gleichgewichtsbedingungen (6.11)
1. Fix = 0 : F1 − S2 sin γ = 0
2. Fiy = 0 : F2 − S3 sin β = 0
3. Fiz = 0 : S2 cos γ + S3 cos β − S1 = 0.
Nach Auflösung dieser drei Gleichungen erhält man die Pfahlkräfte
F1 F2 F1 F2
S2 = , S3 = , S1 = + .
sin γ sin β tan γ tan β
Wir wollen hier auf eine ausführliche Untersuchung zur statischen Bestimmtheit eines
Massenpunktes im Raum, wie in Abschnitt 4.4 für den Massenpunkt in der Ebene, verzichten.
Stattdessen werden in Erweiterung der Bedingungen (4.31) die notwendige und die hinre-
ichende Bedingungen für statische Bestimmtheit eines Massenpunktes im Raum ohne Her-
leitung zusammengefasst:
Die Bemerkungen 4.5 zum ebenen Fall gelten sinngemäß auch für den räumlichen Fall.
Untersuchen Sie das Kraftsystem an dem Eckzaun aus Beispiel 6.2 für den Winkel β=0.
Lösung: Für β = 0 gilt sin β = tan β = 0, so dass die Pfahlkräfte S1 und S3 wegen
S1 = F1 /tan γ + F2 /tan β und S3 = F2 /sin β unendlich groß werden. Die mechanische In-
terpretation ist: Da alle drei Pfähle in der xy-Ebene liegen, kann die dazu senkrecht wirkende
Kraft F2 nicht aufgenommen werden.
Aufgabe 6.3
β
(SG = 2, BZ = 25 min) 2
F a F
Bestimmen Sie für das räum- γ α α b
δ
liche Stabsystem die drei γ
α
Stabkräfte. δ
1 1 2 3
Bekannt: F = 4 kN, a = 3 m, 3
b = 2 m, c = 4 m, α = 90o , δ
= 120o , γ = 60o . c
Draufsicht Ansicht
β
2 F
b
F P 1,2 3 h
b 1
a a
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 139
z
y Fa a F M
M
x ϕ ϕ = =
-F r
r
Abb.6.7. Der Momentenvektor eines Kräftepaares
Um den Drehsinn des Momentes festzulegen, definieren wir den Vektor M in (6.15) als axia-
len Vektor, der in Abb. 6.7 mit einer Doppelpfeilspitze gekennzeichnet ist. Wie in Anhang C
erklärt, erfolgt eine positive Drehrichtung damit wie bei einer Rechtsschraube. Wir wollen
zeigen, dass die Definitionen (5.5) und (6.15) äquivalent sind:
1. Betrag von M: Mit der Länge r = |r| des Verbindungsvektors r und dem Winkel ϕ, den r
und F einschließen, erhält man den Hebelarm a=r sin ϕ des Kräftepaares (F, a −F). Der
Betrag von M ist nach Regel (C.6.1) die von r und F aufgespannte Parallelogrammfläche
|M| = |r||F| sin ϕ = F r sin ϕ = F a. (6.16)
Dieser Betrag ist gleich dem Betrag des Drehmomentes in Definition (5.5.1).
2. Drehsinn von M: Definitionsgemäß ist dieser wie bei einer Rechtsschraube und entspricht
somit dem Drehsinn in Definition (5.5.2).
3. Wirkungsebene von M: Diese ist die von r und F aufgespannte Ebene. Sie entspricht im
ebenen Fall der Zeichenebene in Definition (5.5).
Damit sind Definition (6.15) und Definition (5.5) zur Darstellung eines Kräftepaares äquiva-
lent.
In Abb. 6.8 verwenden wir einen neuen Verbindungs-
vektor r∗ zweier Punkte auf den Wirkungslinien des
Kräftepaares. Da r = u+ r∗ +v =⇒ r∗ = r−(u + v)
-F
und da u+v parallel zu F ist, folgt nach Regel (C.6.5) F
∗ ∗
r
M = r × F = (r − (u + v)) × F
= r × F − (u + v) × F = r × F = M. (6.17) u v
r *
=0
M= r x F
Damit ist der Vektor M unabhängig von den Verbin-
dungspunkten auf den Wirkungslinien des Kräftepaares. Abb.6.8. Verbindungsvektor r∗
140 6 Kraftsysteme im Raum
Wie für Momente von Kräftepaaren in der Ebene in Abschnitt 5.3 gelten folgende
Bemerkungen 6.3
1. Das Verschiebungsgesetz (6.18.1) für den Drehmomentenvektor im Raum ist eine Er-
weiterung des Verschiebungsgesetzes (5.6) für das Drehmoment in der Ebene. Der Be-
weis des Gesetzes (6.18.1) erfolgt in Anhang F.1.
2. Aus den Verschiebungsgesetzen (3.3) und (6.18.1) folgt vergleichend: Eine Kraft ist ein
liniengebundener Vektor und darf entlang ihrer Wirkungslinie verschoben werden, ein
Moment ist ein freier Vektor und darf im Raum verschoben werden. Dabei ist die Wirkung
auf den Starrkörper jeweils unverändert.
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 141
3. Das Reduktionsgesetz (6.18.2) für Momentenvektoren im Raum ist eine Erweiterung des
Reduktionsgesetzes (5.9) für Momente in der Ebene. Der Beweis des Gesetzes (6.18.2)
erfolgt in Anhang F.2.
4. Die Gleichgewichtsbedingung (6.18.3) für Momentenvektoren ist eine Erweiterung der
Gleichgewichtsbedingung (5.10) für Momente in der Ebene. Die Gültigkeit von (6.18.3)
folgt sofort aus Anwendung von (5.10) auf den resultierenden Vektor MR in (6.18.2).
z y w
a F a
x a F MA
ϕ ϕ F ϕ
ϕ P
= F
ϕ P
= ϕ P
r r r
A -F A A
r
Abb. 6.11. Parallelverschiebung einer Einzelkraft im Raum
Lösung: Nach dem Gleichgewichtsaxiom (3.1) wird eine Gleichgewichtsgruppe (F, −F)
in den Punkt A gelegt, ohne die Kräftewirkung zu ändern. Somit entsteht ein Kräftepaar
(F, a, −F), dem nach Definition (6.15) ein Drehmomentenvektor MA = r × F zugeordnet
werden kann. Damit gilt
142 6 Kraftsysteme im Raum
Bemerkungen 6.4
1. Wie in dem Parallelverschiebungsgesetz (5.11) für den ebenen Fall kennzeichnet der
hochgestellte Index in (6.19) den Bezugspunkt A auf der neuen Wirkungslinie von F.
2. Das Moment MA ist nach dem Verschiebungsgesetz (6.18.1) ein freier Vektor. Es ist
jedoch zweckmäßig, ihn in der Nähe des Bezugspunktes A einzutragen.
3. Die drei Kraftsysteme in Abb. 6.11 sind nach Definition (3.20) statisch äquivalent.
Bemerkungen 6.5
1. M(A) wird auch als „der Momentenvektor der Kraft F bezüglich des Punktes A” (oder
kurz: „Das polare Moment”) bezeichnet, vgl. Bemerkung 5.6.1 für ebene Kraftsysteme.
2. Wie für ebene Kraftsysteme hat das polare Moment M(A) einer Kraft keine kinematische
Drehwirkung wie das Moment eines Kräftepaares M in Definition (6.15), vgl. Regel
(5.4.4). M(A) ist jedoch eine zweckmäßige Rechengröße zur Auswertung von MA in
Gl.(6.19), da beide Vektoren gleich r × F sind.
Der polare Momentenvektor M(A) steht gemäß
den Eigenschaften für das Vektorprodukt in (C.6.2) z Fa F
senkrecht auf einer Ebene, die durch r und F auf-
gespannt wird. Der Betrag entspricht, wie bei dem M(A) ϕ
Momentenvektor eines Kräftepaares in Abschnitt r ϕ
6.3.1, der von r und F aufgespannten Parallelo- a u y
A
grammfläche und hat nach Gl.(6.16) den Wert x r*
|M(A) | = |r||F| sin ϕ = F r sin ϕ = F a. (6.21) Abb.6.12. Der polare Momentenvektor einer Kraft
In Abb. 6.12 verwenden wir einen neuen Verbindungsvektor r∗ mit Endpunkt auf der Wir-
kungslinie von F. Da r = u+ r∗ =⇒ r∗ = r − u und da u parallel zu F ist, folgt
(M(A) )∗ = r∗ × F = (r − u) × F = r × F − u × F = r × F = M(A) , (6.22)
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 143
wobei noch Regel (C.6.5) für das Kreuzprodukt angewendet wurde. Damit ist der Drehmo-
mentenvektor M(A) unabhängig von den Punkten auf der Kraftwirkungslinie.
Mit den Verbindungsvektoren rA und rB in
Abb.6.13 bestimmen wir die polaren Momente der
Kraft F bezüglich der Punkte A und B
F
1. M(A) = rA × F ϕB
(6.23) ϕA rB
2. M(B) = rB × F. M(A) rA
B M(B)
A
Für rA
=rB folgt M(A)
= M(B) , d.h. der polare Mo-
mentenvektor einer Kraft ist abhängig von der Lage Abb.6.13 Polare Momente einer Kraft F
des Bezugspunktes. bezüglich der Punkte A und B
Mit Hilfe von Abb. 6.14 wird das polare Moment
eines Kräftepaares (F, a, −F) bezüglich eines be-
a
liebigen Punktes A untersucht. Mit den Ortsvektoren
rB und rC der beiden Kraftangriffspunkte B und C
erhält man B rBC F
-F C
rB
M(A) = rB × (−F) + rC × F
(6.24) rC
= (rC − rB ) × F = rBC × F.
A M= rBC x F
Hierbei ist rBC = rC − rB der Verbindungsvektor Abb.6.14. Polares Moment eines
der Punkte C und B, der von A unabhängig ist. Damit Kräftepaares bezüglich eines Punktes A
ist der polare Momentenvektor eines Kräftepaares un-
abhängig vom Bezugspunkt A.
In kartesischen Koordinaten kann das polare Mo-
ment der Kraft Fi in Abb. 6.15 mit deren Koef-
fizienten Fix , Fiy , Fiz in Gl.(6.2) berechnet werden. Fi
Mit den Basisdarstellungen für Verbindungs- und Fiy
z
Kraftvektor Fiy
ri Fix
ri = xi ex + yi ey + zi ez M(A)
i ez zi
(6.25) ex
Fi = Fix ex + Fiy ey + Fiz ez A ey xi y
x yi
erhält man für die Auswertung des Kreuzproduktes
(A)
Mi = ri × Fi , wie bei der Herleitung von (C.14) Abb.6.15. Polares Moment einer Kraft
Fi bzgl. A in kartesischen Koordinaten
im Anhang gezeigt, die folgende Basisdarstellung für
den polaren Momentenvektor:
(A) (A) (A) (A)
1. Mi = Mix ex + Miy ey + Miz ez , wobei
(A) (A) (A) (6.26)
2. Mix = yi Fiz − zi Fiy , Miy = zi Fix − xi Fiz , Miz = xi Fiy − yi Fix .
erhält man für die Auswertung des Kreuzproduktes gemäß Definition (6.20):
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞
0 4 2 · (−3) − 0, 4 · 6 −8, 4
M(A) = r × F = ⎝ 2 ⎠ m × ⎝ 6 ⎠ N = ⎝ 0, 4 · 4 − 0 · (−3) ⎠ Nm = ⎝ 1, 6 ⎠ Nm.
0, 4 −3 0·6−2·4 −8
2. Wir tragen in Abb.6.18 die Kräfte F1 , F2 und F3 ein und berechnen die jeweiligen polaren
Momente nach Regel (5.18.3) für Kraftsysteme in der Ebene:
Mx(A) = −2 · 3 − 0, 4 · 6 = −8, 4 Nm, My(A) = 0, 4 · 4 = 1, 6 Nm, Mz(A) = −2 · 4 = −8 Nm.
a) z b) z c) y
l
|F3|=3 |F3 |=3 2 =2
R =0,4 F1 =4
R =0,4 F1 =4
F2 =6 x
x
A A A
A l =2 y A x A x
Mx(A) 2 M y(A) M z(A)
Abb.6.18. Polare Momente um den Ursprung A in der a) yz-Ebene, b) xz-Ebene, c) xy-Ebene
Man erhält also mit beiden Rechenwegen die gleichen Koeffizienten des Vektors M(A) .
Für einen kartesischen Basisvektor, z.B. eg = ex , ist der Skalar in Definition (6.28.1) Mg
(A) (A)
= M(A) · ex = Mx , d.h. die Projektion von M(A) auf ex ist das polare Moment Mx . Für
alle drei Koordinatenrichtungen erhält man in Ergänzung zu Regel (6.27.3) eine weitere
146 6 Kraftsysteme im Raum
Der Vorteil von Regel (6.30) gegenüber Regel (6.27.3) besteht darin, dass das polare Moment
direkt mit einer räumlichen Darstellung der Kraftkoeffizienten unter Beachtung von Regel
(6.29.2) und Regel (6.29.3) berechnet wird, ohne eine zusätzliche Skizze wie in Abb. 6.16
anfertigen zu müssen. Diese anschauliche Vorgehensweise führt in der praktischen Rechnung
meist schneller zum Ziel als die Berechnung des Kreuzproduktes.
2. Unter Beachtung von Regel (6.29.2) und Regel (6.29.3) liefern die Kräfte F3 und F2 keinen
Beitrag zum axialen Moment bzgl. der Achse AB in Abb.6.20. Die Kraft F1 hat als kürzesten
Abstand von der Achse AB den Radius R. Das Vorzeichen des axialen Momentes ist positiv,
da F1 wie bei einer Rechtsschraube bzgl. der Achse AB wirkt. Damit gilt
My(A) = R · F1 = 0, 4 · 4 = 1, 6 Nm.
Der zweite Rechenweg führt schneller als der erste Rechenweg zu dem gleichen Ergebnis.
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 147
Aufgabe 6.6
(SG = 1, BZ = 10 min )
FV z
Ein Türgriff wird mit einer Kraft F x y
belastet. Bestimmen Sie das polare
Moment bezüglich des Punktes A B A
b
1. formal durch Auswertung des FH a
Kreuzproduktes gemäß Defini-
tion (6.20)
2. anschaulich mit den Kraftkoef-
fizienten gemäß Regel (6.30).
3. Bestimmen Sie das axiale Moment bzgl. der Achse AB.
Bekannt: FH = 20 N, FV = 50 N, a = 8 cm, b = 11 cm.
FK
Aufgabe 6.7 (SG = 1, BZ = 15 min) .
Zum Heben einer Last mit einer Handwinde greift an rK α
z
.
dem dargestellten System eine Kraft FK an. . y
1. Bestimmen Sie die polaren Momente von FK A
a x
bezüglich der Punkte A und B.
2. Bestimmen Sie die axialen Momente von FK und B rT
G bzgl. der Achse AB.
C
3. Für welche Gewichtskraft G sind die axialen Mo-
mente von F und G bzgl. der Achse AB be-
tragsmäßig gleich groß?
G
Bekannt: FK = 250 N, rK = 360 mm, rT = 200
mm, a = 150 mm, α = 30o .
F1 F1 a
F1
F2
b c
F2 a F2
F3
z z F3 z
P d
y
x x y
P P
148 6 Kraftsysteme im Raum
Wie bei zentralen Kraftsystemen werden bei nichtzentralen Kraftsystemen drei Grundaufga-
ben der Starrkörperstatik unterschieden: 1. Reduktion, 2. Bedingungen für Gleichgewicht,
3. Zerlegung einer Kraft. Bei der Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems im Raum
werden zwei Fälle unterschieden:
1. Reduktion auf eine Dyname (Einzelkraft und Einzeldrehmoment)
2. Reduktion auf eine Kraftschraube (Einzelkraft und Einzeldrehmoment parallel).
Aufgabenstellung: In Abb. 6.21.a bilden die Kräfte F1 , ..., Fi , ... ,Fn ein nichtzentrales
Kraftsystem. Die Richtung jeder Kraft Fi ist wie in Abb. 6.1 durch die Richtungswinkel αi ,
βi , γi festgelegt. Der Angriffspunkt von Fi auf der Wirkungslinie wi ist wie in Abb. 6.15
durch die Koordinaten xi , yi , zi gegeben. In Abb. 6.21.a ist ri der Verbindungsvektor von
A zum Angriffspunkt der Kraft Fi . Wir suchen den resultierenden Kraftvektor R und das
resultierende Drehmoment MA R bezüglich des Punktes A, so dass sich die Kraftwirkung nicht
ändert.
Lösung: In Abb. 6.21.b werden alle Kräfte F1 , ..., Fi , ... ,Fn , wie in Abb. 6.11, parallel in den
Bezugspunkt A verschoben. Damit erhält man ein zentrales Kraftsystem, für das die Kraftre-
sultierende R in Abb. 6.21.c nach Gl.(6.7) bestimmt wird. Das resultierende Drehmoment
MA R wird nach dem Reduktionsgesetz (6.18.2) berechnet. Zusammenfassend erhält man die
a) b) c)
z y M A2 MA1
F2 MRA
x F2
r2 R
F1
r1 = =
A ri A F1 A
MAi
Fi Fi
Abb. 6.21. Erste Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems auf eine Dyname
Zur Auswertung der Dyname in kartesischen Koordinaten verwenden wir die Gleichungen
in (6.9) für die Kraftresultierende und bestimmen entsprechend den Gleichungen (6.26) das
resultierende Drehmoment als Summe der polaren Momente jeder Kraft. Damit erhält man
zusammenfassend
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 149
Bemerkungen 6.6
1. Häufig werden die Richtungen der Kräfte Fi nicht mit den Winkeln αi , βi , γi festgelegt.
In der praktischen Rechnung ist es dann zweckmäßig, mit betragsmäßig positiven Koef-
fizienten Fix , Fiy , Fiz zu rechnen und die Vorzeichen in den Gleichungen (6.32.1-3) aus
der Anschauung festzulegen, vgl. auch die Bemerkung aus Beispiel 4.10.
2. Die Drehmomente Mix A , M A , M A infolge der Kraftkoeffizienten F , F , F sollten
iy iz ix iy iy
zweckmäßig als axiale Momente nach Regel (6.30) berechnet werden. Dabei werden die
Vorzeichen für den Drehsinn jeweils aus der Anschauung festgelegt.
2
0 = R × MA R − R × (rAB × R) = R × MR − rAB R − R(R · rAB ) . (6.34)
A
150 6 Kraftsysteme im Raum
a) b) c)
R
R R s
MRA R rAB B MRA B rAB
rBA = MR rAB B = MRB B
A -R A A
rBA x R Zentrallinie
Abb. 6.22. Zweite Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems auf eine Kraftschraube
Da der Vektor R auf seiner Wirkungslinie verschoben werden kann, können wir von dem
Punkt B zusätzlich fordern, dass rAB senkrecht zu R ist. Mit rAB · R = 0 gilt weiter
2 R × MA
1. R − rAB R
0 = R × MA =⇒ 2. rAB =
R
. (6.35)
R2
Einsetzen von Gl.(6.35.2) in Gl.(6.33.2) liefert mit dem Entwicklungssatz (C.6.6)
1 A 2 R
MB R = MR − rAB × R = MR −
A A
2
MR R − R(R · MA R) = (R · MA R ). (6.36)
R R2
Da die Kraftresultierende und das resultierende Drehmoment in Abb. 6.22.c parallel sind,
wird die neue Dyname (R, MB R ) als Kraftschraube bezeichnet. Deren Wirkungslinie wird
von dem Punkt B ausgehend mit einem Parameter s als Geradengleichung r(s) = rAB +
sR/R beschrieben und als Zentrallinie bezeichnet. Zusammenfassend erhalten wir die
Mit den Ergebnissen (6.32) und ( 6.37) zur ersten und zweiten Reduktion unterscheiden wir
1.
= 0
= 0
= 0 Dyname nach (6.31): Reduktion auf eine Kraft-
schraube oder Totalresultierende ist möglich.
2.
= 0
= 0 =0 Kraftschraube nach (6.37).
3.
= 0 =0 =0 Totalresultierende: Die Zentrallinie verläuft (6.38)
durch A.
(A)
4. =0
= 0 =0 Resultierendes Kräftepaar: MA R = MR = MR
ist vom Bezugspunkt unabhängig und kann we-
gen Regel (5.4.1) nicht weiter reduziert werden.
Die Zentrallinie verläuft im Unendlichen.
5. =0 =0 =0 Gleichgewicht: keine weitere Reduktion mög-
lich. Die Zentrallinie existiert nicht.
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 151
Bemerkungen 6.7
1. Die Bedingungen (6.39) besagen: Ein starrer Körper ist unter der Wirkung eines allge-
meinen räumlichen Kraftsystems im Gleichgewicht, wenn sechs Bedingungen erfüllt sind:
Die Summen aller Kräfte in x-, y- und z-Richtung sind gleich Null, und die Summen aller
Drehmomente in x-, y- und z-Richtung bezüglich eines Bezugspunktes sind gleich Null.
2. In den Gleichungen (6.39.4-6) haben wir die Drehmomente Mix A , M A , M A durch die po-
iy iz
(A) (A) (A)
laren Momente Mix , Miy , Miz ersetzt, da sie nach Bemerkung 6.5.2 identisch sind.
3. In der praktischen Rechnung bestimmt man die polaren Momente in den Gleichungen
(6.39.4-6) nach Regel (6.30) als axiale Momente um die x-, y- und z-Achsen. Wir be-
zeichnen diese Achsen für die Momentenbedingungen auch als Bezugsachsen.
A x = b, (6.40)
wobei wir hier auf eine detaillierte Darstellung der Matrizen A, x und b verzichten wollen,
dann gibt es wie im ebenen Fall allerdings Ausnahmefälle, in denen das Gleichungssystem
(6.40) keine Lösung für die Unbekannten liefert. Einige Beispiele für Ausnahmefälle können
wir wie folgt zusammenfassen, siehe z.B. [30]:
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 153
Bemerkungen 6.8
1. Die Aufzählung (6.41) für mögliche Ausnahmefälle ist nicht vollständig. Notwendig und
hinreichend für die Existenz einer eindeutigen Lösung ist die Regulariät der Matrix A in
Gl.(6.40), vgl. Anhang D.
2. In der praktischen Rechnung laufen alle Ausnahmefälle darauf hinaus, dass die aufge-
stellten Gleichgewichtsbedingungen linear abhängig sind, so dass eine Auflösung nach
den unbekannten Lagerreaktionen nicht gelingt.
Eine Platte wird durch sechs Stäbe wie dargestellt in der waagerechten Lage gehalten. Be-
rechnen Sie die Stabkräfte unter Einwirkung von drei Einzelkräften F1 , F2 , F3 .
Bekannt: a, b = 2a, F1 = F , F2 = 3F , F3 = 5F .
Vorüberlegungen: Im Freikörperbild in Abb. 6.24.b werden die unbekannten Stabkräfte ein-
getragen. Anstatt den sechs Gleichgewichtsbedingungen (6.39) verwenden wir sechs alterna-
tive Bedingungen von der Form (6.39), wobei durch zweckmäßige Wahl der Bezugsachsen
für Momentengleichgewicht mit jeder Gleichung eine Unbekannte direkt ermittelt wird.
Lösungen: Aus sechs alternativen Gleichgewichtsbedingungen von der Form (6.39) folgt:
(A)
M = 0 : Bz a − F1 a = =⇒ Bz = F1 = F
i ix (B)
M = 0 : −Az 2a + F1 2a = =⇒ Az = F1 = F
i iy
Fiz = 0 : Az + Bz + Cz − F1 = 0 =⇒ Cz = F1 − Az − Bz = −F
i (A)
i Miz = 0 : Bx a − F2 a − F3 a = 0 =⇒ Bx = 8F
F
i iy = 0 : −A y + F3 = =⇒ Ay = F3 = 5F
i Fix = 0 : Bx + Cx − F2 = 0 =⇒ Cx = F2 − Bx = −5F.
a) z b) Cx
C C Bx
y B B
x F3 a F3 a Cz F1 Bz
F1
a a
A Ay A
Az F2
F2
a a
Abb. 6.24. Platte mit drei Kräften: a) Statisches System, b) Freikörperbild
154 6 Kraftsysteme im Raum
Wie im ebenen Fall in Abschnitt 5.7.4 gibt es auch hier Ausnahmefälle, in denen das Glei-
chungssystem (6.42) nicht mehr linear unabhängig ist und somit keine Lösung existiert. Der
Ausnahmefall der Statik tritt z.B. auf, wenn die Wirkungslinien w1 , w2 , ..., w6 in Abb. 6.25
wie die Achsen bei einem der Fälle in den Regeln (6.41) angeordnet sind.
Wie bereits erwähnt, ist die Aufzählung (6.41) nicht vollständig. Allgemeiner wird die
Existenz von Lösungen der Gleichungen (6.42) mit einer Matrixdarstellung
Ax=b (6.43)
untersucht, wobei wir auf eine detaillierte Darstellung der Matrizen A, x und b hier allerdings
verzichten werden. Wie im ebenen Fall in Abschnitt 5.7.4 sind die Elemente der Matrix A
nur von den Richtungswinkeln αi , βi und γi und den Koordinaten jeweils eines Punktes auf
den Wirkungslinien w1 , ... w6 abhängig, jedoch nicht von der Belastung. Wir bezeichnen sie
daher auch hier als Systemmatrix. Zusammenfassend gelten folgende
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 155
Die Untersuchung der Systemmatrix durch Handrechnung, z.B. Bestimmung der Determi-
nante det A, ist im Allgemeinen vergleichsweise aufwändig und sollte daher mit einem
Computer-Algebra Programm, z.B. MATLAB, durchgeführt werden.
Wie im ebenen Fall in Abschnitt 5.8 dürfen die Lagerungen eines Starrkörpers im Raum nicht
beliebig angeordnet sein, um allgemeine Belastungen aufnehmen zu können. Entsprechend
der Definition (5.40) für ebene Systeme formulieren wir die
Zur Klärung, ob ein Starrkörper im Raum statisch bestimmt gelagert ist, geht man wie
im ebenen Fall in Abschnitt (5.8) vor: Da ein Starrkörper im Raum nach Regel (2.9.2) sechs
Freiheitsgrade hat, ist die Mindestanzahl der Bindungen für statische Bestimmtheit r = 6.
Allein das Anbringen von sechs kinematischen Bindungen sichert jedoch nicht das Gleich-
gewicht des Starrkörpers. Zusätzlich müssen die Bindungen so angebracht sein, dass die
Systemmatrix regulär wird. Entsprechend den Bedingungen für statische Bestimmtheit eines
Starrkörpers in der Ebene (5.42) erhält man zusammenfassend die
Bemerkung 6.9
1. Die Bemerkungen 5.10 für ebene Systeme gelten sinngemäß auch für räumliche Systeme.
2. Der Ausnahmefall tritt z.B. auf, wenn die Lagerungen wie die Achsen in einem der Fälle
in (6.41) angeordnet sind. Wie bereits in Bemerkung 6.8.1 erwähnt, ist die Aufzählung
für mögliche Ausnahmefälle (6.41) jedoch nicht vollständig.
156 6 Kraftsysteme im Raum
Die Platte aus Beispiel 6.9 wird durch sechs Stäbe in der waagerechten Lage gehalten.
1. Berechnen Sie die Stabkräfte unter Einwirkung von drei Einzelkräften F1 , F2 und F1 für
den Winkel α = 0. Für welche Winkel α gibt es keine Lösung?
2. Lösen Sie das Gleichungssystem mit einer numerischen Methode für α = 0 und α = 900 .
Bekannt: a, b = 2a, F1 = F , F2 = 3F , F3 = 5F .
Vorüberlegungen: Im Freikörperbild in Abb. 6.26.b werden die unbekannten Stabkräfte
eingetragen. Anstatt den sechs Gleichgewichtsbedingungen (6.39) verwenden wir sechs alter-
native Bedingungen von der Form (6.39), wobei durch zweckmäßige Wahl der Bezugsachsen
für Momentengleichgewicht mit jeder Gleichung eine Unbekannte direkt ermittelt wird.
a) z b)
Cx
C C Bx
y B B
x F3 a F3 a Cz F1 Bz
F1
a A cosα a
α A A α A
Az F2
F2 a
a
A sin α
Lösungen:
1. Aufstellung von sechs Gleichgewichtsbedingungen von der Form (6.39) am Gesamtsystem
und Auflösung nach den Unbekannten liefert:
(A)
i Mix = 0 : Bz a − F1 a = =⇒ Bz = F1 = F
(B)
i Miy = 0 : −Az 2a + F1 2a = =⇒ Az = F1 = F
i Fiz = 0 : Az + Bz + Cz − F1 = 0 =⇒ Cz = F1 − Az − Bz = −F
(A)
i Miz = 0 : −Bx a − F2 a − F3 a = 0 =⇒ Bx = 8F
F3 5F
i Fiy = 0 : −Ā cos α + F3 = =⇒ Ā = =
cos α cos α
i Fix = 0 : Bx + Cx − Ā sin α − F2 = 0 =⇒ Cx = 5F (tan α − 1).
Für α = 0 erhält man die gleichen Ergebnisse wie in Beispiel 6.9. Für α = 90o wird der
Nennerterm cos α zur Berechnung von Ā gleich Null, so dass keine Lösung existiert.
2. Wir schreiben die Gleichungen aus Teil 1 als Matrixgleichung wie in Gl.(6.40):
6.3 Nichtzentrale Kraftsysteme im Raum 157
⎡ ⎤ ⎡ ⎤ ⎡ ⎤
0 0 0 a 0 0 Ā Fa
⎢ 0 −2a 0 0 0 0 ⎥ ⎢ Az ⎥ ⎢ −2F a ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ 0 1 0 1 0 1 ⎥ ⎢ Bx ⎥ ⎢ F ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥=⎢ ⎥
⎢ 0 0 a 0 0 0 ⎥ ⎢ Bz ⎥ ⎢ 8F a ⎥, A x = b.
⎢ ⎥ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎣ − cos α 0 0 0 0 0 ⎦ ⎣ Cx ⎦ ⎣ −5F ⎦
− sin α 0 1 0 1 0 Cz 3F
A x b
Aufgabe 6.10
(SG = 1, BZ = 15 min ) FV z
x y
Wir betrachten nochmals den Tür-
B A
griff in Aufgabe 6.6:
b
FH a
1. Untersuchen Sie die statische
Bestimmtheit.
2. Bestimmen Sie die auftretenden
Lagerreaktionen.
Bekannt: FH = 20 N, FV = 50 N, a = 8 cm, b = 11 cm.
a a F F
a a a a a a
2 a
F 2 2 2
A B A B A B
Aufgabe 6.12 (SG = 2, BZ = 10 min )
Für ein Baugerüst stehen vier Bauweisen zur
Auswahl.
a) b) c) d)
G
G
Foto:
c Sales Manager Photo, dpa Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Main.
Eine an einer Kette aufgehängte Lampe ist im Schwerefeld der Erde in einer Gleichgewichtslage, wobei die
Kettenlängsachse senkrecht gerichtet ist. Bei Einwirkung einer horizontalen Kraft W findet die Lampe, wie
bereits in Beispiel 4.4 besprochen, eine neue Gleichgewichtslage, wobei die Kettenlängsachse nicht mehr mit der
Senkrechten zusammenfällt. Man sagt, das System ist verschieblich. Versagen bei einem Strommasten infolge
einer unerwartet großen Belastung ein oder mehrere Fachwerkstäbe, dann kommt es zu einer sogenannten inneren
Verschieblichkeit des Systems, die wie in der Abbildung dargestellt zum Einsturz führt.
Die systematische Untersuchung verschieblicher Systeme geschieht mit den Methoden der Kinematik. Dazu
werden in dem folgenden Kapitel die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten für Starrkörper in der Ebene behandelt.
7
Kinematik des Starrkörpers in der Ebene
Ausgehend von der Darstellung endlicher (finiter) Bewegungen werden drei Grundaufgaben
der Starrkörperkinematik für differenzielle (infinitesimale) Bewegungen behandelt: Ermitt-
lung 1. von Verschiebungen eines Starrkörpers für gegebenen Momentanpol, 2. des Momen-
tanpols eines Starrkörpers für gegebene Verschiebungen und 3. des Polplans eines mehrteili-
gen Systems. Ein wesentlicher Vorteil der kinematischen Methode ist ihre Anschaulichkeit,
z.B. bei der Überprüfung der kinematischen Bestimmtheit, die äquivalent zur statischen
Bestimmtheit ist. Weitere Anwendungen der kinematischen Methode erfolgen u.A. in Kapitel
11 über Werkzeuge und Maschinen sowie in Abschnitt 14.2 zum Prinzip der virtuellen Arbeit.
5. Die Verschiebungen ūP und ūQ der Punkte P und Q sind Sekanten der
Kreise mit den Radien RP und RQ um R.
R (M)= R
Abb. 7.3. Infinitesimale ebene Bewegung eines Starrkörpers mit Verschiebungsdifferenzialen a) als Sekante an
die Kreisbahn um den Rotationsmittelpunkt R, b) als Tangente an die Kreisbahn um den Momentanpol (M )
Die Untersuchung der Kinematik von einteiligen und mehrteiligen Starrkörpern wird im
Allgemeinen grafo-analytisch (zeichnerisch und rechnerisch) durchgeführt. Dabei treten für
viele Problemstellungen mehrere Teilaufgaben auf, die wir systematisch unterscheiden als
Zur Vereinfachung der Notation haben wir hier den Begriff Verschiebungsdifferenzial durch
den Begriff Verschiebung ersetzt, wovon wir auch im Folgenden mehrfach Gebrauch machen
werden.
Ist der Momentanpol eines Starrkörpers bekannt, dann ist für viele Aufgabenstellungen
nicht nur das gesamte Verschiebungsdifferenzial duP eines Punktes P gesucht, wie in
7.3 Drei Grundaufgaben der Starrkörperkinematik 165
Abb. 7.6. Beim Prinzip der virtuellen Arbeit in Abschnitt 14.2 werden z.B. gegenseitige Ab-
hängigkeiten von Verschiebungen zweier Punkte P und Q oder die Verschiebungskompo-
nenten auf ihrer Verbindungsgeraden benötigt. Bevor wir die dazu wichtigsten Regeln weiter
unten zusammengefassen, beweisen wir folgende
Zum Beweis von Gl.(7.6.1) wird Gl.(7.4.2) auf den Punkt Q in der Form duQ = rQ M dϕ
angewendet. Das Ergebnis folgt dann durch Quotientenbildung von duP und duQ .
In Gl.(7.6.2) und Gl.(7.6.3) sind duP Q und
duQP , wie in Abb. 7.6 dargestellt, die Verschiebun-
gen der Punkte P und Q in Richtung ihrer Verbin- duQP
M Q
dungsgeraden P Q. rP Q ist der kürzeste Abstand von
duQ α dϕ
P Q zu (M ). Mit dem Winkel α in Abb. 7.6 gilt für
du P
den Punkt Q rQM
α rPQ M duPQ P
r M
duQP PQ
cos α = = M . (7.7)
duQ rQ
(M) rPM
Mit einer entsprechenden Gleichung für den Punkt
P folgt sofort Gl.(7.6.2). Die Gleichheit von duQP Abb. 7.6. Zur Abhängigkeit der
Verschiebungen zweier Punkte
und duP Q folgt auch anschaulich aus der Starrheit
des Körpers.
Zum Beweis von Gl.(7.6.3) setzen wir die kinematische Grundregel (7.4.2) in (7.6.2) ein:
rPMQ rPMQ
duQP = duP = dϕ rPM = dϕ rPMQ . (7.8)
rPM rPM
Unter Berücksichtigung der kinematischen Grundregel Gl.(7.4.2) sowie den Gleichungen
(7.6) werden die folgenden Regeln zusammengefasst:
Regeln A zur ersten Grundaufgabe:
Für gegebenen Momentanpol (M ) werden Verschiebungen eines Körpers gesucht
A1 Die Richtung der Verschiebung dup eines Punktes P steht senkrecht auf der
Verbindungsgeraden der Punkte (M ) und P , vgl. Abb. 7.6.
A2 Der Betrag der Verschiebung duP ist proportional zum Abstand rPM der
Punkte P und (M ), vgl. Gl.(7.4.2)
A3 Die Verschiebungen duP und duQ zweier Punkte P und Q stehen im Ver- (7.9)
hältnis ihrer Abstände rPM und rQ M zum Momentanpol zueinander, vgl.
a) b) GO(2)1 (2)
duP B GO(2)2
GO(M)2
duQ
du duC
P A=(1) 1 B
2
Q 30 o
C
GO(M)1 (M) 30o
c) d) e)
(M) (M)
GO(M) (M) GO(M)
P Q
du P duQ du
du
Abb. 7.7. Veranschaulichung der Regeln B in (7.10) : a) Parallele Verschiebungen (B2 und B5), b) Ausnutzen
der Lagerbedingungen beim Stabwerksystem (B3, B4 und B5), Systeme mit: c) Transversalverschiebungen (B6),
d) Normalkraftgelenk (B7) und e) Querkraftgelenk (B7)
7.3 Drei Grundaufgaben der Starrkörperkinematik 167
Verbindungsgeraden beider Punkte. Nach Regel B1 in (7.10) ist der erste geometrische Ort
GO(M )1 für (M ) eine senkrechte Gerade zu den Verschiebungen. Der zweite geometrische
Ort GO(M )2 ist nach Regel B2 eine Gerade durch die Endpunkte beider Vektoren. Der
Schnittpunkt beider Geraden liefert (M ). Dieses ist die Aussage von Regel B5.
In Abb. 7.7.b ist das gelenkige Lager eines Stabwerksystems nach Regel B3 der Pol (1)
für Stab 1. Die Verschiebung duB ist nach Regel A1 in (7.9) senkrecht auf der Verbindungs-
geraden der Punkte (1) und B. Nach Regel B4 ist eine Gerade senkrecht zu duB ein ge-
ometrischer Ort GO(2)1 für den Pol (2) des Stabes 2. Nach Regel B1 ist die zur Verschiebung
duB senkrechte Gerade der zweite geometrische Ort GO(2)2 für (2). Den Pol (2) findet man
schließlich nach Regel B5.
Zur Begründung von Regel B6 betrachten wir in Abb. 7.7.c das System mit den Lagern P
und Q. Zweimalige Anwendung von Regel B1 auf die Punkte P und Q liefert nach B5 den
Momentanpol (M ) als Schnittpunkt im Unendlichen. Die Momentanpole für die Systeme mit
dem Normalkraftgelenk in Abb. 7.7.d und dem Querkraftgelenk in Abb. 7.7.e (vgl. Tabelle
2.1) liegen damit nach B6 im Unendlichen, womit auch Regel B7 begründet ist.
Lösung zu Aufgabe b: Wir bezeichnen mit rB1 = L und r 2 = L die Abstände zwischen (1)
B
und B sowie zwischen (2) und B und erhalten:
1 dϕ = Ldϕ
A2 für Stab 1: duB1 = rB 1 1
2 dϕ = Ldϕ .
A2 für Stab 2: duB2 = rB 2 2
Wegen duB1 = duB2 = duB folgt dϕ1 = dϕ2 . In Abb. 7.9.b erkennt man, dass die Drehrich-
tung von dϕ2 im Uhrzeigersinn verläuft.
Lösung zu Aufgabe c: Mit dem Abstand rC 2 = 2L cos β von (2) nach C, der Anwendung
√
von Regel A2 auf Stab 1, der Beziehung cos β = 3/2 und den Ergebnissen aus Aufgabe b
folgt:
2
√ √
duC = rC dϕ2 = 2L cos βdϕ2 = 2L cos βdϕ1 = 3Ldϕ1 = 3duB .
Wir betrachten in diesem Abschnitt verschiebliche Systeme, die aus mehreren Körpern Ki ,
i = 1, .. zusammengesetzt sind. Wie wir später sehen werden, ist es gelegentlich günstiger,
zuerst alle Hauptpole zu ermitteln - ohne Anwendung der Regeln A in (7.9) -, um anschlie-
ßend die Verschiebungsfigur zu zeichnen. Bei der Untersuchung der statischen Bestimmtheit
ist man gar nicht an der Verschiebungsfigur interessiert, sondern geht nur der Fragestellung
nach, ob für alle Teilkörper ein Momentanpol ohne Widerspruch gefunden werden kann. In
Ergänzung zu der Definition (7.2) für den Momentanpol formulieren wir dazu die
Definition Nebenpol
Der Punkt, bei dem die relative Verschiebung zwischen zwei Punkten von zwei (7.11)
Körpern Ki und Kj gleich Null ist, heißt Nebenpol (oder: Zwischenpol) (i, j).
Dieser Punkt kann auch im Unendlichen liegen.
Zur Vereinfachung der Notation verwenden wir im Folgenden meist die abkürzenden Be-
zeichnungen 1 ≡ K1 , 2 ≡ K2 ... für die Körper mehrteiliger Systeme. Die zugehörigen Pole
sind dann (1), (2), ..., und (1, 2), (1, 3), ... sind die Nebenpole.
In Abb. 7.10 sind zwei Beispiele für Nebenpole (1, 2) zwischen zwei Körpern 1 und 2
dargestellt. In beiden Fällen verhindert ein Gelenk die relative Verschiebung zwischen zwei
Punkten beider Körper. Mit den Begriffen Haupt- und Nebenpol formulieren wir die
Abb. 7.11. Zur Veranschaulichung von Regel C2 in (7.12): a) verschiebliches und b) unverschiebliches System
Wir wollen die Regeln C begründen bzw. veranschaulichen, dabei aber auf strenge Beweis-
führung verzichten. Regel C1 erhält man sofort aus den Beispielen in Abb. 7.10. Zur Ver-
anschaulichung von Regel C2 in (7.12) betrachten wir in Abb. 7.11.a zwei Stäbe mit drei
Gelenken auf einer Geraden. Nach Regel B3 in (7.10) sind die beiden festen Gelenklager
die Momentanpole (1) und (2) der Stäbe 1 und 2. Der mittlere Gelenkpunkt, welcher beiden
Körpern 1 und 2 angehört, ist nach Definition (7.11) ein Nebenpol (1, 2). Nach Regel A1 in
(7.9) steht der Verschiebungsvektor du des mittleren Gelenkpunktes senkrecht auf den beiden
Verbindungsgeraden (1), (1, 2) und (2), (1, 2). Dieses ist nur möglich, wenn die Punkte (1),
(2) sowie (1, 2) auf einer Geraden liegen.
Bei dem Beispiel in Abb. 7.11.b nehmen wir zunächst an, dass nach Regel B3 in (7.10)
die beiden festen Gelenklager Momentanpole (1) und (2) der Stäbe 1 und 2 sind. Damit sind
nach Regel A1 in (7.9) die Verschiebungen du1 bzw. du2 jeweils senkrecht auf den Verbin-
dungsgeraden (1), (1, 2) bzw. (2), (1, 2). Da die unterschiedlichen Verschiebungen du1 und
du2 zu dem gleichen Gelenkpunkt gehören, ergibt sich in diesem Beispiel ein Widerspruch,
d.h. dieses System ist unverschieblich.
Zur Veranschaulichung von Regel C3 in (7.12) betrachten wir in Abb. 7.12.a drei Stäbe
mit vier Gelenken. Die mittleren Gelenkpunkte sind nach Definition (7.11) Nebenpole (1, 2)
bzw. (2, 3) der Stäbe 1 und 2 bzw. 2 und 3. Des Weiteren sind du(1,2) und du(2,3) Ver-
schiebungen der Punkte (1, 2) und (2, 3) in Richtung der Verbindungsstrecke (1, 2), (2, 3).
Nach Regel A4 sind diese beiden Verschiebungen gleich, so dass die relative Verschiebung
zwischen zwei Punkten der Körper 1 und 3 in Richtung der Verbindungsstrecke (1, 2), (2, 3)
verschwindet. Der Nebenpol (1, 3) nach Definition (7.11) liegt somit auf dieser Verbindungs-
strecke, was die Aussage von Regel C3 ist.
Wir bezeichnen in Abb. 7.12.a den ersten geometrischen Ort für den Nebenpol (1, 3) mit
GO(1, 3)1 . Zusätzlich können wir nach Regel B3 in (7.10) die beiden festen Gelenklager
a) b)
(1,2) (1,2)
2 (2,3) 2 (2,3)
du (2,3) du (2,3) = 0
du (1,2) GO(1,3)1 du (1,2)
1 3 (3) 1 3
(1,3)
Abb. 7.12. Zur Veranschaulichung der Regeln C3 und C4: a) verschiebliches und b) unverschiebliches System
7.3 Drei Grundaufgaben der Starrkörperkinematik 171
als Momentanpole (1) und (3) der Stäbe 1 und 3 bestimmen und erhalten nach Regel C2 in
(7.12) einen zweiten geometrischen Ort GO(1, 3)2 für den Nebenpol (1, 3). Der Schnittpunkt
von GO(1, 3)1 und GO(1, 3)2 liefert den Nebenpol (1, 3), womit Regel C4 in (7.12) veran-
schaulicht ist.
Bei dem Beispiel in Abb. 7.12.b hat der Stab 3 eine Festeinspannung. Wir nehmen an, dass
nach Regel B3 in (7.10) das linke feste Gelenklager Momentanpol (1) des Stabes 1 ist, so dass
eine Verschiebung du(1,2) in Richtung der Verbindungsstrecke (1, 2), (2, 3) auftritt, die z.B.
nach Gl.(7.6.2) berechnet werden kann. Diese muss nach Regel A4 gleich der Verschiebung
du(2,3) des Punktes (2, 3) sein, was jedoch nicht möglich ist, da der Stab 3 fest eingespannt
ist. Wegen dieses Widerspruchs ist das System unverschieblich.
Zur Veranschaulichung von Regel C5 in (7.12) betrachten wir in Abb. 7.13 jeweils zwei
Stäbe 1 und 2 mit Querkraft- und Normalkraftgelenken, bei denen wir die Momentanpole
(1), (2) nach Regel B6 in (7.10) jeweils im Unendlichen annehmen. Nach Regel C2 in (7.12)
liegt der Nebenpol (1, 2) ebenfalls im Unendlichen, in diesem Fall also senkrecht zur gegen-
seitigen Verschiebungsmöglichkeit.
a) du(1,2) b) du (1,2)
1 2 1 2
Abb. 7.13. Zur Veranschaulichung von Regel C5: a) für Querkraftgelenk, b) für Normalkraftgelenk
Ermitteln Sie für das gelenkig verbundene Stabwerksystem aus Beispiel 7.3 den Polplan.
Vorüberlegungen: Zur Lösung werden die Regeln B in (7.10) und die Regeln C in (7.12)
verwendet. Im Folgenden geben wir stichwortartig die jeweils verwendete Regel sowie den
zugehörigen grafo-analytischen Lösungsschritt an.
Lösung: L cos β L cos β
B3: (1) = A C
GO(2) 2
C1: (1, 2) = B
C2: GO(2)1 ist gleich Verbindungsgerade (2)
von (1) und (1, 2) GO(2)1 2
B4: GO(2)2 ist gleich Gerade durch den B
(1,2) 1
Punkt C senkrecht zur Verschiebungs-
A=(1)
möglichkeit
B5: (2) ist gleich Schnittpunkt von
GO(2)1 und GO(2)2 . L
Abb. 7.14. Polplan
Da der Polplan ohne Widerspruch gezeichnet werden kann, ist das System verschieblich.
172 7 Kinematik des Starrkörpers in der Ebene
Aus den Beispielen in Abb. 7.11 bis Abb. 7.13 erkennen wir, dass es sich bei Systemen, die
nicht im Widerspruch zu den Regeln B in (7.10) und den Regeln C in (7.12) stehen, um
verschiebliche Systeme handelt, für die ein Polplan mit Haupt- und Nebenpolen gezeichnet
werden kann, was für unverschiebliche Systeme nicht gelingt. Im Umkehrschluss erhält man
die folgende
haben. Wir verwenden ein xy-Koordinatensystem mit Ursprung in A, so dass der Punkt P
die Koordinaten xP , yP hat. Gesucht ist ein Zusammenhang zwischen den Verschiebungsko-
effizienten duAx , duAy und duP x , duP y der Punkte A und P .
Dazu wird ein x̄, ȳ-Koor-
dinatensystem mit Ursprung
(M ) eingeführt. Für den
Winkel α in Abb. 7.15 und y
y rP
die neuen Koordinaten x̄A , ȳA duP
dϕ
und x̄P , ȳP der Punkte A und rA
P gelten die geometrischen α duPy
yP
Beziehungen: y P P
yP -yA duAy duPx
ȳA ȳP duA
1. sin α = = yA α
r̄A r̄P duAx A xP x
x̄A x̄P dϕ
2. cos α = =
r̄A r̄P (7.15) xP -xA
3. x̄P = x̄A + xP α
(M) xA xP x
4. ȳP = ȳA + yP .
Abb. 7.15. Verschiebungen in kartesischen Koordinaten
wobei aus der Anschauung berücksichtigt wird, dass die x-Koeffizienten der Verschiebun-
gen duA und duP im ersten Quadranten negativ sind. Durch Einsetzen von Gl.(7.14.1) in
Gl.(7.16.1) sowie Gl.(7.14.2) in Gl.(7.16.2) und Berücksichtigung von Gl.(7.15.1) erhält man
1. duAx = −r̄A dϕ sin α = −ȳA dϕ 2. duP x = −r̄P dϕ sin α = −ȳP dϕ. (7.17)
In gleicher Weise behandeln wir die y-Verschiebungen: Durch Einsetzen von Gl.(7.14.1) in
Gl.(7.16.3) sowie Gl.(7.14.2) in Gl.(7.16.4) und Berücksichtigung von Gl.(7.15.2) erhält man
1. duAy = r̄A dϕ cos α = x̄A dϕ 2. duP y = r̄P dϕ cos α = x̄P dϕ. (7.19)
Zusammenfassend erhalten wir aus den Ergebnissen (7.18) und (7.20) einen
In Abb. 7.16 ist ein Rahmen in sechs verschiedenen Fällen mit Pendelstäben gelagert. Die
Wirkungslinien w1 , w2 ,... kennzeichnen die Achsen der Pendelstäbe. Nach Regel (2.9) hat
ein Körper in der Ebene maximal drei unabhängige Freiheitsgrade, so dass mindestens r = 3
kinematische Bindungen für eine Unverschieblichkeit notwendig sind. Wir gehen jetzt der
Frage nach, welche der Lagerungen in Abb. 7.16 geeignet sind, um den Anforderungen nach
Unverschieblichkeit mit höchstens drei Bindungen zu entsprechen. Dazu formulieren wir die
Zur Klärung, ob die Starrkörper in der Ebene in Abb. 7.16 kinematisch bestimmt gelagert
sind, untersuchen wir mit den Regeln B in (7.10) deren Verschieblichkeit. Zugehörig zu den
sechs Darstellungen in Abb. 7.16 unterscheiden wir
174 7 Kinematik des Starrkörpers in der Ebene
1. Kein GP (w1 , w2 , w3 ) 2. w1 w2
= w3 3. GP (w1 , w2 , w3 ) = A
w3 α1
w1 w1 w2
α1 w2 F3
w1 α1
w2
α2 α2
w3 α 2 =α 1 w3
α3 (M) α3
A
4. w1 w2 w3 5. w1
= w2 6. Kein GP (w1 , w2 , w3 , w4 )
w3 α4
α w4
α w1 w1 w2
w1 α1 α1 α2
α w3
(M) w w2 α2 α3
2 (M)
Abb. 7.16. Sechs Fälle zur Untersuchung der Verschieblichkeit (GP kennzeichnet einen Schnittpunkt)
Die Fälle (7.23.3) und (7.23.4) zeigen, dass allein das Anbringen von r = 3 kinemati-
schen Bindungen die kinematische Bestimmtheit eines Starrkörpers nicht sichert. Zusätzlich
müssen wir fordern, dass die drei Bindungen so angebracht sind, dass ein Widerspruch im
Polplan entsteht. Nur dann ist das System nach Regel (7.13) unverschieblich. Aus dem Fall
(7.23.5) sowie Abb. 7.16.5 folgt, dass zwei Bindungen mit r = 2 für Unverschieblichkeit
eines Systems nicht ausreichend sind, da immer ein Schnittpunkt der zwei Wirkungslinien
der kinematischen Bindungen existiert. Für den Fall (7.23.6) in Abb. 7.16.6 wird die Unver-
schieblichkeit mit r = 4 Bindungen erhalten, jedoch liegt eine Bindung mehr als in Definition
(7.22) gefordert vor. Einzig die Fälle (7.23.1) und (7.23.2) erfüllen die
7.6 Statische und kinematische Bestimmtheit eines Starrkörpers in der Ebene 175
Bemerkungen 7.1
1. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die kinematische Bestimmtheit nur von der
Lagerung und nicht von der Belastung des Systems abhängt.
2. Die Bedingung (7.24.2) für den Polplan kann erst überprüft werden, wenn (7.24.1) erfüllt
ist. Daher ist (7.24.1) eine notwendige Bedingung, während (7.24.2) eine hinreichende
Bedingung für kinematische Bestimmtheit ist, vgl. Anhang B.
3. Für mehrteilige Systeme muss Gl.(7.24.1) durch folgende Bedingung ersetzt werden:
r + z = 3n, (7.25)
wobei n die Anzahl der Teilkörper und z nach Tabelle (2.3) die Anzahl der Zwischen-
bindungen angeben. Weitere Untersuchungen erfolgen dazu in Abschnitt 9.4.
Bemerkungen 7.2
1. Der Unterschied der kinematischen und der statischen Methode ist grundlegend: Bei der
kinematischen Methode bleiben Kräfte unberücksichtigt. Im Gegensatz dazu werden bei
der statischen Methode keine Bewegungen berücksichtigt.
2. Für die Untersuchung der statischen Bestimmtheit eines Körpers – und in den nachfol-
genden Kapiteln von mehrteiligen Körpern – hat man immer zwei Möglichkeiten: die
statische oder die kinematischen Methode. Die Frage nach der zweckmäßigen Wahl der
Methode ist im Einzelfall zu entscheiden. Für Strukturen in der Ebene mit vergleichs-
weise wenig Teilkörpern ist die kinematische Methode mit dem Polplan auf Grund ihrer
Anschaulichkeit im Allgemeinen im Vorteil. Bei Systemen mit vielen Teilkörpern und
bei dreidimensionalen Strukturen ist man aus Effizienzgründen auf numerische Metho-
den unter Verwendung der Systemmatrix angewiesen. Für praktische Untersuchungen
ebener Fachwerke sind die Bildungsgesetze aus Kapitel 10 vorzuziehen.
176 7 Kinematik des Starrkörpers in der Ebene
a) b) c)
Aufgabe 7.6 l q
2 F
(SG = 1, BZ = 5 min)
A B C F
Das Lager B eines Ger-
berträgers erfährt eine 2
1
Absenkung Δs. Wie groß
ist die Verdrehung des Δs
l l l
Trägers 1?
Bekannt: l = 3 m, Δs =
3 cm.
Bei dem dargestellten Kistenklettern stapelt ein Kind Kisten der Reihe nach übereinander und klettert gleichzei-
tig auf die jeweils oberste Kiste. Der gemeinsame Schwerpunkt von Kind und allen Kisten ist zu Beginn noch
oberhalb der unteren Aufstellfläche, und das gesamte Gebilde ist im Gleichgewicht - vergleichbar dem schiefen
Turm von Pisa. Verlagert sich der Schwerpunkt weiter, kommt es zum Kippen des gesamten Gebildes.
8
Schwerpunkte
Dieses Kapitel behandelt die Berechnung von Schwerpunkten für Kräftegruppen, Körper,
Flächen und Linien. Zusätzlich werden wir den Massenmittelpunkt und den Volumenmit-
telpunkt kennenlernen. Für die praktische Berechnung von Mehrfachintegralen wird ein
vereinheitlichtes Rechenschema für Linien, Flächen und Volumina eingeführt. Weitere Ab-
schnitte behandeln zusammengesetzte Querschnitte und die zwei Regeln von Pappus-Guldin.
Wir betrachten in Abb. 8.1.a ein masseloses Laufrad mit dem Mittelpunkt A an dem drei
Massenpunkte m1 , m2 , m3 (vgl. Tabelle 3.1) angebracht sind. Im Schwerefeld der Erde mit
der Erdbeschleunigung g bilden die Gewichtskräfte G1 = m1 g, G2 = m2 g, G3 = m3 g in
Abb. 8.1.b eine ebene Kräftegruppe. Da alle Kräfte in y-Richtung zeigen, ist formal die Re-
duktion auf eine Totalresultierende Ry ohne resultierendes Kräftepaar nach den Gleichungen
(5.23) möglich. Wir können die Lage der Resultierenden Ry auch anschaulich aus der Be-
dingung bestimmen, dass das Moment von Ry bzgl. A gleich dem Moment aller Einzelkräfte
Gi bzgl. des gleichen Punktes sein muss:
3 3 3
Gi xi
↓: Ry = Gi , A: xS Ry = Gi xi =⇒ xS = i=1 3 . (8.1)
i=1 i=1 i=1 G i
a) b) c)
y G3 y
g Ry Verdrehung der Körpergruppe
m3 Rx G g
3
G1 yS
m1
x3 x1
wy wy w x y3
A y
x x A
A
xS
G2 S
x2
y2 Schnittpunkt
m2 von wxund wy
G2 x y1
G1
Abb. 8.1. Laufrad mit Körpergruppe in der Ebene: a) Massen und Koordinatensystem, b) erste Lage im Schwe-
refeld der Erde, c) zweite gedrehte Lage im Schwerefeld der Erde
Die zugehörige Zentrallinie wird in Abb. 8.1.b mit wy bezeichnet. Drehen wir das Laufrad
im Schwerefeld um den Winkel π/2, dann nehmen alle Gewichtskräfte in Abb. 8.1.c relativ
zum Koordinatensystem eine andere Richtung an. Die Lage der Resultierenden Rx wird wie
in den Gleichungen (8.1) bestimmt:
3 3 3
Gi yi
↓: Rx = Gi , A: yS Rx = Gi yi =⇒ yS = i=1 3 . (8.2)
i=1 i=1 i=1 Gi
Die zugehörige Zentrallinie in Abb. 8.1.c ist wx . Die Größe der Resultierenden gibt die
gesamte Gewichtskraft an und hat nach Gl.(8.1) und Gl.(8.2) den Wert G = Rx = Ry =
3
i=1 Gi . Den Schnittpunkt der beiden Wirkungslinien wx und wy bezeichnen wir in Abb. 8.1.c
mit S und formulieren dazu die
Definition Schwerpunkt (oder Kräftemittelpunkt)
Der Punkt eines Körpers oder einer Körpergruppe, durch den die Totalresul- (8.3)
tierende aller Gewichtskräfte bei beliebiger Lage des Körpers oder der Kör-
pergruppe hindurchgeht, ist der Schwerpunkt S.
Für viele technische Konstruktionen ist auch die Dichte ρ konstant, d.h. ρi = ρ = const,
so dass sie auf Grund der Beziehung
mi = ρVi aus Gleichung (8.6) gekürzt werden kann.
Mit dem Gesamtvolumen V = N V
i=1 i erhält man die Koordinaten für den
1 1 1
N N N (8.7)
1. xV = Vi xi 2. yV = Vi yi 3. zV = Vi zi .
V V V
i=1 i=1 i=1
Beispiel 8.1 Massen- und Volumenpunkt für Rührwerk mit zwei Kugeln.
x y m1
3m
A B
2L
L
m L m
L 2L 2L L
8.2 Der Schwerpunkt eines inhomogenen Körpers 187
Im Schwerefeld der Erde mit der Erdbeschleunigung g bilden die – unendlich vielen –
Gewichtskraftdifferenziale dGi = gdmi , i = 1, ...∞, eine ebene Kraftgruppe, vgl. Abb. 8.4.b.
Wir berechnen die Lage der Totalresultierenden Ry wie in den Gleichungen (8.1), wobei im
Grenzübergang i = 1, ...∞ die Summen aus (8.1) in Integrale übergehen:
xdG
↓: Ry = K dG, A: xS Ry = K xdG =⇒ xS = K . (8.8)
K dG
Wir drehen das Rad im Schwerefeld um eine Drehachse durch den Punkt A und bestimmen
Größe und Lage der Resultierenden in Abb. 8.4.c wie in den Gleichungen (8.2):
ydG
↓: Rx = K dG, A: yS Rx = K ydG =⇒ yS = K . (8.9)
K dG
Die Koordinaten xS und yS in den Gleichungen (8.8) und (8.9) sind nach Definition (8.3) die
Schwerpunktkoordinaten in der xy-Ebene. Fallen die Punkte A und S des Rades in Abb. 8.4.c
zusammen, dann gilt xS = yS = 0 und man bezeichnet das Rad als statisch ausgewuchtet.
Die Überlegungen, die zur Berechnung von
xS und yS für den ebenen Fall in den Glei- x
chungen (8.8) und (8.9) geführt haben, können S Rx dG dV
wir auf den PKW als inhomogenen Körper im
Raum in Abb. 8.5 übertragen. Dazu berechnen xS
z
wir wie in (8.4) z.B. die Lage der Resultieren- x
den Rx aus der Bedingung, dass das axiale Mo- zS
z
ment von Rx bzgl. der y-Achse durch A gleich
dem axialen Moment aller Kraftdifferenziale A yS y y
dG bzgl. derselben Achse sein muss: Abb. 8.5. PKW als inhomogener Körper im Raum
188 8 Schwerpunkte
zdG
↓: Rx = K dG, A: zS Rx = K zdG =⇒ zS = K . (8.10)
K dG
Dreht man den Körper im Raum und wiederholt die Berechnungen entsprechend (8.10), er-
hält man die Ergebnisse der Gleichungen (8.8) und (8.9). Zusammenfassend lauten die Ko-
ordinaten für den
Die Terme xdV , ydV , zdV bezeichnet man als Momente erster Ordnung des Volumen-
differenzials dV . Entsprechend sind xV V , yV V , zV V Momente erster Ordnung des Volu-
mens V .
8.3.2 Flächenmittelpunkte
Wir betrachten in Abb. 8.6 als Sonderfall eines 3- y
dimensionalen Körpers eine dünne Scheibe der yS dA
Dicke h. Damit gilt für ein Volumendifferenzial z y S
dV = h dA, so dass die Höhe h in den Gleichun- h/2
gen (8.13) gekürzt werden kann. Legen wir das h/2
Koordinatensystem noch xS x dV
in Scheibenmitte und x
führen die Fläche A = A dA ein, erhält man aus
den Gleichungen (8.13) die Koordinaten für den Abb. 8.6 Schwerpunkt einer dünnen Scheibe
8.3 Geometrische Mittelpunkte für Volumina, Flächen und Linien 189
Die Terme xdA, ydA bezeichnet man als Momente erster Ordnung des Flächendifferenzials
dA. Entsprechend definiert man
Für den Begriff Flächenmittelpunkt in den Gleichungen (8.14) werden wir im Folgenden
auch die nicht ganz korrekte Bezeichnung „Schwerpunkt” verwenden. Legt man das Koordi-
natensystem in den Schwerpunkt S, dann werden xS und yS gleich Null. Damit gilt die
Für den Sonderfall, dass eine der Koordinatenachsen eine Symmetrieachse ist, kann eine
Schwerpunktkoordinate sofort angegeben werden. Um dieses zu zeigen, betrachten wir in
Abb. 8.7 einen Querschnitt mit der y-Achse als Symmetrieachse. Zu jedem Flächendiffe-
renzial dA mit Koordinaten (−x, y) findet man ein Flächendifferenzial dA mit Koordinaten
(x, y), so dass (−x)dA+xdA=0. Berücksichtigt man diese Beziehung für das Integral über
den gesamten Querschnitt in Gl.(8.15.1), erhält man
Sy
Sy = x dA = 0 =⇒ xS = = 0. (8.17)
A A
In gleicher Weise erhält man für einen Querschnitt mit der x-Achse als Symmetrieachse das
Ergebnis yS = 0. Damit gilt die einfach zu merkende
a) y b) y y y
dA dA
y S S S
S x x x
-x x x
Abb. 8.7. Schwerpunkte von Flächen mit Symmetrieachsen: a) allgemeiner Fall, b) ausgewählte Profile:
Rechteckprofil, I- und U -Profile
190 8 Schwerpunkte
In Abb. 8.7.b wird diese Regel für drei verschiedene Querschnitte veranschaulicht. Hier-
bei haben das Rechteckprofil und das I-Profil jeweils zwei Symmetrieachsen, so dass beide
Schwerpunktkoordinaten xS , yS sofort angegeben werden können. Das U -Profil dagegen hat
nur eine horizontale Symmetrieachse, womit lediglich die Koordinate yS sofort angegeben
werden kann.
8.3.3 Linienmittelpunkte
L,A
Ist der homogene Körper linienhaft im Raum mit z
der Länge L und einem Querschnitt A verteilt, ML dL
dann gilt für das Gesamtvolumen V = AL und
für das Volumendifferenzial dV = AdL, wobei
y
dL das Liniendifferenzial ist. Damit kürzt sich
x
ρA aus den Gleichungen
(8.13) heraus. Mit der
Gesamtlänge L = L dL erhält man die Gleichun- Abb. 8.8. Gekrümmte Linie im Raum
gen für den
Linienmittelpunkt
(8.19)
1 1 1
1. xL = xdL 2. yL = ydL 3. zL = zdL.
L L L L L L
Die Terme xdL, ydL, zdL bezeichnet man auch als Momente erster Ordnung des Liniendif-
ferenzials dL. Entsprechend sind xS L, yS L, zS L Momente erster Ordnung der Linie L.
Man kann den Schwerpunkt eines schmalen und länglichen Gegenstandes auch durch
einen Versuch, wie z.B. für das Lineal in Abb. 8.9, ermitteln. Dazu legt man das Lineal
quer über die beiden auf gleicher Höhe gestreckten Zeigefinger und bewegt diese langsam
aufeinander zu. Auf dem Finger, der dem Schwerpunkt näher liegt, ist die größere Lagerkraft.
Wie in Kapitel 13 gezeigt wird, entsteht dadurch eine größere Reibkraft, so dass das Lineal
über den anderen Finger gleitet. Das System stellt sich immer so ein, dass bei beiden Fingern
die horizontalen Reibkräfte entgegengesetzt gleich groß sind. Wenn sich die Zeigefinger am
Ende berühren, bleibt das Lineal waagerecht und der Schwerpunkt liegt über beiden Fingern.
Die mit den Gleichungen (8.13), (8.14) und (8.19) festgelegten Punkte für Volumina,
Flächen und Linien werden als geometrische Mittelpunkte bezeichnet, da sie von dem Mate-
rial des Körpers unabhängig sind.
8.4 Praktische Auswertung der Integrale 191
In Tabelle 8.1 sind die wichtigsten Lösungsschritte und einige allgemeine Hinweise für
die zweite Möglichkeit zusammengefasst. Wir weisen darauf hin, dass diese Schritte nicht
immer zum Ziel führen, z.B. wenn die Umkehrfunktion in Schritt 3 nicht gefunden wird.
In Abb. 8.10 werden sechs Möglichkeiten zur Auswertung eines Integrals für die Berech-
nung des Schwerpunktes einer ebenen Fläche unterschieden. Dabei werden in den oberen
drei Darstellungen kartesische Koordinaten und in den unteren drei Darstellungen Polarko-
ordinaten verwendet. In den Fällen a) und d) erfolgt eine Substitution der Integrationsgrenzen
und in den übrigen Fällen die Substitution der Differenzialelemente. Der Punkt S̄ ist jeweils
der Schwerpunkt eines Flächendifferenzials dA.
a) y b) c) y
y(x) dx y2 dA=x(y)dy
S
dx y(x) dy
y dA=y(x)dx
dy S y(x) x(y)
dA=dxdy
2 2
x x x1 x x2 x x(y) x
y1
d) e) f)
y y 1 ϕ ϕ y
dA= r( )d
2
r(ϕ ) dϕ dA=r ϕ (r)d r
dA=rdϕ dr S
y=rsin ϕ y(ϕ) r(ϕ) r2
dr ϕ2 dϕ ϕ dr
dϕ ϕ1 y(r) S r
ϕ
r x x(ϕ) x r1 x(r) x(y)
x=rcos ϕ ϕ (r)
Abb. 8.10. Sechs Fälle zur Schwerpunktberechnung: oben: Kartesische Koordinaten, unten: Polarkoordinaten
f) Einfachintegral mit Ringstreifen: In Abb. 8.10.f ist ϕ(r) der Winkel, der das Bogenstück
mit Radius r einschließt. Mit der infinitesimalen Breite dr wird somit das Flächendifferen-
zial dA = ϕ(r)rdr gebildet. Dessen Koordinaten des Schwerpunktes S̄ sind y(r) und x(r).
Sie werden den Ergebnissen für Linien entnommen, siehe Abschnitt 8.3.3. Damit lauten die
differenziellen Momente dSy = y(r)dA und dSx = x(r)dA. Mit dem oberen Ausdruck für
dA und den Integrationsgrenzen r1 , r2 werden die Fläche und die statischen Momente durch
Auswertung von Einfachintegralen berechnet:
r2 r2 r2
1. A = ϕ(r)rdr, 2. Sy = x(r)ϕ(r)rdr, 3. Sx = y(r)ϕ(r)rdr. (8.26)
r1 r1 r1
194 8 Schwerpunkte
Bestimmen Sie für einen Viertelkreis mit allen sechs Möglichkeiten in Abb. 8.10 die Koor-
dinaten xS , ys des Flächenschwerpunktes.
Vorüberlegungen: Mit den Darstellungen für den Viertelkreis in Abb. 8.11 werten wir die
Gleichungen (8.21) - (8.26) aus. Dabei beschränken wir uns zunächst auf das statische Mo-
ment Sx .
a) b) y c) y
y dx dA= R 2- y 2 dy
R dA=dx dy R R
dx y(x) y
S dy
y 2
S
dy dA= R - x2 dx y(x) x(y)
2 2
x R x x R x x(y) R x
d) y e) 1
f) y
dA= Rd ϕ ϕ (r)= π /2
2
dA=rdϕ dr dA=π rdr
y(ϕ) d ϕ
S r(ϕ)=R
dr π dr
dϕ 2 ϕ 2r S r
ϕ π
r Rx x(ϕ) R x 2r R x(y)
π
Lösungen:
a) Doppelintegral in kartesischen√ Koordinaten: Aus der Kreisgleichung folgt der funk-
tionale Zusammenhang y(x) = R2 − x2 . Mit der Wahl eines Flächendifferenzials dA =
dydx in Abb. 8.11.a und dem Abstand y von der vertikalen Koordinatenachse folgt aus
Gl.(8.21.3) für das statische Moment bezogen auf die x-Achse:
√
R R2 −x2
Sx = ydA = ydydx
A x=0 y=0
2
√R2 −x2 2
R
R
y R
R 2 − x2 R x x3 R3
= dx = dx = − = .
x=0 2 0 x=0 2 2 6 0 3
f) Einfachintegral mit Ringstreifen: In Polarkoordinaten wird in Abb. 8.11.f für den Ra-
dius r mit dem Kreisbogen der Länge πr/2 das Flächendifferenzial dA = πr dr/2 einge-
führt. Aus Beispiel 8.7 erhält man den Schwerpunkt S̄ in y-Richtung für einen Viertelkreis-
bogen y(r) = 2r/π. Mit ϕ(r) = π/2 und den Integrationsgrenzen r1 =0, r2 =R folgt aus
Gl.(8.26.3)
r2 R
2r π
R R3
Sx = y(r)ϕ(r)rdr = dr = r 2 r=0 = .
r1 0 π 2 3
In gleicher Weise können mit allen sechs Möglichkeiten die Fläche A und das statische Mo-
ment Sy des Viertelkreises berechnet werden, was der Leser selbst nachvollziehen möge. Die
Ergebnisse lauten A = πR2 /4 und Sy = R3 /3. Aus Gl.(8.14.1) und Gl.(8.14.2) erhält man:
1 1 R3 4 4R 1 1 R3 4 4R
xS = xdA = Sy = 2
= , y S = ydA = S x = 2
= .
A A A 3 πR 3π A A A 3 πR 3π
Zusammenfassend gilt für die Schwerpunktkoordinaten eines Viertelkreises
4R
xS = y S = . (8.27)
3π
196 8 Schwerpunkte
xS V = 0 (wegen Symmetrie)
l
b−a h l
ha 2 b − a h 3
yS V = ydV = y a+ y y dy = y + y dy
V y=0 l l y=0 l l l
l
ha y 3 b − a h y 4 ha l3 b − a h l4 a b−a
= + = + = hl2 +
l 3 l l 4 y=0 l 3 l l 4 3 4
2 a b
= hl +
12 4
2
l
b−a h l
h2 a 2 b − a h2 3
zS V = zdV = a+ y y dy = y + y dy
V y=0 l l y=0 l2 l l2
l
h2 a y 3 b − a h2 y 4 h2 a l3 b − a h2 l4 a b−a
= + = 2 + = h2 l +
l2 3 l l2 4 y=0 l 3 l l2 4 3 4
2 a b
=h l + .
12 4
Für den Fall a = b wird der räumliche Körper zu einem Prisma mit parallelen Dreiecks-
flächen. Man erhält aus den Ergebnissen (8.30)
2 2
xS = 0, yS = l, zS = h.
3 3
Diese Ergebnisse werden auch anschaulich mit den Schwerpunktkoordinaten für das recht-
winklige Dreieck aus Beispiel 8.3 erhalten.
200 8 Schwerpunkte
x = R cos ϕ, y = R sin ϕ.
Da r = R konstant ist, wird kein funktionaler Zusammenhang r(ϕ) erforderlich.
4. Integralauswertung: Mit den Integrationsgrenzen α1 , α2 für den Winkel ϕ berechnen wir
die Länge und das Moment erster Ordnung nach den Gleichungen (8.19)
α2
L= dL = Rdϕ = R[ϕ]αα21 = R(α2 − α1 )
L ϕ=α1
α2
xdL = R cos ϕRdϕ = R2 [sin ϕ]αα21 = R2 (sin α2 − sin α1 ).
L ϕ=α1
In gleicher Weise bestimmt man das Moment erster Ordnung L ydL. Zusammenfassend
erhält man für beide Schwerpunktkoordinaten
R(sin α2 − sin α1 ) R(cos α1 − cos α2 )
xS = , yS = . (8.32)
α2 − α1 α2 − α1
Für einen Viertelkreisbogen folgt mit α1 = 0 und α2 = π/2
2R
xS = y S = . (8.33)
π
202 8 Schwerpunkte
Die Gleichungen zur Schwerpunktermittlung können auch zur Berechnung der Resultieren-
den von Streckenlasten (Totalresultierende) eingesetzt werden. Als Beispiel betrachten wir
in Abb. 8.17 einen Träger der Länge l mit
y R
einer vertikalen Streckenlast q(x). Wir suchen aR
den Betrag, das polare Moment bezüglich
des Punktes A und die Lage der Resultieren- q(x)
den. Diese Aufgabe ist äquivalent der Schw-
A B
erpunktberechnung einer Fläche in Abschnitt
8.3.2. Dabei entspricht die Kraftresultierende
dem Flächeninhalt A = A dA und das po- x
lare Moment dem statischen Moment in den l
Gleichungen (8.15). Zusammenfassend erhält Abb. 8.17. Vertikale Streckenlast und deren
man: Resultierende
Gl.(8.34.3) entspricht Gl.(5.21.2) für die Reduktion eines nichtzentralen Kraftsystems auf
eine Totalresultierende.
(A)
l (A) l2 MR 2 (8.35)
R = q0 , MR = q0 , aR = = l.
2 3 R 3
8.5 Die Resultierende von Streckenlasten 203
a) x b) x c)
y Fy x
q cos ϕ Fx
F q sin ϕ Fy =0
Fx
q = + q sin ϕ
yS
αm ϕ ϕ
α α y α α
y α y α
R α2
α1 B x B A B
A A
xS
Abb. 8.19.b. a) Koordinatensystem x̄, ȳ, b) Normalbelastung, c) Tangentialbelastung
A1
A2
wobei V = N i=1 Vi das Gesamtvolumen ist. Wie bei der Herleitung der Gleichungen (8.14)
für den Flächenmittelpunkt eines homogenen Körpers erhält man die Koordinaten für den
N
wobei L = i=1 Li die Gesamtlinienlänge ist.
Bemerkungen 8.1
1. Mit den Gleichungen (8.42) bis (8.45) werden die Koordinaten der geometrischen Mit-
telpunkte durch Summation erhalten, so dass Integrationen nicht erforderlich werden.
Voraussetzung dazu ist die Kenntnis der Schwerpunkte der Teilkörper. Diese sind in
Tabelle 8.2 für einige einfache geometrische Flächen und in Tabelle 8.3 für einige ein-
fache 3-dimensionale geometrische Körper angegeben.
2. Mit den Gleichungen (8.42) bis (8.45) können auch Ausschnitte oder Löcher berück-
sichtigt werden, indem man diese als Teilkörper mit „negativen” Linien, Flächen bzw.
Volumina auffasst, vgl. die Beispiele 8.10 und 8.12.
206 8 Schwerpunkte
2. beliebiges Dreieck 1
A = 21 ((x2 − x1 )(y3 − y1 ) xS = (x1 + x2 + x3 )
y x2 , y2 3
− (x3 − x1 )(y2 − y1 )) 1
yS = (y1 + y2 + y3 )
3
S
x3 , y3
x1 , y1
x
3. Parallelogramm A = ah
y S liegt im Schnittpunkt
a/2 a/2
der Diagonalen
h/2 S
h/2
a/2 a/2 x
4. Trapez
h S liegt auf der Seiten-
y b/2 b/2 A= (a + b)
2 halbierenden
h/2 h a + 2b
S yS =
3 a+b
h/2
a/2 a/2 x
5. Polygon
1
n
n
A= i=1 (xi yi+1 − xi+1 yi ) xS = (xi + xi+1 )·
xi , yi
6A
y xn , yn i=1
(xi yi+1 − xi+1 yi )
1
n
S yS = (yi + yi+1 )·
x1 , y2 6A
i=1
x2 , y2 x3 , y3
(xi yi+1 − xi+1 yi )
x
8.6 Geometrische Mittelpunkte für zusammengesetzte Körper 207
6. Kreisausschnitt A = αR2 xS = 0
2 sin α
y yS = R
3 α
S
α α
yS R x
7. Viertelkreis π 2 4R
A= R xS =
4 3π
y
4R
yS =
3π
S
yS R x
xS
9. quadratische Parabel 2
A = ab xS = 0
3
3
y y=ax 2 yS = h
5
h
yS x
R x
z l
Ra x
l
z R
i
3. Kugel
y 4
V = πR3 xS = yS = zS = 0
R 5
z x
4. Halbkugel
y 2
zS =3/8 R V = πR3 xS = y S = 0
5
R 3
zS = R
8
z S x
5. Kegel
1
zS = l/4 V = πR2 l xS = y S = 0
l y 3
R l
zS =
x 4
S
z
Aus dem Quadrat in Abb. 8.22.a ist ein Kreis ausgespart. Bestimmen Sie den Flächenschw-
erpunkt. Bekannt: a.
Vorüberlegungen: In Abb. 8.22.b wird die gegebene Fläche als Differenz zweier Flächen
mit bekannten Teilschwerpunkten S1 und S2 dargestellt. Fassen wir also das Loch als
„negative” Fläche auf, kann die Schwerpunktberechnung mit den Gleichungen (8.44) erfol-
gen. Dazu legen wir das Koordinatensystem in den Teilschwerpunkt S1 des Quadrates.
a) b) A1 y y
A2
2a
= -
a x x
S1 S2
2a
5/2a
2a 2a
Abb. 8.22. Quadrat mit Kreisausschnitt
Lösung: Wir versehen das Quadrat mit der Nummer 1, den Kreis mit der Nummer 2 und
tragen Koordinaten, Flächen und statische Momente in eine Tabelle ein:
i xi yi Ai xi Ai yi Ai
1 0 0 4a2 0 0
πa3
2 a
2 0 − πa2 − 2 0
πa3
a2 (4 − π) − 2 0
Für die Schwerpunktkoordinaten erhält man aus Gl.(8.44.1) und Gl.(8.44.2)
2 3 2
i=1 xi Ai − πa2 πa yi Ai 0
xS = 2 = 2 =− , yS = i=1 2 = 2 = 0.
i=1 Ai
a (4 − π) 8 − 2π i=1 Ai
a (4 − π)
Lösung: Wir tragen Koordinaten, Flächen und statische Momente in eine Tabelle ein:
i xi yi Ai xi Ai yi Ai
2 1 1 1 2 1 2
1 3a 3h 2 ah 3a ·h 6a · h
2 a + 13 b 1
3h
1
2 bh
1
2a · b · h + 16 b2 h 1
6b · h
2
1 1 1 2
2 (a + b) h 6 (a + b)(2a + b)h 6 h (a + b).
Für die Schwerpunktkoordinaten erhält man aus Gl.(8.44.1) und Gl.(8.44.2)
1 1 2
6 (a + b)(2a + b)h 2a + b 6 h (a + b) 1
xS = 1 = , yS = 1 = h.
2 (a + b) · h 2 (a + b) · h
3 3
Aus dem homogenen Quader in Abb. 8.24.a ist ein Viertelzylinder ausgespart. Bestimmen
Sie den Schwerpunkt. Bekannt: a.
Vorüberlegungen: In Abb. 8.24.b wird der gegebene Körper als Differenz zweier Körpern
mit bekannten Schwerpunkten dargestellt. Fassen wir also den Ausschnitt als „negativen”
Körper auf, kann die Schwerpunktberechnung mit den Gleichungen (8.13) für den Volumen-
mittelpunkt erfolgen. Dieses geschieht zweckmäßig mit Hilfe einer Tabelle.
a) a b)
a z
a
y
= -
a x
a
a
Lösung: Wir versehen den Quader mit der Nummer 1, den Viertelylinder mit der Num-
mer 2 und tragen Koordinaten, Volumina und statische Momente in eine Tabelle ein: Für
den Schwerpunkt des Viertelzylinders verwenden wir das Ergebnis für den Viertelkreis in
Tabelle 8.2: x2 = z2 = a − 4a/3π = a(3π − 4)/3π, V2 = −a · a2 π/4
i xi yi zi Vi xi Vi yi Vi zi Vi
1 0 0 0 (2a)3 0 0 0
a(3π−4) a(3π−4) a3 a4 (3π−4) a4 (3π−a) a4 (3π−4)
2 3π − a2 3π − 4 π − 12 8π − 12
a3 a4 (3π−4) a4 (3π−4) a4 (3π−4)
(32 − π) 4 − 12 8π − 12 .
8.6 Geometrische Mittelpunkte für zusammengesetzte Körper 211
t 5a 2 2
1 2 2 5at 5 t2 a 25 a2 t
3a+t 3a+t t2
2 2
t
2 (3a − t)t 2 (3a − t)t 2 (3a − h)
1
1
8at − t2 2 9a2 t + 5t2 a − t3 2 25a2 t + 3t2 a − t3 .
2. Für ein dünnwandiges Profil gilt t << a. Dann sind die Terme t/a und (t/a)2 klein
gegen 1 und können vernachlässigt werden. Man erhält für die Schwerpunktkoordinaten
212 8 Schwerpunkte
9 25 y
xS = a, yS = a.
16 16
xS
3. Wir tragen in Abb. 8.26 die Schwerlinien der bei-
den Flächen des Winkels ein und fassen diesen als 1
Linienkörper auf. Mit den zwei Linienmittelpunkten S1
5a S
ergibt sich folgende Tabelle:
y1
i xi yi Li xi L i y i Li S2 2 yS
5 25 2 x2 x
1 0 2a 5a 0 2 a
3a 9 2 3a
2 2 0 3a 2a 0
9 2 25 2 Abb. 8.26. Winkel als Linienkörper
8a 2a 2 a .
i yi Ai yi Ai b1
t1 S1
1 ≈h b1 t1 hb1 t1
= 200 = 150 · 5 = 150 000 3 1
t3
2 0 b2 t2 0
100 · 3 0 h S3
h2 t3
3 ≈ h
2 ht3 2
y
h/2
= 100 = 200 · 4 = 80 000 t2
1850 230 000 S2 x
2
b2
Für die Schwerpunktkoordinate folgt aus Gl.(8.44.2)
Abb. 8.27.b. Teilfächen
yi Ai 230 000 mm2
yS = = = 12, 43 mm.
Ai 1850 mm
z
Aufgabe 8.5 (SG = 2, BZ = 20 min) 10
Für die dargestellte Fläche unter der Kurve
z(x)
z(x) ist die Lage des Schwerpunktes zu er-
mitteln.
1
Bekannt: z(x) = x2 + 1. x
1 2 3
Aufgabe 8.8
(SG = 3, BZ = 20 min)
c
Aus einer Sperr-
holzplatte wurde die
dargestellte Kirche y a
x
ausgesägt, die mit
b
nur einem Nagel
b
aufgehängt werden
soll. Berechnen Sie a
die Schwerpunktko-
ordinaten xS und yS
bzgl. des gegebenen
b b b b
Koordinatensystems. a c a a a
Bekannt: a = 2 m, b = 1 m, c = 3 m.
Aufgabe 8.10
(SG = 3, BZ = 20 min)
Der gekrümmte Pfosten eines Hal- F g
teschildes wird durch das dargestellte
statische System vereinfacht. Der m
Pfosten hat die Masse m, und der
Stabdurchmesser ist konstant. 2a 2a
1. Bestimmen Sie den Linienmit-
telpunkt.
4a
2. Bestimmen Sie die Auflager-
reaktionen infolge des Eigen-
gewichtes und der Einzellast F .
Bekannt: a = 1, 5 m, F = 25 N, m =
130 kg.
Bekannt: α = 120o .
1
α x
-1 0 1 2 3
q2 w2 n2
w1
q1 n1
α α α
b b b
216 8 Schwerpunkte
1 3 1 1
Bekannt: m1 , m2 = m3 = m4 = m1 , m5 = 5m1 , r, a = r, b = r, c ≈ 0, e = r,
10 2 2 4
1 o
f = r, β = 45 .
2
2,5
2
1,5
5
1
4
3
ex o
ez 30 2 3 4 5
2
B
Kreisscheibe m
m1
m2 3 Kreisringe
A m3
[m]
[m]
Die Gleichungen zur Berechnung des Flächenmittelpunktes einer dünnen Scheibe (8.14) und
des Linienmittelpunktes (8.19) haben noch weitere Bedeutungen: Sie können mit den zwei
Regeln von Pappus-Guldin (Pappus, 3. Jahrhundert; Paul Habakuk Guldin, 1577-1643) zur
Berechnung von Mantelflächen und Volumina für rotationssymmetrische Körper angewen-
dent werden. Zur Erklärung betrachten wir in Abb. 8.28.a eine Linie der Länge L in der
xz-Ebene, welche die x-Achse nicht schneidet. Die z-Koordinate des Mittelpunktes ML hat
den Wert RL . Die Linie bildet die Meridianlinie (Mantellinie) des rotationssymmetrischen
Körpers in Abb. 8.28.b.
a) b) c)
z z dL
z ML
L RL z
ML
RL y x y
x x
Abb. 8.28. Zur Herleitung der 1. Regel von Pappus-Guldin: a) Meridianlinie L mit zugehörigem Mittelpunkt ML ,
b) Mantelfläche eines rotationssymmetrischen Körpers, erzeugende Meridianlinie L, Weg des Mittelpunktes ML
bei einer vollen Umdrehung, c) erzeugendes Linienelement dL eines Flächenelementes dA
A = 2πRL L.
(8.48)
Die Mantelfäche eines rotationssymmetrischen Körpers ist gleich dem Pro-
dukt der erzeugenden Mantellinie L und dem Weg ihres Linienmittelpunk-
tes ML bei einer vollen Umdrehung.
Abb. 8.29. Zur Herleitung der 2. Regel von Pappus-Guldin: a) Meridianfläche A mit zugehörigem Mittelpunkt
MA , b) Volumen eines rotationssymmetrischen Körpers, erzeugende Meridianfläche A, Weg des Mittelpunktes
MA bei einer vollen Umdrehung, c) erzeugendes Flächenelement dA eines Volumenelementes dV
pers in Abb. 8.29.b. Der Mittelpunkt hat die z-Koordinate RA . Das gesamte Volumen wird in
Volumendifferenziale dV aufgeteilt. Abb. 8.29.c zeigt die Fläche dA und den Radius z eines
Volumendifferenzials (infinitesimaler Torus). Der Umfang ist 2πz und das Volumen hat die
Größe dV = 2πzdA. Das gesamte Volumen ist das Integral über die Meridianfläche A der
Erzeugenden (Meridianfläche):
V = 2πzdA = 2π zdA. (8.49)
A A
Durch Vertauschen der Koordinaten können wir aus Gl.(8.14) für den Flächenmittelpunkt
MA die Beziehung A zdA = zL A = RA A ableiten. Nach Einsetzen in Gl.(8.49) folgt
Die zweite Regel von Pappus-Guldin
V = 2πRA A.
(8.50)
Das Volumen eines rotationssymmetrischen Körpers ist gleich dem Produkt
der erzeugenden Mantelfläche A und dem Weg ihres Flächenmittelpunktes
MA bei einer vollen Umdrehung.
Für den Kegel in Abb. 8.30.a sind die Mantelfläche und das Volumen gesucht.
Bekannt: h, R.
a) b) c)
L A
h h ML
MA
R R/2 R/3
Abb. 8.30. Kegel a) Geometrie, b) Linie, c) Dreiecksfläche
220 8 Schwerpunkte
Vorüberlegungen: Die Berechnungen erfolgen nach den Regeln von Pappus-Guldin (8.47)
und (8.48).
Lösung: Abb. 8.30.b zeigt die Meridianlinie
√ mit dem Linienmittelpunkt ML . Mit den
Beziehungen RL = R/2 und L = R2 + h2 folgt aus der ersten Regel von Pappus-Guldin
(8.47) für die Mantelfläche
R 2
A = 2πRL L = 2π R + h2 = πR R2 + h2 .
2
In Abb. 8.30.c ist der Mittelpunkt MA der Meridianfläche A dargestellt. Mit den Beziehungen
RA = R/3 und A = Rh/2 folgt aus der zweiten Regel von Pappus-Guldin (8.48) für das
Volumen
R1 1
V = 2πRA A = 2π Rh = πR2 h.
32 3
1. die Oberfläche
2. das Volumen.
a
Bekannt: R = 2 m, h = 5 m, a =
1, 8 m.
8.8 Die zwei Regeln von Pappus-Guldin 221
Bekannt: a = 3 m, b = 2 m, h = R
a b
1, 8 m, R = 1, 5 m. R
Die Sicherstellung des Gleichgewichtes von Tragwerken ist eines der ältesten und nach wie
vor wichtigsten Herausforderungen im Ingenieurwesen. Dazu sind zwei Aufgaben zu bear-
beiten: 1. Untersuchung der statischen Bestimmtheit und 2. Berechnung der Lagerreaktionen.
Beide Aufgaben werden in diesem Kapitel für einteilige und mehrteilige Balkentragwerke in
der Ebene und im Raum behandelt.
Ein Bauteil, welches einen freien Raum überspannt oder frei in den Raum vorragt und dabei
zusätzlich Lasten aufnehmen kann, bezeichnen wir als Tragwerk. Allgegenwärtige Beispiele
dafür sind Auto- und Bahnbrücken, Dachkonstruktionen von Lager- und Sporthallen, der
Dachbinder eines Einfamilienhauses oder der einfache Träger eines Fenstersturzes. Weitere
Beispiele sind in Abb. 9.1 a) ein Dachbinder auf Mauerwerk als Balken, b) ein Bogenträger
und c) eine Platte als Balkon. Eine Einteilung von Tragwerken ist in Tabelle 9.1 vorgenom-
men.
a) b) c)
q
F
q q
Abb. 9.1. Beispiele für Tragwerke: a) Dachbinder auf Mauerwerk, b) Bogenträger, c) auskragende Platte. Oben:
reale Systeme, unten: statische Systeme mit idealisierter Belastung
Die Idealisierungen der realen Systeme zur Geometrie, den Lagerbindungen, den Zwi-
schenbindungen und der Belastung werden wie in den drei Beispielen in Abb. 9.1 in einem
statischen System dargestellt. Hierbei werden Stäbe, Balken, Bogen und Rahmen als Linien
sowie Lager und Zwischenlager mit den Symbolen nach Tabelle 2.1 und 2.3 gezeichnet. Die
(zweidimensionale) Balkonplatte in Abb. 9.1.c ist erheblich vereinfacht als (eindimensiona-
ler) Kragbalken mit Strecken- und Einzellast dargestellt.
a) b) c)
q F q F q F
Abb. 9.2. Drei Balken mit jeweils vier kinematischen Bindungen: a) und b) sind 1-fach statisch unbestimmte
Systeme, c) ist ein Ausnahmefall.
2. Statisch bestimmte Systeme: Für x = 0 sind Anzahl der Lagerreaktionen und Anzahl der
Gleichgewichtsbedingungen gleich. Die hinreichende Bedingung kann mit zwei Methoden
überprüft werden (vgl. auch Bemerkung 7.2.2): Mit der statischen Methode bringt man die
Gleichgewichtsbedingungen (5.25) oder (5.27) für die Strukturanlyse des Tragwerkes in die
Matrixform
Ax = b (9.3)
(vgl. Beispiel 5.9) und untersucht die Regularität der Systemmatrix A. Dies geschieht z.B.
durch Berechnung der Determinante det A: Ist diese gleich Null, liegt der Ausnahmefall
9.3 Einteilige Tragwerke in der Ebene 227
vor. Insbesondere für mehrteilige Tragwerke (siehe Abschnitt 9.4) ist dieses Vorgehen bei
vertretbarem Aufwand nur numerisch zu lösen. Bei der kinematischen Methode zeichnet
man mit den Regeln C in (7.12) einen Polplan und überprüft, ob ein Widerspruch gefunden
werden kann. Da nach Regel (7.26) statische und kinematische Bestimmtheit gleichwertig
sind, schreiben wir anstatt den Bedingungen (5.42):
Bedingungen für statische Bestimmtheit (9.4)
1. x = 0 2. Widerspruch im Polplan oder det A
= 0.
Für einteilige Tragwerke kann die statische Bestimmtheit mit der kinematischen Metho-
de sofort erkannt werden: Wir betrachten dazu in Abb. 9.3 zwei Rahmen mit jeweils zwei
Lagern: Das Lager A nimmt jeweils eine vertikale Kraft und ein Einspannmoment auf; das
Lager B nimmt im Fall a eine vertikale Kraft und im Fall b eine horizontale Kraft auf. Für
das Lager A liegt der Momentanpol nach Regel B7 in (7.10) jeweils auf einer Vertikalen
im Unendlichen. Zeichnet man nach Regel B4 in (7.10) jeweils für das Loslager B den ge-
ometrischen Ort GO(M ) ein, dann tritt für den Rahmen in Abb. 9.3.a kein Widerspruch für
einen Pol auf, so dass dieser verschieblich ist. Dagegen ergibt sich im Fall b ein Widerspruch
für einen möglichen Pol, so dass das System nach Regel (7.13) unverschieblich ist.
GO(M)
a) b) (M)
(M)
A A GO(M)
B
B
Abb. 9.3. Zwei Rahmen mit jeweils zwei Lagern: a) Polplan ohne Widerspruch für vertikales Loslager, c) Polplan
mit Widerspruch für horizontales Loslager
Aus diesen Beispielen und den ersten beiden Fällen in (5.41) erhalten wir die
Regeln zur statischen Bestimmtheit einteiliger Tragwerke
Ein einteiliges Tragwerk ist statisch bestimmt gelagert, wenn genau drei Lager-
reaktionen auftreten. Diese können sein (9.5)
1. drei Kräfte, die nicht alle parallel und nicht zentral sind, oder
2. zwei Kräfte und ein Moment, wobei die Kräfte nicht parallel sind.
3. Statisch unbrauchbare Systeme: Für x < 0 sind weniger Lagerreaktionen vorhanden als
für Gleichgewicht notwendig sind. Ein solches Tragwerk ist verschieblich und für beliebige
Belastungen statisch unbrauchbar.
228 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
Für einen Rahmen stehen wie in Abb. 9.4 dargestellt drei Bauweisen zur Auswahl. In
Bauweise 1 sind die Punkte A und B vertikal unverschieblich gelagert. In Bauweise 2 ist
der Punkt A horizontal und vertikal unverschieblich und der Punkt B vertikal unverschieblich
gelagert. In Bauweise 3 ist der Punkt A horizontal und vertikal unverschieblich und der Punkt
C mit einen Pendelstab horizontal gehalten. In dem Riegel greifen eine horizontale Kraft F
und ein Moment M̄ an.
a) Ermitteln Sie, welches System statisch bestimmt ist.
b) Bestimmen Sie für das statisch bestimmte System alle Auflagerkräfte.
_ 2l _ _ 2l
2l
M M M
F F F
2l 2l 2l
A A A C
l l l
B B
B
Vorüberlegungen: Zur Lösung der beiden Aufgaben werden die Schritte in Tabelle 9.2
abgearbeitet. Die Gleichgewichtsbedingungen werden so aufgestellt, dass jeweils eine un-
bekannte Lagerkraft direkt berechnet werden kann.
Lösungen:
1. Idealisierung: Aus der Aufgabenstellung ergeben sich mit den Lagersymbolen aus Tabelle 2.1
die in Abb. 9.4.b dargestellten statischen Systeme.
l l l l l l
GO(M)
2l 2l 2l
A (M) A (M) A C
B
C
l l l
GO(M)
B B B
2. Statische Bestimmtheit: Für den Grad der statischen Unbestimmtheit nach Gl.(9.1) erhält
man für alle drei Bauweisen folgende Werte:
Damit ist die notwendige Bedingung (9.4.1) für die Bauweisen 2 und 3 erfüllt, während
Bauweise 1 nach dem Kriterium (9.2.3) statisch unbrauchbar ist.
Die hinreichende Bedingung (9.4.2) wird mit dem Polplan in Abb. 9.4.b für die Bau-
weisen 2 und 3 untersucht: In beiden Fällen ist nach Regel B3 in (7.10) das Festlager A
ein möglicher Pol (M ). Nach Regel B4 ist eine Gerade senkrecht zur Verschiebungsrich-
tung am Loslager B ein geometrischer Ort GO(M ). Da für Bauweise 2 GO(M ) nicht
durch A verläuft, tritt ein Widerspruch im Polplan auf, d.h. das System ist unverschieb-
lich. Für Bauweise 3 verläuft GO(M ) durch A, so dass dieses System verschieblich ist.
Bemerkung: Das Ergebnis zur statischen Bestimmtheit für Bauweise 2 folgt auch aus
Regel (9.5.1).
Nur Bauweise 2 erfüllt also die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für stati-
sche Bestimmtheit, so dass für dieses System die Lagerreaktionen eindeutig berechnet
werden können. Damit ist Aufgabe a beantwortet.
→: AH + F = 0 =⇒ AH = −F
M̄
A: F 2l − B2l − M̄ = 0 =⇒ B=F−
2l
M̄
C: AV 2l − M̄ + F 2l = 0 =⇒ AV = − F.
2l
6. Kontrolle der Lösungen: Wir stellen das Kräftegleichgewicht in vertikaler Richtung auf:
M̄ M̄
↑: AV + B = −F +F − = 0.
2l 2l
Vorüberlegungen: Zur Lösung der Aufgaben a und b werden die Schritte in Tabelle 9.2
abgearbeitet. Für Aufgabe c bringen wir die Gleichgewichtsbedingungen aus Schritt 4 der
Tabelle 9.2 in die Form Ax = b. Diese Darstellung ist auch Grundlage der numerischen
Lösungen für die Aufgaben d und e.
Lösungen zu den Aufgaben a und b:
1. Idealisierung: Aus der Aufgabenstellung ergeben sich die in Abb. 9.6 dargestellten stati-
schen Systeme. Wir untersuchen die Winkel α = 0 und α
= 0.
2. Statische Bestimmtheit: Grundsätzlich kann die statische Bestimmtheit mit Gl.(9.1) durch
Überprüfung der notwendigen Bedingung (9.4.1) sowie den Polplänen in Abb. 9.6 unter-
sucht werden. Alternativ können wir die statische Bestimmtheit mit Regel (9.5.1) be-
gründen: Nur das System in Abb. 9.6.b erfüllt die Bedingung, drei Kräfte, die nicht alle
parallel und nicht zentral sind. Damit liegt für α = 0 der Ausnahmefall vor, womit Auf-
gabe a beantwortet ist.
9.3 Einteilige Tragwerke in der Ebene 231
a) b)
GO(M)C
(M)
(M)
Abb. 9.6. Statische Systeme und Polpläne: a) ohne Widerspruch für α = 0, b) mit Widerspruch für α = 0
3. Freischneiden und Freikörperbild: In dem Freikörperbild in Abb. 9.7 werden die äußeren
Lasten F , W sowie die Reaktionskräfte SA , SB , SC eingetragen. Die Kraft SC wird in
einen vertikalen und einen horizontalen Anteil zerlegt.
4. und 5. Gleichgewichtsbedingungen und deren Auflösung: Wir formulieren die Gleichge-
wichtsbedingungen (5.25) für das Freikörperbild in Abb. 9.7:
l F
→: −SC sin α + W = 0 (1) 2 S C sin α
W B
↑: SA +SB +SC cos α−F = 0 (2)
SB SC cosα SC
l S l l α
B : SA l + F − SC cos α l = 0. (3) A
2
Lösung zu Aufgabe c: Wir bringen die o.g. drei Gleichgewichtsbedingungen (1) bis (3) in
eine Matrixform:
⎡ ⎤⎡ ⎤ ⎡ ⎤
0 0 − sin α SA −W
⎢ ⎥⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎣ 1 1 cos α ⎦ ⎣ SB ⎦ = ⎣ F ⎦ =⇒ Ax = b.
l 0 −l cos α SC −F l/2
Für die Determinante der Systemmatrix berechnen wir nach Regel (D.5.2) det[A] = l sin α.
Sie verschwindet für α = 0 und führt - wie in den Aufgaben a und b bereits festgestellt - zum
Ausnahmefall der Statik.
232 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
a
2
β β β
B B B
a
2
A A A
b b b b
b 2 b
2 2
Aufgabe 9.6
(SG = 2, BZ = 10 min)
A mW=0 B
An einer masselosen Welle sind
drei Scheiben mit den Massen m2 m3
m1
m1 , m2 , m3 befestigt. In A ist
ein Festlager und in B ein Gleit- l l l l
lager angebracht. Berechnen Sie
die Auflagerkräfte.
Bekannt: m1 = 150 kg, m2 = 400 kg, m3 = 200 kg, l = 1 m, g = 10 m/s2 .
F3 F3 γ F3
γ
α C α C α C
a _ _ _
M M M
a
F2 F2 F2
F1 F1 F1
a
B
A A B A
a 2a a a 2a a a 2a a
a a a a a a
_ q _ q
M 0 a M 0
F F
a
α α
Bekannt: Eigengewicht (EG) der Dachhaut: gDa = 0, 5 kN/m2 . Das Eigengewicht von
Sparrenpfetten und Aussteifungsverband wird vereinfacht mit gSp = 0, 1 kN/m2 berück-
sichtigt. Belastung durch Schnee: s = 0, 7 kN/m2 (bezogen auf eine horizontale Fläche),
Eigengewicht Dachbinder: gB = 0, 15 kN/m.
Streckenlast je Dachbinder
q
Schnee
Gebäudequerschnitt Draufsicht
20,00 Aussteifungsverband
B
Dachhaut
β
8,00
A Sparrenpfette
Dachbinder
Dachbinder
_ _
l = 16,60 l = 16,60
236 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
Das statische Abzählkriterium (9.2) ist wie für einteilige Systeme anwendbar. Für x > 0 hat
das Tragwerk mehr Lager- und Zwischenreaktionen als wie Gleichgewichtsbedingungen ver-
fügbar sind und heißt x-fach statisch unbestimmt gelagert. Es müssen dann Lager entfernt
oder Gelenke hinzugefügt werden. Der Fall x = 0 stellt nur eine notwendige Bedingung
für statische Bestimmtheit dar. Als hinreichende Bedingung wird das Kriterium (9.4.2) -
Widerspruch im Polplan - oder - Regularität der Systemmatrix - überprüft. Für x < 0 ist das
Tragwerk statisch unbrauchbar, da weniger Lager- und Zwischenreaktionen auftreten als für
Gleichgewicht notwendig. Es müssen dann Lager hinzugefügt oder Gelenke entfernt werden.
Zur Untersuchung des Gleichgewichtes wird nach den Schritten in Tabelle 9.2 vorge-
gangen. Bei der Aufstellung der Gleichgewichtsbedingungen an den Teilkörpern wird der
Bezugspunkt in der Momentenbedingung (5.25.3) so gewählt, dass er von möglichst vielen
Wirkungslinien unbekannter Kräfte geschnitten wird. Häufig – jedoch nicht immer – ist somit
eine direkte Berechnung von unbekannten Kräften möglich. Im Einzelfall ist es günstig, nicht
das gesamte Tragwerk in Einzelkörper zu zerlegen, sondern die Gleichgewichtsbedingungen
an zusammengesetzten Teilkörpern aufzustellen.
a) b)
Abb. 9.8. Stahlkonstruktion für das Dach einer Parkgarage: a) Mehrteilige Stahlträger, b) Zwischenbindung
9.4 Mehrteilige Tragwerke 237
Beispiel 9.3 Drei Bauweisen für Rahmen mit zwei Lagern und einem Gelenk
Für einen Rahmen mit einem Zwischengelenk im Riegel stehen wie in Abb. 9.9 dargestellt
drei Bauweisen zur Auswahl. In Bauweise 1 ist der Punkt A horizontal und vertikal unver-
schieblich und der Punkt B vertikal unverschieblich gelagert. In Bauweise 2 ist der Punkt A
fest eingespannt, und der Punkt B ist vertikal unverschieblich gelagert. In Bauweise 3 ist der
Punkt A fest eingespannt, und der Punkt B ist mit einem Pendelstab gehalten. In dem Riegel
greifen eine horizontale Kraft F und ein Moment M̄ an.
a) Welches System ist statisch bestimmt gelagert?
b) Bestimmen Sie für das statisch bestimmte System alle Auflager- und Gelenkkräfte.
_ l l _ l l _ l l
M M M
F F
2l 2l 2l
A A A
l l l
B B B
Abb. 9.9. Drei Bauweisen für Rahmen mit zwei Lagern und einem Gelenk
Vorüberlegungen: Zur Lösung der Aufgaben a und b werden die Schritte in Tabelle 9.2
abgearbeitet. Die Gleichgewichtsbedingungen werden so aufgestellt, dass eine Unbekannte
Lagerkraft direkt berechnet werden kann.
Lösungen:
1. Statische Systeme: Aus der Aufgabenstellung ergeben sich mit den Lagersymbolen aus
Tabelle 2.1 und Tabelle 2.3 die in Abb. 9.9.b dargestellten statischen Systeme.
l l l l l l
GO(2)
(2) (2)
1 2 1 2 1 2
2l 2l 2l
GO(2)
A A A
l l l
B
B B
2. Statische Bestimmtheit: Für den Grad der statischen Bestimmtheit nach Gl.(9.6) erhält
man für alle drei Bauweisen folgende Werte:
Bauweise 1 Bauweise 2 Bauweise 3
x = r + z − 3n −1 0 0
Damit ist die notwendige Bedingung (9.4.1) x = 0 für die Bauweisen 2 und 3 erfüllt,
während Bauweise 1 nach dem Kriterium (9.2.3) statisch unbrauchbar ist.
Die hinreichende Bedingung (9.4.2) wird mit dem Polplan in Abb. 9.9.b für die Bau-
weisen 2 und 3 untersucht. In beiden Fällen ist Stab 1 wegen der Einspannung unver-
schieblich, so dass nach Regel B3 in (7.10) das Zwischengelenk der Pol (2) von Stab 2
ist. Nach Regel B4 ist eine Gerade senkrecht zur Verschiebungsrichtung am Lager B ein
geometrischer Ort GO(2). Da für Bauweise 2 GO(2) nicht durch (2) verläuft, tritt ein
Widerspruch im Polplan auf, d.h. das System ist unverschieblich. Für Bauweise 3 verläuft
GO(2) durch (2), d.h. es gibt keinen Widerspruch, und das System ist verschieblich. So-
mit erfüllt nur Bauweise 2 die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für statische
Bestimmtheit, so dass für dieses System die Lagerreaktionen eindeutig berechnet werden
können. Damit ist Aufgabe a beantwortet.
3. Freischneiden und Freikörperbild: Wir tren-
_ l l
nen bei dem Rahmen nach Bauweise 2 die
M GV
Teilkörper 1 und 2, entfernen die Lager und F
zeichnen in Abb. 9.9.c das Freikörperbild. GH GH G
Zusätzlich zu den äußeren Lasten, der Kraft GV
F und dem Moment M̄ , werden durch einen 2l
1 2
Freischnitt die Lager- und Gelenkkräfte sicht-
bar gemacht. Für das dreiwertige Lager A set- A
zen wir die zwei Kräfte AH , AV und das Mo- AH MA
l
ment MA an. An dem zweiwertigen Gelenk AV
wählen wir an einem der Teilkörper die bei- B
den Gelenkkräfte GH und GV . Wegen des B
Wechselwirkungsgesetzes (3.6) sind sie an
dem gegenüberliegenden Schnittufer entge- Abb. 9.9.c Freikörperbild
gengesetzt gleich groß. Im Loslager B wird für Bauweise 2
eine vertikale Kraft B angesetzt.
5. und 6. Gleichgewichtsbedingungen und Auflösung der Gleichungen: Formuliert man die
Gleichgewichtsbedingungen (5.25) an dem Teilkörper 2 mit dem Bezugspunkt G für eine
Momentenbedingung, so erhält man direkt die unbekannten Kräfte GV , GH , B:
→: −GH + F = 0 =⇒ GH = F
G: Bl = 0 =⇒ B=0
↑: B + GV = 0 =⇒ GV = 0.
9.4 Mehrteilige Tragwerke 239
9.4.2 Dreigelenkbogen
Häufig soll bei der Überspannung mit einem Tragwerk auch in der Höhe ein möglichst
großer Freiraum zur Verfügung stehen. Dazu wird das Tragwerk, wie z.B. die Eissporthalle
in Abb. 9.10, als Bogenträger ausgebildet.
a) b)
Wird ein Bogenträger wie in Abb. 9.11.a mit einem Festlager und einem Loslager ausge-
führt, kann es auf Grund des tatsächlichen Verformungsverhaltens des Bogens zu unzuläs-
sigen Verschiebungen des Loslagers kommen. Ersetzen wir das einwertige Lager durch ein
zweiwertiges Lager wie in Abb. 9.11.b, erhält man wegen r = 2 + 2 = 4 für den Grad der
statischen Unbestimmtheit nach Gl.(9.1) den Wert x = r − 3 = 4 − 3 = 1, d.h. das System ist
einfach statisch unbestimmt. Wir können die statische Bestimmtheit wiederherstellen, wenn
240 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
a) b) c)
F F F
F
1 G
2
(1,2)
Deformation Deformation
Deformation
(1) (2)
wie in Abb. 9.11.c in dem oberen Punkt ein Gelenk G angebracht wird. Das so entstandene
Tragwerk mit n = 2 Teilkörpern und drei Gelenken wird als Dreigelenkbogen bezeichnet.
Für den Grad der statischen Unbestimmtheit in Gl.(9.6) ergibt sich jetzt mit r = 2 + 2 für
die Anzahl der Auflagerreaktionen und z = 2 für die Anzahl der Zwischenreaktionen (vgl.
Tabelle 2.3) der Wert x = r+z−3·n = 4+2−3·2 = 0. Damit ist die notwendige Bedingung
(9.4.1) erfüllt. Da der Zwischenpol (1, 2) nicht auf der Verbindungsgeraden der Pole (1) und
(2) liegt, gibt es einen Widerspruch zu der Regel C2 in (7.12), so dass auch die hinreichende
Bedingung (9.4.2) für statische Bestimmtheit erfüllt ist. Aus diesen Überlegungen folgt die
a) b)
1 2 2
1
Die beiden Tragwerke in Abb. 9.12 bestehen, wie beim Dreigelenkbogen in Abb. 9.11.c,
aus zwei Teilkörpern mit zwei Festlagern und einem Zwischengelenk. Obwohl sie nicht die
Form eines Bogens haben, bezeichnet man sie gelegentlich als Dreigelenkbogen. Für beide
Tragwerke ist somit auch Regel (9.7) anwendbar.
Für die Berechnung der vier Lagerkräfte und der zwei Gelenkkräfte eines Dreigelenkbo-
gens ist die Formulierung der Gleichgewichtsbedingungen an den Teilsystemen nicht immer
von Vorteil, da dann die Gleichungen jeweils mehr als eine Unbekannte enthalten. Gelingt es
stattdessen einen Bezugspunkt für Momentengleichgewicht am Gesamtsystem zu finden, der
im Schnittpunkt der Wirkungslinien von drei Auflagerkräften liegt, dann wird die vierte un-
bekannte Kraft direkt berechnet. Die zwei Gelenkkräfte werden anschließend durch Gleich-
gewicht an den Teilsystemen ebenfalls direkt erhalten.
9.4 Mehrteilige Tragwerke 241
Mit der bekannten Kraft BV wird eine Momentengleichung am Teilsystem 2 mit dem Be-
zugspunkt G zur Bestimmung von BH aufgestellt. Mit den Bedingungen für Kräftegleichge-
wicht in horizontaler und vertikaler Richtung erhält man die Gelenkkräfte GH und GV :
F̄ qR
G: BV R − BH R = 0 =⇒ BH = BV = √ =
2 2 2
F̄ qR
←: GH + BH = 0 =⇒ GH = −BH = − √ = −
2 2 2
F̄ qR
↑: GV + BV = 0 =⇒ GV = −BV = − √ = − .
2 2 2
242 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
F̄ F̄ F̄ qR
→: AH − BH + √ = 0 =⇒ AH = BH − √ = − √ = − .
2 2 2 2 2
Wir betrachten in Abb. 9.15.a einen Balken mit einem Fest- und einem Loslager. Bei einer
vergleichsweise großen Spannweite kann es auf Grund des tatsächlichen Verformungsverhal-
tens des Balkens zu einer unzulässig großen Durchbiegung zwischen den Lagern kommen.
Es wird daher wie in Abb. 9.15.b eine weitere einwertige Stützung zwischen den Randlagern
angebracht. Mit r = 2 + 1 + 1 = 4 für die Anzahl aller Reaktionen erhält man jetzt für den
Grad der statischen Unbestimmtheit nach Gl.(9.1) den Wert x = r − 3 = 4 − 3 = 1, d.h. das
System ist einfach statisch unbestimmt.
a) b) c)
GO(2) 1 GO(2)2
q q q
(1) 1
Deformation
(1,2) 2
a) b)
Abb. 9.16. Ausführungen für Zwischengelenke: a) mit einem Knotenblech zwischen den Stützen b) als Kipplager
auf einer Zwischenstütze
9.4 Mehrteilige Tragwerke 243
Wir können die statische Bestimmtheit wiederherstellen, wenn wie in Abb. 9.15.c an einer
beliebigen Stelle ein Gelenk angebracht wird. In Abb. 9.16.a ist eine mögliche Konstruktion
für eine gelenkige Ausführung mit einem Knotenblech dargestellt. Abb. 9.16.b zeigt, wie
das zusätzliche Gelenk als Kipplager auf einer Zwischenstütze ausgeführt wird. Das so ent-
standene Tragwerk mit n = 2 Teilkörpern und drei Gelenken wird als Gelenkbalken oder
Gerber-Träger (nach Heinrich Gottfried Gerber, 1832 - 1912) bezeichnet. Für den Grad der
statischen Unbestimmtheit nach Gl.(9.6) erhält man mit r = 2 + 1 + 1 für die Anzahl der
Lagerreaktionen, z = 2 für die Anzahl der Zwischenreaktionen und n = 2 für die Anzahl der
Teilkörper den Wert x = 4 + 2 − 2 · 3 = 0, d.h. die notwendige Bedingung (9.4.1) ist er-
füllt. Da der Zwischenpol (1, 2) nicht auf der Verbindungsgeraden der geometrischen Orte
GO(2)1 und GO(2)2 liegt, gibt es einen Widerspruch zu der Regel C2 in (7.12), so dass auch
die hinreichende Bedingung (9.4.2) für statische und kinematische Bestimmtheit erfüllt ist.
a) b)
F F
q q (3) 3
1 3
2 1 2
verschieblich
Der Gelenkbalken kann wie in Abb. 9.17 auch über mehr als zwei Felder ausgeführt wer-
den. Man bezeichnet ein derartiges Tragwerk als Durchlaufträger. Ist g die Anzahl der Ge-
lenke, so wird dieser in n = g + 1 Teilsysteme (Balken) zerlegt. Da jedes Gelenk zwei
Zwischenreaktionen überträgt, ist die Anzahl der gesamten Zwischenreaktionen z = 2g.
Mit dem Grad der statischen Unbestimmtheit für mehrteilige Tragwerke in Gl.(9.6) und der
Bedingung x = 0 kann die Anzahl der Gelenke berechnet werden:
1. x = r + z − 3n = r + 2g − 3(g + 1) = 0 =⇒ 2. g = r − 3. (9.8)
Der Durchlaufträger in Abb. 9.17.a hat wegen eines zweiwertigen und drei einwertigen
Lagern r = 2 + 3 = 5 kinematische Bindungen. Damit benötigt man nach Gl.(9.8.2)
g = 5 − 3 = 2 Gelenke. Abb. 9.17.b veranschaulicht, dass mit den Gleichungen (9.8) nur
die notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit berücksichtigt wird. Für den Balken 3
kann sofort der Momentanpol (3) ohne Widerspruch angegeben werden, so dass dieser Teil
des Tragwerkes verschieblich ist, d.h. es liegt der Ausnahmefall der Statik vor.
Eine allgemein gültige Regel für kinematische Bestimmtheit, wie Regel (9.7) für Dreige-
lenkbogen, kann für Gelenkbalken nicht angegeben werden, so dass die kinematische Be-
stimmtheit im Einzelfall überprüft werden muss.
Bei der Berechnung der Lager- und Gelenkkräfte eines Gelenkbalkens ist wie beim
Dreigelenkbogen nicht immer die Formulierung der Gleichgewichtsbedingungen an allen
Teilsystemen von Vorteil, da dann die Gleichungen jeweils mehrere Unbekannte enthalten.
Im Einzelfall führt stattdessen das Aufstellen von Gleichgewicht am Gesamtsystem oder an
zusammengesetzten Teilsystemen schneller zum Ziel.
244 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
b) Bestimmen Sie für beliebige Winkel α die Auflager- und Zwischenreaktionen. Werten
Sie die Ergebnisse für l = 1 m, F = 3 kN, q = 2 kN/m, α = 0o aus.
c) Berechnen Sie die Auflager- und Zwischenreaktionen mit einer numerischen Methode
für die Zahlwerte in Aufgabe b.
Vorüberlegungen: Zur Lösung der Aufgaben a und b werden die Schritte in Tabelle 9.2
abgearbeitet. Für die numerische Lösung in Aufgabe c bringen wir die Gleichgewichtsbedin-
gungen aus Aufgabe b in die Form Ax = b.
Lösungen zu den Aufgaben a und b:
1. Idealisierung: Aus der Aufgabenstellung ergeben sich die in Abb. 9.19 dargestellten sta-
tischen Systeme. Wir untersuchen die Winkel α = 90o und α
= 90o .
2. Statische Bestimmtheit: Mit r = 4 für die Anzahl der unbekannten Stabkräfte und z = 2
für die Anzahl der Zwischenreaktionen ist der Grad der statischen Unbestimmtheit nach
Gl.(9.6) in beiden Fällen x = 3n−(r +z) = 3·2−(4+2) = 0. Damit ist die notwendige
Bedingung (9.4.1) für statische Bestimmtheit für beliebige Winkel α erfüllt.
Die hinreichende Bedingung (9.4.2) wird in Abb. 9.19 im Fall a für α = 90 und im
Fall b für α
= 90o mit dem Polplan überprüft. Für das System a lässt sich der Polplan und
damit eine Verschiebungsfigur ohne Widerspruch zeichnen, was für das System b nicht
möglich ist. Nach Regel (7.26) ist das System a damit statisch unbrauchbar, und es liegt
der Ausnahmefall vor. Das System b ist unverschieblich und somit statisch bestimmt.
Damit ist Aufgabe a beantwortet.
a) b)
GO(1)1
GO(1)1 (1) (2) (2)
1 2 α 1 2
(1,2) (1,2)
GO(1)2 GO(2)1 GO(2) 2 GO(2) 1 GO(2) 2
GO(1) 2
Abb. 9.19. Statische Systeme und Polpläne a) ohne Widerspruch für α = 90, b) mit Widerspruch für α = 90o
9.4 Mehrteilige Tragwerke 245
3. Freischneiden und Freikörperbild: Wir erstellen in Abb. 9.20 ein Freikörperbild für a)
das gesamte System und b) beide Teilsysteme. Es werden die äußeren Lasten F und
die Resultierende R=ql der Streckenlast q sowie die Reaktionskräfte A, Ā, B und C
eingetragen. Die Kraft Ā wird in einen vertikalen und einen horizontalen Anteil zerlegt.
Weiter werden die Gelenkkräfte GH und GV berücksichtigt.
4. und 5. Gleichgewichtsbedingungen und deren Auflösung: Wir beginnen mit einer Gleich-
gewichtsbedingung für horizontale Kräfte am Gesamtsystem
F
→: Ā cos α + F = 0 =⇒ Ā = −
. (1)
cos α
Mit der bekannten Kraft Ā wird Gleichgewicht am Balken 1 aufgestellt:
→: Ā cos α + GH = 0 =⇒ GH = −Ā cos α = F
l F
A: GV l + F = 0 =⇒ GV = − (2)
2 2 " #
↑: AV − Ā sin α − GV + F = 0 =⇒ AV = Ā sin α+GV −F = −F tan α+ 23 .
Mit diesen Ergebnissen werden am Balken 2 eine Momentengleichung mit dem Bezugspunkt
B und eine Kräftebedingung in vertikaler Richtung formuliert:
l 1 l F ql
B : GV l − ql − Cl = 0 =⇒ C = GV l − ql =− −
2 l 2 2 2 (3)
3ql
↑: GV − ql + B + C = 0 =⇒ B = ql − GV − C = F + .
2
Für die Zahlwerte l= 1 m, F = 3 kN, q = 2 kN/m, α = 0o erhält man folgende Kräfte:
Ā = −3, 0 N, AV = −4, 5 N, B = 6, 0 N, C = −2, 50 N, GH = 3, 0 N, GV − 1, 5 N.
Für α = 90o existiert für Ā in (1) wegen cos 90o = 0 keine Lösung. Wie bereits in
Aufgabe a festgestellt, liegt für α = 90 der Ausnahmefall der Statik vor.
_ R=ql q
a) A sinα l
_ 2 F
A
α A B 2 C F
_
A cos α 1
AV B C
l l l
_
b) A sin α l R=ql q
_ 2 F
A
α 1 GH GH 2 F
_
A cos α GV GV
AV B C
l l l
Lösung zu Aufgabe c: Für die numerische Lösung bringen wir die sechs Gleichgewichts-
bedingungen in (1), (2) und (3) in die Matrixform Ax = b. Anschließend werden mit den
gegebenen Zahlwerten für l, α, F und q die Matrizen A und b initialisiert:
alpha = 0, alpha = alpha*pi/180, ca = cos(alpha), sa = sin(alpha);
F = 3; q = 2; l = 1;
Amat = [ ca 0 0 0 0 0 ;
ca 0 0 0 1 0 ;
0 0 0 0 0 l ;
-sa 1 0 0 0 -1 ;
0 0 0 -l 0 l ;
0 0 1 1 0 1 ];
bmat = [-F; 0; -F*l/2; -F; q*l*l/2; q*l];
Mit dem Befehl detA = det(Amat) überprüfen wir zunächst die Determinante. Man erhält
detA = -1, d.h. die Matrix ist regulär. Der Befehl xmat = inv(Amat)*bmat liefert
xmat = -3.0000 -4.5000 6.0000 -2.5000 3.0000 -1.5000
Die numerische Lösung liefert also die gleichen Ergebnisse für Ā, AV , B, C, GH , GV wie in
Aufgabe b. Der Leser überprüfe die Determinante der Systemmatrix für den Fall α = 90o .
_ _ F
F M q
M q C
A C A
B G B G
l l 2l 2l l l 3l
2l 2l 3l
a) F2 b) F2 c) F2
D D
C α α C α
C _ _
_ M M
l M l l
F1 F1 F1
β 2 β 2 β 2
B B B
1 1 1
l γ l l
A A A
l l l l l l
2 2 2 2 2 2
248 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
a) 2 b) 2 g
C g C
1 m 1
2l _ 2l m
_
M M
B B
l l β
A β A
γ
3l 2l 3l 2l
c) d)
2 g 2 g
C C
1 m 1
_ m
2l 2l
_ B M
M B
A
l β l A β
3l 2l 3l 2l
9.4 Mehrteilige Tragwerke 249
Bekannt: Eigengewicht (EG) der Dachhaut: gDa = 0, 5 kN/m2 . Das Eigengewicht von
Sparrenpfetten und Aussteifungsverband wird vereinfacht mit gSp = 0, 1 kN/m2 berück-
sichtigt. Belastung durch Schnee: s = 0, 7 kN/m2 , bezogen auf die horizontale Fläche.
Eigengewicht Dachbinder: gB = 0, 15 kN/m. Der Abstand der Dachbinder beträgt 8, 00 m
(vgl. Beispiel 2.2).
Streckenlast je Dachbinder
_ _
q q
Schnee
C
Gebäudequerschnitt
20,00 20,00
Nagelplatte
Dachhaut
A B
Sparrenpfette Zugpfette
Dachbinder
_ _
l = 16,60 l = 16,60
250 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
Damit kann das statische Abzählkriterium (9.2) wie im ebenen Fall verwendet werden. Für
x > 0 ist das Tragwerk also x-fach statisch unbestimmt gelagert.
Für x = 0 überprüft man die statische Bestimmtheit mit den Bedingungen (9.4). Da
der Vorteil der Anschaulichkeit der kinematischen Methode für räumliche Tragwerke im
Allgemeinen verloren geht, sollte man zunächst untersuchen, ob die sechs Wirkungslinien
der Lagerkräfte mit einem der Ausnahmefälle in (6.41) übereinstimmen. Nach Bemerkung
6.8.1 ist die Aufzählung in (6.41) jedoch nicht vollständig, so dass ggf. die Regulariät der
Matrix A nach Aufstellung der Gleichgewichtsbedingungen untersucht werden muss.
In den Momentengleichungen zur Berechnung der Lagerreaktionen werden die Bezugs-
achsen so gewählt, dass möglichst viele Wirkungslinien von unbekannten Kräften diese
schneiden oder parallel zu ihnen verlaufen, vgl. die Regeln (6.29). Häufig gelingt so eine
direkte Ermittlung der Unbekannten, jedoch ist das nicht immer möglich. Die polaren Mo-
mente in den Momentenbedingungen (6.39.4-6) sollten nicht als Kreuzprodukt r × F be-
stimmt werden. Wie das Beispiel 6.7 zeigt, sind die Berechnungen als axiale Momente bzgl.
der Koordinatenachsen nach den Regeln (6.30) im Allgemeinen deutlich im Vorteil. In der
praktischen Berechnung kann nach den Lösungsschritten in Tabelle 9.2 vorgegangen werden.
Für x < 0 sind weniger Lagerreaktionen vorhanden, als für Gleichgewicht notwendig
sind, so dass ein solches System statisch unbrauchbar ist.
Der räumliche Kragarm in Abb. 9.21 ist im Punkt A eingespannt gelagert und im Punkt B
durch eine Kraft F wie dargestellt belastet.
a) Untersuchen Sie die statische Bestimmt-
heit des Systems. F y A
b) Berechnen Sie alle Lagerreaktionen im B x z
Punkt A.
c) Lösen Sie Aufgabe b mit einer numeri- x y
b a
schen Methode.
z
Bekannt: a = 3 m, b = 2 m, F = 3 N.
Abb. 9.21. Kragarm mit zwei Bereichen
9.5 Einteilige Tragwerke im Raum 251
Vorüberlegungen: Zur Lösung der Aufgaben a und b werden die Schritte in Tabelle 9.2
abgearbeitet. Für die numerische Lösung in Aufgabe c bringen wir die Gleichgewichtsbedin-
gungen aus Aufgabe b in die Form Ax = b.
Lösungen zu den Aufgaben a und b:
1. Idealisierung: Das statische System ist bereits in der Aufgabenstellung gegeben.
2. Statische Bestimmtheit: Auf Grund der Einspannung hat das Lager A die Wertigkeit r =
6, so dass der Grad der statischen Unbestimmtheit nach Gl.(9.9) den Wert x = r − 6 =
6 − 6 = 0 hat. Damit ist die notwendige Bedingung (9.4.1) für statische und kinema-
tische Bestimmtheit erfüllt. Die Erfüllung der hinreichenden Bedingung (9.4.2) kann
anschaulich damit erklärt werden, dass die Einspannung des als starr angenommenen
einteiligen Körpers alle sechs Freiheitsgrade behindert. Damit ist die Aufgabe a gelöst.
3. Freischneiden und Freikörperbild: In dem Freikörperbild in Abb. 9.21.b werden die
äußere Last F und alle sechs Lagerreaktionen, drei Kräfte Ax , Ay , Az und drei Momente
MT , My , Mz jeweils in den Koordinatenrichtungen eingetragen.
4. und 5. Gleichgewichtsbedingungen und deren Auflösung: Aus den Gleichgewichtsbedin-
gungen (6.39) für das Gesamtsystem erhält man:
Fix = 0 : Ax = 0 =⇒ Ax = 0
i Mz
i Fiy = 0 : Ay = 0 =⇒ Ay = 0
Az MT
i Fiz = 0 : Az − F = 0 =⇒ Az = F F N
y A
(A) Ay
i M ix = 0 : M T − F b = 0 =⇒ M T = F b B x z
My
(A)
i Miy = 0 : My + F a = 0 =⇒ My = −F a y
x a
(A) b
i M iz = 0 : M z = 0 =⇒ M z = 0.
z
Lösung zu Aufgabe c: Für die numerische Lösung bringen wir die sechs Gleichgewichts-
bedingungen aus Aufgabe b in eine Matrixform Ax = b. Anschließend werden mit den
gegebenen Zahlwerten für a, b und F die Matrizen A und b initialisiert:
252 9 Gleichgewicht von Balkentragwerken
F = 3; a = 3; b = 2;
Amat = [ 1 0 0 0 0 0 ;
0 1 0 0 0 0 ;
0 0 1 0 0 0 ;
0 0 0 1 0 0 ;
0 0 0 0 1 0 ;
0 0 0 0 0 1 ];
bmat = [ 0; 0; F; F*a; - F*b ; 0 ];
Mit dem Befehl detA = det(Amat) überprüfen wir zunächst die Determinante. Man erhält:
detA = 1, d.h. die Matrix ist regulär. Der Befehl xmat = inv(Amat)*bmat liefert
xmat = 0.0000 0.0000 3.0000 6.0000 -9.0000 0.0000
Man erhält also die gleichen Ergebnisse wie für Ax , Ay , Az , MT , My , Mz in Aufgabe b.
F3 C F1
Aufgabe 9.20 (SG = 1, BZ = 20 min) y
x l F2
Ein drei-dimensionaler Rahmen ist wie 2l
z l
dargestellt belastet. Bestimmen Sie die Auf-
lagerreaktionen in den Punkten A, B und C. M
l l
Aufgabe 9.23 a
(SG = 2, BZ = 20 min) F1
y
Ein Rahmen wird durch zwei x C
Kräfte und eine Streckenlast z
D
beansprucht. Die Kraft F2 liegt
in der x, y-Ebene und greift 3a
unter einem Winkel von 45o zum q
Rahmen an. Bestimmen Sie die F2
A α
Auflagerreaktionen in den Punk-
ten A, B, C und D. a B
Bekannt: q = 2, 5 kN/m, F1 = 2
11 kN, F2 = 3 kN, q =
2, 5 kN/m, a = 2 m, α = 45o .
Aufgabe 9.24
(SG = 2, BZ = 20 min) B
F2 y
Der dargestellte Rahmen ist x
c
durch mehrere Kräfte und Mo- M F1
z
mente belastet. Bestimmen Sie b/2
die Auflagerreaktionen. F4 C
a/2
Bekannt: F 1 = [100, 50, 20]T N, A
F2 = 400 N, F3 = 200 N, F4 = F3 b
500 N, M̄ = 2000 Nm, a = 2b
a D
= 3c = 12 m.
Konstruktion
c Expo Engineering, Oelde
Spannender Höhepunkt während der Fußball-Weltmeisterschaft im Jahre 2006 in Deutschland war in den WM-
Austragungsorten Gelsenkirchen, Dortmund und Köln neben den Spielen das künstlerisch-artistische Projekt
"kicks & balances". Dazu wurde ein Fußball als Fachwerk mit Aluminium-Gitterträgern konstruiert. Der 10 m
im Durchmesser messende Ball auf einem 2, 5 m Stahlsockel, der gleichermaßen Weltkugel und Fußball sym-
bolisiert, wirkte transparent und offen. Er sollte leicht und schnell zu montieren sein, um die Belastungen von 8
Seilakrobaten ertragen können.
Die Grundlage einer realen Konstruktion im modernen Ingenieurwesen ist, wie in der unteren Abbildung, ein
CAD-Modell (Computer-Aided-Design). Damit können besondere Herausforderungen an die Montage bereits
am Computer gelöst werden. CAD-Modelle bieten auch die Möglichkeit der Kombination mit weiteren Pro-
grammen für statische Berechnungen, die mit numerischen Methoden durchgeführt werden.
10
Gleichgewicht von Fachwerken
Nach einer Übersicht über mögliche Bauarten von Fachwerken werden die notwendige und
die hinreichende Bedingung für statische Bestimmtheit behandelt. Es wird gezeigt, wie diese
Bedingungen mit den drei Bildungsgesetzen überprüft werden können. Anschließend werden
zwei Methoden zur Ermittlung der Stabkräfte – das Knotenpunktverfahren und das Ritter-
sche Schnittverfahren – behandelt. Beim Knotenpunktverfahren unterscheiden wir zusätzlich
drei Möglichkeiten: die zeichnerische, die rechnerische und die numerische Lösung. Die Pro-
grammierung mit dem Computerprogramm MATLAB verdeutlicht die Effizienz numerischer
Methoden, die im heutigen Ingenieuralltag unverzichtbar sind.
Als Fachwerk bezeichnet man ein aus Stäben zusammengesetztes Bauteil, wobei die Stäbe
an ihren Enden gelenkig verbunden sind, vgl. Tabelle 3.1. Der Begriff Fachwerk lässt sich
auf die Aufteilung der Struktur in „Fächer” zurückführen. Werden Fachwerke, wie die
Tragwerke in Kapitel 9, zur Überspannung von Räumen bei gleichzeitiger Aufnahme von
Lasten eingesetzt, so spricht man auch von Fachwerkträgern oder Fachwerkbalken. We-
gen ihrer Wirtschaftlichkeit werden sie bei grossen Spannweiten vor allem im Brückenbau
oder im Gebäudebau eingesetzt. Zwei Beispiele in Abb. 10.1 sind eine Eisenbahnbrücke in
Stahlbauweise und ein Dachbinder in Holzbauweise. Weitere Anwendungen von Fachwerken
findet man z.B. bei Gerüsten, Kränen, Industrie- und Sporthallen oder Strommasten.
Wie in Abb. 10.2 dargestellt unterteilt man die einzelnen Stäbe eines Fachwerks in:
1. Äußere Gurtstäbe (kurz: Gurte): Sie bilden die äußere Berandung eines Fachwerks und
werden als Obergurtstäbe bezeichnet, wenn sie an der Fachwerkoberseite verlaufen und
als Untergurtstäbe, wenn sie an der Fachwerkunterseite liegen.
2. Innere Füllstäbe (kurz: Knoten Obergurt
Füllstäbe): Sie verlaufen
zwischen den Gurten.
Geneigte Füllstäbe nennt Ständer
Pfosten
man Diagonalen, Streben
oder Schrägen. Senkrechte
Füllstäbe nennt man auch
Vertikale, Steher, Ständer
oder bei Holzfachwerken Untergurt Diagonale / Strebe
Pfosten. Abb. 10.2. Unterteilung eines Fachwerkes
Die Stellen, an denen zwei oder mehrere Stäbe zusammenstoßen, bezeichnet man als Knoten
des Fachwerks. Bei einem Raumfachwerk haben die Stäbe beliebige Richtungen im Raum.
Liegen alle Stäbe in einer Ebene, so spricht man von einem ebenen Fachwerk. In diesem
Kapitel werden räumliche Fachwerke nur am Rande behandelt. Je nachdem welches Merk-
mal zu Grunde gelegt wird, unterscheidet man verschiedene Bauausführungen [9]:
Merkmal Ausfachung: Für die Ausfachung des durch Ober- und Untergurte gegebenen
Umrisses sind in Abb. 10.3 neun verschiedene Möglichkeiten dargestellt.
Merkmal Trägerform: In Abb. 10.4 werden sechs verschiedene Fachwerke nach der Trä-
gerform unterschieden.
10.1 Grundlagen und Einteilungen 257
Merkmal Ausführungen für Dachbinder: In Abb. 10.6 sind sechs verschiedene Bauaus-
führungen für Dachbinder dargestellt.
Bemerkungen 10.1
1. Die Bezeichnung Stabachse in der Idealisierung (10.1.2) bezieht sich auf die Verbin-
dungslinie sämtlicher Querschnittsschwerpunkte eines Stabes.
2. Die Annahmen für das ideale Fachwerk weichen häufig beträchtlich von den Gegeben-
heiten für das reale Fachwerk ab. Beipielsweise werden wie in Abb. 10.7 dargestellt die
Knoten bei Stahlfachwerken mit Knotenblechen oder bei Holzfachwerken mit Nagelplat-
ten ausgeführt. Außerdem laufen die Gurte aus konstruktiven Gründen häufig ohne Un-
terbrechung durch. Damit treten in den Stäben eines realen Fachwerkes Biegemomente
auf. Es kann jedoch gezeigt werden, dass die dadurch hervorgerufenen Beanspruchungen
im Allgemeinen klein gegenüber denen der Normalkräfte sind.
Abb. 10.7. Reale Fachwerke mit a) Knotenblech bei Stahlfachwerk, b) Nagelbrett bei Holzfachwerk
d.h. auch die Querkräfte QI und QII verschwinden. Damit verbleiben nur die Kräfte NI und
NII . Wir bilden die Summe aller Kräfte in Stabrichtung:
: NI − NII = 0 =⇒ NI = NII = S.
Somit erhält man an den Schnittstellen nur eine im Allgemeinen von Null verschiedene
Normalkraft, während Biegemoment und Querkraft gleich Null sind. Die Größe dieser Nor-
malkraft ist unabhängig von der Lage der Schnittstelle und wird Stabkraft S genannt. Weist
die Stabkraft von den Schnittufern weg, ist sie eine Zugkraft, andernfalls eine Druckkraft.
Zusammenfassend ergeben sich folgende
Wir bemerken noch, dass Stäbe mit der Eigenschaft nach Regel (10.2.2) auch als Pendelstäbe
bezeichnet werden und dass Regel (10.2.3) eine direkte Folge der Idealisierung (10.1.2) - die
Stabachsen schneiden sich in den Knotenpunkten - ist.
per, bzw. alle Stäbe, untersucht werden. Sind alle Stäbe im Gleichgewicht, dann ist das
Gesamtsystem im Gleichgewicht. Auch der Grad der statischen Bestimmtheit kann mit einer
körperweisen Betrachtung untersucht werden, was z.B. nach Gl.(9.6) geschieht.
Da bei Fachwerken auf Grund der Regeln (10.2) Querkräfte und Momente nicht auftreten
und die Richtungen der Stabkräfte somit bekannt sind, führt eine Betrachtung aller Knoten
mit den Methoden aus Kapitel 4 bzw. Abschnitt 6.2 für zentrale Kraftsysteme im Allge-
meinen schneller zum Ziel. Sind alle Knoten im Gleichgewicht, dann ist auch das Gesamt-
system im Gleichgewicht. Mit einer knotenweisen Betrachtung ist auch die Untersuchung der
statischen Bestimmtheit effizienter als mit einer körperweisen Betrachtung.
Im Folgenden kennzeichnet r die Anzahl aller
Auflagerreaktionen und s die Anzahl aller Stabkräfte S1 S2
eines Fachwerkes. An dem Fachwerkknoten in
Abb. 10.10 greifen r = 2 Auflagerreaktionen und s = AH
2 Stabkräfte an. Zu deren Berechnung hat man beim
ebenen Fachwerk für jeden Knoten k zwei Gleichge-
wichtsbedingungen von der Form (4.22) zur Verfü- AV
gung. Für das räumliche Fachwerk gelten die Gle-
ichungen (6.11). Vergleichbar zu Gl.(9.1) und dem Abb. 10.10. Auflagerreaktionen und
Kriterium (9.2) formulieren wir den Stabkräfte an einem Fachwerkknoten
und
Bemerkungen 10.2
1. Für x > 0 in Gl.(10.4.1) hat das Fachwerk mehr Stabkräfte und Lagerreaktionen als
Gleichgewichtsbedingungen zur Verfügung stehen. Die unbekannten Kräfte können dann
allein mit den Methoden der Starrkörperstatik nicht berechnet werden, sondern erfordern
Methoden der Elastostatik.
2. Für x = 0 in Gl.(10.4.2) hat das Fachwerk genauso viele Stabkräfte und Lagerreaktionen
wie Gleichgewichtsbedingungen zur Verfügung stehen. Jedoch ist Gl.(10.4.2) nur eine
notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit. Der Ausnahmefall wird damit nicht
ausgeschlossen, d.h.: Formales Abzählen genügt nicht! Zur Untersuchung einer hinrei-
chenden Bedingung stehen wahlweise zwei Hilfsmittel zur Verfügung: 1. der Polplan
10.3 Statische Bestimmtheit von Fachwerken 261
und 2. die Systemmatrix A, vgl. Regel (7.26) für den Starrkörper. Zusammenfasssend
lauten die notwendige und die hinreichende Bedingung für statische Bestimmtheit für
das ebene bzw. das räumliche Fachwerk
1. x = 0 2. det A
= 0 oder Widerspruch im Polplan. (10.5)
3. Für x < 0 sind weniger Lagerreaktionen und Stabkräfte vorhanden als für Gleichgewicht
notwendig sind. Ein solches System ist statisch unbrauchbar.
4. Setzen wir voraus, dass das ebene Fachwerk wie ein Träger statisch bestimmt gelagert
ist, dann gilt r = 3. Damit folgt aus der statischen Abzählformel (10.3.1)
xin = (3 + s) − 2k, (10.6)
so dass die Untersuchung der statischen Bestimmtheit nur die Anzahl der Stäbe s und
die Anzahl der Gleichgewichtsbedingungen 2k berücksichtigt. Für xin > 0 hat das Fach-
werk mehr Stabkräfte s als Gleichgewichtsbedingungen 2k zur Verfügung stehen. Man
bezeichnet das Fachwerk dann als innerlich statisch unbestimmt, da die statische Unbe-
stimmtheit ihre Ursache in seinem inneren Aufbau hat. Für xin = 0 ist das Fachwerk
innerlich statisch bestimmt. Ist zusätzlich eine hinreichende Bedingung erfüllt, dann sind
keine gegenseitigen Verschiebungen der Stäbe möglich, und das Fachwerk verhält sich
wie ein Starrkörper. Für xin < 0 ist das Fachwerk und innerlich statisch unbrauchbar.
5. Bei größeren Fachwerken wird die Untersuchung der kinematischen Bestimmtheit sowohl
mit dem Polplan als auch mit der Systemmatrix im Allgemeinen recht aufwändig.
Schneller und übersichtlicher ist eine Untersuchung mit den Bildungsgesetzen des nächs-
ten Abschnittes. Grundlage dazu sind die Ergebnisse des nachfolgenden Beispiels 10.1.
Untersuchen Sie für die beiden dargestellten Fachwerke mit drei bzw. vier Stäben die innere
statische Bestimmtheit.
a) III b) III 4 IV
2 3 2 3
I 1 II I 1 II
Dreieck : r = 3, s = 3, k = 3 =⇒ x = (3 + 3) − 2 · 3 = 0
Viereck : r = 3, s = 4, k = 4 =⇒ x = (3 + 4) − 2 · 4 = −1.
Nach dem statischen Abzählkriterium (10.4) ist das Dreieck somit innerlich unverschieblich,
während das Viereck innerlich verschieblich ist.
In Abb. 10.12 werden beide Fachwerke mit dem Polplan untersucht. Für das Dreieck ist
das Festlager I gleichzeitig Pol (1) und Pol (2) der Stäbe 1 und 2. Der Knoten III ist
Nebenpol (2, 3) der Stäbe 2 und 3, und der Knoten II ist Nebenpol (1, 3) der Stäbe 1 und
3. Nach Regel C2 in (7.12) sind die Verbindungslinien von (1) nach (1, 3) und von (2) nach
(2, 3) geometrische Orte GO(3)1 und GO(3)2 für den Pol (3). Ein weiterer geometrischer
Ort ist GO(3)3 nach Regel B4 in (7.10). Da es keinen gemeinsamen Schnittpunkt aller drei
Linien gibt, existiert kein Pol (3), so dass der Stab 3 und damit das gesamte Dreiecksfachwerk
unverschieblich sind.
a) GO(3)1 b)
GO(4)1 (4) GO(4) 2
Obwohl für das Viereck bereits aus dem Abzählkriterium x = −1 < 0 die Verschieb-
lichkeit folgt, soll diese zusätzlich mit dem Polplan veranschaulicht werden. Dazu werden
in Abb. 10.12.b die Pole (1) = (2) sowie die Nebenpole (2, 4), (1, 3) und (3, 4) und der
geometrische Ort GO(3)1 eingetragen. Wir nehmen den Pol (3) im Lager II an und unter-
suchen, ob sich ein Widerspruch ergibt: Nach Regel C2 in (7.12) sind die Verbindungslinien
von (2) und (2, 4) sowie von (3) und (3, 4) geometrische Orte GO(4)1 und GO(4)2 für den
Pol (4). Damit liegt der Pol (4) im Unendlichen. Die Verbindungslinie von (4) und (3, 4)
ist nach Regel (7.12) ein geometrischer Ort GO(3)2 . Sie verläuft durch den angenommenen
Pol (3), so dass kein Widerspruch entsteht. In Abb. 10.12.b erkennen wir auch, dass eine
Verschiebungsfigur für die Stäbe 2, 3 und 4 ohne Widerspruch gezeichnet werden kann.
Wir können die Fachwerkstäbe in Beispiel 10.1 auch allgemein durch beliebige starre
Teilkörper ersetzen und erhalten folgende
Die Untersuchung der statischen und kinematischen Bestimmtheit eines Fachwerkes wird im
Allgemeinen erheblich vereinfacht, wenn das gesamte Fachwerk oder Teile des Fachwerkes
sich auf eines von drei Bildungsgesetzen zurückführen lassen.
Das 1. Bildungsgesetz
Ausgehend von einem starren Körper (z.B. Einzelstab oder ein innerlich
statisch bestimmtes Fachwerk) wird ein neuer Knoten durch zwei Stäbe (10.8)
angeschlossen, so dass ein Dreieck entsteht. Dies kann man beliebig fort-
setzen, solange die zwei neuen Stäbe nicht auf einer Geraden liegen.
Das 2. Bildungsgesetz
Zwei innerlich statisch bestimmte Fachwerke werden durch 3 Stäbe mitein-
ander verbunden, die sich nicht in einem Punkt schneiden und die nicht alle (10.9)
parallel sind. An die Stelle von zwei Stäben kann auch ein beiden Fachwer-
ken gemeinsamer Knoten treten.
In Abb. 10.14 sind drei Beispiele zum Aufbau eines Fachwerks nach dem 2. Bildungsgesetz
veranschaulicht. Im ersten Beispiel in Abb. 10.14.a sind die zusätzlichen Stäbe alle paral-
lel. Damit lässt sich unter Berücksichtigung der Regeln (7.12) der Polplan widerspruchslos
zeichnen: Z.B. können die Hauptpole aller fünf Teilkörper widerspruchsfrei gefunden wer-
den, so dass das System verschieblich ist. In dem zweiten Beispiel in Abb. 10.14.b gibt es
dagegen einen Widerspruch für den geometrischen Ort des Nebenpols (1, 2), so dass dieses
System unverschieblich ist. Das Fachwerk in Abb. 10.14.c besteht aus drei gelenkig verbun-
denen Teilkörpern, zwei Teilfachwerken 1 und 2 und einem Stab 3. Nach Regel (10.7.1) ist
es innerlich unverschieblich. Wird der Stab 3 in Abb. 10.14.c entfernt, dann ist das so ent-
standene Gesamtsystem mit einem Gelenk sowie einem Fest- und einem Loslager einfach
verschieblich. Ersetzt man wie in Abb. 10.14.d das einwertige Lager durch ein zweiwertiges
Lager, entsteht ein Dreigelenkbogen, der nach Regel (9.7) unverschieblich ist.
264 10 Gleichgewicht von Fachwerken
a) (3) b)
1 2
1 2 (1,3) 3 (2,3) GO(1,2)
(1,3) (4)3 (2,3)
GO(1,2)
(5) (1,4) 4 (2,4)
4
5 (1,5) 5
(1,5) (2,5))
(2,5)
GO(1,2)
c) 1 2 d) 1 2
Das 3. Bildungsgesetz
Bei einem innerlich statisch bestimmten Fachwerk wird 1 Stab heraus- (10.10)
genommen und an einer anderer Stelle wieder so eingefügt, dass das Fach-
werk starr wird.
Mit dem Computerspiel Bridge Construction, siehe z.B. [40], wird die in Abb. 10.16 darge-
stellte Fachwerkbrücke erstellt.
1. Untersuchen Sie mit Hilfe der drei Bildungsgesetze die innere statische Bestimmtheit für
die Ebene senkrecht zum Flußverlauf.
2. Machen Sie ggf. einen oder mehrere Verbesserungsvorschläge.
Abb. 10.16. Fachwerkbrücke konstruiert mit dem Computerspiel Bridge Construction, [40]
2. Mit einem zusätzlichen Obergurt in Abb. 10.17.a würde das Gesamtsystem nach dem
1. Bildungsgesetz (10.8) unverschieblich werden. Nachteilig wäre dabei, dass dieser Obergurt
als Druckstab mit der doppelten Fächerlänge ausgebildet werden müsste. In Abb. 10.17.b
werden die mittleren Diagonalstäbe daher zur Mitte hin ansteigend angeordnet. Man erhält
wieder einen Dreigelenkbogen, bei dem die drei Pole (1), (2) und (1, 2) nicht auf einer Ge-
raden liegen, so dass das System nach Regel (9.7) unverschieblich ist.
266 10 Gleichgewicht von Fachwerken
Im Folgenden werden zwei Verfahren zur Berechnung von Stabkräften in Fachwerken be-
handelt: 1. das Knotenpunktverfahren und 2. das Rittersche Schnittverfahren. Dabei werden
für das Knotenpunktverfahren drei Möglichkeiten unterschieden: 1. die zeichnerische, 2. die
rechnerische und 3. die numerische Lösung.
10.5.1 Nullstäbe
Vor der eigentlichen Berechnung ist es ratsam, das Fachwerk auf sogenannte Nullstäbe hin
zu untersuchen. Hierbei handelt es sich um Stäbe, die bei bestimmten Lastfällen weder Zug-
noch Druckkräfte aufnehmen. Mit den Darstellungen in Abb. (10.18) unterscheiden wir fol-
gende
Regel 2 F Knoten II LP KP
Regel 1
4 8 II F
I S8=0 A=E
II
6
1 7 F S7
2 5 S7
III Regel 3
Abb. 10.18. Ermittlung von Nullstäben in Lageplan (LP) und Kräfteplan (KP)
Wie in Abb. (10.18) gezeigt, können alle drei Regeln (10.12) jeweils mit einem Freischnitt
des Knotens im Lageplan (LP) sowie den Regeln (4.8) für Gleichgewicht eines zentralen
Kraftsystems im Kräfteplan (KP) abgeleitet werden. Hat man einen Nullstab ermittelt, so
kann dieser bei der Berechnung unberücksichtigt bleiben.
10.5 Praktische Berechnung von Stabkräften 267
Tabelle 10.1. Lösungsschritte zum Knotenpunktverfahren. Die Schritte 2.a und 2.b beschreiben das zeichnerische
und das rechnerische Knotenpunktverfahren.
268 10 Gleichgewicht von Fachwerken
Für Fachwerke, die nach dem 1. Bildungsgesetz aufgebaut sind, kann das Knotenpunktver-
fahren sehr effizient eingesetzt werden. Dabei erfolgt ein schrittweises Herstellen von Gleich-
gewicht in den Knoten, wobei in jedem Rechenschritt an einem Knoten maximal zwei un-
bekannte Kräfte auftreten dürfen. Die Lösungsschritte sind in Tabelle 10.1 zusammengestellt,
wobei im Schritt 2.a das Gleichgewicht unter Beachtung der Regeln (4.8) im Kräfteplan je-
weils zeichnerisch hergestellt wird, vgl. auch Tabelle 4.1.
Lösung: In Abb. 10.19.b sind die Lagepläne (LP) und die Kräftepläne (KP) für jeden Knoten
eingetragen. Dazu werden die folgenden Schritte durchgeführt.
1. Auswahl eines Knotens: Da an dem Knoten V I nur zwei Stäbe 8 und 9 angrenzen, be-
ginnt hier die Rechnung.
2. Gleichgewicht für Knoten V I: In dem Kräfteplan (KP) ist für Knoten V I mit den bekann-
ten Wirkungslinien der Kräfte S8 und S9 das Kräftepolygon in einheitlichem Umlaufsinn
zu schließen. Da die Richtungen beider Kräfte unterschiedlich sind, ist nach Axiom 3.1
kein Gleichgewicht möglich. Damit liegen wegen S8 = S9 = 0 Nullstäbe vor. Alternativ
ist auch eine Begründung nach Regel 1 in (10.12.1) möglich.
1. Auswahl eines Knotens: An dem Knoten I mit der Kraft F sind wegen S9 = 0 nur zwei
Stabkräfte S1 und S2 unbekannt.
2. Gleichgewicht für Knoten I: In dem Kräfteplan ist mit den bekannten Wirkungslinien der
Kräfte S1 und S2 und der bekannten Richtung von F das Kräftepolygon in einheitlichem
Umlaufsinn zu schließen. Damit ergeben
√ sich die Beträge und Richtungen der Stabkräfte:
S1 = F als Zugkraft (Z) und S2 = 2F als Druckkraft (D).
1. Auswahl eines Knotens: An dem Knoten II sind S2 als Druckkraft und S8 als Nullstab
bekannt, so dass nur S3 und S6 unbekannt sind.
2. Gleichgewicht für Knoten II: In dem Kräfteplan ist mit den bekannten Kräften S2 und
S8 = 0 und den bekannten Wirkungslinien der Kräfte S3 und S6 das Kräftepolygon in
einheitlichem Umlaufsinn
√ zu schließen. Damit ergeben sich die Beträge und Richtungen
der Stabkräfte: S3 = 2F als Zugkraft (Z) und S6 = 2F als Druckkraft (D).
10.5 Praktische Berechnung von Stabkräften 269
Die weiteren Schritte werden wie oben beschrieben für die Knoten III, V und IV mit den
zugehörigen Lage- und Kräfteplänen in Abb. 10.19 durchgeführt. Dabei werden auch die
Auflagerreaktionen B, AV und AH erhalten. Der Stab 7 ergibt sich als Nullstab.
a a a F
Knoten VI LP KP
B V 4 III 1 I
S9
S8=0 S9=0
a 7 5 3 2 9 S8
6 VI A=E
AH IV II 8 VI
AV
Knoten I LP KP Knoten II LP KP
F
S1 A=E
A=E S2
I S3 S2=F 2 S3=F 2
S2=F 2
S2 F
II
S6 S8=0 S6=2F
S9=0 S1=F
Abb. 10.19.b. Auskragendes Fachwerk: Lageplan (LP) und Kräfteplan (KP) für alle Knoten
Wir fassen alle Ergebnisse für die Stab- und Lagerkräfte in einer Tabelle zusammen:
Stab i 2 3 1
4 5 6 7 8 9 AH AV B
√ √ √
Si F 2F 2F 3F 2F 2F 0 0 0 3F F 3F
(Z) oder (D) (Z) (D) (Z) (Z) (D) (D) − − − − − −
3. Zur Kontrolle verwenden wir die Gleichgewichtsbedingungen (4.22) für das Gesamtsys-
tem:
↑: AV − F = F − F = 0
→: −B + AH = −3F + 3F = 0
A: −Ba + 3F a = −3F a + 3F a = 0.
270 10 Gleichgewicht von Fachwerken
Für das auskragende Fachwerk aus Beispiel 10.3 bestimme man alle Stabkräfte mit dem
rechnerischen Knotenpunktverfahren.
Vorüberlegungen: Es werden die Schritte nach Tabelle 10.1 mit den Gleichgewichtsbedin-
gungen (4.22) für zentrale Kraftsysteme abgearbeitet. Die Reihenfolge der Knoten ist wie in
Beispiel 10.4, so dass auch hier immer maximal zwei unbekannte Kräfte je Knoten auftreten.
Lösung: In Abb. 10.20 sind die Lagepläne für alle freigeschnittenen Knoten dargestellt.
Dabei werden alle Stabkräfte vom Schnittufer wegzeigend eingetragen und jeweils in ho-
rizontale und vertikale Anteile zerlegt, vgl. z.B. Abschnitt 4.2.6. In den folgenden Rechen-
schritten werden die Stab- und Lagerkräfte durch Aufstellen und Lösen der Gleichgewichts-
bedingungen (4.22) erhalten:
a a a F
B V 4 III 1 I Knoten VI
a 5 3 S9
7 2 9
6 S8
AH IV II 8 VI VI
AV
Knoten I Knoten II Knoten III
F S3 / 2 S2 / 2 III S1=-F
S1 S4
S3 S2 S3 2
I S5 / 2
S2 / 2 S2 / 2 S5
S3 / 2 II S3
S2 S6 S8=0
S9=0 S5 / 2 S3 2
S2 / 2
Knoten V Knoten IV
S5 / 2
B V S4 S7 S5
S5 / 2
AH
S7=0 IV S6
AV
Knoten V I → : S9 = 0, ↑ : S8 = 0
S2 √
Knoten I: ↓ : F + S9 + √ = 0 =⇒ S2 = − 2F
2
S2 S2
← : S1 + √ = 0 =⇒ S1 = − √ = F
2 2
S2 S3 √
Knoten II: ↑ : √ +√ = 0 =⇒ S3 = −S2 = 2F
2 2
S2 S3 S2 S3
→ : −S6 + √ − √ + S8 = 0 =⇒ S6 = S8 + √ − √ = −2F
2 2 2 2
S S √
Knoten III: ↓ : √3 + √5 = 0 =⇒ S5 = −S3 = − 2F
2 2
S5 S3 S5 S3
→ : −S4 + S1 − √ + √ = 0 =⇒ S4 = S1 − √ + √ = 3F
2 2 2 2
Knoten V : → : B + S4 = 0 =⇒ B = −S4 = −3F
↓ : S7 =0
S5 S
Knoten IV : ↑ : S7 + AV + √ = 0 =⇒ AV = −S7 − √5 = F
2 2
S5 S
→ : AH + S6 + √ = 0 =⇒ AH = −S6 − √5 = 3F.
2 2
Wir fassen alle Ergebnisse für die Stab- und Lagerkräfte in einer Tabelle zusammen:
i 1 2 3 4 5 6 7 8 9 AH AV B
√ √ √
Si F − 2F 2F 3F − 2F −2F 0 0 0 3F F −3F .
Damit stimmen alle Stab- und Lagerkräfte – unter Berücksichtigung der unterschiedlich
definierten Richtungen – mit den Ergebnissen in Beispiel 10.3 überein.
Wird ein Fachwerk nicht nach dem ersten Bildungsgesetz aufgebaut, können mehr als zwei
unbekannte Kräfte an einem Knoten auftreten. Die Möglichkeit zum schrittweisen Herstellen
von Gleichgewicht in den Knoten ist dann nur noch in Einzelfällen (z.B. durch ergänzende
Anwendung des Ritterschen Schnittverfahrens aus Abschnitt 10.5.6) gegeben. Für derartige
Fälle, aber auch für großdimensionierte ebene oder räumliche Fachwerke nach dem ersten
Bildungsgesetz, werden in der Ingenieurpraxis numerische Verfahren eingesetzt.
Wir betrachten in Abb. 10.21 zwei Beispiele für den Knoten eines ebenen Fachwerkes
mit der Nummer k. Kennzeichnen wir mit nk die Anzahl der anliegenden Knoten, lauten die
Gleichgewichtsbedingungen (4.22)
n k
→: i=1 Six + Fkx + Rkx = 0, wobei Six = Si cos αki
n k (10.13)
↑: i=1 Siy + Fky + Rky = 0, wobei Siy = Si sin αki .
272 10 Gleichgewicht von Fachwerken
a) y b) y
S2 S2
y2 y1 F ky
y1 R ky S1 y2 S1
α2 α2
α3 α1 α1
yk yk
y3 Fkx R kx
S3
x3 x2 xk x1 x x2 xk x1 x
Abb. 10.21. Das numerische Knotenpunktverfahren: a) Knoten mit horizontaler äußerer Kraft Fkx und vertikaler
Reaktionskraft Rky , b) Knoten mit horizontaler Reaktionskraft Rkx und vertikaler äußerer Kraft Fky
Dabei können, wie in Abb. 10.21 dargestellt, die bekannten horizontalen bzw. vertikalen
äußeren Kräfte Fkx bzw. Fky nicht gleichzeitig mit den unbekannten horizontalen bzw. ver-
tikalen Reaktionskräften Rkx bzw. Rky auftreten. Die unbekannten Stabkräfte Si in (10.13)
werden positiv als Zugkräfte angenommen, und die cos- und sin-Funktionen der Rich-
tungswinkel αki werden direkt mit den Koordinaten der umliegenden Knoten bestimmt:
xi − xk yi − yk
cos αki = , sin αki = , ski = (xi − xk )2 + (yi − yk )2 . (10.14)
ski ski
Da die Differenzen xi − xk und yi − yk positive und negative Werte annehmen können und
ski stets positiv ist, werden mit (10.14) alle vier Fälle in Abb. 4.25 richtig erfasst. Durch
Einsetzen in die Gleichungen (10.13) erhält man für jeden Knoten k zwei Gleichungen:
n k xi − xk
i=1 Akix Si + Fkx + Rkx = 0, wobei Akix =
ski (10.15)
n k yi − yk
A
i=1 kiy iS + Fky + R ky = 0, wobei Akiy = .
ski
Wir bringen diese Gleichungen in eine Matrixdarstellung:
A x = b. (10.16)
Bemerkungen 10.3
1. Die Lösungsmatrix x enthält die unbekannten Kräfte Si aller Stäbe und die unbekannten
Reaktionskräfte Rkx sowie Rky infolge der kinematischen Bindungen.
2. Die Lastmatrix b enthält die äußeren Kräfte Fkx bzw. Fky der Gleichungen (10.15).
3. Die Systemmatrix A hat zwei Anteile: 1. Die Elemente Akix , Akiy in (10.15) zur Berück-
sichtigung der unbekannten Stabkräfte Si . 2. Die Elemente Akjx =1 bzw. Akjy =1 zur
Berücksichtigung der unbekannten Lagerkräfte Rkx bzw. Rky , wobei der Index j aus der
Position von Rkx bzw. Rky in der Lösungsmatrix x hervorgeht. Damit hängt A nur von
der Geometrie und den Randbedingungen jedoch nicht von der Belastung ab.
4. In Tabelle 10.2 erfolgt die numerische Auswertung der Gleichungen (10.15) mit dem Pro-
gramm MATLAB, siehe z.B. [22]. Zur Anwendung des Programms müssen zunächst die
Koordinaten (Matrix (Koord), die Stäbe mit Anfangs- und Endknoten (Matrix (Staebe),
die Lasten (Matrix (Lasten) und die kinematischen Bindungen (Matrix (kinBin) eingele-
sen werden. Dieses geschieht zweckmäßig, wie in Beispiel 10.6. gezeigt, in einer geson-
derten Eingabedatei.
10.5 Praktische Berechnung von Stabkräften 273
Knoten k Gl.-Nr
−2a −a a a
II 3 S6 + S3 √ + S2 √ + S8 =0
2a 2a 2a a
0 a a 0
4 S6 + S3 √ + S2 √ + S8 =0
2a 2a 2a a
−a −a a 2a
III 5 S4 + S5 √ + S3 √ + S1 =0
a 2a 2a 2a
0 −a −a 0
6 S4 + S5 √ + S3 √ + S1 =0
a 2a 2a 2a
0 a 2a
IV 7 S7 + S5 √ + S6 +AH = 0
a 2a 2a
a a 0
8 S7 + S5 √ + S6 +AV = 0
a 2a 2a
0 a
V 9 S7 + S4 +BH = 0
a a
−a 0
10 S7 + S4 =0
a a
−a 0
VI 11 S8 + S9 =0
a a
0 a
12 S8 + S9 =0.
a a
Diese 12 Gleichungen stimmen, bis auf die Vorzeichen, mit den 12 Gleichungen in Beispiel
10.5 für das rechnerische Knotenpunktverfahren überein. Wir bringen sie für a = 1 und
F = 1 in eine Matrixform:
A x = b, wobei
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 ⎡ ⎤ ⎡ ⎤
−1
1 −1 √ ⎢ S1 ⎥ ⎢ 0 ⎥
2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ S2 ⎥ ⎢F ⎥
−1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 √ −1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
1 −1 ⎢ S3 ⎥ ⎢ 0 ⎥
3 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
√ √ -1 1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
1 1 ⎢ S4 ⎥ ⎢ 0 ⎥
4 √ √ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
1 −1 ⎢ S ⎥ ⎢ 0 ⎥
⎢ 5 ⎥ ⎢ ⎥
5 1 √ -1 √ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
A= , x= ⎢ ⎥ b= ⎢ ⎥
−1 −1 ⎢ S6 ⎥, ⎢ 0 ⎥.
6 √ √ ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ S7 ⎥ ⎢ 0 ⎥
7 √ 1 1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
8 √ 1 ⎢ S8 ⎥ ⎢ 0 ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
2 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
9 1 1 ⎢ S ⎥ ⎢ 0 ⎥
⎢ 9 ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
10 -1 ⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ AH ⎥ ⎢ 0 ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
⎢ ⎥ ⎢ ⎥
11 -1 ⎢A ⎥ ⎢ 0 ⎥
⎢ V ⎥ ⎢ ⎥
⎣ ⎦ ⎣ ⎦
12 1 0
BH
Die rechnerische Lösung dieser Matrixgleichung durch Handrechnung ist sehr aufwändig
und wird daher nicht behandelt. Effizienter ist die numerische Lösung, wie im nachfolgenden
Beispiel 10.6 deutlich wird.
276 10 Gleichgewicht von Fachwerken
Lösung: Die Eingabedatei enthält, bezugnehmend auf Abb. 10.23, mit a=1 m, F =1 kN An-
gaben zu Koordinaten, Stäben mit Anfangs- und Endknoten, Lasten, und Randbedingungen:
Koord = [3 1; 2 0; 1 1; 0 0; 0 1; 3 0]; % Koordinaten
Staebe = [3 1; 2 1; 3 2; 5 3; 4 3; 4 2; 4 5; 2 6; 6 1];
% Stäbe (Anfangs-, Endknoten)
Lasten = [1 0 -1]; % Lasten (Knoten, x-, y-Richtung)
kinBin = [4 1 1; 5 1 0]; % Lager (Knoten, x-, y-Richtung)
% 1 = gelagert, 0 = nicht gelagert
Nach Ausführung des Programms erhält man die Ergebnisse für die Determinante der Sys-
temmatrix sowie die Stab- und Reaktionskräfte:
detA = -0.3536
Smat = 1.0000 -1.4142 1.4142 3.0000 -1.4142 -2.0000 0 0 0
Rmat = 3 1 -3
und es erfolgt eine Darstellung des Fachwerkes wie in Abb. 10.24. Die Farben geben
entsprechend der Legende die Größen der Stabkräfte an. Man erkennt z.B., dass die Stäbe
7, 8 und 9 Nullstäbe sind, und dass der Stab 4 die größte Zugkraft 3 kN erfährt.
1
V 4 III 1 I -2.0
-1.5
-1.0
0.8
-0.5
0.6 0
7 5 3 9 0.5
0.4 2 1.0
1.5
0.2 II 2.0
0 IV 6 8 VI 2.5
3.0
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3
Diese Ergebnisse für die neun Stabkräfte und die drei Lagerreaktionen sind identisch mit
denen der zeichnerischen und der rechnerischen Lösungen in den Beispielen 10.3 und 10.4.
Zusatzaufgabe: Wird (versehentlich) kinBin = [4 1 1; 5 0 1] eingegeben, erhält man
die Meldung Matrix singulaer, Abbruch des Programms. Begründen Sie dieses.
10.5 Praktische Berechnung von Stabkräften 277
Das Rittersche Schnittverfahren (kurz: Ritterschnitt) ist ein Verfahren zur Berechnung einzel-
ner Stabkräfte. Es wird z.B. eingesetzt,
1. wenn nur die Kräfte einzelner Stäbe von Interesse sind, etwa bei der Bemessung eines
Fachwerkes.
2. wenn das Knotenpunktverfahren „stecken” bleibt, also wenn kein Knoten mit nur zwei
unbekannten Kräfte gefunden werden kann,
3. zur Kontrolle von Stabkräften, die z.B. mit dem Knotenpunktverfahren oder einem Com-
puterprogramm berechnet wurden.
Der Grundgedanke geht auf August Ritter (1826 - 1908) zurück [27]: Setzen wir voraus,
dass sich das gesamte System im Gleichgewicht befindet, dann ist es notwendig und hinrei-
chend, dass sich jedes Teilsystem im Gleichgewicht befindet. In der praktischen Rechnung
werden dazu zweckmäßig gewählte Teilsysteme nach dem Schnittprinzip von Euler in Ab-
schnitt 2.1.5 freigelegt und anschließend mit den drei Gleichgewichtsbedingungen (5.25) für
ebene Fachwerke bzw. den sechs Gleichgewichtsbedingungen (6.39) für räumliche Fachwer-
ke zur Berechnung von unbekannten Stabkräften untersucht. Die wichtigsten Schritte zum
Ritterschen Schnittverfahren sind in Tabelle 10.3 zusammengestellt. Dabei beschränken wir
uns auf ebene Fachwerke. Die Erweiterung auf räumlich Fachwerke erfolgt entsprechend.
Tabelle 10.3. Lösungsschritte und Hinweise zum Ritterschen Schnittverfahren für ebene Fachwerke.
278 10 Gleichgewicht von Fachwerken
Gesucht ist die Stabkraft S6 aus Beispiel 10.3 mit dem Ritterschen Verfahren.
Lösung: Es werden die zwei Schritte nach Tabelle 10.3 abgearbeitet:
1. Freischneiden: Das Fachwerk wird wie in Abb. 10.25 dargestellt in zwei Teile zerlegt.
a a a F
V 4 S 4III V 4 III 1 I
S4
a 7 7 5 3
5 S5 S5 2 9
6
IV S6 IVS 6 II 8 VI
Abb. 10.25 Zerlegung des Fachwerkes in zwei Teilsysteme
A B A B
3F 3F
b) II IV d)
3 F F
1 4 7
5 A B
I V
2 III 6
3F 3F
10.6 Aufgaben zu Kapitel 10 279
6
2a 4 7
III V
II 3 5 10 VI
a F 1 8
2 9
I VII
a 2a a
2
W
A β
G
a β
γ C
γ B
γ C
A
B
α
280 10 Gleichgewicht von Fachwerken
IV
2 F
2a
4
5a 6 I
3
5
III V
7a
1
II
3a 8a
F F F
1 VI 6 V
I
2 4 5
II 7
8 2a
3
III
9 IV
a a a a
Aufgabe 10.7
(SG = 3, BZ = 20 min) X
1
XI
4
XII F2
Das dargestellte Fachwerk wird
durch drei Einzellasten belastet. 6 7 2 8 9 10 11 a
1. Überprüfen Sie die statische 5 3 12 21
VIII IX V VI VII
Bestimmtheit.
2. Bestimmen Sie die Nullstäbe F1 15 14 13 F3 a
mit Begründung im Kräfteplan. III
16
IV
3. Berechnen Sie die Auflagerre-
aktionen in A und B. 17 18 19 a
4. Berechnen Sie die Stabkraft im I 20 II
Stab 3 mit dem Ritterschen A B
Schnittverfahren.
5. Bestimmen Sie mit dem a a a a
Knotenpunktverfahren die
Stabkräfte 1, 2 und 4.
Bekannt: a = 1 m, F1 = 100 N, F2 = 200 N, F3 = 300 N.
Werkzeuge und Maschinen sind allgegenwärtig. Sie erleichtern die tägliche Arbeit, sie produzieren und sie trans-
portieren. Die Bandbreite der Werkzeuge reicht vom Flaschenöffner über den Hammer und die Säge bis hin
zu Vorrichtungen beim Umformen, Trennen und Verbinden wie etwa im Automobilbau. Beispiele für Maschi-
nen reichen von Miniaturrobotern in Sandkorngröße über die Waschmaschine, das Auto, das Fahrrad und das
Flugzeug bis hin zu Kraftwerksanlagen und verfahrenstechnischen Anlagen, siehe auch [39].
Kennzeichnend für Werkzeuge und Maschinen sind Bewegungen. Dieses gilt zum Beispiel für die dargestellte
Arbeitsbühne, die eine Person mit einer durch Hydraulik betriebenen Vorrichtung sicher und schnell an ver-
schiedene Orte zur Fassadenreinigung befördert. Im Unterschied zu Tragwerken sind wir bei Werkzeugen und
Maschinen nicht nur an dem Gleichgewicht von Kräften und der statischen Bestimmtheit im Ruhezustand, son-
dern auch an den Zusammenhang zwischen Kräften und Bewegungen verschieblicher Systeme interessiert, was
Thema der Dynamik ist. Bei Beschränkung auf z.B. infinite Bewegungen für hebelartige Systeme oder gleichför-
mige Bewegungen für rotierende Systeme können mit den Methoden der Statik wichtige Kenngrößen, wie z.B.
die Hebelwirkung bei einer Rohrzange oder die Übersetzung von Drehzahlen eines Getriebes, ermittelt werden.
11
Werkzeuge und Maschinen
Ein wesentliches Ziel dieses Kapitels ist die Berechnung von Übertragungsfaktoren für
Kraft- und Bewegungsgrößen, wofür die Übersetzung von Drehzahlen ein häufig vorkom-
mendes Beispiel im Maschinenbau ist. Dazu behandeln wir – ausgehend von den Gleich-
gewichtsmethoden für Kraftgrößen und den kinematischen Methoden aus Teil 1 dieses
Buches – zunächst Kraft- und Wegübertragungen in Hebeln und anschließend Momenten-
und Drehwinkelübertragungen in Getrieben. Ein weiterer Abschnitt behandelt Kräfte in
Zahnradgetrieben.
11.1 Begriffe
Werkzeuge: Seit ca. 2,4 Millionen Jahren setzt der Mensch Hilfsmitttel ein, um die körper-
lichen Fähigkeiten etwa zum Bau von Wohnraum, der Herstellung von Essgeschirr oder der
Anfertigung von Jagdgeräten zu steigern. Die dazu verwendeten Materialien waren zuerst
Holz und Stein, Metalle sind seit der Bronzezeit üblich. Für diese Hilfsmittel wird seit
dem 12. Jahrhundert der Begriff Werkzeug verwendet [29], der im Jahre 1854 von den Ge-
brüdern Grimm im Deutschen Wörterbuch wie folgt erklärt wird: „im konkreten sinne (ein)
gerät als mittel zur unterstützung oder ersetzung der menschlichen hand bei der bearbeitung
von gegenständen oder stoffen.” Beispiele für Werkzeuge sind außer dem Flaschenöffner
in Abb. 11.1 Rohrzangen, Hammer, Feilen, Schraubendreher, Säge und Hobel. Heute wer-
den darüberhinaus in Handwerk und Industrie Maschinen als Werkzeuge eingesetzt, um auf
Gegenstände mechanisch einzuwirken. Beispiele hierfür sind - etwa im Automobilbau - Hal-
ten, Bewegen oder Umformen, Durch-/Abtrennen, Verbinden und andere Vorgänge, die man
unter dem Begriff Fertigungsverfahren zusammenfasst [36].
Maschinen: Nach einer auch heute noch gültigen Definition von Karl Kutzbach aus dem
Jahre 1927 ist „eine Maschine die Anwendung aller Mittel zur geregelten Beherrschung
der Orts- und Formänderung von Stoff oder Energie (oder Information)” [36]. Darunter
fallen neben dem Flaschenzug und der Handwinde in Abb. 11.1 Waschmaschinen, Personen-
kraftwagen, Traktoren sowie Turbinen für Kraftwerke und Flugzeuge. Maschinen sind aus
Maschinenelementen zusammengesetzt, womit nicht notwendig die kleinst möglichen Teile,
wie z.B. Schrauben, gemeint sind. Stattdessen kennzeichnet der Begriff Maschinenelemente
die kleinst möglichen sinnvollen Organisationseinheiten, welche die Funktion und den Bau
von technischen Strukturen ermöglichen. Damit ist eine Fahrradkette mit den Teilen Bolzen,
Hülsen und Laschen in ihrer Zusammensetzung ein Maschinenelement eines Fahrrades.
Weitere Beispiele für Maschinenelenente sind Speicherelemente (Federn, Schwungräder),
a) b)
g
duH
FH
duL
FL
c1) c2) c3)
FL
MH dϕ H
FL
duL
Abb. 11.1. Beispiele für Werkzeuge und Maschinen: a) Flaschenzug, b) Handwinde, c) Flaschenöffner: c1) reales
System, c2) statisch bestimmtes System und c3) verschiebliches System
11.2 Kinematische Untersuchungen für Bewegungs- und Ruhezustand 285
tisch bestimmt gelagert, wenn dieser für genau drei einzählige kinematische Bindungen un-
verschieblich ist. Im Raum muss die Anzahl der Bindungen gleich sechs sein. In Erweiterung
dazu bezeichnen wir ein ebenes n-teiliges System als kinematisch bestimmt gelagert, wenn
die Summe von r kinematischen Bindungen und z Zwischenbindungen gleich 3n (bzw. 6n
im Raum) ist, so dass das System unverschieblich wird.
Zur systematischen Untersuchung der Verschieblichkeit eines Systems für Bewegungs-
und Ruhezustand verwenden wir den
und
Bemerkungen 11.1
1. Für f < 0 hat das System mehr und für f = 0 gleich viele Bindungen durch Lager und
Stäbe als Freiheitsgrade zur Verfügung stehen. Trotz ausreichender Anzahl von Bindun-
gen und Stäben kann ein System für f ≤ 0 verschieblich sein, so dass der Ausnah-
mefall der Statik vorliegt. Wie die Bedingungen (9.2.1) und (9.2.2) für einteilige Kör-
per sind also auch die Bedingungen (11.2.1) und (11.2.2) nur notwendig für Unver-
schieblichkeit eines mehrteiligen Systems, d.h.: Formales Abzählen genügt nicht! Zu
einer hinreichenden Bedingung gelangt man erst durch die Untersuchung des Polplans
für das gesamte System. Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für kinema-
tische Bestimmtheit lauten zusammenfassend
1. f = 0 2. Widerspruch im Polplan. (11.3)
2. Für f > 0 ist das System verschieblich. Dieser Fall ist kennzeichnend für das Funktionie-
ren von Werkzeugen und Maschinen. Bei Einwirkung von beliebigen nichtzentralen
Kraftsystemen befinden sich derartige Systeme, wie in den Beispielen in Abb. 11.1, im
Allgemeinen nicht im Gleichgewicht.
3. Bei größeren Systemen kann die Ermittlung des Polplanes recht aufwändig werden. Die
Untersuchung auf Unverschieblichkeit gelingt häufig einfacher unter Berücksichtigung
von Regel (10.7) für mehrteilige Körper, Regel (9.7) für Dreigelenkbogen sowie der Bil-
dungsgesetze für Fachwerke in Abschnitt 10.4. Zum Zeichnen der Verschiebungsfigur
mit Zahlwerten ist bei komplexen Systemen der Polplan meist unerlässlich.
286 11 Werkzeuge und Maschinen
4. Bilden die Teilkörper eines Systems einen starren Gesamtkörper, dann ist dieser mit r =
3 in der Ebene, bzw. r = 6 im Raum, kinematisch bestimmt gelagert. Definieren wir:
1. In der Ebene: fin = 3n − (3 + z)
(11.4)
2. im Raum: fin = 6n − (6 + z),
dann reduziert sich die Untersuchung der kinematischen Bestimmtheit auf die Berück-
sichtigung der Anzahl der Körper n und der Anzahl der Zwischenbindungen z. Für fin
> 0 stehen dem System mehr Freiheitsgrade als Zwischenbindungen durch die Stäbe
zur Verfügung. Man bezeichnet das System dann als innerlich kinematisch unbestimmt,
da die Verschieblichkeit ihre Ursache in dessen inneren Aufbau hat. Für fin = 0 ist das
System innerlich kinematisch bestimmt und für fin < 0 innerlich unverschieblich.
5. Ein Vergleich von Gl. (9.6) für ebene Tragwerke in Abschnitt 9.4 mit Gl.(11.1.1) für
Werkzeuge und Maschinen liefert den Zusammenhang x = −f zwischen den Graden der
statischen und der kinematischen Bestimmtheit. Für eine statische Untersuchung verwen-
det man also die zu (11.3) äquivalenten notwendigen und hinreichenden Bedingungen
1. x = 0 2. det A
= 0. (11.5)
Für mehrteilige Systeme kann die Dimension der Systemmatrix A vergleichsweise groß
werden, so dass deren Determinante praktisch nur numerisch ausgewertet werden kann.
Verschiebliche Systeme mit f > 0, wie z.B. in Abb. 11.1, sind infolge der Wirkung von
beliebigen Kraftsystemen im Allgemeinen nicht im Gleichgewicht. Um für diese - statisch
unbrauchbaren - Systeme Gleichgewicht untersuchen zu können, formulieren wir die
Bemerkungen 11.2
1. Haltekräfte und Haltemomente werden mit dem Oberbegriff Haltekraftgrößen zusammen-
gefasst. Beispiele sind die Haltekräfte FH oder das Haltemoment MH in Abb. 11.1.
2. Nach Bemerkung 3.1.7 beschränkt sich der Begriff Gleichgewicht in Definition (11.6)
nicht nur auf den Ruhezustand, sondern bezieht auch die gleichförmige Bewegung mit
ein. Bei dem Flaschenzug in Abb. 11.1.a bzw. der Handwinde in Abb. 11.1.b sprechen
wir von Gleichgewicht, wenn die unbekannten Kräfte FH gerade so bestimmt sind, dass
die Gewichtskraft FL in dem verschieblichen System jeweils entweder in Ruhe oder in
einem Zustand gleichförmiger Bewegung (bzw. Drehbewegung) ist.
3. Je nach Anordnung kann die Anzahl der unbekannten Haltekräfte und Haltemomente
kleiner f oder gleich f sein (siehe das nachfolgende Beispiel 11.1). Der Fall größer f
verlangt die Berücksichtigung von Verformungen und soll hier nicht behandelt werden.
11.3 Gleichgewicht an verschieblichen Systemen mit Haltekraftgrößen 287
Der Winkel in Abb. 11.2 wird für zwei verschiedene Lagerungen durch ein nichtzentrales
Kraftsystem F1 , F2 , F3 belastet. In Abb. 11.2.a ist er als Hebel mit einem Festlager und einer
Haltekraft H im Punkt B ausgebildet. In Abb. 11.2.b ist er in der Ebene unbehindert ver-
schieblich. Er wird jedoch mit einer Kraft H gehalten, deren Lage unbekannt ist. Bestimmen
Sie für beide Fälle die Haltekraft H für Gleichgewicht. Bekannt: a, F .
F 3 =3F F 3 =3F y
a) b)
G x
F1 = 2F F1 = 2F
H=? A
F F2 =F 2a F F2 =F 2a
B
F H=? F
a 2a 2a
2a 2a 3a 4a
Abb. 11.2 Winkel mit nichtzentralem Kraftsystem a) mit einem Festlager, b) ohne Lagerung
Vorüberlegungen: Im Fall a folgt nach Gl. (11.1.1) mit dem Festlager (r=2) für den Grad
der kinematischen Bestimmtheit f = 3 − 2 = 1. Damit hat der Winkel einen Freiheitsgrad,
der als Drehung um den Punkt G darstellbar ist und durch die Haltekraft H behindert wird.
Da im Fall b keine kinematischen Bindungen vorliegen, ist das System dreifach kinematisch
verschieblich. Für Gleichgewicht reduzieren wir das Kraftsystem F1 , F2 , F3 auf eine Total-
resultierende R nach Gl.(5.23) und führen eine entgegengesetzt gerichtete Haltekraft H ein.
Lösungen: a) Wir bestimmen den Wert der Haltekraft H aus der Momentengleichgewichts-
bedingung (5.25.3) bzgl. des Punktes G:
G: 3 F 3a − F 2a − F 5a + F a + H3a = 0 =⇒ H = F.
b) Bezogen auf das Koordinatensystem mit Bezugspunkt A in Abb. 11.2.b lautet die erste
Reduktion des nichtzentralen Kraftsystems auf eine Dyname nach den Gleichungen (5.20):
Rx = F, Ry = −F + F − 3F = −3F, MRA = −F · 4a + F · 8a + F · 2a = 6F a.
Damit folgt für die Zentrallinie der Totalresultierenden nach Gl.(5.23.3)
Ry MA −3F 6F a
y= x− R = x− = −3x − 6a, Nulldurchgang x = −2a.
Rx Rx F F
Diese Geradengleichung legt die Dyname
Totalresul- Ry R y
Wirkungslinie der Totalresultieren- tierende
R MRA
den R wie in Abb. 11.3 dargestellt Hx x
fest. Wird zusätzlich eine gleich Rx H A
große, entgegengesetzt gerichtete
Hy 2a
Haltekraft H mit den Koeffizien-
ten Hx = |Rx | = F , Hy = |Ry | = 2a
3F eingeführt, ist der Winkel nach 2a 2a 4a
Axiom (3.1) im Gleichgewicht.
Abb. 11.3 Dyname, Totalresultierende und Haltekraft H
288 11 Werkzeuge und Maschinen
Bauweise 1 2 3
Anzahl Auflagerreaktionen r 2+2 2+2 2+2
Zwischenreaktionen z 10 8 6
Anzahl der Teilkörper n 5 4 3
f = 3n − (r + z) 1 0 −1
Wegen f = 1 ist Bauweise 1 auch bei fixierter Hydraulik im Stab 4 verschieblich und somit für
den Ruhezustand nicht geeignet. Für Bauweise 2 ist die notwendige Bedingung (11.3.1) f = 0
erfüllt. Ist die Hydraulik im Stab 2 fixiert, dann bilden auf Grund der gelenkigen Verbindung
die Stäbe 1, 2 und 3 nach Regel (10.7) in Abb. 11.6 einen starren Körper K. Dieser bildet
mit dem Stab 4 einen Dreigelenkbogen, der nach Regel (9.7) kinematisch bestimmt ist, so
dass auch die hinreichende Bedingung für kinematische Bestimmtheit erfüllt ist. Um das
11.3 Gleichgewicht an verschieblichen Systemen mit Haltekraftgrößen 289
Funktionieren von Bauweise 2 für den Bewegungszustand zu untersuchen, beachten wir, dass
die Stäbe 1, 3 und 4 einen verschieblichen Viergelenkbogen bilden, vgl. Beispiel 10.1. Wird
eine Transversalverschiebung durch 2. 3.
die Hydraulik im Stab 2 aktiviert, kann
sich auch die Arbeitsbühne bewegen. 1 1
In Bauweise 3 bilden dagegen die
Stäbe 1 und 3 einen unverschieblichen
K
Dreigelenkbogen, der eine Transver- 2 2
salverschiebung des Stabes 2 „sperrt”.
Damit funktioniert Bauweise 3 als Ar- K
3 4 3
beitsbühne nicht. Zusammenfassend
ist nur Bauweise 2 für den Ruhe- und
den Bewegungszustand geeignet. Abb. 11.6 Dreigelenkbogen in Bauweise 2 und 3
2. Zur Bestimmung der Haltekraft S2 im Stab 2 für Bauweise 2 verwenden wir die drei
Freikörperbilder in Abb. 11.7. In Abb. 11.7.a werden in den zweiwertigen Lagern A und B
jeweils horizontale und vertikale Kräfte eingetragen. Mit den Gleichgewichtsbedingungen
(5.25) am Gesamtsystem berechnen wir zunächst die vertikalen Lagerkräfte:
B : AV 2a − F 5a − M̄ = 0 =⇒ AV = 21 (F 5a + F a) = 3F
↑: AV + BV − F = 0 =⇒ BV = F − AV = −2F.
_
a) M b) c)
F
1 2a
F
E
.
2a S2 b Gr Cr
2 Schnitte
G a Ct
D C 2 D G Gt 3 C
4 a a 4 a
AH A 3 AH A 3 2
B
AV a BH B a BH
3a a a 2 AV 2
BV a BV
Abb. 11.7 Freikörperbilder
Wir trennen in Abb. 11.7.c den Stab 4 und erhalten aus einer Momentenbedingung bzgl. C:
a BV
C : BV − BH a =⇒ BH = = −F.
2 2
Damit folgt für das Gesamtsystem
→: AH − BH = 0 =⇒ AH = BH = −F.
In Abb. 11.7.b schneiden wir den Stab 3 frei. Aus einer Momentenbedingung mit dem
Bezugspunkt G und dem Hebelarm b ≈ 0, 505a, den wir zeichnerisch ermitteln, folgt:
1 3
3
G: S2 b + AV a − AH 2 a =⇒ S2 = AH a − AV a = −8, 91F.
b 2
290 11 Werkzeuge und Maschinen
Ein Hebel ist ein starrer Körper, der in der Ebene um einen Punkt drehbar gelagert ist und
somit verschieblich ist. Infolge der Wirkung von beliebigen Kraftsystemen ist er im Allge-
meinen nicht im Gleichgewicht. Wie in Beispiel 11.1 kann Gleichgewicht durch zusätzliche
Haltekraftgrößen erzielt werden. Als weiteres Beispiel betrachten wir in Abb. 11.8.a1 das
Öffnen einer Flasche, wobei ein Löffel auf einem Zeigefinger gelagert wird. Durch Ideali-
sierung entsteht das statisch bestimmte System in Abb. 11.8.a2. Wir bezeichnen die aufge-
brachte Kraft als Lastkraft FL . Durch einen Freischnitt am linken Lager wird die Haltekraft
FH des verschieblichen Hebels in Abb. 11.8.a3 sichtbar. Für die Untersuchung der Kine-
matik erkennen wir nach Regel B3 in (7.10) den Drehpunkt des Hebels G sofort als Momen-
tanpol (M ). Einer infiniten Verschiebung duL (kurz: Weg) des Punktes L auf der Lastseite
ist eine infinite Verschiebung duH des Punktes H auf der Halteseite zugeordnet. Der Hebel
dient damit neben der Kraftübertragung auch der Wegübertragung. Die Wirkungsweise von
FL FH FL
G (M) dϕ
H L
duH = d ϕ a
du L = dϕ b
a b a b
L _
duL
du H= d ϕ rH duL= d ϕ r L
rL
_
H duH dϕ
G FH
rH dϕ G=(M)_
_ rL
rH
Abb. 11.8. Hebelarten: a) Zweiarmiger Hebel, b) einarmiger Hebel, c) Winkelhebel. Die Zahlen 1,2,3 kennzeich-
nen jeweils 1. das reale System, 2. das statisch bestimmte System mit der Lastkraft FL und 3. den verschieblichen
Hebel mit der Lastkraft FL und der Haltekraft FH sowie Polplan und Verschiebungsfigur.
11.4 Kraft- und Wegübertragung in Hebeln 291
Hebeln wird bei Werkzeugen des täglichen Gebrauchs, wie z.B. Brechstangen, Schrauben-
schlüsseln, Scheren, Zangen ebenso wie bei technischen Systemen, z.B. Kupplungspedale,
Bremsgestänge, rotierende Teile wie Riemenscheiben und Zahnräder ausgenutzt.
Den Hebel in Abb. 11.8.a3 bezeichnen wir als zweiarmig. Sind die Hebellängen a und b
auf der Last- und der Halteseite gleich, entsteht der gleicharmige andernfalls der ungleich-
armige Hebel. Hier haben Last- und Haltekraft FL und FH die gleiche Richtung, während die
zugehörigen Wege ihrer Kraftangriffspunkte duL und duH entgegengesetzt gerichtet sind.
Beim geraden einarmigen Hebel in Abb. 11.8.b sind die Verhältnisse umgekehrt. Bei dem
Winkelhebel in Abb. 11.8.c ist der Körper nicht gerade ausgebildet. Die Abhängigkeiten von
Kraft- und Weggrößen sind von der Geometrie im jeweiligen Einzelfall abhängig.
Wesentlich für die Wirkung von Hebeln sind die Verhältnisse von Kraft und Weg (FL ,
duL ) auf der Lastseite zu den Größen (FH , duH ) auf der Halteseite. Dazu verwenden wir die
Für iF > 1 bzw. iV > 1 hat man einen Kraft- bzw. Weggewinn und für iF < 1 bzw. iV < 1
einen Kraft- bzw. Wegverlust.
Wir wollen die Übertragungsfaktoren in den Gleichungen (11.7) für den Winkelhebel in
Abb. 11.8.c3 ermitteln: Zur Berechnung der Kraftübertragung iF formulieren wir die Mo-
mentengleichgewichtsbedingung (5.25.3) mit dem Bezugspunkt G und erhalten:
G: FL r̄L − FH r̄H = 0 =⇒ FL r̄L = FH r̄H , (11.8)
wobei die Hebelarme r̄L und r̄H nach Regel (5.18.1) die kürzesten Abstände der Wirkungs-
linien der Kräfte FL und FH vom Bezugspunkt G sind. Die Kinematik des verschieblichen
Systems wird mit dem Polplan untersucht. Mit dem Momentanpol (M ) und dem Ver-
drehwinkel dϕ erhält man aus der kinematischen Grundregel (7.4.2)
duL du
duL = dϕrL , duH = dϕrH =⇒ dϕ = = H. (11.9)
rL rH
Nach Regel (7.4.4) sind die Wege duL bzw. duH senkrecht zu den Abständen rL bzw. rH
der Punkte L bzw. H vom Momentanpol (M ). Aus den Ergebnissen (11.8) und (11.9) erhält
man für die Übertragungsfaktoren in den Gleichungen (11.7)
F r̄ du r
1. iF = H = L 2. iV = H = H . (11.10)
FL r̄H duL rL
Für den zweiarmigen Hebel in Abb. 11.8.a gilt wegen r̄L = rL = b und r̄H = rH = a
FH b duH a 1
1. iF = = 2. iV = = = . (11.11)
FL a duL b iF
Diese Beziehungen erlauben einige Interpretationen: Aus den Gleichungen (11.11) erhält
man z.B. FH duH =FL duL , was bereits in der Antike bekannt war als
292 11 Werkzeuge und Maschinen
Aus (11.11) erkennen wir auch, dass die Übertragungsfaktoren iF und iV nur für a
= b
ungleich Eins sind, d.h.: Nur ungleicharmige Hebel können Kräfte und Wege wandeln. Durch
Umstellen von Gl.(11.11.1) folgt außerdem das Hebelgesetz von Archimedes FH a = FL b.
Wir gehen noch der Frage nach, ob eine zu Gl.(11.11.2) ähnliche Beziehung iV = 1/iF
für den Winkelhebel in Abb. 11.8.c gilt. Dazu definieren wir in Ergänzung zu Gl.(11.7.2) den
Hierbei sind die Last-Wege dūL und dūH die Verschiebungen der Punkte L und H in Rich-
tung der Wirkungslinien von FL und FH . Für den Winkelhebel in Abb. 11.8.c3 werden sie
nach Regel A5 in (7.9) mit dem Winkel dϕ und den kürzesten Abständen r̄L und r̄H vom
Pol (M ) zu den Wirkungslinien von FL und FH berechnet:
dū r̄ 1
1. dūL = dϕr̄L 2. dūH = dϕr̄H =⇒ 3. īV = H = H = . (11.14)
dūL r̄L iF
Der Zusammenhang zwischen īV und iF in Gl.(11.14.3), der für jedes einfach verschiebliche
Werkzeug oder jede einfach verschiebliche Maschine gilt, führt auf
Das Kraft-Weg-Prinzip
Bei einem verschieblichen System mit einem Freiheitsgrad (f = 1) ist der (11.15)
Kraftgewinn invers zum Last-Wegverlust (und umgekehrt).
Bemerkungen 11.3
1. Die Berechnung des Übertragungsfaktors iF für Kräfte in Gl.(11.7.1) geschieht stets auf
der Grundlage der Gleichgewichtsbedingungen. Die Berechnung der Übertragungsfak-
toren für Wege iV in Gl.(11.7.2) sowie īV in Gl.(11.13) geschieht auf der Grundlage des
Polplans. Voraussetzung dafür ist eine Verschieblichkeit des Systems mit f = 1.
2. Sind bei einem Hebel die Übertragungsfaktoren in (11.7) für Kräfte bzw. Wege ungleich
Eins, bezeichnen wir ihn auch Kraft- bzw. Wegwandler (oder: Kraft- bzw. Wegüberset-
zer).
3. Bezieht man die differenziellen Last-Wege dūH und dūL in den Gleichungen (11.13) auf
eine differenzielle Zeit dt, dann definiert dieses die Geschwindigkeiten der Punkte L und
H in Richtung der Wirkungslinien der Kräfte FL und FH , vgl. z.B. [21]:
dū dū v dū /dt dū 1
1. vL = H 2. vH = L =⇒ 3. H = H = H = īV = . (11.16)
dt dt vL dūL /dt dūL iF
Das Kraft-Weg-Prinzip (11.15) geht somit in ein Kraft-Geschwindigkeitsprinzip über:
Bei einem verschieblichen System mit einem Freiheitsgrad ist der Kraftgewinn invers
zum Last-Geschwindigkeitsverlust (und umgekehrt).
4. Das Prinzip (11.15), welches nur für zwei Kräfte FL und FH formuliert ist, kann zu
einem allgemeingültigen Prinzip für verschiebliche Systeme erweitert werden. Dieses ist
das Prinzip der virtuellen Arbeit in Abschnitt 14.2.
11.4 Kraft- und Wegübertragung in Hebeln 293
duH 4, 06a
duL = rL dϕ = 12, 17a dϕ, duH = rH dϕ = 4, 06a dϕ =⇒ iV = = ≈ 0, 33.
duL 12, 17a
Für den Last-Weg-Übertragungsfaktor nach Gl.(11.13) benötigen wir die Verschiebungen
dūL und dūH in Richtung der Kräfte FL und FH . Dazu wenden wir Regel A5 in (7.9)
zweimal an und erhalten mit dem Winkel dϕ und den kürzesten Abständen r̄L = 12a und
r̄H = 4a vom Pol (M ) zu den Wirkungslinien von FL und FH :
dū 4a 1 1
dūL = r̄L dϕ = 12a dϕ, dūH = r̄H dϕ = 4a dϕ =⇒ īV = H = = = .
dūL 12a 3 iF
Der Unterschied zwischen īV und iV ist hier also unwesentlich. Die auf die Nuss wirkende
Kraft FH ist dreimal so groß wie die aufgebrachte Kraft FL („dreifacher Kraftgewinn”),
während der Weg duH , etwa bei Versagen der Nuss, dreimal so klein wie duL ist.
294 11 Werkzeuge und Maschinen
Ein Rohr wird mit einer Zange wie in Abb. 11.11.a dargestellt zusammengedrückt. Mit der
vertikalen Lastkraft FL an den Griffen entsteht im Rohr eine vertikale Haltekraft FH .
1. Überprüfen Sie die kinematische Bestimmtheit des statischen Systems in Abb. 11.11.b.
2. Bestimmen Sie den Übertragungsfaktor iF nach Gl.(11.7.1) für Kräfte.
3. Bestimmen Sie die Übertragungsfaktoren iV nach Gl.(11.7.2) für Wege sowie īV nach
Gl.(11.13) für Last-Wege.
Bekannt: a, FL .
FL FL
a) b)
4
D A a L
A a
D
a 3 a
C C 2 5
B
1 B
FL a 3a a a FL a 3a a a
Vorüberlegungen: Da das System äußerlich nicht gelagert ist, wird hier nur die innere kine-
matische Bestimmtheit nach Gl.(11.4.1) für das statische Ersatzsystem in Abb. 11.11.b un-
tersucht. Die Überprüfung der hinreichenden Bedingung wird zweckmäßig mit den Regeln
(10.7) und (9.7) – also ohne Polplan – durchgeführt. Zur Bestimmung der Übertragungs-
faktoren wird das System durch Wegnahme des Stabes 5 verschieblich gemacht. Für den
Übertragungsfaktor iF im Aufgabenteil 2 benötigen wir die Haltekraft FH im Ersatzstab 5.
Dazu verwenden wir die Gleichgewichtsbedingungen (5.25), wobei die Momentenbedingun-
gen so formuliert werden, dass keine unbekannten Gelenkkräfte berechnet werden müssen.
Zur Berechnung der Übertragungsfaktoren für die Verschiebungen kann auf die Ermittlung
des Polplanes für das verschiebliche System nicht verzichtet werden.
Lösungen: 1. Für den Grad der inneren kinematischen Bestimmtheit für mehrteilige Systeme
nach Gl.(11.4.1) erhält man für das statische System in Abb. 11.11.b
n = 5, z = 12 =⇒ fin = 3 · 5 − (3 + 12) = 0.
Damit ist die notwendige Bedingung f = 0 in Gl.(11.3.1) erfüllt. Zur Überprüfung der hin-
reichenden Bedingung gehen wir ohne Verwendung des Polplanes vor: Die Stäbe 1, 2 und
5 sind mit drei Gelenken verbunden und bilden nach Regel (10.7.1) einen starren Körper.
Dieser bildet mit den Stäben 3 und 4 ebenfalls einen Körper mit drei Gelenken, der nach
Regel (10.7.1) starr ist. Damit ist das Gesamtsystem innerlich unverschieblich.
2. Zur Berechnung der Haltekraft FH erfolgt in Abb. 11.12 ein Freischnitt für die Stäbe 1
bis 4. In den Punkten A und B werden die Gelenkkräfte AH , AV sowie BH , BV eingeführt.
11.4 Kraft- und Wegübertragung in Hebeln 295
Für den Stab 3 führen wir die Kräfte SH , SV ein. Da es sich um einen Pendelstab handelt,
muss deren Resultierende S in Richtung der Stabachse verlaufen. Mit den Gleichgewichts-
bedingungen (5.25) folgt:
FL
Stab 4: 4
L
A: FL 5a − SV a = 0 A
H
a
=⇒ SV = 5 FL D
3 2 FH a
C 1 FH
Stab 1: B
FL a a a
B : FL 5a − SV 4a + FH a = 0 3a
1 FL
=⇒ FH = (SV 4a − FL 5a)
a 4
= 15FL . L a
AV
SH AH AH
Damit gilt für den Kraftübertra- SV 2 FH
S SH AV a
gungsfaktor in Gl.(11.7.1) SV
3 S BH
F SH C BV
iF = H = 15, SV
FL S SH BV
SV S 1 B B H FH
d.h. man erzielt einen 15-fachen
Kraftgewinn. FL
a 3a a a
3. Zur Berechnung des Halteweges duH erstellen wir zunächst einen Polplan für das statische
System in Abb. 11.13, bei dem der Stab 5 entfernt ist. Für den Grad der inneren kinemati-
schen Bestimmtheit nach Gl.(11.4) erhält man
n = 4, z = 8 =⇒ fin = 3 · 4 − (3 + 8) = 1,
d.h. das System ist nach dem Kriterium (11.2) einfach kinematisch verschieblich. Für die
weiteren Untersuchungen zur Kinematik halten wir den Stab 1 gedanklich fest. Da so auch
die Gelenke B und C fest sind, sind
nach Regel B3 in (7.10) die Pole (2)
GO(4)1
und (3) bekannt. Nach Regel C1 in 4
(7.12) können damit die Nebenpole GO(4)2
(4)
(2, 4) und (3, 4) angegeben werden. D A b
Nach Regel C2 sind die Verbindungs- 3 (3,4) (2,4) a
C 2
linien (2), (2, 4) und (3), (3, 4) ge- (2)
ometrische Orte GO(4)1 und GO(4)2 . (3) 1 B
Deren Schnittpunkt liefert nach Regel a 3a a a
B5 in (7.10) den Momentanpol (4). Auf
Grund der Ähnlichkeit der Dreiecke C, Abb. 11.13 Polplan
B, (4) und D, A, (4) erhält man den
Abstand b = a/3.
296 11 Werkzeuge und Maschinen
b 1
duA = dϕ4 b = dϕ2 a =⇒ dϕ2 = dϕ4 = dϕ4 .
a 3
Die zweifache Anwendung von Gl.(7.4.2) auf die Punkte L und H liefert
1
duL = dϕ4 rL , duH = dϕ2 rH = dϕ4 rH .
3
√
Mit den Abständen rL = (5a)2 + (a − b)2 = 5, 04 a und rH = a2 + a2 = 1, 41 a folgt
die Wegübertragung in Gl.(11.7.2) zu
duH 1 1 1 1
iV = = rH = 1, 41a = 0, 093.
duL 3 rL 3 5, 04 a
Die Verschiebung dūH in Richtung der Haltekraft FH erhält man nach Regel A5 in (7.9) mit
dem kürzesten Abstand r̄H = a vom Pol (2) zur Wirkungslinie von FH :
1
dūH = r̄H dϕ2 = adϕ4 .
3
Damit folgt die Weg-Last-Übertragung zu
dūH 1 1 1 1
īV = = a dϕ4 = = .
dūL 3 5a dϕ4 15 iF
Der Zusammenhang in Gl.(11.14.3) und das Kraft-Weg-Prinzip (11.15), welche beide nur
für den einteiligen Winkel hergeleitet worden sind, gelten somit auch für die hier untersuchte
mehrteilige Rohrzange.
11.5 Momenten- und Drehwinkelübertragungen in Getrieben 297